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German Pages 380 Year 2018
Christoph Schmitt-Maaß Kritischer Kannibalismus
Lettre
Christoph Schmitt-Maaß (PD Dr. phil. habil.), geb. 1978, forscht am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München zur deutschsprachigen Rezeption des Jansenismus. Er war Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am St John’s College der University of Oxford und am German Department der Princeton University, wo er zur Literaturkritik in der Frühaufklärung und bei Walter Benjamin forschte.
Christoph Schmitt-Maass
Kritischer Kannibalismus Eine Genealogie der Literaturkritik seit der Frühaufklärung
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
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Für Silvia. Was wäre passender als ein Buch (auch) über die Liebe?
Aber wie lange und genau muß man denn auch eine Metapher oft betrachten, ehe man den Strom in ihr entdecket, der uns am besten weiter bringen kann! Gotthold Ephraim Lessing, Anti-Goeze (1778) Gerade das, was gang und gäbe ist, das Herkommen für sich hat, was als längst bekannt gilt, […] bedarf es am meisten, auf den Kopf gestellt und in Anspruch genommen zu werden, um zunächst wenigsten Verwunderung und Stutzen zu erregen und weiterhin Nachdenken zu veranlassen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Maximen des Journals der deutschen Literatur (1807)
Inhalt
Vorwort und Dank | 11
I. STATT EINER E INLEITUNG: K ONSTELLATIONEN |
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1. Kapitel: Genealogie der Genealogie – Genese der Genealogie – Ursprung des Ursprungs (Nietzsche, Benjamin, Foucault) | 19 a. Genealogie der Genealogie: Foucaults Nietzsche-Rezeption | 23 b. Genese der Genealogie: Benjamins Nietzsche-Rezeption | 37 2. Kapitel: Kritik der Kritik | 59 a. Ideengeschichte der Literaturkritik | 62 b. Begriffsgeschichte der Literaturkritik | 71 c. Sozialgeschichte und Systemtheorie der Literaturkritik | 78 d. Kritik der Ideen-, Begriffs- und Sozialgeschichte der Literaturkritik | 84 3. Kapitel: Vorgehen und Aufbau | 85
II. DICHTE L EKTÜRE: DER L ITERATURKRITIKER ALS K ANNIBALE BEI W ALTER BENJAMIN | 93 4. Kapitel: Liebende Kritik | 93 Wahl und Verwandtschaft: Hölderlin | 96 5. Kapitel: Tötende Kritik | 106 Wahl und Verwandtschaft: Goethe | 109 6. Kapitel: Verzehrende Kritik | 122 Wahl und Verwandtschaft: Friedrich Schlegel | 124 7. Kapitel: Konstellierungen (Zwischenbilanz) | 130 Kritik des Kritikers | 134 a. Liebende Praxis: Benjamins Hobrecker-Kritik | 137 b. Tötende Praxis: Benjamins Gundolf-Kritik | 141 c. Verzehrende Praxis: Benjamins Kraus-Kritik | 145
III. TIEFE LEKTÜRE: ›C RITISCHER C ANIBALISM‹ IM ZEITALTER DER A UFKLÄRUNG | 151 8. Kapitel: Der Literaturkritiker als Exeget (Liebende Kritik) | 155 a. Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Kritiker als Berichterstatter | 159 b. Christian Thomasius: Von der Hermeneutik über die Literaturkritik zum Bekenntnis – der Kritiker als Exeget | 162 Kritische Praxis: Thomasius über Lohensteins »Arminius« | 181 c. Kritik und Erkenntnis: Die Urteilskraft des Gefühls | 194 9. Kapitel: Der Literaturkritiker als Scharfrichter (Tötende Kritik) | 199 a. Christian Ludwig Liscow: Der Kritiker als Henker | 201 b. Gotthold Ephraim Lessing: Verstehen statt Vernichten. Von der Exekution zur Vivisektion – Der Kritiker als Anatomist | 205 Kritische Praxis: Lessing über Hogarths »Zergliederung der Schönheit« | 219 c. Kritik und Wahrheit: Die Urteilskraft des Verstandes | 231 10. Kapitel: Der Literaturkritiker als Anwalt und Koch (Verzehrende Kritik) | 238 a. Nicolaus Hieronymus Gundling: Der Kritiker als Advocat | 239 b. Johann Jacob Bodmer: Publikumswirkung und Konsumation – Der Kritiker als Mediator und Koch | 244 Kritische Praxis: Bodmer über Miltons »Verlorenes Paradies« | 251 c. Kritik und Geschmack: Die sinnliche Urteilskraft | 256
IV. STATT EINES SCHLUSSES: DER K ANNIBALISMUS, DER M ARKT UND DIE A NTHROPOLOGIE DER L ITERATURKRITIK | 271 11. Kapitel: Selbstverzehr des Literaturkritikers im marktwirtschaftlichen und Internet-Zeitalter | 276 a. Kredit der Kritik | 278 b. Markt der Meinungen | 286 12. Kapitel: »Tupi or not tupi, that’s the question« – Anthropologie und Rollenspiel | 300 a. Anthropologie des kannibalischen Literaturkritikers | 301 b. Rollenspiel: Kannibale sein | 311 Zitierte Literatur | 319 Abbildungsverzeichnis | 369 Personenindex | 371
Vorwort und Dank
Eine Rose ist sowohl Wespen/ als Bienen; ein gutes Buch aber sowohl Neidern/ als Liebhabern unterworffen. Benjamin Neukirch, Vorrede zu Faithful Treates Ter Tria (1698)
Literaturkritik ist ein gewalttätiges, barbarisches Geschäft. Großkritiker verund zerreißen im wahrsten Wortsinne literarische Werke. Die Schriftsteller rächen sich ihrerseits, indem sie den Tod eines Kritikers herbei schreiben.1 Ob dieser ›barbarischen‹ Ausschreitungen kann man sich empört auf den Standpunkt der Literaturwissenschaft retten und einen sachlicheren Umgang der Kritik mit der Literatur (und vice versa) fordern (Neuhaus 2004: 113).2 Man kann behaupten, dass diese Streitigkeiten gegenstandslos (weil zeitgebunden) sind, oder man kann das Ende der Literaturkritik als ›Rezensentendämmerung‹ (Hans Magnus Enzensberger) heraufbeschwören (Neuhaus 2015). Man kann die »Kritikerpäpste« – wie George Steiner postuliert hat – als Verkörperung des Sekundären und mithin als Stellvertreter auffassen, »die das Mysterium, die den Ruf des Schöpferischen domestizieren, säkularisieren« (Steiner 1989: 59).3 Man kann aber auch – und das ist die Position, die ich im Folgenden einnehmen werde – nach der kulturwissenschaftlichen Tiefendimension von Literaturkritik (und Literaturwissenschaft) fragen: beide Disziplinen erweisen sich selbst wie-
1 | Unter diesem Buchtitel mordet der Schriftsteller Martin Walser seinen Kritiker Marcel ReichRanicki (vgl. Borchmeyer/Kiesel 2003; Neuhaus 2014: 448ff.). 2 | Erhellend auch der Literaturkritikstreit um Volker Weidermanns Lichtjahre (2005), in dessen Folge Hubert Winkels eine Teilung der Kritikerzunft in ›Empathiker‹ und ›Gnostiker‹ vorschlug, vgl. Strigl 2007: 37ff. 3 | Mit Niklas Luhmann kann man Literaturkritik auch als Beobachtung zweiter Ordnung, Literaturwissenschaft hingegen als Beobachtung dritter Ordnung klassifizieren (Luhmann 1995: 90). Zum kunstbezogenen Liebesdiskurs in produktionsästhetischer Sicht vgl. Pfisterer 2014: 24f., 33f., der für die Zeit um 1700 einen Diskurswechsel ausmacht: auch der Kunstbetrachter wird zum kennerschaftlichen Künstler. Thematisiert wird dieser Diskurs bereits im 15. Jahrhundert durch die Wiederentdeckung Quintilians (Pfisterer 2014: 36; Jaumann 1995).
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Kritischer Kannibalismus
derum als von mystischer Art und von verborgenen Ursprüngen und geheimen Triebkräften geprägt. Den Weg zu einer solchen Analyse weist bereits 1928 Walter Benjamin. In seiner Essaysammlung Einbahnstraße spitzt Benjamin die Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen zu. Benjamin führt einen Vergleich an,4 der ob seiner ›Unappetitlichkeit‹ zunächst schockiert: »Echte Polemik,« behauptet Benjamin dort, »nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«5 Benjamin geht es um mehr als den bloßen ›Choc‹, reflektiert der selbsternannte ›erste Kritiker seiner Zeit‹6 doch über jenen zwischen Kunst und Konsum, zwischen Produktion und Konsumtion angesiedelten Gegenstand, der ihm nach dem Scheitern der akademischen Karriere und der Vertreibung aus Deutschland den Lebensunterhalt sichern sollte: die Literaturkritik. Die Gleichsetzung des Kritiker mit dem Kannibalen fokussiert die Fragestellung nach dem den Grundlagen von Literaturkritik, und zwar sowohl hinsichtlich der historischen wie der praxeologischen Koordinaten. Ausgehend von dem Vergleich ›Literaturkritiker‹ und ›Kannibale‹ lässt sich – das wird vorliegende Studie zeigen – der ›Ursprung‹ der Benjaminschen Literaturkritik darlegen. Die von Benjamin in den Dreizehn Thesen bemühten Begriffe ›rüsten‹, ›opfern‹, ›richten‹ und ›vernichten‹ oder auch ›Kampf‹, ›Rüstung‹ und ›Waffe‹ öffnen den Blick auf Wortfelder, die die Tätigkeit des Kritikers (zumindest metaphorisch) in die Nähe des Kriegers, des Scharfrichters und des Schlächters rückt. Zudem setzt Benjamin in der Einbahnstraße Bücher und Dirnen gleich und folgert: »sie haben jedes ihre Sorte Männer, die von ihnen leben und sie drangsalieren. Bücher die Kritiker.« (109) Aus dieser Gemengelage schälen sich folglich drei Diskurse heraus, die den operationalen Ursprung der Literaturkritik erhellen. Zunächst inspiziert der Kritiker das zu Kritisierende nach seinem äußeren Anschein, und auch der erste Blick ins Buchinnere gilt Äußerlichkei-
4 | Es handelt sich streng genommen um einen heterogenen Vergleich, und nicht um eine Metapher. Doch beruht der Vergleich wie die Metapher auf Ähnlichkeit, die in einem gemeinsamen Dritten (tertium comparationis) gegeben ist; daher existiert auch die seit Quintilian gängige Definition der Metapher als ›verkürzter Vergleich‹. 5 | Benjamin, Einbahnstraße [1928] (GS IV: 108). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 6 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 20.1.1930 (GB III: 502). Benjamin schreibt: »Le but que je m’avais [!] proposé n’est pas encore pleinement réalisé, mais, enfin, j’y touche d’assez près. C’est d’être considéré comme le premier critique de la littérature allemande. La difficulté c’est que, depuis plus de cinquante ans, la critique littéraire en Allemagne n’est plus considérée comme genre sérieux. Se faire une situation dans la critique, cela, au fond, veut dire : la recréer comme genre. Mais sur cette voie des progrès sérieux ont été réalisés – par d’autres, mais surtout par moi.«
Vorwort und Dank
ten – diese ›Bibliophilie‹ ist die Voraussetzung, warum ein Mensch überhaupt Literaturkritiker wird, und sie prägt seinen Umgang mit jedem einzelnen Rezensionsexemplar (Hage 2009). Sodann dringt der Literaturkritiker tiefer in seinen Gegenstand ein – er seziert die formalen Gründe, aus denen ihm das literarische Opus schön oder hässlich erscheint. Anschließend verleibt er sich das Werk ein, indem er seinerseits zum Produzenten wird und eine Literaturkritik verfasst. Der Literaturkritiker bedient sich folglich der kulturellen Praxis des Liebens, Tötens und Verzehrens, um seine ›Speise‹ zu handhaben (109f., 87, 106).7 ›Kannibalismus‹ verliert unter dieser Perspektive seine sensationalistische Wirkung und seine negative Bedeutung, da nicht allein alimentäre, sondern auch politische, magische, rituelle und therapeutische Inhalte gemeint sind – Kannibalismus ist nicht als inhumanes Verhalten zu verurteilen, sondern als zutiefst kulturelles Verhalten anzuerkennen (Lévi-Strauss 1993: 157).8 Der für diese Studie titelgebende ›kritische Kannibalismus‹ begegnet jedoch nicht erst bei Walter Benjamin. Bereits 1776 propagiert der Göttinger Mathematik- und Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg in seinen Aphorismen den »critische[n] Canibalism« als literaturkritische Verfahrensweise (Lichtenberg 2005: 572).9 Diesem Fingerzeig gilt es zu folgen und den kritischen Ansatz Walter Benjamins auf das 18. Jahrhundert – nach Immanuel Kant das ›Zeitalter der Kritik‹ – zurück zu beziehen. Die Epoche der Aufklärung gilt gemeinhin als Geburtsstätte der deutschsprachigen Literaturkritik – aber reflektieren die Aufklärer ihr Handeln im Umgang mit kritisierten Büchern in derselben Weise wie Walter Benjamin? Oder üben sie dieselben diskursiven Praktiken wie Benjamin? Und eröffnet die Formel vom ›kritischen Kannibalismus‹ den Zusammenhang von Aufklärung und Literaturkritik mithilfe einer ›absoluten Metapher‹ (Hans Blumberg), die doch geradezu universell ist und zur Skandalisierung kaum taugt?10
7 | Zur semantischen Vielschichtigkeit von ›Liebe‹ vgl. Pfisterer 2014: 14f. 8 | Für einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Überblick zur Anthropophagie-Forschung vgl. Fulda 2001. 9 | Denkbar gewesen wäre auch der affirmative Titel »Die Geburt der Literaturkritik aus dem Geistes des Kannibalismus«, die an die Benjaminsche Formel von der »Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst« angelehnt ist (die ihrerseits auf Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872) verweist. 10 | Kritischer Kannibalismus ist eine ›absolute Metapher‹ (Kilgour 1990: 16 bezeichnet Kannibalismus hingegen als »ultimate ›antimetaphor‹«, Weinrich 1964 bezeichnet sie hingegen als »kühne Metapher«) im Sinne Hans Blumenbergs: sie macht die abstrakte Idee – in diesem Fall: die Beurteilung von Kunstwerken – anschaulich. Die Metapher entpuppt sich als hilfreiches Werkzeug zur Darstellung der frühneuzeitlichen literarischen Imagination. Metaphern sind lebendig,
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Kritischer Kannibalismus
Gegenstand dieser Studie ist daher nicht allein eine Rekonstruktion von Walter Benjamins ›Genealogie der Literaturkritik‹ (post mortem), doch bietet sich gerade Benjamin als Ausgangspunkt und Reflexionsmedium der Literaturkritik an, da bei ihm Literaturkritik und Literaturwissenschaft (die im deutschsprachigen Raum – anders als im angelsächsischen oder romanisch-sprachigen Raum11 – streng geschieden werden) in einer kontinuierlichen Reflexion entfaltet werden.12 Eine Verortung der Ursprünge der Literaturkritik im 18. Jahrhundert – als dem ›Ursprungsort der Moderne‹ – erlaubt darüber hinaus, die Literaturkritik in den Blick zu nehmen, ehe sie von der Literaturwissenschaft unterschieden wurde.13 Die lange Zeit vorherrschende Einschätzung vom 18. Jahrhundert als Jahrhundert der ›Geselligkeit‹ oder gar der ›Freundschaft‹ hat die Friedfertigkeit aufklärerischer Selbstverständigung überbetont. Doch etabliert das 18. Jahrhundert auch die literaturkritische Streitkultur und die vernichtenden Federkriege. Die Literaturkritik des Aufklärungszeitalters begründet also nicht einfach nur die moderne Literaturkritik, sondern ist selbst zutiefst von Vorstellungen geprägt, die mit unserem Bild der Moderne nur schwer in Übereinstimmung zu bringen sind. Eingebettet ist die Arbeit in eine vorausgehende methodologische Reflexion und in einen abschließenden Ausblick. Erstere führt Nietzsche, Foucault und sofern sie die »Vorstellung der Ähnlichkeit« (Ricœur 1975: 168) erlauben und dazu bedienen sie sich einer einprägsamen Bildlichkeit, die die Ikonizität des Bildes selbst in der Schwebe belässt. Dadurch machen Metaphern die Vergangenheit vorstellbar. Die Metapher konditioniert jedoch nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern entwickelt eine Eigendynamik und bringt einen semantischen Mehrwert hervor, der sich nicht mehr vollständig logisch und sprachlich einholen lässt. Anders als ›normale Metaphern‹ gehört die ›absolute Metapher‹ einer »Theorie der Unbegrifflichkeit« an, die durch die »Vakanz der Begriffe« eine Bedeutungsauffüllung durch ihre Benutzer und Rezipienten erfordert, auch unter der Gefahr der »metaphorischen Fremdbestimmung« (Blumenberg 2007: 72, 74). Kannibalismus kann daher als eine rhetorische Figur verstanden werden, die durch die diskursiven Praktiken der Literaturkritik hervorgebracht wird. Kritischer Kannibalismus leistete aber noch mehr. Deshalb lässt er sich nicht nur als Metapher auffassen, sondern umfassender als Praxis, auch wenn der Begriff nicht unproblematisch ist. Praxis ist eben nicht Theorie (vgl. Bourdieus Definition von Literaturkritik und -wissenschaft als »Praxis ohne praktische Funktion«, Bourdieu 1979: 101), sondern durchbricht die Leere der selbstbezüglichen Normativität – um damit zum Komplement der Theorie zu werden. 11 | Vgl. jedoch Roland Barthes’ Diktum: Literaturwissenschaft »behandelt die Bedeutungen«, Literaturkritik »bringt welche hervor« (Barthes 1967: 75). 12 | Ähnlich wie Benjamin die Trennung von Hoch- und Populärkultur nicht mittrug, vgl. Eiland/ Jennings 2014: 8. 13 | Der Begriff ›Literaturkritik‹ umfasst in dieser Studie Rezensionen, Essays u.a. Formen.
Vorwort und Dank
Benjamin zusammen, um eine reflexive Genealogie zu entfalten und Kritik an bisherigen Historisierungsversuchen der Literaturkritik zu üben – diesen Teil kann der theoriemüde Leser getrost überspringen. Der abschließende Ausblick vergegenwärtigt die Bedeutung der Kannibalismus-Metapher für die Literaturkritik im marktwirtschaftlichen und Internet-Zeitalter und entwirft eine Anthropologie der Literaturkritik. Vorliegende Studie folgt (wie jedes Buch) selbst einer kannibalischen Ordnung: sie verspeist andere Bücher, um als Buch zu entstehen. Das wäre nie möglich gewesen ohne die ideelle Unterstützung zahlreicher Mentoren, Kollegen und Freunde: Thomas Anz und Geret Luhr (beide Marburg) sowie Lutz Hagestedt (Marburg, nun Rostock) gebührt Dank für erste Ermutigungen, ebenso Birgit Kaiser (Utrecht), Rainer Godel (Halle a. d. S.) und Ian Wallace (Bath/Felixstowe). Heinrich Kaulen (Marburg) fand sich bereit, die Walter Benjamin betreffenden Partien der Arbeit gegenzulesen. Barry Murnane (Oxford) schließlich hat frühzeitig zugeraten, das Thema über den Benjamin-Teil hinaus historisch zu vertiefen und damit eine Entscheidung herbeigeführt, zu der ich mich lange nicht durchringen konnte, die aber die historische Tiefensemantik entscheidend bereichert. Meinen Gastgebern in Oxford, Ritchie Robertson, sowie in Princeton, Devin Fore, gebührt herzlicher Dank für die freundliche Aufnahme vor Ort sowie den inspirierenden Gedankenaustausch. Ich danke für ihre Diskussionsbereitschaft Carolin Duttlinger, Kevin Hilliard und Ben Morgan(Oxford) sowie Devin Fore und Michael W. Jennings (Princeton). Das Thomasius-Kapitel konnte ich mit Dirk Niefanger (Erlangen) ebenso diskutieren wie das Lessing-Kapitel mit Hugh Barr Nisbet (Cambridge) und das dritte Kapitel – insbesondere das darin enthaltene Bodmer-Kapitel – mit Kevin Hilliard (Oxford). Einzelne Teilkapitel habe ich im Rahmen der Tagung Walter Benjamins Methoden: Das Vermächtnis der Frankfurter Schule im heutigen Kontext (Oxford 2017), des von mir mitorganisierten Humboldt-Kollegs Literaturkritik nach 1700. Zur Praxeologie literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert (Oxford 2016), auf dem Ersten Internationalen Kongress zur Erforschung der Aufklärungstheologie »Religion und Aufklärung« (Münster 2014) sowie im Rahmen der Jahrestagung Die Sachen der Aufklärung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts (Halle 2011) zur Diskussion stellen können. Kritische Anmerkungen meiner Studenten in Oxford und Potsdam haben mich zudem an verschiedenen Stellen zu einer verständlicheren Darstellung veranlasst. Den Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeitern der St John’s College Library, der Taylor Institution Library, der Bodleian Library (Oxford) sowie der Firestone Library (Princeton) habe ich für die ebenso professionelle wie geduldige Bereitstellung meiner sicherlich nicht immer einfach zu befriedigenden Buchwünsche zu danken. Last but not least hat die Alexander von
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Kritischer Kannibalismus
Humboldt-Stiftung durch großzügige Zuerkennung eines einjährigen Feodor Lynen-Forschungsstipendiums in den Jahren 2016/2017 Aufenthalte am St John’s College der University of Oxford sowie am German Department der Princeton University finanziert und darüber hinaus die Drucklegung der Studie. Dieses Buch und die in ihm enthaltenen Ausführungen bleiben jenem Diskursgebilde überlassen, dass Literaturkritik genannt wird. Wie auch immer die Urteile der kritischen Leserschaft ausfallen werden: der Autor wird – belehrt um die dunklen und auch die lichten Ursprünge der Literaturkritik – sie einzuordnen verstehen. Oxford/Princeton, im Frühjahr 2017
C. S.-M.
Anmerkung zur Zitierweise: Gemäß den akademischen Gepflogenheiten zitiere ich die historischen Quellen unverändert und unter Beibehaltung der satztechnischen Charakteristika der Zeit, um die historische Distanz nicht einzuebnen, sondern bewusst zu halten. Offensichtliche Satzfehler wurden in eckigen Klammern korrigiert. Sofern nicht eigens der Vermerk »Bl.« (für Blatt) oder »Sp.« (für Spalte) angebracht wird, handelt es sich stets um eine Seitenangabe. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit umfasst die männliche Form immer auch die weibliche.
I. Statt einer Einleitung: Konstellationen
Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis zur Frage, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? – etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht »feststand«? Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck, Br. v. 23.2.1887 [D]ie Erkenntnis ist, nach dem Grundsatz der Gegenstandserkenntnis, ein Prozeß, der das zu Erkennende erst zu dem, als was es erkannt wird, macht. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik (1920) [Die Genealogie] muss die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit […] dort aufsuchen, wo man sie am wenigsten erwartet, und in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen: Gefühle, Liebe, Gewissen, Triebe. Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie… (1971)
Die drei Positionierungen, die diesem Kapitel als Motti vorangestellt sind, erhellen schlagartig Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Nietzsches, Benjamins und Foucaults Geschichtsskepsis. Diese werde ich im folgenden Kapitel herausarbeiten, gleichsam als vorgeschaltete methodologische Reflexion. Zwar wäre es durchaus begrüßenswert, wenn literaturwissenschaftliche Arbeiten nicht einen methodologischen Vorlauf benötigten, der gelegentlich weiter ausufert als der eigentliche Analyseteil – doch auch angesichts der seit einigen Jahren um sich greifenden ›Theoriemüdigkeit‹ bleibt dem Geisteswissenschaftler die vorgängige Reflexion auf sein Vorhaben nicht erspart, will er sich nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen.1 Diese Reflexion soll im Folgenden unternommen werden, wobei Konstellationen reflexiver Überblendungen (aber auch
1 | Vgl. Brokoff 2014, der die gegenwärtige Theoriemüdigkeit auf die avantgardistische Kunstpraxis der 1930er Jahre zurückführt.
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Kritischer Kannibalismus
Verwerfungen) bei Nietzsche, Benjamin und Foucault das eigene Vorgehen begründen (vgl. Rush 2005: 155). Seine anregende Materialfülle und grenzgängerischen Erkundungen, die mäanderhaften Bewegungen seines Denkens wie seine apodiktische, äußerst komprimierte, aphoristische und von zahlreichen Metaphern belebte Sprache haben eine hohe Zahl von auslegenden Texten motiviert. Walter Benjamins Sprache ist nicht nur Medium der Mitteilung, sondern – durch vielfache Zitation – selbst Medium der Reflexion, der Imitation und der Verklärung (Plener/Kerekes/Pethes 2005). Die Entlehnung und Verselbstständigung von Begriffen aus Benjamins Vokabular – etwa ›Choc‹ oder ›Aura‹ – sprechen für die Attraktivität und die – gelegentlich nur behauptete – Anschlussfähigkeit seiner Sprache. Gleichzeitig ist die Überfrachtung einzelner Termini unübersehbar und führt bereits bei Benjamin zu polysemantischen Aufladungen (vgl. Opitz/ Wizisla 2000). Dem korrespondiert Benjamins grundsätzliches Misstrauen gegen Fachtermini. Dieses Schicksal teilt er mit einem der führenden Theoretiker neuerer Zeit. In den historischen Wissenschaften wird Michel Foucaults Wissenschaftstheorie seit den 1980er Jahren oft formelhaft zum Jargon verkürzt. Zum Schlagwort ist auch Foucaults Begriff der ›Genealogie‹ geworden – ein Begriff, den Foucault von Friedrich Nietzsche entlehnt und unter methodologischen Gesichtspunkten erörtert. Dass sowohl Benjamin wie auch Foucault an Nietzsches fragmentarische, bedeutungsstiftende Sprache anschließen, spricht nicht gegen die Verwendbarkeit und Reflexivität, hatte Benjamin doch festgehalten: Die Tatsache, daß ein Autor sich in Aphorismen ausspricht, wird niemand letzthin als einen Beweis gegen seine systematische Intention gelten lassen. Nietzsche z.B. hat aphoristisch geschrieben, dazu sich als Gegner des Systems bezeichnet, dennoch hat er seine Philosophie umfassend und einheitlich nach den leitenden Ideen durchdacht und zuletzt sein System zu schreiben begonnen.2
Benjamin hat sich jedoch – anders als Foucault – nicht eingehend zu Nietzsches Genealogie geäußert (McFarland 2012: 4 f.).3 Foucault wiederum hat Benjamin nicht als Geschichtsphilosophen zur Kenntnis genommen. Und doch eint beide eine gemeinsame Auffassung: Benjamins Skepsis gegen ein lineare
2 | Benjamin, Begriff der Kunstkritik [1920] (GS I.1: 42). 3 | McFarland stellt keinen Bezug zwischen Benjamins Ursprungsforschung und Nietzsches Genealogiebegriff her, auch wenn er gelegentlich auf Foucault rekurriert, unter Aussparung von Foucaults Nietzsche-Aufsatz von 1971. Benjamins Auseinandersetzung mit Nietzsche datiert wenigstens bis 1912 zurück, vgl. W. Benjamin an Fr. Strauß, Br. v. 21.11.1923 (GB I: 78). Ausweislich seiner fragmentarisch erhaltenen Leseliste hat Benjamin u. a. Nietzsches Jenseits von Gut und Böse und Die Geburt der Tragödie gelesen.
I. Statt einer Einleitung: Konstellationen
Geschichtsverständnis und Foucaults Versuch einer Genealogie als ›AntiWissenschaft‹ lassen sich ins Verhältnis setzen. Das Tertium comparationis bildet die Nietzsche-Lektüre von Benjamin und Foucault. An ihr entfalten beide Geschichtsphilosophen den Begriff der Geschichtlichkeit und ihren jeweiligen methodischen Zugang. Die Rekonstruktion dieser Nietzsche-Lektüren erlaubt auch eine Klärung des eigenen Vorgehens im Sinne eines undogmatischen µέτα οδος (als ›Weg zu etwas‹). In diesem ersten Teil werde ich ›Konstellationen‹ zwischen Benjamin und Foucault aufzeigen. Mit diesem astrologischen Terminus bezeichnet Benjamin in seiner Einleitung zum Trauerspielbuch jene Ideen, die sich – nach analytischer Zerlegung der empirischen Realität der Phänomene – aus der figurale Wiederverbindung der zerstreuten Einzelelemente ergeben: »Die Ideen,« schreibt Benjamin, »sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.«4 Meine Darstellung fokussiert in diesem Kapitel drei Aspekte: (1.) die Frage der Begründungslogik und die Herkunft von Foucaults Genealogie-Begriff und Benjamins Ursprungs-Vorstellung (dieses Teilkapitel unternimmt gleichsam eine ›Genealogie der Genealogie‹). Danach (2.) werden verschiedene mögliche Modellerzählungen einer ›Entstehung der deutschen Literaturkritik‹ skizziert (dieses Teilkapitel erlaubt eine ›Kritik der Kritik‹ bzw. eine ›Kritik der Kritikforschung‹). Abschließend (3.) erläutere ich das weitere Vorgehen und den Aufbau der Arbeit.
1. K APITEL : G ENEALOGIE DER G ENEALOGIE – G ENESE DER G ENEALOGIE – U RSPRUNG DES U RSPRUNGS (N IETZSCHE , B ENJAMIN , F OUCAULT ) Wer mit Nietzsche denkt, ›wiederspricht‹ sich auch mit Nietzsche. Christian Morgenstern, Spuren (1905)
Ursprung bedeutet nach der mittelhochdeutschen Wortform ›Quelle‹ und ist eine Nominalbildung des mittelhochdeutschen Verbs ›erspringen‹, das heute als ›entspringen‹ geläufig ist (vgl. Grimm XXIV: Sp. 2538–2545).5 Die Ursprungs-Forschung hat ihre Wurzeln in der Ahnenkunde bzw. Genealogie, in
4 | Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928] (GS I.1: 215). Zur philosophischen Implikation dieser Begrifflichkeit vgl. Figal 1992: 34. Zur historischen Implikation allgemein und zur Diskussion des Begriffes bei Benjamin, Mannheim und Adorno vgl. Goebel 1996: 106 f. 5 | Zur Begriffs- und Metapherngeschichte der Genealogie vgl. Weigel 2005: 21–54.
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Johann Heinrich Zedlers Universallexikon 1735 definiert als »Wissenschaft, die Vorfahren eines Geschlechts in gehoriger Folge anzugeben. Dahero wirds auch die Geschlechts=Kunde genennet.« (Zedler X: 832)6 Der Stammbaum der Adelsgeschlechter wird durch immer neue Entscheidungen in der Partnerwahl immer mehr erweitert, bis auch innerhalb der eigenen Familienzweige neue Ehekonstellationen angebahnt werden können. Dabei entstehen äußere und innere Verknüpfungen vielfältiger Art. Eine bewusst gehaltene Genealogie ermöglicht eine Bestimmung der verschiedenen Verwandtschaftsgrade und verhindert Inzest. Geschichtsphilosophisch wird die Genealogie (die Frage nach dem Ursprung) im 18. Jahrhundert ergänzt um die Teleologie (die Frage nach der Zukunft). In dieser genealogisch-teleologischen Perspektive wird Geschichtsphilosophie zur Geschichtstheologie. Der Ursprungs- und Genealogie-Begriff steht historisch betrachtet für ein konservatives Unternehmen, das sich vom Adel herschreibt, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts durch das Bildungsbürgertum aneignet wird. Durch die Begriffsphalanx von Herkunft und Zukunft wird »Herkunftsgeschichte auratisiert, […] Ursprung emphatisiert und insgesamt in einem Sinn- und Legitimationsbeschaffungsunternehmen [angesiedelt], das von einem massiven Kontinuitätsinteresse getragen wird.« (Müller 2013: 127) Genealogische Vorstellungen setzen sich im Lauf des 19. Jahrhunderts in allen Lebensbereichen durch, weshalb eine »ursprungsmythische[] Geisteslage« (Heinrich 1982: 20) diagnostiziert werden kann: Sowohl die allgemeine Geschichte wie auch die speziellere Literaturgeschichte, aber auch die Biologie eignet sich den Begriff an, schreibt ›Ursprungsgeschichten‹ und erstellt Stammbäume (von ›Menschenarten und -Rassen‹ oder Literaturgattungen und nationalen Literaturen).7 Gegen solche Formen der Traditionsversicherung wendet sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Friedrich Nietzsche, indem er den Begriff des Ursprungs umwertet. Nietzsche lehnt die Standardprozedur des Historikers ab, der nach Ursprüngen sucht und die eigene Gegenwart als Kulmination vergangener Ereignisse auffasst.8 Stattdessen fokussiert Nietzsche das Dunkle und Bedrohliche des Ursprungs und betont an Stelle einer linear-genetischen Erzählung das Diskontinuierliche. Zunächst nutzt Nietzsche in der Geburt der Tragö6 | Für eine semantische Analyse der ›Genea-Logik‹ in Natur- und Geisteswissenschaften vgl. Weigel 2006, bes. 23 ff., 159 ff. 7 | In jüngster Zeit betreibt Franco Moretti eine ›statistische Literaturwissenschaft‹, die diesem Modell wieder zu akademischen Weihen verhilft. Eine abgewogene Kritik an literarischen Fortschrittstheorien findet sich bei Krieger 1988: 20–24. 8 | Zu Koinzidenten zwischen Herders und Nietzsches Geschichtskritik, die sich – bei aller Übereinstimmung – wesentlich darin unterscheidet, dass sie das Vergessen (Nietzsche) bzw. die Empathie (Herder) stark macht, um den Zirkel der Reflexivität zu durchbrechen, vgl. Zusi 2006: 522.
I. Statt einer Einleitung: Konstellationen
die (1872) die natale Metapher, um eine – v. a. literaturhistorische – Genealogie zu entfalten. Auch wenn Nietzsches Früh- und Spätwerk von eklatanten Brüchen gekennzeichnet ist, so belegt doch bereits die Geburt der Tragödie Nietzsches Interesse für »wahre und falsche Ursprünge« und die ›Story‹ von der Geburt als »Kräftemessen[] und Kräftespiel[]« des ›Dionysischen‹ und des ›Apollinischen‹.9 Die Geburts-Metapher erlaubt es Nietzsche, die Entstehung der antiken wie die neuzeitlichen Ästhetik und die ihr korrespondierenden Gattungen als Geschichte einer Verdrängung zu erzählen, als »verlustreiche[] Durchsetzung des Apollinischen auf Kosten des Dionysischen.« (24) Doch resultiert für Nietzsche aus dieser Einsicht nicht etwa die Forderung einer Rückkehr zur ›Dionysischen Ästhetik‹. Vielmehr macht er gerade in diesem Widerstreit und dieser Zerrissenheit (wie schon Hegels Proklamation vom »Ende der Kunst«) das Hauptkennzeichen der Moderne aus: sie ist das Zeitalter der »Entzweiung«,10 in dem Geschichte (gedacht als Fortschrittsgeschichte) immer auch ganz anders hätte verlaufen oder in ihr Gegenteil hätte umschlagen können (130 ff.). Indem Nietzsche seine Geschichtskonzeption an der antiken Tragödie, also einem literarischen Genre (und nicht etwa an einem historischen Fallbeispiel) exemplifiziert, kann er das »Problem der Wissenschaft selbst«11 fokussieren, »das diese nicht reflektieren kann«, weil sie nach dem Sinn von Aussagen und nicht nach deren ›Programmierung‹ fragt.«12 Nach Nietzsche besteht das »Wesen alles Interpretierens« im »Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen«.13 Zeichnen also bereits Nietzsches philologische Frühschriften sich durch eine Kritik am Historismus aus, indem sie die geschichtliche Entwicklung mit historisch informierten diagnostischem Blick auf die eigene Gegenwart verfolgen und den anthropologischen Zusammenhang von Wissen, Handeln und Vergessen thematisieren (35), so emanzipiert sich Nietzsche in seiner Genealogie der Moral (1887) von der Phänomenologie14 und versucht, der ›wirklichen‹ Herkunft der Moral auf die Spur zu kommen. Während die Ahnenkunde Familienverhältnisse erfasst und darstellt, um Erb- und Titelansprüche zu rechtferti-
9 | Saar 2007: 23. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 10 | Nietzsche, Genealogie der Moral [1887] (KSA VI/2: 278). Für eine zusammenfassende Interpretation vgl. Müller 2013: 127 ff. Vgl. auch die Metapher der ›gesunden‹ und der ›pathologischen Historie‹, die Nietzsche in seiner ersten »Unzeitgemäßen Betrachtung« (1874) entfaltet, dazu Saar 2007: 24 ff. 11 | Nietzsche, Geburt der Tragödie [1872] (KSA III/1: 7). 12 | Kittler 1979: 35. Zu Foucaults Nietzsche-Lektüre ebd. 29, 33. 13 | Nietzsche, Genealogie der Moral [1887] (KSA VI/2: 418). 14 | Nietzsche führt jedoch keinen Bruch herbei, sondern wechselt zwischen rhetorischer und genealogischer Analyse, vgl. Thüring 2008.
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gen, zielt Nietzsche mit dem Begriff der Genealogie auf die »verdrängten und verborgenen Verbindungen, die Ideale und Institutionen mit Kräften, Interessen und Mächten unterhalten, und konterkariert damit die Erwartung, dass eine Genealogie Legitimität begründet wie im Ahnenforschungskontext der Stammbaum.« (11 f.)15 Genealogie erweist sich bei Nietzsche also als kritische Denkform, die die Geschichtlichkeit und den Wert eines Gegenstandes für die eigene Gegenwart herausarbeitet: »Genealogische Kritik steht für eine radikale Analyse, die die historischen Wurzeln eines Werts, einer Institution oder einer Praxis freilegt und das Wissen um die Gewordenheit eines Objekts gegen dieses richtet, um es durch den Hinweis auf seinen Ursprung zu kompromittieren und zu delegitimieren.« (9) Nietzsche prägt mit dem Stichwort der ›Genealogie‹ einen Neologismus, wenn er nicht nach der ontologischen ›Naturgeschichte‹ der Moral fragt, sondern begriffsgeschichtliche Ahnenforschung betreibt, die darauf zielt, die Subjekttheorie, die Machtkritik und die Darstellungsform zu analysieren (12). Damit macht Nietzsche die Untersuchung der Bedingungen, unter denen der Mensch die Werturteile ›gut‹ und ›böse‹ erfand und welchen Wert sie ›an sich‹ haben, zum Gegenstand seiner Untersuchung. Auf diese Weise kommt Nietzsche zu dem Schluss, dass es sich bei Werturteilen um ein ›Umlügen von Schwächen‹ handelt, die zu Werten erhoben würden. Wie auch in der Geburt der Tragödie entwirft Nietzsche in der Genealogie der Moral ein Geschichtsmodell, das nicht nach der einmaligen Kausalität fragt, sondern den Aspekt von Geburt und Wiedergeburt betont. Nietzsche verdeutlicht diesen Aspekt, indem er drei Seinsweisen einander gegenüberstellt: Apollon, Dionysos und Sokrates treten im Kunstwerk als »immer neue auf einander folgende Geburten« auf.16 Ihnen entspricht in gewisser Weise bereits die 1874 herausgearbeitete Kritik des etablierten Historismus als monumentalische, antiquarische und kritische Historie, die nach Nietzsche das Streben nach Ruhm und Größe fördert, den Menschen Wurzeln und Heimat durch Verehrung des Überlieferten gibt und die an der Tradition Leidenden von der Last der Vergangenheit befreit.17
15 | Vgl. Nietzsche, Genealogie der Moral [1887] (KSA VI/2: 275, 265 f.). 16 | Nietzsche, Geburt der Tragödie [1872] (KSA III/1: 41). Nicht weiter verfolgen kann ich an dieser Stelle Nietzsches eigene Stellung zur Literaturkritik und sein Wirken als Literaturkritiker, vgl. dazu besonders Politycki 1989: 5 f., vgl. auch Manthey 1987; Pfotenhauer 1986. 17 | Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874] (KSA III/1: 254 ff.).
I. Statt einer Einleitung: Konstellationen
a. Genealogie der Genealogie: Foucaults Nietzsche-Rezeption Während Nietzsches Geschichtsphilosophie im Deutschen Reich zunächst weitgehend ignoriert und anschließend von den Nationalsozialisten vereinnahmt wird, intensiviert sich die französische Nietzsche-Rezeption (die bereits um 1900 und nochmals um 1920 eingesetzt hatte) zwischen 1950 und 1970 (169 ff.) und bildet den Nährboden für das, was der im französischen Exil lebende Autor Jean Améry die »Franzosenkrankheit« nannte: die Postmoderne.18 Verschiedene Geschichtsphilosophen versuchen, an Nietzsche anschließend, zu einer Neubegründung der französischen Geschichtsphilosophie zu kommen. Dabei eröffnet ihnen Nietzsche eine neue Vorstellung von (Geschichts-)Philosophie, ein neues Bild dessen, was Philosophie für das Geschichtsbewusstsein leisten kann (Sedgwick 2003: 184). Die französische Nietzsche-Rezeption wird gleichsam zu einer Frage der wissenschaftlichen Parteizugehörigkeit. So umreißt Foucault in einem seiner letzten Texte mit dem signifikanten Titel Was ist Aufklärung von 1984 eine Teilungslinie (»ligne de partage«) bzw. Kluften (»clivages«), die die französische Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts polarisiert hätten: auf der einen Seite finde man eine Tradition, die die »Philosophie der Erfahrung, des Sinns, des Subjekts« ausgearbeitet hat, und die Foucault durch Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty verkörpert sieht.19 Auf der anderen Seite stünde eine »Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffs«,20 kurz: eine an Husserl und Nietzsche geschulte Phänomenologie und Genealogie, die Foucault mit Namen wie Jean Cavaillès, Gaston Bachelard und Georges Canguilhem verbindet und der er letztlich auch seine eigenen Arbeiten zurechnet.21
18 | Wobei er offen auf das »venerische Leiden« – die Syphilis – anspielte (Améry 1977: 186). 19 | 1962 hält Merleau-Ponty am Collège de France eine Vorlesung über die »Möglichkeit der Philosophie«, in der er (neben Marx und Kierkegaard) auch Nietzsche attestiert, er habe eine »Leugnung der Philosophie begonnen« (Merleau-Ponty 1973: 110). Mit seiner Nietzsche-Kritik avisiert Merleau-Ponty natürlich die »moderne Verworrenheit« der im Entstehen begriffenen Strukturalisten, die sich Nietzsche aneignen. 20 | Foucault, Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft [1984] (DE IV: 944). 21 | Foucault stellt seine eigene Arbeiten in eine Linie mit den Schriften Kants und Nietzsches und postuliert die unveränderte Notwendigkeit einer Arbeit ›an der Aufklärung‹:»Die philosophische Haltung muss in einer Arbeit verschiedenartiger Untersuchungen zum Ausdruck kommen; diese haben ihre methodologische Kohärenz in der sowohl archäologischen als auch genealogischen Untersuchung von Praktiken, die gleichzeitig als technologischer Rationalitätstypus und als strategische Spiele der Freiheiten in den Blick genommen werden […].« (Foucault, Was ist Aufklärung [1984], DE IV: 707).
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Erstmals reflektiert Foucault diese genealogische Geschichtsphilosophie in Archäologie des Wissens von 1969 – zum Zeitpunkt der Publikation liegt die Pariser Mairevolte ein Jahr zurück und im kommenden Jahr wird Foucault auf den Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France berufen. Foucault steht folglich 1969 zwischen Revolution und Inkorporation. Er verwendet nun den Begriff der Archäologie seltener und in einem anderem Sinn;22 er wertet zudem die Institutionen auf, indem er ihnen und verschiedenen Praktiken – was er bis dato kategorisch negiert hatte – eine NichtDiskursivität zubilligt.23 Zugleich fokussiert Foucault verstärkt die Frage nach der Macht, die er in seinen archäologischen Arbeiten zwar gestreift, aber vernachlässigt hatte. Die Erweiterung seines Forschungsprogrammes definiert Foucault folgender Maßen: »In der Untersuchung der Machtmechanismen, die den Körper besetzt haben, der Gesten und Verhaltensweisen gilt es, die Archäologie der Humanwissenschaften aufzubauen.«24 Er wendet sich nun verstärkt der ›Entstehung‹ der gesellschaftlichen Praktiken zu. Die Genealogie »radikalisiert« also die in der »Archäologie« aufgeworfene Machtfrage (Sarasin 2005: 118 f.) und beschäftigt sich genauer mit den Verbindungen von Gesellschaft und Diskurs sowie von Herrschaft und Diskurs.25 Diskursive Regelmäßigkeiten entstehen nach 22 | Vgl. Foucault, Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983] (DE IV: 537). Vgl. Bevir 2008, der die deutsche Tradition (Adelsgenealogie, Hegel und Historismus) nicht berücksichtigt. 23 | Foucault 1969: 106. Vgl. dazu kritisch Brieler 1998a. Erhellender ist an dieser Stelle Pierre Bourdieus Begriff der Praxis, der – sich von Marx’ Definition von Praxis als »sinnlich menschliche Tätigkeit« herschreibend – Kritik am scholastischen Denken übt: Nach Bourdieu ist Praxis ›das Andere‹ der Sozialwissenschaft – also alles, was nicht Theorie ist. In einer anti-intellektualistischen Volte definiert Bourdieu Praxis dahingehend, »dass schon das Nachdenken über die Praxis und das Sprechen über sie uns von der Praxis trennt« (Bourdieu 1997: 67). Für Benjamin ist die Praxis (abgesehen von der politischen) immer ein unbewusster Vorgang: »Seele, Auge und Hand sind [...] in einen und denselben Zusammenhang eingebracht. Ineinanderwirkend bestimmen sie eine Praxis. Uns ist diese Praxis nicht mehr geläufig.« (Benjamin, Der Erzähler (1928–1935), GS II: 464). 24 | Foucault, Macht und Körper [1975] (DE II: 939). Vgl. auch Foucault, Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben [1967] (DE I: 767). 25 | Bereits 1967 erklärt Foucault jedoch, dass »[s]eine Archäologie Nietzsches Genealogie weit mehr verdankt als dem Strukturalismus im eigentlichen Sinne« (Foucault, Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben [1967] (DE I: 768). Bereits seine Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft konfrontiert »im Lichte der großen nietzscheanischen Forschungen die Dialektik der Geschichte mit den unbeweglichen Strukturen der Tragik« (Foucault 1961: 11 = DE I: 227); die Archäologie des Wissens beruft sich dann auf die »durch die Genealogie von Nietzsche vorgenommene Dezentrierung« (Foucault 1969: 24) des Subjekts, die ihn von seiner eigentlich intendierten »Suche nach dem Ursprünglichen« (25) abgehalten habe. In seinem Nietzsche-Aufsatz von 1971 gibt
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Foucault aus historisch sich verändernden Machtkonstellationen.26 Foucault möchte die bestehende Ordnung analysieren und die Mechanismen ihres Funktionierens sichtbar machen, ihr die »Maske der Evidenz« (Eribon 1991: 314) abreißen, hinter der sie sich verbirgt. Was zeichnet nun Foucaults anti-cartesianischen ›Discours de la méthode‹ als ›anti-ideengeschichtliche‹ Programmschrift aus (Schlesier 2006: 29)?27 Das erklärte Ziel der Archäologie des Wissens besteht darin, »eine Methode historischer Analyse zu definieren, die vom anthropologischen Thema befreit ist« (Foucault 1969: 28) und damit die Subjektzentriertheit der Humaniora in einer »kritischen Geschichte des Denkens«28 zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, entwirft Foucault verschiedene Strategien, von denen ich eine herausgreifen und im Folgenden näher erläutern möchte, nämlich seine Kritik der ideengeschichtlichen Vorstellung von Ursprung, Genese und Kontinuität. Foucault kann durch seine Kritik der ideengeschichtlichen Genese-Vorstellung gegen die Vernunftzentrierung der Aufklärung und deren anthropologische Verallgemeinerung argumentieren. Damit positioniert sich Foucault konträr zu den herrschenden geistes- und ideengeschichtlichen Auffassungen seiner Zeit. Foucault bedient sich zur Durchsetzung seiner Argumente dreier Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts:29 einmal Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kritik der Ideengeschichte (und seine Bevorzugung der Phänomenologie), sodann Hippolyte Taines Kritik des ›epistemischen‹ Positivismus (und seine Bevorzugung von Milieustudien) sowie Friedrich Nietzsches Kritik der phänomenologischen Kausalität (und seine Bevorzugung einer nicht-teleologischen Genealogie). Während ich die beiden ersten Aspekte nicht weiter verfolgen werde (vgl. Kelm 2015: 175 ff.), interessiert v. a. der letztgenannte Aspekt. In seinem 1971 erschienenen Aufsatz Nietzsche, die Geschichte, die Genealogie formuliert Foucault seinen Genealogiebegriff aus, doch reicht seine Auseinandersetzung mit Nietzsche bis über seinen Vortrag Nietzsche, Freud, Marx (1967) in die Frühwerke zurück (Saar 2007). Durch seine Nietzsche-Lektüre gelingt es Foucault,
Foucault dann jeden Versuch auf, »lineare Genesen zu beschreiben« (Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971], DE II: 166). 26 | Schwierig gestaltet sich auch der literaturwissenschaftliche Umgang mit der Diskursanalyse. Unter dem Stichwort des »Gegendiskurses« hat Geisenhanslüke 2008 erwiesen, dass Literaturwissenschaft und Diskursanalyse nicht vermittelbar sind, da erstere sich mit Fiktionen beschäftige. Im Zusammenhang einer ›Genealogie der Literaturkritik‹ interessiert eine solche Feststellung jedoch nicht, da Literaturkritiken nicht dem fiktionalen Diskurs zurechnen. 27 | Ich folge in meiner weiteren Argumentation Schlesier. 28 | Vgl. Foucault, Foucault [1984] (DE IV: 777). 29 | Ich finde es interessant und bedenkenswert, dass es solche des 19. Jahrhunderts sind.
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den onto-teleologischen Geist aus der Geschichtswissenschaft zu exorzieren. Doch wo liegen die Ursprünge von Foucaults Ursprungsforschung? In In Verteidigung der Gesellschaft (Foucault 1975: 57–75, 82–83) legt Foucault zwar die Genealogie seiner ›Genealogie‹ dar, die er auf die Religionskriege und politischen Kämpfe des 17. und 18. Jahrhunderts zurückführt (Vogl 2008: 256). Doch doppelt Foucault hier nur die Herkunft seiner maßgeblichen Inspirationsquelle, Nietzsches Genealogiebegriff, die gleichfalls im 18. Jahrhundert wurzelt30 (später freilich hat Foucault eingeräumt, wie wichtig seine Lehrer und Kollegen für seine eigene Nietzsche-Rezeption waren).31 Auf Nietzsches Genealogie der Moral zurückzugreifen, war für Foucault naheliegend, da eine Reihe französischer (Geschichts-)Philosophen zwischen 1945 und 1970 eine antihegelianische Wende vollzieht, die – sich auf Nietzsche berufend – im Folgenden im Sinne einer ›Genese von Foucaults Nietzsche-Rezeption‹ nachgezeichnet werden soll,32 erhellt sie doch die ›Genealogie des Genealogen Foucault‹. Soweit ich sehe hat die ausufernde Literatur zu Foucaults Aneignung von Nietzsches Genealogie-Begriff bislang diese ›Wurzeln‹ nicht freigelegt (vgl. symptomatisch Weigel 2006: 21 ff.). Ein solches Verfahren wendet sich (hermeneutisch) gegen Foucaults Vorstellung der ›ursprungslosen Genealogie‹, statt emphatisch an diese anzuschließen. Die französische Nietzsche-Rezeption nach 1945 schreibt sich von Georges Bataille her (der im Übrigen Walter Benjamins Manuskript des Passagenwerks in der Bibliothèque Nationale vor der deutschen Okkupation versteckte und 1948 nach New York an Adorno sandte),33 sowie von Maurice Blanchot34 und Gaston Bachelard.35 Neben diesen drei Autoren beruft sich eine Vielzahl französischer
30 | Nietzsche ist beeinflusst von d’Alemberts Discours préliminaire (1751) (in dem d’Alembert dem Ursprung von Gut und Böse nachgeht, um eine humanistische Ethik zu etablieren, die die traditionellen christlichen Moralvorstellungen ersetzt) und Helvétius’ De l’ésprit (1758, darin das Kapitel Genéalogie des passions) (vgl. Voegelin 1944: 118 f., 78). Vgl. auch den Eintrag »Généalogie« in der Éncyclopédie sowie den ebd. beigefügten Stammbaum der Wissenschaften (Système figuré des connoissances humaines), der durch Diderots Explication detaillée du système des connoissances humaines expliziert wird. 31 | Foucault, Gespräch mit Ducio Trombadori [1980] (DE IV: 61 ff.). 32 | Zur Nietzsche-Rezeption in Frankreich zwischen 1933 und 1970 vgl. Schrift 1995: 2, (der die Vermitteltheit der französischen Nietzsche-Rezeption über Martin Heidegger betont – ein Aspekt, den Foucault er kurz vor seinem Tod eingestand); Saar 2007: 169 f.; Oei 2008; Woodward 2011. 33 | 1945 erscheint Batailles Text Sur Nietzsche, der Nietzsche als Helden des späten neunzehnten Jahrhunderts deutet und den Bataille identifikatorisch liest, vgl. Warin 1994. 34 | Vgl. Blanchots L’espace littéraire (1955) und L’attente l’oublie (1962); dazu Gelhard 2000. 35 | Vgl. Bachelards L’eau et les rêves (1942) und L’art et les songes (1943); dazu Huang 2007.
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(Geschichts-)Philosophen der Nachkriegszeit auf Nietzsche, doch sind es vier Historiker bzw. Philosophen, mit denen Foucault in engerem Kontakt stand und die sein Verständnis von Nietzsche und von dessen Genealogie-Begriff maßgeblich prägten: neben dem Lehrer Georges Canguilhem ist es der Kollege und Nietzsche-Mitherausgeber Gilles Deleuze, Foucaults (ehemaliger) Assistent Jacques Derrida sowie der Schriftsteller und Übersetzer (u. a. Walter Benjamins) Pierre Klossowski.36 Canguilhem – nur rund zehn Jahre jünger als Walter Benjamin – zeichnet 1946 die französische (auf Descartes fußende) und die deutsche (auf Nietzsche fußende) Genealogie als ›zwei Rationalismen‹ nach (Canguilhem 1946: 28). Während Nietzsche genealogisch ›Gut‹ und ›Böse‹ scheidet, ›genealogisiert‹ Canguilhem in seiner titelgleichen Dissertation »[d]as Normale und das Pathologische« (1943). 1971 erschien zudem die von Michel Foucault37 herausgegebene Hommage à Jean Hyppolite, die neben Foucaults Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie auch Canguilhems epistemologischen Grundlagentext De la science et de la contre-science enthält – ein Aufsatz, der sich gleichfalls mit der Genealogie Nietzsches auseinandersetzt. Canguilhem gelangt zu der Einsicht, dass eine gegenläufige Geschichte der Wahrheit, eine Geschichte dessen, was in Ontologie und klassischer (Wissenschafts-)Geschichte als ›Fehler‹ gilt, geschrieben werden muss (Canguilhem 1971: 177 f.). Wie Foucault (und mit diesem) betont Canguilhem die Relevanz einer diskontinuierlichen (Wissenschafts-)Geschichte, die »eine Genealogie der Begriffe rekonstruieren [muss]. Aber diese Genealogie besitzt eine Diskontinuität […]. Lückenlose Abstammungslinien könnte man nur erreichen, wenn man alle Träume und Programme, alle Vorahnungen und Antizipationen ineinanderfließen ließe; überall fände man Vorläufer für alles.« (Canguilhem 1963: 17) Das jedoch sei ein antiwissenschaftlicher Zugang, da die in der Wissenschaft gefällte logische Vorentscheidung für oder gegen eine Geschichte oder einen ›Fehler‹ nicht bereits die
36 | In Frankreich ist die Nietzsche-Begeisterung der Poststrukturalisten auf Skepsis gestoßen, weil sich dahinter ein ›antihumanistisches Denken‹ offenbare (vgl. Ferry/Renaut 1985). Manfred Frank schloss an diese Kritik an und unterstellte der deutschsprachigen PoststrukturalismusRezeption, dass sie an die irrationale Nietzsche-Lektüre des Nationalsozialismus anschließe (Frank 1988). Ähnlich argumentiert – jedoch unter Berufung auf das marxistische Theoriegebäude – Rehmann 2002. 37 | Die Bibliographien und Bibliothekskataloge verzeichnen Suzanne Bachelard als Herausgeberin. Das Vorwort ist jedoch mit dem Akronym M. F. unterzeichnet, das nach Michel Foucault aufzulösen ist. Bachelard ist unter den alphabetisch gereihten Textbeiträgern als erste genannt, aber nicht als Herausgeberin gekennzeichnet.
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Realität abbilde, sondern nur selber das Ungenügen ihres Diskurses ausstellt (Canguilhem 1963: 177 f.). An diese Position schließt wiederum Foucault an.38 Entscheidender noch ist jedoch die Studie Nietzsche und die Philosophie (1962) von Gilles Deleuze, Foucaults Kollegen an der Université de Vincennes à Saint-Denis, und 1967 (gemeinsam mit Foucault) Mitherausgeber zweier Bände der von Pierre Klossowski übersetzten und verantworteten französischen Nietzsche-Ausgabe.39 In seiner Studie stellt Deleuze Nietzsche als den Gegenspieler Hegels dar, der eine Form der »Anti-Dialektik« betrieben habe (Saar 2007: 193 f.). Die Verabschiedung der hermeneutischen Interpretation sowie die Dezentrierung des Subjekts durch Deleuze gehen zurück auf seine antihegelianische Nietzsche-Lektüre und prägen Vorstellungen der Postmoderne allgemein wie der postmodernen Nietzsche-Rezeption im Besonderen (Rehmann 2001: 189). Unter Berufung auf Nietzsches Genealogie der Moral (ein Text, der für Deleuze, Derrida und Foucault von entscheidender Bedeutung ist) konstatiert Deleuze, dass Nietzsches Begriff der Genealogie nach der Herkunft und Erschaffung von »Sinn und Wert« (Deleuze 1962: 5) gefragt habe statt die hermeneutische Frage nach Wesen und Ursprung zu stellen. Werte würden durchgesetzt, und in diesem Sinne bezögen sich Werte auf ein ihnen Vorausliegendes, »das gleichsam ihr Ursprung, ihre Herkunft ist und über ihren Wert entscheidet«: »Genealogie meint zugleich den Wert der Herkunft und die Herkunft des Wertes.« (6) Deleuze misst folglich der Genealogie Nietzsches nicht nur einen ontologischen, sondern auch einen normativen Charakter zu: »Die Genealogie interpretiert nicht nur, sie setzt Werte, sie schätzt.« (10) Damit deklariert Deleuze Nietzsche zum Antimetaphysiker und Antidialektiker, der die dialektischen Widersprüche und Gegensätze überwunden habe wie er zugleich über das »Wertsetzungsgeschehen« (Saar 2007: 172, 194) Klarheit zu erlangen versucht. An diese Überlegungen schließt Jacques Derrida in der Grammatologie an.40 Ihm geht es darum, die bedeutungszuschreibende Gewalt des Diskurses aufzudecken, die u. a. vermeintlich positive Werte (wie ›Subjekt‹, ›Wissen‹, ›Wahrheit‹ usw.) hinterfragt, indem sie deren Geltungsbereiche räumlich und zeitlich 38 | Foucault, Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft [1984] (DE IV: 950). Vgl. dazu Muhle 2008: 196 ff. Vgl. auch Braunstein 2002. 39 | Vgl. Foucault/Deleuze: Allgemeine Einführung [zur französischen Nietzsche-Ausgabe, 1967] (DE I: 723–726). Anders als Derrida und Foucault hat Deleuze für seine eigene Arbeitsweise aber kaum methodisch weitreichende Schlüsse aus Nietzsches Genealogie abgeleitet, vgl. auch Woodward 2011: 66 ff. 40 | Vgl. auch Woodward 2011: 164 ff. Derridas Éperons von 1978 werde ich nicht berücksichtigen. Es handelt sich dabei sicherlich um die eingängigsten Auseinandersetzung Derridas mit Nietzsche, doch liegt sie zeitlich nach Foucaults maßgeblicher Nietzsche-Rezeption.
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verschiebt und damit Bedeutungszuschreibungen letztlich auflöst. Aus diesem Blickwinkel erscheint das Derridasche Konzept der ›différance‹ vornehmlich eine Metaphysik-Kritik; und hier fällt letztlich Derridas Lektüre mit ihrem ›Lector‹ zusammen: Nietzsches Begriff der Genealogie unternehme die Anstrengung, gegen die Tradition der Metaphysik anzuarbeiten. Derrida bezieht sich mit seinem Neologismus der ›différance‹ explizit auf Nietzsche (Derrida 1968: 43)41 – die ›différance‹ ist nach Derrida der nachmetaphyische ›Ursprung‹ aller ›différences‹: »Die différance ist der nicht volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ›Ursprung‹ nicht mehr zu.« (Derrida 1968: 37) Derrida leitet aus dieser Genealogie der Phonetisierung – denn nichts anderes vollzieht seine Grammatologie durch ihre Nietzsche-Lektüre – eine »notwendige Trennung der Ursprünge dieser Bewegungen« ab und fasst die so gewonnene »Vielfältigkeit der Ursprünge« unter dem Stichwort der »Urschrift«, die gegen den »Mythos der Einfältigkeit des [einen] Ursprungs« gesetzt wird (Derrida 1967: 29, 36, 167 u.ö.).42 Diese Dekonstruktion von Genealogie ist Derrida in der Grammatologie möglich durch die methodische Prämisse einer Vervielfältigung der Ursprünge. Ähnlich wie nach ihm Foucault betont auch Derrida den Zusammenhang von Macht, Gewalt und Herrschaft, dem die Genealogie nachzugehen habe, aber letztlich handele es sich um eine »symbolische Gewalt« (168), die immer schriftgebunden sei. Das letzte im Rahmen einer ›Genealogie des Nietzsche lesenden Genealogen Foucault‹ zu erwähnende Werk, Klossowskis (Deleuze gewidmetes) Buch Nietzsche und der circulus vitiosus deus (1969), preist Foucault als »das größte Buch der Philosophie, das ich neben Nietzsche selbst gelesen habe.« (Eribon 1991: 233) Dieser ›sympathetischen‹ Lektüre verdankt Foucault seine Einsicht in die konvulsorische ›ewige Wiederkunft‹ sowie in eine semiotische Lektüre Nietzsches, die auf sein Verständnis einer nietzscheanischen Genealogie zurückwirkt (vgl. auch Oei 2008: 204 ff.; Woodward 2011: 81 ff.). Durch die Vorstellung der ›ewigen Wiederkunft‹ soll die auf Verallgemeinerung angelegte, universalistische Moralphilosophie Kants durch Nietzsches partikularistische Lebenskunst widerlegt werden (Rehmann 2001: 200). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die selektive Nietzsche-Lektüre von Canguilhem, Deleuze, Derrida und Klossowski alle jene Aspekte ausklammert (oder sie zumindest entschärft), die bis 1945 die deutschsprachige Nietzsche-Rezeption geprägt und desavouiert haben und die mit Begriffen wie ›Übermenschentum‹ und ›Herrenmoral‹ verbunden ist. Anlässlich seiner eige-
41 | Genau genommen zitiert Derrida nicht Nietzsche, sondern die Nietzsche-Studie von Deleuze aus dem Jahr 1962. 42 | Der Rekurs auf Nietzsche durchzieht die gesamte Grammatologie.
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nen Tätigkeit als Herausgeber von Nietzsche-Texten stellt Foucault 1967 fest, dass die Edition der bislang unveröffentlichten Nietzschetexte »einige Züge deutlicher hervortreten [lässt], die Nietzsche seltsamerweise in die Nähe der Vorlieben der heutigen Philosophie rück[t].«43 An diese spezifische französische Nachkriegsrezeption schließt Foucault mit seiner Interpretation von Nietzsches Genealogie-Begriff an und aktualisiert sie zugleich,44 um seine eigenen Einsichten verorten und sein Programm einer Archäologie präzisieren zu können. Foucault will in seiner selektiven Nietzsche-Lektüre die hermeneutische Textauslegung überwinden, so dass die »Treue« zum Text ihm völlig uninteressant erscheint – [d]ie Leute, die ich liebe, die gebrauche ich. Das einzige Zeichen einer Anerkennung, die man gegenüber einem Denken wie dem von Nietzsche gelten lassen kann, besteht genau darin, es zu 45 verwenden, es zu verformen, es knirschen und schreien zu machen.
Daher ist Foucaults Nietzsche-Rezeption sehr selektiv (und wird ergänzt durch Foucaults Kant-Rezeption, der der Begriff der Archäologie viel verdankt, vgl. Saar 2007: 189 ff.). In zwei Aufsätzen – Nietzsche, Freud, Marx (1967) und Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) – legt Foucault schließlich ein Palimpsest von Nietzsches erkenntnistheoretischen Schriften vor,46 das der Differenz von ›Ursprung‹ und ›Herkunft‹ nachgeht, um der ›wirklichen Historie‹ auf die Spur zu kommen. Dass Foucault alle drei Begriffe auf Deutsch zitiert,
43 | Foucault, Zur Publikation der Nietzsche-Ausgabe [1967] (DE IV: 1024). 44 | Foucault attestiert Deleuze 1970 »die Geduld eines an Nietzsche geschulten Genealogen« (Foucault, Theatrum philosophicum [1970], DE II: 108). Drei Jahre zuvor datiert Foucault eine Wende seiner Geschichtsphilosophie: »Ich sage Ihnen nur, daß ich in ideologischer Hinsicht ›Historist‹ und Hegelianer war, bis ich Nietzsche las« (Foucault, Wer sind Sie, Professor Foucault [1967], DE I: 784 f.). Mit Nietzsche verortet sich Foucault fortan als Genealoge und nicht als Philosoph, da er sich nicht für das »Ewige« und »Bewegungslose« interessiere, also nicht »für das, was durch das Schillern der Erscheinungen hindurch gleich bleibt, sondern für das Ereignis.« (Foucault, Die Bühne der Philosophie [1978], DE III: 721). 1984 behauptet Foucault dann: »Ich bin einfach Nietzscheaner« (Foucault, Die Rückkehr der Moral [1984] (DE IV: 868). 45 | Foucault, Gespräch über das Gefängnis [1975] (DE II: 932). Bereits 1961 postuliert Foucault in Nietzsche, Freud, Marx (DE I: 734), dass jede Interpretation bereits ein Akt der Gewalt sei. Dass der ›Philosoph der Macht‹ (Nietzsche) eventuell ungeeignet ist, Werkzeuge zur Analyse der ›Mikrophysik der Macht‹ bereitzustellen, ist von der Foucault-Forschung bislang kaum thematisiert worden. 46 | Bereits im ersten Satz bekennt Nietzsche, dass jede Genealogie sich mit »mehrmals überschriebenen Pergamenten« beschäftige (Foucault, Nietzsche [1971], DE II: 166). Zugleich betont Foucault am Ende, dass er sich in seiner genealogischen Kritik der drei Kritikpunkte Nietzsches (gegen eine monumentale, eine antiquarische und eine kritische Historie) bedient, sie aber einer »Metamorphose« unterzogen habe (191).
I. Statt einer Einleitung: Konstellationen
belegt ebenso wie sein mimetischer Stil, dass Foucault keineswegs einfach nur einen Text Nietzsches interpretiert, sondern vielmehr, dass er rhetorisch in die »Maske Nietzsches« (Saar 2007: 198) schlüpft, um Nietzsches Genealogie weiterzuschreiben, mehr noch: Foucault geriert sich als Sachwalter der ›eigentlichen‹ nietzscheanischen Genealogie. Dazu zitiert Foucault unterschiedliche Text Nietzsches (und keineswegs ausschließlich die Genealogie der Moral, wie zahlreiche Foucault-Interpreten meinen), nämlich Unzeitgemäße Betrachtungen (1873–1876), Menschliches, Allzumenschliches (1878/79), Morgenröthe (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Jenseits von Gut und Böse (1886), Götzendämmerung (1889) und Nietzsche contra Wagner (1889) – Texte, die Foucault seit seinem Aufenthalt in Civitaveccia 1956 gelesen hatte (Pinguet 1986). Foucaults Ansatz bietet ein weites Feld von Anschlussmöglichkeiten: sein Genealogiebegriff unterscheidet sich – obwohl von einer intensiven Nietzschelektüre ausgehend – in weiten Teilen von der deutschen Nietzsche-Rezeption. Pierre Bourdieu hat skizziert, dass Foucaults auf Nietzsche basierender Entwurf eines ahistorischen Rationalismus von Jürgen Habermas als Irrationalismus wahrgenommen wurde – Habermas übertrug also die faschistische NietzscheRezeption bruchlos auf Foucault (vgl. Bourdieu 1990: 6 f.; Biebricher 2005).47 Foucault jedoch legt an Nietzsches Begriff der Genealogie eine eigene Methode an, um zur ›wirklichen Historie‹ vorzustoßen.48 Doch verfährt Foucault dabei – anders als sein Vorbild Nietzsche – weitgehend hermeneutisch wie er auch im Rahmen des etablierten Wissenschaftssystems verharrt und sich sein ›Grau der Genealogie‹ und sein ›glücklicher Positivismus‹ (Foucault 1969: 182) von Nietzsches Verfahren erheblich unterscheidet (vgl. Wehler 1998: 63 ff.; Müller 2013: 139 f.; Stinglin 2011: 102 f.; Schneider 2002: 220 ff.; Mills 2003: 122 ff.). Während Nietzsche den scheinbar kompakten Wert »Moral« in seine historischen, sozialen, psychologischen und sprachlichen Bedingungen auflöst und auf diesem Weg Genealogie als Kritik etabliert (Saar 2007: 293 ff.), wird bei Foucault die Methode der Genealogie zu einer ›Antiwissenschaft‹ (die sich dennoch im akademischen Kontext Frankreichs bewährt).49 Durch eine intensive Nietzschelektüre, bei der im Hintergrund immer eine Darwin-Lektüre mitläuft (vgl. Sarasin 2009: 204) wie sie auch immer mit Canguilhem, Deleuze und Klossowski und gegen Derrida argumentiert, kann Foucault die Spur der 47 | Zu Habermas’ Nietzsche-Rezeption vgl. Lavagno 2003: 74 ff. 48 | Foucault, Nietzsche [1971] (DE II: 178); vgl. Nietzsche, Genealogie der Moral [1887] (KSA VI/2: 254). Foucault wendet folgerichtig das von ihm entwickelte Verfahren auch auf den explizierenden Text an, der »gegen [seine] eigene Herkunft gerichtet« ist (Foucault, Nietzsche [1971] (DE II, 185). 49 | Vgl. Foucault, Vorlesung vom 7.1.1976 (DE III: 219). Im Gegensatz dazu scheitern Nietzsche und Benjamin in akademischer Hinsicht, vgl. Wohlfarth 1988: 230.
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Genealogie verfolgen und – in seinen späteren Arbeiten – methodisch fruchtbar machen. Worin besteht nun die Relevanz Nietzsches für Foucaults Konzept der Genealogie? In zwei Punkten: zum einen habe Nietzsche auf die Tatsache hingewiesen, dass Genealogie und Historie zwar auseinander fielen, sich aber auch gegenseitig bedingten. »Der Genealoge braucht die Historie, um die Schimäre des Ursprungs zu bannen«, ist hinsichtlich Nietzsche Foucaults zentrale Feststellung.50 Genealogie historisiert also, was nicht historisierbar scheint, wie Moral oder Affekte (vgl. Vogl 2008: 255). Zum anderen kann Foucault mit Nietzsche seine These untermauern, dass innerhalb der ›wahren‹ Methode der Genealogie die »lineare[n] Genesen« unmöglich sind, dass die Aufgabe der Genealogie vielmehr der Nachweis der »Einzigartigkeit« historischer Ereignisse »jenseits aller gleich bleibenden Finalität« sein muss (166). Diese Ereignisse finde der Genealoge »in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen: Gefühle, Liebe, Gewissen, Triebe.« (166) Konkret fordert Foucault, in einer Genealogie nicht die »langsame Kurve einer Evolution« nachzuzeichnen, sondern »die verschiedenen Schauplätze […], auf denen sie [gemeint sind die Diskursformationen, die die Genealogie näher bestimmen] unterschiedliche Rollen gespielt haben«, aufzufinden (166, Übers. angepasst): Folglich lautet das Credo und die Arbeitsanweisung für den Genealogen: »Sie [die Genealogie] steht im Gegensatz zur Suche nach dem ›Ursprung‹«. (167) Durch diese Argumentation löst Foucault die traditionellen teleologische Implikationen auf, die seine Arbeitsweise um 1970 zunehmend behindern (178), ohne nach idealen Anfänge und transzendentalen Ursprüngen zu forschen, sondern verstreute Herkünfte und »zufällige und heterogene Genesen« nachzuzeichnen (Vogl 2008: 255): »es heißt zu entdecken, dass an der Wurzel dessen, war wir erkennen […], nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls.« (172) Durch die Genealogie sind scheinbare epistemische und moralische Ordnungen als »Kraftwirkungen, die diskontinuierliche Ereignisse von Kräften und Gegenkräften sichtbar macht«, darstellbar (186–191). Die ›tiefste Wahrheit‹ (ein widersprüchlicher Begriff in diesem Zusammenhang, impliziert er doch Erstmaligkeit und Finalität), die der Genealoge enthüllen kann, ist »das Geheimnis, dass sie [die Dinge] gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren.« (168 f.) Daher gilt: »niemand [ist] für das Entstehen verantwortlich, und niemand kann sich dessen rühmen. Es geschieht in einem Zwischenraum.« (176)
50 | Foucault, Nietzsche [1971] (DE II: 171, vgl. auch S. 183 ff.). Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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Ein Hauptproblem in Foucaults Lesart von Nietzsche ist die Fortschreibung der schon bei Nietzsche nicht konsequent durchgehaltene Unterscheidung von ›Ursprung‹ und ›Herkunft‹ – beide Wörter (und weitere Begriffe aus diesem Umfeld, wie ›Anfang‹, ›Abkunft‹, ›Geburt‹, ›Gründung‹ und ›Entstehung‹) zitiert Foucault auf Deutsch, um die Quellennähe seines eigenen Textes zu demonstrieren und Nietzsches Texte zu ›überschreiben‹. Foucault zitiert diese Begriffe aber auch, weil Nietzsche sie in der Genealogie der Moral (anders als noch in der Geburt der Tragödie) als Antinomien aufgefasst habe (168, 171). Doch das erweist sich als Irrtum, als bewusstes Fehllesen Foucaults, weil Nietzsche keine klare Opposition zwischen den Begriffen ›Entstehung‹ und ›Ursprung‹ aufbaut, ebenso wenig wie zwischen Geschichte und Genealogie (Cook 1990: 302).51 Mit ›Ursprung‹ bezeichnet Nietzsche keineswegs den »Ort der Wahrheit«, wo »die Wahrheit der Dinge sich mit der Wahrheit des Diskurses verbinde.« (170) Foucault geht es gar nicht um eine Rekonstruktion von Nietzsches Geschichtsphilosophie, sondern um deren Indienstnahme zur Explikation der eigenen Auffassung. Dass am ›Ursprung‹ eine ›Wahrheit‹ zu finden sei, bestreitet Foucault mit Nietzsche, da es sich sowohl um eine Theogonie wie um eine Teleologie handele, mithin also einen Zustand der Reinheit zu rekonstruieren trachte, der keinem Diskurs eigne (169). Im Gegenteil eigne der wirklichen historischen Herkunft stets »etwas Niederes«, geeignet, »jede Selbstgefälligkeit zu zerstören.« (169) ›Lausche‹ der Genealoge aufmerksam der Geschichte, statt den ›Versprechungen‹ der Metaphysik ›Glauben zu schenken‹, erkenne er nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren. Am geschichtlichen Anfang der Dinge [!] stößt man nicht auf die noch unversehrte Identität des Ursprungs, sondern auf das Zerwürfnis des Unterschiedlichen, auf das Verschiedenartige. (169, Übers. angepasst)
Statt die identitäre Einheit einer gegenwärtigen Gestalt zu rekonstruieren, entdecke der Genealoge, dass sie aus fremden, widersprüchlichen Figuren bestehe – und darüber nicht einen Anfang hat, sondern »unzählige Anfänge« (172).52 Doch hatte Nietzsche im vom Foucault zitierten Ausschnitt von Menschliches, Allzumenschliches lediglich postuliert, dass scheinbare Antagonismen (wie ›Gut‹ und ›Böse‹) auseinander hervorgehen könnten (und nicht in einem metaphysischen »Wunder-Ursprung« gründeten), ebenso wie Nietzsche nicht alle Ur-
51 | Cook 1990 bietet einen sehr genauen kontextsensitiven Vergleich von Foucaults NietzscheZitaten und den Originaltextstellen bei Nietzsche, vgl. auch Holub 1996: 254. 52 | Zu den ebenso ›fremden‹ wie ›zahlreichen‹ Ursprüngen des Homo sapiens vgl. Sarasin 2009: 231.
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sprünge als metaphysisch fundiert erachtete und auch nicht eine Unterscheidung von ›historischer‹ und ›metaphysischer‹ Ursprungsforschung vornimmt (Cook 1990: 301). Nietzsches Beschreibung der drei Formen der Geschichtsschreibung – der monumentalen, der antiquarischen und der kritischen – stellt Foucault systematisch seine ›Genealogie‹ gegenüber, die er mit Inhalten füllt, die sonst seiner ›Archäologie‹ vorbehalten sind. Im Kontext einer gegen die Ideengeschichte gerichteten Genealogie wird die teleologische Ursprungsvorstellung der Ideengeschichte verworfen, aber zugleich deren Konzept einer Ursprünglichkeit aufgegriffen und modifiziert. Oder, wie ein Diskursanalytiker formulieren würde: Bei Foucault bringt der Diskurs der Archäologie den Diskurs der Genealogie zum Verschwinden. Ein Grund hierfür dürfte die Tatsache sein, dass Foucault nach seiner Berufung ans Collège de France (1970) zum einen die Beständigkeit der Institutionen anerkennen musste – er, der die Institutionen bekämpft hatte, gehörte nun selbst einer an –, zum anderen sich gegen die epistemologischen wie gegen die epistemisch-strukturalistischen Modelle seiner Lehrer und Kollegen (Bachelard, Canguilhem, Barthes, Lévi-Strauss) absetzen musste. Foucaults Genealogie entsteht in Auseinandersetzung mit den phänomenologischen Konzepten seines Lehrers Jean Hippolyte, der Hegel in Frankreich in den 1940er Jahren bekannt macht, zunächst durch eine Übersetzung der Phänomenologie des Geistes, später auch durch eigenständige Arbeiten, die Hegels Geschichtsphilosophie weiterentwickeln (vgl. Hoth 2007; Pillen 2007). Zwar widmet Foucault seine genealogische Methodologie (den Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie) dem Andenken seines Lehrers, dem er nach dessen frühen Tod 1970 auf dem Lehrstuhl am Collège de France nachfolgt. Doch obwohl er – akademischen Gepflogenheiten gemäß – Hippolyte durch ein HegelZitat ehrt, stellt seine Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France eine Negierung der Hegelianischen Phänomenologie und ihre Ersetzung durch eine Nietzscheanische Genealogie dar. Bereits mit dem NietzscheAufsatz fixiert Foucault seine Position, die darauf abzielt, sich mit Nietzsche von der von Hegel beabsichtigten Vollendung der Metaphysik im Geiste der modernen Vernunft abzusetzen (vgl. White 1978: 271), und gleichzeitig – auf Nietzsche zurückgreifend – diesen als seinen methodologischen Vorläufer auszuweisen.53 Foucaults Blick auf die »unzähligen Anfänge« (172) ist ein zutiefst pessimistischer, da er eine ›monumentale Historie‹ im Sinne Nietzsche ablehnt und stattdessen eine »Nächstgelegene« (181), am »Leib«, dem »Nervensystem«, der »Nahrung und Verdauung« (181) orientierte Geschichte propagiert, die »Er-
53 | »Foucault’s ›postmodern‹ Nietzsche is a ventriloquist’s dummy through whom Foucault himself as anti-historian and pro-genealogist speaks« (Holub 1996: 256).
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nährung, Klima, Boden […], Begierden, Schwächen und Irrtümer« (174) fokussiert, also eine ›Geschichte des Verfalls‹ (181), »[d]enn Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden.« (180)54 Dem Genealogen biete sich kein erhabenes ›Gipfelpanorama‹, sondern »ein unaussprechliches, barbarisches Gewimmel« (181). Peter Szondi hat festgestellt, dass in Hegel Geschichtsphilosophie »Tragödie und Dialektik« zusammenfielen (Szondi 1978: 167); parallel ließe sich konstatieren, dass in Foucaults Nietzsche-Lektüre ›Pathologie und Genealogie‹ zusammenfallen, mehr noch: dass die Genealogie nicht allein das Programm der Archäologie ergänzt oder ersetzt, sondern verdrängt, um Geschichte als Pathologie deuten zu können. Das in Wahnsinn und Gesellschaft angelegte archäologische Programm versucht zwar, im Zurückgehen auf den Ursprungspunkt, an dem Wahnsinn und Vernunft auseinandertreten,55 die – um eine Wendung Derridas aufzugreifen – »Geschichte der Geschichtlichkeit, [die] Geschichte des Ursprungs der Geschichte« (Derrida 1967a: 70) – zu erweisen. Trotz des von Habermas kritisch gesehenen Anspruches einer »Destruktion der Historik« (Habermas 1988: 298; Habermas 1985: 126–137): Mit dieser Annahme bleibt Foucault dem dialektischen Denken weitgehend verpflichtet. Nur aus der Einsicht in diesen unüberwundenen Widerspruch lässt sich auch Foucaults harsche Kritik an Derrida verstehen, dem er die »Reduktion diskursiver Praktiken auf textuelle Spuren« vorwirft, so dass, da es »nichts außerhalb des Textes gibt, [und dass] in seinen Zwischenräumen, in seinen Leerstellen und seinen Ungesagtheiten das Reservat des Ursprungs regiert«.56 Foucault relativiert Derridas (unter Rückgriff auf Nietzsche) Privilegierung der Arbeit am Text, die seit der Thora-Exegese die mit der Textarbeit befassten Wissenschaften beschäftigt und betont dagegen die Relevanz der diskursiven Praktiken als Zusammenhang von historischen Wissensformen und sozialen Mechanismen der Diskurskontrolle. Gleichzeitig verhält sich Foucaults eigener Versuch, der Hegelschen Dialektik zu entkommen, ambivalent zum hermeneutischen Verfahren: indem Foucault, sich auf Nietzsche berufend, von Hegels Phänomenologie des Geistes ›Phänomen‹ und ›Geist‹ subtrahiert, bleibt als Basis einer Genealogie einzig der Logos – also wiederum Sprache (White 1978: 273). Die sich daraus zwangsweise ergebende Unausweichlichkeit der Dialektik ist bezeichnend, da Foucault sich beim ›subversivem Diskurs‹ der Literatur be-
54 | Das französische Verb ›trancher‹ bezeichnet sowohl das Durchschneiden als auch das ›Abschneiden [eines Kopfes]‹ als auch das Entscheiden oder Klären. 55 | Foucault kommt zu dem ›vollkommen überraschenden Schluss‹, dass dies im 18. Jahrhundert oder genauer: um 1800 der Fall gewesen sei. 56 | Foucault, Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer [1972] (DE II: 330).
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dient, um seinen subversiven theoretischen Ansatz zu postulieren. Damit untergräbt er aber zugleich sein ambitioniertes Unterfangen (vgl. Geisenhanslüke 2008: 61). Positiv gewendet könnte man auch folgern, dass Foucault entgegen seinen häufigen Beteuerungen doch immer Textinterpret bleibt, wo textnahe Analyse und historische Darstellung einander zu ergänzen zu vermögen (Bogdal 2007: 7). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für einen Genealogen im Foucaultschen Sinne gelten muss: (1.) Geschichtlichkeit gehört nicht zur Ordnung der Sprache, sie ist kriegerisch und damit abzulehnen, (2.) die Herkunft der abendländischen Normen, Werte, Ideen und ›Wahrheiten‹ muss analysiert und destruiert werden sowie (3.) die Erinnerung an die lokalen Kämpfe um anerkanntes Wissen muss wieder entdeckt werden.57 Zu (1.) führt Foucault aus, dass nicht nur jede Interpretation unabschließbar sei und immer nur auf andere Zeichen verwiese (soweit bleibt Foucault im üblichen kultursemiotischen Rahmen), sondern dass es für Nietzsche in dessen Genealogie der Moral »kein ursprünglich Bezeichnetes« gebe, weil »die Worte selbst nichts als Interpretationen« sind, und zwar, »bevor sie Zeichen sind«. Eine Bedeutung eignet ihnen bloß, »weil sie Interpretationen sind«.58 Bedeutung erlangen Zeichen also erst durch einen gewaltsamen Akt der Interpretation, der eine bereits vorhandene Interpretation aus den Zeichen herauslöst (734): »Unter allem, was spricht, liegt ständig das große Gewebe der gewaltsamen Interpretation.« (735, Verb umgestellt CSM) Das »Prinzip der Interpretation« sei »nichts anderes als der Interpret« selbst (736). Der Genealoge nun rekonstruiert dieses Kräfteverhältnis, aus dem heraus Bedeutungen generiert wurden und Interpretationen entstanden. Daraus leitet Foucault (2.) ab, dass sich auch der Genealoge auf ein Subjekt beziehen müsse, das das Feld der Ereignisse transzendiere und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt halte. Universelle Regeln werden jedoch von Foucault (3.) als Resultat eines zufälligen Auftauchens erfolgreich durchgesetzter Interpretationen demaskiert (183). Mit der Foucaultschen Eingrenzung und Rückbeziehung des GenealogieBegriffes auf Nietzsche ist dem Habermasschen Einwand das Wort geredet, demzufolge jede Grabung nach Herkunft bloß »ästhetische Assimilationen« sei (Habermas 1992: 11). Die Kritik des Ursprungs bei Foucault führt dazu, dass seine Methode der ›Genealogie‹ der Ideengeschichte viel verdankt, sich aber kritisch zu einer ›totalitären Ursprungsgrabung‹ verhält. Bereits bei Nietzsche angelegt, aber bei Foucault eingefordert ist ein »genealogischer Imperativ«
57 | Foucault, Man muss die Gesellschaft verteidigen [1976] (DE III: 166). 58 | Foucault, Nietzsche [1964] (DE I: 734 f.). Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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(Saar 2007: 125 ff.). Foucaults Genealogie sucht nicht die Persistenz der Gegenstände nachzuweisen noch die Persistenz der Bereiche, die sie hervorbringen, noch ihre ›Entstehung‹ zu erweisen. Vielmehr geht es ihn um das »Inbeziehungsetzen der Oberflächen, wo sie erscheinen, sich abgrenzen, analysiert werden und sich spezifizieren können.« (Foucault 1969: 71)59 Gleichzeitig – und das ist das untilgbare Erbe der Ideengeschichte in Foucaults geschichtlichem Denken wie der unausweichlichen Befangenheit im Sprachsystem – besitzt der Diskurs »nicht nur einen Sinn oder eine Wahrheit, sondern auch eine Geschichte«, und zwar eine spezifische Geschichte. Im Fluchtpunkt eines solchen Denkens steht nicht »die Rückkehr zum Geheimnis des Ursprungs«, sondern »die systematische Beschreibung eines Diskurses als Objekt.« (Foucault 1969: 200) Die Aufmerksamkeit einer so verstandenen Diskursanalyse richtet sich nicht länger auf den sinnverkürzend enthistorisierten ›Ursprung‹, sondern auf die »Transformationen« der Ordnung des Diskurs in eine Praxis, die ihr benachbart sein kann (Foucault 1969: 298).60 In Foucaults Sinne lässt sich so eine ›Entstehung‹ nachweisen: als Erscheinungen, die »dort [auf der Bühne] einbrechen und voll Jugendfrische aus den Kulissen springen.«61 Insofern verhält sich Foucault Genealogie »nicht teleologisch, nicht ziel- und mithin auch nicht sinngerichtet« (Frank 1989: 369).
b. Genese der Genealogie: Benjamins Nietzsche-Rezeption Doch ist das alles nicht eine äußerst bewusste Provokation, ein Gegen-denStrich-Lesen Nietzsches durch Foucault, bei gleichzeitiger (zumeist unreflektierter) Nachahmung? Und bleibt Foucault nicht weitgehend den Vorstellungen verpflichtet, denen er zu entkommen hofft? Der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz kritisiert Foucault zu einem recht frühen Zeitpunkt als »a nonhistorical historian, an anti-humanistic human scientist, and a counter-structuralist structuralist«. Hauptsächlich moniert Geertz, dass Foucault – wie die meisten der seinerzeit angesagten französischen Meisterphilosophen – schwer zu fassen (»elusive«) und obskur sei (Geertz 1978: 3). Das ›Trügerische‹ ist jedoch 59 | Implizit kann man die Herausbildung einer zyklischen (oder doch zumindest non-linearen) Geschichtsauffassung bei Foucault im Zusammenhang mit seiner Beschreibung der »Sattelzeit« (Koselleck) als Gegenmodell zur ›Entstehung des Geschichtsbewusstseins aus dem Geiste der sprachlichen Ordnung im 18. Jahrhundert‹ verstehen. 60 | Erst in seiner in Rio de Janeiro 1974 gehaltenen Vorlesung Die Wahrheit und die juristischen Formen arbeitet Foucault sein Konzept der diskursiven Praktiken heraus, das seinen nietzscheanischen Diskontinuitätsbegriff ergänzt. 61 | Foucault, Nietzsche [1971] (DE II: 176).
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von Foucault bewusst gewählt und entspricht einem Provokationsbedürfnis, das sich gegen den etablierten Historismus, die Wissenschaftsinstitutionen und die akademischen Lehrer (allen voran Jean Hyppolite, den Hegelianer) richtet.62 Doch ihr lässt sich begegnen, indem man Foucaults Aneignung der Nietzscheanischen Genealogie durch Walter Benjamin ergänzt, der sich in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen und v. a. in der Entfaltung des Ursprungs-Begriffs gleichfalls an Nietzsche und dessen Historismuskritik anlehnt.63 Auch wenn Benjamins Stoßrichtung zahlreiche Gemeinsamkeiten zu Foucaults Ansatz aufweist, so genießt seine hermeneutische Auslegung den Vorzug einer besseren Verständlichkeit und Anschlussfähigkeit als Foucaults oft allzu gewollten Provokationen64 – Benjamins geschichtsphilosophischen Positionen zu Genealogie, Ursprung und Genese stellen also in meiner Lesart eine sinnvolle Ergänzung zu Foucaults Nietzsche-Rezeption dar. Auch Benjamins Position zur Genealogie, zu Vorstellungen von ›Ursprung‹ und ›Genese‹, ist eine geschichtsbewusste, die die Bedeutung von Fortschritt, Kontinuität und Wahrheit in der Geschichte einer kritischen Reflexion unterzieht (vgl. Simonis 1998: 247 ff.). Benjamin geht – wie Nietzsche65 und (an-
62 | Es lässt sich eine ganze Reihe von Einwänden gegen Foucaults Nietzsche-Aufsatz von 1971 vorbringen, ich nenne nur zwei: Foucault bedient sich eines dialektischen Argumentationsschemas (hier die etablierte Geschichtswissenschaft, dort Nietzsche, daraus resultierend Foucault) und das Projekt einer Genealogie beansprucht, eine Kritik der Elite zu leisten, argumentiert aber selbst ›antiplebejisch‹. 63 | Nahm in den 1980er Jahren Foucault unter amerikanischen Historikern die Rolle einer philosophischen Beglaubigungsinstanz ein, so hatte Benjamin diese Rolle in den 1990er Jahren inne (vgl. Schwartz 2001). Das hängt jedoch v. a. damit zusammen, dass beider Schriften – soweit sie sich auf Nietzsche beziehen – fragmentarisch sind oder Einzeläußerungen darstellen und daher besonders gut für methodologische Diskussionen zu vereinnahmen sind. Zu einer schlüssigen Parallelführung von Nietzsches Geburt der Tragödie und Benjamins Trauerspielbuch vgl. McFarland 2013: 67 ff. Zu Benjamins Historismus-Kritik vgl. Schweppenhäuser 1999. Für eine messianisch begründete Entteleologisierung bei Benjamin vgl. Khatib 2013. 64 | Erstmals Foucault und Benjamin über Nietzsche zusammengedacht hat Pfotenhauer 1978: 107 ff. Benjamins und Foucaults Genealogie ist bislang kritisch aufeinander bezogen worden von Weigel 1995, wiederabgedruckt in Weigel 1997: 203–212 (Weigel zeigt die Verbindungen der frühen Frankfurter Schule zum Poststrukturalismus, überbetont dabei jedoch die Übereinstimmungen) und Mazzocchi 2008 (der allerdings eine marxistische Benjamin-Lektüre stark macht). Vgl. auch Sagnol 2003 u. Brandstetter 2002. Bedauerlicher Weise verbindet Hanssen 2000 nicht das Genealogie- bzw. Ursprungskonzept von Nietzsche, Benjamin und Foucault, obwohl sie sich mit allen drei Autoren beschäftigt. Vielmehr deutet sie Foucaults Analyse der Macht vor dem Hintergrund von Benjamins Kritik der Gewalt. 65 | Zu einer semiotischen Lektüre von ›Genealogie‹ bei Kant, Nietzsche und Benjamin vgl. Richter 2013.
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schließend an diesen) Foucault – von einem genealogischen Prinzip aus, demzufolge der Wissenschaftler dem ›Verborgenen‹ auf die Spur zu kommen habe, um die ›echte Historie‹ zu schreiben. Die Reflexion auf die vielfachen ›Ursprünge‹ setzen in der eigenen wiederholt erzählten Autobiographie ein, die das Wiedererkennen des Gewesenen – des »Immerwiedergleichen im Neuen«66 – verfolgt (vgl. Mali 2011: 118). Der Rückgriff auf die eigene Biographie, die Erzählung der eigenen Herkunft, verrät aber zugleich die genetische Befangenheit von Benjamins Genealogie: Benjamin entfaltet zwar bereits am Beginn seiner Nietzsche-Rezeption ein kritisches Bewusstsein für geschichtsphilosophische Vorstellungen von Genese, verficht jedoch in der Darstellung bis zum Trauerspielbuch (1928) ein genetisches Prinzip. Für das Frühwerk und die Anfangsjahre des Exils gilt, dass Benjamin in seiner geschichtsphilosophischen Begründung unentschlossen schwankt zwischen transhistorischen systematischen Erklärungsansätzen und einem genetischen Prinzip (Simonis 1998: 250). 1932 erscheint in der Literarischen Welt eine Rezension Walter Benjamins, in der er (so der Titel) Nietzsche und das Archiv seiner Schwester klar voneinander zu scheiden sucht.67 Benjamin kritisiert die Rezeption Nietzsches als Philosophen eines ›Willens zur Macht‹ (dabei handele es sich um eine Inauguration von Nietzsches Schwester Elisabeth), als den ihn die Nationalsozialisten bald darauf vereinnahmen sollten. Diese Rezension markiert eine Wende in Benjamins Nietzsche-Rezeption: an die Stelle der esoterischen Nietzsche-Begeisterung tritt nun eine geschichtsphilosophische Reflexion. Davon zeugt die zwölfte seiner Geschichtsphilosophischen Thesen von 1939, der Benjamin ein Motto aus Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) voranstellt, das leitmotivisch Benjamins Interesse an Nietzsche benennt: »Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.«68 Die daran anschließende vierzehnte These nimmt auf Karl Kraus Bezug und zitiert dessen Wendung »Ursprung ist das Ziel« – im Zusammenschluss von Kraus und Nietzsche ist die Position Benjamins markiert, die sein gewandeltes NietzscheVerständnis verdeutlicht. Erst im Spätwerk, erst im nie Geschriebenen und fragmentarisch Überlieferten, entfaltet Benjamin einen Begriff von Genealogie, der an Nietzsches kritische Überlegungen anknüpft und sie mit Blick auf die Moderne – und das heißt: mit Blick auf die Gegenwart der nationalsozialistischen Herrschaft und
66 | Benjamin, Zentralpark [1938/39] (GS I.2: 673). 67 | Benjamin, Nietzsche und das Archiv seiner Schwester [1932] (GS III: 323–326). 68 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 700). Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874] (KSA III/1: 241).
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des eigenen Exils – reflektiert (Simonis 1998: 248 f.). Entscheidend ist, dass in Benjamins Umbau der genetischen zu einer genealogischen Geschichtsbetrachtung einen gegenläufige Bewegung zu Foucaults Genealogie-Konzept auszumachen ist: Während Foucaults historiographische Reflexionen zur Genealogie eine Vorgeschichte der Moderne bzw. einen Vorgriff auf die Konstitutionsbedingungen der Moderne rekonstruieren, sind Benjamins geschichtsphilosophische Einsichten Nachträge zur »Urgeschichte der Moderne«,69 wie Benjamin sein unabgeschlossenes Passagenwerk bezeichnet hat (vgl. Weigel 1995: 27).70 Im Konvolut D des Passagenwerk titels »Die Langeweile, ewige Wiederkehr« rückt Benjamin dann die geschichtsphilosophische Reflexion der ›ewigen Wiederkehr‹ Nietzsches (wie sie im von Elisabeth Förster-Nietzsche bzw. ihrem Cousin Richard Oehler herausgegebenen ›Willen zur Macht‹ aufscheint) mit Louis-Auguste Blanquis L’Eternité par les astres (1872) zusammen.71 Benjamin glaubt nun durch Verbindung »der Eternité par les astres von Blanqui und dem Willen zur Macht (der ewigen Wiederkunft) von Nietzsche« eine geschichtsphilosophische Begründung für seine »idée fixe des Neuen und Immergleichen« gefunden zu haben.72 Als Folge seiner Nietzsche-Reflexion ist Historie für Benjamin »nicht Fortschritt, sondern Aktualisierung«73 – Benjamins genetische Geschichtsvorstellung wandelt sich ab der Schlussphase der Habilitation zu einem genealogischen Geschichtsbild. Das französische Exposée zum Passagenwerk verdeutlicht, dass Benjamin nun seine Kritik am Fortschrittsglauben der Moderne auf die kapitalistische Warenproduktion zurückführen kann (Schöttker 2003: 115). Im Folgenden werde ich zeigen, wie Benjamin die Antinomien von ›ewiger Wiederkehr‹ und ›Ursprung‹ auflöst und damit das geschichtsphilosophische Programm einer Genealogie entfaltet, das als Alternativentwurf neben Foucaults heute sehr viel populärerem Genealogie-Begriff bestehen kann. Benjamins frühe und enthusiastische Nietzsche-Rezeption ist typisch für ›Zarasthustras Kinder‹, also die Nietzsche-Adepten um 1900 (Furness 2000). Während infolge der Benjamin-Renaissance der 1970er Jahre die messianische
69 | Adorno, Benjamins »Einbahnstraße« [1955] (AGS XI, S. 683). 70 | Weigel weist darauf hin, dass sich Benjamin von der rhetorischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts kommend die Moderne angeeignet habe, während Foucault umgekehrt zunächst die Ursprünge der modernen Psychiatrie erforschte, ehe er sich weiter zurückliegenden Epochen zuwandte. Benjamins geschichtsphilosophische Einsicht misst dem Wiedererkennen der Vergangenheit (und nicht dem Zukunftsglauben) ein revolutionäres Potential zu, vgl. Szondi 1978. 71 | Auch Nietzsche nahm Blanqui zur Kenntnis, vgl. Reschke 2000: 105. Zu Benjamins – unter dem Eindruck der Blanqui-Lektüre – verändertem Geschichtsbewusstsein im Passagenwerk und die Verknüpfung mit Nietzsche vgl. Schröttker 2003: 104 f. 72 | W. Benjamin an M. Horkheimer, Br. v. 16.4.1938 (GB VI: 66 f.). 73 | Benjamin, Passagenwerk [1928 f.] (GS V: 574, N 2, 2).
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und die marxistische Benjamin-Lesart (antithetisch vertreten durch die Benjamin-Freunde Gershom Scholem und Bert Brecht, dialektisch überwunden durch Theodor W. Adorno) miteinander konkurrierten, rückt Benjamins Auseinandersetzung mit konservativen Denkern wie Carl Schmitt oder Friedrich Nietzsche erst in jüngerer Zeit wieder ins Bewusstsein. Anders als etwa Georg Lukács (in Die Zerstörung der Vernunft, 1954) liest Benjamin Nietzsche jedoch nicht unter ideologiekritischen, sondern zunächst unter schulpolitischen Aspekten,74 dann auch mit Blick auf dessen geschichtsphilosophische Reflexionen, um schließlich in seiner Habilitationsschrift von 1928 manifest zu werden. Entscheidende Anregungen empfängt Benjamin jedoch nicht allein (und sogar nicht einmal primär) durch seine Nietzsche-Lektüre, sondern durch die Auseinandersetzung mit Nietzsche-Interpretationen seiner Zeit. Die Kenntnis dieser Nietzsche-Rezeption ist entscheidend, um Benjamins UrsprungsKonzept zu verstehen und die konzeptuelle wie begriffliche Zuspitzung bis 1940 nachvollziehen zu können. Sie wird daher im Folgenden im Sinne einer ›Genese von Benjamins Nietzsche-Rezeption‹ dargestellt. Da Benjamin in dieser Rezeptionsphase selbst noch genetisch argumentiert, könnte man auch von einer ›Genese der Genealogie‹ Nietzsches sprechen, die in den Schriften Benjamins nachzuzeichnen ist. Während Benjamin in der Jugendphase seine Nietzsche-Rezeption mit Florens Christian Rang und Gershom Scholem diskutiert, wird mit der Arbeit an der Habilitationsschrift zunächst Theodor W. Adorno zum wichtigen Gesprächspartner, ehe Benjamin im Exil (ab 1933) seine Nietzsche-Rezeption unter dem Eindruck der Lektüre von Karl Löwith und Louis-August Blanqui intensiviert. Diese einzelnen Rezeptionsphasen zeichne ich im Folgenden nach (vgl. Eiland/Jennings 2014: 77 ff.). Bei der Konzipierung des Trauerspielbuchs stand Benjamin Florenz Christian Rang zur Seite. Rang, für Benjamin der »tiefste[] Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche«,75 wurde nicht nur zum Ansprechpartner, sondern (zumindest phasenweise) gleichsam zum Mitarbeiter am Trauerspielbuch (vgl. Steiner 1989: 168 ff.). Ursprünglich studierter Verwaltungsjurist, dann pietistischer Pfarrer, legte Rang 1904 nach der Lektüre Nietzsches sein Kirchenamt nieder.76 Bereits mit Beginn seiner Arbeiten an der Habilitation hatte Benjamin nach methodischen Begründungen gesucht, um das barocke Trauerspiel nicht als genetische Fortführung der antiken Tragödie darstellen zu müssen (vgl. Simonis 1999:
74 | Benjamin, Romantik. Eine nicht gehaltene Rede an die Schuljugend [1914/1914] (GS II.1: 45). 75 | Benjamin, Wider ein Meisterwerk [1930] (GS III: 254). 76 | Symptomatisch die Aussage »Ich las nicht Nietzsche, ich las mich.« (zit. n. Jäger 1998: 36).
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262 ff.). Bei seiner Konzipierung des Ursprungs stand ihm Nietzsche Pate, doch wies im Rang den Weg (Asman 1992a: 607) – ein Weg freilich, der die metaphysischen Fundierungen des eigenen Ursprungsbegriffs nicht leugnet, sondern sich explizit in der Nachfolge der älteren ontologischen Geschichtskonzepte verortet. Unter Rückgriff auf die platonische Ursprungskonzeption fasst Benjamin Geschichte als authentisches, wesenhaftes Sein (Simonis 1998: 248). Doch nimmt Benjamin vorsichtige Revisionen vor, die auf das spätere Geschichtskonzept vorausdeuten. Benjamins Ursprungs-Vorstellung, wie sie in Bezug auf das barocke Trauerspiel begründet wird, setzt an, wo Nietzsches Untersuchung zur antiken Tragödie endet. Dazu greift Benjamin auf die sprachlichen und juristischen Voraussetzungen der vortragischen Kampfrituale zurück, die in Wettstreit, Opfer, Schweigen und Flucht verkörpert sind (Asman 1992a: 607). Benjamin hat diese »neue Tragödientheorie […] zu einem großen Teil von Rang,«77 mit dem er 1922 ausweislich seines Arbeitshefts gemeinsam zwei Essays titels Theater und Agon und Agon und Theater schreibt.78 Darin umreißt Benjamin sein Konzept des Ursprungs: Ursprung geht demnach hervor aus einem Bruch und lässt sich nicht im Sinne einer Genese beschreiben. Bereits in seinem Aufsatz Historische Psychologie des Karnevals (1909) hatte Rang Nietzsches Unterscheidung des dionysischen Prinzips entfaltet; die Überlegungen zur griechischen Tragödie, die schließlich in Benjamins Trauerspielbuch eingehen, verkörpern das Apollonische Prinzip.79 Zwar scheut sich Rang nicht, den Ursprung (im genetischen Sinn) des Karnevals nachzuzeichnen (Rang 1909: 10), doch fächert sich seine Darlegung nicht nach historischen, sondern nach sachlichen Bezügen auf. Sowenig der Karneval selbst eine »Welt-Methodisierung« leistet (Rang 1909: 13), so sehr folgt die wissenschaftliche Darstellung einem gebrochenen Prinzip. Die ›Ursprünge‹ (der griechischen Tragödie nach Nietzsche, des italienischen Karnevals nach Rang und des barocken Trauerspiels nach Benjamin) sind nicht im Rückgang durch die Zeiten zu finden, sondern liegen beschlossen in ihrer (von Tragödie, Karneval und Trauerspiel) jeweiligen Natur, in ihrem Wesen. Neben Rang, der – auch bedingt durch den Altersabstand – die Rolle eines Mentors einnahm, war Gershom Scholem – seit dem Studium mit Benjamin befreundet – Benjamins wichtigster Ansprechpartner. Mit ihm besprach sich
77 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 19.2.1925 (GB III: 14 f.). 78 | Benjamin/Rang, Theater und Agon/Agon und Theater [1922] (GS I.3: 891–895). Vgl. auch Rang 1922. Vgl. dazu Asman 1992a: 610. 79 | Zum Dionysischen des Karnevals, das Rang Nietzsche verdankt vgl. Thaler 1996: 83. Zu Benjamin ebd. 38 ff.
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Benjamin persönlich und brieflich auch zum Trauerspielbuch. Wie verhält es sich mit Scholems Nietzsche-Lektüre? 1914, im Alter von siebzehn Jahren – Benjamin und Scholem kennen sich noch nicht – bezieht sich Scholem zunächst zustimmend auf Nietzsches ›negative Geschichtsphilosophie‹,80 ehe er sich derart für Nietzsches Zarathustra begeistert, dass er einen »Judenzarathustra« schreiben will.81 Andere Schriften Nietzsches scheinen jedoch weit weniger einflussreich gewesen zu sein, wie Scholem Nietzsche auch insgesamt im Sinne seiner »religiöse[n] Sehnsucht«82 rezipiert. Für das historische Bewusstsein Scholems ist hingegen ein Nietzsche-Vortrag Kurt Hillers, den Scholem 1915 während seines Studiums in Berlin hörte, ertragreicher (Scholem 1975: 12). Auf Hillers Vortrag lernten sich Scholem und Benjamin kennen; Benjamin tauscht sich im Anschluss mit Scholem »über Geschichtsphilosophie« aus (Scholem 1975: 13). Scholem setzt daraufhin Benjamin die Geschichtsphilosophie des jüdischen Messianismus auseinander. Zudem bemerkte er 1918 in Benjamins Äußerungen »ein[en] starke[n] Schuß Nietzsche« (Scholem 1975: 71). Scholem hält fest, dass Carl Albrecht Bernouillis Schrift Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft (1908) auf Benjamin in dieser Zeit erheblichen Einfluss ausgeübt und ihn »zu einigem Nachdenken über Nietzsche angeregt« habe (Scholem 1975: 79).83 In diesem Zusammenhang wird Nietzsche, neben Jacob Burckhardt, zur maßgeblichen Instanz, jedoch nicht der Geschichtsschreibung, sondern der »Geschichtsbetrachtung«.84 Mit Scholem also hat sich Benjamin während der Entstehungszeit des Trauerspielbuchs zu Nietzsches Geschichtsphilosophie ausgetauscht, zugleich aber ein messianisches Geschichtsbild kennen gelernt. Scholem hat Nietzsche – entgegen nachträglicher Revisionen – in seiner Studienzeit intensiv rezipiert,85 doch ist Nietzsche für den jungen Scholem v. a. als Religionskritiker und als ›Prophet‹ von Interesse. So steht Scholems Rezeption von Nietzsches Ursprungs-Metapher auch in direktem Zusammenhang mit dem kabbalistischen Mythos von Schöpfung als »Bruch der Fesseln« (Asman 1992a: 621); mehr noch: Scholem anverwandelt Nietzsches Vokabular in der Tradition der zionistischen Nietzsche-Rezeption (Kopp-Oberstebrink 1997: 92) und kritisiert die »Ich-Verherrlichung« durch 80 | G. Scholem an W. Scholem, Br. v. 13.9.1914 (Scholem 1994, I: 11). 81 | Scholem, Notiz v. 17.11.1914 (Scholem 1994, I: 51, vgl. auch ebd.: 207, wo er auch am 18.12.1915 von einem Brief an W. Benjamin berichtet, der sich nicht erhalten hat, und möglichweise Scholems Nietzsche-Lektüre thematisiert). 82 | Scholem, Notiz v. 17.11.1914 (Scholem 1994, I: 52). 83 | Vgl. auch W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 23.12.1917 (GB I: 410). 84 | Scholem 1975: 79. Vgl. auch G. Scholem, Notiz v. 8.6.1918 (Scholem 1994, II: 227). 85 | Das Folgende nach Kopp-Oberstebrink 1997.
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Martin Buber und den inhärent christlich gedeuteten Messianismus. Scholem hingegen intendiert die Überwindung von Geschichte und Geschichtlichkeit (»dieser ganze Kram der Jahrtausende«) durch den jüdischen Messianismus (Scholem 1975: 12). Nietzsche habe jedoch in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen keine »Denunziation von Geschichte« betrieben, sondern vielmehr – v. a. in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fürs Leben – das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart neu bestimmt und auf den Messianismus hin geöffnet (Kopp-Oberstebrink 1997: 103).86 Die geschichtsreflexive Nietzsche-Rezeption Rangs und Scholems hat je unterschiedlich auf Benjamins frühe Geschichtskonzeption gewirkt. Bereits 1916 entwirft Benjamin in seinem Aufsatz Über die Sprache des Menschen und über Sprache überhaupt (1916) ein Sprachkonzept, das – an Nietzsche anschließend – einen sprachgenetischen Ansatz enthält: »Die Idee ist ein Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist.« (GS I.1: 216) Das Ursprüngliche erweist sich bei Benjamin als erstes Hören, als ursprüngliche Bedeutung der Sprache. Durch Wiederholung allerdings erfährt Sprache eine Abnutzung, die durch das ursprüngliche, erneuerte Hören zurückgedrängt werden soll: »In dieser Erneuerung stellt das ursprüngliche Vernehmen der Worte sich wieder her.« (217) Das sich ständig repetierende Vergessen und Wiedererinnern von Worten evoziert die Persistenz von Ideen (217). Noch zu Beginn der Dissertation als Chiffre einer Jugend- und Lebensphilosophie rezipiert (McFarland 2013: 68), wird Nietzsche mit Abfassung der Habilitationsschrift und vor dem Hintergrund von Fritz Heinles Tod zunehmend zur philologischen Instanz.87 Statt als Verfasser erratisch-prophetischer Schriften steht Nietzsche nun als Philologe im Interessenfokus Benjamins. Benjamin selbst hatte sich, aufgrund hochschulpolitischer Überlegungen im Zusammenhang mit seiner Habilitationsschrift, von der Philosophie zunehmend ab- und der Philologie zugewandt. Theodor W. Adorno wurde – neben Gershom Scholem – bereits seit Anfertigung der Habilitationsschrift (und nach dem Tod Rangs, den »eigentlichen Leser«88 des Trauerspielbuchs) Benjamins wichtigster Gesprächspartner.89 Die Bedeutung Nietzsches für die Dialektik der Aufklärung, 86 | Erst gegen Ende seines Lebens hat Scholem sich vom »von mir nicht so geschätzten Nietzsche« bewusst distanziert (G. Scholem an R. Scholem, Br. v. 8.9.1976, Scholem 1994, III: 143). 87 | Benjamin distanziert sich also nicht zunehmend von Nietzsche, sondern verschiebt das Rezeptionsinteresse. Zur Kritik an Nietzsches Mythos-Konzept in den späteren Schriften Benjamins vgl. Geisenhanslüke 2013: 78 f. 88 | W. Benjamin a. G. Scholem, Br. v. 19.2.1925 (GB III: 16). 89 | So nimmt denn auch Adornos eigene Antrittsvorlesung als Privatdozent von 1931 direkt Bezug auf Benjamins Trauerspielbuch, vgl. Adorno, Die Aktualität der Philosophie [1931] (AGS I: 336).
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die Adorno zusammen mit Max Horkheimer 1939 bis 1944 im New Yorker Exil verfasste, ist hinlänglich bekannt (Schlagowsky 1998: 271 ff.). Doch der Briefwechsel belegt keine eingehendere Diskussion Nietzsches zwischen Adorno und Benjamin, auch wenn Adorno Nietzsche und Benjamin posthum zusammendenkt.90 Hatte sich Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) kritisch mit der Philologie auseinandersetzt, so nutzt Benjamin im Trauerspielbuch Nietzsches Einlassungen zur kritischen Auseinandersetzung mit der etablierten Philologie.91 Nietzsche begründet die titelgebende Geburtsmetapher in seiner Abhandlung zunächst nicht näher, doch erfolgt am Ende des vierten Kapitels der Hinweis, dass »das Dionysische und das Apollinische in immer neuen auf einander folgenden Geburten, […] sich gegenseitig steigernd, das hellenische Wesen beherrscht« hätten;92 mehr noch: dass nicht der eine Geburtsmoment benannt werden könne, sondern eine Vielzahl von Wiedergeburten statthabe. In diesem Sinne lasse sich das neuzeitliche Musikdrama (speziell Wagners) als Wiedergeburt der antiken Tragödie beschreiben. Nietzsches These findet ihre Entsprechung in Benjamins Gegenüberstellung von Tragödie und Trauerspiel (Pfotenhauer 1978: 100 f.), die er im Trauerspielbuch differenzieren wollte, um gleichsam die ›Geburt des Trauerspiels aus dem Geiste des Barock‹ darzustellen. Ziel von Benjamins Ausdifferenzierung ist der unterschiedliche Gegenwartsbezug von antiker Tragödie und barockem Trauerspiel: während die Tragödie im überzeitlichen Mythos enthistorisiert ist, überwindet das Trauerspiel sein antikes Vorbild durch Vergegenwärtigung von Mythos und Heroismus: »Auf dem Triumphwagen des barocken Trauerspiels ist die antike Tragödie die gefesselte Sklavin.«93 Mit dieser Feststellung stellt Benjamin das genetische Prinzip der historischen Philologie (auch der zeitgenössischen Nietzsche-Philologie) auf den Kopf wie er zugleich die Notwendigkeit betont, dass philologisches Arbeiten an historischen Gegenständen die »Macht der Gegenwart« (278) zu erweisen hat (McFarland 2013: 75 f.). In Umkehrung von Benedetto Croces ›genetischer Klassifikation‹ und ihres voreiligen »Psychologismus« (225) greift Benjamin auf Nietzsche zurück, dessen Ursprungsbegriff eine historische Wissenschaft ermögliche, »die da aus den entlegenen Ex90 | »Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daß die Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identisch sei, sondern daß einzig das Geschichtliche die Gestalt des Absoluten abgebe, hat er [W. Benjamin], ohne sie vielleicht zu kennen, als Kanon seines Verfahrens befolgt.« (Adorno, Charakteristik Walter Benjamins [1950], AGS X.1: 241). 91 | Zu weiteren zeitgenössischen Einflüssen auf Benjamins Ursprungs-Konzept vgl. Pizer 1987: 78 ff. 92 | Nietzsche, Geburt der Tragödie [1872] (KSA III/1: 37). 93 | Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 278). Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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tremen, den scheinbaren Exzessen der Entwicklung die Konfiguration der Idee als der durch die Möglichkeit eines sinnvollen Nebeneinanders solcher Gegensätze gekennzeichneten Totalität heraustreten läßt.« (227) Das barocke Trauerspiel erscheint daher bei Benjamin nicht als Erbe der antiken Tragödie und auch nicht als Vorläufer jener »Hochrenaissance«, als die Herbert Cysarz – der von Benjamin ebenso geschätzte wie gescholtene Barockexperte – die Weimarer Klassik apostrophiert. Beide – Nietzsche wie Benjamin – konstatieren als Beleg ihrer Geburtsthese einen Sündenfall: Nietzsche einen sokratisch-gnoseologischen (der ›Wille zum Wissen‹ hätte die Tragödie ihres mystischen Grundes beraubt), Benjamin einen theologisch-gnostischen (der Biss vom Apfel der Erkenntnis hätte die mythische Zusammengehörigkeit von Welt und Mensch zerstört). In der Vorrede zum Trauerspielbuch ist Benjamins genealogische Argumentation noch zwiespältig: sie bleibt weitgehend dem genetischen Prinzip verpflichtet und entwirft mit Platon, Leibniz und Kant eine zwar metaphysikkritische, doch unverändert metaphysisch argumentierende Geschichtsphilosophie. Im literaturanalytischen Textteil findet sich hingegen eine deutliche Abwendung von metaphysischen Erklärungsansätzen und eine Hinwendung zu analytischen Modellen. Hatte also die Vorrede zum Trauerspielbuch die Entfaltung eines dezidierten Ursprungsbegriffs nur angekündigt, so holt der daran anschließende literaturanalytische Textteil diese Entfaltung nach (Simonis 1998: 254 ff.). Benjamin ist es durch Kontrastierung der (mit Ironie-Signalen ausgestatteten) erkenntniskritischen Vorrede mit der analytischen Durchdringung des Materials möglich, den Entwurf einer umfassenden Geschichtsphilosophie in theoreticis zu verweigern, aber in praxi zu realisieren. Das ist der (zumindest partiell geglückte) Versuch, das Einheitsstreben der historistischgenetischen Geschichtswissenschaft zu überwinden. Damit schließt Benjamin zu Nietzsches Geburt der Tragödie auf und verwirft die Bestimmung des idealistischen Ursprungs-Begriffs, wie er etwa durch den Marburger Neukantianer Hermann Cohen definiert wurde: »Die Kategorie des Ursprungs ist also nicht wie Cohen meint, eine rein logische, sondern historische.« (226, vgl. Speth 1991: 251)94 Der Neukantianer Hermann Cohen fasst die Ursprungsbegründung als erkenntnistheoretisches Problem: »Denken ist Denken des Ursprungs.« (Cohen 1902: 36)95 Diese »idealistische Haltung« (226) konnte we94 | Zur theologischen Nietzsche-Rezeption Benjamins und Cohens vgl. auch Deuber-Mankowsky 2000: 196 f. 95 | Weiter schreibt Cohen: »Dem Ursprung darf nichts gegeben sein. Das Prinzip ist Grundlegung in buchstäblicher Genauigkeit. Der Grund muß Ursprung werden. Wenn anders das Denken im Ursprung das Sein zu entdecken hat, so darf dieses Sein keinen, keinerlei anderen Grund haben, als den das Denken ihm zu legen vermag. Als Denken des Ursprungs erst wird das reine Denken wahrhaft.«
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nig zu Benjamins Durchdringung des Ursprungs-Problems beitragen (Speth 1991: 252). Das »Werden und Vergehen« (226) ist historisch gedacht und theologisch fundiert. Bereits im Trauerspielbuch bedient sich Benjamin des Bilds vom Strudel: »Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.« (226) In der ersten Fassung der Vorrede zum Trauerspielbuch wird der Ursprung dann selbst als tätiges Prinzip aufgefasst: »Ursprung also ist Entelechie.«96 In der zweiten (publizierten) Fassung der Vorrede zum Trauerspielbuch wird der Bezug auf die Monadologie Leibniz’ abgelöst durch Bezugnahme auf Goethes ›Urphänomen‹: Ursprung konstituiert sich allererst durch die »Ursprungsphänomene« (226), so dass »Geschichte nur noch als […] Gehalt, nicht mehr als ein […] Geschehen« (947) aufgefasst wird (Speth 1991: 253). Benjamin beansprucht, mit dem Begriff des Ursprungs Goethes naturwissenschaftlichen Begriff des ›Urphänomens‹ in die Geschichte übertragen zu haben (953).97 Dazu rekurriert Benjamin auf Georg Simmels Goethe-Buch von 1913, das der Erläuterung des Begriffs ›Urphänomen‹ eine entscheidende Stellung einräumt (Geulen 2014). Historisch gewendet, werden die als ›Urphänomene‹ historisch gedeuteten »Ursprungsbegriffe[]« im Spannungsfeld von »Einmaligkeit« und »Wiederholung« (935) ›entdeckt‹ und ›wiedererkannt‹.98 In diesem Sinne ist – laut Benjamin – das barocke Drama eine ursprüngliche Idee, die sich im Verlauf der Geschichte verschieden reinkarnieren kann (Steiner 1986). Dieses Verständnis von Ursprung verdeutlicht, warum nach Benjamin der Ursprung – gleichwohl er eine historische Kategorie darstellt – »nichts gemein [hat] mit Entstehung.« (226)99 Benjamin führt aus: »Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint.« (226)100 Die Erforschung des Ursprungs ermöglicht »Einsicht in die Wesenszusammenhänge« (einer Epoche, eines Werks, eines Genres), die »bleiben, was sie sind, auch wenn sie sich in der Welt der Fakten rein nicht ausprägen.« (226) Vielmehr treten Vergangenheit und Zukunft im Ursprung zueinander, so dass
96 | Benjamin, Vorrede zum Trauerspielbuch, 1. Fssg. [1928] (GS I.3: 946). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 97 | Vgl. auch Benjamin, Passagenwerk [1928 f.] (GS V.1: 577). Vgl. dazu Steiner 1986; Speth 1991: 254; Pizer 1987: 80 f.; Pizer 1989. 98 | Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I: 227). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 99 | Vgl. auch Benjamin, Einleitung zum Trauerspielbuch [1928] (GS I: 935). Zu Benjamins Entgegensetzung der Begriffe ›Entwicklung/Entstehung‹ und ›Ursprung‹ vgl. Gagnebin 2011: 294 f. Terry Eagleton hat im Zusammenschluss seiner Lektüren von Freud und Benjamin auf die gewalttätigen Aspekte dessen, der Genealogie betreibt, hingewiesen (vgl. Eagleton 1981: 120). 100 | Zur grammatikalischen Anlage dieses Satzes als unabgeschlossene Wiederholung vgl. Weber 2011: 607.
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»Geschichte nur noch in seinem Gehalte, nicht mehr als ein es betreffendes Geschehen«101 darstellbar ist: »Ursprung ist Idee!«102 Benjamin definiert als »Aufgabe des Forschers« (226), diejenigen Phänomene aufzufinden, die ursprünglich sind – der Forscher hat »ein solches Faktum dann erst für gesichert zu halten […], wenn seine innerste Struktur so wesenhaft erscheint, daß sie als einen Ursprung es verrät.« (227) Das Forschen nach »Ursprungsbegriffen«103 – in der Druckversion des Trauerspielbuchs fehlt dieser Begriff – kommt dem ›Echten‹104 der Phänomene auf die Spur: »Das Echte – jenes Ursprungssiegel in den Phänomenen – ist Gegenstand der Entdeckung, einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet.« (227) Die Darstellung der Ursprungsphänomene hat sich nach Benjamin auf »entlegene[] Extreme[] [und] scheinbare[] Exzesse[]« (227) zu konzentrieren, um der teleologischen Darstellungsweise zu entkommen und die Dynamik der Ursprungsphänomene in den Blick zu nehmen.105 Am Ende der Weimarer Republik und unter dem Eindruck der gescheiterten Habilitation spitzt Benjamin seine Nietzsche-Rezeption zu.106 Ob barockes Trauerspiel (barocke Allegorie) oder moderne Flanerie (Allegorie der Moderne): die Wiederkehr des »Immerwiedergleichen«107 prägt Benjamins Geschichtsauffassung ebenso wie die Überzeugung, dass ›Ideen‹ etwas »Diskontinuierliches«108 seien, deren Begriffe im Verlauf der Geschichte in immer wieder neuen Konfigurationen auftreten – jeder geschichtlichen Konstruktion hat nach 101 | Benjamin, Vorrede zum Trauerspielbuch, 1. Fssg. [1928] (GS I.3: 947). 102 | Benjamin, Vorrede zum Trauerspielbuch, 1. Fssg. [1928] (GS I.3: 936). 103 | Benjamin, Vorrede zum Trauerspielbuch, 1. Fssg. [1928] (GS I.3: 935) 104 | »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren« (Benjamin, Kunstwerk-Aufsatz [1936] (GS I.2: 477). 105 | Noch 1966 nimmt Adorno in seiner Negativen Dialektik Benjamins »Begriffs des Ursprungs« wieder auf, der »seines statischen Unwesens entäußert« sei (AGS 6: 158). 106 | Der Soziologe Albert Salomon, der Benjamins Trauerspielbuch an Carl Schmitt vermittelte (Mehring 2014: 140 f.) und mit dem sich Benjamin auch über Geschichtsphilosophie auseinander setzte (Benjamin, Tagebuch [1931], GS VI: 442 f.), scheint hingegen keinen Einfluss auf Benjamins Nietzsche-Rezeption gehabt zu haben, ebenso wenig der Meinecke-Schüler Hajo Holborn, der mit Benjamin gleichfalls in Austausch stand. Zeitgleich zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen veröffentlichte der 1935 nach New York emigrierte Salomon 1939 jedoch einen Artikel Leadership in Democracy, der sich auch mit Nietzsches Geschichts- und Machtverständnis auseinandersetzt, vgl. Salomon 1939: 213 ff. Seine 1955 veröffentlichte Studie The Tyranny of Progress. Reflections on the Origins of Sociology hätte – mit Blick auf das Vorwort zur deutschen Übertragung von 1957 – zu Recht auch den Titel tragen können ›Die Geburt der Soziologie aus Nietzsches Kritik der Philosophie des 19. Jahrhunderts‹. 107 | Benjamin, Zentralpark [1938/39] (GS I.2: 673). 108 | Benjamin, Passagenwerk [1927 f.] (GS V.2: 1011, Go, 19).
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Benjamin eine Destruktion vorauszugehen.109 Benjamin weitet damit seine zunächst nur auf historische Objekte bezogene Nietzsche-Rezeption auf die Moderne und die eigene Gegenwart aus. Eine abstrakte Begriffsbestimmung ist daher ebenso wenig möglich wie die Herstellung historischer Kohärenz und Kontingenz. Die »Doppeleinsicht« besteht in der Erkenntnis, dass jeder historischen Konstruktion der Philosophie eine philosophische Rekonstruktion der Geschichte entspricht (vgl. Buck-Morss 2000: 77). Praktisch gewendet bedeutet diese Einsicht Benjamins für das hier verfolgte Vorhaben, dass die diskursiven Praktiken, die sich in Benjamins literaturkritischem Denken herausarbeiten lassen, nicht unbedingt die Linearität der Geschichte ablösen, sie aber kritisch fundieren. Benjamins geschichtsphilosophisches Denken setzt an die Stelle des Fortschrittsgedankens, wie er unter Leopold v. Rankes Schlagwort gewordenen Formel »jede Epoche ist unmittelbar zu Gott« im Historismus ausgeprägt wurde,110 den Begriff des ›Wiedererkennens‹. Mit Blick auf den Historismus konturiert Benjamin bereits 1931 sein eigenes Vorgehen als Versuch[,] eine Konzeption von Geschichte zum Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des Ursprungs verdrängt wäre. Das Historische, so verstanden, kann nicht mehr im Flußbett eines Entwicklungsverlaufes gesucht werden. Es tritt […] hier für das Bild des Flußbetts das des Strudels ein. In solchem Strudel kreist das Früher oder Später – die Vorund Nachgeschichte eines Geschehens oder besser noch eines Status um diesen. Die eigentlichen Gegenstände einer solchen Geschichtsauffassung sind daher nicht bestimmt Ereignisse[,] sondern bestimmte unwandelbare Status begrifflicher oder sinnlicher Art […].111
Bereits mit seiner drei Jahre zuvor erschienenen Habilitation, die den Ursprungs-Begriff im Titel trägt, hat sich Benjamin eingehend mit der Möglichkeit einer diskontinuierlichen, nicht-teleologischen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt. Doch erst in seinem Spätwerk bestimmt Benjamin den Begriff des Ursprungs präziser. Nietzsche gilt Benjamin nun als Stichwortgeber einer antigenetischen Ursprungsgeschichtsschreibung. So erhellt sich der Sinn jenes bereits zitierten Nietzsche-Mottos, das Benjamin der zwölften seiner Geschichtsphilosophischen Thesen von 1939 voranstellt (GS I.2: 700). Voltaire hatte den Garten der Geschichtsphilosophie des Aufklärungszeitalters vom Unkraut des Heilserwartungsrests befreit, aber durch Festhalten an Herkunft und Zukunft implizit theologische Erzählschemata aufgegriffen – Nietzsche nun kritisiert diese Form der Gartenpflege als Müßiggang, und Benjamin schließt darin an ihn an. Während seines Exils liest er in Paris, San Remo, Ibiza und Svend-
109 | Benjamin, Passagenwerk [1927 f.] (GS V.1: 587). 110 | Vgl. Benjamin, Zur Geschichtsphilosophie der Spätromantik [1921] (GS VI: 95–97). 111 | Benjamin, Tagebuch [1931] (GS VI: 442 f.).
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borg wieder intensiv Nietzsche. Doch greift Benjamin darüber hinaus auf zwei Autoren zurück, die für seine eigene Nietzsche-Lektüre bedeutend sind: Karl Löwith und Louis-Auguste Blanqui. Karl Löwith folgte nach seiner Promotion 1923 (beim Göttinger Phänomenologen Moritz Geiger mit der Studie Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen) Martin Heidegger nach Marburg. Ab 1933 aus ›rassischen Gründen‹ zur Emigration gezwungen, vollendete er 1935 als Rockefeller-Stipendiat im römischen Exil die Arbeit an der Studie Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen.112 Während Löwith als Heidegger-Schüler eifrig die deutschnationale Tradition der »Destruktion« mittrug, zeugt sein 1935 erschienenes Nietzsche-Buch von einer Kehrtwende, von der er in einem Kapitel titels »Nietzsche vor und nach Hitler« in seiner Autobiographie Zeugnis ablegt: »Der Anstoß zu meiner Abkehr von den deutschen Methoden war die deutsche Behandlung der Juden« (Löwith 1986: 138). Daher ist Löwiths Nietzsche-Studie eine Abkehr vom »Projekt einer Destruktion der Tradition« (Steiner 2007: 268). Auch wenn sich Löwith der aphoristischen Form bei Nietzsche zuwendet und daher den Zarathustra in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt (»als dessen Kommentare nicht nur Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral, sondern auch alle übrigen Schriften der nachfolgenden Zeit zu verstehen sind«),113 arbeitet er doch Nietzsches Geschichtsverständnis von der »ewige[n] Wiederkunft des Gleichen« heraus, das einem Wechsel von »eschatologisch-christlichem und zyklisch-antikem Zeitverständnis« (Steiner 2007: 275) gleichkommt, den Löwith auf eine »enttäuschte Romantik« (27) zurückführt: das Scheitern der idealistischen und romantischen Symphilosophie markiert den Ursprung von Nihilismus wie Positivismus (Steiner 2007: 276). Doch bleibt Nietzsche nach Löwith in deren Voraussetzungen befangen, kann den »Zwiespalt der zweifachen Gleichung« (94) – gemeint ist die »Zerteilung des [menschlichen] Seins im Ganzen in eine Außen-, Innenund Hinterwelt« (94), mithin die Überführung des »Du sollst« des Christen zum »Ich will« des »zum Nichts befreiten Menschen« (94) – nicht entproblematisierend überwinden, auch nicht im Rückgang auf die »vorsokratische Sicht auf die Welt.« (95, Steiner 2007: 277 f.) Genau diese unüberwundene Problematik begründet nach Löwith, warum Nietzsche dann u. a. für den GeorgeKreis, aber auch für die Nationalsozialisten anschlussfähig war (vgl. Pirro
112 | In der zweiten Auflage, die 1956 erschien und die auf einer Rückübersetzung der französischen Übertragung basiert, nimmt Löwith erhebliche Revisionen vor, etwa indem er den Titel ändert und statt »Wiederkunft« nun »Wiederkehr« setzt. Zu Löwiths – auch werkbiographischer – Nietzsche-Deutung vgl. Steiner 2007. 113 | Löwith 1935: 20. Mit Seitenzahl im Text zitiert
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2007). Doch stützt sich Löwith – und dabei konnte er wohl Benjamins Interesse sicher sein – v. a. auf Nietzsches Zarathustra und arbeitet an ihm ein Geschichtsverständnis heraus, das der »Logik des Widerspruchs« (81) folgt und damit der Logik Hegels, Kierkegaards und Marx’ widerspricht. Benjamin liest während eines Aufenthalts bei Brecht in Dänemark Löwiths Nietzsche-Studie von 1935 und teilt Adorno mit, dass Löwith dessen Habilitation (1933) zu Kierkegaard verarbeitet hat.114 Im Passagenwerk zitiert Benjamin Löwiths Nietzsche-Studie wiederholt. Im Konvolut D, das der »Langweile« und »ewige[n] Wiederkehr« gewidmet ist, fertigt sich Benjamin Exzerpte an, die Nietzsche kritisieren. Hatte Löwith sich vornehmlich mit den theologischen Implikationen von Nietzsches Nihilismus auseinandergesetzt,115 so deutet er in seinem Frühwerk Nietzsche als »philosophierende[n] Dilletant[en]«, dessen Denken und Stil ein »atheistischer Religionsersatz« sei.116 Direkt im Zusammenhang mit Benjamins Blanqui-Lektüre (s.u.) steht dann ein Löwith-Exzerpt, das das »Wollen der ewigen Wiederkunft des Gleichen« als aktiven Deutungsprozess Nietzsches interpretiert angesichts eines »sinnlos gewordene[n] Dasein[s]« der Moderne.117 Benjamins Rezeption von Nietzsches Philosophie der ›ewigen Wiederkehr‹ intensiviert sich im Passagenwerk noch einmal infolge der Auseinandersetzung mit der Schrift L’Eternité par les astres des Kommunardisten Louis-Auguste Blanqui, die er parallel setzt mit seiner Nietzsche- und Baudelaire-Lektüre.118
114 | W. Benjamin an Th. W. u. G. Adorno, Br. v. 28.8.1938 (GB VI: 157), vgl. auch W. Benjamin an Th. W. Adorno, Br. v. 4.10.1938 (GB VI: 169). Vgl. dazu Chaves 2006, dessen Untersuchung sich jedoch auf aphoristische Schreibweisen bei Benjamin und Nietzsche konzentriert. 115 | Lomax 2011 widmet sich der theologischen Rezeption Nietzsches bei Löwith. Löwiths Nietzsche-Studien waren v. a. im englischsprachigen Bereich einflussreich. 116 | Benjamin, Passagenwerk [1928 f.] (GS V.I: 175, D 9, 4). 117 | Benjamin, Passagenwerk [1928 f.] (GS V.I: 174, D 8 a,4). Von Löwith läuft wiederum eine direkte Linie zur postfaschistischen französischen Nietzsche-Rezeption, hatte doch Löwith in den Recherches philosophiques (IV, 1934/1935: 232–268) einen Aufsatz L’Achèvement de la philosophie classique par Hegel et sa dissolution chez Marx et Kierkegaard veröffentlicht, in dem er noch klarer das Neue von Nietzsches Geschichtsbewusstsein herausstellt und Nietzsche als Antagonisten und Überwinder der Hegelschen Geschichtsphilosophie deutet. Zugleich kritisiert Löwith die akademisch-universitäre Geschichtsschreibung, die sich auf Hegel stützt (Benjamin seinerseits würdigt diesen Beitrag Löwiths in seiner Rezension als »einer kritischen Haltung zu anthropologischer Philosophie förderlich«, GS III: 509). Wenn Löwith am Ende seines Lebens bedauert (Löwith 1973: 231), dass Benjamin nicht sein Nietzsche-Buch zur Kenntnis genommen habe (die Edition des Passagenwerks stand zu diesem Zeitpunkt noch aus), so zeugt das von einer Distanznähe zwischen Benjamin und Löwith am Gegenstand Nietzsches. 118 | W. Benjamin an M. Horkheimer, Br. v. 6.1.1938 (GB VI: 9 f.).
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Beteiligt an der Juli-Revolution 1830, am Pariser Juniaufstand 1848 und an den Auständen der Pariser Kommune 1870, verfasste Blanqui im Gefängnis sein kosmologisches opus magnum, in dem er die Zusammenhänge alles Belebten und Unbelebten ebenso propagierte wie – in Anschluss an Nietzsche – die ›ewige Wiederkehr‹, die sich jedoch in verschiedenen Parallelrealitäten verwirkliche. Benjamins Auseinandersetzung mit Blanqui findet sich – wie bereits die Löwith-Exzerpte – im Konvolut D des Passagenwerks. Hier entfaltet Benjamin den Zusammenhang von ›ennui‹ und ›ewiger Wiederkehr‹ und verknüpft dergestalt Reflexionen zu Baudelaires Flanerie und Nietzsches bzw. Blanquis Geschichtsphilosophie (Mosès 2011: 29 f.). Im deutschsprachigen Exposé von Paris, capitale du XIXème sciècle bezeichnet Benjamin Blanquis Reflexionen zwar als »unbeholfene Überlegungen eines Autodidakten«,119 doch habe Blanqui – gerade weil er die »Gesellschaft […] an seinem Lebensabend als Sieger über sich zu erkennen genötigt war« – »in Gestalt einer rückhaltlosen Unterwerfung unter ihre [der Gesellschaft] Wissenschaft die furchtbarste Anklage gegen die Gesellschaft« erhoben (1257). Dazu habe Blanqui »zehn Jahre vor dem Zarathustra […] den Gedanken der ewigen Wiederkunft […] nicht triumphierend sondern vielmehr beklemmend« weiter entfaltete (1257): »Blanqui geht es dabei um das Bild des Fortschritts, der als ein unvordenklich Ältestes, das im Gewand des Neuesten einherstolziert, sich als Phantasmagorie der Geschichte selbst zu erkennen gibt.« (1257) Benjamin rekurriert auf Blanqui, um seine eigene geschichtsphilosophisch begründete Fortschrittskritik mit einer Abrechnung mit dem gesellschaftlich anerkannten Wissenschaftsmodell zu verknüpfen: Überlegen ist letztlich, wer die »Phantasmagorie der Geschichte« in »hoffnungsloser Resignation« erkennt (1257) und die »Menschheit als eine Verdammte« (1256) akzeptiert. Geschichte lässt sich nicht als Fortschritt gestalten, vielmehr ist die Moderne – »ein[] Schlüsselwort, das Baudelaire […] gefunden hat« – in den »von diesen Phantasmagorien beherrschte[n] Welt« gefangen.120 Blanqui liefert natürliche keine Interpretation Nietzsches (Blanqui stirbt, als Nietzsche seine Hauptwerke verfasst), aber er liefert Benjamin Argumentationshilfen für seine eigene Nietzsche-Interpretation, die – soweit es die geschichtsphilosophischen Reflexionen Benjamins betrifft – die Illusion des Fortschrittsglaubens zerstört: Nach Benjamin führt Blanqui auf Nietzsche hin, bereitet seine Fortschrittsskepsis vor, wenn nicht gar Nietzsches Ausführung eine ›Wiederkehr‹ von
119 | Benjamin, Deutschsprachiges Exposé zu »Paris, capitale du XIXème sciècle« [1939] (GS V.2: 1256). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 120 | Ob Benjamins Verbindung von Blanqui und Nietzsche statthaft ist, steht nicht zur Disposition – jede Aneignung ist als solche ernst zu nehmen und rekonstruieren, vgl. dagegen Mosès 2011: 31 ff.
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Blanquis Argumenten ist.121 So konstatiert Benjamin am Schluss des Konvoluts D: »Der Glaube an den Fortschritt, an eine unendliche Perfektibilität […] und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr sind komplementär.« Doch bewahrt sich Benjamin gegenüber beiden Geschichtsvorstellungen Skepsis, da sowohl der Fortschritts- als auch der Wiederkehrgedanke ›platter Rationalismus‹ wie ›mythische Denkweise‹ zugleich sind.122 Geschichte lässt sich nur als Momentaufnahme erfassen. Nietzsche zitierend konstatiert Benjamin, dass innerhalb der Vorstellung zur »ewigen Wiederkunft […] alle Züge der Welt starr« werden, »ein gefrorener Todeskampf« (173, D 8,6).123 Benjamins geschichtsreflexiven Anstrengungen richten sich – mit Blanqui und Nietzsche, die noch einmal das Auratische der ewigen Wiederkehr verkörpern und zugleich zu reflektieren vermögen (178, D 10a, 4)124 – gegen eine zyklische wie gegen eine lineare Vorstellung historischer Zeitabläufe. Die »rettende Kritik« hat sich nach Benjamin auch am historischen Gegenstand zur bewähren; sie schlägt aus der Betrachtung von geschichtlichen Momenten als »erstarrte[r] Urlandschaft«125 ›rettendes‹ Potential für die »Jetztzeit« (darin über Foucaults Nietzsche-Rezeption hinausgehend, der mit Nietzsche allein die lineare Geschichtsauffassung kritisiert).126 Soweit die Genese der Genealogie Benjamins. Wie gestaltet sich nun das genealogische Verfahren bei Benjamin? In drei späten Schriften hat Benjamin methodisch herausgearbeitet, wie eine Ursprungsforschung vorgenommen werden kann, ohne dem Verdikt des Fortschritts oder der Entwicklung anheimzufallen: zum einen in seinen beiden Essays Über den Begriff von Geschichte (1939) und Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker (1937), zum anderen im Konvolut N des Passagenwerkes (1927–1940). In diesen Projekten entfaltet Benjamin seine historismuskritische Lesart von Geschichte. Zunächst tat sich Benjamin mit einem Portrait von Eduard Fuchs – eine Auftragsarbeit für das Institut für Sozialforschung, die durch Max Horkheimer
121 | Nietzsche hat Blanquis Text gekannt, ob er ihn verarbeitet hat, ist unklar, vgl. Reschke 2000: 105. 122 | Benjamin, Passagenwerk [1928 f.] (GS V.1: 178, D 10 a,5). Mit Seitenzahl und Archivnummer im Text zitiert. 123 | Zum Rückverweis auf die »erstarrte Urlandschaft« der historischen Betrachtung im Trauerspielbuch vgl. Mosès 2011: 45 f. 124 | Beider Geschichtsphilosophie hätte »den Ring der ewigen Wiederkunft [ge]sprengt indem es ihn bestätigt« (Benjamin, Konspekt zum Baudelaire-Aufsatz [1938], GS I.3: 1152). 125 | Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 343). 126 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 701), vgl. Mosès 2011: 49. Inwiefern Charles Andlers Studie Nietzsche. Sa vie et sa pensée (1928) Benjamin beeinflusst hat (vgl. das Zitat GS II.1: 225) kann hier nicht weiter verfolgt werden.
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an ihn herangetragen worden war127 – schwer. Betrachtet man die inhaltlichen Differenzen zwischen Benjamin und Horkheimer (und Adorno), so scheint es, dass Benjamins Zugang zu Fuchs wesentlich durch seine eigenen geschichtsphilosophischen Interessen möglich wird. Zumindest insistiert Benjamin auf dem materialistischen Überbau, den er dem Essay voranstellt und der gleichsam den geschichtsphilosophischen Argumentationsgang eröffnet: Benjamin verortet Eduard Fuchs in der Nachfolge Franz Mehrings und Friedrich Engels’ in einer »Tradition [der] geistesgeschichtlichen Forschungen des historischen Materialismus«,128 die eine »dialektische Darstellung der Geschichte« (468) betreibt und damit in direktem Kontrast zur Auffassung des Historismus steht: Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar; der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. [...] Die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist – das ist die Aufgabe des historischen Materialismus. (468, Hvhbg. CSM)
Die Arbeit mit geschichtlichen Quellen ist folglich eine Arbeit an der Geschichte, verstanden als Vergegenwärtigung ihrer jeweils gegenwartsbezüglichen Ursprünglichkeit. Mit Engels kann Benjamin somit die Vorstellung eines historischen Fortschritts destruieren (467). Ähnliche Geschichtsvorstellungen waren Benjamin bekannt durch den Marx-Biographen Karl Korsch, dem Benjamin die Hauptreferenz in den geschichtsphilosophischen Abschnitten des Passagenwerks erweist.129 Gegen das »Pathos des Fortschritts« und die Unterstellungen eines vulgär-darwinistischen Kulturmodells (487)130 plädiert Benjamin für ein Abrücken vom Idealismus ›geschichtlicher Darstellung‹ und vom »Knäuel purer Tatsächlichkeit« hin zu einer Konzentration auf jene »gezählte[] Gruppe von Fäden [...], die den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart
127 | Weitgehend unbeachtet geblieben ist, dass die Nietzsche-Rezeption am Frankfurter bzw. New Yorker Institut für Sozialforschung nach 1933 auf die französische Nietzsche-Rezeption (namentlich Pierre Klossowski) einwirkt, vgl. Chaves 2009: 220 f.; Grottanelli 2004: 313 ff. 128 | Benjamin, Eduard Fuchs [1937] (GS II.2: 465). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 129 | Benjamin, Passagenwerk [1927 f.] (GS V.1: 605 f., N 16, 3; N 17; N 17 a; N 18, 1; S. 812 f., X 7, 2; X 8, 1; X 9; X 11). Benjamin hat offensichtlich – vielleicht vermittelt durch Bert Brecht – Zugang zum Manuskript von Korschs Marx-Biographie, die 1938 auf Englisch erstveröffentlicht und erst in den 1960er Jahren in Deutschland publiziert wird. 130 | Zahlreiche Interpreten haben übersehen, dass sich Benjamins Kritik gegen den Fortschrittsgedanken an evolutionistischen Vorstellungen festmacht, die sowohl vom Historismus als auch von einer »sozialistischen Geschichtsauffassung« (GS II.2: 487) vertreten wurde. Benjamin integriert sein Geschichtsmodell folglich nicht bruchlos im historischen Materialismus, wie er vorgibt.
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darstellen.« (479) Benjamin betont, dass historische Erkenntnis mit der Herleitung eines Kausalnexus’ nicht zu erlangen sei, da diese ›Fäden‹ jahrhundertelang verloren gehen können, und erst »der aktuale Geschichtsverlauf« diese wieder »sprunghaft und unscheinbar« aufgreife (479). In den Geschichtsphilosophischen Thesen präzisiert Benjamin sodann seinen geschichtsphilosophischen Entwurf, indem er die messianische und die materialistische Geschichtsauffassung ins Verhältnis zueinander setzt und so die historistische Vorstellung des geschichtlichen Fortschritts (als eines ›Kontinuums von Kultur‹)131 aushebelt. Benjamin entwickelt eine Kritik am Fortschrittsmodell der herrschenden Geschichtsphilosophie, indem er die genealogische Ahnenforschung mit einer messianischen Teleologie kurzschließt, um daraus gegenwartsdiagnostisches Kapital zu schlagen: »uns [ist] wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.«132 Historische Erkenntnis ist aus der Perspektive von 1939 (also vor dem Hintergrund des Hitler-Stalin-Paktes) nur möglich als Bemächtigung einer Erinnerung, »wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt.« (695) Damit wendet sich Benjamin gegen das »Verfahren der Einfühlung« (696), das nur die Geschichte der Sieger zu erzählen vermöge. Vielmehr sei es Aufgabe des ›historischen Materialisten‹, »die Geschichte gegen den Strich« zu bürsten (697). Indem er ›zeitlose Wahrheit‹ und die ›Unvoreingenommenheit der Betrachtung‹ bestreitet, lehnt Benjamin ab, »daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft«.133 Vielmehr fasst Benjamin das Moment der historischen Kollision als dialektisch auf, in dem zwei Momente in einer neuen Konstellation zusammentreten und sich gegenseitig im »Jetzt seiner Erkennbarkeit«134 erhellen: jedes Moment verschmilzt mit einer neuen Bedeutung, die ihm nur im Moment ihrer Verkoppelung eigen ist und niemals in derselben Weise oder in derselben Bedeutung noch einmal entsteht. Damit eröffnet Benjamin eine gänzlich andere Perspektive auf den Konnex von Vergangenheit und Gegenwart als Foucault: Statt eine verborgene Vergangenheit zu öffnen und in eine ›Geschichte der Gegenwart‹ zu überführen argumentiert Benjamin, dass historische Erkenntnismomente eine völlig neue Beziehung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herstellen, die die
131 | W. Benjamin an M. Horkheimer, Br. v. 24.1.1939 (GB VI: 198). 132 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 694). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 133 | Benjamin, Passagenwerk [1927 f.] (GS V.1: 570 f.). 134 | Benjamin, Notizen zu den »Geschichtsphilosophischen Thesen« [1939] (GS I.3: 1243).
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Möglichkeit einer dialektischen (messianischen) Zukunft eröffnen. Das Vergangene ist niemals verloren oder tot, sondern harrt in der Zeit und wartet darauf erlöst zu werden durch einen solchen Zusammenprall. Darin besteht der Unterschied zu Foucault, der davon ausgeht, dass die Gegenwart beleuchtet, was Vergangenheit hat, weshalb der Vergangenheit nur eine Bedeutung zukommt als Reflexion der Gegenwart (Mazzochi 2008: 106). In dieser Perspektive ist die Barbarei des Faschismus im zwanzigsten Jahrhundert auch nicht staunenswert – eine ›Entwicklung‹ weg von den ›primitiven Ursprüngen‹ hat ja in Benjamins Perspektive nie stattgehabt –, sondern nur Erkenntnismoment. Mit Nietzsche vertritt Benjamin ein Geschichtsmodell, das historische Erkenntnis an gegenwärtigen Erfordernissen misst: Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden. (701)135
Diese ›Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt‹ bildet für Benjamin die Grundlage, um das »Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« (702), um die gegenwärtige Erfahrung des Geschichtsschreibers zum Moment der Erkenntnis zu machen. Im ›Choc‹ stillgestellt, bietet sich dem materialistischen Historiker Geschichte als Monade dar, in der die »Abfolge der Begebenheiten« nicht durch einen »Kausalnexus« miteinander verbunden sind, der die »Rumpelkammer von Exempeln und Analogien«136 durchstöbernd ordnet, sondern durch die geschichts- (und zugleich gegenwarts-)bewusste und daher sinnstiftende Arbeit des Historikers erst zusammengebunden werden. An die Stelle der teleologischen Fortschrittserwartung des Historismus setzt Benjamin auf die »Diskontinuität der historischen Zeit«,137 die der Historiker – auch gegenüber der historistischen Geschichtsforschung – zu demaskieren hat.138 Auch wenn sich im erkenntnistheoretischen Teil des Passagenwerks kein expliziter Verweis auf Benjamins Nietzsche-Lektüre findet, so greift doch Konvolut D, das zu den frühesten Notaten des Passagenwerks gerechnet werden muss,
135 | In den Entwürfen zu seinen ›geschichtsphilosophischen Thesen‹ bezieht sich Benjamin noch einmal expliziter auf Nietzsche, den er als letzten (oder ersten) Vertreter eines »Gedanken[s] der ewigen Wiederkunft« anspricht (GS I.3: 1234). 136 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 702); vgl. auch Benjamin, Notizen zu den »Geschichtsphilosophischen Thesen« [1939] (GS I.3: 1237 f., 1245). 137 | Benjamin, Notizen zu den »Geschichtsphilosophischen Thesen« [1939] (GS I.3: 1246). 138 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 701). Vgl. dazu Foucault: »Der gute Historiker, der Genealoge weiß, was er von dieser Maskerade zu halten hat. […] Die Genealogie ist die Historie als Karneval großen Stils.« (Foucault, Nietzsche [1971], DE II: 186 f.).
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neuerlich auf Nietzsches These von der ›ewigen Wiederkehr‹ zurück.139 Damit initiiert Benjamin eine geschichtsphilosophische Betrachtungsweise, die er am Passagenwerk – analog zum Verhältnis von Methode und Verfahren im Trauerspielbuch – anzuwenden trachtet.140 Im erstgenannten erweitert Benjamin seine Kritik am Historismus um das Konzept einer Ursprünglichkeit, die sich aus der jüdischen Tradition des Urphänomens herleitet. Ich zitiere etwas ausführlicher, um den so wichtigen Begriff des Ursprungs bei Benjamin besser fassen zu können: Ursprung – das ist der aus dem heidnischen Naturzusammenhange in die jüdischen Zusammenhänge der Geschichte eingebrachte Begriff des Urphänomens. Nun habe ich es in der Passagenarbeit auch mit einer Ursprungsergründung zu tun. Ich verfolge nämlich den Ursprung der Gestaltungen und Veränderungen der pariser Passagen von ihrem Aufgang bis zu ihrem Untergang und erfasse ihn in den wirtschaftlichen Fakten. Diese Fakten, angesehe[n] unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, also als Ursachen, wären aber keine Urphänomene; das werden sie erst, indem sie in ihrer selbsteignen Entwicklung – Auswicklung wäre besser gesagt – die Reihe der konkreten historischen Formen der Passagen aus sich hervorgehen lassen, wie das Blatt den ganzen Reichtum der empirischen Pflanzenwelt aus sich heraus entfaltet. (577, N 2 a, 4)
Zweierlei gilt es festzuhalten: zum einen greift hier Benjamin nicht die geläufige Vorstellung vom Werden und Vergehen auf, die in seinen Wendungen von ›Aufgang‹ und ›Untergang‹ mitzuschwingen scheinen – dagegen spricht sein geschichtsphilosophisches Konzept, wie es in den Geschichtsphilosophischen Thesen und in Eduard Fuchs zum Ausdruck kommt; dagegen spricht aber auch die nur wenige Zeilen zuvor angebrachte Anmerkung im Passagenwerk: »Die Überwindung des Begriffs des ›Fortschritts‹ und des Begriffs der ›Verfallszeit‹ sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache.« (575, N 2, 5) Zum anderen ist dem Begriff des Ursprungs kein initiatorisches Moment eigen: Benjamins Begriff vom Ursprung ist nicht identisch mit der Rekonstruktion der ›ersten Ursache‹, sondern vielmehr – das erweist Benjamins Nietzschelektüre ebenso wie sein Rückgriff auf die ›jüdischen Zusammenhänge der Geschichte‹ – deren »Destruktion« (587, N 7, 6, vgl. Jennings/Eiland 2014: 548). Damit erstrebt Benjamin »weder eine homogene noch eine kontinuierliche Darstellung der Geschichte« (588, N 7 a,2), sondern eine »kritische[] Theorie der Geschichte« (598, N 13, 1), die statt der »Kontinuität des Zeitverlaufs« dessen »Interferenzen« herausstellt (593, N 9 a, 7). Gegen die »mechanistische Weltauffassung« der Fortschrittsgeschichte propagiert Benjamin Nietzsches ›ewige Wiederkehr‹ als »das Phänomen des perpetuum mobile«. (174, D 8 a, 3)
139 | Benjamin, Passagenwerk [1927] (GS V.1: 174). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 140 | Vgl. W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 20.5.1935 (GB V: 83).
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Abschließend gilt festzuhalten, dass Benjamins frühe Nietzsche-Rezeption sich in den durchaus nicht unproblematischen Bahnen der enthusiastischen Nietzsche-Rezeption der Zwischenkriegszeit bewegt, doch zeugt die Spätphase vom Versuch, Nietzsches Geschichtsphilosophie gegen die Vereinnahmung von Seiten der Nationalsozialisten zu verteidigen. Für Benjamins Geschichtsphilosophie kommt Nietzsche eine Bedeutung insofern zu, als dass die anfänglich genetische Argumentation Benjamins sich spätestens ab der Exilzeit, in Ansätzen aber bereits während der Habilitationsphase, zu einem genealogischen Verfahren wandelt. Der Vorstellung des »Immerwiedergleichen« führt hin auf eine »Erkennbarkeit des Jetzt«. Benjamin und Foucault in Dialog zu bringen erlaubt eine Kritik von Foucaults argumentativen Inkonsequenzen. Dank Benjamins Positionierung kann Foucaults Konzeption eines Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart genauer erfasst werden. Bei Foucault wie bei Benjamin manifestiert sich ein Begriff von Geschichte, der noch immer emphatisch formuliert und epiphan gedacht wird, der sich aber gegen Metaphysik und Teleologie richtet.141 Dieses paradoxe Verhältnis von Ausdruck und Inhalt führt bei beiden zu einer Geschichtskonzeption, die Linearität durch Rekursivität, Kausalität durch Selbstorganisation, den Grund durch den Zufall und Teleologie durch Autologie ersetzt.142 Freilich entkommt Foucault mit seinem Rückgriff auf Cangiulhem und Bachelard und deren Konzept der ›Episteme‹ nicht einem historistischen Denkmodus. Und auch für Benjamin stellt sich die Frage der Vermittlung von Anspruch und Einlösung, die auch das unvollendet geblieben Passagenwerk nur vermuten lassen kann. Es geht jedoch nicht darum, Benjamin als Diskursanalytiker avant le lettre zu entdecken (oder zu denunzieren, je nach Perspektive, vgl. Geisenhanslüke 2001). Eine methodologische Bemerkung Benjamins erweist viel treffender, als
141 | Insofern rechnen beide nicht zur sogenannten ›Posthistoire‹. Vgl. auch Foucaults Vorschlag, die epistemischen Kosten oder Verluste des Geschichtsprozesses, also die Erfahrungen der Unterlegenen im Kampf um epistemische Hegemonie, in den Prozess der Geschichtsschreibung einzuholen (am eindringlichsten 1975/76 in seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft). Dieser Vorschlag erinnert an Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen (1939). 142 | Während Jürgen Habermas vor dem Hintergrund seiner eigenen Heidegger-Lektüre die französische Nietzsche-Begeisterung (in Der philosophische Diskurs der Moderne, ein Text, der aus der Begegnung mit Foucault hervorgegangen war) als »neuen Paganismus« ablehnt, macht Benjamin die kritischen Traditionen Nietzsches fruchtbar, ehe sie durch den Poststrukturalismus für die Frankfurter Schule ›kontaminiert‹ wurden. Vgl. dazu Pecora 1991 und Owen 2003, die versuchen, die neueren Lesarten Nietzsches einzuordnen und für die Frankfurter Schule fruchtbar zu machen, ebenso wie Saar 2007.
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jede Rekonstruktion dies je vermöchte, eine geistige ›Konstellation‹ zum Anliegen von Foucaults Genealogie.143 Benjamin schreibt: »Auf den Differentialen der Zeit, die für die anderen die ›großen Linien‹ der Untersuchung stören, baue ich meine Rechnung auf. «144 Die geistige Verwandtschaft Benjamins mit Foucault (hervorgerufen und zusammengeschweißt durch deren Nietzschelektüren), mithin die Verwandtschaft des »historische[n] Materialist[en]«145 mit dem »glückliche[n] Positivst[en]« (Foucault 1969: 182), erweist sich in ihrer Kritik gegen den »geilen Drang aufs große Ganze«.146 Eben genau hier besteht aber auch eine Differenz zwischen Foucaults Ursprungskritik und jener Benjamins: während Foucault mit Nietzsche die teleologische Geschichtsvorstellung zugunsten einer Genealogie der verborgenen Brüche und verschleierten Diskontinuitäten verabschiedet, schlägt Benjamin aus dem Bruch der Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart die Hoffnung auf eine (messianische) Zukunft, die allererst in der Distanz von Historie und Gegenwart zutage trete, derer man aber ›eingedenken‹ müsse. Dass ein solches Verständnis von Genealogie fruchtbar ist, soll vorliegende Studie erweisen, die – von mit Benjamins Moderne einsetzend – zunächst zur Frühaufklärung zurück- und anschließend bis ins Internetzeitalter ausschreitet.
2. K APITEL : K RITIK DER K RITIK Die Critick wird in so mannigfaltiger Bedeutung genommen, daß es schwer werden wird, dem Worte iemahls eine bestimmte Bedeutung zu verschaffen[.] Johann Martin Chladni, Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752)
Noch immer gilt, wie Wilfried Barner bereits 1989 festgestellt hat, dass die »Erforschung der Literaturkritik, ihrer Prinzipien wie ihrer historischen Entwicklung […] nicht gerade zu den glanzvollen Kapiteln in der Geschichte der Literaturwissenschaft, zumal in Deutschland,« gehört (Barner 1989: IX). Man kann sogar noch weiter gehen: mit dem Ende des Zweiten Weltkrieg und mit dem Tod Walter Benjamins ist nicht nur die Entwicklung einer Praxis kritisch-
143 | Foucault bezieht sich an einer einzigen Stelle, dafür aber positiv, auf Benjamin: er nennt dessen Baudelaire-Aufsatz als Beispiel einer gegen den Historismus gerichteten Studie, vgl. Foucault 1984: 18. Das hat zuerst Weigel 1995: 25 festgestellt und die Publikation von Foucaults Dits et Ecrits hat daran nichts geändert. 144 | Benjamin, Passagenwerk [1927] (GS V.1: 579, N 1, 2). 145 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 694). 146 | Benjamin, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft [Rez., 1931] (GS III: 286).
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reflexiver Literaturkritik zu ihrem (vorläufigen?) Ende gekommen, sondern ebenso die breit angelegte und reflexive Literaturkritikgeschichte, wie sie dem Marburger Literaturhistoriker und Amtsnachfolger Max Kommerells, Werner Milch, vorgeschwebt haben mag, der von den Nationalsozialisten jedoch aus den Ämtern verdrängt und interniert wurde und vor seinem frühen Tod 1950 nicht mehr an das Projekt einer Literaturkritikgeschichte anknüpfen konnte, das Ideengeschichte und Sozialgeschichte zusammengeführt hätte.147 Bereits 1930 hat Milch aber in kritischer Auseinandersetzung mit Sigmund v. Lempeckis Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhundert (1920) sowie mit dessen Artikeln Literarische Kritik und Literaturwissenschaft im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ( vgl. auch Lempecki 1924) konstatiert: »Wenn […] literarische Kritik und Literaturgeschichte moderne Formen des Schrifttums bezeichnen, denen sich ältere Werke nicht fügen wollen, dann ist die Arbeit unnütz, mühsam Historiker und Kritiker voneinander zu trennen.« (Milch 1957: 11 f.) Ähnlich votiert auch noch 1960 Friedrich Sengle (1960: 328), der die Trennung von Literaturwissenschaft und Literaturkritik auf das 19. Jahrhundert datiert, genauer: er sieht in Nietzsches Propagierung der Kunst als letzter Metaphysik des Abendlandes eine Wende eingeleitet, die sich erstmals in ihrer radikalsten Form in Stefan George realisiert. Während Jaumann konstatiert, dass Literaturhistorie im 19. Jahrhundert von außen zur Literaturkritik hinzutritt und nicht aus ihr erwächst – die »praktische Kritik [also die Buchkritik] ist älter« (Jaumann 1995: 304), postuliert Milch, dass die Literaturkritik aufgeht »in der Geschichte der Poetik, der Ästhetik, der Literaturgeschichte, des Epigramms, des Pamphlets, kurz in jeglicher Untersuchung über die Wandlung des Kunsturteils.« (Milch 1957: 12) Wie das Beispiel Milchs und Sengles zeigt, existiert also in der Literaturkritik-Geschichtsschreibung der Nachkriegsgermanistik eine Tendenz, die – infolge der entpolitisierten Literaturbetrachtung des 19. Jahrhunderts – strikt gezogene Demarkationslinie von (kommerzieller) Literaturkritik und (beamteter) Literaturgeschichte aufzuweichen. Eine Literaturkritik-Geschichte müsste also untersuchen, wie und aus welchen Gründen (durch welche Personen und Institutionen) die Trennung von (historisch arbeitender) Literaturwissenschaft und (wertender) Literaturkritik im 19. Jahrhundert forciert wurde. Dass eine solche Trennung im deutschsprachigen Bereich bis in die Gegenwart nachwirkt ist unbestritten – dafür spricht die Auswertung der folgenden ideen-, begriffs- und sozialgeschichtlichen Dar-
147 | Vgl. die beiden Aufsätze Literaturkritik und Literaturgeschichte (1930 erschienen in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift) und Die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland (erschienen 1931 in der Zeitungswissenschaft), vgl. Milch 1957: 9–24, 25–37.
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stellungen zur Literaturkritik.148 Sie entwerfen eine Retrospektive, in der die ›Geburt‹ der Literaturkritik mit dem Wirken Lessings angesetzt wird. Diese Einschätzung ist maßgeblich durch die Wissenschaftspraxis des 20. Jahrhunderts legitimiert – aber trifft sie deshalb auch auf die dargestellte Epoche des 18. Jahrhunderts zu? Müssen nicht vielmehr andere literarische Formen berücksichtigt werden, um zu einer möglichst umfassenden Beschreibung dessen zu gelangen, was Literaturkritik genannt wird? Rechnen nicht im 18. Jahrhundert zur Literaturkritik auch jene Formen, die heute der Literaturwissenschaft zugeschlagen werden oder aber völlig ungebräuchlich geworden ist? Das folgende Kapitel hat ein doppeltes Anliegen: es will die bestehende Überblicksdarstellungen sichten und zugleich erproben, wie methodologisch unterschiedlich begründete Erzählungen von der ›Geburt der Literaturkritik‹ aussehen könnten – implizit schwingt auch immer die Frage mit, wie die Trennung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft begründet wird und ob diese Trennung bereits für das 18. Jahrhundert angesetzt wird. Meine Darstellung konzentriert sich auf drei unterschiedliche Methoden,149 die wissenschaftsgeschichtlich aufeinander folgten: am Beginn steht die Ideengeschichte (die sich in Opposition zu Geistesgeschichte und Phänomenologie entwickelt hat),150 gefolgt von der Begriffsgeschichte (die wiederum die statisch-lineare Betrachtung der Ideengeschichte durch Nachzeichnung der fluktuierenden Begriffsbedeutungen korrigiert) und zuletzt die Sozialgeschichte unter Einbeziehung der 148 | Vgl. auch Lämmert 1991: 271 (der einen programmatischen Apell zur Annäherung beider Disziplinen formuliert); Klein 2005: 11 (der betont, dass es die »Abgrenzungen und Ausgrenzungen« sowie die »Idiosynkrasien und Animositäten« von Literaturkritik und -wissenschaft »noch […] zu untersuchen und zu entdecken« seien); Anz 2005: 29 (der Literaturkritik und -wissenschaft funktional differenziert); Blatnik 2002: 25; Irro 1988; Schmidt-Dengler 1999. 149 | Zu einer – freilich antihistorische argumentierenden – Phänomenologie der Literaturkritik vgl. Ingarden 1959. Auch Ingarden rechnet zu jenen, deren Reflektion auf die ›Ursprünge‹ der Literaturkritik (bzw. des literarischen Werturteils, die Ingarden 1931 und 1937 erstmals unternahm) durch die die politischen Verhältnisse unterbrochen wurde. Bezeichnender Weise konstatiert Ingarden die weitgehende Deckungsgleichheit von Literaturwissenschaft und Literaturkritik in phänomenologischer Hinsicht: das Werturteil stellt eine Kulmination der »emotionale[n] Reaktion des Erlebenden« dar, also eine »Wertantwort« (14). Während Ingarden auf diese Weise das emotional-sympathetische Moment der Literaturkritik in den Blick nimmt, gelten ihm andere Formen, etwa vernichtende Verrisse, als »pathologische Fälle« (15). Ergänzt werden Ingarden Ausführungen von Bohrer 1978, der gleichfalls eine Sympathetik zur (uneingestandenen) Voraussetzung des literarischen Werturteils (also zu seiner ›Antizipation‹) macht. 150 | Die der Geistesgeschichte und Phänomenologie vorausgehende positivistische Literaturwissenschaft kann keinen Beitrag zu einer ›Geschichte oder gar Genealogie der Literaturkritik‹ liefern, sofern sie sich nicht auf die Edition von Literaturkritiken, Zeitungswissenschaft o.ä. beschränkt.
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Systemtheorie (beide Methoden korrigieren die rein ästhetische Betrachtungsweise von Ideen- und Begriffsgeschichte durch den Einbezug sozialer Momente). Alle drei Methoden rechnen die Literaturkritik zum Kernbestrand des ›Projekts Moderne‹ und begreifen deren Genese daher als Impuls im Modernisierungsprozess.
a. Ideengeschichte der Literaturkritik Die Ideengeschichte befasst sich mit der Entstehung und Fortentwicklung sowie Wirkung epochentypischer Mentalitäten auf der einen Seite und wissenschaftlicher Ideen und Ansätze auf der anderen. Sie geht daher nicht vom einzelnen literarischen Werk aus (wie es die Geistesgeschichte tun würde),151 sondern versucht beispielsweise, den Geist der Goethezeit darzustellen, wie der Titel des ideengeschichtlichen Grundlagenwerkes von Hermann August Korff aus dem Jahr 1923 lautet. Wie schon die Geistesgeschichte konzentriert sich die Ideengeschichte darauf, die Autonomieästhetik »wesenhaft zu erleuchten« (Korff 1923: VIII), greift dabei jedoch über die Literaturgeschichte hinaus: im Sinne einer Mentalitätsgeschichte sind die Gegenstände der Ideengeschichte in allen kulturellen Erscheinungen präsent. Die ›Standard Story‹, die die Ideengeschichte von der Entstehung der Literaturkritik erzählt, lautet: Im Zuge der Aufklärung und der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit entsteht – mithilfe der Gelehrten – um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Literaturkritik, die sich über die ästhetischen Grundlagen der République des lettres verständigt, ehe sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf eine allgemeine Kritik hin überführt; die Literaturkritik trägt also erheblich zur Aufklärung bei und begründet auf diese Weise die Moderne. Nun existieren dankbarer Weise drei ideengeschichtlich ausgerichtete Darstellung zur Literaturkritik: zunächst die monumentale Geschichte der Literaturkritik (1955–1977) des amerikanische Literaturwissenschaftlers René Wellek, die
151 | Eine ›Geistesgeschichte der Literaturkritik‹ ist insofern unmöglich zu schreiben, weil das eine transzendente literaturkritische Werk nicht existiert, das Ideen spiegelt und Teil hat an überzeitlichen Zeitströmungen. Literaturkritik spiegelt und begleitet in gewisser Weise die Entwicklung der Autonomieästhetik (auf deren Darstellung sich im weitesten Sinn die Geistesgeschichte konzentriert), aber eine geistesgeschichtliche Darstellung der Literaturkritik müsste sich beispielsweise auf Friedrich Schlegels Über Goethes Meister konzentrieren – ein derartige historische Verkürzung liegt nicht im Interessenfokus dieser Studie. Im gewissen Sinn versucht Chrostowska (2012) eine solche Geistesgeschichte zu schreiben und konzentriert sich dabei auf ausgewählte Klassiker der Literaturkritik-Geschichte, scheitert jedoch im Anspruch, Foucaults Genealogie mit einer genrespezifischen Betrachtung und einer genetischen Darstellung zu verbinden.
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ganz bewusst die Geschichte der Literaturkritik als Ideengeschichte in der Nachfolge Arthur O. Lovejoys (Wellek 1955: 24; vgl. auch Wellek 1963: 9 f.) schreibt: »Kritik ist ein Teil der allgemeinen Kulturgeschichte.«152 Wellek rekonstruiert programmatisch Theoreme der Kritiker, indem er sich einer geschichtspsychologischen Verlaufstheorie bedient. Er beabsichtigt, eine Literaturkritikgeschichte »von einem einheitlichen Gesichtspunkt« (nämlich dem der Geburt der Moderne aus dem Geiste der Literaturkritik) her zu schreiben, um »unsere gegenwärtige Situation [zu] erhellen und [zu] deuten.« (Wellek 1955: 7) Als Ausgangspunkt nimmt Wellek die Mitte des 18. Jahrhunderts, weil sich nun die älteren Formen der Literaturkritik aufzulösen beginnen: Eine Darstellung der Veränderungen, die sich innerhalb dieses [älteren] Systems [der Literaturkritik] zwischen 1500 und 1750 vollzogen, erscheint mir als eine fast ausschließlich literarhistorische Aufgabe, die zu den Problemen unserer Zeit in keiner Beziehung steht. (7)
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts treten Aspekte auf, die für die Herausbildung der Moderne von immenser Bedeutung sind; Wellek will folglich die Literaturkritikgeschichte als Fortschrittsgeschichte hin auf die Moderne erzählen. Dazu weitet er seinen ohnehin umfassenden Arbeitsbereich (der die deutschen, englische, französische und italienische Literaturtheorie,153 die Ästhetik und die ›praktische Literaturkritik‹ umfasst) »viel weiter [aus] als es besonders in Deutschland der Fall ist.« (7) Wellek trägt damit bereits im Vorwort die deutschsprachige Unterscheidung von (wertender) Literaturkritik und (reflektierender) Literaturwissenschaft Rechnung ( vgl. auch Wellek 1963: 10; 24), vermag sie aber weder für sein eigenes komparatistisches Unternehmen fruchtbar zu machen oder zu erklären, noch trägt er sie mit – allerdings: er nimmt auch nicht jene literaturkritischen Texte zur Kenntnis, die vor Gottsched oder Lessing publiziert wurden. Literaturkritik definiert Wellek bündig als »literarische Geschmackäußerungen und Vorlieben«, die »in irgendeiner Form theoretisch begründet« sind (8).154
152 | Wellek 1955: 22. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 153 | Wellek 1963: 27 f. räumt ein, dass es auch einen ›englischen Sonderweg‹ gebe, der eine eigene Untersuchung rechtfertige und der darin bestehe, dass ›Criticism‹ sowohl Literaturkritik und Literaturwissenschaft als auch Literaturästhetik oder Literaturtheorie umfasst. Vgl. auch Edward W. Saids Unterscheidungen der vier Formen der Literaturkritik (in Buchrezension, Literaturgeschichtsschreibung, Literaturanalyse und Literaturtheorie, Said 1983: 7). 154 | Symptomatisch ist auch Welleks gegen die Begriffsgeschichte gerichtete Anmerkung, er werde die antiquierten Ausdrücke in den zitierten Quellen modernisieren, »da es in einem Buch, das sich mit Ideen beschäftigt, als unnötig erscheint, die Druckgebräuche der jeweiligen Zeit zu konservieren.« (8)
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Wellek zeichnet den Verfall des aus der Renaissance überlieferten Systems der Literaturkritik im klassizistischen Frankreich nach (15). Die Kritik am etablierten Literatursystem und die dadurch propagierten Neuerungen arbeiten der Herausbildung der Moderne zu. Wellek positioniert sich damit gegen die Wiederentdecken der klassizistischen Ästhetik aus der Zeit um 1700, die in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts unter Literaturhistorikern vermehrt Fürsprecher fand. Nach Wellek handelt es sich bei dieser Wiederentdeckung um eine Abwehrhaltung gegenüber der deutschen Klassik und englischen Romantik, die Wellek seinerseits ablehnt (15). Vielmehr orientiert sich Wellek an der Literatur der Kunstperiode, die er als wesentlichen Fortschrittsmotor der Entwicklung und Reflexion einer modernen Literaturkritik betrachtet. Seine Darstellung verpflichtet sich, die »Herkunft von Schlüsselbegriffen der modernen Kritik« (18) nachzuzeichnen, doch auch wenn zwischen 1550 und 1750 »die Hauptakzente und die Terminologie« wechseln und zwischen einzelnen Kritikern und einzelnen Ländern »verschiedene[] Entwicklungsstufen« (19) festzustellen sind, so teilt Wellek doch die Entwicklung der Literaturkritik zwischen 1550 und 1750 in drei Phasen, die von der Autorität, von der Vernunft und vom Geschmack bestimmt würden. Diese Phasen entsprechen der »kartesische Rationalismus, der lockesche Empirismus und der leibnizsche Idealismus« (22). Trotz aller Einschränkungen – die Terminologie wechselt, es bestehen Unterschiede zwischen einzelnen Kritikern sowie zwischen Ländern, es gibt verschiedene Entwicklungsstufen – sei die »Begründung, Ausarbeitung und Verbreitung einer Auffassung von Literatur« um 1750 »im wesentlichen noch die gleich […] wie 1550« (19). Diesen Widerspruch versucht Wellek auszuhebeln, indem er konstatiert, dass die Literaturkritik zwischen 1550 und 1750 weitgehend akademisch geblieben und die Ästhetik des Aristoteles und des Horaz verinnerlicht habe, während die Literaten sich weiterentwickelt hätten (20). Dieses Argument nutzt Wellek sodann, um die ideengeschichtliche Literaturkritikgeschichte als »Geistesgeschichte« (21) schreiben zu können, als »innere[] Geschichte der Kritik«, die für sich genommen bereits so interessant sei, dass sie nicht zusätzlich mit der Relation von literaturkritischer Theorie und praktischer Literaturkritik überfrachtet werden brauche (21): »Eine Untersuchung des Einflusses der Kritik auf die Dichtung und umgekehrt würde die Einheit unseres Themas, seine Kontinuität und unabhängige Entwicklung zerstören. Die Geschichte der Kritik würde dann zu einer Geschichte der Literatur.« (21)155 Wellek geht vom französischen Klassizismus aus und grenzt die Neuerungen Voltaires und Diderots dagegen ab. Ergänzt wird der Befund durch die englischsprachige Literaturkritik seit Samuel Johnson und die italienische Litera-
155 | Wellek negiert auch den Einfluss sozialgeschichtlicher Faktoren, vgl. Wellek 1955: 23 f.
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turkritik. Erst dann kommt Wellek auf die deutschsprachige Entwicklung zu sprechen, der er ja gleich eingangs die Beschreitung eines Sonderwegs bescheinigt hat ( vgl. auch Fontius 1992). Da es in Deutschland keine kanonisierten literarischen Klassiker (wie etwa Shakespeare und Milton in England oder Racine und Molière in Frankreich) gibt, ist Gottscheds literaturkritisches Werk »eine schwerfällige und pedantische deutsche Form des französischen Klassizismus. […] Gottscheds Poetik bleibt daher eine abstrakte akademische Übung. Der erste deutsche Kritiker von hohem Rang war Lessing« (153). Die deutsche Literaturtheorie ist durch den Wolffschen Leibnizianismus geprägt, der die Deutschen »für die Extreme des kartesischen Rationalismus einerseits und des lockeschen Empirismus andererseits unempfänglich« (153) gemacht hat. Erst mit Baumgartens Aesthetica von 1750 liegt eine Lehre von der sinnlichen Erkenntnis vor, die in induktiver Logik Klarheit und Lebendigkeit zum Richtmaß der literarischen Erkenntnis erhebt und damit auf die Moderne vorausweist (154). Da jedoch Baumgarten noch der Philosophie von Leibniz und Wolff verpflichtet ist, bleibt die ästhetische Einsicht auf eine »bloße[] Vorbereitung für die Philosophie« (154) beschränkt: »Der Intellektualismus siegte.« (155)156 Auch Johann Elias Schlegels Reflexionen zum Verhältnis von Dichtung und Wahrheit bleiben weitgehend abstrakt und daher wirkungslos für die praktische Dichtung (155). Mit Bodmer finden »empirische Ästhetik und Historismus« (155) Eingang in die deutsche Literaturkritik. V. a. betont Wellek Bodmers Verdienste um die Edition mittelalterlicher Dichtung, die den Deutschen ein literaturhistorisches (Selbst-)Bewusstsein eröffnen, und seine Vermittlung der englischen Ästhetik der Einbildungskraft nach Deutschland (156). Moses Mendelssohn schließlich bündelt die Gedanken Baumgartens, Schlegels und Bodmers und vermittelt sie an Lessing weiter (157): »Er [i. e. Mendelssohn] verbindet leibnizsche und neuplatonische Ideen mit einem von den Franzosen und Engländern herrührenden Empirismus.« (157) Etwas unvermittelt ist ein Abschnitt zu Winckelmann eingeschaltet, der als Wiederbeleber der »neuplatonische[n] Ästhetik, wie er sie bei Shaftesbury und den italienischen Ästhetikern des 17. Jahrhunderts fand« (158), gerühmt wird. Dann jedoch kommt Wellek auf Lessing zu sprechen, »[d]er erste große Literaturkritiker« (159). Ohne sich dessen bewusst zu sein, knüpft Wellek an Goethes Literaturgeschichtsschreibung in Dichtung und Wahrheit (1807) an und deklariert Lessing zum »erste[n] große[n] Schriftsteller, den Deutschland in der Neuzeit hervorgebracht« (160) und der die Orientierung am französischen Klassizismus erfolgreich überwunden habe. Während Wellek den »Philologe[n] und Archäologe[n]« Lessing als »heute zweifellos veraltet« (160) bezeichnet,
156 | Mit ›intellectualism‹ ist wahrscheinlich die Scholastik gemeint.
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lobt er die sprachliche »Klarheit und Nüchternheit« (160) seiner Literaturkritiken, die ihn von den pedantischen (Gottsched), schwerfälligen (Schlegel) und behäbigen (Bodmer) Vorgängern auch stilistisch unterscheiden – für Wellek ist Lessing also in erster Linie Literaturkritiker und nicht Philologe. Doch die Frage, wie Lessing durch seine »Zergliederungen« (166) als Literaturkritiker der Moderne zugearbeitet hat, bemisst sich weitgehend an dem Stellenwert, den er englischen Dichter einräumt bzw. seiner Rezeption englischer Literaturtheorie (161 ff.) sowie seiner Ablehnung des französischen Klassizismus (166). In der Perspektive Welleks arbeitet Lessing einer autonomieästhetischen Literaturkritik zu, die einen massiven Modernisierungsschub im deutschsprachigen Bereich auslöst (172 f., 174), gar eine »täuschende Ähnlichkeit mit romantischen Anschauungen aufweist« (177), wenn Lessing nicht bereits »jene Auffassung der Literatur vor[bereitet], die dem psychologischen und sozialen Realismus des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt.« (182) Indem Lessing alle regelhaften Poetiken verwirft und stattdessen die dichterische »Wahrscheinlichkeit, die Reinheit und die Besonderheit ihrer Wirkung« (178) zum alleinigen Maßstab der literaturkritischen Beurteilung erhebt, überführt er die deutschsprachige Literaturkritik in die Moderne. Die Ursprungsgeschichte, die Wellek erzählt, betont die Verdienste Lessings um eine moderne deutschsprachige Literaturkritik – die ›eigentliche‹ Geschichte der Literaturkritik setze mit ihm ein. Jaumann hingegen beschreitet mit seiner Darstellung den exakt umgekehrten Weg: er zeigt die antik-frühneuzeitliche Verwurzelung der Literaturkritik auf und arbeitet dabei implizit ideengeschichtlich, indem er die »epochenmäßige Rekonstruktion der Literaturkritik der deutschen Frühaufklärung« als Hintergrund und Fundament Lessings erhellt (Jaumann 1995: XI). Im einleitenden Durchgang durch die Forschungsgeschichte (vgl. dazu Jaumann 2000: 466) unterscheidet Jaumann zwei Modelle von Literaturkritik, die um 1700 auseinandertreten: erstens Literaturkritik als okkasionelle kritische Begleitung von (v. a. antiker oder älterer) Literatur,157 zweitens die »öffentliche [periodisch organisierte] Begleitung der aktuellen Literaturproduktion« (14, 21). Jaumann setzt sich in dreifacher Hinsicht kritisch mit der Forschung zur Literaturkritikgeschichte auseinander: neben (1.) der angloamerikanischen Vermischung von Literaturkritik und -wissenschaft (Wellek) kritisiert er (2.) die Konzentration auf wenige Großkritiker, v. a. auf Lessing, mit dem (3.) die meisten Literaturkritikgeschichten einsetzen und daher die ältere Literaturkritikgeschichte nur als »defiziente ›Vorgeschichte‹« wahrnehmen (Jaumann 2000: 466).
157 | Jaumann 1995: 23. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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Jaumanns Rekonstruktion setzt hingegen im ersten nachchristlichen Jahrhundert bei Quintilian bzw. dessen Wiederentdeckung in der Renaissance ein, der die Kritik der Grammatik – mit den beiden Komponenten des Regelwissens von der Sprache und ihrer korrekten Verwendung (verba) und des historischen Sachwissens (res, Jaumann 2000: 464) – und Gelehrsamkeit zuordnet: der Lehrer erläutert den Text des Dichters, indem er dessen obscuritas im Rahmen des iudicium aufklärt (58). Dadurch sind Text- und Kanonkritik möglich (60), doch noch keine wertende Literaturkritik im neuzeitlichen Sinne. Die antike Literaturkritik erweist sich vielmehr als [e]ine informelle, nicht institutionalisierte Kritik als Moment der Kommunikation über publizierte Texte, eine Kommunikation, die keine institutionalisierte Pragmatik besitzt, ohne Medium, ohne Textform, ohne Aktanten-Rollen, schließlich ohne typischen Anlaß zu ihrer Formulierung und Rezeption. Wären alle diesen Bedingungen gegeben, ließe sich von einer relativ auf Dauer gestellten Kritik als Institution sprechen und ließen sich Dokumente beibringen. (74)
Es bilden sich jedoch drei Momente eines alteuropäischen Kritik-Modells heraus: erstens ein gelehrsames Kritikmodell, das eine geschlossene Kommunikation (»von Wissenden für Wissende«) ermöglicht; zweitens eine Fixierung des imitatio-aemulatio-Problems: Neues ist immer lesbar durch Kanonisiertes, Kritik muss nicht vermitteln, d. h. sie ist nicht temporal gebunden, sowie drittens ein Kritikmodell, das auf kanonische Normen und Normenkontrolle fixiert ist (102). In Auseinandersetzung mit diesen Kritikmodellen kommt es zwischen 1450 und 1700 zur Neuorientierung, mithin zu einem neuen Modell von Kritik, das sich dann ab der Mitte des 18. Jahrhundert vollends entfaltet. Eine erste Emanzipation bedeutet die Loslösung der Textkritik von der vorscholastischen Grammatik, da die antiken Autoritäten nun – mittels confrontio critico und comparatio – für die frühneuzeitlichen Ziele in Anspruch genommen werden (120) und die interpretatio (also die historische Kritik des iudiciums, 178) und die emendatio (also die Korrektur der Textkorruption und der Fehldeutungen, 166) als Verfahren durchsetzen. Bereits die seit dem 15. Jahrhundert betriebenen »Editionsfabriken« orientieren sich am Novitätswert des von ihnen edierten Autors und weisen damit ähnliche Züge auf wie die Rezensionspraxis des 18. Jahrhunderts bezüglich literarischer Novitäten (124). Parallel entwickelt sich die critica sacra et profana, die Text- und Bibelkritik sowie historische Kritik umfasst (126) und deren Rückwirkungen und Filiationen schließlich zu einer späthumanistischen Krise führen, durch die die Kritik sich – durch Verschränkung von hellenistischer διόρθωσις mit der der Grammatik Quintilians einerseits, durch Verschränkung von enneratio (Kommentar), κρίσις und διόρθωσις andererseits – seit dem frühen 17. Jahrhundert auf die Gegenwartsliteratur konzentriert (158 ff.). Folgerichtig überführt namentlich Jean Le Clerc die ars critica »von der Philologie zur Philosophie« (179), indem er den Urteilsbegriff (iudi-
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cium) nicht allein auf die Textüberlieferung, sondern auf die Textinhalte ausweitet (179, vgl. Jaumann 2000: 465). Darüber hinaus verdränge die critique mondaine – die der honnêteté und dem bel esprit gegenüber der Gelehrsamkeit den Vorzug gibt (198) – zunehmend die critica perennis (193). Im deutschsprachigen Raum verzögern sich die entsprechenden Entwicklungen, auch in der Herausbildung eines Zeitschriftenwesens, das in Frankreich um 1700 entscheidend zur Herausbildung eines literaturkritischen Diskurses beiträgt (225).158 Etwa um 1700 setzt sich das neue Modell der literarischen Kritik im deutschsprachigen Raum durch, das Elemente der älteren Kritik mit Elementen der Parodie, der Polemik und des Spotts auf literarische Neuheitenproduktionen anwendet, um zu einem gegenstands- wie publikumsbezogenen Urteil zu gelangen (229 f.). Zunächst bestehen die älteren Formen der Literaturkritik weiter, sie werden v. a. in den bibliothecae, historiae litterariae, Hodegetiken, iudicia-Sammlungen und in den Gelehrten- und Dichterkatalogen gepflegt (233 ff.). Der Aktualitätsbezug der Kritik muss zunächst erst einmal organisiert werden, und hier bieten sich – in Ermangelung einer Leserschicht, die den mondaines in Frankreich entsprechen würde – die Gelehrten an (243). Aus dem halböffentlichen Gelehrtenbriefwechsel heraus organisiert die res publica litteraria das neue Kritikmodell (249), das schließlich Periodizität in Form von literaturkritischen Zeitschriften findet (264 ff.), die bezeichnender Weise – sofern sie den neuen Kritikbegriff vertreten – dialogisch organisiert sind (291). Damit hat Jaumann »an die Schwelle derjenigen modernen Form der Kritik heran[ge]führt[], die wir bis heute kennen.« (303) Ab diesem Zeitpunkt konzentriert sich das kritische Bemühen auf die aktuelle Literaturproduktion und vermittelt sein Wissen in eigens geschaffenen und das Publikum adressierenden Journalen (Jaumann 2000: 464). »In Deutschland bleibt die Rollenfiliation zwischen dem gelehrten Philologen (dem späteren Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker) und dem Kritiker als Literaturjournalisten, der die aktuelle Literatur kritisch begleitet, im Prinzip erhalten.« (Jaumann 2000: 465) Daraus erklärt sich auch, warum die Literaturhistorie im 19. Jahrhundert von außen zur Literaturkritik hinzutritt und nicht aus ihr erwächst – die »praktische Kritik [also die Buchkritik] ist älter« (Jaumann 1995: 304). Die Darstellung dieses Prozesses ist nach Jaumann jedoch immer noch ein Desiderat der Forschung. Eine Mittlerstellung zwischen Wellek und Jaumann nimmt in gewisser Hinsicht die Arbeit zur deutschsprachigen Buchkritik von Anni Carlsson von 1963 ein: sie versucht, »die Entwicklung der deutschen Buchkritik in einigen Hauptlinien« nachzuzeichnen und konzentriert sich dabei auf die im Titel ex-
158 | Vgl. jedoch Hofmann 1978, der dezidiert die Praxis der Literaturkritik in frühen Periodika (1688–1720) untersucht.
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plizit genannte »Buchkritik« (die Carlsson von der Literaturwissenschaft und allgemeinen Ästhetik unterschieden wissen will).159 Carlssons Studie beansprucht, nicht ›über‹ die Buchkritik zu arbeiten, sondern durch Montage von Zitaten den »geistigen Prozeß […] selbst greifbar zu machen in ausgewählten Zitaten aus heute großenteils nicht mehr bekannten Texten« (6). Durch ihr Verständnis von Buchkritik datiert Carlsson die Entstehung der Literaturkritik auf die werbenden und polemischen Flugschriften und Vorworte zu den altsprachlichen Texteditionen des Reformationszeitalters zurück (17), die unter dem Deckmantel der Textkritik gegen die gegnerischen Autoren polemisieren (20). Aus diesen Gelegenheitsschriften entstehen die literaturkritischen Periodika (17). Unter den Vorzeichen des theologischen Streitschrifttums deutet Carlsson auch das Buch von der deutschen Poeterey (1624) von Martin Opitz, das noch bis zu Gottsched und Breitinger wirksam bleibt (23 f.). An den volkssprachlichen Vermittlungsaspekt knüpft dann auch Thomasius mit seinen Monatsgesprächen (1688–1692) an, die sich erstmals der schöngeistigen Gegenwartsliteratur widmen und über eine dialogische Vermittlung auch den Zugang erleichtern (25). Eine polemische Literaturkritik setzt Christian Wernicke mit seinen Überschrifften (1701–1704) durch (29). Auf dieser Grundlage entwickeln Gottsched sowie Breitinger und Bodmer die Literaturkritik weiter (30 f.). Die Ausbildung einer ›vernünftigen‹ Kritik bedeutet zugleich aber auch eine Zurückdrängung der Affekte und der damit verbundenen Affektenlehre (33) – ein gewinnbringender Ansatz, den Carlsson jedoch nicht weiter verfolgt, sondern stattdessen auf Lessings Klopstockrezeption überspringt (37 f.). Dass die Herausbildung des Zeitschriftenwesens mit der Entstehung der Literaturkritik einher geht, hat Hofman 1978 nachgezeichnet. Auf der Grundlage einer umfassenden Untersuchung der frühen, zwischen 1688 und 1720 erschienen Journale und der Auswertung der darin enthaltenen Kritiken zur zeitgenössischen schönen Literatur kann Hofman erhellen, dass nicht etwa die frühen, vor 1700 erschienenen Zeitschriften die konservativere Form der ars critica vertreten und die späteren Journale fortschrittlicher sind und ein literaturkritisches Werturteil etablieren. Vielmehr beobachtet Hofmann »daß beide Arten [der Kritik: die ›philologische‹ und die ›kritische‹] und die dazwischen liegenden von Anfang an auftreten oder nebeneinander laufen.« (Hofman 1978: 215) Eine Entwicklung der Literaturkritik hin von einem ›barocken‹ auf ein ›aufgeklärtes‹ Modell von Literaturkritik kann also nicht ausgemacht werden. Die Ideengeschichte der Literaturkritik »mit der Aufklärung beginnen zu lassen, entspricht einem Konsens der Forschung.« (Berghahn 1985: 10) Dieser
159 | Carlsson 1963: 6. Mit Seitenzahl im Text zitiert. Buchkritik sei Rezension, Literaturkritik »ein Stück Literaturtheorie« (15).
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›Konsens der Forschung‹ bedeutet aber auch Bequemlichkeit. Dafür ist der engagierte und profunde Beitrag von Berghahn 1985 leider selbst das beste Beispiel: Berghahn nimmt zwar die ältere Form der ars critica wahr, setzt aber mit Gottsched ein, mit dem »die literarische Publizistik und Kritik in Deutschland« beginnt (Berghahn 1985: 21). Zwar fasst Berghahn Gottsched als eine janusköpfige Mittlerfigur auf, die sowohl in der Tradition der Barockrhetorik steht als auch als »bürgerliche[r] Repräsentant einer literarisch-kritischen Öffentlichkeit« gilt (Berghahn 1985: 23). Allein: Gottsched einer Richtung zuzuschlagen traut sich Berghahn nicht – doch nicht etwa aus Gründen wissenschaftlicher Dezenz, sondern, weil dazu erst »die stattliche 34 Bände« füllende »literarische Publizistik« Gottscheds erschlossen werden müsste. Daher begnügt sich Berghahn damit, die Geschichte der Literaturkritik mit Lessing beginnen zu lassen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ausweitung der Materialbasis ein erheblicher Gewinn sein kann. Das bestätigt die Critica-Studie von Jaumann (1995), die umfassend frühe literaturkritische Periodika heranzieht (eine ähnliche Auseinandersetzung steht in Bezug auf Gottscheds Zeitschriften noch aus).160 Freilich ist der Preis, den der Forscher zahlt, ein doppelter: weder kann er mit den großen Namen bedeutender Autoren reüssieren, noch ist die Lektüre allzu erklecklich. Daher setzt die ideengeschichtliche Literaturkritik-Geschichtsschreibung gerne mit Lessing ein. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob die Praxis der Literaturkritik – also: die schriftliche Urteilsfindung zur Literatur der je eigenen Gegenwart – nicht bereits zu früheren Zeiten (als noch keine Periodika bestanden und auch kein entsprechendes bürgerliches Publikum) geübt wurde. So unterzieht etwa Hans Jakob Christoffel v. Grimmelshausen 1672 in seinem Wunderbarlichen Vogel=Nest den im gleichen Jahr erschienenen Ertz=Narren-Roman Christian Weises sowie Philipp v. Zesens bereits 1670 erschienen Assenat-Roman einer Kritik, die den Erfordernissen der Critique mondaine gerecht wird (Urteilsbildung, ästhetische Kriterien, Dialogizität), zugleich aber metaphorisch das Unbehagen an der Critique bannt – als Ungelehrter ›durchschnarcht‹ der Erzähler Zesens Assenat und setzt (brotlose) Gelehrsamkeit und (gewinnbringende) Erzählkunst ins Verhältnis (Breuer 2006: 109).161 Oder man greift noch weiter aus und interpretiert den Exkurs zur Tristans Schwertleite in Gottfrieds von Straßburg Tristan (um 1210) als Frühform der Literaturkritik, die die Werke Hartmanns von Aue, Bliggers von Steinach, Heinrichs von Veldeke, Reinmars von Hagenau und Walthers von der Vogelweide einer kritischen Bewertung unterzieht, dabei jedoch – im Wortsin-
160 | Vgl. jedoch – wenn auch nicht mit Blick auf die Genese der Literaturkritik – Ball 2000. 161 | Vgl. auch die Deutung der (katholischen) Vorzensur als Sonderform der Literaturkritik im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in Breuer 1991.
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ne einer Revue – erotische und gustatorische Komponenten aufweist (Kern 2007: 95). Dass das ideengeschichtliche Verfahren Risiken birgt und nur unbefriedigende Erklärungsansätze zur Entstehung der Literaturkritik bietet, ist etwa Wellek zumindest indirekt klar gewesen, gesteht er doch ein: irgendetwas geschah [im 18. Jahrhundert] in Deutschland, wodurch Ausdruck und Begriff der ›Kritik‹ herabgesetzt und immer mehr eingeengt wurden, bis er nur noch die tägliche Buchbesprechung, die mehr oder minder willkürliche literarische Meinungsäußerung umfaßte. (Wellek 1963: 29)162
Aus dieser Verunsicherung kann die ideengeschichtliche Literaturkritik Potential schlagen, sofern sie keine hegemoniale Geschichte erzählt, sondern eine Problemgeschichte der Literaturkritik fokussiert. Erzählt man die Literaturkritikgeschichte jedoch als Fortschrittsgeschichte, so gerät man unweigerlich in Konflikt mit den Grundlagen einer kritischen Geschichtsschreibung, gilt doch »der Fortschritt [als] der modus vivendi der Kritik« (Koselleck 1959: 91).
b. Begriffsgeschichte der Literaturkritik Die Begriffsgeschichte zeichnet die historische Semantik von Begriffen nach, also die Herkunft und den Bedeutungswandel einzelner Begriffe, und entwirft durch Rekonstruktion des ›Erfahrungsraums‹ auch einen ›Erwartungshorizont‹ (Koselleck 1989: 111 ff.). Damit wirkt sie als Korrektiv gegenüber der älteren Ideengeschichte, die die Veränderlichkeit von Begriffen nicht berücksichtigt, sondern vielmehr die (in sich statischen) Entwicklungslinien nachzeichnet. Sie erzählt die Entstehung der Literaturkritik als Symptom einer Krisis des antiken und humanistischen Kritik-Wesens, in dessen Folge sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts Begriffe wandelten und westliche Werte herausschälten, die unter anderem die ästhetische Frage des Guten und Schönen klären helfen. Bezeichnender Weise findet sich in den begriffsgeschichtlichen Lexika häufig ein Mehrfacheintrag, der die Lemmata »Kritik« und »Literaturkritik« separat behandelt,163 etwa in dem von Joachim Ritter herausgegebenen Historischen Wörterbuch der Philosophie (vgl. Bormann/Tonelli 1976; Holzhey 1976; Schalk 1976; Weber 1976) und in dem von Gert Ueding herausgegebenen Historischen
162 | Wellek thematisiert wiederholt seine Beunruhigung, wenn er formuliert: »Es mag interessant sein aufzuzeigen, wie diese Einschränkung [gemeint ist die Trennung von feuilletonistischer Literaturkritik und akademischer Literaturwissenschaft] zustande kam.« (Wellek 1963: 10). 163 | Damit gehen die begriffsgeschichtlichen Einträge jedoch hinter Kants Einlassungen in der Kritik der Urteilskraft (1790, § 34) zurück.
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Wörterbuch der Rhetorik (Zinsmaier/Ueding 2011; Schmitz 2011), während die von Reinhart Koselleck herausgegebenen Geschichtlichen Grundbegriffe (Röttgers 1982) und das Archiv für Begriffsgeschichte (Strube 1975) offener sind für begriffliche Gemengelagen. Beide letztgenannten Wörterbücher verweisen – ihrer jeweiligen Interessenlage geschuldet – auf die philosophischen Traditionsbestände, wobei das Differenzkriterium zwischen ›Kritik‹ und ›Literaturkritik‹ begriffsgeschichtlich unklar bleibt, da das 18. Jahrhundert (hier in der Gestalt Kants, dort in Gestalt Lessings) als Ursprungsort beider Begriffe ausgemacht wird. Ich referiere im Folgenden ausschließlich die Einträge zum Lemma ›Literaturkritik‹ und vernachlässige die Geschichte des allgemeinen Kritikbegriffs (sofern die entsprechenden Lemmata nicht auf den Begriff der Literaturkritik näher eingehen, wie im Falle der von Reinhart Koselleck herausgegebenen Geschichtlichen Grundbegriffe, vgl. Röttgers 1982). Eine Wort- und Begriffsgeschichte von ›Kritik‹ (im weiteren) oder ›Literaturkritik‹ (im engeren Sinne) entfalten die Lexikoneinträge, indem sie einen Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart abschreiten,164 häufig jedoch von der eigenen Gegenwart ausgehend Literaturkritik als »Rezension literarischer Neuerscheinungen und […] Besprechung künstlerischer Darbietungen als Formen der Publizistik« auffassen (Schalk 1976, Sp. 1285). Die begriffsgeschichtliche Ursprungsforschung liegt nahe, wurzelt die Etymologie von ›Kritik‹ doch im Altgriechischen, worauf keine begriffsgeschichtliche Abhandlung zu verweisen versäumt: ›Kritik‹ leitet sich von der griechischen Wortwurzel κρι- her, die sich die Kritik mit der Krise teilt.165 In seiner adjektivischen (κριτικσς) und verbalen (κρινειν) Bedeutung umfasst die Kritik eine Reihe von Tätigkeiten: scheiden, trennen, entscheiden, urteilen, anklagen – und streiten (Röttger 1982: 651 f.). Die ersten fünf Tätigkeiten bezeichnen ethische, erkenntnistheoretische juristische und philologische Geltungsbereiche: Das Gute ist vom Schlechten zu unterscheiden, das Wahre vom Falschen zu trennen, der Schuldige vom Unschuldigen zu scheiden und anzuklagen sowie die falsche von der richtigen Textüberlieferung zu trennen. ›Kritik‹ bezeichnet daher die (Ent-)Scheidung bzw. die Beurteilung im weiteren (Röttgers 1982: 651 f.; Zinsmaier 2011, Sp. 530; Koselleck 1959: 197), die κριτική τέχνη, also die »Kunst der Beurteilung«, im engeren Sinn.166 Der letztgenannte Kontext (streiten) ist hingegen agonal – 164 | Erstmals eine Begriffsgeschichte der (Literatur-)Kritik unternimmt Wellek 1963: 24 f. 165 | Reinhart Koselleck, der Begründer der Begriffsgeschichte, schlug aus dieser etymologischen Verwandtschaft Kapital für seine titelgleiche (bei Carl Schmitt verteidigte) Dissertation von 1954. 166 | Signifikanter Weise – und abweichend von den altphilologisch ausgerichteten Lexikonbeiträgen – ordnet Röttgers 1982: 652 die antike κρικική sofort der antiken Rechtswissenschaft zu, möglicherweise ein Erbe der deutschen ›Kunstrichter‹-Rezeption. Der Vergleich von Kritik und
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im medizinischen Sinne: die Krisis (κρίσις) bezeichnet einen Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit, der sowohl in der Genesung wie auch im Exitus münden kann. Diese Krisis ist gekennzeichnet durch Temporalität (Vergangenheit, Wendepunkt und Zukunft) und hat Wandlungspotential: Gut und Böse sind nicht mehr Unterscheidungskriterien, sondern durchdringen einander – Gutes kann böse werden. Die Krisis hat also eine massiv pathologische Bedeutung (Bormann 1976, Sp. 1249).167 Die Bedeutung des Kritikbegriffs verschiebt sich jedoch zwischen Antike und Neuzeit, indem er auf philologische Anwendungsgebiete beschränkt wird.168 Während einerseits der lapidare Hinweis erfolgt, dass φιλόλογος, γραµµατικός und κριτικός in der Antike nicht scharf unterschieden werden (Weber 1976, Sp. 1285; vgl. aber Bormann 1976, Sp. 1252), wird andererseits die Übernahme der Exegesetradition des Homer-Kommentars im frühen Christentum betont (Schalk 1976, Sp. 1283; Bormann 1976, Sp. 1252). Nachdem der Kritik-Begriff im Mittalter in Vergessenheit gerät (Tonelli 1976, Sp. 1263; vgl. aber Schmitz 2011, Sp. 316 f.), werden dann im Humanismus unter dem Eindruck der Wiederentdeckung von Aristoteles’ Poetik und gegen die mittelalterliche Scholastik (Bormann 1976, Sp. 1255) Kritik und Literaturproduktion wieder aufeinander bezogen (Schalk 1976, Sp. 1283; Röttgers 1982: 653), indem der critico durch sein iudicium und die emendatio verderbter (also verfälschter bzw. falsch überlieferter) Textstellen die Authentizität eines Textes wieder herstellt.
Richteramt durchzieht den gesamten Lexikonbeitrag von Röttgers (der im Übrigen auf seiner Dissertation von 1972 beruht und daher zur Hälfte dem Kantischen Kritik-Begriff und seiner Rezeption gewidmet ist) und wird vom gleichfalls der Koselleck-Schule entstammenden begriffsgeschichtlichen Beitrag von Strube 1976 beerbt, dort aber mit sinnvoller Konzentration auf die Begriffsgeschichte des ›Kunstrichters‹. 167 | Bormanns philosophische Dissertation ist explizit dem »praktischen Ursprung der Kritik« gewidmet, doch wenngleich Bormann Literaturkritik als eine praktische Form der theoretischen Kritik definiert (Bormann 1974: 3), so finden sich keine weiteren Einlassungen zur Literaturkritik. Bezeichnender Weise jedoch konstatiert Bormann den destruktiven Charakter von Kritik, der historisch begründet sei (11; 16); erst im 19. Jahrhundert entstehe mit den Wissenschaften eine ›produktive‹ Kritik (13). 168 | Röttgers 1982: 653 f. unterscheidet bereits im Aufbau seines Artikels einen philologischen, einen logischen und einen ästhetischen Kritikbegriff, und zwar seit dem 16. Jahrhundert. Im 17. und 18. Jahrhundert hätten sich diese drei Wissenschaftsdisziplinen in ihrer Verwendung des Kritik-Begriffs berührt. Bezeichnender Weise scheint Röttgers die zeitlich vorausgegangenen einschlägigen Lexikonartikel des von ihm bearbeiteten Lemmas nur partiell zur Kenntnis genommen zu haben (vgl. Röttgers 1982, 664 Anm.). Daher datiert er die erstmalige Erwähnung des Kritik-Begriffs im deutschsprachigen Raum auf 1718 (Röttgers 1982: 660, vgl. dagegen Weber 1976, Sp. 1287).
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Der critico wendet folglich poetische Regeln auf literarische Werke an, um die Qualität der Textüberlieferung als censor zu beurteilen (Weber 1976, Sp. 1285 f.; vgl. Bormann 1976, Sp. 1257 f.). Die Literaturkritik der Neuzeit schließt damit an Cicero an, der inventio und iudicio als auswählendes Urteil auffasst, das die rhetorische Argumentfindung »selegierend und korrigierend begleitet oder ergänzt.« (Schmitz 2011, Sp. 533) Die Abstraktion dieser autorgebundenen Regeln führt dann im 16. und 17. Jahrhundert zur Entwicklung der Regelpoetiken, die eine Anleitung zur Dichtkunst geben (Weber 1976, Sp. 1286). Problematisch ist nun die Bindung der Literatur an Regeln (die zudem seit Aristoteles und Horaz – die beiden kanonisch genannten Beglaubigungsinstanzen – bekannt sind), die die Kunst »in die logische Abhängigkeit des ihnen vorgeordneten bon sens« bringen, »so daß das kritische Urteil in der Anwendung der Regeln der Poetik zugleich durch eine Vernunft begründet ist, die über die Verbindlichkeit der Tradition als solcher schon hinaus ist.« (Weber 1976, Sp. 1286) Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfahren diese Regelpoetiken daher unter dem Eindruck der Querelle des Anciens et des Modernes eine Abwertung; eine textkritische (editionsphilologische) und eine wertende Literaturkritik treten auseinander (Schalk 1976, Sp. 1282 f.; Weber 1976, Sp. 1287).169 An Stelle der Regelhaftigkeit wird die Vernunft zur Richtschnur des kritischen Handelns (Schalk 1976, Sp. 1283). Gleichzeitig – und ergänzend zum rationalistischen Kritikbegriff – widmet sich die Literaturkritik um 1700 dem Unbestimmbaren der Literatur (je ne sais quoi, Schalk 1976, Sp. 1284). Die theologische Textexegese bemüht sich parallel seit dem 16. Jahrhundert um die ›richtige‹ Lesart, doch überführt gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Bibelkritik das Faktum der Wahrheit von der Offenbarung zur Vernunft (Koselleck 1959: 88) – die (protestantische) Frage nach dem Überlieferungsgehalt der biblischen Schriften stellt aus katholischer Sicht das Schriftprinzip in Frage (Röttgers 1982: 656). Die Kritik verschärft zunächst die Differenz zwischen Vernunft und Offenbarung, um beide Bereiche schließlich zu trennen (Koselleck 1959: 89). Zeitgleich halten politische Lesarten (v. a. im englischsprachigen Raum, Schalk 1976, Sp. 1284) und marktwirtschaftliche Orientierung (bedingt durch den Wegfall der kirchlichen und adligen Adressaten und die neu hinzutretende Publikumsadressierung) Einzug (Weber 1976, Sp. 1286). Nun haben neben den savants auch die connaisseurs und die amateurs Anteil an der literaturkritischen Praxis (Weber 1976, Sp. 1286).
169 | Zum gleichen Zeitpunkt wird der Kritik-Begriff auch erstmals von der philologischen Anwendung auf allgemein-geschichtliche Bereiche überführt (durch Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique von 1695, vgl. Tonelli 1976, Sp. 1265; Röttgers 1982: 656).
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Zwischen 1700 und 1760 entwickelt sich nun »[d]ie Kritik […] in einer stetigen Reihe bedeutender, oft aufeinander abgestimmter Werke; das Wort ›K[ritik]‹ bezeichnet nicht ein peripheres, sondern das zentrale Problem der Zeit.« (Schalk 1976, Sp. 1284) Die antike Etymologie spielt nun eine eher ungeordnete Rolle, handelt es sich bei der ›Critic‹ doch um ein Lehnwort aus dem Französischen (mit Umweg über das Lateinische, Tonelli 1976, Sp. 1263) oder dem Englischen (Schalk 1976, Sp. 1282) – das zeigt die Betonung, die im Deutschen nach der französischen Vorbild und unter Beiseitsetzung der altgriechischen Ausspracheregeln gebildet wird. Im deutschsprachigen Raum wird die »sogenannte Critique« 1701 erstmals erwähnt von Christian Wernicke, der die Nachahmung der französischen Literatur empfiehlt, um die deutschsprachigen Literatur seiner Zeit anschlussfähig zu machen – das soll die ›Literaturkritik‹ erreichen, indem sie deutschsprachige literarische Werke am französischen Vorbild misst und ihr Urteil spricht (Weber 1976, Sp. 1287). Doch ist diese frühe Verwendung des Literaturkritik-Begriffs »episodisch im Gegensatz zur Rezeption des Geschmacksbegriffs« (Weber 1976, Sp. 1288). Strittig ist, ob der englische (Schmitz 2011, Sp. 320 f.) oder der französische Einfluss (Schalk 1976, Sp. 1284 f., Weber 1976, Sp. 1287 f.) prägender war. Der englische ›Critick‹, wie er um 1700 hervortritt, findet im deutschsprachigen Bereich lange kein Pendant (Koselleck 1959: 87), sondern wird durch Gottsched als ›Kunstrichter‹ angeeignet (vgl. Strube 1975).170 Eine literarische Kritik, also eine kritische Beurteilung der neu herausgekommenen literarischen Werke, existierte demnach im deutschsprachigen Bereich erst nach der Jahrhundertmitte (Koselleck 1959: 199). Sie geht hervor aus der Verbindung und Diskussion der gelehrten und der streitbare Literaturkritik im Leipzig-Zürcher Literaturstreit (Weber 1976, Sp. 1288). Die editionsphilologisch tätigen Critici werden nun als »Buchstäbler« abgelehnt (Strube 1975: 50), ihre Positionen als »Krittelei« verhöhnt (Röttgers 1982: 659). Literaturkritik fungiert ab den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts als Vermittlerin zwischen Vernunft und Geschmack (Schalk 1976, Sp. 1284). Der höfisch konnotierte Geschmacks-Begriff wird seinerseits im Rahmen der vernunftorientierten Literaturkritik (Gottsched, Breitinger, Bodmer) ab den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts verworfen (Weber 1976, Sp. 1288). Während Gottsched den Kunstrichter ins Amt einführt, formulieren die Schweizer Breitinger und Bodmer eine Kritik an dieser Bestimmung des Literaturkritikers, da die nichtrationalen Anteile der Dichtung nur unzureichend reflektiert und das Kunstrichter-Modell von Gottsched zu schematisch
170 | Zur Inkonsequenz dieses Bildes vgl. Domsch 2014: 30 f. Der Literaturkritiker wird zur selben Zeit als Richter installiert, in der der Anwalt fester Bestandteil des juristischen Diskurses wird (368 f.).
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auf die Belles lettres appliziert werden (Strube 1975: 55). Doch ist der Begriff der Literaturkritik (in seiner neueren, doch immer noch regelpoetischen Fixierung) nun durchgesetzt. Das verdeutlicht die Vorrede zur zweiten Auflage von Gottscheds Critischer Dichtkunst von 1737: Das Critisieren ist seit einigen Jahren schon gewöhnlicher in Deutschland geworden, als es vorhin gewesen: Und dadurch ist auch der wahre Begriff dieses Wortes schon bekannter geworden. Auch junge Leute wissens nunmehro schon, daß ein Criti[c]us oder Kunstrichter nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gedanken, nicht nur mit Sylben und Buchstaben, sondern auch mit Regeln ganzer Künste und Kunstwerke zu thun hat. Man begreift es schon, daß ein solcher Criticus ein Philosoph seyn, und etwas mehr verstehen müsse, als ein Buchstäbler; der nur verschiedene Lesarten, oder besser zu sagen, die Schreib= und Druckfehler sammlen […] kann […]. r (Gottsched 1737, Vorrede Bl. [6] )171
Erst mit Aufkommen der Ästhetik löst Baumgarten (und sein Schüler Meier, Strube 1965: 55 f.) die Problematik von Individualisierung der Kunstwerke und Verallgemeinerung der Urteilsbasis, indem er die unteren Erkenntnisvermögen des Geschmacks in die höhere Schulphilosophie zurückholt (Weber 1976, Sp. 1288; vgl. Strube 1975: 56; Röttgers 1982: 657). »Indem die Kunst als Medium solcher Erfahrung eingesetzt wird, ist die Ästhetik zugleich Theorie der Kunst«,172 die niemals die Kritik selber sein kann, sondern ihr vorgeordnet bleibt. »Insoweit K[ritik] zuvor das vernunftmäßige Begreifen der durch die Künste in ihrer Allgemeinheit vermittelten Erfahrung umfaßte, wird sie von dieser Funktion entlastet.« (1288) Damit hat die Literaturkritik die erstmals von Meier und Lessing ausführlich reflektierte Möglichkeit, sich angesichts der aufkommenden Genieästhetik der Literaturproduktion gleichwertig zur Seite zu stellen, weil das Genie zwar nur seinen Regeln verpflichtet ist und sich über alle Literaturkritik hinwegsetzen kann, die Literaturkritik aber »mit den aus der Bestimmung der Kunst gewonnenen Regeln der Produktion vorauszugehen vermag.« (1290) Literaturkritik kann sich also in ihrer Urteilsbegründung nicht mehr auf allgemein gültige Normen berufen (wie noch Gottsched), sondern muss die Unabschließbarkeit des ästhetischen Beurteilungsprozesses ebenso anerkennen wie den psychologischen Deutungsanteil einberechnen (Strube 1975: 59 f.). Der Literaturkritiker wird dann in seiner Deutung des je individuellen Kunstwerks und dessen je individueller Ästhetik zum (›con-genialen‹) Vollender des Kunstwerks (Weber 1976, Sp. 1289). Dieser Literaturkritiker hat nichts mehr gemein mit dem späthumanistischen Editionsphilologen noch mit
171 | Das Zitat wird als Gründungsdokument der deutschsprachigen Buchkritik (unrichtig und unvollständig) zitiert bei Strube 1965: 50; Bormann 1976, Sp. 1261; Weber 1976, Sp. 1288; Voss 1975: 68. 172 | Weber 1976, Sp. 1288. Mit Spaltenangabe im Text zitiert.
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dem Kunstrichter Gottscheds noch mit dem Rezensenten (Weber 1976, Sp. 1289 f.). Die kritische Tätigkeit richtet sich gegen die aufgeklärte Vernunft und unterzieht diese selbst einer Prüfung (Koselleck 1959: 90). Die daraufhin einsetzende Ausdifferenzierung der literaturkritischen Ästhetik ist von Schiller als »Anarchie« wahrgenommen worden, mit der die ältere Vorstellung des Kunstrichters endgültig verabschiedet wird (Strube 1975: 81).173 In der romantischen Literaturkritik werden Kritik und Literatur dann unter dem Stichwort der »Universalpoesie« nicht nur auf eine Stufe gestellt, vielmehr versteht der Literaturkritiker den Autor besser als dieser sich selbst – der Literaturkritiker wird zum Vollender des Kunstwerks (Weber 1976, Sp. 1289).174 Zusammenfassend bleibt nach diesem Überblick zur begriffsgeschichtlichen Erforschung des Literaturkritik-Begriffs zunächst festzuhalten: für die eigene Gegenwart und die institutionelle Ausdifferenzierung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft wird etwas hilflos konstatiert, dass sich die Literaturwissenschaft eben der Urteile enthalte, während für die Literaturkritik genau gegenteilig die Urteilsfindung entscheidend ist (Weber 1976, Sp. 1285). Dieses Unbehagen hat seine Ursache in methodologischen Unzulänglichkeiten der Begriffsgeschichte. So scheint die Epoche ›um 1700‹ sowohl von Seiten der theologischen wie von Seiten der philologischen Textkritik wie von Seiten der beginnenden Literaturkritik eine Umbruchsituation zu sein, da der sprachliche Diskurs von der Gelehrten- zur Publikumssprache umschaltet. Dennoch negiert die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung die literaturkritischen Periodika um 1700, und setzen den Beginn der Literaturkritikgeschichte erst mit 1730 (Gottsched) oder gar 1760 (Lessing) an.175 Die Verdienste etwa von Christian Thomasius werden selbst in den neusten begriffsgeschichtlichen Beiträgen nicht berücksichtigt.176
173 | Vgl. auch Segebrecht 2008, der die teilweise drastische Bildlichkeit des Kunstrichteramtes in zeitgenössischen Darstellungen zurückweist. 174 | Spätestens an diesem Punkt divergieren die Begriffsgeschichten der Literaturkritik: entweder konstatieren sie, dass sich ab der Romantik die Literaturkritik so weit diversifiziert hat, dass ihre begriffsgeschichtliche Entwicklung nicht mehr luzide nachzuzeichnen ist (Schalk 1976, Sp. 1285). Oder sie stellen fest, dass die hermeneutische Beschäftigung mit Kunst sich mit den ›Ende der Kunstperiode‹ in einer Weise verselbstständigt, dass eine Aneignung nicht mehr möglich ist, sondern nur ein historischer Nachvollzug (Weber 1976, Sp. 1291). 175 | Die ›Erfindung‹ der Ästhetik um 1750 (Weber 1976, Sp. 1288) ermöglicht es, Baumgarten als Wegbereiter Lessings zu deuten und die gesamte ältere Literaturkritikgeschichte vor Baumgarten beiseite zu schieben. 176 | Schmitz 2011 führt zwar im Literaturverzeichnis Jaumann 1995 an, wertet ihn aber inhaltlich nicht aus.
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c. Sozialgeschichte und Systemtheorie der Literaturkritik Die Koevolution von Buchproduktion, Publikum und Literaturkritik in der ersten, mehr noch aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann man auch funktionsanalytisch auf den umfassenderen Prozess der Aufklärung beziehen. Die ›Standard Story‹, die dann gemeinhin erzählt wird, lässt sich auf die Formel von der »democratization of reading« bringen (Donoghue 1995: 58).177 Wie gestaltet sich also die sozialgeschichtliche Darstellung der Literaturkritik, welche Entstehungsgeschichte der Literaturkritik kann die Sozialgeschichte erzählen? Bezeichnender Weise enthält die von Rolf Grimminger herausgegebene Sozialgeschichte der deutschen Literatur im dritten – der »[d]eutsche[n] Aufklärung bis zur französischen Revolution 1680–1789« gewidmete – Band keinen eigenen Eintrag zur Literaturkritik, und die über den Index ermittelbaren Fundstellen sind marginal (Grimminger 1980).178 Auch der Artikel zu »Schriftsteller und literarischer Markt« (Ungern-Sternberg 1980) bleibt ebenso unbefriedigend wie der Artikel zur »Literarischen Öffentlichkeit« im dritten – die Jahre 1572–1740 umfassenden – Band von Horst Albert Glasers Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte (Ammermann-Estermann 1985), die noch keinen eigenen Artikel zur Literaturkritik aufweist. Dem verschafft der vierte Band (die Jahrzehnte zwischen 1740 und der Französischen Revolution umfassend) Abhilfe mit Ralph-Rainer Wuthenows Artikel zu »Literaturkritik, Essayistik und Aphoristik« (Wuthenow 1980). Aus der für eine Sozialgeschichte der Literaturkritik eigentlich weitreichende Feststellung, dass sich im 18. Jahrhundert neue Medien, einer neuer Begriff von Öffentlichkeit, ein neuer Umgang mit Literatur herausgebildet hätten, folgt – nichts. Wuthenow verweist stattdessen mit drei Sätzen auf die ältere Praxis der textphilologischen Ars critica, um dann sofort auf Lessing zu sprechen zu kommen, der den »rasch wieder überholten Ansatz« Gottscheds durch Vermittlung von »Theorie und Praxis« obsolet gemacht habe (Wuthenow 1980: 123).179 Die titelgebende Aufgabe, eine Sozialgeschichte der Literaturkritik zu schreiben, ist damit verfehlt. Daher muss auf andere Quellen zurückgegriffen werden, etwa auf den Artikel von Klaus Berghahn in Peter Uwe Hohendahls immer noch singulärer Geschichte der deutschen Literaturkitik von 1985 (der zwar nicht explizit sozialge-
177 | Zur funktionalen (ahistorischen und daher hier nicht weiter berücksichtigten) Bestimmung von Literaturkritik vgl. Schwens-Harrant 2008: 58 ff. 178 | Erst der vierte Band, der Klassik und Romantik gewidmet ist, kommt randständig auch auf die Literaturkritik zu sprechen. 179 | Unklar bleibt, was das Verdienst Gottscheds ist, unklar bleibt weiter, wie sich die Entwicklung von der Ars critica hin auf Gottsched vollzieht.
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schichtlich argumentiert, aber eine deutlich sozialgeschichtliche Ausrichtung vertritt) oder auf die Arbeit von Eva-Maria de Voss, die der »der Literaturkritik in Deutschland unter Einbeziehung der Tageskritik« seit ihren Anfängen gewidmet ist (Voss 1975: 5). Vorwegnehmend konturiert Berghahn, dass seit Beginn des 18. Jahrhunderts die politischen Verhältnisse und sozialen Spannungen im Alten Reich längst nicht so erheblich waren wie im benachbarten Frankreich oder in England, weshalb sich in diesen Ländern auch ein anderer Begriff von Öffentlichkeit und Bürgerlichkeit herausbildet, von dem letztlich die Entwicklung der (modernen) Literaturkritik profitiert.180 Im deutschsprachigen Raum hingegen hat die weitgehend entpolitisierte Form der (literarischen) Kritik deutlich länger Bestand. Mit dem Strukturwandel, der die repräsentative Öffentlichkeit durch die bürgerlich-literarische Öffentlichkeit (Habermas 1962: 56: 13; vgl. Wehler 1987: 303–331) ablöst und die dadurch begründete standesstaatlichen Kritik und Krise der République des lettres (13 ff.)181 entstand jedoch auch im deutschsprachigen Raum ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ein literarische Kritik, die sich nicht nur der eigenen Werte der bürgerlichen Gesellschaft vergewissert, »vielmehr dient die Selbstreflexion der Kunst in der Kritik indirekt auch der politischen Meinungsbildung.« (16) Gegen Welleks ideengeschichtliche Ausweitung des Kritikbegriffs betont Berghahn, dass die deutschsprachige Literaturkritik im 18. Jahrhundert eben kein innerliterarisches Phänomen ist, sondern dass die »richtende [Buch-]Kritik« (16) in erheblichem Maße zur »Herstellung einer bürgerlichen Öffentlichkeit« beiträgt (16). Literaturkritik ist also kein bloßer Reflex auf gewandelte literarische Produktions-, Distributionsund Rezeptionsverhältnisse (Alphabetisierung des Publikums, Kommerzialisierung des Buchmarkts, Rolle des Schriftstellers), sondern trägt selber zu diesem Wandel bei. Doch zeigen sich die Auswirkungen einer so verstandenen literarischen Kritik erst ab den 1770er Jahren und bleiben auch weitgehend auf die Bildungselite beschränkt (18).182 Demgegenüber deutet Voss die Relevanz der Journale am Anfang des 18. Jahrhunderts zur Herausbildung einer bürgerlichen Buchkritik im Zeichen des (antifeudalen) bürgerlichen Emanzipationsprozesses.183 Ähnlich wie Jaumann
180 | Berghahn 1985: 14. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 181 | Der hier zitierte Reinhart Koselleck habe keine historische Rekonstruktion geleistet, sondern eine »Genealogie der Nachkriegszeit« betrieben, so Hirschi 2015. 182 | Gleichlautend auch die Untersuchungsergebnisse von Kiesel/Münch 1977: 165 ff., die die frühe Literaturkritik in den Journalen und moralischen Wochenschriften verorten. Gerne übersieht die Literaturwissenschaft, dass Literatur und damit auch Literaturkritik bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ausschließlich an eine gelehrte Öffentlichkeit adressiert war, vgl. Daniel 2002. 183 | Voss 1975: 6. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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zwanzig Jahre später sieht Voss die (halb-)öffentliche Gelehrtenkorrespondenz als Initiationsmoment der Literaturkritik (6). Voss fokussiert damit die Lücke zwischen Jaumann und der üblichen Literaturkritikgeschichte (also zwischen 1700 und 1750/60), lässt ihre Darstellung jedoch mit Gottsched und den Zürchern beginnen (17). Sie kontrastiert die Vorstellung des (regelpoetischgelehrten) ›Kunstrichters‹ bei Gottsched mit der Vorstellung eines reflektierenden Kritikers bei Breitinger, der nicht einfach eine nach den Regeln der Vernunft gebildete Regelpoetik aufstellt und die literarischen Werke danach beurteilt, wie sehr sie dieser Poetik folgen (das entspricht Gottscheds Position), sondern der abstrahierend-reflexiv dem jeweiligen Werk gerecht zu werden versucht (22 f.). Ausgehend von der lutherischen Liebesethik hat Literaturkritik (so Breitinger) die guten Dichter zu fördern, um das bürgerliche Leben insgesamt durch das Vergnügen der Poesie zu belehren (39). Literaturkritik eignet eine politisch-soziale Aufgabe, da sie den Bürger von »feudale[r] Vorherrschaft und klerikale[r] Bevormundung« befreit (40). Sie lässt sich dann als (soziale, nicht als regelpoetische) Normenkontrolle der Dichter zur Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit auffassen (40). Dazu ist es notwendig, im Rahmen des bürgerlichen Tugendideals zu verharren und den zu kritisierenden Dichter als christlichen Nächsten zu behandeln (41). Nun wird »unter dem […] Postulat[] der Nächstenliebe […] der Kunstrichter als Freund des Dichters zu einer Art Topos in der frühen Literaturkritik« (42) – die frühmoderne Höflichkeitspraxis wird also (eher weniger) erfolgreich in den litertaturkritischen Diskurs integriert (54). Auf Verletzung dieser Höflichkeitsregeln reagieren Literaturkritiken noch bis Ende des 18. Jahrhunderts mit Verunsicherung, die sich darin äußert, dass der Literaturstreit als solcher beendet werden soll, ehe er eskaliert (wie dies zwischen den Leipzigern und den Zürchern wiederholt geschieht, 56). Seine Bedeutung entfaltet dieses Höflichkeitsprinzip v. a. mit Blick auf das im Entstehen begriffene bürgerliche Publikum, dessen Geschmack durch gute Kritiken gebildet werden soll (63). Dabei bewähren sich v. a. die moralischen Wochenschriften (66 f.), die durch Anwendbarkeit der literaturkritischen Inhalte das Pedantentum als »asozial« brandmarken (68). Literaturkritik wird so zu einer »patriotischen Mission«, die »Geschmackserziehung« zum »Kampf gegen feudale Standesprivilegien« (73). Realpolitisch muss ein solches Vorhaben angesichts des geringen Alphabetisierungsgrades der Bevölkerung zwar scheitern (92, 97 ff.), aber innerliterarisch arbeitet es der Autonomie der Literaturkritik zu insofern alle Mitglieder der République des lettres gleich zu behandeln sind (110 ff.): »Die autonome und souveräne Literaturkritik ist in der Lage, selbst die Mächtigsten, wenn sie sich auf die schönen Wissenschaften einlassen[,] von ihrem Richtstuhl aus anzugreifen, weil für sie nur die Qualität des Werkes, nicht aber der Stand des Autors das Urteil beeinflussen kann« (124).
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Sozialgeschichtliche Darstellungen zur Entstehung der Literaturkritik werden durch systemtheoretische Darstellungen ergänzt, doch findet die Systemtheorie ihre Grenzen dort, wo es um entwicklungsgeschichtlich-genealogische Fragen geht (Wellbery 1999).184 Für Niklas Luhmann markiert die Ablösung des Kunstrichters durch Hineinnahme der Literaturkritik in das literarische System während der Frühromantik dessen operative Schließung: »Mit der Vorstellung, Kritik sei ein wesentliches Moment der Vervollkommnung von Kunst, wird Theorie zum ersten Male als Selbstbeschreibung des Systems im System anerkannt.«185 Da Luhmanns besonderes Interesse in diesem Zusammenhang dem Aufkommen der Beobachtung zweiter Ordnung gilt (463), setzt er die Entstehung der ›eigentlichen‹ Literaturkritik mit der frühromantischen Kunstkritik an. Literaturkritik erscheint daher als »weitere Arbeit am Kunstwerk« (458), die den »Überschuss an internen Kommunikationsmöglichkeiten« und den damit einhergehenden »Verlust an Außenhalten« (459) kompensiert, indem Kritik nicht länger mit Fragen der ›richtigen Beurteilung‹ befasst ist, sondern zur »Vervollkommnung von Kunst« beiträgt (462). Damit wird ›Theorie‹ (als solche fasst Luhmann Literaturkritik auf) erstmals »als Selbstbeschreibung des Systems um System anerkannt.« (462) Während also in Luhmanns Lesart von ›Literaturkritik‹ eigentlich erst gesprochen werden kann, sofern sie als Beobachtung zweiter Ordnung im Rahmen der Systemtheorie ihre Wirksamkeit entfaltet, stellt Siegfried J. Schmidt den Prozess im Rahmen der »Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert« differenzierter dar.186 Schmidt unterscheidet vier Handlungsrollen (Produzent, Vermittler, Rezipient und Verarbeiter von Literatur), die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts ausdifferenzieren und institutionalisieren (20).
184 | Gleiches gilt auch für die Feldtheorie. Wenngleich Bourdieu eine Genese des literarischen Feldes nachzeichnen möchte, so bleibt er bezüglich der Literaturkritik äußerst vage. Das hat zwei Ursachen: einerseits widmet sich Bourdieu primär dem 19. Jahrhundert (die Literaturkritik entsteht jedoch früher), andererseits fallen ›Theorie‹ und ›Kritik‹ bei ihm zusammen (vgl. Bourdieu 1992: 114). Bezüglich der Literaturkritik sind Bourdieus Ausführungen zur »gesellschaftlichen Urteilskraft« ertragreicher. Auch hier entwickelt Bourdieu eine ›genetische‹ Methode (Bourdieu 1979: 174) bzw. zeichnet eine Genese jener Praktiken nach, die den Habitus etablieren (Bourdieu 1979: 729). Vgl. hingegen den gelungenen Versuch, Systemtheorie und Feldtheorie mittels des Untersuchungsgegenstandes ›Literaturkritik‹ zusammenzubringen bei Berlemann 2011. Überhaupt scheint Literaturkritik (v. a. Netz-Kritik) unter soziologischen Aspekten wieder von Interesse zu sein, auch, weil es »gerade die Kontexte und Milieus […] [sind], die die alte und die neue Literaturkritik ausmachen und voneinander unterscheiden« (Wegmann 2012: 286). Vgl. auch Trilcke 2013. 185 | Luhmann 1995: 462. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 186 | Schmidt 1989. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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Literaturkritik entspricht der »Verarbeiterrolle«, die im 18. Jahrhundert »neu entsteht« (20, 166) und zu deren Herausbildung der »moderne Finanzkapitalismus« in erheblichem Maß beiträgt (23). Literaturkritik wirkt als »neue gesellschaftliche Instanz der bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich durch eine hermeneutische Vermittlungsnotwendigkeit zwischen Autor, Leser und literarischem Werk zu legitimieren versucht.« (26, 358 f.) Auch wenn Schmidt Thomasius und seine Monatsgespräche erwähnt, so setzt er die Entstehung der Literaturkritik mit dem Leipzig-Zürcher Literaturstreit an (361) – erst zu diesem Zeitpunkt bildet sich ein markwirtschaftliches System heraus, das den Darstellungsanforderungen der Systemtheorie gerecht wird.187 Das zeigt sich v. a. in Schmidts Vergleich mit England und Frankreich, deren ›bürgerliche‹ Kritiker maßgeblich für die Entstehung der Literaturkritik verantwortlich zeichnen (durch Etablierung eines Literaturmarkts, Herausbildung einer Nationalliteratur und Adressierung eines breit gebildeten bürgerlichen Publikums), während für Deutschland eine Literaturkritik »vor 1750 […] noch nicht vorhanden war.« (363) Vielmehr entwickelt sich aus der Geschmacksdiskussion die eigenständige Ästhetik Baumgartens, die schließlich in Kants soziale Bestimmung der Geschmackskategorie als Sensus communis aestheticus mündet. Erst die »ästhetische Gemeinsinn« am Ende des 18. Jahrhunderts bringt eine bürgerliche Öffentlichkeit und eine systemtheoretisch begründbare Literaturkritik hervor (366). Das Zusammenfallen von »literarische[m] Journalismus« (also »Literaturkritik«) mit »kapitalistische[m] Buchmarkt[], […] numerische[r] Ausweitung des Lesepublikums […] und […] Veränderung der Rolle des Schriftstellers zum freien professionellen Literaturproduzenten« (371) bringt eine »Literaturkritik im modernen Sinne« (371) hervor. Systemtheoretisch formuliert: »um die Jahrhundertmitte« entsteht »die neue Handlungsrolle Literaturkritik durch Ausdifferenzierung aus einer relativ homogenen Praxis philologischer Textkritik«, die an der Ars critica wie am höfischen Geschmack orientiert ist (376). Neben objektiven Regeln adressiert die Literaturkritik alle Stände. Sie institutionalisiert ihre Handlungsrollen durch »die Etablierung des Rezensionswesens« in Periodika. Dadurch kommt es zur sprunghaften Zunahme von Periodika und Kritiken und in der Folge auch von Autoren und Büchern. »Das Rezensionswesen wird zu einem eigenen Berufs- und Geschäftszweig, der sich professionalisiert.« (377) Der Literaturkritiker agiert als Vermittlungsinstanz zwischen den übrigen »Handlungsrollen im Literatursystem« (Produzent, Vermittler, Rezipient und Verarbeiter von Literatur) und ermöglicht dadurch deren »theoretische wie praktische
187 | Schmidts Darstellung basiert zudem nicht auf eigener Quellenarbeit, sondern in weiten Teilen auf dem Aufsatz von Berghahn 1985. Daher referiere ich den systemtheoretische Ansatz gemeinsam mit dem sozialgeschichtlichen Modell.
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Ausgestaltung […] in einem innersystemischen Prozeß der Selbstorganisation« (377), wobei interne Ausgestaltungskriterien von Literaturkritik zutage treten (stilistisch, thematisch, ökonomisch, sozial). Seit ihrer »Entstehung und Etablierung« wird Literaturkritik legitimatorisch reflektiert, was zur Herausbildung der Ästhetik als eigenständiger philosophischer Disziplin führt (377). Eine Sozialgeschichte der Literaturkritik ist also nicht nur ein Desiderat, vielmehr können die vorhandenen Deutungsansätze nicht erhellen, wann, wie und warum es ›um 1750‹ zur Entstehung der deutschsprachigen Literaturkritik kam, v. a. aber lässt sie die frühe Literaturkritik unberücksichtigt. Das hängt nicht nur mit der schwierigen Forschungslage zusammen, die auf soziologisch signifikante Erklärungsmodelle und Fakten angewiesen ist, um eine kohärente Erklärung bieten zu können. Da es im deutschsprachigen Raum (anders als in Frankreich oder England) zudem zu einer verzögerten Durchsetzung des ›Strukturwandels der Öffentlichkeit‹ kam, der etwa mit 1770 angesetzt werden muss, kann eine sozialgeschichtliche Literaturkritik-Geschichte (zumindest derzeit noch) erst um 1770 einsetzen. Auch die literaturwissenschaftliche Systemtheorie bleibt hinsichtlich der Genese der Literaturkritik merkwürdig unpräzise: das hat einerseits methodische Gründe, argumentiert sie doch (wenigstens implizit) strukturell und nicht historisch oder entwicklungsgeschichtlich – da Schmidt die Autonomisierung des Literatursystems auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert, kann Literaturkritik vor 1750 nicht entstehen. Andererseits sieht Schmidt sehr deutlich, dass im Rahmen der Funktionsdifferenzierung der Literatur-›Verarbeiter‹ – Schmidts Begriff zur funktionalen Differenzierung der literaturkritischen Tätigkeit188 – verschiedene »Leistungsrollen« und »Komplementärrollen« ausgebildet werden (etwa »Richter – Partei« [72] oder »Kritiker und Richter«, »Freund und Diener«, »verstehende[r] Deuter«, »Advocat[] des Künstlers«, »Sprecher des Publikums« [367]), die einer »funktionsbedingte[n] Asymmetrie« zuarbeiten, die ihrerseits die Entwicklung der »großen Funktionssysteme der Gesellschaft« (72) überhaupt erst ermöglichen. Hier hätte noch einmal deutlicher nach den Rollenmustern, ihren (Vor-)Prägungen etc. gefragt werden müssen, doch insgesamt konturieren die Sozialgeschichte und Systemtheorie die Herausbildung der Literaturkritik im Zeitalter der Ökonomie hinreichend.189
188 | An anderer Stelle fungieren die Monatsgespräche von Thomasius als Literaturvermittler (nicht -verarbeiter), Schmidt 1989: 327. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 189 | Daher klammere ich in meiner Darstellung literatursoziologische und systemtheoretische Aspekte weitgehend aus.
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d. Kritik der Ideen-, Begriffs- und Sozialgeschichte der Literaturkritik Die ›Meistererzählung‹ der Ideen-, Begriffs- und Sozialgeschichte der Literaturkritik basiert auf einem Heldennarrativ mit klaren Verlauf und stereotypen Bösewichtern und mündet in den Aufstieg neuer Helden – gewisser Maßen eine sozialliberale Interpretation von Literaturkritik-Geschichte, deren ›Story‹ zwingend auf eine ›evolutionäre Teleologie‹ hinauslaufen muss, und die hinter das historische Selbstverständnis zurückgeht. Eine solche ›Story‹ bietet hingegen keine Erklärung für die Tatsache, dass zu allen Zeiten der Literaturkritikgeschichte unterschiedliche Rollenmodelle präsent sind, die aber parallel und situationsbezogen zur Anwendung gelangen (der Kritiker als Richter, Henker, Arzt etc.). Literaturkritik als teils differentes, teils analoges System zu imaginieren erlaubt den Kritikern in dieser Formationsphase ein Selbstverständnis des eigenen Handelns, seiner Stärken und Schwächen zu etablieren. Diese metaphorischen Repräsentationen wirken viel unmittelbarer als die wissenschaftliche Definition, und sie sind viel erfolgreicher, indem sie eine Vorstellung davon vermitteln, wie sich Literaturkritiker (zu allen Zeiten) selbst verstanden haben. Das Aufklärungszeitalter mag geradezu besessen gewesen sein von den Ideen des Ursprungs, der Entwicklung, des Aufstiegs und des Niedergangs (noch mehr allerdings war es das 19. Jahrhundert, wie Nietzsches Kritik der Genealogie verdeutlicht). Doch dass darf den Historiker nicht dazu verführen, die propagierte Perspektive der Aufklärer einzunehmen. Wie kann folglich eine diskontinuierliche Literaturkritik-Geschichte geschrieben werden? Nach der gängigen Vorstellung datiert die Geburt der Literaturkritik auf die Zeit Lessings (etwa um 1750/1760). Die Entstehung der Buchkritik lässt sich (sozialgeschichtlich) als ›Folge‹ des Buchdrucks (vgl. Luhmann 1997: 298, 460, 493 f., 958), des Aufkommens eines eigenständigen Buchmarktes (Kiesel/ Münch 1977) und der einsetzenden Leserevolution beschreiben. So scheint – begründet durch soziostrukturelle wie ästhetikgeschichtliche Veränderungen – in den Jahren nach 1750 die Literaturkritik (zusammen mit der Ästhetik und der Hermeneutik) gleichsam aus dem Nichts zu entstehen, »nachdem die Welt jahrtausendelang ohne sie sehr gut ausgekommen ist« (Dresdner 1915: 17). Die ›epistemische Lücke‹ zwischen 1700 und 1750/60 (wie ein Diskursanalytiker wohl sagen würde) werde ich im Folgenden genauer fokussieren. Zugleich fällt die Ausdifferenzierung innerhalb der Literaturkritik zusammen mit einem gewandelten Verständnis von allgemeiner Kritik.190 Diese ›epistemische Lücke‹ prägt noch die gegenwärtige Literaturkritik: galt Gegenwartsliteratur noch bis
190 | Vgl. Schneiders 1985, der die Verwurzelung der vorkritischen Schriften Kants in der eklektischen Philosophie von Thomasius nachweist.
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vor drei oder vier Jahrzehnten nicht als Gegenstand der (akademischen) Literaturwissenschaft, sondern fiel einzig in den Zuständigkeitsbereich der (journalistischen) Literaturkritikkritik, so haben sich inzwischen die Vorzeichen umgekehrt – ein großer Teil der gegenwärtigen germanistischen Abschlussarbeiten dürfte der nach 1933 entstandenen neuesten deutschen Literatur gewidmet sein. Zur Disposition stehen also die von der Ideen-, Begriffs- und Sozialgeschichte konturierten Erzählungen von der Entstehung der deutschsprachigen Literaturkritik, weil sie die Ausdifferenzierung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft als gegeben voraussetzen. Sie reflektieren nicht die Frage, ob sich beide Disziplinen möglicher Weise die Praktiken, auf deren Grundlage sie literarische Texte analysieren und beurteilen, teilen. Stattdessen erklären die Ideen-, Begriffs- und Sozialgeschichte relativ willkürlich Lessing zum Begründer der deutschsprachigen Literaturkritik, ohne seine Vorgänger ausreichend zu würdigen – zu unvereinbar scheinen ältere Praxisformen von Literaturkritik mit ›unserem‹ Bild von aufgeklärter Kritik, die ja als Begründungsinstanz der eigenen Gegenwart herhalten muss.
3. K APITEL : V ORGEHEN UND A UFBAU Vorliegende Studie unternimmt den Versuch, das Denken umzustellen: statt des traditionellen und nicht wirklich stimmigen Bildes vom Literaturkritiker als Richter (vgl. Martus 2007: 88 f.)191 versuche ich im Folgenden, das Bild vom Literaturkritiker als Kannibalen zu etablieren, also das hergebrachte juristische Modell zu überwinden und eine Erkenntnisform ins Auge zu fassen, die nicht länger am Ergebnis (dem Urteil) orientiert ist, sondern den ›Prozess‹ (die Pra-
191 | Die Vorstellung vom Literaturkritiker als ›Kunstrichter‹ löst zwischen 1730 und 1760 die Vorstellung vom Criticus als »Buchstäbler« (Gottsched 1730, Vorr.: xxx) ab (Strube 1975). Da der juristische Diskurs zwischen 1700 und 1800 verschiedenen Wandlungen unterworfen ist, ist das Richteramt keine quasi ›außerdiskursive‹ Praxis. Vielmehr formiert sich dieser Diskurs während des achtzehnten Jahrhunderts verschiedentlich aus und leitet letztlich zu Formen des juristischen Diskurses über, die auch heute noch präsent sind. In meiner historischen Tiefengrabung möchte ich zeigen, daß der Diskurs des ›Kunstrichters‹ und das Richteramt ebenso mit jenen aus dem Dunklen herrührenden diskursiven Praktiken des Liebens, Tötens und Verzehrens verbunden ist, wie die Praxis der Literaturkritik. Man könnte also sagen, dass die Literaturkritik und das Richteramt durchaus miteinander verwandt sind – aber nicht, insofern sie jeweils eine metaphorische Stellvertreterfunktion einnehmen, sondern durch die diskursiven Praktiken, die beide Diskurse (den des Richters ebenso wie jenen des Kritikers) formieren.
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xis) in den Blick nimmt.192 Ein solches Verfahren liegt insofern nahe, als dass – um mit Thomas Anz zu sprechen – literarische Texte »mehr oder weniger bewusst […] Inszenierungen eines Spiels mit den Emotionen der Leser« vornehmen (Anz 2012: 156 f.). Solche ›Emotionalisierungsstragien‹ kennzeichnen jedoch nicht nur literarische Texte, sondern auch literaturkritische.193 Auch wenn eine ›gustatorische Kritik‹ für Kants Philosophie (Röttgers 2009) und für die französische Literatur der Moderne194 bereits herausgearbeitet wurde: Literaturkritik wurde bislang noch nicht als Kannibalismus gedacht. Zudem beansprucht vorliegende Studie gegenwartsbezogen zu sein, insofern die historischen Quellenbefunde die vorgebrachten Prämissen verifizieren. In diesem hermeneutischen Zirkel erweist die geschichtliche Fragestellung zugleich deren Aktualität. Während also die Einmaligkeit des Ereignisses im ersten Teil der Arbeit anhand Walter Benjamins (Teil II) erwiesen wird, macht der zweite Teil (Teil III) Momente der Dauer sichtbar, die noch in unsere Gegenwart (Teil IV) hineinreichen. Dazu schließe ich an Foucaults wie Benjamins geschichtsreflexiven Einsichten zur Ursprungsgeschichte an, die die klassische Ideengeschichte ergänzen und korrigieren (nach Alt 2002: 9–13). Gerade für die frühe ›Phase‹ seiner Arbeit hat Foucault beansprucht, eine »innere Ethnologie unserer Kultur und unserer Rationalität«195 schreiben zu wollen – was läge also näher als diese ethnologische Suchbewegung auf den Diskurs des ›Kannibalismus‹ (die Denkfigur des schlechthin ›Anderen‹) anzuwenden, jedoch nicht im Sinne einer ›Einmaligkeit‹ der historische gewordenen ›Produkte‹, sondern als Einsichtigmachung
192 | Andere ›Denkbilder‹ wären möglich. So entpuppt sich der Literaturkritiker etwa als ›Freund‹ (Johann Gottfried Herder), ›Vampir‹ (Robert Schneider/Barbara Sichtermann), ›Schmarotzer‹ und ›Parasit‹ (Barbara Sichtermann), ›Zirkulationsagent‹ und ›Quassler‹ (Hans Magnus Enzensberger), ›Animateur‹ (Reinhard Baumgart), ›Geigenbauer‹ und ›Selbsttherapeut‹ (Eva Menasse), ›Marktschreier‹ und ›Koch‹ (Sigrid Löffler), ›Warentester‹ (Jörg Magenau), ›Zensor‹ (Heinz-Gerd Schmitz), ›Melancholiker‹ (Jürgen Egyptien), ›Therapeut‹ (Martin Seel) oder ›Sansculotte‹ (Walter Hinck). Für einen Überblick zur Bibliophagie-Forschung (unter Einschluss der literaturwissenschaftlichen Kannibalismusforschung) vgl. Ott 2011: 17 ff. 193 | Neuhaus 2014, der die emotionalisierte Literaturkritik im Kontext von Freuds Tabu-Theorie analysiert. Vgl. dagegen die gleichfalls von Freud ausgehende Analyse von Wackwitz 2000, die jedoch nicht Emotionalisierungsstragien als »Aufmerksamkeitserregung« (seitens der Literaten) und »Selbstbehauptung« (seitens der Literaturkritiker) (Neuhaus 2014: 455) limitiert, sondern diese im Anschluss an Pierre Bourdieu als »literarische Magiegeschichte« im literarischen Feld deutet (Wackwitz 2000: 244). 194 | Ott 2011, vgl. bes. 219 ff. die Überlegungen zum Zusammenhang von Literaturmarkt und Kannibalismus bei Flaubert (ohne Berücksichtigung der Literaturkritik). 195 | Vgl. Foucault, Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben [1967] (DE I: 767).
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von deren Effekten (Foucault 1978: 373 f.) – und damit die Gewährleistung ihrer Vergegenwärtigung (Benjamin)?196 Gerade angesichts der Theoriemüdigkeit der Literaturwissenschaft liegt es daher nahe, eine kritische Sichtweise zu entwerfen, die die sub- oder extrakulturellen Diskurse der Literaturkritik für eine erst noch zu etablierende literaturkritische πόλις zurückgewinnt. Die Studie ist ein vier Teile aufgeteilt. Nach der Einleitung (I.) erweist sich das umfassend bearbeitete Feld der literarischen Kritik (II.) bei Benjamin als immer noch klärungsbedürftig: die Aufteilung in genealogische Verlaufskurven erscheint unbefriedigend, wo Benjamin auf anscheinend bereits überwundene Einsichten zurückgreift – die Benjamin-Forschung hat lange das Gegensätzliche von Benjamins Literaturkritik betont: eingezwängt zwischen Messianismus (hervorgegangen aus seiner Auseinandersetzung mit Gershom Scholem) und Kommunismus (hervorgegangen aus seiner Auseinandersetzung mit Bert Brecht), dialektisch überwunden durch die Kritische Theorie (in Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno). Deshalb werde ich im Folgenden mit der Darlegung zu den diskursiven Praktiken, die Benjamins Literaturkritik hervorbringen bzw. in ihr eingeschrieben sind, einen anderen Weg beschreiten. Diese stehen in einer doppelten Problematik: ich werde im Interpretationsverfahren zum einen ahistorisch montieren, zum anderen jeweils im ›close reading‹ historisch fundieren, erzähle also keine ›genetische Aufstiegsgeschichte‹. Meine Argumentation verfährt aber auch nicht dialektisch, wie dies im Falle Benjamins denkbar wäre. Benjamins Freund Pierre Missac hat Benjamin als »antisystematischen Denker« (Missac 1987: 32) bezeichnet und vorgeschlagen, ihn zwischen den Polen einer theologisch-hermeneutischen und einer marxistischen Lesart zu verorten. Ohne der breiten Fülle von Arbeiten zu Benjamin als zunächst esoterisch-messianischen, später exoterisch-materialistischen Literaturkritiker eine Berechtigung absprechen zu wollen,197 kann man doch über Missacs Vorschlag noch hinausgehen und Benjamin durch gezielt kreuzweise Lektüre jenseits der Pole verorten – und damit die Polaritäten auflösen.198 Praktisch gewendet heißt das: meine Andeutungen zeichnen keine Entwicklung und auch keine ›Dialektik im Stillstand‹ nach, sondern sondieren distinkte Momente, einzelne, zeitlich situierbare, aber nicht zeitlich limitierte Aspekte von Benjamins literaturkritischem Denken und entwerfen ihrerseits eine mög-
196 | Benjamin, Passagenwerk [1927] (GS V.1: 174). 197 | Vgl. mit Bezug auf Benjamins als Kritiker die Phaseneinteilung bei Kaulen 1999. 198 | Irving Wohlfarth hat in einem erhellenden Aufsatz auf die polare Rezeption Benjamins zwischen Metaphysik und Materialismus hingewiesen, die bereits zu Benjamins Lebzeiten einsetzt (Scholem – Brecht) und sich bis in die Forschungsliteratur fortschreibt, vgl. Wohlfarth 1985.
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liche ›Denkfigur‹ oder Konstellation.199 In diesem Sinne fundieren Benjamins und Foucaults geschichtsphilosophische Überlegungen meine eigene Herangehensweise, nicht im Sinne einer ›Grabung nach Ursprung‹ (soviel sollte durch die Rede von den ›Ursprüngen‹ deutlich geworden sein), sondern im Sinne einer Version, einer Variation von ›Ursprung‹. Abgerundet wird diese exemplarische Analyse durch einen historischen ›Wahlverwandtschafts‹Exkurs: von Hölderlin über Goethe zu Schlegel. Durch diesen Aufbau soll einer naiven Ideengeschichte entgegengewirkt werden, die die oberflächliche Ähnlichkeit der diskursiven Praxen mit den wirklichen Beziehungen auf der ›genealogischen‹ Ebene des Wissens verwechselt und Ideengeschichte unter dem Signum der longue durée als jenes »beliebte[s] geistesgeschichtliche[s] MemorySpiel« betreibt (Brieler 1998: 586), das die Kohärenten der Diskurse und eben nicht die von Foucault fokussierten Differenzen betont. Während also die einzelnen diskursiven Praktiken – Lieben, Töten und Verzehren – vorliegende Arbeit gliedern, können die Exkurse zu Hölderlin, Goethe und Friedrich Schlegel als Anti-Genealogie verstanden werden. Sie fundieren gleichwohl, nur scheinbar paradox, Benjamins Wahl der Verwandtschaft biographisch – nicht jedoch im Sinne der heroisierenden Biographik, wie sie durch Wilhelm Dilthey und Friedrich Gundolf geprägt und von Benjamin verworfen wurde. Im abschließenden Kapitel des ersten Teils werde ich versuchen, die unterschiedlichen diskursiven Praktiken in je drei ikonologischen Bildern zusammenzuführen, mithin die analysierten Diskurse neuerlich konstellativ in ›Denkbilder‹ zu bannen.200 Ausgangspunkt dieser zusammenfassenden Überlegungen ist die dichte Lektüre jeweils dreier Literaturkritiken Walter Benjamins. Es wäre jedoch eine unzulässige Reduktion, wollte man die Theorie und Geschichte der Literaturkritik und die sie fundierenden Diskurse auf die Moderne beschränken. Benjamins Freund und Nachlasswalter Theodor W. Adorno hat bereits 1953/54 angemerkt, dass das Nazi-Regime die kritische Reflexion über Literaturkritik in der Bundesrepublik ›abgetötet‹ habe.201 Benjamins Tod – sei-
199 | Den Vorwurf der Dekonstruktion ahne ich bereits, fasse ihn aber als Bestätigung meiner Lektüre: »As a collector of the contingent, of that which escapes the censoring glance of history in its sober yet potent unremarkability, Benjamin in some sense prefigures the contemporary critical practice of deconstruction. Yet he was clearly more than a ›textual‹ revolutionary; and the encounter within his work between Marxism and deconstruction is thus an intriguing one from our own standpoint.« (Eagleton 1981: 131). 200 | Insofern beziehe ich mich auf Benjamins Bild-Verständnis, das jenem Foucaults entgegengesetzt ist: Für Foucault baut das Bild eine Distanz zur Imagination auf, während für Benjamin das Bild eine ›Dialektik im Stillstand‹ markiert, vgl. Weigel 1997: 211. 201 | Adorno, Zur Krisis der Literaturkritik [1953/54] (AGS II: 661–664). Auch wenn sich Adorno nicht als Literaturkritiker im eigentlichen Sinne verstanden haben dürfte (also als Publizist, der
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nen Namen expliziert Adorno in diesem Zusammenhang jedoch nicht – stellt einen Bruch in der Literaturkritik und der Literaturkritikgeschichtsforschung dar.202 Man kann Adorno nur zustimmen, wenn man die Geschichte der Literaturkritik im Aufklärungszeitalter betrachtet. Während die jüngere Aufklärungsforschung das 18. Jahrhundert nicht als pathologisch, sondern als Grundlegung der Moderne, der wir selbst zugehören, betrachtet, war die ›pathologische‹ Vorstellung in Folge der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den Geisteswissenschaften nach 1968 weit verbreitet. An die Epoche der Aufklärung anzuknüpfen hieß zunächst, den Widerspruch zwischen den Verheißungen der Selbstemanzipation und der Diagnose einer instrumentellen Vernunft auszuhalten und auszuhandeln. Viele Aufklärungshistoriker seit der Mitte des 20. Jahrhunderts arbeiteten daher die ›eigentliche‹ (nicht-instrumentelle) Vernunft heraus oder deklarierten sich selbst wenn nicht als Vollender der Aufklärung, so doch als deren Erblasser.203 Folglich wurde die Aufklärungsepoche entweder emphatisch als Beginn der Moderne vereinnahmt, oder als Rationalismus abgelehnt. Der ›kritische Kannibalismus‹ des 18. Jahrhunderts musste dabei zwingend unbeachtet bleiben: weder war er positiv zu vereinnahmen noch als rational zu
über aktuelle Neuerscheinungen urteilt), so gewinnen seine literaturkritischen Urteile Relevanz im Kontext seiner Kulturtheorie, die die »Authentizität des Urteils« über die »subjektiven Meinungen« hinausgehend an »gesamtgesellschaftliche[] Tendenzen« anschließt, mithin ›Literaturkritik als Gesellschaftskritik‹ betreibt, vgl. Hohendahl 2011: 225. 202 | Ausdifferenzierungen nimmt bereits die Literaturkritik des Exils vor, vgl. Braese 1998, Schmitt-Maaß 2008, Trapp 1993. 203 | Honneth 2007: 29 prognostiziert sehr deutlich die Ablösung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule durch die »genealogische Methode […] im Geiste Michel Foucaults«. Signifikanter Weise belässt es Honneth nicht bei der Feststellung, dass Kritik nach dem Verständnis der Diskursanalyse wenig mehr sei als »Reflexionsform einer Rationalität […], die im geschichtlichen Prozeß selbst verankert sein soll«, während das Programm der Kritischen Theorie nicht allein einen diagnostischen, sondern auch eine aktivistischen Wert hat: »Die geschichtliche Vergangenheit soll [durch die Kritische Theorie] in praktischer Absicht als ein Bildungsprozeß verstanden werden, dessen pathologische Verformung durch den Kapitalismus allein in der Initiierung eines Aufklärungsprozesses unter den Beteiligten überwindbar ist.« (30). Nach Honneth ist es »ein Mangel an gesellschaftlicher Rationalität, der die Pathologien der kapitalistischen Gesellschaft verursacht« (33). Damit hat Honneth die in der Dialektik der Aufklärung geübte Rationalismuskritik genau in ihr Gegenteil verkehrt, doch ist es ihm möglich, die Diskursanalyse als »genealogische Bloßstellung« zu deklarieren, die »eines zusätzlichen Schrittes« entbehrt, »in dem normativ gerechtfertigt wird, warum die soziale Disziplinierung oder die politische Repression überhaupt ein moralisches Übel darstellen soll. In diesem Sinn ist die Genealogie [Foucaults] gewissermaßen ein parasitäres Kritikverfahren [!], weil sie von der Voraussetzung einer normativen Begründung lebt, die sie nicht selber zu geben versucht oder zu leisten vermag.« (63).
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verwerfen. Um ihn wird es daher im dritten Teil (III.) gehen. Zwischen 1680 und 1760 ist die Literaturkritik als Praxis noch nicht institutionalisiert, so dass sich ihr Diskurs noch deutlich offener formiert. Erst ab der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts werden die barbarischen Ursprünge der Literaturkritik allmählich desavouiert und aus dem Vernunfts-Diskurs exkludiert.204 Aus diesem Grund stellen die Darlegungen zu Benjamin nur die Grundlage einer breiteren Untersuchung, die einerseits einen größeren historischen Rahmen spannt, andererseits die historische Ausdifferenzierung der diskursiven Praktiken fokussiert. Im Sinne einer Genealogie werden die Literaturkritiker Johann Jacob Bodmer, Gotthold Ephraim Lessing und Christian Thomasius mit ihrem ›literaturkritischen‹ (nebst philologischen Arbeiten auch Rezensionen umfassenden) Werk einer exemplarischen Analyse unterzogen. Indem ich mich auf jeweils einen unbekannteren literaturkritischen Autor und seinen Text konzentriere (Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Ludwig Liscow, Nicolaus Hieronymus Gundling) und sie mit den Position der soeben erwähnten ›Großkritiker‹ abgleiche, vermeide ich eine Konzentration auf die großen Namen, die die Ideengeschichte der Literaturkritik prägt, beanspruche aber keinesfalls archivalische Neuentdeckungen und Neubewertungen. Die historischen Exkurse können (wie schon im Benjamin-Kapitel) weitere ›Wahlverwandtschaften‹ erhellen: diesmal zu den jeweils historisch signifikant ausgeprägten Diskursen der Exegese (der Kritiker als Exeget, die diskursive Praxis des Liebens), der Polemik (der Kritiker als Scharfrichter, die diskursive Praxis des Tötens) und der Apologetik (der Kritiker als Anwalt und Mediator, die diskursive Praxis des Essens und Kochens). Die angeführten Zeugnisse zu Thomasius, Liscow und Gundling bzw. zu Leibniz, Lessing und Bodmer stehen stellvertretend und exemplarisch für die Literaturkritik im Jahrhundert der Aufklärung. Die Kontrastierung von jeweils einem älteren Literaturkritiker und einem neueren wird durch eine genealogischen Erweiterung begleitet, in der die Umlenkung der Diskurse des Liebens, Tötens und Verzehrens in die Diskurse der Erkenntnis, der Wahrheit und des Geschmacks verfolgt wird. Damit ist zugleich der Funktionszusammenhang des Literaturkritikers als Exeget, Scharfrichter und Anwalt näher zu bestimmen, der die Vorstellung des ›Kunstrichter‹-Amtes begleitet. Wenn unter ›Kritik‹ zu Beginn des 18. Jahrhunderts sehr viel mehr und sehr viel anderes verstanden wurde als unsere heutige enge Begriffsverwendung (und genau das impliziert ja der oberflächliche Blick in die zeitgenössischen Lexika, Enzyklopädien und Wörterbücher), dann rechnet zu einer Kritikgeschichte sehr viel mehr als unser historisch verengter Begriff (Jaumann 1995:
204 | Zur Figur des Barbaren als Krisensymptom und kulturelle Selbstvergewisserung vgl. Schneider 1997.
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24). Gleichzeitig scheitert ein Darstellungsmodell, das einseitig Literaturkritik ›um 1700‹ und Literaturkritik ›um 1800‹ als einsame Höhepunkte der Kritikgeschichte verrechnet: ›um 1700‹ ist Literaturkritik ein erst im Entstehen begriffenes Unternehmen; ›um 1800‹ negiert Friedrich Schlegels Gründungslegende alle literaturkritischen Vorgänger. Vielmehr soll es darum gehen, die strukturelle Konsistenz einer Menge von Aussagen nachzuweisen, um jeweils anschließend für den Zusammenhang von ›Kritik und Erkenntnis‹, ›Kritik und Wahrheit‹ sowie ›Kritik und Geschmack‹ zu erläutern, warum neue oder variierte Aussagen auftauchen und wieder verschwinden. Die so zu ihrem Recht kommenden literarischen Fakten bedürfen keiner genealogischen Begründung als ›Ursprungsgeschichte der Literaturkritik‹, sondern kontrastieren den Einzelbefund (also Benjamin) mit den historischen Fundamenten, ohne der Scheinerklärung eines Regressus in infinitum zu folgen, die nichts anderes wäre als ein rückwärts gewandter Fortschrittsgedanke. Zugleich erweist sich Benjamin im Zuge dieser Analyse als Erbe oder besser Nachlasswalter einer aufgeklärten Literaturkritik, die zu revitalisieren er sich in den Jahren um 1930 anschickte, die zu entfalten ihn aber die Dominanz der ›instrumentellen Vernunft‹, mit der Adorno und Horkheimer den Nationalsozialismus zu erklären versuchten, hinderte. Mit dieser ›doppelten Lektüre‹ lässt sich auch dem Einwand begegnen, meine Studie agiere (wie Foucaults Diskursanalyse) an der Oberfläche der Strukturen: durch den Abgleich der ›dichten Lektüre‹ im Benjamin-Kapitel mit historisch weiter zurückliegenden ›Formierungen‹ desselben Diskurses soll nicht nur die strukturelle Persistenz dieser Strukturen dargelegt, sondern – durchaus in einem ideengeschichtlich-hermeneutischen Sinn – die Tiefenbedeutung dieser Strukturen angedeutet werden. Im abschließenden vierten Teil (IV.) fasse ich die Ergebnisse zusammen, indem ich eine Anthropologie der Literaturkritik skizziere, die sich im Markt der Meinungen behaupten muss. Die seit dem 17. Jahrhundert geführten Kritikerkriege lassen sich mit der Verknappung von Publikationsmöglichkeiten in Zusammenhang bringen. Sie sind aber auch in der Gegenwart nicht ausgefochten, sondern werden im digitalen Zeitalter der Kostenlos-Mentalität neu verhandelt. Der (digitale) Kredit der Kritik beruht jedoch auf denselben Mechanismen, nach denen bereits im 18. Jahrhundert kulturelles und monetäres Kapitel akkumuliert wurden. Die Literaturkritik bedient sich zur Aushandlung dieser innersystemischen Auseinandersetzungen verschiedener Rollenmodelle, von denen der ›kritische Kannibale‹ nur eine mögliche Rolle ist. Das ›Wuchern des Diskurses‹ soll also keinesfalls strukturalistisch oder ideengeschichtlich ›gebändigt‹, sondern auf seine sinngenerierende Eigenschaften befragt werden. Ich denke, genau das hatte Nietzsche im Sinn, als er von der ›Arbeit der Genealogie‹ sprach: »Thatsachen giebt es nicht, nur Inter-
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pretationen.«205 Mit Walter Benjamin könnte man ergänzend korrigieren: »Es gibt nicht Tatsachen, sondern Gefühle.«206
205 | Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente [1886/87] (KSA XII: 315). 206 | W. Benjamin an F. Sachs, Br. v. 11.7.1913 (GB I: 141).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
4. K APITEL : L IEBENDE K RITIK Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt. Christian Morgenstern, Stufen (1909)
Wer liest, »stößt [...] auf Fragmente des eigenen Daseins«, schreibt Benjamin 1934 in seinem Kafka-Aufsatz (GS II.2: 436). Lesen ist für Walter Benjamin kein Akt der Zerstreuung. Vielmehr liest er mit theologischer Ernsthaftigkeit.1 Das Interesse des Lesers Benjamin gilt dabei jener Spur, die neben dem Text herläuft: »Was nie geschrieben wurde, lesen« (GS II.1: 213) – mit diesem Hofmannsthal-Zitat ermahnt sich Benjamin im Aufsatz Über mimetisches Vermögen (1933), aus dem Geschriebenen Ungeschriebenes herauszulesen, herauszulösen (vgl. Wohlfarth 1992: 315). Diese Lektürepraxis gilt auch für Benjamins Literaturkritiken. Benjamin hat wiederholt betont, dass es ihm nicht leicht falle, zügig zu schreiben – auch keine Rezensionen.2 Das Lesen des Kritikers unterscheidet sich hierin nicht von der Lektüre des Forschers, oder genauer: Kritik ist für Benjamin Forschung. Walter Benjamins literaturkritisches Lesen folgt einem doppelten Verfahren: der Leser kehrt einerseits immer wieder zu einem Text zurück, andererseits lässt sich ein Text immer wieder neuen Lektüren unterziehen. Benjamin summiert 1928/29 in seiner typisch dichten Sprache die Praxis des Lesens, bezogen auf die Lektüre von Kriminalromanen: Es gibt Menschen, und darunter solche, die eine ganz Bücherei besitzen, die niemals recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mal lesen. Und doch ist es nur dann, daß
1 | »Sein [Walter Benjamins] Essayismus ist die Behandlung profaner Texte, als wären es heilige.« (Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, AGS X.1: 244). 2 | W. Benjamin an W. Kraft, Br. v. 3.4.1935 (GB V: 69).
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Kritischer Kannibalismus man wie klopfend ein Gemäuer absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhält und auf Schätze stößt, die der frühere Leser, der wir doch einst gewesen sind, in ihr vergraben hat. (GS VI: 205)
Benjamins Metapher vom Wiederfinden des schon immer Dagewesenen bringt zwei Erfahrungsbereiche im Modus des Lesens zusammen: die Erinnerung und die Sehnsucht. Beide evozieren eine liebende Haltung zum Text, die Haltung des Philo-Logen (v. altgr. φίλος u. λόγος, d. h. ›Liebe zur Sprache‹). Sie – die im Wieder-Lesen sich bewährende Liebe zum Text – ist der Ausgangspunkt des Literaturkritikers Benjamin im Umgang mit dem Text, ist Motivation und Erfüllung literaturkritischer Arbeit zugleich. Die Liebe zum Lesenswerten ist verknüpft mit der Liebe zum Sammelnswerten.3 Das verdeutlicht Benjamins eigene Sammelpraxis. Der Grundstock von Benjamins Kinderbuchsammlung entstammt einem ersten großen »Raubzug« aus der Bibliothek seiner Mutter und damit aus seiner eigenen Kinderbibliothek.4 Zeit seines Lebens beschäftigt sich Benjamin mit der Frage, was die Leidenschaft des Sammelns ausmache. Diese »spezifische[] Verhaltensweise des Geistes« (Schlüter 1993: 13) ist durch das Moment der Leidenschaft gekennzeichnet – mit der Einschränkung, dass die Sammelleidenschaft nicht ans Chaos, sondern an die Erinnerung grenzt:5 »Dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent. Und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange,« (GS III: 216 f.) heißt es in einer Rezension titels Lob der euppe (1930). Erinnerung und Leidenschaft werden somit zu Schlüsselbegriffen zum Verständnis des Sammelns und zu Konstituenten des sich im Sammeln verwirklichenden Glücks. Erst wenn sich die Erinnerung an den Erwerb des Sammlungsobjektes einstellt, erst wenn die Leidenschaft für den Gegenstand wiederhergestellt ist, ist das Glück erreichbar. Das Glück besteht im Kampf gegen die Zerstreuung, vereint doch der Sammler, einem Notat des eassagenwerks zufolge »das Zueinandergehörige« (GS V.1: 279). Als Archetyp des Sammlers präsentiert Benjamin den Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs. Er lasse sich nicht vom Namen oder Wert leiten, sondern nur »vom Objekt selber« (GS II.2: 503). Der Sammler erscheint damit als ein in besonderer Weise zum Lieben Befähigter, dessen Sammlung die Kontinuität der eigenen Biographie gewährleistet. Für den Literaturkritiker als Sammler bedeutet das ein immer neues Einlassen auf Altbekanntes.
3 | Benjamin schließt zur Begründung an Friedrich Schleiermachers Hermeneutik an, vgl. Sommerfeld 1998: 105 ff. 4 | W. Benjamin an E. Schoen, Br. v. 31.7.1918 (GB I: 467). 5 | Benjamin, Denkbilder [1925] (GS IV.1: 388).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Philologie und Bibliophilie sind nicht ätherisch oder frei von Leiblichkeit. Benjamin denkt Prostitution und Bibliophilie vielmehr programmatisch zusammen. In der Einbahnstraße hat Benjamin festgehalten, dass Huren von Zuhältern drangsaliert würden wie Bücher von Kritikern (GS II.1: 109). Damit verweist er auf die Leiblichkeit des Buches – »Bücher und Dirnen lieben es, den Rücken zu wenden, wenn sie sich ausstellen« (110) –, kennt aber aus eigener Erfahrung die Gefahr der Vergänglichkeit des geliebten Gegenstandes: seine Kinderbuchsammlung verlor er bei der Scheidung an Dora Benjamin, große Teile seiner Bibliothek musste er bei seiner Flucht aus Nazideutschland zurücklassen. Das Stichwort von der körperlichen Liebe zu Büchern wie zu Dirnen eröffnet die Möglichkeit, die diskursive Praxis mythengeschichtlich zu verorten: Dieser Auffassung von Literaturkritik als Kulturkritik liegt der Pygmalion-Mythos zugrunde. Sein – wenn man will: dialektisches – Gegenstück ist der MidasMythos: Während der liebende Pygmalion als Metapher für die kunstkritische Richtung der Kulturkritik dient – Kunst in der Moderne als ikonoklastischer Akt, durch den das lebendige und verlebendigte Kunstwerk seinen Kunstwerkcharakter einbüßt; oder mit Walter Benjamin: ›Auraverlust‹, – repräsentiert Midas die kunsttötende Richtung der Kulturkritik. Beide verbildlichen eine funktionale Differenzierung: Kulturkritiker dürfen nicht in dieselbe Sphäre treten wie Kunstschaffende (Pfisterer 2014: 55). Damit ist (›dialektisch‹) Benjamins Position als literaturkritischer Leser aufgerissen: er rechnet jenen ihren Reflexionsgegenstand liebenden Kunstrichtern zu, die durch Pygmalion charakterisiert sind. Da diese Form der Liebe jedoch nicht esoterisch gedacht, sondern körperlich gemeint ist, tritt ein erotisches Moment hinzu. Der Eros wird sich nicht untreu, ist doch der Mensch – nach Benjamins im Trauerspielbuch geäußerten Auffassung – nur schön für den Liebenden, nicht für sich selbst (GS I.1: 211). Hier findet das romantische Erbe seinen Ausdruck, dessen Diktionen Benjamin in seiner Dissertation untersucht und untersuchend nachvollzogen hatte. Seine im Übersetzer-Aufsatz getroffene Feststellung, dass Kunstkritik immer ein »wenn auch geringeres Moment im Fortleben der Werke« (GS IV.1: 15) darstelle, rückt ihn in die Nähe der romantischen Kunstkritik. Diese Positionierung wird durch kunstkritische Forderungen im Kunstwerk-Aufsatz gestützt, demzufolge »die Beurteilung der Werke an ihren immanenten Kriterien« festzumachen sei (GSI.1: 72). Mit dem Begriff des »Reflexionsmediums« gelingt es Benjamin, die romantische Begründung der Autonomie von Kunstwerken zu verdeutlichen und sich zugleich in eine –
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durch Nachweis der reflexionstheoretischen Prämissen abgesicherten Wissenschaftsbegriff – romantische Tradition einzureihen.6 Benjamin überträgt die Bilder des mideischen und des pygmalionischen Kritikers auf die romantische Literaturkritik und benennt damit den Zeitpunkt ihres historischen Auseinandertretens im Zuge der Herausbildung der Genieästhetik: Der romantischen Tradition der »Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen Werken« hält Benjamin im Trauerspielbuch sein ›barockes‹ Programm der Kritik entgegen: »Kritik ist Mortifikation der Werke. [...] nicht also – romantisch – Erweckung des Bewußtseins [...], sondern Ansiedlung des Wissens, in ihnen.« (GS I.1: 357) Kritik versteht er so als die Distanzierung der Erklärungskontexte im ästhetischen Nachvollzug.
Wahl und Verwandtschaft: Hölderlin Über die Geschlechtslust – die Sehnsucht nach fleischlicher Berührung – das Wohlgefallen an nackenden Menschenleibern. Sollte es ein versteckter Appetit nach Menschenfleisch sein? Novalis, Neue Fragmente (1798/99)
Benjamins umfassenden Kenntnisse der frühromantischen Literaturkritik gebieten, die historisch-biographische Verwurzelung der ›liebenden Kritik‹ nachzuzeichnen:7 seine Ausführungen zum frühromantischen Kunstkritik-Begriff finden sich nicht erst in der Dissertationsschrift. Bereits im Kriegswinter 1914/15 hatte Benjamin seinen unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz zu Hölderlins Gedichten Dichtermut und Blödigkeit verfasst, der in seiner Auseinandersetzung mit der romantischen Literaturkritik eine herausragende Stellung zukommt.8 Mit der Interpretation zweier Hölderlingedichte bietet Benjamin 1914 eine Angriffsfläche, galt der Dichter doch bis zu der 1910 vom gelernten Altphi-
6 | Sicherlich schreibt Benjamin aber nicht einfach die romantische Kunstkritik weiter (so Jennings 1987: 183), sondern reichert sie an, aktualisiert sie und stellt sie in einen geschichtlichen Zusammenhang (s. u.). 7 | »Kein Ästhetiker der neueren Zeit hat Geschichte und Kunst, Leben und Werk strenger voneinander geschieden, keiner zugleich beide enger aneinander gerückt als Walter Benjamin.« (Garber 1992: 13). 8 | Noch 1930 beruft sich Benjamin auf diesen Aufsatz und bedauert, dass er »auf den herrlichen Grundlagen, die ich in meinem zweiundzwanzigsten Jahr gelegt hatte, das ganze Leben nicht habe aufbauen können« (W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 25.4.1930, GB III: 521). Benjamin verbindet Hölderlin und die Frühromantik, vgl. Noor 2011: 73 f.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
lologen Norbert v. Hellingrath vorbereiteten Hölderlinausgabe als verworren und unverständlich, keinesfalls einer Einzeluntersuchung würdig.9 Warum also Hölderlin? Weil an und mit Hölderlin eine Standortbestimmung des von der romantischen Kunstkritik ausgehenden jungen Walter Benjamin möglich ist, die wesentlich zum Verständnis einer Praxis von Literaturkritik beiträgt.10 Ohne dass der Hölderlin-Aufsatz vollständig wäre oder Eingang in die Dissertationsschrift gefunden hätte, verweist Benjamin in ihr doch mehrmals auf Hölderlin und macht so die Stellung des Dichters für die (früh)romantische Kunstkritik klar: dessen Epitheton von der »Nüchternheit der Kunst« (GS II.1: 103) stifte nicht nur die philosophische Einheit der Romantik (103), sondern überrage die Romantiker (explizit Friedrich Schlegel, 117). Dass Benjamins Hölderlin-Lektüre und die in ihr herausgelöste Funktion der romantischen Kunstkritik mit Benjamins methodischer Annäherung verschränkt ist, werde ich aufzeigen. Liebende Kritik und hermeneutisches Erkenntnisinteresse verschränken sich bei Benjamin im Namen Hölderlins.11 Dem ersten Abschnitt des Hölderlinaufsatzes kommt eine Legitimationsfunktion zu: Benjamin setzt sich über die seinerzeit übliche akademische Trennung von philologischem Kommentar und ästhetischer Theorie hinweg, wenn er moniert, dass die Literaturwissenschaft sich als Philologie bislang »nur den großen Werken der Klassik […] in höherem Grade philologisch als ästhetisch« (103) genähert habe. Benjamins Ansatz eines »ästhetische[n] Kommentar[s]« (105) will ästhetische und philologische Betrachtung zusammenschmelzen. Aus diesem Vorhaben leitet der Zweiundzwanzigjährige die Notwendigkeit ab, sein zu Lebzeiten nie publiziertes »literaturwissenschaftliche[s] Debüt« (Honold 2000: 55) methodisch zu begründen und zugleich eine erste exemplarische Kritik vorzulegen.12
9 | Zu einer Standortbestimmung der Benjaminschen Hölderlin-Rezeption im Zeitkontext vgl. Honold 2000. 10 | Zur Bedeutung von Hölderlin (Nietzsches ›Lieblingsdichter‹) für die Entwicklung des Tragödientheorie im Trauerspielbuch vgl. Tambling 2014: 219 ff. Benjamin stellt in seinem Aufsatz Schicksal und Charakter (1921, GS II.1: 171–179) die Verbindung zwischen Nietzsche und Hölderlin her. Zur Verschmelzung von griechischen und hebräischen Elementen in Benjamins HölderlinInterpretation vgl. Fenves 2002: 257 f., zur Bedeutung des Hölderlin-Aufsatzes zur Entfaltung der eigenen literaturkritischen Reflexion vgl. Hanssen 1997. 11 | Zur neukantianisch begründeten Funktionshomologie von Kritik, Übersetzung und ›Schrift‹ beim jungen Benjamin vgl. Dörr 1988: 14. 12 | »Benjamin hat sich seit seinen Studienjahren, in denen ihm die Unmöglichkeit eines geschlossenen philosophischen Systems in der Moderne zum Bewußtsein gekommen war, stets als Kritiker verstanden.« (Witte 1976: IX). Witte irrt, wenn er erst im Wahlverwandtschaften-Essay eine spezifisch Benjaminsche Form der Kritik ausmachen zu können meint (X).
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Benjamins methodische Begründung ist durch vier biographische Erfahrungen fundiert:13 Die als unbefriedigend erfahrene Berliner, Freiburger und Münchener Lehre sowie die Absage an Gustav Wynekens Jugendbewegung (vgl. Salonia 2011: 14 f.) bei gleichzeitiger ›Entdeckung‹ des ›Kultur-Zionismus‹ durch Vermittlung des Aachener Dichtergermanisten Ludwig Strauß,14 vor allem aber der Doppelselbstmord des Dichterfreundes Fritz Heinle15 und von dessen Freundin Rika Seligson, dem der Hölderlin-Aufsatz zugeeignet ist,16 schärfen Benjamins Reflexionsbewusstsein und motivieren seinen methodologischen Zugang zu Hölderlin. Dieser »Zeitindex« (Honold 2000: 54) wurde bislang von der (v. a. in Amerika geprägten) hermeneutischen BenjaminForschung weitgehend ignoriert (vgl. Nägele 1988; Wellbery 1988). Die »Verarbeitung persönlicher und existentieller Krisenerfahrungen« (Honold 2000: 55) ist dem literaturwissenschaftlichen Début Benjamins jedoch unüberlesbar eingeschrieben; sie entfaltet sich gleichsam vor dem Hintergrund von Heinles Selbstmord (eine Reaktion auf die reichsdeutsche Kriegsbegeisterung) als ›Verklärung in Liebe‹ (Kohlenbach 1997: 138). Tod und Verklärung – in diesem Resonanzraum entfaltet Benjamin seine liebende Hölderlin-Kritik.17 Im Sommersemester 1912 nimmt Benjamin sein Studium der Philosophie in Freiburg auf, kann sich aber aufgrund seines Engagements in der Freien Studentenschaft kaum der universitären Lehre widmen. Während Benjamin im Wintersemester 1912/13 wieder in Berlin studierte, kehrte er im Sommer 1913 erneut nach Freiburg zurück – immer als Verfechter der Ideale der Jugendkultur. Halb ironisch porträtiert er sich seinem ehemaligen Berliner Schulfreund Herbert Belmore gegenüber als »Heros der Schulreform« und »Opfer der Wissenschaft«18 zugleich.19 Dass Benjamin, der bis 1902 Privatunterricht erhalten
13 | Benjamin nennt »Leben« bis ins Spätwerk hinein eine Konstituente der Dichtung. Damit ist aber nicht die Legitimation des Werkes durch die Biographie gemeint, vielmehr bilden beide eine »extreme Funktionseinheit« des nachmaligen »geschichtlichen Gehalts«, die »innerste Identität des Dichters mit der Welt, deren Ausfluß alle Identitäten des Anschaulichen und Geistigen dieser Dichtung sind.« (Benjamin, Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin [1914/15], GS II.1: 107, 110, 124). 14 | W. Benjamin an L. Strauss, Br. v. 10.10.1912 (GB I: 69 ff.). 15 | Der »Engel des Friedens […] den das Schwert zerschnitten«, (Benjamin, Sonette 29 [1917/1918], GS VII.1: 41). 16 | Benjamin verweigert Aussagen zu Heinle außerhalb des poetischen Mediums und der literarischen Auseinandersetzung vgl. Kohlenbach 1997: 138. 17 | In Benjamins Deutung rechnet Heinle zu den ersten ›Gefallenenen‹ des Krieges, jedoch »nicht in der Schlacht. Er blühte auf einem Felde der Ehre, wo man nicht fällt.« (Benjamin, Über Stefan George [1928], GS II.2: 623). 18 | W. Benjamin an H. Belmore, Br. v. 21.6.1912 (GB II: 56).
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hatte und sich mit den disziplinären und sozialen Gepflogenheiten des wilhelminischen Gymnasiums schwer tat,20 dem universitären Lehrbetrieb kritisch gegenübersteht, verwundert kaum (Wizisla 1987). Ernst Schoen, der Benjamin seit den gemeinsamen Schultagen nahe stand, gilt Benjamin als vorbildhaft, weil er »jenen Sumpf […], der heute die Hochschule ist«21 nicht beschreiten wird. Benjamin selbst – zwischenzeitlich wieder in Berlin eingeschrieben – spielt mit dem Gedanken, das Studium abzubrechen. Der Wechsel nach München zeitigt ebenfalls nicht den gewünschten Erfolg: »Auch mit den Literaturhistorikern und -kritikern ist es nichts.«22 Vor diesem Hintergrund ist Benjamins Hölderlinaufsatz, der nicht zur Publikation vorgesehen war, sondern im Freundeskreis kursierte,23 aufschlussreich als Dokument einer methodischen Verortung außerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs.24 Benjamin stellt dem Aufsatz eine methodische Reflexion voran, die die Notwendigkeit einer ästhetisch-analytischen Auseinandersetzung mit lyrischen Werken begründet und im Rückgriff auf den Goetheschen Begriff des dichterischen Gehalts die akademische Methodik umgeht – und damit die Abtrennung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft.25 Benjamin vertritt die Notwendigkeit einer immanenten Analyse: »Nicht danach kann die Bewertung sich richten, wie der Dichter seine Aufgabe gelöst habe, vielmehr bestimmt der Ernst und die Größe der Aufgabe selbst die Bewertung.« (105) Benjamin lehnt die seinerzeit üblichen Analyseformen der biographischen Interpretation und der Literaturgenetik ab – und spielt auf diese Weise die geistesgeschichtliche gegen die positivistische Karte aus. Er rekurriert, dass jedem Gedicht eine Sphäre eigne, die »Erzeugnis und Gegenstand der Untersuchung zugleich« (105) sei. Das belegt Benjamin mit der begrifflichen Zuspitzung des »Gedichteten« und setzt sich vom Hellingrathschen Terminus der »inneren Form« (105, vgl. Alt 1988: 122) ab: hier formuliert er die Notwendigkeit einer zunächst textimmanent verfahrenden und dekontextualisierende Lektüre. Im Terminus des »Gedichteten« – ein »Grenzbegriff in doppelter Hinsicht« (106)
19 | Zum Seeshaupter Kreis vgl. Eiland/Jennings 2014: 84 ff.; 92 f.. 20 | Vgl. Benjamin, Berlin Chronik [1932] (GS VI.1: 473 ff.). 21 | W. Benjamin an E. Schoen, Br. v. 25.10.1914 (GB I: 257). 22 | W. Benjamin an F. Radt, Br. v. 21.11.1915 (GB I: 289). 23 | Vgl. Kommentar in GS II.3: 921. 24 | Zugleich ist der Hölderlin-Aufsatz, wie auch Benjamins frühe Arbeiten zur Pädagogik (im Umkreis von Wyneken entstanden), von – zeittypischen – Nietzscheanischen Formeln geprägt, vgl. McFarland 2013: 16 f. 25 | Zu den methodologischen Vorwegnahmen des Wahlverwandtschaften-Essays vgl. Steiner 1989: 129 ff.
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– prallen Lyrik und Leben aufeinander, verzahnen sich poetologische Interpretation und biographische Grabung. Benjamin zielt mit diesem Lektürekonzept in zwei Richtungen: einerseits erlaubt es eine Begründung seines auf den ersten Blick esoterisch wirkenden Durchgangs durch die Hölderlin-Gedichte, andererseits wahrt es eine kritische Distanz zum Gegenstand bei gleichzeitig behutsamer Annäherung aus den ästhetischen Vorgaben heraus, die das Gedicht selbst macht. Mit der Bemerkung, »[z]u einer theoretischen Kritik des Form- und Stoff-Begriffs in der ästhetischen Bedeutung ist […] hier nicht der Ort« (106) bricht Benjamin seinen methodologischen Diskurs vorerst ab, nicht ohne noch einmal den Zusammenhang von Form und Inhalt zu betonen. Die Notwendigkeit einer solchen Zusammenschau sieht Benjamin sowohl auf der Ebene des Gedichtes als auch auf Ebene des Gedichteten (seiner ›Sphäre‹).26 Wenige Absätze später jedoch unternimmt Benjamin eine Trennung von Gedicht und Gedichtetem und grenzt ersteres als ›Lösung‹ von der ›Aufgabe‹ ab, die er als Leben definiert: »Das Gedichtete erweist sich also als Übergang von der Funktionseinheit des Lebens zu der des Gedichts. In ihm bestimmt sich das Leben durch das Gedicht, die Aufgabe durch die Lösung. […] Das Leben ist allgemein das Gedichtete des Gedichts.« (107) Keineswegs redet Benjamin damit der Biographik also das Wort. Vielmehr liegt die Aufgabe des Dichters wie des Leser-Interpreten darin, die ›Lebenseinheit‹ kunstvoll in die ›Kunsteinheit‹ zu überführen (107). Das Gelingen einer Analyse – die im Übrigen nie zum Abschluss kommt – bestimmt sich nach Benjamin in der Fähigkeit des Interpreten, die komplexen Beziehungen von ›Kunstwerk‹ und ›Leben‹ in ihrem Zusammenhang aufzuzeigen (108). Benjamin macht nun im Fassungsvergleich von Hölderlins Dichtermut und Blödigkeit den Gesang des Dichters als dessen Schicksal aus, durch den »mit ihm das Volk, aus dem er singt, ganz in den Kreis des Gesanges hinein versetzt« (116) wird. Auf formaler Ebene bestätigt Benjamin seine existentielle Interpretation der Einheit von Volk und Dichter: auch zwischen den verschiedensten, divergierendsten Elementen des Gedichts besteht ein zwingender Zusammenhang, so dass »niemals die Elemente rein erfassbar sind, vielmehr nur das Gefüge der Beziehungen, in dem die Identitäten des einzelnen Wesens Funktion einer unendlichen Kette von Reihen ist, in denen das Gedichtete sich entfaltet« (112). Existentiell-biographische und poetologisch-formale Interpretation sind nach Benjamin unausweichlich miteinander verschränkt und aufei-
26 | Zum »Gedichteten« und den nicht ausgesprochenen methodischen Vorannahmen Benjamins vgl. Alt 1987, der auch (537 f.) die Bedeutung des Todes (als Gegendiskurs zur Liebe) herausarbeitet. Daran schließt Fenves 2014: 521 f. an.
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nander verwiesen: »Das Prinzip des Gedichteten überhaupt ist die Alleinherrschaft der Beziehung. In diesem besondern Gedicht [ist sie] als innerste Identität des Dichters mit der Welt« (124) gestaltet. Nach Analyse der Hölderlin-Gedichte kann Benjamin das Fazit ziehen, dass das Gedichtete beider Fassungen miteinander verbunden ist – »und zwar in einem Verhalten zur Welt.« (123) Hölderlin verstehe es, die Gefahr des Todes durch Schönheit zu überwinden. Diese Feststellung Benjamins, komplexen methodischen Überlegungen entsprungen, wird an späterer Stelle Aufschluss geben über das Verständnis von Benjamin als ›liebenden‹ Literaturkritiker. Soviel sollte deutlich geworden sein: der formulierte Anspruch einer immanenten Interpretation, die Konzentration auf eine vom Dichter geleistete Sinnintentionalität markiert eine wesentliche Phase in Benjamins Umgang mit literarischen Texten und schmilzt Kritik und Interpretation zusammen. Ab 1905 wurde Benjamin von seinen Eltern für zwei Jahre ins Landerziehungsheim Haubinda geschickt, wo er Bekanntschaft mit dem Reformpädagogen Gustav Wyneken und seinem Ideal eines partnerschaftlichen Unterrichts machte. Bereits in Haubinda gründete Benjamin – wie später an der Freiburger Universität – einen Lese- und Diskussionskreis, der eine kleine Gruppe Gleichgesinnter zur gemeinsamen Lektüre versammelt. Das Ideal, unter dem sich die Freunde – namentlich Fritz Heinle und Philipp Keller – versammeln, ist das der Jugendbewegung, wie sie Gustav Wyneken propagiert und Benjamin an der Freiburger und Berliner Universität verbreitet hat. In ihr vermischen sich elitäres Sendungsbewusstsein und jüngerhaftes Gefolgschaftsverhältnis. Auch wenn Wyneken nicht namentlich als Anhänger Stefan Georges festzumachen ist, speiste sich doch Wynekens Ideologie »unverkennbar […] aus dem Quell Georgescher Denkung und Dichtung« (Busse-Wilson 1925: 132). Während Wyneken starken Einfluss auf das soziale Selbstverständnis Benjamins um 1912 (bis 1915) hatte, flankierte Georges Dichtung die poetische und poetologische Auseinandersetzung (Alt 1999). Benjamins Versuch, Kombattanten für diesen elitären Kreis zu werben, stößt bei der Freien (d. h. nicht korporierten) Hochschulgemeinde auf Widerstand. Sein Bild von Elite und Bildung war (unter Berufung auf Nietzsche) ein gänzlich undemokratisches. So formuliert er in seinem Aufsatz Unterricht und Wertung, der 1913 in der Zeitschrift Der Anfang erschien: »Das Griechentum dieses Gymnasiums sollte nicht ein fabelhaftes Reich der ›Harmonien‹ und ›Ideale‹ sein, sondern jenes frauenverachtende und männerliebende Griechentum des Perikles«. (GS II.1: 40)27
27 | Hier – unter Berücksichtigung meiner weiteren Ausführungen – ein homosexuelles Paradigma Benjamins sehen zu wollen, halte ich für abwegig.
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Anders als Wyneken gehörte der im Ersten Weltkrieg jung verstorbene und von Walter Benjamin hoch geschätzte Hölderlin-Herausgeber Norbert v. Hellingrath zum George-Kreis (vgl. Kaulen 1990a). Die Bedeutung dieses Kreises für die Hölderlin-Vermittlung im ersten und zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden28 wie umgekehrt die Entdeckung des späten Hölderlin für Georges Dichtung von entscheidender Bedeutung ist (vgl. Hoffmann 1995: 87). Noch Klaus Mann, gegenüber nationalideellen Männerbündnissen wohl gefeit, erinnert sich 1928: »Er [Hellingrath] wurde der Generation, die sich um 1914 opferte, der reinste und höchstgeliebte Repräsentant, eines hölderlinschen Deutschland« (Mann 1928: 130). Das Ideal der Jugendbewegung und das Ideal der an Hölderlin ausgebildeten Jüngerschaft des George-Kreises hat Max Kommerell mit seiner programmatischen Buchtitel Der Dichter als Führer29 gefasst. Benjamin positioniert sich in diesem emphatischen Sinne bereits in seiner ersten erhaltenen Publikation, einem Gedicht titels Der Dichter von 1910: Sieh, am Rand des ungeheuren Abgrunds, Da gewahrst Du Einen sorglos stehend, Zwischen schwarzer Nacht und buntem Leben. Dieser steht in wandelloser Ruhe Einsam, abseits von der Lebensstraße (GS II.3: 832).
Führerschaft des Dichters, Jüngerschaft des Lesers30 – wie Benjamin auf den unauflöslichen Verweiszusammenhang von Kritik und Interpretation besteht, formuliert er hier die Reziprozität von Führer- und Jüngerrolle. Diese Erkenntnis bringt ihn in Konflikt mit seinem Lehrer Gustav Wyneken, der sich 1914 von der national getönten Kriegseuphorie hatte anstecken lassen und die deutsche Jugend ermutigte, sich freiwillig zum Kriegseinsatz zu melden. Der von Benjamin empfundene »Verrat«31 führt zur Absage an Wyneken, nicht ohne dass Benjamin diesem noch einmal seine Treue versichert hätte: »Gegen Sie selbst muß ich mich zu Ihnen bekennen wie Sie mir als der strengste Liebende dieser lebenden Jugend vor Augen sind.«32 Der Aufruf zur Kriegsbeteiligung an
28 | Honold nennt den Tod Hellingraths vor Verdun (1916) und dessen Verklärung durch George in den Sprüchen an die Toten (1928), vgl. Honold 2000: 67. Anders als in der Benjamin-Forschung üblich (vgl. etwa exemplarisch Kohlenbach 1997), deute ich Benjamins Hölderlin-Rezeption nicht vom Todesmoment her, sondern als Praxis des Liebens. 29 | Vgl. Benjamins Kommerell-Rezension von 1930 in GS III: 252–259. Es handelt sich mitnichten um Kommerells Habilitationsschrift (wie Goebel 2014: 151/157 behauptet). 30 | Vgl. die Darstellung aus zeitgenössischer Perspektive bei Zilsel 1918. 31 | W. Benjamin an H. Reichenbach, Br. v. Februar/März 1915 (GB I: 262). 32 | W. Benjamin an G. Wyneken, Br. v. 9.3.1915 (GB I: 264).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
die deutsche Jugend gleicht für Benjamin einer Opferung. Er hält dagegen: »Die Jugend aber gehört nur den Schauenden, die sie lieben und in ihr die Idee über alles.«33 Die Notwendigkeit einer liebenden Führung der Jugend und die Anerkennung der Idealität von Jugend passt sich wiederum ein in Benjamins philologische Erkenntnis, die Kritik und Interpretation, Führung und Gefolgschaft in eins setzt. Hintergrund von Benjamins Bruch mit Wyneken und dessen nationalpatriotischer Kriegsbegeisterung ist der Selbstmord des Freundes Fritz Heinle. Er bildet auch den biographischen Hintergrund für Benjamins HölderlinInterpretation: Hölderlins Dichtermut besinge nicht nur den Tod des Dichters, sondern die Quellen des Mutes zu diesem Tod (123) – und liefert damit ein Interpretament, das den Tod Heinles erklärbar, verstehbar und sinnfällig erscheinen lässt. Benjamins Hölderlin-Interpretation wird lesbar erst vor dem Hintergrund von Heinles Selbstmord. Im Entwurf zum George-Aufsatz hält Benjamin fest: Im Frühjahr 1914 ging […] der »Stern des Bundes« auf, und wenige Monate später war Krieg […] Mein Freund [Heinle] starb. Nicht in der Schlacht […] Monate folgten […] In diesen Monaten aber {, die ich ganz meiner ersten größeren Arbeit, einem Versuch über zwei Hölderlinsche Gedichte gewidmet [ lies hatte,] der ihm[,] meinem Freunde [,] gewidmet war,}, trat, was er an Gedichten hinterlassen hatte, an die wenigen Stellen, wo noch in mir Gedichte bestimmend zu wirken vermochten. (GS II.3: 921)34
Die Lektüre, der Benjamin Hölderlins Gedichte unterzieht, gerät unter diesem Aspekt zu einer Apologie des Dichters als Führers und stellt zugleich eine Liebeserklärung an den bewunderten Freund dar: Der Dichter als Führer überwindet im eigenen Untergang die Gefahr des Todes, indem er sie transzendiert und damit Welterklärung erst stiftet (123). Noch einem Anderen erweist Benjamins Hölderlin-Exegese ihre Referenz: Norbert v. Hellingrath. 1917 schreibt Benjamin an Ernst Schoen: »Haben Sie gelesen dass Norbert von Hellingrath gefallen ist? Ich wollte ihm bei seiner Rückkehr meine Hölderlinarbeit zu lesen geben, deren äußerlicher Anlaß die Stellung ihres Themas in seiner Arbeit über die Pindar-Übersetzungen war.«35 Auch wenn Benjamin 1914 noch nichts von Hellingraths Tod ahnen konnte (Kohlenbach 1997: 140 f.), ist dieser als Adressat des Hölderlinaufsatzes auszumachen. Benjamin entnimmt nämlich Hellingraths Dissertationsschrift, die als Prolegomena seiner kritischen Hölderlin-Edition zu werten ist, seinen Arbeits-
33 | W. Benjamin an G. Wyneken, Br. v. 9.3.1915 (GB I: 264). 34 | In der Berliner Chronik [1932] (GS VI: 477) gestaltet Benjamin den Selbstmord Heinles als Zäsur – mit ihm endet Benjamins Jugend wie auch die geschichtliche Epoche. 35 | W. Benjamin an E. Schoen, Br. v. 25.2.1917 (GB I: 355).
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thema: »man vergleiche nur«, fordert Hellingrath dort, »Blödigkeit mit der ersten fassung von Dichtermut/ wie da jede änderung der stelle erst volles dasein gibt.« (Hellingrath 1910: 52) Und nicht zuletzt entfaltet Benjamin in seinem Verriss von Oskar Walzels philologischer Abhandlung Das Wortkunstwerk (1926), die aus seiner Auseinandersetzung mit der Hölderlin-Philologie hervorgeht, den Zusammenhang von Philologie, Literaturkritik und Liebespraxis: Liebe zur Sache hält sich an die radikale Einzigartigkeit des Kunstwerks und geht aus dem schöpferischen Indifferenzpunkt hervor, wo Einsicht in das Wesen des ›Schönen‹ oder der ›Kunst‹ mit der ins durchaus einmalige und einzige Werk sich verschränkt und durchdringt. Sie tritt in dessen Inneres als in das einer Monade, die, wie wir wissen, keine Fenster hat, sondern in sich die Miniatur des Ganzen trägt. […] Solche Versuche finden sich selten genug. (Hellingraths Studie zu der Pindarübertragung war einer.). (GS III: 51)36
Weiß man um die Bedeutung der beiden impliziten und expliziten Widmungsträger, so erhält Benjamins Hölderlin-Aufsatz und die darin verwirklichte exemplarische Kritik ein gänzlich andere Konnotation: Kritik wird aus dem Geiste der (früh)romantischen Kunstkritik zur Liebeserklärung, zur liebenden Aneignung des kritisierten Textes, zur liebenden Enteignung der eigenen Kritik. Hinzu tritt noch die sprachtheologische Komponente von Benjamins exegetischer Hölderlin-Kritik. Auch wenn die Tradition, Benjamin als Messianisten dingfest zu machen, sich wie ein roter Faden durch die Benjamin-Forschung zieht und ihren Ursprung wohl in der übermächtigen Wirkung des geistigen Nachlasswalters Gershom Scholem hat, erweist ein Blick auf Benjamins Hebräisch-Übungen, dass sein Judentum weitgehend säkularisiert war (vgl. Brodersen 1990: 53).37 Dennoch sind gedankliche und gar sprachliche Übereinstimmungen zwischen Benjamins Aufsatz Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (1916) zu Scholems Studie Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957) nicht zu leugnen (vgl. Witte 1976: 8 f.). In diesem Aufsatz zeichnet Benjamin den Zusammenhang der Genesis als Welterschaffungsmythos und der Metaphysik der Sprache nach. Die zeitliche Nähe des Sprachaufsatzes zum Hölderlin-Aufsatz sowie Benjamins Anleihen bei der Sprachtheorie der Frühromantik (Urbich 2009) erlauben eine sprachtheologische Deutung, wenn Benjamin den Mut des Dichters bei Hölderlin als »innerste Identität des Dichters mit der Welt, deren Ausfluß alle Identitäten des Anschaulichen und Geistigen dieser Dichtung sind«, auffasst (124).38
36 | Vgl. dazu die dichte Interpretation von Nägele 2014. 37 | Vgl. W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 19.2.1925 (GB III: 15). 38 | Benjamins Deutung zielt gegen Ende darauf, den »griechischen Mythos« des Gedichts durch »orientalische« Elemente abzulösen (126).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Alle »erkannten Beziehungen« zwischen Dichtung und Welt seien im Tode erkannt, schreibt Benjamin weiter. Indem Benjamin die Macht der Erkenntnis, durch Sprache gesichert, betont, greift er jene ältere Bedeutung von Erkennen auf, die noch in der Luther-Übersetzung der Bibel durchscheint: der Liebe ()צדי. So ist es die Erkenntnis Evas durch Adam, die den Zusammenhang von Erkennen und Lieben stiftet (Gen 4,1).39 Benjamins Haltung zu Hölderlins Gedichten entspricht in Anspruch und Form eben dieser liebenden Erkenntnis, und die Widmung an Heinle (und implizit an Hellingrath) bekräftigt diese Lektüre noch. Auf diese Weise versteht es Benjamin in seiner frühen Hölderlin-Kritik, die grundlegend für das Verständnis der Benjaminschen Literaturkritik ist, den Subjekt-Objekt-Gegensatz mittels Sprache (in der Analyse dichterischer Sprache und der Verwendung kritischer Sprache) zu überwinden oder genauer: die liebende Kritik des frühen Benjamin überwindet Geschichtlichkeit durch die Einsicht in die Sprachgebundenheit. Dies macht die ›magische‹ Qualität von Benjamins Verständnis von Literaturkritik aus. Und so formuliert Benjamin, indem er sein Verständnis von frühromantischer Kunstkritik auf den Punkt bringt, zugleich seine eigene, zutiefst subjektive Theorie der Literaturkritik. In der Dissertationsschrift zur frühromantischen Kunstkritik heißt es: »Kritisch sein hieß die Erhebung des Denkens über alle Bindungen so weit treiben, daß gleichsam zauberisch aus der Einsicht in das Falsche der Bindungen die Erkenntnis der Wahrheit sich schwang.« (GS I.1: 51).40 Das Leben als Aufgabe, wie es Benjamin verstand, findet in der Dichtung eine Lösung; das Werk als Aufgabe findet in der liebenden Literaturkritik seine Erlösung als ›rettende‹ Kritik;41 ihr unreflektiertes – vorzivilisatorisches – Verhältnis ist nicht barbarisch, sondern ›zauberisch‹.
39 | Im fünften Kapitel seiner Abhandlung Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (poln. 1937, dt. 1968) konturiert Roman Ingarden aus phänomenologischer Perspektive eine literaturkritische Erkenntniskritik. 40 | Vgl. auch (besonders mit Blick auf das von Benjamin herausgearbeitete ›messianische‹ Potential der frühromantischen Kunstkritik) Agazzi 2008: 105 f. 41 | Vgl. Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.2: 703 und GS I.3: 1245, 1246 u. 1250).
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5. K APITEL : T ÖTENDE K RITIK Die Kritik ist die Kunst, die Scheinlebendigen in der Literatur zu töten. Friedrich Schlegel, Eisenfeile (1797)
Der Diskurs des Sammelns führt auf den Diskurs des Jagens hin: beide präfigurieren die diskursive Praxis des Tötens. Der ›romantische Prophet‹ Friedrich Schlegel gilt Benjamin als Stichwortgeber für sein Diktum von der Mortifikation der Werke, die eine andere diskursive Praxis der Literaturkritik begründet. In seiner Dissertation zur Kunstkritik der Romantik schreibt Benjamin: »›Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten können, sonst fehlt uns ... der Sinn für das Unendliche‹. In diesen Äußerungen hat Schlegel sich über das Zerstörende der Kritik, über ihre Zersetzung der Kunstform, deutlich ausgesprochen.« (GS I.1: 85) Bereits 1916 hatte Benjamin gegenüber Herbert Belmore geäußert: »Die wahre Kritik geht nicht wider ihren Gegenstand: sie ist wie ein chemischer Stoff der einen andern nur in dem Sinne angreift, daß er ihn zerlegend dessen innre Natur enthüllt, nicht ihn zerstört.«42 Durch die Mortifikation kann Benjamin Sach- und Wahrheitsgehalt trennen, die erst dann sinnvoll ineinander einzugehen vermögen (s. u.).43 Damit fallen für Benjamin Kritik und Kommentar im Wahlverwandtschaften-Essay – anders als im Hölderlin-Aufsatz – auseinander: erstere »sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerkes«, letzterer »seinen Sachgehalt« (GS I.1: 125).44 Benjamin entfaltet hier eine alternative Praxis der Literaturkritik: In der Kategorie des »Ausdruckslosen« (181) gewinnt die Unterscheidung von »Schein« und »Wesen« eines Kunstwerkes unmittelbar Gestalt (181).45 Dem Kritiker geht es um das Wesen der »großen Werke«. Dazu muss er zum Äußersten bereit sein: »Nur wer vernichten kann, kann kritisieren«, wird Benjamin vier Jahre später in Einbahnstraße zuspitzen (GS IV.1: 108).
42 | W. Benjamin an H. Belmore, Br. v. Ende 1916 (GB I: 349). 43 | Benjamin, Fragmente zur Literaturkritik [1930] (GS VI: 174). 44 | Jennings u. a. haben darauf verwiesen, dass der Kommentar der Kritik vorausgeht (vgl. Jennings 1987: 181). Im Hölderlin-Aufsatz hingegen ist der Kommentar für Sach- wie Wahrheitsgehalt zuständig. 45 | Auf die äußerst komplexe Sprachtheorie Benjamins, die die Grundlage für seine Ausführungen zu Mortifikation bildet, kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel: durch den Nachweis der medialen Struktur der Sprache kann Benjamin dem erkenntnistheoretischen Dualismus von Subjekt und Objekt dem Boden entziehen.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Durch die Kritik vollzieht sich in den Werken eine Metamorphose – das Moment der historischen Wiederkehr wird sichtbar gemacht.46 Die Kritik verhilft dem Werk also zu einer Wiedergeburt oder anders ausgedrückt: die Mortifikation der Werke ist zwangsläufig die Bedingung ihres Fortlebens.47 Ein solchermaßen definierter Lektürebegriff scheidet den Sammler als Leser ebenso wie den Kritiker vom ›gewöhnlichen‹ Leser – beide rangieren auf einer Ebene mit dem Schriftsteller.48 Neben dem pygmalionischen, den durch Liebe zum Leben erweckenden Kritikbegriff (Romantik) existiert also der midäische, die durch die analytische Auseinandersetzung tötende Kritik (›Antiromantik‹, Mayer 1990). Das findet seinen Ausdruck im Abtöten eines Kunstwerkes, um zu dessen ›wahren‹ Qualitäten vorzustoßen. Stellt man diese Einsicht aber zunächst zurück, so lässt sich festhalten, dass Benjamin weniger vom Töten als vielmehr vom Sezieren spricht. Sezieren ist im Diskurs der Literaturkritik auf die Analyse bezogen. Damit reiht sich Benjamin in die lange Reihe derer ein, die sich auf die cartesianische Tradition berufen und das Objekt der Erkenntnis als zusammengesetzt auffassen. Um über dessen Funktion etwas zu erfahren, muss der Gegenstand des Interesses seziert werden.49 Den Zusammenhang von Literaturkritik und Sektion werde ich im Folgenden aufzeigen, ehe ich wieder auf die tötende Kritik zurückkomme. Der sezierende Blick des Literaturkritikers Benjamin richtet sich auf das philologische Detail.50 Benjamin löst dazu in seinem WahlverwandtschaftenEssay, v. a. aber im Trauerspiel-Buch Kants Kritik der Urteilskraft in eine Kritik der Sprache auf, d. h. dass die Kritik am Kunstwerk die Struktur des literarischen Gehalts offen legt (GS I.1: 195–196). Auf diese Weise ist es Benjamin möglich, die »Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst« herzuleiten (GS I.3: 952). Benjamins literaturkritisches Interesse richtet sich auf das Moment der Allegorie: »Das allegorische Kunstwerk trägt die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich« (GS I.3: 952). Allegorie ist bei Benjamin definiert als kritisches Wissen (im Unterschied zum schönen Schein). Sie ist immer historisch bedingt, gibt sich als solche aber auch zu erkennen.
46 | Benjamin, Entwürfe zum »Trauerspielbuch« [1924?] (GS I.3: 919). 47 | Benjamin, Fragmente zur Literaturkritik [1930] (GS VI: 172). 48 | Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus [1931] (GS IV.2: 390). 49 | Gegen Descartes’ (sich von Aristoteles herschreibendes) Diktum propagiert 1807 Hegel in der Vorrede seiner Phänomenologie des Geistes, dass die Summe der Teile als Ganzes aufzufassen sei. 50 | Asman hat darauf hingewiesen, dass Sprachtheorie und Literaturkritik bei Walter Benjamin zusammenfallen (vgl. Asman 1992: 252).
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Die Allegorie ist nach Benjamin die Methode, die die Literaturkritik »aufs tiefste prägt« (Witte 1976: 125).51 Sie zeichnet sich durch zwei Momente aus: die Montage und die Häufung von Bildern. Begreift man – wie Benjamin im Trauerspielbuch – die Allegorie als zum Bilde drängende Schrift (GS I.3: 339) und die Häufung von Bildern als »Bilderspekulation«,52 so wird deutlich, dass Benjamin hier eine andere Praxis der Literaturkritik etabliert: ging es in den Wahlverwandtschaften noch um die Durchdringung der Struktur des Kunstwerkes, so gilt nun das Wort von deren Zerschlagung. Benjamin spricht vom »zerstückelnde[n], dissoziierende[n] Prinzip« der »allegorischen Anschauung« (GS I.1: 382), an anderer Stelle tauchen die Schlagworte »Stückelung« (361) und »Entseelung« (358) auf. Das Verhältnis von Philologie und Kritik steht folglich in einem kongruenten Verhältnis zu jenem von Sach- und Wahrheitsgehalt (Steiner 1989: 221). Unter Philologie versteht Benjamin weniger den »Schein der geschlossenen Faktizität, der an philologischen Untersuchungen haftet«, als vielmehr eine Einbeziehung geschichtlicher Darstellung in sprachliche Untersuchungen. Adornos Vorwurf der »staunenden Darstellung der Faktizität« begegnet Benjamin, wenn er eben jene als »echt philologische Haltung« charakterisiert:53 Vermittels der »Durchdringung von historischer und kritischer Betrachtung« wird die Philologie – wie Benjamin in seiner Abrechnung mit der geistesgeschichtlichen Germanistik titels Literaturgeschichte und Literaturkritik (1931) schreibt – von der Kritik abgelöst und Literatur zum »Organon der Geschichte« (GS III: 289 f.). Um das ›Innere von Literatur‹ darstellen zu können, »ringt« die Kritik mit den Werken, »nicht jedoch zu Kosten des Dichterischen« (GS III: 290). Dieses Verfahren – von Witte (1976: 130) als »allegorische Kritik« bezeichnet – richtet den Blick »in die Sprachtiefe« (GS I.1: 376)54 und lässt die so entstandenen Bruchstücke in neuen Konfigurationen wieder zusammentreten.55 Der Mortifikation geht folglich die zergliedernde Analyse voraus, dem Töten
51 | Auch Asman (1992: 252) sieht den Zusammenhang von Literaturkritiker und Allegoriker. 52 | Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire [1938] (GS I.2: 522). 53 | W. Benjamin an Th. W. Adorno, Br. v. 9.12.1938 (GB VI: 184 f.). 54 | Auf Benjamins äußerst komplexen und – wie er selbst zugibt – ebenso eigenwilligen Sprachbegriff kann hier nicht näher eingegangen werden. Ich möchte nur an die These erinnern, die Benjamin 1923 in der Aufgabe des Übersetzers formuliert: dass nämlich der Philologe sich weniger um die Details, als vielmehr um die »ideengeschichtliche Intention« (GS IV.1: 16) zu kümmern habe. 55 | Mortifikation ist die »analytische Zergliederung von Werken, um anschließend wieder Sinn [...] hineinzulegen« (Asman 1992: 252 f.).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
das Sezieren. Benjamins diskursive Praxis der liebenden Literaturkritik wird ergänzt durch die Praxis des Sezierens bzw. Tötens.
Wahl und Verwandtschaft: Goethe Goethe gilt Benjamin nicht als Inbegriff eines vitalen Naturalismus, als Verkörperung eines gelungenen Ausgleichs der Gegensätze. Anders als die zahlreichen Goethe-Feiern und -Festakte des Jahres 1932 betrachtet Benjamin die Person Goethes ›vom Tode her‹: sei es durch das Schreiben Carl Friedrich Zelters an Kanzler Müller über Goethes Tod, das Benjamins Reihe der Briefe in der Frankfurter Zeitung am 1. April 1931 eröffnet, sei es die daraus hervorgegangene Publikation der Briefsammlung Deutsche Menschen (1936), die diesen Brief an erste Stelle setzt – statt einen »Heroenkult[]«56 zu pflegen, perspektiviert Benjamin Goethe als Sterbenden (vgl. Villwock 2008: 158 ff.; Honold 2008: 135).57 Auch Benjamin betont in seiner Lektüre von Goethes Werk Todesmotive. Das gilt besonders für Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay, wie ich im Folgenden in vier Schritten herausarbeiten werde: erstens durch einen methodischen (Benjamin nutzt Goethes Wahlverwandtschaften, um seine Vorstellung von tötender Kritik darzulegen), zweitens durch Konzentration auf die eingebettete Novelle der Wunderlichen Nachbarskinder (die eine Verlagerung der Analyse von der Ehe zum Tod vorbereitet und sich damit von der zeitgenössischen GoethePhilologie absetzt),58 drittens durch die Konzentration auf die Todes- statt die Eheproblematik und schließlich (viertens) durch die Konzentration auf die Figur Ottilies als Todgeweihte. All diese literaturkritisch begründeten Schwerpunktverlagerungen lassen sich, wie ich abschließend darstellen werde, in Zusammenhang bringen mit der von Benjamin im Lektüreverfahren geübten Kunst der Selbstzergliederung. Ausgangspunkt von Benjamins Auseinandersetzung mit Goethe ist das Schlusskapitel seiner Dissertation, in dem er die frühromantische Kunstkritik noch einmal durch Kontrastierung mit Goethes Kritikauffassung konturiert.59 Benjamin distanziert dadurch sein eigenes Verfahren der Literaturkritik von der
56 | Benjamin, Auf der Spur alter Briefe [1931?] (GS IV.2: 943). 57 | Deutsche Menschen stellt alleine schon in der Titelwahl eine Alternative zum »Geheimen Deutschland« (um Stefan George) dar, vgl. Honold 2008: 133. 58 | Im Anschluss an Liska 2009: 249 ff. 59 | Zu Benjamins Aneignung der Goethischen Kritik vgl. Steiner 2002.
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romantischen Kunstkritik, die Gegenstand seiner Dissertationsschrift war.60 Hatten die Romantiker Literatur als ›Naturphänomen‹ rezipiert, betont Benjamin in seiner Dissertationsschrift, dass die Kritik gegenüber dem Kunstwerk dasselbe sei, »was gegenüber dem Naturgegenstand die Beobachtung ist, es sind die gleichen Gesetze, die sich an verschiedenen Gegenständen modifiziert ausprägen.«61 Während die romantische Kunstkritik intendiert, »das als ›natürliches‹ Reflexionsmedium aufgefaßte Kunstwerk zum Bewußtsein seiner selbst zu erheben« (Witte 1976: 23), versteht Benjamin die Aufgabe der Kritik darin, die geschichtlichen Voraussetzungen und Tatbestände im Werk zu dechiffrieren, es also geschichtlich zu verstehen: »Die Kunst war dasjenige Gebiet, auf welchem die Romantik die unmittelbare Versöhnung des Bedingten mit dem Unbedingten am reinsten durchzuführen strebte«, wogegen Goethe »entsagend gedacht« habe (114). Der Wahlverwandtschaften-Essay – »[i]ch habe meine Kritik der Wahlverwandtschaften abzufassen, die mir gleich wichtig als exemplarische Kritik wie als Vorarbeit zu gewissen rein philosophischen Darlegungen ist«62 – stellt Benjamins praktische Umsetzung seiner literaturtheoretischen Erkenntnisse auf dem Feld der romantischen bzw. der Goetheschen Literaturkritik dar.63 Benjamin unterscheidet zunächst zwischen der historischen Analyse (»Sachgehalt«), die er Kommentar nennt, und der Analyse des philosophischen Gehaltes (»Wahrheitsgehalt«), die er Kritik nennt. Beide ergänzen einander;64 der Sachgehalt kann nur durch Einsicht in den Wahrheitsgehalt erkannt werden.65 Anknüpfend an die Tradition der Thoraexegese – den Wahlverwandtschaften eignet wie Brechts Schriften die »Klassizität« eines ›heiligen Textes‹«66 – entwirft Ben-
60 | Vgl. auch Ferris 2002: 181 f. Zur einer vergleichenden Analyse von Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay und Georg Simmels Goethe-Buch von 1914 vgl. Geulen 2014. Simmel deutet Goethe jedoch – anders als Benjamin – aus lebensphilosophischer Perspektive; der Tod hat daher keine Funktion, vgl. Geulen 2014: 202 ff. Benjamins Gegenlektüre Goethes ist motiviert durch seine Ablehnung des (auch philologischen) Goethe-›Kitsches‹, vgl. dazu Simonis 2000: 453. 61 | Benjamin, Begriff der Kunstkritik [1920] (GS I.1: 65). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 62 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 8.11.1921 (GB II: 208). 63 | Zur suizidalen Imprägnierung des Goethe-Buchs vgl. W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 25.6.1932 (GB IV: 106). 64 | Bereits am Ende seiner Dissertation hatte Benjamin einen Ausblick auf Goethes Kunstauffassung eröffnet. 65 | Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften [1924] (GS I.1: 126 ff.). Mit Seitenzahl im Text zitiert. Dazu Witte 1976: 37 u. Eagleton 1981: 123. 66 | Benjamin, Kommentare zu Gedichten Brechts [1939] (GS II.2: 539).
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jamin das Bild des Kommentars als »beschreibende Analysis«.67 Während die »Geschichte der Werke ihre Kritik« vorbereite, vermehre »die historische Distanz deren Gewalt.« (125 f.) Kritik ist in diesem Sinne »Mortifikation der Werke«,68 als dass sie die Wirkung der Geschichte – das Absterben der Sachgehalte – vollendet. Kritik tötet nach Benjamin das unmittelbare Leben des Kunstwerks, indem es dessen künstlichen Charakter offen legt. Dadurch erst wird die philologische Analyse ermöglicht, und dadurch erst wird dessen Wahrheitsgehalt erkennbar. Benjamin führt zur Verdeutlichung der wechselseitigen Bedingtheit von Kritik und Kommentar die Allegorie des Scheiterhaufens an: Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehen, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchemisten. Wo jenem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten. (126)
Benjamin kontrastiert in diesem allegorischen Bild die Positionen Friedrich Schlegels und Goethes. Heißt es bei diesem: »Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstück der Philosophie, Enthusiasmus für chemische Erkenntnis: denn die Grammatik ist doch nur der philosophische Teil der universellen Scheidungs- und Verbindungskunst«,69 so prägt jener das Wort vom ›flammend Lebendigen‹.70 Benjamin stellt also der frühromantischen Auffassung von Philologie (Kommentar) eine Sentenz aus dem West-Östlichen Diwan entgegen, um das Verfahren des Literaturkritikers zu charakterisieren. Nicht das Leben, sondern das Werk steht im Mittelpunkt von Benjamins philologisch-kritischer Betrachtung. Damit setzt sich Benjamin von herrschenden geisteswissenschaftlichen Interpretationsverfahren ab. In einer Polemik gegen Dilthey, dem der junge Benjamin zunächst nahe gestanden hatte, kritisiert Benjamin, die Geisteswissenschaftler hätten »von dem Wesen und vom Leben ausgehend die Dichtung als Produkt aus jenen nicht abzuleiten, so doch müßigem Verständnis näher zu bringen.« (155) Diese Kritik trifft implizit den Heidelberger Literaturhistoriker und George-Adepten Friedrich Gundolf, den Benjamin in seiner geistesgeschichtlichen Revision Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft in geistiger Nähe zu Dilthey und dessen Lebensphilosophie
67 | Benjamin, Einbahnstraße [1928] (GS IV.1: 139). 68 | W. Benjamin an F. Ch. Rang, Br. v. 9.12.1923 (GB II.1: 393). Vgl. Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 357). 69 | Schlegel, Athenäums-Fragmente [1797–98] (KFSA I.2: 241). 70 | Goethe, West-Östlicher Diwan [1814–19] (FA I.3/1: 24).
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situiert (GS III: 288 f.).71 Benjamin setzt dagegen zunächst auf das frühromantische Verständnis von literarischer Kritik. Galt in der Dissertationsschrift das Diktum von der »Unkritisierbarkeit des Schlechten« (GS I.1: 79), so wählt Benjamin mit Goethes Wahlverwandtschaften einen Gegenstand, der aufgrund seines bewusst formalen Kalküls prädestiniert scheint für eine formale immanente Interpretation. Benjamin kann sich als Kritiker umso mehr den formalen Aspekten des Romans zuwenden, als dass die zeitliche Distanz – und hier besteht die Differenz zum frühromantischen Kritikverständnis – die »Ansiedlung des Wissens« im Werk erlaubt, jedoch die »Steigerung des Bewußtseins« in ihm negiert.72 Die Formanalyse Benjamins setzt an einem Punkt an, der von der damaligen Goethephilologie weitgehend überlesen wurde: die in die Wahlverwandtschaften eingebetteten Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder (167 f.). Benjamin situiert die Novelle im ursprünglich gleichfalls – als Teil der Wanderjahre – novellistisch angelegten Roman, indem er die Notwendigkeit der Formbegründung herausstellt: die als Novelle geplanten Wahlverwandtschaften, nun zum Roman geworden, haben in der eingebetteten Novelle nicht nur einen (novellentypischen) Höhepunkt, sondern fungieren in ihrer Entgegensetzung als poetologische Begründungsinstanz für den Roman (vgl. 169). Die Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder zeichnet sich nach Benjamin durch eine im Vergleich zum Roman inhaltliche Bedeutungsverschiebung aus: Tod und Opfer gingen in der Novelle eben nicht jene Verschmelzung ein, die im Roman präsent gehalten werde (170). Im Gegensatz zu den Romanprotagonisten fällten die Liebenden der Novelle eine Entscheidung – Ottilie, indem sie sich in den Fluss stürze; Eduard, indem er sie rette. Die Gefahr für beider Leben ermögliche erst die Erkenntnis der wahren Liebe und rette so beider Leben (vgl. 188).73 Im Roman hingegen korrespondiere der Entscheidungsunfähigkeit ein »zwiefache[s] Scheitern« (188): den Überlebenden bleibe die Ehe versagt, »[d]er Schluß beläßt den Hauptmann und Charlotten wie die Schatten in der Vorhölle.« (188) Das Brautkleid – in der Novelle Symbol des Lebens und Signatur der Entscheidung – erweist sich in Benjamins Analyse des Romans als Totenkleid Ottilies (171). In diesem Sinne scheint Benjamins Fazit nur folgerich71 | Benjamin bettet seine Goethe-Interpretation in geschichtsphilosophische Reflexionen ein und stellt sich damit gegen die Goethe-Aneignung des George-Kreises (Simonis 2000). Bereits 1917 hat Benjamin sich kritisch mit Gundolfs Goethe-Buch auseinandergesetzt, ohne zu einer geschlossenen Form zu finden, vgl. Benjamin, Bemerkung über Gundolfs »Goethe« [1917] (GS I.3: 826–828). 72 | W. Benjamin an F. Ch. Rang, Br. v. 9.12.1923 (GB II.1: 393). 73 | Analog verklammert nach Benjamin Goethe die Liebesphilosophie von Rahmen- und Binnenhandlung, vgl. Jacob 2015: 82.
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tig, dass im Tod den natürlichen Ausgang der Liebe, in der Ehe ihre übernatürliche Dauer konstatiert (187 f., 176). Damit unternimmt Benjamin in seiner Analyse nicht weniger als die Widerlegung von Friedrich Hebbels Urteil über die Wahlverwandtschaften (zugleich das Urteil der zeitgenössischen Goethe-Philologie): Goethe habe – so Hebbel – die Bedeutung der Ehe unzureichend dargestellt, da er, wie ein »zerstreute[r] Zergliederer«, statt eines »wirklichen Körpers« einen »Automat auf das anatomische Theater« gebracht hätte (189). Benjamins Lektüre erweist hingegen, »daß die Ehe im Geschehen nicht die Mitte, sondern das Mittel« (189) ist. Dies herauszustellen, greift Benjamin Goethes Verteidigung der (rechtlichen) Institution Ehe an: »Doch hat in Wahrheit die Ehe niemals im Recht die Rechtfertigung, das wäre als Institution, sondern einzig als ein Ausdruck für das Bestehen der Liebe, die ihn [Goethe] von Natur im Tode eher suchte als im Leben.« (130) Folglich schlägt Benjamin einen Weg ein, der der traditionellen Goethe-Philologie zu widersprechen scheint: »Der Gegenstand der Wahlverwandtschaften ist nicht die Ehe« (131), sondern die im Roman vielfältig angelegte »Todessymbolik« (135), die Benjamin herausarbeitet: »In den verborgensten Zügen ist das ganze Werk von jener Symbolik durchwebt.« (136) Benjamin zufolge wollte Goethe »nicht […] die Ehe begründen, vielmehr jene Kräfte zeigen, welche im Verfall aus ihr hervorgehn« (130). Benjamins Analyse zergliedert die Wahlverwandtschaften unter der neu entdeckten Bedeutung des Todes-Aspekts und kritisiert zugleich die bisherige philologische Praxis: sei es die Vorwegnahme von Ottilies Tod im Einweihungsakt des neuerbauten Hauses, sei es der durch Luciane geschenkte Stoff, der sich als Totengewand erweisen wird (136 f.) – Benjamin macht eine Vielzahl von Todesmotiven aus, die den Roman durchziehen. Genauer: er macht das Todesopfer als Kern aus (vgl. 140 [Ottilie]; 137 [Eduard]; 138 [deren Kind]). Benjamins Kritik – die zugleich eine Kritik der goethezeitlichen Literaturkritik wie der Goethephilologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist –, zielt darauf ab, den Opferbegriff nicht auf Ottilie zu beschränken, sondern – und seine paradigmatische Lektüre bestätigt ihn darin – auf das »Ganze[] der Darstellung« (140) auszudehnen. Diese Analyse erlaubt Benjamin, im Rückgriff auf die Momente des Opferns bei Eduard und dem gemeinsamen Kind, »das Opfer [als] Entsühnung der Schuldigen« (140) zu lesen. Ottilie – ihr gilt Benjamins besonderes Augenmerk, sie gilt ihm als »Mitte der Dichtung« (186, vgl. dag. Gundolf 1916: 548–576) – steht in ihrer ›erotischen Passivität‹ und zugleich Natürlichkeit der Marienikonographie nahe. Diese »sakrale Unfruchtbarkeit« ist in Benjamins Lektüre an den Tod gekoppelt, entgeht der »unreinen Verworrenheit der Sexualität«, steht gar der sexuellen Vereinigung (der Lebenszeugung) entgegen (174). Jedoch wird durch Ottilies Schweigen die »Moralität des Todeswillens« (176) fragwürdig: »Ihm liegt in
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Wahrheit kein Entschluß zugrunde sondern ein Trieb« (176) – ein ›natürlicher‹ Trieb, da sie die Nahrungsaufnahme verweigert. Das Fehlen eines Entschlusses und das Nachgeben gegenüber den Trieben sind es, die nach Benjamin die ›Unheiligkeit‹ von Ottilie ausmachen – und nicht die Zerstörung der Ehe, wie Gundolf konstatiert hatte. Benjamins Lektüre von Ottilie als »Hadeshafte« (179) erweist ihre Verbundenheit mit dem Element Wasser, das in sich aber wiederum zwiespältig konnotiert ist: »Denn einerseits ist es das Schwarze, Dunkle, Unergründliche, andrerseits aber das Spiegelnde, Klare und Klärende.« (183) Eben jene letztgenannte Eigenschaft macht Benjamin als Wesen Ottilies aus: »mit unschuldiger Klarheit verlockend und in tiefste Dunkelheit hinunterführend« (183) erweist sich ihre Schönheit als tödlich – für sich selbst wie für andere. Ottilie erscheint in Benjamins Lesart als »eigentümlich Durchscheinende, mitunter Presziöse« (179), sie führt im Laufe des Romans immer mehr das »Dasein einer Schwindenden« (193), rückt aufgrund ihrer aquatischen Eigenschaften in die Nähe Helenas (183), bleibt aber umfangen von einem milden Licht (vgl. 186), genauer: dem Mondlicht (nicht dem Sonnenlicht, das Benjamin der Figur Luciane beiordnet, 186). Selbst noch im Tod wirkt Ottilie: »der Sarg, in dem das Mädchen ruht, wird nicht geschlossen« (179). Die Lichtmetaphorik, die Benjamin bei Ottilie ausmacht, überträgt er auf die in die Wahlverwandtschaften eingebettet Novelle. Ihr kommt für die Romanstruktur die Bedeutung zu, die Ottilie für die Handlung zukommt. Mikrostruktur und Makrostruktur entsprechen sich: kein Zug der Novelle [ist] vergeblich. Sie ist der Freiheit und Notwendigkeit nach, die sie dem Roman gegenüber zeigt, dem Bild im Dunkel eines Münsters vergleichbar, das dies selber darstellt und so mitten im Innern eine Anschauung vom Orte mitteilt, die sich sonst versagt. Sie bringt damit zugleich den Abglanz des hellen, ja des nüchternen Tages hinein. (196)
Wozu unternimmt der Kritiker Benjamin all diese Anstrengungen in einer Auslegung eines 1922 noch durchaus nicht ›klassischen‹ Goethetextes, wieso rückt er in seiner Interpretation den Tod derartig in den Mittelpunkt und verknüpft ihn zugleich mit der Erzählung der seelenverwandten Nachbarskinder und der chthonischen Schönen?74 Bereits Hans Mayer – 1940 immerhin einer der Wenigen, der Benjamin einen Nachruf widmete75 – bemerkt: »Man darf ahnen, daß der dreißigjährige
74 | Vgl. Garber 1992: 97, der die lebenslange Auseinandersetzung Benjamins mit dem Tod thematisiert. 75 | Am 18.10.1940 erschien ein Nachruf Mayers auf Benjamin in der Tat (Zürich). Benjamin und Mayer kannten sich vom Pariser (von Georges Batailles begründeten) Collège de Sociologie, vgl. Pic 2013.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Interpret Benjamin solche Sätze der Entschiedenheit nicht allein als Interpret Goethes hinschreibt.« (Mayer 1973: 81) Auch Gershom Scholem erinnert sich anlässlich seiner Interpretation der autobiographischen Verschlüsselung Agesilaus Santander der biographischen Umstände Benjamins zur Zeit der Abfassung seines Wahlverwandtschaften-Essays: Demzufolge waren Benjamins literaturkritischen Einsichten nur möglich, weil sie in einer menschlichen Situation Benjamins verfasst wurde[n], welche der des Romans haargenau entsprach. Waren es doch die ›pflanzenhafte Stummheit‹ und Schönheit jener ›Otilie‹,
die damals so folgenreich in sein Leben trat, welche am Quellpunkt seiner Erkenntnisse über das Schöne standen und über die luziferische Tiefe des Scheins, in dem das Schöne sich verhüllt und manifestiert. (Scholem 1972: 91)
Gemeint ist Jula Cohn, jene Freundin, der Benjamin den WahlverwandtschaftenEssay auch zueignete (123, vgl. Isermann 2015: 282 f.). Er lernt sie 1912 über ihren Bruder Alfred Cohn kennen, einen Schulfreund Benjamins. Nach zeitweiligen Trennungen lässt sich Benjamin 1930 von seiner Frau scheiden, während Jula Cohn bereits seit 1925 mit dem Jugendfreund Fritz Radt verheiratet ist. Benjamin macht seine Beziehung bzw. seine Leidenschaft für Jula Cohn zum Gesprächsgegenstand. Nicht nur Scholem, auch die Psychologin und Ärztin Charlotte Wolff, mit dem Ehepaar Benjamin seit 1922 bekannt, berichtet in ihren Erinnerungen, sie habe mit Benjamin wiederholt die Frage diskutiert, »wie große Werke der Literatur sich durch persönliche Probleme entfalten« (Wolff 1971: 206). Bezüglich des Freundschaftsbundes zwischen Walter und Dora Benjamin, Jula Cohn und Ernst Schoen stellt Charlotte Wolff fest: »Ein Vergleich mit Goethes Wahlverwandtschaften erübrigt sich« (Wolff 1971: 209).76 Benjamins Analyse der Ehe in den Wahlverwandtschaften ist also nicht weniger als eine Kritik der Ehe im Modus des Abtötens. Nicht nur die zahlreichen Hinweise Anderer, auch die eingeschobenen Reflexionen erweisen den Wahlverwandschaften-Essay als Zergliederung der eigenen Ehe wie als Vergewisserung ihrer Unhaltbarkeit. Benjamins konsequente Interpretation gegen die Gepflogenheiten der zeitgenössischen Philologie gilt nicht nur dem literarischen Werk, sondern bezieht auch die eigenen Lebensumstände mit ein und projiziert sie auf Goethes Leben zurück. »Indem seine [Benjamins] Kritik so auf den Menschen geht, gewinnt sie [...] ihre Radikalität, zugleich aber auch ihre Evidenz.« (Witte 1976: 58) Die aggressive Ablehnung einer werkbiographischen Interpretation kann durch eine Distanzierung von Gundolf nur unzureichend erklärt werden. Wenn
76 | Vgl. dagegen Benjamins Aussage, »[k]ein sittlicher Entschluß kann ohne sprachliche Gestalt, und streng genommen ohne darin Gegenstand der Mitteilung geworden zu sein, ins Leben treten.« (176)
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Benjamin apodiktisch formuliert: »Werke sind unableitbar wie Taten und jede Betrachtung, die im ganzen diesen Satz zugestände, um ihm im einzelnen zu widerstreben, hat den Anspruch auf Gehalt verloren« (156), liegt der Verdacht nahe, Benjamin habe selber einer werkbiographischen Interpretation seines Wahlverwandtschaften-Essays vorbeugen wollen – bei gleichzeitigem Bekenntnis gegenüber Freunden. Eine dechiffrierende Lektüre war so nur seinem engeren Bekanntenkreis möglich, jener elitären Gemeinschaft, die er schon mit seinem Zeitschriftenprojekt Angelus Novus als ideale Leserschaft ausersehen hatte. Die Konzentration auf Ottilie ist weiterhin auffällig: »Zwar stellt in dieser Mädchengestalt nicht die Keuschheit, soweit sie aus der Geistigkeit entspringen mag, sich dar [...] jedoch ihr ganz natürliches Gebaren macht trotz vollkommener Passivität, die der Ottilie im Erotischen sowie in jeder anderen Sphäre eignet, diese bis zur Entrücktheit unnahbar.« (173) Das »pflanzenhafte[] Stummsein« (175) Ottilies wie Jula Cohns77 wird Benjamin zum Ausdruck erotischer Anziehungskraft einer ›femme fragile‹: »Wie das sexuelle Leben des Menschen der Ausdruck einer natürlichen Schuld werden kann, so sein geistiges, bezogen auf die Einheit seiner gleichviel wie beschaffenen Individualität, der Ausdruck einer natürlichen Unschuld.« (174) Unschwer ist auch hier wieder die immer begehrte Jula Cohn zu erkennen – Benjamins (inzwischen) unerreichbar gewordene Jugendliebe. Mit kritischen Blick auf Goethes Selbstäußerungen zu den Wahlverwandtschaften und im Rückgriff auf Bettine v. Arnims Briefwechsel mit einem Kinde, in dem die Wahlverwandtschaften als ›Grabesurne‹ tituliert wird, die die »Tränen für manches [V]ersäumte«78 gesammelt hätten, postuliert Benjamin: »Man nennt aber das, dem man entsagte, nicht Versäumtes.« (145) Benjamin macht die Angst (vor dem Tod, vor der Verantwortung) als Movens Goethischer Produktivität wie Katalysator der Wahlverwandtschaften aus: »Die Angst vor Verantwortung ist die geistigste unter allen, denen Goethe durch sein Wesen verhaftet war. [...]. Sie ist die Wurzel der Versäumnis in seinem erotischen Leben. Daß sie auch seine Auslegung der Wahlverwandtschaften bestimmte ist gewiß.« (154) Mit diesen Worten charakterisiert Benjamin sich und sein Verhältnis zu Jula Cohn in der Analyse von Goethes Wahlverwandtschaften, die weniger den Ehe- als vielmehr den Todes-Diskurs fokussieren. Analytischer Literaturkritik, wie sie im Wahlverwandtschaften-Essay geübt wird, kommt somit die Funktion eines Selbstverständigungsmediums zu: Literaturkritik überführt das Liebesverhältnis des Lesers zur Literatur in Verhältnisse, die der Eheschließung Liebender parallel zu setzen sind (vgl. auch Salonia 2011: 105 f.).
77 | Vgl. Benjamin, Berliner Chronik [1932] (GS VI: 493). 78 | J. W. Goethe an B. v. Arnim, Br. v. 5.2.1810 (Arnim 1835: 323).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Zudem eignet der Kritik, wie sie Benjamin in Absetzung zu Gundolfs geistesgeschichtlicher Methode im Wahlverwandtschaften-Essay vehement postuliert (dieser leiste »die rechtskräftige Aburteilung und Exekution des Friedrich Gundolf«),79 eine biographische Funktion: Benjamin empfand Gundolf als Rivalen in Beziehung auf Jula Cohn.80 1926 schreibt er an Jula Cohn: Ich denke hier viel an Dich und vor allem wünsche ich Dich oft in mein Zimmer [...]. Nun hast Du also [...] Gundolfs und meinen Kopf [als Porträtköpfe aus Wachs] auf Deinen Schloßzinnen [gemeint ist der Kaminsims] aufgepflanzt. [...] Vielleicht erzählst Du mir nun aber doch etwas von Gundolfs Tagen in Berlin (ich bin natürlich nicht unverschämt genug, um Vertraulichkeiten Dich anzugehen und bitte nur in aller Bescheidenheit um ein paar schöne Lügen).81
Die Aburteilung des Goethe-Interpreten Gundolf hat noch eine andere Ursache: Benjamin kann dessen biographisch interpretierenden Arbeiten nicht in seine Lektüre der Wahlverwandtschaften integrieren, ohne sein Konzept von Kommentar und Kritik preiszugeben (161).82 Daher geht Benjamin zum Gegenangriff über, indem er Gundolfs Interpretation einer Kritik unterzieht, in der er als ›Swiftscher Gulliver‹ an einem einzigen »Zwergensätzchen« (162) den Nachweis erbringt, dass Gundolfs Interpretation wenig mehr ist als der »blutrünstige Mystizismus« einer »Knallbonboneinlage« (163, vgl. Kaiser 2015: 294). Gegen Gundolfs (Dilthey geschuldete) biographische Interpretation führt Benjamin Georg Lukács’ Theorie des Romans (1916) ins Feld. Lukács zufolge ist der Roman »die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.« (Lukács 1916: 47) Statt den geschlossenen und in sich ruhenden Helden nachzuzeichnen, stellt Lukács (besonders an Goethes Meisters Lehrjahren) die »Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst« in den Mittelpunkt seiner Analyse: Statt ›naturhafter Geschlossenheit‹ reflektiert Lukács die »Komposition des Romans«, d. h. das »paradoxe[] Verschmelzen heterogener
79 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 27.11.1921 (GB II.1: 212). 80 | Zu Gundolfs Goethe-Buch und dessen ungeheuren Erfolg vgl. Isermann 2005: 273 f. Gundolfs ostentativer Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der Goethe-Philologie und seine Aneignung von Goethes Sprachstil (vgl. Kaiser 2015: 302) kommt seinerseits einer Provokation gleich. Sowohl Benjamins als auch Gundolfs Goethe-Interpretation richtet sich letztlich gegen die etablierte Goethe-Philologie, vgl. Greiert 2011: 110–128. 81 | W. Benjamin an J. Cohn, Br. v. 30.4.1926 (GB III: 151). 82 | Bereits 1917 notiert Benjamin in einem Fragment gebliebenen Kritik von Gundolfs GoetheBuch, dass es das »Leiden« nicht ausreichend berücksichtige (Benjamin, Bemerkung über Gundolfs »Goethe« [1917], GS I.3: 827)
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und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik« (Lukács 1916: 73, vgl. Janz 1978). Indem er den Tod und nicht die Ehe sowie die Analyse der eingebetteten Novelle in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, folgt Benjamin Lukács’ hermeneutischen Vorgaben. Er zeigt Brüche auf, statt Brechungen zu kitten und löst so eine bislang verborgene Lesart aus dem zergliederten Text: »Wie der Tod die Leiche, so entblößt der Jüngling in der Novelle die Geliebte. Sein Schauen aber wird Kontemplation, das den anderen ›erkennt‹. Schließlich kommt auch der Sprache des Kritikers dieselbe Wahrheit stiftende Kraft zu« (Witte 1976: 82). Der Andere ist nicht nur der Text, der als Antagonist des Kritikers fungiert, sondern auch der potentielle wie der reale Leser – sei er Interpret oder Kritiker. Wenn Benjamin in den Wahlverwandtschaften den Tod als das »höchste sinntragende Element« (Witte 1976: 120) herausstellt; wenn er als Analytiker die eigene Befindlichkeit, die eigene Gegenwart zum Erkenntnismovens des kritisierten Werkes erhebt – dann betreibt er Kritik als »Mortifikation der Werke«83 in der selben Weise, wie sich der Tod zum Leben verhält. All dies enthält das bereits eingangs zitierte Bild vom Scheiterhaufen, das Benjamin an den Anfang des Wahlverwandtschaften-Essays stellt, um sein Vorgehen methodisch zu begründen: Indem Benjamin als Kritiker die historisch gewordenen Sachgehalte biographisch rückbindet (»verbrennt«), kann er den lebendigen Wahrheitsgehalt darstellen. Liebe und Töten gehen folglich im Modus der literarischen Kritik ein dialektisches Verhältnis ein. Ausformuliert wird diese von der Benjamin-Forschung ›allegorisch‹ genannte Form der Kritik im Trauerspielbuch – das werde ich nun nachzeichnen. Die allegorische Kritik kommt einer Vernichtung der seit der Goetheschen Kunstperiode vorherrschenden symbolischen Literaturauffassung gleich (vgl. Witte 1976: X). Benjamins Textgestaltung- und Analyseverfahren stellt Zitat und eigene Betrachtung unmittelbar und autorativ hintereinander. Hierbei handelt es sich – im Trauerspielbuch findet diese Anordnung ihren Höhepunkt (vgl. Witte 1976: 107 ff.) – keineswegs um Praktiken der traditionellen Literaturauslegung; »das Ensemble Zitat – theoretische Feststellung ist vielmehr nach Art eines barocken Emblems gebildet«, wird doch das literarische Werk »zerstückelt, und der Kritiker stellt die so entstandenen Bruchstücke in einen neuen, von ihm geschaffenen Kontext ein« (Witte 1976: 125). Auch im Trauerspielbuch konzentriert sich Benjamin – wie schon in seiner Lektüre der Wahlverwandtschaften – auf die Funktion des Todes: das allegori-
83 | W. Benjamin an F. Ch. Rang, Br. v. 9.12.1923 (GB II: 393). Vgl. auch Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 357). Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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sche Verfahren, das im Goethe-Essay noch implizit geübt wurde, bestimmt nun die Verfahrensweise.84 Mittel seines Vorgehens ist die »Zerlegung der Ideen in begriffliche Elemente« (Witte 1976: 115), der »allegorische Tiefblick«, der »Stück für Stück, Glied für Glied« (352) analysiert. Als solche fasst Benjamin in Entgegensetzung von Trauerspiel und Tragödie die Bedeutung bzw. Funktion der Zeit. Der Tod des Helden im barocken Trauerspiel durchbricht den Zeitablauf eben nicht; vielmehr ist sein Tod »wiederholbar« (316) und bedeutungsstiftend (nicht bedeutungszerstörend). Das Dasein, vom Lebensende her als »Trümmerfeld« betrachtet, steht unter der Prämisse nicht nur der Sterblichkeit, sondern des Todes: »Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben.« (392) Der Tod – solchermaßen als Ursprung aller Bedeutung verstanden – berechtigt den Kritiker Benjamin, seinen Gegenstand zunächst zu konstruieren, indem er darauf verweist, dass die Allegoriker den Leib (bei Benjamin: den Text) zergliedern, um ihn ihren Intentionen einzufügen. Der Kritiker lässt (wie der Allegoriker) die Bruchstücke der aus ihrem organischen Zusammenhang gelösten Werke in neuen Konfigurationen zusammentreten und »rettet« sie dadurch.85 Gewaltsam ist dieses Lektüreverfahren nur auf den ersten Blick – Benjamin sieht es vielmehr in allegorischen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts vorgebildet: Trauerspiele seien »von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte.« (357) Kritik vollendet also nicht das vorklassische allegorische Kunstwerk, sondern ist selber ein Kunstwerk, wenngleich im nachklassischem Sinne. Darüber hinaus ist Kritik, wie sie Benjamin im Rahmen seiner ›literaturwissenschaftlichen‹ Untersuchungen übt, Sektion der Analyse, Kritik der Kritik. Seine polemisch anmutenden Ausfälle richten sich gegen diejenigen unter seinen Kollegen, die – in der Nachfolge der Wiener Schule der Kunstgeschichte (Alois Riegl und Heinrich Wölfflin) – die geistesgeschichtlich geprägte Stilgeschichte auf die literarische Formanalyse zu übertragen versuchen.86 Dieser verhängnisvollen pathologischen Suggestibilität, kraft welcher der Historiker durch ›Substitution‹ an die Stelle des Schaffenden sich zu schleichen sucht, als wäre der, weil er’s gemacht,
84 | Bereits in seinem wohl 1916 entstandenen und unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie (GS II.1: 137–140), von H. v. Hofmannsthal als Keimzelle des Trauerspielbuchs erkannt (vgl. W. Benjamin an H. v. Hofmannsthal, Br. v. 30.10.1926, GB III: 209), setzt sich Benjamin mit dem Barocksujet auseinander. 85 | Am ausdrücklichsten in den Entwürfen zu den Geschichtsphilosophischen Thesen [1939] (GS I.2: 703; GS I.3: 1245, 1250). 86 | So versuchte etwa der von Benjamin kritisierte Oskar Walzel in seinem Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1923) kunsthistorische Begriffe auf die Literaturwissenschaft zu übertragen, vgl. dazu Kluge 1977.
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Kritischer Kannibalismus auch der Interpret seines Werkes, hat man den Namen der ›Einfühlung‹ gegeben, in dem die bloße Neugier unterm Mäntelchen der Methode sich vorwagt. (234)
Benjamin lastet dieser geistesgeschichtlichen Ausrichtung ihren universellen Erklärungsanspruch an und legt mit dem Trauerspielbuch ein Gegenprogramm vor, das sich nicht durch den »geile[n] Drang aufs ›Große Ganze‹«,87 sondern durch Verzicht auf den »Anblick der Totalität« (237) auszeichnet. Diese von Benjamin ›rettend‹ genannte Form der Kritik hat er in seiner späten zentralen Abhandlung Über den Begriff der Geschichte (1939) explizit formuliert – sie tritt aber auch schon im Trauerspielbuch als Historismuskritik zutage. Benjamins Rettungsbegriff zielt auf die Erinnerung dessen, »was in der Geschichte gerade nicht eingelöst wurde« (Pfotenhauer 1975: 13).88 Geschichte stellt sich im Rahmen der Theorie der barocken Allegorie als »Vorgang unaufhaltsamen Verfalls« (353) dar. Geschichtliche Gegenstände haben keine Bedeutung an sich, vielmehr verleiht der Allegoriker wie der Kritiker ihnen erst Bedeutung (350). Benjamin begründet seine Auffassung von Kritik aus dem Wesen der Allegorie heraus, die Bedeutung festschreibe, statt diese der ›profanen Welt‹ zu entnehmen (350 f.). Zeit und damit Geschichte erscheint daher als per se bedeutungslos – Benjamin macht die »Katastrophe als das Kontinuum der Geschichte«89 aus: »Die absolute Willkür des Allegorikers herrscht unumschränkt über die Phänomene und diktiert ihnen ihre Bedeutung.« (Witte 1976: 130) Benjamin, dem alle Terminologisierung suspekt ist und der am je neuen Gegenstand die einmal gebrauchten Begriffe neu entfaltet, hatte noch am Ende seiner Dissertationsschrift insistiert, dass »der Stand der deutschen Kunstphilosophie« mit seiner Unterscheidung von lebendigem Symbol und toter Allegorie »legitim« sei.90 Im Trauerspielbuch nun unternimmt Benjamin die Rettung der Allegorie, indem er seine bisherigen Ausführungen zur Sprache, zur Theologie u. a. zusammenzieht. Seine kritische Annäherung an die als Epoche des Barock in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangenen Werke aus annähernd zwei Jahrhunderten verzichtet auf die Herausstellung einzelner Dichterpersön-
87 | Benjamin, Wortkunstwerk [Rez., 1926] (GS III: 51). 88 | Zum Komplex ›rettende Kritik‹ und ›Erinnerung‹ vgl. Schwarz 1981. 89 | Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen [1939] (GS I.3: 1244). 90 | Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften [1924] (GS I.1: 117).
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lichkeiten,91 und stellt stattdessen die »Beschäftigung mit der[] Formenwelt« als den »einzige[n] Zugang zu dieser Dichtung«92 heraus. Benjamins Verfahren, aus den analysierten Texten Zitate herauszubrechen, macht sein Buch bis heute in gewissem Maße für die akademische Literaturwissenschaft unbrauchbar – ist aber Zergliederung des Textes nicht weniger als geübte allegorische Kritik. Der Allegoriker – Benjamin zeichnet ihn faustisch als Typus des Mittelalters (christlicher Melancholiker) und der Moderne (den Schein durchbrechender Intellektueller) zugleich (345, 33, 404) – steht nicht weniger als der Kritiker am »Abgrund des bodenlosen Tiefsinns« (404). Hier zeichnet Benjamin ein Bild seiner eigenen Befindlichkeit als Kritiker, der Literatursichtung im Zeichen der Allegorie betreibt. Sein Verfahren – Bruchstücke mit Bedeutung aufzuladen, nachdem er sie aus dem Organischen herausgeschlagen hat – ist ebenso allegorisch wie kritisch: allegorisch ist die »Chiffre des Zerstückelsten, Erstorbensten, Zerstreutesten« (406), kritisch ist die »Ergründung der Trauerspielform« (234) trotz der projektierten, aber nie ausgeführten abschließenden »methodischen Gedankengänge über ›Kritik‹«,93 das »[d]as allegorische Kunstwerk die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich«94 trage. Die Kunstwerke erschließen sich »allein der Kritik«,95 die um die Geschichtlichkeit der Kunst weiß und sie nicht symbolisch in Schönheit verklärt, sondern als in vieldeutige Verweiszusammenhänge eingebettete Allegorie begreift (259). Die durch die historische Fundierung der Idee in den Werken und Formen der Kunst ermöglichte Mortifikation der Werke bereitet zugleich ihre »Neugeburt« (358) vor: in der kritischen Darstellung erwachen die geschichtlichen Gehalte und damit das Werk zu neuem Leben. »Verwandlung des Kunstwerks in einen neuen, philosophischen Bereich« (GS I.3: 919) hat Benjamin als Ziel des kritischen Verfahrens im Zeichen der Allegorie in den Notizen zum Trauerspielbuch genannt.
91 | Wie etwa Gundolf 1927 in seiner Studie zu Andreas Gryphius und 1932 Richard Alewyn in seiner Studie zu Johann Beer. 92 | In seiner Kritik des oben erwähnten Gryphius-Buch Gundolfs, Benjamin, Porträt eines Barockpoeten [Rez., 1928] (GS III: 87). 93 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 6.4.1925 (GB III: 26). 94 | Benjamin, Exposé zum »Trauerspielbuch« [1928] (GS I.2: 952). 95 | W. Benjamin an F. Ch. Rang, Br. v. 9.12.1923 (GB II: 393).
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6. K APITEL : V ERZEHRENDE K RITIK Man nennt sie [die Rezensenten] aber gemeiniglich die Schmeckherren oder Geschmackherrn, weil sie vorher jedes Buch kosten und nachher den Leuten sagen, ob es ihnen schmecken werde. Jean Paul, Siebenkäs (1795)
Lieben und Töten sind miteinander verbunden. In der Metapher des Essens – genauer: des Einverleibens – konvergieren die scheinbaren Gegensätze.96 Das Einverleiben von Speisen zwecks sinnhafter Erkenntnis (aisthesis) hat als Metapher für literarische Aneignungsprozesse eine unleugbar lange Tradition (vgl. Gen 3:6). Zugleich baut die Metapher des Essens auch eine Brücke zur Metapher des Tötens, schreibt doch Walter Benjamin in einem Kommentar zu Gedichten Brechts 1939: »Der Esser steht […] für den Zerstörenden. Essen heißt nicht nur sich nähren, es heißt zubeißen und zerstören. Die Welt vereinfacht sich ungeheuer, wenn sie nicht so sehr auf ihre Genießbarkeit als auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird.« (GS II.2: 553 f.) Zugleich erhellt die Metapher des Essens den öffentlichen Charakter der publizistischen Literaturkritik: Kritisieren ist eine gesellige Kunst. Auf das Urteil des Rezensenten pfeift ein gesunder Leser. Aber was er im Tiefsten goutiert, ist die schöne Unart, uneingeladen mitzuhalten, wenn der andere liest. Das Buch auf solche Weise aufzuschlagen, so daß es winkt wie ein gedeckter Tisch, an dem wir mit all unseren Einfällen, Fragen, Überzeugungen, Schrullen, Vorurteilen, Gedanken Platz nehmen, so daß die paar hundert Leser (sind es so viele?) in dieser Gesellschaft verschwinden und gerade darum sich’s wohl sein lassen – das ist Kritik. Zumindest die einzige, die dem Leser Appetit auf ein Buch macht. (Benjamin, Neues von Blumen [1928], GS III: 151)
Benjamin geißelt – nicht ohne Ironie – den zeitgenössischen »Romanbrei«, durch den dem Kritiker »die Zähne locker geworden sind« und fordert Literatur, an der der Kritiker zu kauen hat.97 Das Verschlingen von Romanen und die »Wollust der Einverleibung«,98 die »Maßlosigkeit des Verlangens« im »Fraße«, die »Flut der Gier«,99 formieren die diskursive Praxis des Essens.100 Innerhalb
96 | Vgl. das Lemma »freszlieb« in Grimm IV: Sp. 139. 97 | Benjamin, Chrut und Uchrut [Rez., 1931] (GS III: 300). 98 | Benjamin, Kleine Kunst-Stücke [1929–1933] (GS IV.1: 436). 99 | Benjamin, Denkbilder – Essen [1930] (GS IV.1: 374 f.). 100 | Benjamin, Dienstmädchenromane des vorigen Jahrhunderts [1929] (GS IV.2: 622). Zum Zusammenhang von Empirie und Abstraktion vgl. Benjamins ideengeschichtskritische Bemerkung: »in Ideen sind die Phänomene nicht einverleibt« (Benjamin, Trauerspielbuch [1928], GS I: 214), die den Einverleibungsdiskurs begrifflich durchkreuzt.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
dieses Diskurses kommt dem Begriff der Erfahrung bei Benjamin eine herausgehobene Bedeutung zu. Erfahrung und Erkenntnis sind – in Anlehnung an Kant – bei Benjamin eng miteinander verknüpft,101 Erkenntnis wird gar zur Bedingung der Erfahrung. Gleichzeitig garantiert die Erinnerung (das ›Eingedenken‹)102 die »handwerkliche« Handhabe der Erfahrung.103 Das Lektüregedächtnis bildet den Hintergrund für die Arbeit Benjamins als Literaturkritiker: Der Leser blickt dem Kritiker bei der Lektüre gleichsam über die Schulter, wenn er dessen Rezensionen liest.104 In seinen Literaturkritiken zeichnet Walter Benjamin seine Spur des Lesens nach, gewährt dem Leser Einblick in seine ›Karte(n)‹. Das lässt sich besonders durch Lektüre seiner Kritiken, Charakteristiken und Physiognomiken nachvollziehen. Diese Erfahrung von Lektüre ist jedoch nie zeitlos – ihre Zeitgebundenheit macht sogar wesentlich ihre Qualität aus: »Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.«105 Das Gedächtnis einerseits und das Bewusstsein und -machen der Zeitgebundenheit der Lektüre andererseits sind die Qualitäten des Benjaminschen Erfahrungsbegriffes, der sich in den Literaturkritiken verwirklicht. Unter Berücksichtigung des Erfahrungs- und des sich daraus ergebenden Lektürebegriffs kann festgehalten werden, dass der Einverleibungsdiskurs in seiner produktionstechnischen Ausrichtung den Literaturkritiker befähigt, sich – das ist die Aufgabe des Kritikers (1931) – »zu erkennen [zu] geben« (GS VI: 171), besprochene Werke nicht in einem kommentar- und geschichtslosen Raum stehen zu lassen, sondern in ihnen die Spur der eigenen Lektüre nachzuzeichnen. Dem Moment des Essens kommt aber noch eine viel weiter reichende Bedeutung zu. Jenes dem Trauerspielbuch entnommene und oben bereits angeführte benjaminsche Apodiktum der Mortifikation der Werke birgt – konsequent zu Ende gedacht – noch einen anderen Gesichtspunkt: Dem Kritiker Walter Benjamin ist es mit einer »Abtötung« der Werke nicht getan, vielmehr beginnt dann erst die eigentliche Arbeit des Literaturkritikers: eine »Ansiedlung des Wissens« in den »abgestorbenen Werken«, mithin eine »Neugeburt« (GS
101 | Vgl. Benjamin, Über das Programm der kommenden Philosophie [1918] (GS II.1: 162–163). 102 | Benjamin, Passagenwerk [1927 f.] (GS V.1: 588). 103 | Benjamin, Passagenwerk [1927 f.] (GS V.2: 962). 104 | Der Kritiker Benjamin kann vom Erzähler Benjamin stellenweise nicht mehr unterschieden werden (vgl. Asman 1992: 253). 105 | Benjamin, Gottfried Keller [1927] (GS II.1: 290).
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I.1.: 358). Der Kritiker muss die eigene Lektüre in einem Urteil bündeln und als Rezensent selbst produktiv werden, dem Leser eine ›schmackhafte‹ Kritik servieren. Erst mit vollzogener Metamorphose ist der Einverleibungsprozess abgeschlossen. Die Lektüre ist Teil der eigenen Lesespur, des eigenen Gedächtnisses, mithin: des eigenen Leibes geworden – hat sich gleichsam eingeschrieben. So wird denn auch jene apodiktische Forderung Benjamins als Aufgabe des Kritikers verständlich, demzufolge der Kritiker »[i]m Idealfalle vergißt [...] zu urteilen.« (GS VI: 172) Erst nach Darlegung seines »subjektive[n] Standpunkt[es]« (GS VI: 170) – jenes Stadium der Literaturkritik, das ich mit ›Lieben‹ bezeichnet habe – kann eine solche Forderung Sinn ergeben.
Wahl und Verwandtschaft: Friedrich Schlegel Ein Kritiker ist ein Leser, der wiederkäut. Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente (1797)
Benjamins Ringen um eine theoretische Grundlegung der literaturkritischen Praxis reicht bis in die frühen dreißiger Jahre zurück. Nach dem Scheitern der Habilitation und damit schwindenden Aussichten auf eine akademische Karriere war Benjamin gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit Tageskritik für die Feuilletonseiten der größeren Tageszeitungen zu verdienen.106 Diesem Zwang gewann Benjamin jedoch Erkenntnisse ab, die in Form vielschichtiger Reflexionen Eingang in sein Schreiben gefunden haben. Zu nennen sind hier an erster Stelle die Fragment gebliebenen Ausführungen zur Aufgabe des Kritikers, die einen nie zustande gekommenen Essayband Benjamins mit Beiträgen zur Literaturkritik einleiten sollten – ähnlich dem Essay Die Aufgabe des Übersetzers (1921), der Benjamins Baudelaire-Übertragungen voransteht. Flankiert werden sollte der Kritiker-Essay u. a. durch die Kraus-Kritik und die Studie über den Sürrealismus.107 Benjamins Ansage, die Kritik müsse sich ein Programm zugrunde legen, welches »nicht anders als politisch-revolutionär sein kann«,108 bedeutet weniger einen Wechsel als vielmehr eine Zuspitzung seiner bisherigen Konzeption von
106 | Ähnlich wie G. E. Lessing, der sich nach der gescheiterten Bewerbung als Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek zu Berlin (als Zweitplatzierter nach J. J. Winckelmann) verstärkt der Literaturkritik widmete. 107 | Zur Entstehungsgeschichte vgl. Scholem 1975: 208 u. 212. Vgl. auch GB III: 437 (v. 14.2.1929 an G. Scholem), 503 (v. 20.1.1930 an G. Scholem), 521 f. (v. 25.4.1930 an G. Scholem). Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen in Kaulen 1990. 108 | Benjamin, Die Aufgabe des Kritikers [1930] (GS VI: 177). Mit Seitenzahl im Text zitiert.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Kritik. Die Nähe seiner eigenen Ausführungen rückt dabei in die Nähe von Schlegels Einleitung zu Lessings Werken titels Vom Wesen der Kritik (1804, KFSA I.3: 51–60). Benjamins Exzerpte zu Johann Georg Hamann und Goethe (GS VI: 733) stellen seine Ausführungen in den Traditionszusammenhang der frühromantischen Kunstkritik, der er sich bereits in seiner Dissertationsschrift ausführlich gewidmet hat, der nun jedoch neuerliche Relevanz zukommt. Bereits im November 1918 konturiert Benjamin in einem Brief an Ernst Schön die genetische Verbindung zwischen der romantischen Literaturkritik und der gegenwärtigen.109 Benjamin stellt seine eigenen literaturkritischen Einlassungen in eine Traditionslinie mit jenen Schlegels, der sich einerseits auf den literaturkritischen Polemiker Lessing beruft und andererseits beansprucht, die deutschsprachige Literaturkritik begründet zu haben.110 Keinesfalls jedoch handelt es sich darum, für die eigene Gegenwart die frühromantische Kunstkritik wiederzubeleben. Vielmehr geht es darum, sie zum Ausgangspunkt für eine Reflexion auf die theoretischen und philosophischen Prämissen der gegenwärtigen Literaturkritik zu machen (Ferris 2002: 181). Ausgehend von Hamanns und Schlegels Verdikt vom Niedergang der Literaturkritik führt Benjamin seine Überlegung zum »Tiefstand der Literaturkritik« aus:111 dieser sei einer fehlenden politischen Positionierung der Kritiker geschuldet, die das Medium der Kritik nutzen, um die eigene Meinung und Person herauszustellen, statt eine konzise Lektüre bei gleichzeitiger Offenlegung ihrer politischen Präferenzen zu leisten: »Diese Bestimmtheit, die die Figur des Kritikers hat, soll [...] möglichst keine private, sondern eine sachlichstrategische sein. Man soll vom Kritiker wissen: wofür steht der Mann. Er soll es zu erkennen geben.« (171) Gleichzeitig – und völlig im Gegensatz zu Benjamins Forderung nach Klarheit – steht sein metaphorischer Sprachgebrauch: frühromantische Literaturkritik sei ›zauberisch‹, der Kritiker gleiche dem Alchemisten.112 Benjamin übernimmt damit eine Bestimmung des Literaturkritikbegriffs von Friedrich Schlegel.113 Darüber hinaus – und darin sieht Benjamin neben der Exponiertheit des Kritikers die zweite Ursache des Niedergangs – halte die Literaturkritik in ihren Bewertungsmaßstäben an der symbolischen Ästhetik des deutschen Idealismus
109 | W. Benjamin an E. Schön, Br. v. 8./9.11.1918 (GB I: 486 f.). 110 | Schlegel deutet dazu Lessing als Begründer der romantischen Kunstkritik, vgl. Müller-Funk 2007: 101 ff.; vgl. Schenk-Lenzen 1991: 7 f. 111 | Benjamin, Tip für Mäzene [1929] (GS VI: 168). 112 | Benjamin, Begriff der Kunstkritik [1920] (GS I.1, S. 126). 113 | Schlegel, Athenäums-Fragmente [1797–98] (KFSA I.2: 241).
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fest, der aber längst überwunden sei.114 Eine moderne Theorie der Literaturkritik müsse zur Einsicht kommen, dass die aesthetischen Kategorien (Maßstäbe) samt und sonders außer Kurs gekommen sind. Sie können auch durch eine noch so virtuose ›Entwicklung‹ der alten Aesthetik nicht hervorgebracht werden. Vielmehr ist der Umweg über eine materialistische Kritik nötig, der die Bücher in den Zusammenhang der Zeit einstellt. Ein[e] solche Kritik wird dann zu einer neuen, bewegten, dialektischen Aesthetik führen. (166)
Entgegen hergebrachter (marxistischer) Interpretationen begründet also laut Benjamin das Denken das Sein insofern, als dass eine neufundierte Kritik die Voraussetzung für eine erneuerte Ästhetik erst schafft. Die Positionierung des Literaturkritikers in der Öffentlichkeit wäre dann ein zutiefst politischer Vorgang; der »Stratege im Literaturkampf« (IV.1: 108) nähme eine richtungsweisende Funktion wahr.115 Dazu allerdings muss Benjamin die polemische von der exegetischen Kritik zunächst scheiden: erstere richtet im Rahmen der politischen Strömungen wie der geistigen Schulen das Material, indem sie als Polemik und unter Rückgriff auf die destruktiven Energien der frühromantischen Kunstkritik116 die Vorstellung einer ästhetischen Autonomie erschüttert. Der ›Literaturkampf‹ deckt so – analog zum Klassenkampf – die Zusammenhänge bestimmter Gruppen und Zirkel auf.117 Hingegen kann die exegetische Kritik »als eine, die ihre Maßstäbe im Werk improvisiert, zu einzelnen glücklichen Resultaten führen.« (166) Bereits Schlegel verwirft im Lichte der gustatorischen Metaphorik die exegetischkommentierende Kritik als »Noten zu einem Gedicht«, die sich »wie anatomische Vorlesungen zu einem Braten« verhielten.118 Indem die kommentierende Kritik sich von sozialen wie rezeptionslenkenden Hintergründen löst und mit einem »Minimum von Kritik« (169) auskommt, stellt sie die Antithese zur Polemik, die mit einem »Minimum von Darstellung« (169) auskommt. Beide Formen der Kritik – destruktive wie exegetische – treten letztlich zur »Überwindung der Antinomien in der Kritik« (169) zusammen: »Erst in diesem Stadium ist das Werk vollkommen kritisierbar und unkritisierbar zu-
114 | Bereits im Trauerspielbuch (1928) hatte Benjamin durch Aufwertung der Allegorie eine antiklassische Kunstphilosophie zu begründen versucht, vgl. GS I: 336 f. Vgl. Nägele 1991. 115 | Bzgl. Benjamins ideeller Nähe zu trotzkistischen Positionen vgl. Fähnders 1997: 179–182. 116 | Vgl. Schlegel, Rezension von Schillers »Horen« [1796] (KFSA I.2: 13 f.) sowie Schlegel, Abschluss des Lessing-Aufsatzes [1797] (KFSA I.2: 411, 413 f.). 117 | Benjamin verfährt etwa in seiner Kritik des George-Kreises (vgl. Benjamin, Wider ein Meisterwerk [Rez., 1930], GS III: 252–260) oder in seiner Jünger-Rezension (Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus [Rez., 1930], GS III: 238–250) in seinem Sinne ›destruktiv‹. Vgl. Luhr 2002. 118 | Schlegel, Athenäums-Fragment 40 [1798] (KFSA I.2: 171).
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gleich.« (169 f.) Im Idealfall vergesse der vollendete Kritiker zu urteilen (172); getreu dem schlegelschen Movens literarischer Kritik vollzieht der Kritiker »einzig die dem Werk inhärente Reflexion und führt es damit zur Selbsterkenntnis« (Kaulen 1990: 323). Literaturkritik ist nach Walter Benjamin zu verstehen »als philosophische Explikation des Wahrheitsgehaltes eines ästhetischen Gebildes, zwanglos aus dessen Studium und Strukturanalyse, ohne daß es noch der Verkündigung eines klassifizierenden Urteils bedarf.« (Kaulen 1990: 323) Schlegels Wilhelm-Meister-Rezension bildet das vielbewunderte Vorbild dieser Explikationen. Dort heißt es: Vielleicht sollte man es [das Werk, Goethes Wilhelm Meister] also zugleich beurteilen und nicht beurteilen; welches keine leichte Aufgabe zu sein scheint. Glücklicherweise ist es eben eins von den Büchern, welche sich selbst beurteilen, und den Kunstrichter sonach aller Mühe überheben. Ja es beurteilt sich nicht nur selbst, es stellt sich auch selbst dar. (KFSA I.2: 133 f.)
Benjamin entwickelt nun die Schlegelsche Theorie der Literaturkritik entscheidend weiter, wenn er die soziale Bestimmung von Autor und Publikum fordert und zum Maßstab der Kritik erhebt: »Gute Werke muß man aus sich (den Werken) heraus, schlechte aus ihrem Publikum kritisieren.«119 Zudem führt Benjamins Feststellung, dass die zeitliche Distanz den schönen Schein der Kunstwerke selber zerstöre und damit ihre Kritik vorbereite120 wesentlich über die im Gedanken der ›Vollendung‹ befangene romantische Kritik hinaus. Die von Benjamin eingeforderte Form der Literaturkritik tritt als »autoritä121 re« auf: »Es gibt kein Ende der Autorität als dieses: sie stirbt oder sie enttäuscht.«122 Deshalb fordert Benjamin vom Kritiker und für die Literaturkritik Mut: »Der Polemiker setzt seine Person ein.« (175) Dazu bedarf es Kraft: »Je stärker ein Kritiker ist, desto intensiver kann er die ganze Person seines Gegners[,] bis in die Einzelheiten der Physiognomie hinein, verarbeiten.« (163) Die von Benjamin zum Programm erhobene Gegnerschaft von Kritiker und Literat verabschiedet endgültig die Schlegelsche Utopie – denn um nichts anderes handelt es sich – der Vollendung der Dichtung durch den Kritiker.123 Vielmehr verleibt sich der ideal gedachte Typus des Kritikers Werk wie Person ein, indem er sie autoritär – d. h. historisch-politisch wie philosophisch kompetent – nach ihren »literarischen und politischen Verhältnissen« (343) auslegt und einordnet. Benjamins Aufteilung von Literaturkritik in eine destruktive und eine exegetische Richtung sowie ihre Synthese zur Begründung der ›wahren Kritik‹ hat
119 | Benjamin, Studien zur Kritik [1930 f.] (GS VI: 744). 120 | Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik [1920] (GS I.1: 125–128). 121 | Benjamin, Kommentare zu Gedichten von Brecht [1939] (GS II.2: 539). 122 | Benjamin, Karl Kraus [1931] (GS II.1: 343). 123 | Schlegel, Eisenfeile [1797] (KFSA I.2: 410).
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ihre Ursache in den Produktionsbedingungen Benjamins zu Beginn der 30er Jahre: nicht alleine hatte die Wirtschaftskrise seinen Eltern, die ihn nach dem Scheitern der Habilitation unterstützten, massiv zugesetzt – auch die Publikationsmöglichkeiten werden durch innenpolitische Grabenkämpfe erschwert: Die Wirtschaftsordnung Deutschlands hat soviel festen Grund wie die hohe See und die Notverordnungen überschneiden sich wie die Wellenkämme. Die Arbeitslosigkeit ist im Begriff, die revolutionären Programme genau so antiquiert zu machen wie es mit den wirtschaftspolitischen bereits geschehen ist. [...] die Kommunisten haben bisher den notwendigen Kontakt mit diesen Massen und damit die Möglichkeit einer revolutionären Aktion nicht gefunden.124
Im Forum der Literaturkritiken widerspricht Benjamin der von Karl Mannheim geäußerten These der ›sozial freischwebenden Intelligenz‹ und betont statt dessen die soziale und ökonomische Abhängigkeit der Intellektuellen:125 »damit aber bekommt sein [Benjamins] Text eine ganz neue Funktion. Er soll nicht mehr kulturelle Information über ein literarisches Phänomen vermitteln, sondern den Leser zur Reflexion über seine gesellschaftliche Lage anregen.« (Witte 1976: 157) Dass es sich hier keinesfalls um eine ›Hinwendung‹ Benjamins zum Kommunismus handelt, sondern vielmehr Benjamin Übereinstimmungen zwischen seinem Begriff von Literatur und Kritik mit linken Positionen ausmacht, ohne sich von diesen vereinnahmen lasse zu wollen, bedarf eigentlich keiner eigenen Erläuterung.126 Benjamin betont, dass ihm Koinzidenten zwischen seinen eigenen und Lukács’ Positionen aufgefallen seien, dass er während der Lektüre von Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) »zu Sätzen kommt, die mir sehr vertraut oder bestätigend sind«.127 Benjamins ab 1926 entstandenen Rezensionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einlösen, was Benjamin in Der Autor als eroduzent fordert: »Seine [des Autor-Produzenten] Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter ei-
124 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 3. 10. 1931 (GB IV.1: 53). 125 | Benjamin, Bücher, die übersetzt werden sollten [Rez., 1929] (GS III: 174–176). 126 | Im Zuge der Benjamin-Rezeption um 1968 wurde v. a. der linksintellektuelle Benjamin ›entdeckt‹ – bei gleichzeitiger Vernachlässigung seiner Abgrenzungsbemühungen und seiner ›esoterischen‹ Fundierung (sowie seiner Begeisterung für den Konservativismus), vgl. für eine Neubewertung Garber 2005: 175. 127 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 16. 9. 1924 (GB II.2: 483). »Angesichts dieses Verlustes des eigenen Rollenverständnisses haben die jungen linksgerichteten Intellektuellen der Weimarer Republik – und mit ihnen Benjamin – Georg Lukács’ 1923 erschienenes Buch Geschichte und Klassenbewußtsein als Epoche machende Neudefinition ihres sozialen Auftrags begrüßt.« (Witte 1976: 151).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
ne organisierende Funktion besitzen.«128 Die infolge dieser Einsichten Benjamins entstehende »Kritik für Literaten« (Witte 1976: 146) steht ganz im Zeichen einer Selbstverständigung, die organisierend wirken will. Benjamins vordringlichstes Ziel ist die »Politisierung der eigenen Klasse«129 im Medium der Literaturkritik – hier wirkt nicht nur die Bestimmung des eigenen Standortes, sondern auch die politische Bestimmung des rezensierten Gegenstandes bzw. seines Urhebers klärend. Benjamin dekretiert: »Unverzeihlicherweise hat die revolutionäre deutsche Kritik vor 1930 es unterlassen, den Ideologien eines Gottfried Benn oder eines Arnolt Bronnen die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden.«130 Benjamin geht es keinesfalls darum, im Medium der Literaturkritik ›lenkend‹ oder ›organisierend‹ zu wirken, sondern vielmehr programmatisch die Funktion der Literaturkritik neu zu bestimmen und damit die eigene Position und die Anderer festzulegen: Gegenüber Brecht bemerkt er anlässlich der projektierten Zeitschrift Krisis und Kritik, dass die Aufgabe der Kritik darin bestünde, der bürgerlichen Intelligenz zu zeigen, daß die Methoden des dialektischen Materialismus ihnen durch ihre eigensten Notwendigkeiten – Notwendigkeiten der geistigen Produktion und der Forschung, im weiteren auch Notwendigkeiten der Existenz – diktiert seien. Die Zeitschrift sollte der Propaganda des dialektischen Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen dienen, die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten anzuerkennen genötigt ist.131
Darüber hinaus kommt der Scheidung von destruktiver und exegetischer Literaturkritik aber auch die praktische Funktion zu, Benjamin eines Begründungszusammenhanges für die Vielzahl der gewählten literarischen Formen und Foren zu entheben: Er erhebt die »Vielfalt« der »[k]ritische[n] Verfahrensarten«132 zur Methode, subsummiert die eigene Schaffensweise unter die Form ›eigentlicher Kritik‹. Zugleich leistet diese Explikation von Kritik eine Rettung der bereits früher am Beispiel der idealistischen Ästhetik vollzogenen Trennung von Sach- und
128 | Benjamin, Der Autor als Produzent [1934] (GS II.2: 696). Vgl. »Denn die Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis.« (Lukács 1923: 302). 129 | Benjamin, Ein Außenseiter [Rez., 1930] (GS III: 225). 130 | Benjamin, Pariser Brief I [Rez., 1936] (GS III: 485). Dies umgesetzt zu haben, würdigt die Literaturwissenschaft der DDR am Rezensenten Benjamin, vgl. Hartung 1974: 162. 131 | W. Benjamin an B. Brecht, Br. n. d. 5.2.1931 (GB IV: 15). Brecht formuliert hinsichtlich desselben Projektes mit v. Clausewitz: »die kritik ist so aufzufassen[,] daß die politik ihre fortsetzung mit andere[n] mitteln wäre.« (Brecht, Notizen für Krise und Kritik [1929/30] (zit. n. Wizisla 2004: 296/128). 132 | Benjamin, Studien zur Kritik [1930 f.] (GS VI: 166).
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Wahrheitsgehalt, indem nun gilt, dass die strategische Kritik den historischen Standpunkt des Werkes bestimmt, während gleichzeitig die exegetische Kritik den Sachgehalt bestimmt: »Erst in diesem Stadium ist die Kritik [...] reine Funktion vom Leben, bezw. Fortleben des Werkes.« (170) ›Wahre‹ Kritik ist also ebenso Einsicht in die Geschichtlichkeit der Werke wie philologische Erkenntnis – bindet zusammen, was auseinander zu fallen droht. Benjamin hat unter expliziter Berufung auf seinen Wahlverwandtschaften-Essay das »Eingehn der Wahrheitsgehalte in die Sachgehalte« (174) als Wesenhaft für die Neue Kritik bestimmt. Damit löst Benjamin ein Grundproblem der Literaturkritik, das so schon von Friedrich Schlegel benannt war: die Gleichzeitigkeit von detaillierter Kritik und historischer Einordnung, Mikro- und Makroanalyse (Mettler 1990: 424).
7. K APITEL : K ONSTELLIERUNGEN (Z WISCHENBILANZ ) Benjamin ist einer der populärsten Gegenstände gegenwärtiger Philosophie und Philologie geworden.133 Seine Äußerungen zur Literaturkritik – von Benjamin als grundlegender Versuch einer Erneuerung der Literaturkritik verstanden134 – haben zahlreiche Deutungsversuche evoziert, die die scheinbare ›Hermetik‹ Benjamins und die angeblich ›mangelnde Systematik‹ seiner methodischen Literaturkritik deutend zu beseitigen versuchen. Dabei bewegt sich Benjamin in der Grundlegung seines literaturkritischen Denkens kaum über den von den (Früh)Romantikern gesteckten Zirkel hinaus, aktualisiert ihn aber um entscheidende Momente, doch nicht erst in seiner ›kommunistischen‹ Spätphase. Dass Benjamin keineswegs eine einheitliche Theorie der Literaturkritik mit zeitlosem Gültigkeitsanspruch entworfen hat, dürfte deutlich geworden sein. Dafür sind die verschiedenen Schaffensphasen auch zu different. Ebenso wenig stellen Benjamins Reflexionen eine Philosophie der Literaturkritik dar (Mettler 1990), wenngleich die Dissertation den Versuch unternimmt, Friedrich Schlegels Begriff von Kunstkritik philosophisch weiterzudenken. Benjamins Verständnis von Literaturkritik als theoretisches Modell von kulturellen Textpraktiken ist ein durchaus organisches, ja körperliches. Die drei diskursiven Praktiken – lieben, töten, verzehren – stehen in einem dialogischen (nicht jedoch dialektischen) Verhältnis zueinander. Dieses dialogische Verhältnis ist der von Benjamin angestrebten Unterscheidung von exegetischer und polemischer Kritik, von Sach- und Wahrheitsgehalt, von Kommentar und Kritik
133 | Zur ›postmodern‹ orientierten Benjamin-Rezeption vgl. Assenova 1995. 134 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 20.1.1930 (GB III: 502).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
eingeschrieben.135 Sie verweisen gleichzeitig auf die Legitimation der Herkunftsforschung, indem die nietzscheanische Trennung von ›Gut‹ und ›Böse‹ bei Benjamin eben hier ihre Entsprechung findet, schlussendlich aber aufgelöst wird: Eine Genealogie der Literaturkritik gibt keinen Katalog von literaturkritischen Beurteilungsmaßstäben an die Hand, sondern reflektiert auf zweiter Stufe über das ›Wesen‹ der Literaturkritik; sie zeichnet jene kulturellen Praktiken nach, die die Literaturkritik prägen. Zwar lassen sich die drei unterschiedlichen diskursiven Praktiken, die Benjamins Literaturkritik formieren, abgrenzen und biographisch fundieren. Sie lassen sich gar einzelnen Schaffensphasen zuzuordnen: für die liebende Lektüre etwa die Jahre 1915 (Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin sowie der Sprachaufsatz) bis 1920 (Dissertation), für die tötende Vivisektion etwa die Jahre 1920 bis 1924 (Aufgabe des Übersetzers sowie der Wahlverwandtschaften-Essay) sowie ab 1925 (Trauerspielbuch) die Fragmente zur Literaturkritik für die Einverleibung. Das sollte jedoch nicht dazu verführen, ein genetisches Entwicklungsmodell zu propagieren. Benjamin praktiziert auch noch 1928 Formen der liebenden Kritik, bei gleichzeitiger sezierender Analyse. Er handhabt also verschiedene Praktiken von Literaturkritik synchron, je nach Anlass treten sie verschieden stark in Erscheinung. Elitebewusstsein, Textexplikation und Kontextualisierung entscheiden über ihre konkrete Realisierung in literaturkritischen Texten. »Die grundsätzliche Scheidung von Literaturgeschichte und Kritik ist abzulehnen,« fordert Benjamin nachdrücklich in fragmentarischen Aufzeichnungen zur Literaturkritik (GS VI: 174). Dieser Forderung wird noch nicht einmal die verdienstvolle Erstedition von Benjamins Literaturkritiken gerecht. Erst die Neuedition bemüht sich um Korrekturen. Benjamins Literaturkritik und Literaturwissenschaft entgrenzenden Schreibweisen werden durch die Ersteditoren wissenschaftlich vereinheitlicht (Kaulen 2011: 975), zielen sie doch darauf, »die habitualisierten oder gar konformistischen Haltungen, Praktiken und Denkweisen der Adressaten zu verfremden, um ihre Wahrnehmungsfähigkeit, ihre qualitative Empfindlichkeit und ihre kritische Urteilskraft wieder zu beleben.« (Salonia 2001: 10) Daher lässt sich Benjamins Ansatz auch als Praxis der Kritik beschreiben, der die akademische Disziplin ebenso umfasst wie die journalistische (Alter 1969). Kritik ist in Benjamins Werk »nicht nur Organon theoretischer Reflexion, sondern zugleich ihr Gegenstand« (Steiner 2000: 479) Für Benjamin ist der Literaturkritiker selbst lesender und schreibender Produzent, der aber auf eine fortwährende Reflexion seiner Tätigkeit verpflichtet wird: die Literaturkritik Benjamins ist eben kein »Nebenwerk, sondern ein integraler und konstitutiver Bestandteil von Benjamins Denken, das sich stets in der Ausei-
135 | Vgl. Benjamin, Studien zur Kritik [1930 f.] (GS VI: 169, 175).
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nandersetzung mit konkreten Gegenständen entfaltet, aber bei diesen Anlässen nicht stehenbleibt, sondern vom Einzelnen und Besonderen aus zentrale theoretische Zusammenhänge erschließt.« (Kaulen 2011: 990) Dadurch stößt Benjamin aber zum grundlegenden Movens der Literaturkritik vor: »Was die Kritik leisten soll, wäre demnach, eine […] tiefere Quelle der menschlichen Empfindsamkeit wiederzubeleben«, um »Aspekte des Rechts und der Gewalt« wahrnehmbar zu machen (Salonia 2011: 115). An Scholem schreibt Benjamin 1936: »Die Aufgabe ist nicht ein für alle Mal, sondern jeden Augenblick sich zu entscheiden,«136 und die Begründung und Reflexion in den Text mit hineinzunehmen – nicht als ein ausgelagertes Reflexionskapitel, sondern im ständigen Reflexionsprozess, immer bezogen auf das zu besprechende einzelne Werk.137 Nicht eine vor die Besprechung geschaltete ›Theorie der Kritik‹ entfaltet also Benjamin (er setzt keine Prämissen einer literaturkritischen Theorie), sondern die ›Theorie der Kritik‹ ist Ergebnis der Kritik(en), d. h. der jeweiligen Einzelkritik. Das gilt für jene Arbeiten, die im engeren Sinne als ›literaturwissenschaftlich‹ bezeichnet werden wie für seine Rezensionen gleichermaßen. Benjamin stellt also die komplexe Bedeutung des griechischen Verbs κρινειν wieder her, von dem sich ›Kritik‹ ableitet. Indem ihm das gelingt, kann Benjamin nicht nur beanspruchen, als erster Kritiker seiner Zeit zu gelten, sondern – wie die Fortsetzung der gerne zitierten Formel lautet – auch die Literaturkritik als Gattung wieder zu begründen (»recréer comme genre«).138 Die Aktualität Benjamins erweist sich in seiner Vorwegnahme einer Debatte, die in den 2000er Jahren die deutschsprachige Literaturkritik-Diskussion bestimmte: durch Aufteilung der Literaturkritik in die Lager der »Emphatiker« und der »Gnostiker« versucht der Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hubert Spiegel, Ordnung in die unterschiedlichen Positionen der Literaturkritik zu bringen. Dem hat Walter Benjamin bereits in seinen Jugendschriften differenziertere Unterscheidungen entgegengesetzt. In seiner Besprechung von Gerhart Hauptmanns Festspiel von 1913 reflektiert er die historische Erwartungshaltung (1813 vs. 1913) der Jugendbewegung und die Absetzung des Stückes durch den deutschen Kronprinzen kritisch: Die Schule macht uns indifferent, sie will uns sagen, Geschichte sei der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Und früher oder später setzt sich doch das Gute durch. […] Uns aber will scheinen, als sei Geschichte ein strengerer und grausamerer Kampf. Nicht um Werte, die schon feststehen – um Gutes oder Böses. Sondern wir kämpfen für die Möglichkeit der Werte überhaupt, die
136 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 29.5.1936 (GB III: 158). 137 | Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik [1920] (vgl. GS I: 72) 138 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 21.1.1930 (GB III: 502).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin ständig bedroht sind, für die Kultur, die in ewiger Krise lebt. Die Geschichte ist der Kampf zwischen den Begeisterten und den Trägen. (GS III: 59 f., kurs. CSM)139
Solange also der Kampf zwischen Begeisterten und Trägen, zwischen Empathikern und Gnostikern (Hubert Spiegel) oder zwischen Apokalyptikern und Integrierten (Umberto Eco) auf der Bühne der Kritik ausgetragen wird, sind Werte noch möglich. Mit Durchsetzung eines allgemeinen Common Sense hingegen drohen Differenzen zu verschwinden – und mit ihnen Differenzierungen, die einen Streit überhaupt erst möglich machen. Der kritische Kannibale könnte dann nur noch sein eigenes fades Fleisch verspeisen (vgl. 11. Kap-). Um diese zunächst doch sehr theoretischen Explikationen abschließend noch einmal zu erhellen, interpretiere ich zunächst zwei Kritiken, die Benjamins Praxis der Literaturkritik vernichtend aburteilen: Marcel Reich-Ranicki und Fritz J. Raddatz zeihen – in polemischer Übertreibung – Benjamins literaturkritisches Schreiben mangelnder Zielgerichtetheit. Abschließend möchte ich in einem ›close reading‹ von drei Literaturkritiken Benjamins und ihrem optischen Äquivalent – ›Symbol, nicht Allegorie‹ – noch einmal die diskursiven Praktiken nachzeichnen, die die Ursprünge seines literaturkritischen Denkens flankieren. Diese finden ihre grafische Entsprechung, die im Sinne der Konstellierung – also der absichtlichen Zusammenstellung von nicht Zusammengehörigem – eine neuerliche Zusammenschau der bereits getätigten Analyse erlaubt. Oder, um mit Nietzsche zu sprechen: »Die Metapher ist […] nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt«.140
139 | Benjamin, Gedanken über Hauptmanns »Festspiel« [1913] (GS III: 59 f., Hervorhbg. v. mir, CSM). 140 | Nietzsche, Geburt der Tragödie [1872] (KSA III/1: 56). Das ›ideologiekritische‹ Verfahren der Genealogie beabsichtigt, Akteuren verschiedene Bilder anzubieten, um sie von ihrer »Aspektbefangenheit« zu lösen (Owen 2003: 132). Ähnlich argumentiert Benjamin: »Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. […] Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welche allem Lesen zugrunde liegt.« (Benjamin, Passagenwerk [1927 f.], GS V.1: 576 f., vgl. auch ebd. 596: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.«) Zum Bild des Rezensenten vgl. Baasner 2005.
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Kritik des Kritikers Als 1972 der dritte Band der Gesammelten Schriften Benjamins publiziert wurde, war erstmalig zu lesen, was zusammenhängend noch kaum rezipiert worden war – zu verstreut waren die Publikationsorte von Benjamins Literaturkritiken. Gershom Scholem lobte die Edition, weil mit ihr »das Bild des Rezensenten […] überhaupt zum ersten Mal ins volle Licht gehoben« würde.141 Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki veröffentlichten hingegen jeweils vernichtende Kritiken, die den Literaturkritiker Walter Benjamin zu diskreditieren drohten.142 Raddatz bemängelt zunächst die Abseitigkeit vieler von Benjamin rezensierter Bücher, des weiteren Benjamins Konzentration auf die verschiedenen geistigen Strömungen und zugleich seine bloßes Referieren von Inhalten. Daran schließt sich die These an, Benjamins Literaturbegriff sei »jenseits von Zeit und Raum«,143 seine literaturkritischen Arbeiten zum bloßen Broterwerb geschrieben. Benjamins Unruh-Kritik, die ihm so wichtig erscheint, dass er seine Mitarbeit bei der Frankfurter Zeitung aufs Spiel setzt,144 verurteilt Raddatz, weil sie »Kampf gegen eine Person, nicht Analyse eines Autors« (1066) sei; Benjamin habe kein Geschichtsbewusstsein, sondern flüchte aus der konkreten Gegenwart in die Literatur (1067), betreibe eine »monologisch-manische Konstruktion eines eigenen Sonnensystems« (1069), gebärde sich als Trotzkist, der einen Führungsanspruch behaupte. Überhaupt sei Benjamin ein »would-be-Linker, einer, der seine Sache überlagert hat mit marxistischem Modevokabular.« (1071) Raddatz’ Fazit nach Lektüre der Döblin-Rezension Benjamins: »Die Literaturkritik dieses Melancholikers, eitel aus Ängstlichkeit, intelligent aus Flucht, war Traum, nicht Tat.« (1075)145 Noch radikaler ist Reich-Ranickis Kritik: die nun vorliegenden gesammelten Literaturkritiken ermöglichten eine längst »fällige[] Überprüfung«146 Benjamins, gelte er doch nach Scholem und eigenem Anspruch als erster Literaturkritiker seiner Zeit. Die Lektüre sei jedoch enttäuschend und zeuge allein von Benjamins Eskapismus: dieser habe sich für »belanglose[] Novitäten« (228) mehr interessiert als für die Gegenwartsliteratur; somit erweise sich Benjamin als »originelle Randfigur des literarischen Lebens« (229), dessen Verhältnis zu 141 | G. Scholem an H. Tiedemann-Bartels, Br. v. 5.10.1972 (Scholem 1994, III: 36). 142 | Bedauerlicher Weise hat der Historiker des Literary Criticism, Réné Wellek, Benjamins Rezensionen nicht in dieser Form zur Kenntnis genommen, vgl. Wellek 1971. 143 | Raddatz 1973: 1066. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 144 | Vgl. W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 29. 5. 1926 (GB III: 160). 145 | Kritische Einwände zu Raddatz’ Verriss präsentiert Jörg Drews in seiner Antwort, die im selben Heft des Merkur erschien. 146 | Reich-Ranicki 1973: 227. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
einem großen Teil der zeitgenössischen Literatur »aristokratisch-hochmütig« gewesen sei. Des Weiteren moniert Reich-Ranicki das Fehlen einer »kritischen Konzeption«. Dass Benjamin Deutschland 1933 zwar unfreiwillig verlassen habe, jedoch »nicht etwa […] der politischen Verhältnisse und des Terrors der Nazis wegen […], sondern lediglich deshalb, weil man ihn nicht mehr drucken wollte« grenzt schon an Diffamierung (232).147 Dass Raddatz und Reich-Ranicki an Benjamin ›vorbeilesen‹ mussten, hat mehrere Gründe: Zum einen lag mit dem Erscheinen des dritten Bandes der Gesammelten Schriften vollständig vor, was (darauf sei noch einmal hingewiesen) im Zusammenhang noch nie zu lesen war – und was auch gar nicht zusammenhängend zu lesen sein sollte. Zudem hatten die Herausgeber Benjamins Literaturkritiken (wenn auch nicht konsequent) auf der Basis eines ›reinen Urtextes‹ vereinheitlicht, Zitate richtiggestellt, Satz- und Zitierfehler korrigiert, ohne dem spezifischen Verfahren Benjamins Rechnung zu tragen, das heterogene Diskurse (Literatur, Kulturwissenschaft, Philosophie, Philologie, Journalismus und Politik) umfasst und daher nicht akademisch eingehegt werden kann; ein umfassendes Bild von der Literaturkritik Benjamins vermittelt erst die neue Benjamin-Edition (vgl. Kaulen 2011: 974 f.).148 Zum anderen fehlt dem Benjamin-Leser, und den beiden Großkritikern in besonderer Weise, die Einsicht in die früheren Schriften – und im Zuge der seit 1967 aufkommenden Benjamin-Mode wurde weniger sein Trauerspielbuch oder die Dissertation zur romantischen Kunstkritik als vielmehr der Kunstwerk-Aufsatz rezipiert. Zum
147 | Am 17.3.1933 verlässt Benjamin Berlin (vorausgegangen war am 30.1. die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, am 1.2. die Auflösung des Reichstags, am 27.2. der Reichstagsbrand), am Folgetag erreicht er Paris, von wo aus er an Gershom Scholem schreibt: »Einen Begriff von der Lage [im Deutschen Reich] gibt weniger der individuelle Terror, als die kulturelle Gesamtsituation. Über den erstern ist schwer, absolut Zuverlässiges in Erfahrung zu bringen. Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute Nachts aus ihren Betten geholt und mißhandelt oder ermordet wurden. […] Was mich betrifft, so sind es nicht diese […] Verhältnisse gewesen, die in mir, und zwar erst vor einer Woche, in unbestimmten Formen, die Entschließung, Deutschland zu verlassen zur schleunigsten Entfaltung gebracht haben. Es war vielmehr die fast mathematische Gleichzeitigkeit, mit der von allen überhaupt in Frage kommenden Stellen Manuscripte zurückgereicht, schwebende, beziehungsweise abschlußreife Verhandlungen abgebrochen […] wurden.« (GB IV: 169) Das zweite Argument ist wohl als Schutzargument für das erste Argument zu verstehen, wurde doch Benjamins Bruder Georg aufgrund seiner Funktion in der Kommunistischen Partei bereits unmittelbar nach der ›Machtergreifung‹ im April 1933 von den Machthabern im Konzentrationslager Sonnenburg interniert. 1942 starb Georg Benjamin im Konzentrationslager Mauthausen. 148 | Darauf weist die direkte Replik von Jörg Drews auf Reich-Ranickis und Raddatz’ Kritiken hin, vgl. Drews 1973: 1157.
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Dritten zeigt die statistische Verteilung der Rezensionen, dass Benjamin um 1928 seine produktivste Phase hatte (was freilich äußeren Umständen – nämlich Publikationsmöglichkeiten – geschuldet ist; zudem finden sich an anderer Stelle der Gesammelten Schriften Texte, die als Kritiken bezeichnet, aber nicht bei den Rezensionen aufgenommen wurden):
30 25 20 15 10 5 0 1912
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Grafik 1: Anzahl der von Walter Benjamin veröffentlichten Rezensionen (1912–1940)
Und auch wenn man das statistische Spiel noch etwas weiter differenziert, indem man nach dem Umfang der Rezensionen und nicht nach deren Menge fragt (schließlich erfolgte die Bezahlung der Rezensenten nach Zeilen – und die Redakteure kürzten Benjamins Kritiken teils erheblich), so ergibt sich ein ähnliches Bild. Und zum Vierten lasten Raddatz wie Reich-Ranicki Benjamins Rezeption von George Opportunismus, dessen Rezeption des George-Umkreises Antagonismus vor. Beide Einschätzungen sind weitgehend ihrem Zeitkontext enthoben und bedeuten eine Dekontextualisierung, die Benjamin selber als größten Fehler der Literaturkritik brandmarkt. Abschließend sei bemerkt, dass ReichRanicki 1973 die Leitung des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernahm und sich folglich in Redaktionssitzungen, aber auch in seinen journalistischen Äußerungen als der führende Literaturkritiker, als der noch bis zu seinem Tod wahrgenommen wurde, profilieren musste – und sei es auf Kosten Benjamins (Reich-Ranicki 1999: 473 ff.). Und Raddatz stand 1973 – ähnlich wie Benjamin – an einem Scheidepunkt: seine Habilitation war an der Universität Hannover angenommen, doch bis Raddatz 1977 die Leitung des FeuilletonTeils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernehmen sollte, musste auch er,
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
der Literaturwissenschaftler und Lektor, sich journalistisch erst noch beweisen (Raddatz 2003: 251).149 Ich möchte abschließend vier Kritiken Benjamins interpretieren, um meine vorangegangenen Ausführungen am Textbeispiel zu verdeutlichen. Dazu habe ich Rezensionen ausgewählt, die zu Lebzeiten Benjamins an prominenter Stelle veröffentlicht wurden und die erhoffte Breitenwirkung hätten erzielen können – bei Kenntnis ihrer theoretischen Explikationen, die Benjamin noch 60 Jahre später von Seiten der etablierten Literaturkritik verweigert wird.
a. Liebende Praxis: Benjamins Hobrecker-Kritik Wer liebt, hängt nicht nur an den Fehlern der Geliebten... Walter Benjamin, Einbahnstraße (1928)
1924 erschien Benjamins Besprechung von Karl Hobreckers Alte vergessene Kinderbücher150 gleich doppelt: zum einen im Antiquariats-Blatt, zum anderen in der Leipziger Illustrierten Zeitung. Benjamin betont die Tätigkeit des »vieljährigen« Sammelns von Kinderbüchern, die bei Hobrecker, dem »Berliner Konkurrenten, Meister und neidlosem Förderer meiner Sammlung«151 ebenso im Mittelpunkt der Leidenschaft stand wie bei Benjamin (vgl. Bokma 2000; Ewers 2000; Brüggemann 2001). Benjamins Darstellung ergeht sich zunächst in Äußerlichkeiten: da ist von der ebenso »sorgfältig[en] wie temperamentvollen« Ausstattung die Rede, da wird die Fülle der farbigen Bilder gelobt, kurz: der »Charme« von Hobreckers Buch müsse jeden Sammler »berühren«, er müsse gar den Eindruck haben, »eines jener erfreulichen Werke [gemeint sind die dargestellten Kinderbücher] selber in Händen zu haben.« (12) Es schließt sich eine kleine Genealogie des Kinderbuch-Sammlers an, jenes »beharrlichen Liebhaber[s]« (12), der – ohne alle »schulmeisterliche[] Moralität« (12) – seinen Gegenstand und dessen Ursprünge überblickt. Eben diese Ursprünge zeichnet Benjamin nach – wobei er die zunehmende Distanz der Kinderbücher zu »belehrenden« wie zu rationalistischen Zwecken betont, macht Benjamin doch eine gewisse Fortschrittlichkeit der Illustrationen gegenüber den Textinhalten aus (vgl. Hobrecker 1924: 87 f.). Hobrecker stehe den »Rei-
149 | Raddatz bekennt, noch 1969 (als er die dreibändige Anthologie Marxismus und Literatur herausgab, die auch Benjamins Aufsatz Der Autor als Produzent enthält) Walter Benjamin nicht zur Kenntnis genommen zu haben. 150 | Benjamin, Karl Hobrecker [Rez., 1924] (GS III: 12–14); Benjamin, Alte vergessene Kinderbücher [Rez., 1924] (GS III: 14–22). Im Folgenden mit Seitenzahl im Text zitiert. 151 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 16.9.1924 (GB II: 487).
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zen« der Kinderbücher »nicht fühllos gegenüber« (12), aber der »Höhepunkt« sei erst in den 1840er bis -60er Jahren erreicht. Für diese Periode konstatiert Benjamin den zunehmenden Einfluss der industriellen Fertigung und mit ihr den schwindenden der Künstler: »Und damit ist eine wachsende Abhängigkeit von dem problematischen Schönheits- und Bildungsideal des Publikums gegeben.« (13) Seine zweite Kritik von 1924 eröffnet Benjamin mit einer Abhandlung zur Bibliophilie und zum Büchersammeln. Er betont die »Nachtseite« des Sammelns, die freilich nicht bei Karl Hobrecker anzutreffen sei: seiner »freundliche[n], feine[n] Person« korrespondiert eine »kindliche Freude« (14) am eigenen Sammelgebiet, dem auch im Erwachsenenalter noch die »Treue« gehalten werde. Jeder sei zu diesem Sammelgebiet hingezogen, der einmal ein altes Kinderbuch gesehen habe; die »erste zarte Wurzel« (14) des Sammeltriebes könne in einem solchen Ereignis gründen. Diese Liebe ist eine keinesfalls materielle, denn der Erhaltungszustand der Bücher – »Seiten fehlen«, »Holzschnitte betuscht« (14) – korrespondiere ihrem Verwendungszweck und halte daher den preistreibenden »Büchersnob« (14) fern. Hobrecker agiert laut Benjamin nicht als Archivar, sondern als Liebhaber, als Liebender. Er habe den von der Makulatur bedrohten Kinderbüchern ein »Asyl« (14) eröffnet, ohne um Anerkennung zu werben. Vielmehr gehe es ihm um »Anteil an dem Schönen« (15). So sei der wissenschaftlich brauchbare Anteil von Hobreckers Publikation, die Bibliographie, zwar willkommen, jedoch nur »Beiwerk« (15). Benjamin stellt in der sich anschließenden Zusammenfassung zur Geschichte des Kinderbuches aufklärerische Pädagogik, leidenschaftlichen Sammeltrieb und liebende Rezeption einander gegenüber. Einzig die Illustrationen seien bei textlich fiaskösen Büchern der Betrachtung wert (17). Benjamins Andeutung über den Zusammenhang zwischen Kinderbuchillustrationen und barocker Emblematik verweisen zugleich auf seinen bevorzugten Gegenstand (17). Er nutzt die Rezension – und bezeichnender Weise handelt es sich hier um Ausführungen, die von der Redaktion der Leipziger Illustrierten Zeitung 1924 gestrichen wurden152 – zur Darlegung seiner eigenen Überlegungen. Der Betrachtung von Kinderbuchillustrationen ist laut Benjamin nichts Äußerliches, nichts Oberflächliches eigen: »Ganz allmählich findet deren [der Kinder] Sinn im Außen sich wieder und nur in dem Maße wie es als ihnen ge-
152 | Ich beziehe mich auf die Angaben der Herausgeber in GS III: 609. Läse man Benjamins Schriften (die Rezensionen und Kritiken zumal) in der Form, in der sie publiziert wurden, fände sich eine weitere Erklärung für dessen weitgehende Missachtung durch die zeitgenössische Literaturkritik. Im Falle der Hobrecker-Rezension betreffen die Streichungen durch die Redaktion der Leipziger Illustrierte Zeitung nämlich fast ein Drittel des überlieferten Textes.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
mäßes Inneres ihnen vertraut wird.« (19) Die »Innerlichkeit dieser Anschauung« (19) macht sich an der Äußerlichkeit der Farben fest und evoziert bei Hobrecker ebenso wie beim Kritiker eine liebevolle Erinnerung an den »edle[n] Vater« oder die »schöne[] Mutter« (18). Ohne Hobreckers Bibliographie kritisieren zu wollen, fügt Benjamin an einigen Stellen eigene Literaturhinweise ein – war er doch nach Hobrecker der wohl bedeutendste Sammler alter Kinderbücher, was auch dem Verleger (zumindest berichtet das Benjamin)153 nach Veröffentlichung von Hobreckers Buch aufgegangen war.154 Benjamin interpretiert sodann einzelne Lithographien der von ihm ins Spiel gebrachten Bücher: sie dienen Benjamin in ihrem »verhärmten, abgezehrten Ausdruck« (19) und ihrem »aus trüben Quellen geschöpfte[m] Sammelsurium« (20) als Beleg für das Aufkommen der industriellen Fertigung. Dass Hobrecker seinen Sammlungsschwerpunkt nicht hier, sondern in den 1840er bis 1860er Jahren und in der Berliner statt der mitteldeutschen Illustratorenlandschaft hat, betont Benjamin unter dem Schlagwort der »Sympathie« (20), die jeder Berliner für die »Nüchternheit« (20) des Ausdrucks der Figuren haben müsse. Auch hier exemplifiziert Benjamin den Kontrast von schwarzweißen und kolorierten Drucken: »Das farbige Bild versenkt die kindliche Phantasie träumerisch in sich selbst. Der schwarz-weiße Holzschnitt, die nüchterne prosaische Abbildung führt es aus sich heraus.« (20) Benjamin kann aus dieser autoritär formulierten These (die sich bei Hobrecker nicht einmal ansatzweise findet) seine Begründung der Auffüllung des ungefärbten Bildes durch das Kind im Signum der Hieroglyphik ableiten – ein Thema, das Benjamin im Trauerspielbuch wieder aufgreifen wird (20 f.).155 Benjamins Sympathien für Hobreckers Ansatz, für dessen Sammlung, mündet in ein sympathetisches Bekenntnis: »in dem Hobreckerschen Werke selbst waltet, seiner innern wie äußern Gestalt nach, der Charme des Liebeswürdigsten romantischen Kinderbücher.« (22) Die Befürchtung des Kinderbuch-Sammlers Walter Benjamin, die Erschließung des wertvollen Buchbestandes durch Hobreckers ›Katalog‹ könne die Preise hochtreiben, mündet in
153 | »Ich werde dir seinerzeit berichtet haben, daß der Verleger als [er] meine Sammlung und ihr Leben bei mir kennen lernte, trostlos war, den Auftrag [zur Abfassung einer Monographie über alte Kinderbücher] nicht an mich gegeben zu haben.« (W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 16.9.1924, GB II: 487). 154 | Benjamin fügt folgende Literaturnachweise ein: F. J. Bertuchs Bilderbuch für Kinder (1792– 1847), Die Fabeln des Äsopus (ca. 1815), A. L. Grimms Fabelbuch (1827) und Linas Mährchenbuch (1837), J. P. Lyers Buch der Mährchen (1834). Vgl. GS III: 16, 18, 19. 155 | Vgl. Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 344 ff.). Dazu Emden 2003.
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die Hoffnung, wenigstens einige Bücher mögen durch neuentfachte Sammelleidenschaft gerettet werden. Benjamins Reflexionen zum illustrierten Kinderbuch entzünden sich an einer Rezension zu einem Buch.156 Nicht nur war Stefan Benjamin (zum Zeitpunkt der Abfassung sechs, bald sieben Jahre alt) der offizielle Anlass der Auseinandersetzung Benjamins mit alten Kinderbüchern,157 auch las der Vater ihm Märchenbücher aus seiner Buchsammlung vor.158 Benjamin betreibt also in mehrerer Hinsicht die Anverwandlung »des Fremden in ein Eigenes« (Novalis 1798a: 646). Der liebende Blick des Kritikers, vertieft in das einzelne Werk inmitten der Sammlung, nur dem eigenen Interesse und dem Objekt seiner Liebe ergeben, findet eine optische Entsprechung in Carl Spitzwegs Bücherwurm (1849), der sich soeben in metaphysische Schriften vertieft.
Abbildung 1: Carl Spitzweg, Der Bücherwurm (1849) [Ausschnitt] 156 | Eine Bearbeitung der eigenen Sammlung ist im Aufsatz Aussicht ins Kinderbuch erhalten, die 1926 in der Leipziger Illustrierten Zeitung erschien, vgl. GS IV.2: 610–615. Auch hier dominieren die Determinanten Innen- und Außenwelt, Hieroglyphik, Antiaufklärung. Auch die angegebene Literatur gleicht der der Hobrecker-Kritik. 157 | »Sie [müssen] wissen daß ich nach Art eines wirklichen Büchersammlers mir – wenigstens – ein Spezialgebiet geschaffen habe. Dabei stand die Rücksicht auf das was ich schon hatte und auf das Erschwingliche an erster Stelle. [...] Es sind alte Kinderbücher [...]. Der Stamm der Sammlung rührt von einem großen Raubzug her den ich noch gerade rechtzeitig in der Bibliothek meiner Mutter, meiner frühern Kinderbibliothek, gemacht habe.« (W. Benjamin an E. Schoen, Br. v. 31.7.1918, GB I: 467). 158 | Vgl. W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 14. 1. 1926 (GB III: 109).
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
b. Tötende Praxis: Benjamins Gundolf-Kritik In der Brust der Schriftsteller eines Volkes liegt schon das Abbild von dessen Zukunft, und ein Kritiker, der mit hinlänglich scharfem Messer einen neueren Dichter sezierte, könnte, wie aus den Eingeweiden eines Opfertiers, sehr leicht prophezeien, wie sich Deutschland in der Folge gestalten wird. Heinrich Heine, Die romantische Schule (1833)
Die Auseinandersetzung Benjamins mit dem George-Kreis reicht bis in die Tage seines Studiums, als er George selbst in Heidelberg erlebte, zurück.159 Der Jüngerschaft hat sich der junge Benjamin bei aller Übereinstimmung – v. a. mit Friedrich Gundolf – entziehen können. Um so vehementer setzen zu Beginn der dreißiger Jahre die Absetzungsbemühungen ein, vornehmlich in Auseinandersetzung mit Max Kommerell,160 der – anders als Benjamin – mit einer unspektakulären Arbeit über den altdeutschen Stabreim an der Universität Frankfurt habilitiert worden war, und Friedrich Gundolf, dem philologischen Propagandisten der George-Schule.161 Benjamin Invektiven gegen Gundolf müssen in Zusammenhang mit dessen Zugehörigkeit zum George-Kreis gesehen werden.162 Diese Zugehörigkeit ist Benjamin wiederholt Anlass zu vernichtender Kritik, nicht nur im Wahlverwandtschaften-Essay.163 Im Folgenden werde ich in Benjamins Rezension von
159 | Vgl. Benjamin, Über Stefan George [1928] (GS II.2: 622). 160 | Kommerell habe mit seinem Buch Der Dichter als Führer George als Erben Goethes bzw. Goethe als Vater der Georgeschen Klassik »sehr staatsmännisch [e]ntdeck[t]« und mit seiner Studie die »magna charta« des »deutschen Konservativismus« verfasst (Benjamin, Wider ein Meisterwerk [Rez. 1930] (GS III: 259/252). Auch Kommerell suchte seit 1930 Distanz zum George-Kreis zu gewinnen, u. a. durch seine Antrittsvorlesung über Hofmannsthal, vgl. Kommerell 1930. Vgl. auch Benjamin, Der eingetunkte Zauberstab [Rez., 1934] (GS III: 409–417). Zur Todessymbolik in Komerells Buch (und ihre Parallelsetzung zur Todessymbolik Rangs) vgl. Guerra 2015: 245; Goebel 2014: 169 ff. 161 | König 2001 beispielsweise berücksichtigt in seiner herausragenden Monographie nicht die Bedeutung Gundolfs für die Hofmannsthal- wie George-Rezeption; Raulff 2009 gemäß seines Erkenntnisinteresses nur die Zeit nach Georges Tod (1933), vgl. aber zu Benjamins GeorgeRezeption Raulff 2009: 520. 162 | Vgl. Osterkamp 1993. 163 | Vgl. oben, S. 113 ff. Neben den »rechtskräftigen Aburteilung und Exekution Gundolfs« (W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 27. 11. 1921, GB II: 212) in seiner Dissertationsschrift hat sich Benjamin wiederholt mit Gundolf auseinander gesetzt. Vgl. etwa Benjamin, Juden in der deutschen Literatur [1928] (GS II.2: 812). Vgl. Kruckis 1995: 326 ff.
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Gundolfs Gryphius-Buch den ›vernichtenden‹, tötenden Aspekt seines literaturkritischen Schreibens aufzeigen.164 Als Benjamin seine Gundolf-Kritik verfasst, liegt das Scheitern seiner Habilitation drei Jahre zurück.165 Im Trauerspielbuch hatte sich Benjamin intensiv mit Gryphius’ Poetik und Praxis des Trauerspiels auseinandergesetzt,166 von daher verwundert sein fortgesetztes Interesse an der Thematik kaum.167 Zunächst bemängelt Benjamin grundlegend das Anliegen Gundolfs, ein Porträt von Andreas Gryphius zeichnen zu wollen: Gundolf wolle aus dem psychologisch verengten Typusbegriff Diltheys heraus »ein Lebens- und ein Geistesbild« (86) zeichnen, scheitere aber bereits aus methodischen Gründen, jedoch nicht nur aus diesen. Die »Dichterfigur des deutschen Barock als Typus« (86) sei weder als olympischer Göttersohn noch als romantischer Traumwandler deutbar – diese modernen Projektionen eröffneten keinen Zugang zu Gryphius, ebenso wenig wie die diversen Barockanthologien vom Anfang des Jahrhunderts.168 Nicht Heroengeschichten, sondern alleine die »Beschäftigung mit der[] Formwelt« (87), genauer: mit der Sprache eröffnen einen Zugang zur deutschen Barockdichtung. Benjamin verdeutlicht das anhand seines Spezialgebiets, auf das er rasch zu sprechen kommt, das bei Gundolf jedoch keine nennenswerte Rolle spielt: das barocke Trauerspiel. »Mag diese Dichtung in der Formensprache wie immer dunkel und sinnlos scheinen, das Studium ihrer Sprachform erhellt sie.« (87) Da aber Gundolf diesen Weg nicht beschreite, finde er keinen Zugang zur Dichtung von Gryphius. Wo Gundolf bescheidet, dass die Gryphius-Trauerspiele nur umfangreichere Lyrik seien, hakt Benjamin ein und zeichnet unter den Stichwörtern vom König, vom Intriganten u. a. Kernpunkte seiner Trauerspiel-Lektüre nach. Gundolf sei (wie wir heute sagen würden) mit der frühneuzeitlichen Dichtungstheorie zu wenig vertraut, daher gelange er zu einem Fehl-
164 | Benjamin, Porträt eines Barockpoeten [Rez., 1928] (GS III: 86–88). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 165 | Hingegen hat Richard Alewyn, der nach seiner Habilitation über Johann Beer neben Benjamin wohl exponierteste Vertreter einer neuen formalanalytischen Barockforschung, 1932 den Heidelberger Lehrstuhl des 1931 verstorbenen Gundolf übernommen (vgl. W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 25.6.1932, GB IV: 107). 166 | Von 497 Fußnotenverweisen gelten 23 Lohenstein, 22 Gryphius, acht Harsdörffer und drei bzw. zwei Opitz und Hofmannswaldau. 167 | Vgl. die geschlossene Darstellung von Benjamins literaturkritischer Barock(forschungs)rezeption nach Scheitern der Habilitation Garber 2005: 183–234. 168 | Vgl. Benjamin, Porträt eines Barockpoeten [Rez., 1928] (GS III: 86). Benjamin nennt hier etwa Klabunds (i. e. Alfred Henschke) Gryphius-Ausgabe Das dunkle Schiff von 1916.
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urteil ähnlich dem Lessingschen, ohne dessen Argumentationshöhe halten zu können, ohne dessen literaturpolitische Motivation zu erkennen (87). Während Lessing aus Gründen der zeitbezogenen Auseinandersetzung mit dem barocken Trauerspiel das »Recht des Polemikers« (87) gegen die barocke Regelpoetik in Anspruch nehmen könne, müsse dem Philologen eben dieses Recht versagt bleiben: »Nichts hoffnungsloser als die magistrale Haltung [Gundolfs], magisterhaft ihm [Lessing] nachtun zu wollen.« (87) Gundolf fehle die Einsicht in die Zeitgebundenheit seiner Interpretationen. Einzig seine Ausführungen zum Horribilicribrifax haben in Benjamins Augen Bestand, da Gundolf gegen die gängige Literaturgeschichtsschreibung argumentiert und das Werk nicht zu einem Vorläufer der deutschen Komödien erhebe. Wesentlich sei aber der verfehlte, da idealistisch-symbolische (statt allegorische) Zugang Gundolfs zu Werk und Leben von Gryphius. Sowenig Gundolfs Buch Kontur gewinnt, so klar scheint Benjamins ›Aburteilung‹ des George-Schülers vor dem Hintergrund des zu Drucklegung bearbeiteten Trauerspielbuchs, dessen Seitenstück die Gundolf-Kritik bildet.169 Gundolf scheitert am Diktum einer Erlebnisästhetik des schöpferischen Genies, die an der deutschen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts natürlich nicht nachgewiesen werden kann. Gryphius wird von Gundolf zum Handwerker herabgestuft (Gundolf 1927: 14), während es Grimmelshausen und dessen Simplicissimus-Roman vorbehalten bleibt, als Argumentationshilfe für einen deutschen Sonderweg und die georgische Idee der Schicksalsgemeinschaft Pate zu stehen (Gundolf 1923: 358). Benjamin zeigt – wie auch in seiner im Wahlverwandtschaften-Essay eingebetteten Gundolf-Kritik – auf, dass dessen Analyse-Instrumentarien dem 19. Jahrhundert entstammen und damit inadäquat sein müssen. Seine Konzentration auf die Form meint Erfassung der Gattung, jedoch nicht aus den barocken Regelpoetiken, sondern aus dem konkreten Kanon. Indem Benjamin die eigene im Trauerspielbuch vorgenommene Formanalyse anführt (König, Intrigant etc.), konturiert er in der Vernichtung des Gundolfschen Gryphius-Buches die eigene Herangehensweise, der Gundolf natürlich nicht genügen kann. Signifikanter Weise setzt Benjamin einzig den Begriff »Ausdruck« in seiner Kritik kursiv. Meint dieser bei Georges Adepten eine innere, symbolisch greifbar gemachte Bewegtheit (vgl. Simmel 1901: 211), so bei Benjamin die äußere, allegorisch fragmentierte Formensprache. Das barocke Werk tritt dem Interpreten nach Benjamin nicht als einheitliches Symbol, sondern als Summe signifikanter Allegorien entgegen, nicht als Ganzes, sondern als Detail des Ganzen.
169 | Zur Barockrezeption Gundolfs vgl. Nutz 1991.
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Die Gundolfsche Wiederholung von Lessings Trauerspiel-Kritik – dass körperliches Leiden nicht tragisch sei (87) – verkennt laut Benjamin die Bedeutung des Martyriums für das barocke Trauerspiel: die emblematische ›Zurüstung‹ des »Martyrium[s] der Leiblichkeit«170 ermöglicht erst das Eingehen der Leichen in die »allegorische Heimat« (392). Die »Qualgewalt« (391) des Märtyrerdramas ist Voraussetzung für die Apotheose im Trauerspiel – Gundolf bleibt in seiner antikisch-symbolischen Kunstbetrachtung die Bedeutung des Todes verborgen, und erst Benjamins exekutierende Kritik stellt für den Leser der Frankfurter Zeitung von 1928 diesen Zusammenhang wieder her. Literaturkritik als Tötung – das war auch den Zensoren des 19. Jahrhunderts ein Begriff, die Charles Joseph Traviès de Villers 1842 so treffend wie ätzend dargestellt hat.
Abbildung 2: Charles Joseph Traviès de Villers, La Critique (1842)171
170 | Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 394). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 171 | Traviès’ Stich ist eine ›Subscriptio‹ beigegeben, bestehend aus einem Zitat aus La Bruyères Charakteren (1688): »Es gibt kein Werk, es mag noch so vollendet sein, das sich in den Händen der Kritik nicht völlig auflöste, wenn der Autor auf alle Beurteiler hören wollte, von denen jeder die Stelle streicht, die ihm am wenigsten gefällt.«
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
c. Verzehrende Praxis: Benjamins Kraus-Kritik Karl Kraus. Nichts ist trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner. Walter Benjamin, Einbahnstraße (1928)
Mit Karl Kraus hat sich Benjamin wiederholt und intensiv auseinandergesetzt172 – so auch in seiner großen Kritik, die von den Herausgebern der Gesammelten Schriften unter die »literarischen und ästhetischen Essays« eingereiht wurde.173 Ihren Platz sollte die Kritik im projektierten, aber nie Zustande gekommenen Essayband von 1930 neben der Aufgabe des Kritikers einnehmen – nicht nur das finanzielle Debakel bei Rowohlt, auch Benjamins sich auswachsende Arbeit stehen einer zügigen Veröffentlichung entgegen: Mein Vertrag mit Rowohlt über den Essayband ist abgeschlossen. Ich habe für diesen noch eine ganze Anzahl Stücke fertigzustellen und arbeite zur Zeit an einem »Karl Kraus«, der etwa den Um174 fang des »Green« haben soll.
Die überlieferte Fassung des Essays hat etwa den fünffachen Umfang; die Schrift wächst sich laut Benjamin »langsam zum Neun-Monats-Kind aus.«175 Ab 10. März 1931 erschien der Essay – geschrieben in 13 Monaten »unter völliger Beisetzung sämtlicher persönlicher und materieller Verpflichtungen«176 – schließlich in vier Teilen in der Frankfurter Zeitung. Die Blätter der Staatsoper Berlin brachten einen Nachdruck des dritten Teiles unter Streichung einer Invektive gegen Alfred Kerr, die Karl Kraus seinerseits zur Polemik gegen die Staatsoper nutzte, die Teile seiner Übersetzung von Offenbachs Perichole gestrichen hatte.177 Benjamin widmet seine Kraus-Arbeit dem »Direktor der Auslandsabteilung der Reichkreditgesellschaft« Gustav Glück,178 dem er auch in seinem Aufsatz 172 | Scholem datiert Benjamins Auseinandersetzung mit Karl Kraus bis in die Mitte der 1920er Jahre zurück (vgl. Scholem 1975: 105). Zur weiteren Beschäftigung Benjamins mit Kraus vgl. GS IV.1: 515–517; GS IV.1: 551–554. Die »Operettenvorlesung« von Kraus im März 1928 setzt bei Benjamin »eine ganze Ideenmasse [...] in Bewegung« (W. Benjamin an A. Cohn, Br. v. 27.3.1928, GB III: 359) – eine Masse, die erst mit Abfassung der Kraus-Kritiken bewältigt wird. Vgl. ausführlich in Schulte 2003: 15 ff. 173 | Benjamin, Karl Kraus [1931] (GS II.1, 334–367). 174 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 25.4.1930 (GB III: 522). 175 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 3.10.1930 (GB III: 541). 176 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 5.2.1931 (GB IV.1: 11). 177 | Vgl. die Anmerkungen zu GS II.3: 1081 f. 178 | W. Benjamin an G. Scholem, Br. v. 28.10.1931 (GB IV.1: 62). Gustav Glück, nicht zu verwechseln mit seinem Vater, den gleichnamigen Kunsthistoriker, verkehrte in linksintellektuellen
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Der destruktive Charakter ein Portrait widmet.179 Es zeigen sich zwischen der von Benjamin entwickelten Charakteristik Glücks und Kraus’ einige bemerkenswerte Parallelen, so dass ich zunächst den ›destruktiven Charakter‹ nach Benjamin darstellen werde. Benjamin konturiert den ›destruktiven Charakter‹ als ewig. Obwohl ihm eine zerstörerische Komponente eigen ist, ist er »jung und heiter.« (397) Der Zerstörer kümmert sich nicht um den Aufbau; er destruiert nicht für etwas Besseres, Neues. Destruktiver Charakter und »Etuimensch« (398) werden einander gegenüber gestellt: während letzterer Bequemlichkeit sucht und Spuren hinterlässt, verwische ersterer sogar die Spur seiner Zerstörung. Damit ist der Destruktive ähnlich wie der Sammler ein Traditionalist, der die Zeitumstände, die »Situationen« überliefert, indem er sie liquidiert (wohingegen der Sammler sie konserviere, 398). Das Destruktive offenbart sich in Benjamins Anschauung als poetisches Prinzip im Dienst des dichterischen Gedächtnisses.180 Hier erweist sich die Zerstörung als »eine besondere Form des Bewahrens.« (Picker 2004: 9)181 In drei Abschnitten unternimmt Benjamin eine antithetisch-dialektische Annäherung an den Wiener Kritiker, wenn er ihn als »Allmensch«, »Dämon« und »Unmensch« charakterisiert.182 Benjamin zeichnet Kraus zunächst als Urahn gegenüber dem ›entarteten‹ »Zwergenschlingel« (gemeint ist die Tagespresse, 335). Dieser Urahn habe keine Meinung, sondern nur ein Urteil – und zwar eines über eben jene Tagespresse. Damit richtet Kraus in der Fackel die Zunft seiner (nicht als solche betrachteten) Kollegen.
Künstlerkreisen und war u. a. mit Bert Brecht und Karl Kraus, dessen Fackel er sammelte, befreundet. Von 1934 bis 1938 war Glück Leiter des Europäischen Büros der New Yorker Chemical Bank in London. 1938 wanderte er nach Buenos Aires aus (vgl. Wizisla 2004: 125). 179 | Vgl. Benjamin, Der destruktive Charakter [1931] (GS IV.1: 396–398). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 180 | Benjamin, Schicksal und Charakter [1921] (GS II.1: 178). 181 | In der Manuskriptfassung setzt Benjamin zusätzlich den Destruktivisten vom Typus des Thersites, des Nörglers, ab (vgl. Benjamin, Notizen über den destruktiven Charakter [1931], GS IV.2: 999). Damit zeichnet er zugleich eine Charakteristik von Kraus, die 1934 erst mit dessen Bekenntnis zum Austrofaschismus hinfällig wird: »Wer kann eigentlich nun noch umfallen?« ist Benjamins Frage angesichts der Kapitulation Kraus’ vor dem Nationalsozialismus (W. Benjamin an W. Kraft, Br. v. 27.9.1934, GB IV: 506. Vgl. darüber hinaus den Brief v. 15.9.1934 an G. Scholem, GB IV: 498). Elias Canetti bezeichnet in einer Umkehrung der Argumente Benjamins von 1931 Kraus als Thersites, als sich Kraus im Juli 1934 in der Fackel gegen die Sozialdemokraten ausspricht, aber für den austrofaschistischen Kanzler Dollfuß Position bezieht (vgl. Brief E. Canetti an G. Canetti, Br. v. 13.9.1934, Canetti 2006: 24). 182 | Benjamin, Karl Kraus [1931] (GS II.1: 334–367). Mit Seitenzahl im Text zitiert.
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
Der Ausgangspunkt von Kraus’ Kritik sei sowohl Hass über zu viel wie auch zu wenig Nähe zur Tagespresse. Indem Benjamin einen Berufskundeartikel von Peter Suhrkamp zitiert, stellt er Karl Kraus als das Gegenteil des hergebrachten Journalisten heraus, der sich nicht ›für die Dinge an sich‹, sondern nur für deren Beziehungen zueinander interessiert: Kraus’ Aufmerksamkeit gelte nur sich selbst und seinem Kampf gegen die journalistische Phrase (335). Durch Erhellung der Beziehung von Karl Kraus zu Adolf Loos konturiert Benjamin dessen Scheidung von journalistischer Information und sprachlicher Darstellung (336): Der Entlarvung der Unechtheit, der Phrase gelte sein Kampf. Diese Unechtheit sei der kapitalistischen Produktionsmethode des Journalismus geschuldet, Phrase und Floskel seien sein Warenzeichen und Ornament (337). Kraus nun bediene sich der korrumpierten Sprache des Journalismus, um Phrase und Floskel wieder in ihr Recht zurück zu versetzen: auszusprechen, was jeden Moment losbrechen kann. Seine Mittel seien Schweigen, Wissen und Geistesgegenwart (339). Seine Kritik ist insofern »destruktiv«, als dass sie die Wertmaßstäbe neu prägte, nicht in »bürgerliche[r] Wohlanständigkeit« (339) befangen bleibe, sondern sakrale Maßstäbe (»das Heilige«) durch juristische (»das Weltgericht«) ersetze (339). In seiner destruktiven Eigenschaft als Einläuter eines Weltgerichts wie als dessen Richter ist Kraus gleichermaßen revolutionär wie reaktionär (342), gleichzeitig Legislative wie Exekutive (344) – die juristische Institution des Gerichts und das kulinarische Gericht sind miteinander verschränkt. Kraus setze sich mit seiner Privatperson gegen die »literarischen und politischen Verhältnisse« (343) ein. Daher habe er auch das Recht, seine polemische Kritik gegen Personen, weniger gegen deren Werke zu richten (343). Dass er ebenso sachlich wie persönlich urteile, verbürge seine Autorität als Kritiker aus (343). Ihren Maßstab nehme die Kritik, die vornehmlich eine Sprachkritik sei, aus der Sache und komme zu keinem Abschluss, selbstkritisch wie sie sei (343). Ihre Erkenntnis – »Die Zeitung ist ein Instrument der Macht« (344) – erschöpft sich nicht in einer ›Verbesserung‹ der (sprachlichen) Verhältnisse, sondern allein in der ›Erleuchtung‹ des Kampfes um Sprache und Macht (345). Die destruktive Kraft des ›Allmenschen‹ Kraus, wie ihn Benjamin zeichnet, besteht in seiner Aufdeckung der gesellschaftlichen Zusammenhänge von Macht und Medien. Benjamin selbst erweist die Parteilichkeit Kraus’ im Falle von Alfred Loos. In Benjamins Lektüre stellt Kraus die von ihm kritisierten Werke in den Kontext ihrer Produktionsbedingungen und bestimmt damit zugleich den Standort des Intellektuellen, indem er »sich selber abmontier[t]« (342). Die Autorität, die Benjamin vom Kritiker einfordert, zeigt er am Beispiel von Kraus auf: ihm dient die Figur von Karl Kraus und dessen Verfahrensweisen als Reflexionsgegenstand zur Situierung des Kritikers und seiner Aufgaben:
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Kraus findet Benjamins Zustimmung, wo er als ›Allmensch‹ ähnliche Positionen bezieht wie Benjamin. Zugleich erweist sich Karl Kraus in Benjamins Lektüre als Dämon, an dem eine apologetische Biographie vorbeizielen müsse (345). »[N]icht in allen Teilen« sei Kraus erfassbar: als Dämon sei er eitel, müsse sich immerzu im Gegner – also dem Schriftsteller – spiegeln (345). Fortschritt und Archaismen verschränkten sich im Dämon Kraus: Entlarvungstechnik und Selbstausdruck verschmölzen in Selbstentlarvung. Selbstbespiegelung steigere sich zur Selbstbewunderung (346). Dies sei jedoch auch Ausdruck einer tiefen Nervosität, einer nervlichen Sensibilität, die Kraus bei Lesungen und im Schreiben ausstelle – als »mimisches[s] Genie« (347). Seine Fähigkeiten als Schauspieler erlaubten ihm auch, in die Rolle derer zu schlüpfen, die er verspotten wolle. Seitenlange Zitate aus den Schriften Kritisierter stellten diese von selbst bloß (347). Gleichzeitig drücke sich in seiner Verlesung der Zitate die »Demut des Interpreten« (347) aus, der in den anderen ›hineinkrieche‹, um ihn zu vernichten (347), nicht um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen (348). Damit steht er als Richter an der »Schwelle des Weltgerichts« (348); verlagert die Kritik sich in den Bereich der Jurisprudenz. Kraus’ »degenschluckende Philologie der Journale« (349) gehört ihrer Sphäre ebenso an wie seine Sprachkritik, die die Sprache der Anderen aburteile, aber immer noch auf Sprachlichkeit verwiesen sei. Schließlich genießt sich das Ich des Dämons selbst sexuell, ist Dandy, wie es Benjamin zufolge auch Baudelaire war. Journalismus gerate bei Kraus zu einer Degenration des Literatentums, weil er einzig auf das Sexuelle abgestellt sei und ihm der Geist fehle: »Das Literatentum ist das Dasein im Zeichen des bloßen Geistes wie die Prostitution das Dasein im Zeichen des bloßen Sexus. Der Dämon aber, der der Hure die Straße anweist, verbannt den Literaten in den Gerichtssaal.« (352) Dass die Journalisten sich nicht in den Gerichtssaal begeben wollten, sei Verrat an der Hure wie Versagen vor der Literatur. Der dialektische Umschlag erfolgt in Benjamins Kraus-Portrait in der funktionalen Bestimmung des Satirikers. Kraus sei nicht ein altväterlicher Höhner, sondern ein apokalyptischer Zerstörer, dessen Kunst im »Verspeisen des Gegners« (355) besteht: »Der Satiriker ist die Figur, unter welcher der Menschenfresser von der Zivilisation rezipiert wurde.« (355) Kraus erinnere sich »nicht ohne Pietät« (355) seines Ursprungs als Satiriker und leite daher seine Form der Kritik von der Anthropophagie her (355). Unter Bezugnahme auf Léon Bloy und Jonathan Swift setze Kraus sich vom »klassischen[n] Humanitätsideal« (355) ab, indem er im Signum der Anthropophagie den »realen Humanismus« (355) ausrufe. In Erkenntnis der Notwendigkeit einer Neubestimmung der Kritik deren Umwertung dialektisch vollzogen zu haben, sei das Verdienst von Karl Kraus. Nicht länger gelte das klassische Humanitätsideal des Wahren, Schönen, Guten
II. Dichte Lektüre: Der Literaturkritiker als Kannibale bei Walter Benjamin
– »[w]ahr ist der Unsinn, schön die Dummheit, gut die Schwäche« (356) –; vielmehr erlebten die von Kraus einer Kritik unterzogenen Werke eine »Todeskrisis« (357), die sie reinige, konzentriere und dadurch rette: »[Das kritisierte Werk] zieht sich zusammen, entledigt sich alles Überflüssigen, geht durch den gefährlichen Raum des Daseins hindurch und kommt gerettet, wirklicher als vordem, wieder zum Vorschein.« (357) Deutlich klingt in der Analyse der Krausschen Kritik183 als »Wiedererkennen« (360) Benjamins eigene Vorstellung der »Mortifikation der Werke«184 und die mit ihr einhergehende Praxis der Einverleibung als »Neugeburt« des Wissens in den kritisierten Werken an.185 Diese neue Form der Kritik unterscheide sich grundlegend von der Feuilletonkritik etwa eines Alfred Kerr, der mit den Mitteln Nestroys diesen kritisiere. Kraus hingegen sei dem Shakespearschen Menschenfeind Timon gleich, der das »Zwischenmenschliche« (358) des Dämons Kraus überwinde. Er sei der Unmensch, weil er Menschenfresser sei; er sei der »bessere Mensch« (358), weil er die »wahre Maske des Satirikers« (357) zum Vorschein bringe. Sein Mittel ist das Zitat, dass sich dem Text »nicht strafend, sondern rettend« (363) nähert: rettend, weil es den Zusammenhang zerreißt, statt das Wissen zu bewahren – als »Überwinder der Phrase« (367) ist er der Bote eines »realeren Humanismus« (366). Benjamins Kraus-Kritik erlaubt die eigene Positionierung als Kritiker: ›Allmensch‹ und ›Dämon‹ sind im kannibalischen ›Unmenschen‹ vereint und erlauben Benjamin die Darlegung des ›kritischen Kannibalismus‹ in der Nachzeichnung der Krausschen Verfahrensweisen.186 Im Kraus-Essay unternimmt Benjamin nicht weniger als die Engführung seiner bisherigen literaturkritischen Theorie; die von der Forschung konstatierten »disparatesten Traditionselemente«, die hier zu einem Erfahrungshorizont zusammenschmölzen »ohne ihr gespanntes Verhältnis zu leugnen« (Schulte 2003: 11), lässt sich aus der genealogischen Lektüre der diskursiven Verfasstheit von Benjamins literaturkritischer Praxis erklären. Die Rekurse, die Benjamin in der gesellschaftlichen Bestimmung von Karl Kraus als Kritiker unternimmt – den Rahmen bilden Geor-
183 | Kraus selbst teilt in der Fackel von 1931 Benjamins Darlegung nur bedingt: »Ich hatte dieser Arbeit [Benjamins Kraus-Offenbach-Essay], die sicherlich gut gemeint und wohl auch gut gedacht ist, nur entnehmen können, daß sie von mir handelt, daß der Autor manches von mir zu wissen scheint, was mir bisher unbekannt war« (zit. n. d. Kommentar in GS II.3: 1082). 184 | W. Benjamin an F. Ch. Rang, Br. v. 9.12.1923 (GB II.1: 393). Vgl. Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 357). 185 | Benjamin, Trauerspielbuch [1928] (GS I.1: 358). 186 | Schon Adorno hat Kraus und Benjamin als »Wahlverwandte« bezeichnet (vgl. Adorno, Einleitung zu Benjamins »Schriften« [1955], AGS XI: 574).
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ge und Kerr – erweist eine primär literarische Fundierung: Shakespeare, Schiller, Stifter macht Benjamin als ideellen Ursprung des Kritikers Kraus aus. Benjamins Lektüreverfahren – diffizil die Grenze zwischen Kritik und Exegese auslotend – ist Literaturkritik der dritten Ordnung, nicht Anthropophagie wie bei Kraus (Vernichtung von literaturpolitischen Persönlichkeiten), sondern Bibliophagie: Lektüre im Modus der Wissensansiedlung im zuvor ›abgetöteten‹, aber liebend erkannten und darum kritisierten Text. Benjamin verleibt sich die Gestalt von Karl Kraus kritisierend ein, indem er sie dialektisch aufgliedert und zugleich liebend erkennt. Daraus ergeben sich für Benjamins theoretische Fundierung der Literaturkritik nicht nur »Einsichten, die aufs treueste ihr Objekt treffen«, sondern auch solche »über den Denkenden selbst.«187 Die dreifache Fundierung durch die diskursiven Praktiken erweist sich nicht bloß als mimetische Nähe, sondern gewinnt vielmehr »aus fremden Stoff die eigene Essenz.«188 Auch hier findet sich wieder eine – diesmal biblische – Bildentsprechung: Albrecht Dürers Darstellung des Evangelisten Johannes, der das heilige Buch verschlingt (1497/98).189
Abbildung 3: Albrecht Dürer, Der Evangelist Johannes verschlingt das heilige Buch (1497/98) [Ausschnitt]
187 | Adorno, Benjamin der Briefeschreiber [1965] (AGS XI: 584). 188 | Adorno, Einleitung zu Benjamins »Schriften« [1955] (AGS XI: 574). 189 | Zur Dürer-Rezeption Benjamins (v. a. von Dürers Melencolia I) im Anschluss an Fritz Saxl und Erwin Panofsky vgl. Honold 2009: 382 ff. Für eine psychoanalytische Deutung des Buchverschlingens vgl. Lacan 1960: 384 (Sitzung v. 6.7.1960). Bereits in der Thora ist das Bildmotiv angelegt, verschlingt doch der Prophet Hesekiel eine Schriftrolle (Hes 3,1–3).
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Die Critik lag in ihrer Höhle ausgestrecket, und um sie herum lagen die Leichname unzehlicher Bücher, die halb aufgefressen waren. Jonathan Swift, Die Bücherschlacht (1705)
Christian Thomasius, von der Ideengeschichte als erster Literaturkritiker deutscher Sprache gewürdigt,1 dachte praktisch. Im vierten Kapitel seiner Ausübung der Vernunftlehre von 1691 erteilt er den Lesern Hilfestellungen, wie sie ›von anderer Meinung urtheilen‹ lernen – und wie sie lernen, ein Buch zu beurteilen. Neben Ratschlägen, die auch heute noch immer nicht allerorten von der Literaturkritik befolgt werden (etwa »Urtheile nicht von einem Buche wenn du es nicht gelesen hast«) warnt er: »es ist nichts gemeiners/ als daß der Titel [also das Titelblatt] das gantze Buch verkauffe« (Thomasius 1691: 242 ff.). Dennoch hatte Thomasius es besser als der heutige ›Scribent‹: er konnte auf dem Titelblatt ausführlich darlegen, was die Leserin oder den Leser im Inneren des Buches erwartete. Da es noch keinen Umschlagtext gab, warb einzig das ausführliche Titelblatt für den Inhalt – doch dieses konnte (wie Thomasius warnend bemerkt) auch in die Irre führen. Wäre vorliegende Studie vor 300 Jahre erschienen – und um diesen Zeitraum soll es im folgenden Kapitel gehen –, so lautete ihr Titel (und der Autor versichert ergebenst, den ›geneigten Leser‹ nicht in die Irre führen zu wollen):
1 |Schon Schiller – selbst ein ausgewiesener Literaturkritiker und Theoretiker der Literaturkritik (vgl. Misch 2007) – konstatiert 1799 das »interessante Loswinden« von Thomasius »aus der Pedanterei des Zeitalters«, der mit den Monatsgesprächen das »erste Journal« der Literaturkritik herausgegeben habe, F. Schiller an J. W. Goethe, Br. v. 29.5.1799 (Goethe/Schiller 1984, II: 694).
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Schertzhaf≤er/ doch ern≈ gemeineter
Ver∫uch/ Litteratur=Critique Die Geburth der
aus dem Gei≈e des
Cannibalismo herzuleiten. Und zwar ∫o wohle bey dem MODERNUS D. Walterus Benjaminiani/ wie auch bei denen AUTORITATES ANTIQUIS: Godefridus Guilielmus Leibnitius, Christianus Thomasius, Gottholdus Ephraimus Lessingius, ChristianusLudovico Liscovius, Ioannus Iacobus Bodmerus und Nicolaus Hieronymus Gundlingius, welche die FUNDAMENTA geleget.
Neb≈ einigen höch≈nöthigen EXCURSEN zu Fr. Hœlderlinus, J. W. Gœthius und Fr. Schlegelius sowie mit mehrern EXCURSEN zur Erkänntnüß / zur Wahrheit und zum Geschmacke.
Sowie unter Dreingabe einer Vorrede zum METHODUS CRITICA HISTORICA, in welcher die Geschichts=Lehren der Herren Ioannis Michaelis Fucuscolensius/ Walterus Benjaminiani und Federicus Nitzscheus verglichen werden. All dies IN SUMMA zur Beantwortung der Frage:
Inwiefern die
Litteratur=Critique eine grau∫ame MATERIA ∫eye/ und zwar vor drei CENTURIEN ∫o wohl als annoch heutigen Tages? Imprimebatur Biliveldae typis Transcriptis,
MMXVIII.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Einen solchen Titel gestatten gegenwärtige Verlagspraktiken jedoch nicht. Er erlaubt aber, den ersten Teil dieser Studie mit dem zweiten zu verklammern. Zwar sollten die jeweiligen Eingangsmotti zu den einzelnen Benjamin-Kapiteln die historische Verflechtung der betreffenden diskursiven Praktiken wenigstens ins historische Bewusstsein heben; im Folgenden soll jedoch nach den historischen ›Ursprungsorten‹ der einzelnen diskursiven Praktiken gefragt werden – nicht im Sinne einer ereignishaften Einmaligkeit, sondern als historisch fundierte Sinnerweiterung der Bildspender. Die für die Frühe Neuzeit typische semantische Offenheit der Begriffe Liebe, Töten und Verzehren erlaubt, das Spektrum und Potential dieser Begriffe im Diskurs der Literaturkritik auszuloten. Wie oben bereits angedeutet, übernimmt Benjamin entscheidendes Gedankengut zur Entwicklung seiner Vorstellung von Literaturkritik Friedrich Schlegels frühromantischem Kritikkonzept, das damit paradigmatisch für den Diskurs der Einverleibungsmetaphorik steht.2 Aber auch andere, frühere Formen der Literaturkritik amalgamieren in Benjamins Konzept. Im Rahmen seiner Dissertation hatte sich Benjamin mit der romantischen Kunstkritik beschäftigt. Dabei kommt ihm Entscheidendes für sein eigenes Verständnis als Kunstkritiker zu Bewusstsein, notiert er doch: Mit den Romantikern setzte sich der Ausdruck Kunstkritiker gegenüber dem älteren Kunstrichter endgültig durch. Man vermied die Vorstellung eines zu Gericht-Sitzens über Kunstwerke, eines an geschriebene oder ungeschriebene Gesetze fixierten Urteilsspruches. Man dachte dabei an Gottsched, wenn nicht etwa noch an Lessing und Winckelmann. (GS I.1: 52)
Zweierlei ist bemerkenswert: Benjamin denkt Gottsched noch durchaus mit Lessing zusammen (obwohl die historische Literaturkritik-Forschung – bereits zu Benjamins Zeiten – spätestens mit Lessing den Beginn der ›modernen‹ Literaturkritik ansetzt und Gottsched dem alten Kunstrichter-Typ zurechnet); doch sieht Benjamin nicht den Zusammenhang dieser älteren Form der Literaturkritik mit der ›Literaturkritik um 1700‹. Stellt man zusätzlich in Rechnung, dass Benjamin infolge seiner Auseinandersetzung mit dem barocken Trauerspiel durchaus mit der älteren Praxis der Literaturkritik vertraut gewesen sein dürfte, so wird deutlich, dass seine Beziehung zur ›Literaturkritik um 1700‹ unter einer doppelten Perspektive steht: zwar ist Benjamin kritisch gegen die Aufklärung (bei Anschluss an Kants Kritikbegriff, Salonia 2011: 45), doch sein Interesse für das barocke Trauerspiel macht ihn zum Vermittler für eine Auseinandersetzung mit der Literaturkritik der Frühaufklärung, die er selbst nie vollzogen, sondern nur angedeutet hat. Zugleich wird an Benjamins Beispiel und seiner 2 | Zur literarischen Tradition der Einverleibungsmetaphorik vgl. Schmidt-Hannisa 2003; Hart Nibbrig 1995.
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(ausgebliebenen) Rezeption der frühen Literaturkritik deutlich, dass eine genealogische Darstellung der frühen Literaturkritik als ›Suche nach dem Ursprung der Moderne‹ zum Scheitern verurteilt wäre. Möglich ist jedoch, innerhalb einer solchen Genealogie den Ursprung der diskursiven Praktiken der Literaturkritik zu verfolgen und die Bildspender des ›critischen Canibalism‹ auf ihr historisch-semantisches Erklärungspotential zu befragen. Im Folgenden werden je zwei Autoren und ihr je unterschiedlich historisch kontextualisierte Praxis der Literaturkritik fokussiert und damit in eine erweiterte historische Perspektive überführt: zunächst gilt es zu zeigen, dass die diskursiven Praktiken der Liebens, Tötens und Verzehrens bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Ludwig Liscow und Nicolaus Hieronymus Gundling reflektiert werden; gleichzeitig gilt es immer auch aufzuzeigen, wie Christian Thomasius, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Jacob Bodmer diese diskursiven Praktiken umgestalten. Was also zu zeigen sein wird, ist die Formierung des kannibalischen Bildreservoirs der Literaturkritik zwischen 1668 und 1769. Ich hoffe zeigen zu können, dass der literaturkritische Diskurs zu einem relativ frühen Zeitpunkt – spätestens jedoch in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts – immer mehr an Konsistenz gewinnt, d. h. dass die kannibalischen Ursprünge der Literaturkritik sublimiert werden. Die zeitlichen Überschneidungen deuten an (der ältere Gundling wird z. B. nach dem jüngeren Lessing analysiert), dass hier keine lineare Teleologie entfaltet wird, sondern verschiedene Schauplätze beleuchtet werden, die gleichsam die Geburtsszenen des Benjaminschen Kritikbegriffs bzw. der diskursive Praktiken (Lieben – Töten – Verzehren) erhellen – und damit die ›dunklen‹ Seiten der Aufklärung beleuchten (vgl. Brummack 1975). Die historisch rekursive Lektüre ergänzt die eher ›entwicklungsgeschichtliche‹ Argumentation des Benjamin-Kapitels. Drei Exkurse zur Kritik im Zusammenhang von Erkenntnis, Wahrheit und Geschmack eröffnen hingegen in ihrer breiteren historischen Kontexualisierung eine lineare Erzählung. Das Schlusskapitel zeigt, inwiefern dem ›critischen Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung eine Dialektik eingeschrieben ist und inwiefern die Literaturkritik ihre eigenen dunklen Anteile eskamotierte.3 Daher wird nach der Gleichursprünglichkeit von Literaturkritik und Buchmarkt gefragt – eine Gemengelage, aus der die ›kritischen Kriege‹ resultieren und die unter den ver-
3 | Allgemein gilt das Aufklärungszeitalter als Geburtsstätte des moderne Journalismus, vgl. Martens 1974; Berns 2008. Definiert man Journalismus durch periodische Öffentlichkeit und persönliche Meinungsäußerung, so könnten Pietro Aretinos Lettere (1530) als Gründungsinstanz des Journalismus gelten, vgl. Rattner/Danzer 2004: 170.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
schärften Bedingungen des Internets weiterwirkt, die aber durch die ›unappetitliche‹ Metapher des ›critischen Canibalism‹ genauer erklärt werden kann.4 Dass ein Kritiker einer bestimmten Praxis zugeordnet wird, heißt nun aber nicht, dass etwa Christian Thomasius in seinen Literaturkritiken bloß als liebender Exeget in Erscheinung träte, oder Lessing als Anatomist: alle Kritiker bedienen sich der verschiedenen diskursiven Praktiken und des gegebenen Bildreservoirs, wenn auch in unterschiedlichem Maße. So hat die Forschung den polemischen Anteil von Thomasius‘ Literaturkritiken ebenso betont wie die philologische Praxis von Lessing. Ich möchte jedoch kanonisierte Autoren der Literaturkritikgeschichte neu interpretieren ohne den Anspruch, die Literaturkritikgeschichte grundlegend umzuschreiben. Zudem ist mein Zugriff selektiv, insofern er andere Bildspender, diskursive Praktiken und Erklärungsmuster außer acht lässt – so wird im 18. Jahrhundert der Kritiker etwa auch als Gärtner imaginiert.5
8. K APITEL : D ER L ITERATURKRITIKER ALS E XEGET (L IEBENDE K RITIK ) Kritische Leidenschaft: maßlose leidenschaftliche Liebe zur Kritik und ihren präzisen Zerstörungsmechanismen. Octavio Paz, Die andere Stimme (1990)
1726 zitiert Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon die seinerzeit häufig gestellte Frage, »zu was vor einer Disciplin die Auslegungs=Kunst gehöre« (Walch 1726: 158). Deren Zugehörigkeit zu den verschiedenen Wissenschaften ist umstritten, hat doch die ›Liebe zum Wort‹ (also die Philologie) Anteil an der Auslegungskunst, der Exegese oder Hermeneutik, zu der auch die Literaturkritik rechnet.6 Gut zweihundert Jahre zuvor hatte Martin Luther durch seine breitenwirksame Bibel-Übersetzung allen Gläubigen die Möglichkeit einer eigenständigen Interpretation eröffnet; und die gelehrten Humanisten stritten zeitgleich über die Echtheit der überlieferten antiken Texte ›heidnischer‹ Autoren. Diese Form der Philo-Logie – also die editionsphilologische kritische Auseinandersetzung mit einem überlieferten Text wie auch die Exegesetradition in 4 | Die Kategorie der Unappetitlichkeit entwickelt sich erst im späten 17. Jahrhundert, zeitgleich mit der Tendenz, nicht mehr ein ganzes Tier selbst zu erlegen, zu zerlegen und zu verzehren, sondern beim Fleischer nur einzelne, zugeschnittene Teile zu erwerben, vgl. Miller 1997: 267 Anm. 19; 48 ff. Zum Ekel vgl. auch Wilson 2002. 5 | Vgl. die Beiträge in Murnane u. a. 2018. 6 | Zur Liebessemantik im 18. Jahrhundert und dem unüberwindbaren Dualismus zwischen Sinnen- und Seelenliebe im literaturhistorischen Kontext vgl. Schmidt 1989: 115 ff.
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der Nachfolge Martin Luthers – stellt auch noch um 1700 die hermeneutische Grundlage für die Interpretation von Texten. Ars critica wie Exegese stellen jedoch um 1700 die Wahrheitsfrage neu: ist der Text echt bzw. was bedeutet der Text (vgl. Häfner 2003: XXI; Sdzuj 1997)? Sie richten sich damit zugleich nicht länger an das Fachpublikum der Gelehrten, sondern an eine unspezifische und frühbürgerliche Leserschaft und tragen damit zur Genese einer literarischen Öffentlichkeit bei.7 Schlägt man bei Walch den Begriff der Exegese oder Hermeneutik nach, so wird man nicht fündig – aber das Lemma Excerpiren belehrt uns, dass Bücher nicht nur (immer noch) selten sein konnten, sondern dass – sofern ein Leser »nicht in dem Stand eine grosse Bibliotheck anzulegen« (Walch 1726: 851) – die Lektüre von Journalen und deren Rezensionen durchaus die eigene Lektüre des betreffenden Buches ersetzt. Damit benennt Walch eine Aufgabe von Literaturkritik, die heutigen Tags eher dem Verzeichnis der Dissertationen oder allenfalls einer wissenschaftlichen Rezension zugewiesen wird: sie informiert möglichst neutral über den Inhalt des Besprochenen, ersetzt im Idealfall sogar die Lektüre durch ausführliche Inhaltswiedergabe. Um 1700 sind es vorrangig zwei Institutionen, die in solcher Weise den Inhalt von Büchern widergeben und mit einem kritischen Urteil versehen: die Historia literaria und die (gelehrten) Journale. Die Historia literaria versteht sich als Wissenskompendium, als mehr oder weniger positivistische Anhäufung von Facta (also Buchtiteln). Infolge der Ausdifferenzierung der Lebensbereiche in der Frühen Neuzeit wurden auch die unterschiedlichen Gebiete der Gelehrsamkeit immer unübersichtlicher; gleichzeitig drängten immer mehr junge Männer auf den universitären Markt. Hier versprechen die Historiae literariae Orientierung: Unter einer Grobgliederung der Wissenschaften (die sich an der Einteilung der antiken bzw. scholastischen Septem artes liberales orientieren) informieren die Historiae literariae über alle Fachgebiete durch systematische Untergliederung bis in Detailfragen der einzelnen Wissensgebiete hinein. Unter jeder Überschrift eröffnet ein knapper geschichtlicher Abriss den Artikel, der zunächst Aussagen zu den wichtigsten Werken der einzelnen Nationen seit der Antike bis zur Gegenwart versammelt. Dem folgt eine chronologisch angeordnete durchnummerierte oder -buchstabierte Bibliographie der bedeutenden Titel in den besten Ausgaben mit kurzen Angaben zur Bedeutung des jeweiligen Werkes, des Autors oder einer ansonsten memorablen Notiz, die in Fachkreisen als ›curieuses‹ Wissen vertraut ist. In einer der erfolgreichsten deutschsprachi-
7 | Vgl. dazu (mit Blick auf den Hamburger Literaturstreit und dessen publizitären Skandalisierungspraktiken um 1700) Rose 2012.
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gen Gelehrsamkeitsgeschichten jener Zeit, Jacob Friedrich Reimmanns Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam (1708), heißt es: Was hat denn die Historia Literaria insgemein vor einen Endzweck? Einen zweyfachen: Denn sie ist […] 1. Nützlich, 2. Vergnüglich […] Aber worinn besteht denn nun die allgemeine Nutzbarkeit der Historia Literaria? Sie besteht darinn/ daß sie a) Die praejudicia bey uns vermindert. b) Das judicium vermehret/ vergrössert und verbessert. (Reimann 1708, Tl. III: 123)
Was die Historiae literariae also leisten wollen, ist die Herausbildung einer kritischen Urteilsfähigkeit bezogen auf Bücher statt die bloße Anhäufung gelehrten Wissens8 – ein Aufgabenbereich, den sie sich mit der Literaturkritik teilt. Ihre Urteile sind weitgehend affirmativ, d. h. zahlreichen Einzelerwähnungen erfolgten nur in positiver Bezugnahme, seltener sind jene Urteile, die wir heute als ›kritisch‹ apostrophieren, also Negativurteile.9 Zwar hatten Jacob Thomasius wie Pierre Bayle darauf verwiesen, dass auch ›schlechte‹ Bücher einen Nutzen hätten, doch wie viele andere Gelehrsamkeitshistoriker moniert Gottlieb Stolle, dass der Aufwand bei der Besprechung ›schlechter Bücher‹ in keinem Verhältnis zum dadurch erlangten Nutzen stehe (Stolle 1724, Tl. I: 3). Diese Form von Literaturkritik, die die Läuterung der menschlichen Erfahrung an die Stelle der reinen Betrachtung setzt, bewährt sich im Umfeld der praktischen Philosophie und ist ein Teil dessen, was Christian Thomasius ›Ausübung der Tugendlehre‹ nennt: durch Lektüre guter Bücher sollen die eigenen Mängel erkannt und Mittel zur Erreichung der wahren Glückseligkeit bereitgestellt werden (Stolle 1724, Tl. I: 6). Atheistische, pasquillantische Bücher und solche, die zu Wollust, Geiz und Hochmut reizen, sind – in moralphilosophisch pointierter Diktion – »böse« (Stolle 1724, Tl. I: 7). Der Hauptzweck der Historia literaria besteht folglich darin, beim Leser eine eigene Fähigkeit zum (gesunden) Urteil auszubilden (Gundling 1734, Tl. 1, Vorr.:Bl. 2b-3a/5a) – und sie tut dies im Modus eines moralphilosophisch kontextualisierten »natürlichen Trieb[s] zu[r] Wissenschaft« wie »zu[r] menschlichen Gesellschaft«, und zwar als »vernünfftige Menschenliebe […] ohne Arglist, Tücke und Eigennutz, mit einer vernünftigen Ehrbegierde, nebst einem Abscheue vor Laster, die Wut der verderbten Hauptneigungen, Heftigkeit der Gemüthsbewegungen und unredliche Absichten« (Fabricius 1752, Tl. 3: 11). Im Gegensatz zu Lexika, die das Wissen alphabetisch sortieren und somit fragmentieren, liefern die Historiae literariae einen strukturierten Überblick.
8 | Zum Wandel von der Disposition zur Selektion gelehrten Wissens vgl. Schmidt-Biggemann 1983: 251 ff. 9 | Vgl. Grunert 2007: 65–88. Auch das Wort ›Rezension‹ ist im Deutschen negativ besetzt: Nach Valentin Ernst Löscher bedeutet es »schlecht anführen« und wird erstmals von Cicero verwendet v (Unschuldige Nachrichten v. 1710, Vorr.: Bl. *4 ).
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Der Nachteil besteht freilich darin, dass die Verfasser die zitierten Werke in den seltensten Fällen vollständig gelesen haben werden, sondern sich über Rezensionen und Korrespondenz ein Bild vom Inhalt und Stellenwert eines Buches verschafften – insofern bilden die Historiae literariae eine Hyperkritik (vgl. Jaumann 1998). Die Anfänge der Historia literaria kann man bei Francis Bacon (De dignitate et augmentis scientiarum, 1623) oder bei Gabriel Naudé (Advis pour dresser une bibliothèque, 1627) suchen. Für den deutschsprachigen Raum markiert Daniel Georg Morhofs Polyhistor (1688) den Auftakt der (wie wir heute sagen würden) kritisch-historischen Methode in den Geisteswissenschaften (vgl. Syndikus 2007; Gierl 1992). Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird jedoch die von Gottsched her bekannte Forderung nach einer klareren d. h. schärferen Urteilsfähigkeit auch in den Historiae literariae laut. Johann Andreas Fabricius plädiert etwa 1751 nicht nur dafür, auch ›böse‹ Bücher im Rahmen der Historia literaria zu behandeln und abzuurteilen, sondern er verlangt prinzipiell, dass der »Meister in den Wissenschaften« ein sachkundiges Urteil »nach der Wahrheit mit einer kritischen Schärfe« fälle (vgl. Fabricius 1752, Tl. I: 52). Eben jene ›kritische Schärfe‹ ist im Rahmen der Historia literaria ein Novum, das gut vierzig Jahre zuvor bei Reimmann noch nicht begegnet. Dieser hoffte 1708 nur, dass die Leser durch eine positive Kritik »das Gute von dem Bösen, und das wahre von dem falschen um so viel leichter unterscheiden, und dieses verwerffen und jenes erwehlen« (Reimann 1708, Tl. III: 144) lernen. Wie kritisch die Beurteilung von (wissenschaftlicher) Literatur im Medium der Rezension bewertet wurde, verdeutlicht noch 1735 Christian Wolff in § 784 seiner Philosophia rationalis: dort verwahrt er sich gegen die Vermengung von Inhaltswiedergabe (rezensiertem Werk) und literaturkritischem Urteil und pariert eine kritische Rezension seines Werkes mit dem Seitenhieb, der Rezensent habe sein Werk nicht gelesen, sondern kenne es nur vom Hörensagen (vgl. Zedelmaier 2007: 96). Noch ein zweites Medium prägt um 1700 die Entstehung der Literaturkritik: Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erleben die ›gelehrten Zeitschriften‹ einen nachhaltigen Aufschwung – beginnend mit dem Pariser Journal des Sçavants (1665 ff.). Die gelehrte Rezension, wie sie im Journal des Sçavants oder in den Leipziger Acta eruditorum begegnet, enthält sich bewusst eines Werturteils (vgl. Jaumann 1995: 284). Damit steht der Literaturkritiker in der Tradition des Exegeten, der umfangreiche Exzerpte anfertigt und den Inhalt des ›rezensierten‹ Werkes wiedergibt. Im Idealfall – man hat Benjamins Formulierung sofort im Ohr – ›vergisst‹ der Exeget zu urteilen. Diese Form der Literaturkritik, die gegenüber der polemischen und der apologetischen eine exegetisches Moment stark macht, berührt den Diskurs der literaturkritischen ›Liebens‹, insofern der Exeget kein Bedürfnis verspürt, im Urteil das zu beurteilende Werk zu
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›richten‹. Stattdessen könnte man die Funktion der exegetischen Literaturkritik als Rettung beschreiben – und so manches solchermaßen rezensiertes Werk hat nur in Form einer exegetischen Kritik bis heute überlebt. Die gelehrten Journale sehen ihre wissenschaftliche Neutralität dadurch gewährleistet, dass sie sich eines (all zu rasch gefällten) Urteils enthalten – im Kontext der an belletristischer Literatur ausgerichteten frühen Rezensionszeitschriften verliert sich langsam eine solche Praxis. Neben Gottfried Wilhelm Leibniz, der 1668 eine Programmschrift zu einem nie realisierten gelehrten Zeitschriftenprojekt verfasste, ehe er schließlich in den Leipziger Acta eruditorum sein Anliegen verwirklicht sah, steht Christian Thomasius, der – fälschlicher Weise – immer wieder als erster Herausgeber einer literaturkritischen Zeitschrift dargestellt wird (vgl. Jaumann 1995: 276), aber sicherlich der erste war, der zugleich auf deutsch und zu belletristischer Gegenwartsliteratur publiziert. Im »fortwährenden formalen Experimenten« seiner Monatsgespräche (1688–1690) drückt sich auch die formale »Unsicherheit« (oder Experimentierfreude) dieses frühen ›Zeitschriften‹-Unternehmens aus (Woitkewitsch 1970: Sp. 678).
a. Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Kritiker als Berichterstatter Am Beginn der periodischen Literaturkritik steht ein Scheitern: 1668 bemühte sich der Altdorfer Juraprofessor, Bibliothekar des Barons Johann Christian von Boyneburg und spätere Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz um die Einrichtung einer gelehrten Referats- und Rezensionsorgans. Es soll den Titel Nucleus librarius semestralis tragen und jeweils im Frühjahr und im Herbst erscheinen, um die in den Frankfurter und Leipziger Messkatalogen verzeichneten Neuerscheinungen kritisch zu gewichten.10 Zu diesem Zeitpunkt existierte in Deutschland einzig die lateinische Übersetzung des französischen Journal des Sçavans (1667–1670), herausgegeben von Friedrich Nitzsch. Ein Jahr nach Erscheinen von Nitzschs Ephemerides eruditorum wirbt Leibniz am kaiserlichen Hof in Wien um finanzielle und moralische Unterstützung für ein eigenes lateinischsprachiges Periodikum, das sich auf das französische (als Diurnale Gallicum bezeichnete) Vorbild beruft und 23 Bogen – also 350 Seiten – umfassen soll (vgl. Widmann 1963). Leibniz argumentiert, dass allein durch den Messkatalog die immens steigende Buchproduktion in allen Bereichen der Wissenschaft für den einzelnen Gelehrten nicht länger erschließbar sei. Die »wißenschafften und Facultäten« würden derartig mit Büchern überhäuft, »daß man
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schohn albereit nicht mehr weis, was man in solcher menge brauchen, und wo man ein iedes suchen solle«.11 Um »unwiederbringlichen Schaden und endtliche verwirrung zu vermeiden« bleibe nur ein Mittel, nämlich dass »alle Meßen über das Neü-heraus-kommende gleichsam ein Protocoll oder Inventarium gehalten, und iedesmahl durch öffentlichen Druck den Gelehrten dieser Zeit, auch endtlich, nachdem sich viel dergleichen in ein Corpus gesamlet haben wird, der Nachwelt communiciret werde.« (3) Der auf diese Weise zusammengetragene ›halbjärlicher Bücherkern‹ – ein Best of der jeweiligen Buchmesse – sollte nicht nur »die Nahmen der Autoren und Titel der Bücher« wiedergeben, sondern auch »Kern, inhalt, abtheilung, und denckwürdigste anmerckungen« aus ihnen ›herausziehen‹ (3). Obwohl sie kaum Kosten verursachen würde, ihre Mitarbeiter als unbezahlte Freiberufler aus dem Gelehrtenstand rekrutiert hätte und sowohl den Lesern wie den Verlagen (und natürlich auch den Autoren) nützlich gewesen wäre: die Res publica litteraria kann sich gegenüber den Mächtigen des monarchischen Sacrum imperium romanum nicht durchsetzen. Dabei führt Leibniz zahlreiche Argumente an, um Misstrauen gegen sein Unternehmen von vornherein abzubauen: Mit seiner Zielsetzung, dem gelehrten Leser ohne großen Kostenaufwand einen Überblick über die aktuellen Buchneuerscheinungen zu verschaffen bei gleichzeitiger Konzentration ausschließlich auf die ›guten‹ und ›nützlichen‹ Bücher entspricht Leibniz dem Publikationsanliegen des Journal des Sçavants. Mehr noch: er verspricht, dass ausschließlich in referierender Weise über die Bücher berichtet wird, um eventuelle Streitigkeiten (v. a. solche theologischer Art, die der Kaiser um des Reichsfriedens Willen wohl fürchtet) zu vermeiden. Auch die letzte Trumpfkarte, die Leibniz zieht, sticht nicht: dass der Nucleus – da er im Gegensatz zu den Messkatalogen nur die jeweiligen Neuerscheinungen und nicht die Gesamtzahl der lieferbaren Titel verzeichnet – als eine Art staatliche Beobachtungsstelle der Buchproduktion (»referens librarius«) fungieren könne. Kaiser Leopold I. jedoch lehnt eine Unterstützung trotz zahlloser einflussreicher Fürsprecher ab, nicht zuletzt, weil die Zuerkennung des Wiener Druckprivilegs Leibniz ein Quasi-Monopol verschafft hätte (Laeven 1990: 18). So dauerte es noch weitere vierzehn Jahre, ehe im deutschsprachigen Raum eine eigenständige Rezensions-Zeitschrift erscheinen kann: die von Otto Mencke verantworteten Acta eruditorum (1682–1744, vgl. Laeven 1990). Da Mencke je-
11 | G. W. Leibniz an Kaiser Leopold I., Br. v. 22.10.1668 (LAA I.I: 5). Mit Seitenzahl im Text zitiert. Vgl. auch Stein-Karnbach 1982; Laeven 1990: 16.
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doch daran interessiert ist, Leibniz als führenden Gelehrten zur Mitarbeit zu gewinnen, bindet er ihn bereits bei der Konzipierung der Actorum ein.12 International ausgerichtet, wurden die Actorum in der lateinischen Lingua franca der Gelehrten publiziert, weil – wie Leibniz 1681 an Mencke schreibt – den »zarthen ohren der frembden« […] eine[] solche[] schreibart« mit ihrer »eigentliche[n] reinigkeit«13 zustatten komme. Bei den Rezensionen sind alle Wissensbereiche vertreten – von der Theologie, Geschichte, Medizin und Physik bis hin zur Jurisprudenz und Mathematik. Einzig was wir heute als belletristische Literatur bezeichnen findet keine Berücksichtigung. Während ihres nahezu hundertjährigen Bestehens sind die Actorum quantitativ wie qualitativ gut aufgestellt. Leibniz nimmt durch sein Namenskürzel eine herausgehobene Stellung; alle anderen Rezensenten bleiben anonym. Die Mitarbeiter entstammen allesamt dem gehobenem akademischen Umfeld, sind meistens Professoren an der Universität Leipzig (vgl. Kirchner 1958, Tl. II: 20 f.). Die Actorum können damit als herausragende Vertreter des ›gelehrten Journals‹ gelten, die aber zumeist – ähnlich wie das Journal des Sçavants – auf ein Urteil innerhalb der Rezensionen verzichten, allerdings weniger, um von vornherein Rücksichten auf Empfindlichkeiten der Besprochenen zu nehmen, sondern vielmehr, um eventuelle Misshelligkeiten für das Periodikum und die soeben erst im Entstehen begriffene Gattung der ›Literaturkritik‹ zu vermeiden (vgl. Laeven 1990: 83 ff.; Hensing 1973: 38). Folgerichtig präsentieren sich die in den Actorum publizierten Rezensionen zumeist als Exegesen, die den Inhalt des jeweiligen Werkes wiedergeben, ohne über das Referat oder das Buch hinauszugehen. Mencke verzichtet zunächst darauf, den Actorum ein Programm zu geben und klärt stattdessen in seiner Korrespondenz mit den Rezensenten die editorischen Rahmenlinien (Laeven 1990: 58 ff.). Erst ab dem zweiten Jahrgang liefert Mencke eine Praefatio, die das Programm verdeutlicht. Mencke dringt auf die Vermeidung von negativer (also kritischer) Kritik durch Konzentration auf die fachliche Zuständigkeit – kein Gelehrter soll einen anderen kritisieren, außer aus Sachgründen. Auch dürfen strittige theologische Fragen nicht thematisiert werden (nicht zuletzt, um Probleme mit der Zensurkommission zu vermeiden): die Actorum eignen sich nicht als »tummelplatz […], darauff gelehrte leute Kugeln wechseln«.14 Der Streitverzicht und die lutherisch-orthodoxe Ausrichtung der Actorum korrespondieren einander und führen doch zum Streit, weil sich die nicht besprochenen theologischen Kontroversialautoren zensiert fühlen
12 | Das Folgende nach Laeven 1990: 51 ff. 13 | G. W. Leibniz an O. Mencke, Br. v. 12.(22.)9.1681 (LAA I.3: 505), vgl. (mit falscher Datumsnennung) Laeven 1990: 51. 14 | O. Mencke an G. W. Leibniz, Br. v. 1.11.1699 (LAA I.17: 627), vgl. auch Laeven 1990: 59.
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(Laeven 1990: 59). Vor diesem Hintergrund entwickelt sich fast zeitgleich jene Zeitschrift, mit der allgemein der Beginn der Literaturkritik in Deutschland angesetzt wird: die Monatsgespräche von Christian Thomasius.
b. Christian Thomasius: Von der Hermeneutik über die Literaturkritik zum Bekenntnis – der Kritiker als Exeget Die geistigen Verbindungen zwischen Leibniz und Thomasius sind eng: so war der Vater Friedrich Leibniz Lehrer von Thomasius’ Vater Jacob, bei dem wiederum Gottfried Wilhelm Leibniz studierte. Christian Thomasius ist nur zehn Jahre jünger als der große Universalgelehrte, der zudem von seinen Zeitgenossen nicht nur als Gelehrter, sondern zugleich als Galan, als ›honnête homme‹, beurteilt wurde. Die von der Forschung häufig vorgenommene Trennung zwischen einem gelehrt-pedantischen Leibniz und einem politisch-klugen Thomasius findet sich also bei den Zeitgenossen noch nicht. Der Vater Jacob Thomasius vertritt zudem eine fortschrittliche Auffassung von (urteilender) Literaturkritik, die er im Rahmen seiner gelehrten Dissertationsschrift De plagio literario (1673) entfaltet (vgl. Jaumann 1995: 248 f.). Lässt sich also eine Genealogie der Literaturkritik, eine Geschichte der Moderne, der urteilenden Kritik, an Christian Thomasius entfalten? Gewöhnlich wird diese Frage von der Thomasiusund Literaturkritik-Forschung bejaht, die auf die Etablierung einer Streitkultur bei Thomasius verweist – Thomasius sei der Erste, der in seinen Monatsgesprächen eine gustatorische Literaturkritik entfaltet (MG Aug. 1689: 648 f.). Im Folgenden möchte ich jedoch zeigen, dass die Monatsgespräche eine Praxis der liebenden Kritik etablieren. Bedauerlicher Weise ist uns die Vorlesung, die Thomasius 1691 in Halle gehalten hat, nur durch eine Vorlesungsankündigung unter dem Titel Gemischter Discurs bey Intimirung 5. neuer Collegia bekannt. Darin preist er an, die sich soeben neu entwickelnde Praxis der Literaturkritik zu vermitteln, damit die Studenten lernen, »kluge und unkluge Bücher von einander [zu] entscheiden«. Er verspricht, den Studenten zu vermitteln, »nach was für Grund=Regeln man die Güte der Bücher richten solle« (Thomasius 1701: 385), besonders, indem er am Negativbeispiel der Acta eruditorum und des Journal des Sçavans aufzeigt, dass diese die in ihren Rezensionen beanstandeten »praejudiciis [...] selbsten begangen.« (Thomasius 1701: 385 f.)15
15 | Zum Zusammenhang von Vorurteilsreflexion und eklektischer Methode bei Thomasius vgl. Beetz 1983: 24 ff.
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Damit reagiert Thomasius zu einem recht frühen Zeitpunkt auf die Umstellung des Buchmarktes, der sich im 18. Jahrhundert nicht länger mehr ausschließlich an ein gelehrtes Publikum richtet, sondern infolge des Strukturwandels der Öffentlichkeit zunehmend das Bürgertum adressiert (Habermas 1990: 72 f.)16 wie er auch zur »Bereichsdifferenzierung von Recht und Jurisdiktion gegenüber Religion, Konfession und Kirche« beiträgt und damit eine Ablösung der Theologie als Leitdisziplin – oder, wie Thomasius schreibt, als »regina tenebrarum« (Thomasius 1691: 61) – mitträgt, ohne freilich ›Religionskritik‹ zu üben (Jaumann 1994: 160; Danneberg 2001). Die Überlegungen von Thomasius zur (Literatur-)Kritik speisen sich aus unterschiedlichen Quellen: einerseits als Teilgebiet einer anwendungsbezogenen Kritik, andererseits als Reflexion der hermeneutischen Prämissen eben dieser Kritik, als Philosophie (mit ihren bei Thomasius erstmals ausdifferenzierten Teilgebieten Logik, Ethik und Politik, vgl. Hammerstein 1972: 52 f.), Kritik und Literaturkritik werden bei Thomasius existentiell begründet (als personale Fähigkeit) statt szientistisch (als objektive Reflexion); sie sind Teil der lebendigen (statt der kritischen) Erkenntnis.17 Den Zusammenhang von Jurisprudenz, Hermeneutik und Literaturkritik bei Christian Thomasius gilt es zunächst zu reflektieren. Dieser Konnex steht im Kontext einer hermeneutischen Begründungsnotwendigkeit, innerhalb derer die Hermeneutik als Teilgebiet der Logik allererst entstehen und sich von theologischen Exegesepraktiken des protestantischen Regelkanons einerseits, vom älteren Verfahren der Ars critica als Verfahren der vornehmlich (alt)philologischen Textkritik andererseits emanzipieren musste: beide Verfahren zielen im Kontext einer exegetischen Philologie auf die Bewahrung und Entschlüsselung der ›Spur Gottes‹ im Text,18 hatten doch René Descartes (Discours de la méthode, 1637), François de La Mothe Le Vayer (Du peu de certitude qu’il y a dans l’histoire, 1668) und Pierre Bayle (Critique géneral de l’histoire du Calvinisme, 1682) über die ›Ungewissheit der Geschichte‹ vornehmlich am Beispiel der Kirchengeschichte philosophiert und die hermeneutische Begründungsnotwendigkeit geschichtlicher Zeugnisse eingefordert (vgl. Hazard 1935; Scheele 1930; Reill 1975). In diesen Kontext ist zugleich Thomasius’ Bemühen einzuordnen, der ›Auslegungskunst‹ ihr philosophisches Gepräge nicht im Kontext der älteren, theologisch determinierten Hermeneutik zu geben, sondern sie 16 | Habermas konstatiert, dass Ende des 17. Jahrhunderts repräsentative und bürgerliche Öffentlichkeit noch koexistieren können. 17 | Schneiders 1990: 115. Zur (sozialen) Tradition des liebenden Kommentars vgl. Bourdieu 1992: 15; 49; 52. 18 | Einen solchen Wandel verkörpert etwa Ioannis Clericus (vulgo Jean Le Clerc), dessen Logica (1692) von seiner Ars critica (1697) beerbt wurde, in der er versucht, das mathematische Methodenideal Descartes‘ auf die Philologie zu übertragen. Vgl. dazu Pitassi 1987.
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der Jurisprudenz zuzuordnen (Thomasius 1713, Cap. 10, § 38).19 Die Abfassung einer Hermeneutica juris und damit die fachliche Verdrängung der Hermeneutica sacra wird allerdings noch bis 1750 auf sich warten lassen und Christian Heinrich Eckhard überlassen bleiben;20 Thomasius kann deren notwendige Ausdifferenzierung lediglich philosophisch begründend vorwegnehmen (Rüping 1998). Es würde Thomasius’ eher pragmatisch orientierte denn theoretisch fundierte Intentionen verfehlen (vgl. Hammerstein 1979), wollte man eine auf Einheitlichkeit zielende Theorie der Literaturkritik aus seinen Schriften herauspräparieren, hatte sich der als »Weißheits=Liebender« Apostrophierende doch selbst als »Eclecticus« bezeichnet, der »alle Lehren an dem Probierstein der gesunden Vernunfft streichet.« (Thomasius 1713: Cap. 6, § 95) Im Sinne der Eklektik21 vertritt Thomasius keine geschlossene Konzeption von Kritik und von Literaturkritik (vgl. Schneiders 1985: 148), sondern verteidigt als Modernus eine Position, die das vorurteilsfreie Selbstdenken zur Einstellung erhebt. Dadurch wird Literaturkritik zu einer Frage des ›Glaubens des Verstandes‹, insofern die geoffenbarten Wahrheiten vor historischer wie philologischer Kritik in Schutz zu nehmen sind (Vollhardt 1997: 12). Der Eklektiker fördert nur die ›nützlichste Wahrheit‹ (Veritas utilissima), muss zuvor jedoch das überlieferte Vorurteil freilegen (Praejudicium autoritatis humanae) und sein Urteilsvermögen (Iudicium) schärfen. Doch stellt der Eclecticus sein Urteil vorerst zurück und praktiziert eine »vorsichtige Skepsis mit der Tendenz zur Urteilsenthaltung« (Schneiders 1985: 148, vgl. Danneberg 1994: 39). Das infolge der Umformierung des Iudiciums22 bereitgestellte Wissen – auch die literaturkritische Orientierung – wird am Grad ihrer anwendungsbezogenen Verwertbarkeit gemessen. Damit ist nicht die sich gerade erst herausbildenden neue Lehre der Ökonomie gemeint,
19 | Auch Thomasius’ Reaktion auf den Polyhistor verhält sich bei allgemeiner Zustimmung an dem Punkt reserviert, an dem Morhof das Göttliche in allen Wissensbereichen herausstellt. Vgl. MG Aug. 1688: 287. 20 | Zur Ausdifferenzierung von ›hermeneutica generalis‹ und ›hermeneutica juris‹ vgl. Scholz 1998; zur Herausbildung der ›hermeneutica juris‹ vgl. Bühler 1998, zu Eckhard ebd. 110 ff. 21 | Schneiders 1985: 154 betont, dass mit der Einleitung zur Vernunftlehre (1691) ein Paradigmenwechsel vom eklektischen zum selbstbewussten Denken eintrete; Albrecht 1994: 398 ff. betont, dass Thomasius seine (in Auseinandersetzung mit Johann Christoph Sturm geschulte) Eklektik-Theorie nicht in eine Auswahl-Praxis überführt habe, sondern als Statthalter-Begriff für die (noch nicht entwickelte) Praxis der Selbstständigkeit verwendet; Schmidt-Biggemann 1983: 272 ff. interpretiert Thomasius’ Eklektik als praxisorientierte Anti-Gelehrsamkeit. 22 | Während im 16. und 17. Jahrhundert das Urteil die Ortsbestimmung des Einzelwissens innerhalb der Gesamtsystematik erlaubt, selektiert der Iudicium-Begriff bei Thomasius Wissen durch Nützlichkeit, vgl. Scholz 2002: 6; 59 f.
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sondern die Integration von Literaturkritik unter ein ethisches Primat. Die ›Ethica‹ von Thomasius zielt auf das Austarieren der Affekte und deren Umgestaltung zu einer (hermetisch fundierten, Theison 2010: 381 ff.) ›vernünftigen Liebe‹ (Thomasius 1713: Cap. 14, § 41–60; Cap. 15, § 1),23 wie Thomasius dies dann in seiner Einleitung zur Sittenlehre (1692) darlegt, die sich laut Untertitel als »Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben« definiert (Thomasius 1692). Dass Thomasius die Moral vom theologischen in den juristischen Diskurs des Decorum überführt (bei gleichzeitiger Trennung vom Honestum),24 erlaubt auf moralischem Gebiet zugleich die Konzeption einer zwischenmenschlichen statt christlichen Liebesethik (1. Kor 13,4–7), die an den Diskurs der französischen Liebesdispute – speziell des preziösen Liebesdiskurses der Madelaine de Scudéry – anschließt (vgl. Schneiders 1979: 359). Anders als die Pietisten, die das galante Ideal und die Romane als ›Mitteldinge‹ (Adiaphora) verwerfen, entwickelt Thomasius den Zusammenhang von Geselligkeit und Geschmacksurteil gerade anhand der Mitteldinge (vgl. Kondylis 1981: 552). Naturrechtliche Überlegungen, Auseinandersetzungen mit dem Pietismus und literaturkritische Geselligkeit schießen bei Thomasius zusammen.25 In diesem Rahmen reinterpretiert Thomasius die galante Liebeskasualistik als ethisch-moralische Gesellschaftstheorie (vgl. Peter 1999: 59) im naturrechtlichen,26 genauer: im privatrechtlichen Sinne (vgl. Borgstedt 1997: 415) unter der Formel des Iustum, also als Vermeidung ungerechten Handelns.27 Als literaturkritisches Handlungsmotto gilt die ›Goldne Regel‹ »Was du nicht willst das man dir tu’, das füg auch kei-
23 | Zum Diskurs ›vernünftige vs. fleischliche Liebe‹ im Kontext der literarischen Kritik vgl. auch MG Jan. 1688: 24 f. Vgl. dazu Kondylis 1981: 550. 24 | Thomasius 1692, Cap. 4–6 (»von denen Lateinern Decorum, von denen Frantzosen Galanterie genennet«, Thomasius, Thomasius eröffnet der studierenden Jugend einen Vorschlag [1689] (Thomasius 1701: 258) Vgl. auch Schneiders 1971: 58; Hammerstein 1972: 58; Beetz 1989: 218. Zur Ablehnung von Thomasius’ ›Decorum‹-Lehre durch Leibniz vgl. Hammerstein 1972: 60. 25 |Vgl. Schmitt-Maaß 2016. 26 | Vgl. die für die Liebesmetaphorik aufschlussreiche Rezension von Johann Ludwigs Praschs De lege caritatis (MG Febr. 1689: 79 f.) sowie von dessen Designatio juris naturalis ex disciplina christianorum (MG März 1689: 210 f.). Thomasius zeichnet nach, dass »die allgemeine Liebe das rechte Recht der Natur« sei und also solche von ihm unterschieden, aber nicht entgegengesetzt sei. Thomasius weist Praschs Liebesethik unter Bezug auf Hugo Grotius zurück und nimmt dafür seinerseits das Recht zur Äußerung seiner »unpassionirte[n] Meynung« zu Prasch (und einer Korrektur desselben) in Anspruch. 27 | Das Iustum begründet noch bei Kant die Rechtslehre, die Ethik und die Moralphilosophie, vgl. Schneiders 1971: 273 f.
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nem andern zu.«28 Literaturkritik erweist sich als Lebenswissenschaft,29 insofern der Literaturkritiker nach Thomasius »so wohl aus Liebe zur Warheit/ als aus Liebe zu seiner [des Rezensenten] Besserung« rezensiere, um »seinen Nähesten seine Irrthümer« bewusst zu machen, nicht aber, ihn als Person anzugreifen (MG Jan. 1690, Vorr. 9). In universalistisch erweiterter Perspektive und weitgehend auf das frühmoderne Geselligkeitsideal kommunikationsbezogen formuliert Thomasius den ›amourösen Imperativ‹ aus dem Geiste des Decorum iuris naturae, anderen Menschen nicht nur keinen Schaden zuzufügen,30 sondern ihnen mit prinzipiellem Wohlwollen entgegenzutreten (Thomasius 1692: 199; Thomasius 1699: 117; Thomasius 1705: 238 ff.). Der Interpret als ›Weißheits=Liebender‹ hat seinen Willen mit der Sache so zu vereinen, »daß gleichsam ein Wille daraus werde/ und keiner über den andern sich eine Botmäßigkeit anmaasse« (Thomasius 1692, 4. Hst. § 12). Den Umkehrschluss, der eigentlich jedes literaturkritische Iudicium in Frage stellen muss – »was wir lieben, das halten wir [zwangsläufig] für gut« (Thomasius 1696, 15. Hst. § 7) – vollzieht Thomasius nicht, sondern verortet die Aufgabe der Kritik eben in jener liebenden Annäherung an den Gegenstand: nur das liebende Praeiudicium des hermeneutischen Erkenntnisinteresses gewährleistet eine positive Erkenntnis und erlaubt ein Iudicium, das sich im Rahmen der frühmodernen Höflichkeitspraxis des Decorum bewährt.31 Literaturkritik wäre in diesem modus operandi – ähnlich wie die Urteile in den Historiae literariae – keine Frage der Kenntnisse, auch keine Frage der moralischen Einsicht, sondern vielmehr ein umfassender moralischer Impetus, der sich im tätigen Streben nach dem eigenen Glück und dem anderer praktisch umsetzen soll.32 Als Kommunikationsrahmen und negatives (da einseitig amouröses) Beispiel dient Thomasius die literarisch fixierte Minneliebe (Thomasius 1692: 6.
28 | 1691 bringt Thomasius dieselben Argumente vor, um die ›vorläufige Urteilsenthaltung‹ in Bezug auf andere Menschen und die psychologische Beurteilung von deren Handlung zu begründen, vgl. McReynolds/Ludwig 1984: 547. 29 | 1695 erscheint Johann Samuel Adamis Schrift Misanders Bücher-Freunde und Bücher-Feinde, die in der Vorrede und im ersten Kapitel eine liebende Lektürepraxis expliziert. r 30 | Thomasius schließt hier an Cicero an (De oficiis I,99), vgl. Thomasius 1699: Bl. 113 ; Thomasius 1709: 120 f.; Thomasius 1713: 365. 31 | Aus dieser Perspektive lassen sich Thomasius’ Monatsgespräche nur noch bedingt als ›polemische Streitschriften‹ interpretieren, vgl. Gierl 1997: 472 f. Zu literaturkritischem Streit und frühmoderner Höflichkeitskultur vgl. auch Martus 2004: 49 ff. Martus konzentriert sich ausschließlich auf das Höflichkeitspostulat und vernachlässigt daher die Bedeutung der entstehenden Hermeneutik. 32 | Zum Sozialitätsprinzip der ›vernünftigen Liebe‹ vgl. Vollhardt 2001: 170 ff., bes. 177.
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HSt. § 59–60). Nicolaus Hieronymus Gundling, jener Thomasius-Schüler, der die Funktion des Literaturkritikers als Anwalt betonen wird, argumentiert mit Thomasius gegen Johann Franz Buddeus, dass eine ethisch begründete Lebensweise die juristischen Ansprüche zurückstellt – »Wer also juristisch lebet, der ist eben noch nicht vernünftig« – zugunsten einer einzig dem Gewissen verpflichteten »vernünftigen abundantia amoris« (Gundling 1733: 12; vgl. Scattola 1997: 356 f.). Insofern ist die ›literarische Kritik‹, die Thomasius entwickelt, in ihren Wirkungsabsichten breiter angelegt als unser heutiger Begriff von Literaturkritik, da sie alle möglichen Gattungen vermischt, um ihr Ziel zu erreichen: indem das literaturkritische Iudicium hermeneutisch die »Meynung eines Menschen« auf die »unstreitige Erkäntnüß« (Thomasius 1691: 166) hin untersucht, unterstellt sie die Möglichkeit, dass ein Mensch »anders redet/ als er gedencket«, dass also die »allgemeine[] Boßheit« eines Autors im Rahmen der frühneuzeitlichen Simulatio-/Dissimilatio-Rhetorik den Sinn der Aussage verschleiern kann (Thomasius 1691: 157). Insofern tangiert ein literaturkritisches Iudicium immer auch die hermeneutische Erkenntnis, oder, vice versa: das literaturkritische Urteil setzt eine im theologischen Exegesediskurs wurzelnde erkenntniskritische Hermeneutik voraus, die aber den vorwissenschaftlichen Empirismus deutlich übertrifft (vgl. Arndt 1994: 12–25). Anders als René Descartes, der eine Interpretation solange als richtig erachtet, wie keine alternative Interpretation vorliegt, die die gleiche Plausibilität beanspruchen kann, eignet nach Thomasius jeder Auslegung ein ›Wahrscheinlichkeitsstatus‹ (Demonstratio hypothetica), da der Sprecher/Schreiber sich immer auch verstellen kann (vgl. Danneberg 1997: 309). Hinsichtlich jener Objekte, die einer sinnlichen Anschauung nicht zugänglich sind, sondern nur einer ›ideellen‹, sind einzig wahrscheinliche Erkenntnisse möglich (vgl. Thomasius 1691a, HSt. V, § 23). Um nun aber doch nicht alle Aussagen als prinzipiell ›richtig‹ anerkennen zu müssen, fordert Thomasius erstens, dass die »Auslegungen einer Schrifft [...] mit der gesunden Vernunfft überein kömmt« (Thomasius 1691, HSt. 3, § 76: 188) und zweitens, dass zwischen zwei gleichwahrscheinlichen Aussagen jener der Vorzug gebührt, die ›ohne Boßheit‹ getätigt worden sei. Auf der anderen Seite habe ein Autor so lange als aufrichtig zu gelten, sofern er nicht »wieder [!] die gesunde Vernunft/ erbare Sitten/ oder Gottes Wort gelehret habe« (Thomasius 1691, 3. HSt., § 80: 191). An anderer Stelle verdeutlicht Thomasius das Problem der hermeneutischen Erkenntnistheorie mit dem Bild der Waage: die Wahrscheinlichkeit (vgl. Danneberg 1994: 27 ff.) als »Züngelchen an der Waage« (Thomasius 1691a, HSt. X, § 8) entscheide über das Gewicht zweier unterschiedlicher Meinungen oder Thesen – im Umkehrschluss gilt: wo keine positive Entscheidung herbeigeführt werden kann, bleibt der Gegenstand, über den geurteilt werden soll, »unerkannt« (Thomasius 1691a, HSt. X, § 15).
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Prinzipiell steht die Hermeneutik von Thomasius jedem Autor also wohlwollend gegenüber und legt dessen Schriften aus nach der Regel in dubio pro reo (Hruschka 2000: 289–293). Damit wird aber der (juristisch gebildete) Interpret im Rahmen der Interpretatio authentica zugleich als gleichwertig zum (bürgerlichen) Autor aufgewertet, wie auch der Verlust der herausgehobenen Rolle des Autors als bester Interpret seiner selbst durch die Billigkeitsannahme – dass es sich bei dem Text um einen vernünftigen und ›richtigen‹ Text handele – ausgeglichen wird (vgl. Petrus 1996). Im Rahmen einer Hermeneutica profana iuris wird durch das von Thomasius vertretene Ideal des Sapiens et bonus auctor die Auslegungslehre privatiert: der Autor ist der beste Interpret seiner selbst, ohne sich dafür methodologisch legitimieren zu müssen (vgl. Danneberg 2003a: 672 ff.). Der Autor eröffnet mit Publikation seines Textes der Öffentlichkeit die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Text und büßt dafür die Deutungshoheit an seinem eigenen Text ein; dieser Verlust wird jedoch kompensiert durch die hermeneutische Billigkeitsannahme (die besagt, dass zwar Autor und Interpret bei der Auslegung des Textes argumentativ gleichgestellt sind, der Interpret jedoch die Billigkeitsannahme zu berücksichtigen hat, Danneberg 2003a: 674 f.). Umgekehrt kann ein Literaturkritiker zum Sinn- (eigentlich: Rechts-)verdreher (Calumniante) werden, wenn er nicht versucht, den Sinn eines zu beurteilenden Werkes zu ergründen, sondern »alles nach dem Vorhaben seiner bösen Intention« interpretiert (Thomasius 1691, 4. HSt., § 59: 261).33 Noch in seinem Summarischen Entwurf von 1699, der als Studienanleitung ein philosophisches Propädeutikum für eine Vielzahl von Disziplinen bereitstellt, fokussiert Thomasius die Bedeutung der ›Critic‹ und die Frage, ob diese »eine[m] Juristen [aber auch einem Physiker und einem Metaphysiker, für die Thomasius seinen Entwurf ebenso verfasst hat] nützlich sey« (Thomasius 1699: 55); ausführlicher und mit Literaturverweisen äußert sich Thomasius in den aus den Vorlesungsmitschriften zu seinem Summarischen Entwurff hervorgegangenen Cautelen (1713), wo er die ›wahre Critique‹ gegen die ›Polyhistorey‹ ausspielt und innerhalb der ›Critique‹ die falsche von der pedantischen scheidet wie er insgesamt das neue Feld der ›Critique‹ gegen die gelehrte Scholastik in Anschlag bringt, weil diese nur das Praejudicium auctoritatis fortschreibe (Thomasius 1713: 149; vgl. Kühlmann 1982: 455 ff.). Im Zusammenhang der metaphysischen Pneumatologie kommt Thomasius in den Cautelen noch einmal auf die ›Critique‹ als hermeneutisches Verfahren zu sprechen, das mit Hilfe der Anwendung des eigenen Verstandes die überlieferten Vorannahmen der Scholastiker überwindet (Thomasius 1713: 283).
33 | Zur Bedeutung der ›interpretatio‹ im Rahmen der ›Hermeneutica juris‹ bei Thomasius vgl. Bühler 1998: 107 ff.
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Den »Nutzen, den ein Liebhaber der Weisheit aus Lesung der Romanen hat«, besteht nach Thomasius »darinnen/ daß er die unterschiedene[n] Neigungen und Arten der Menschlichen Natur daraus erkennen lernet/ seinen Verstand schärffet/ und zu der Klugheit sich behutsam auffzuführen Anleitung bekommt etc.« (Thomasius 1713: 160) Thomasius macht zugleich Werbung für die Belles lettres wie er auch Werbung betreibt für die reformbewusste juristische Fakultät, die sich an praktischen Anforderung orientiert und daher »nützliche[] und angenehme[] studia« (Thomasius 1713: 181) im Sinne eines vernünftigen Geselligkeitsideals verbindet.34 Diese Definition der Jurisprudenz im Rahmen der Klugheitslehre (vgl. auch Thomasius 1691a: 75 f.) – dass sie zwischen wahr und falsch, gut und böse, schön und hässlich unterscheiden lehre – erklärt auch die Bedeutung der Cautelen als »die Bedingungen und die Einschränkungen, die Berichtigungen, die man vornimmt, wenn man Bücher liest« (Scattola/Vollhardt 2003: 166) und schärft die Eklektik erheblich in Richtung auf die Kritik (Schmidt-Biggemann 1983: 281). Thomasius entwickelt eine Reihe von Auslegungsregeln, die auch die ›mystischen‹ (gemeint sind die theologischen) Auslegungsregeln in den juristischen Diskurs integriert, ihnen sogar ein eigenen Passus – das Schlusskapitel – einräumt (Thomasius 1713, Cap. 10, § 44; Cap. 19), nicht ohne die theologische Exegese der Grammatik unterzuordnen (Thomasius 1713, Cap. 7; vgl. auch Cap. 3, § 23–24). Unbefriedigend bleibe die Auslegung für den kritischen (und folglich auch für den literaturkritischen) Diskurs, wo der Kritiker »gar zu subtil« urteile und es an einem »accuraten und recht scharffen Judicio« mangele (Thomasius 1713, Cap. 5, § 59).35 Damit etabliert Thomasius die Scheidung von Jurisprudenz und Theologie, die er seit den Institutiones (1688) betrieb, ohne gleichzeitig die interpretatorischen Verfahrensweisen der Theologie überwinden zu können oder zu wollen: Religion ist nach Thomasius geoffenbarter Glaube und als solcher nicht kritisierbar36 – einzig die Theologie bzw. die Theologen können in ihrer Zuständigkeit begrenzt werden (vgl. Schneiders 1989: 13); und genau das beabsichtigt Thomasius im Kontext seiner hermeneutischen Überlegungen.37 Die historische Kritik – und damit auch deren spezialisierte Ausprägung: die Literaturkritik – dient der Ausbildung der ›Weisheit‹, mehr noch: das Studium der kritischen Historie richtet sich an den »Weißheit=Liebenden« (Tho34 | Vgl. Schneiders 1971: 110 f. sowie (mit Blick auf das – auf Pufendorfs socialitas-Prinzip fußendem – Konversationsideal) Göttert 1988: 88 f. 35 | Thomasius führt als Negativbeispiel die Ars historica von Gerardus Joannes Vossius aus dem Jahr 1623 an, die 1699 neu aufgelegt wurde. 36 | Zur lutherischen Fundierung des thomasianischen Empirismus und der damit verbundenen Prämissen einer Erkenntnistheorie vgl. Engfer 1989: 31. 37 | Zum philosophisch-theologischen Streit in den Monatsgesprächen vgl. Gierl 1997: 432 f.
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masius 1713: 90), der die »vielen eiteln Bücher [...] geduldige ertrage/ bis sie entweder mit gutem Willen unterlassen werden/ oder auf andere Weise abkommen.« (Thomasius 1713: 62)38 Die Aufgabe der historischen wie der literarischen Kritik definiert Thomasius im Rahmen der vier Fakultäten als zur Philosophie gehörig und Instrument der »drey höhern Facultæten« (Thomasius 1713: 65; vgl. ebd. Cap. 3, § 25), die »die Weißheit Liebenden zu der Weißheit vorbereitet und anführet/ ihnen in allen Wissenschafften ihr eignes Elend und Unwissenheit und viel andere Mängel zeiget« (Thomasius 1713: 66). Die Auseinandersetzung mit anderen Schriftstellern, die Thomasius in den Cautelen beispielhaft praktiziert, rechnet dem kritisch-historischen System zu; und auch wenn diese negative Historia litteraria im weiteren Gang der Frühen Aufklärung nicht weiterentwickelt wurde, so installiert Thomasius doch mit der kritischen Historie, die die Geschichte der Irrtümer, der Mängel, der Vorurteile und Torheiten der menschlichen Gattung fokussiert, ein Novum (Thomasius 1713: Bl. 6v). Gegen Thomas Hobbes’ Prinzip der Conservatio sui und angeregt durch Johann Ludwig Prasch (MG Febr. 1689: 79–99/März 1689: 206–308) verteidigt Christian Thomasius – ausgehend vom augustinischen Prinzip der Caritas ordinata (Thomasius 1692: 92) – seine dynamische Konzeption der Liebe, der er die Selbstliebe zugrunde legt, diese aber von der christliches Liebeskonzeption (die ihren Ausdruck im Opfertod Jesu findet) trennt (Schneiders 1971). Als »vernünfftige [d. h. natürliche] Liebe« (Thomasius 1713, Cap. 14, § 51) bezeichnet Thomasius das Ziel einer höheren Erkenntnis angesichts der Begrenztheit menschlichen Denkens: weder Ausübung des intellektuellen Vermögens, noch Erkenntnis des Wahren noch intellektuelle Anschauung Gottes, sondern »Harmonisierung der Leidenschaften durch den Verstand« (Scattola/Vollhardt 2003: 180) ist ihr Ziel (Thomasius 1713, Cap. 14, § 51). Obwohl Thomasius jene Bestrebungen ablehnt, die in der Imitatio Christi die ›natürliche Liebe‹ ausgeprägt sehen, verharrt er im Rahmen der Philosophia christiana, indem er beispielsweise an der rechtsgeschichtlichen Verbindlich- und Vorbildlichkeit der mosaischen Gesetze festhält (Thomasius 1713, Cap. 6, § 13 ff.) und konstatiert: »Wir finden in der [Heiligen] Schrift die beste und raisonnabelste Philosophie« (Thomasius 1738, Tl. I: 275). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Jahre zwischen 1690 und 1700 in der Biographie von Christian Thomasius eine Krise bezeichnen (s. u.); zugleich fällt in diese Zeit aber auch die Abfassung und Wiederauflage jener Monatsschrift, die im deutschsprachigen Raum immer wieder als erste litera-
38 | Bereits die Vorrede zu den Cautelen hebt an mit einer Auslegung des Sprichworts »vexiren r macht klug; und: Gedult überwindet alles« (Thomasius 1713: Bl. 6 ).
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turkritische Zeitschrift gehandelt wird wie auch Thomasius seine Gedanken zu Staats- und Strafrecht ausarbeitete und an der 1694 begründeten Universität Halle die Juristenausbildung prägte. Im Zusammenhang von naturrechtlicher Jurisprudenz und Literaturkritik interessiert im Folgenden die Bedeutung der Critic, die sich bei Thomasius – wie ich zu belegen suchen werde – aus der hermeneutisch-juristischen Tradition herschreibt. Der ›Kunstrichter‹ wie ihn die spätere Gottschedische Literaturkritik kennt, wäre also nach Thomasius zunächst ein Literaturliebhaber, dessen Buch-Apologie sich einer liebenden Erkenntnis verdankt. Das sind die hermeneutischen Reflexionen, vor denen sich die literaturkritische Praxis von Thomasius entfaltet. Da sich die eingangs zitierte Vorlesung nicht erhalten hat, soll im Folgenden anhand der Monatsgespräche der Zusammenhang von Lieben und exegetischer Kritik verfolgt werden. Die Monatsgespräche reflektieren zwar einerseits wiederholt die Funktion und den Nutzen von Literaturkritik, andererseits aber hinterlässt Thomasius auch in den Monatsgesprächen keine geschlossene ›Theorie der Literaturkritik‹, sondern integriert den literaturkritischen in den moralphilosophischen (also privatrechtlichen) Diskurs.39 Im Folgenden wird anhand der Monatsgespräche der Zusammenhang von Erkenntnis und Bekenntnis in der Praxis der liebenden Literaturkritik entfaltet. Als Christian Thomasius 1687 an der Universität Leipzig Vorlesungen in deutscher Sprache zu halten beginnt und sich damit an ein breiteres Publikum wendet, entbrennt ein heftiger Streit um den ausgebildeten Juristen. Von 1688 bis 1690 gibt er zudem eine Rezensionszeitschrift heraus, die sich – im Gegensatz zu ihren ebenso gelehrten wie ›zopfigen‹ Vorgängerinnen, v. a. die gleichfalls in Leipzig erscheinenden Acta eruditorum – wiederum auf Deutsch an ein breiteres Publikum wendet.40 1690 erscheinen die drei Bände der Zeitschrift mit dem barock anmutendem Titel Schertz= und Ernsthaffter/ Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen Erster Monat oder Januarius, in einem Gespräch vorgestellet von der Gesellschafft der
39 | Zur »Säkularisation der christlichen Liebesethik« durch Thomasius’ Moralphilosophie vgl. Schneiders 1971: 143 ff. 40 | Zur gelehrten Kritik an den Monatsgesprächen vgl. Salomon 1900, Bd. I: 95 ff.
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Müßigen,41 kurz: Monatsgespräche, und Thomasius erhielt – aus diesen und anderen Gründen – ab 1690 Publikations- und Lehrverbot in Kursachsen.42 Thomasius setzt sich in seinen Monatsgesprächen von den gelehrten Journalen seiner Zeit ab (MG Aug. 1688: 224 ff., 234 ff., Nov. 1688: 684, Dez. 1688: 751; Sept. 1688: 384; Nov. 1688: 600; Dez. 1689: 1157–1160), weil diese Journale auf die unterhaltenden Literatur und ein kritisches Urteil verzichten. Besonders eindrucksvoll führt er seine Ablehnung durch die Inszenierung der kommunikativen Situation der Monatsgespräche vor: die Kutsche der Reisegesellschaft, die sich über Literatur unterhält, kippt während des Gesprächs in genau jenem Moment um, als die vier Reisenden über die Acta eruditorum zu disputieren beginnen (MG Jan. 1688: 115).43 Damit ›kippt‹ Thomasius zugleich den gelehrten Discours, der buchstäblich ein »beschneietes ENDE« (MG Jan. 1688: 112) nimmt, indem eine halbe schneeweiße Seite unbedruckt bleibt – Platz, den neuen Diskurs der Literaturkritik zu etablieren. In der Vorrede zu seinen Monatsgesprächen von Januar 1690 deklariert Thomasius seine Zeitschrift als Ein-Mann-Unternehmen, das nicht über die nötige »Correspondentz« verfüge; er könne nicht »so viel neue Bücher an die Hand schaffen/ und so viel Zeit auf excerpirung derselben spendieren« (MG Jan. 1690: 7), wie seine Kollegen von den Acta eruditorum, die »alle ihre Gedancken auff ihre Excerpta, die sie machen wollen/ richten/ und sonsten nichts zu thun sich vornehmen«, jedoch kein »judicium [...] fällen« (MG Jan. 1689: 28). Der Begriff des Iudiciums – in der Neuzeit die richterliche Untersuchung, in der Antike (zunächst als κρίσις) die urteilenden Wahrnehmung (vgl. Tonelli 1978: 122 ff.; Röttgers 1975: 35) – ist eine Begriff, den Thomasius wiederholt zur Begründung des Amts des Literaturkritikers anführt. Durch ihre iudicia unterschieden sich die literaturkritischen Journale von den gelehrten; diese sprächen das Vermögen des Publikums zum Iudicium an statt nur dessen Ingenium zu beschäftigen (MG Feb. 1688: 238). Thomasius tritt mit seinen Monatsgesprächen zu einem »freye[n] judicium von de[r] Thorheit etlicher Bücher« an (MG Dez. 1689: 1148), und da die Res publica litteraria kein anderes Oberhaupt denn die Vernunft anerkenne, unterwerfe jeder ›Publizist‹ sich der »allgemeine[n] censur der vernünfftigen Menschen«, die ihre »freyen Judicia genugsam justificiret« 41 | Aufgrund des uneinheitlichen Zitiersystems der Forschung (bedingt durch den Neu- und den Nachdruck) im Folgenden unter Angabe von Erscheinungsmonat und -jahr mit Seitenzahl im Text zitiert. 42 | Zur Anlage der Monatsgespräche vgl. Martens 1971: 78 f. Seine letzte Leipziger Vorlesung beschäftigt sich bezeichnender Weise mit den Vorurteilen, vgl. Thomasius, De praeiudiciis oder Von den Vorurteilen (Thomasius 1723, Tl. III, 7. St.). 43 | Die Monatsgespräche inszenieren zwischen den vier Beteiligten eine Dialogizität, die dem realen Literarischen Quartett unter Marcel Reich-Ranicki nicht unähnlich ist.
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haben müssen (MG Dez. 1689: 1150 f.). Keineswegs ist ein solches Verfahren im literaturkritischen Diskurs um 1700 üblich – so lobt z. B. Gottfried Zenner in seinem auch ›Literaturkritiken‹ enthaltenden Frühlings-Parnaß von 1696 Morhofs Polyhistor, da dieser »judicia de auctoribus« enthalte, er selbst fällt jedoch eben kein kritisches Urteil (Zenner 1696: 175). Thomasius integriert den Begriff des Iudiciums, der ihm als Juristen wohlvertraut ist,44 in eine Theorie der Literaturkritik und überführt damit den gelehrten Diskurs der Literaturkritik in den juristisch-literaturkritischen, genauer gesagt: in einen privatrechtlichen.45 Das Privatrecht, also die Lehre von den Pflichten gleichberechtigter Menschen gegeneinander, hat Thomasius nach 1700 zunehmend stärker fokussiert. 1705 erscheinen seine Fundamenta iuris naturae, die das Privatrecht zwischen der Lehre von der Gerechtigkeit (Iustitia), der Lehre vom angemessenen Verhalten (Decorum) und der Lehre von der innerlichen Sittlichkeit (Honestum) verhandeln (Thomasius 1718).46 Im Kontext der Frage, ob der Eigen- oder der Nächstenliebe rechtliche Priorität zukommt (vgl. Pott 1989: 227 ff.), emanzipiert Thomasius den Diskurs der Pflichten zur Menschlichkeit aus dem juridischen Bereich und überführt ihn unter der Formel »alterum non laedere« in den Bereich der Wohlanständigkeit (Decorum, vgl. Luig 1989: 157) – und überwindet so die Hierarchisierung zwischen Eigenund Nächstenliebe: das Gebot der Höflichkeit, keinen Mitmenschen zu verletzen, bezieht sich sowohl auf die Gesellschaft wie auf das Individuum und stellt einen ›literaturkritischen Imperativ‹. Dennoch war das juristisch fundierte Konzept von Literaturkritik, das Thomasius vertrat, durchaus nicht ›zahnlos‹, sondern überaus streitlustig (vgl. Gierl 1997). Am Beispiel eines Pedanten (des Barbon aus Jean-Louis Guez de Balzacs Le Barbon, 1648) und des Scheinheiligen (des Tartuffe aus Molières gleichsprachiger Komödie, 1664–1669, vgl. Kapp 2003), die Thomasius in seiner Vorrede von 1688 anspricht, macht er zugleich Front gegen Pedanterie und Scheinheiligkeit: sie prägten die gelehrten Journalen der Zeit ebenso wie sie dazu geschaffen seien, »die gelehrte Welt zubelustigen und Nutzen zuschaffen« und machten den Gelehrten durch ihre »extracte […] das Maul wässrig« (MG Febr. 1688: 234 f.). Seine Monatsgespräche hingegen wollen auf spielerische Art belehren und unterhalten – die Horaz-Formel »Podesse aut delectare« 44 | Vgl. Art. »iudicium« in: Zedler XIV: 1512–1514. 45 | Den Zusammenhang von gesellschaftspolitisch und juristisch fundierter Urteilsfähigkeit scheint noch in der Vorlesung von 1702 auf (Primae linaea de jureconsultorum prudentia consultatoria, 1704 ins Deutsche übertragen). Vgl. Luig 1982. 46 | Insofern stellen die Monatsgespräche ein wichtiges Bindeglied zwischen Thomasius’ älterer Auffassung des Zusammenhangs von Moralphilosophie und Naturrechtslehre und deren späterer Differenzierung, vgl. Schneiders 1971: 116; 268 f.
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prägt ja bereits den Titel dieses ›ersten deutschsprachigen Magazins für Literaturkritik‹ und findet sich im Programm von Delectare docendo und Docere delectando wieder. Zwar verlagert sich der Schwerpunkt der Monatsgespräche im Laufe ihrer Publikationsgeschichte vom Scherzhaften zum Ernsthaften, doch bei allen Spielen mit Masken, Figuren und Rollen führt Thomasius vor, wie literarische Urteile zustande kommen, wie sie begründet werden können und warum sie notwendig sind. Auch wenn sich die gelehrten Pedanten vergeblich gegen die Unterstellung des Urteilsverzichts wehrten, so gäbe es bei ihnen doch nur zwei Arten von Urteilen: ein »von affecten angefülletes Lob« oder eine »versteckte Censur« (MG Jan. 1689: 30). Der Sinn seiner Monatsgespräche bestehe nicht darin, mit den gelehrten Journalen gleichzuziehen; vielmehr ›prostestire‹ er »feyerlichst«, dass er »ein Journal von gelehrten Büchern in teutscher Sprache schreiben wolle« (MG März 1688: 263 f.). Anders als die gelehrten Journale in ihrem Ziel, möglichst umfassend über die erschienenen Neuheiten im wissenschaftlichen Bereich zu informieren, setzt Thomasius auf eine beschränkte Auswahl unterhaltender Bücher, darunter auch zeitgenössische Romane, die auch mit Negativurteilen bedacht werden. Mit anderen Worten: Thomasius trifft in seinen Monatsgesprächen keine Vorauswahl, indem er etwa nur positive Besprechungen der als lesenswert apostrophierten höfisch-historischen und satirischen Romane publiziert, sondern er präsentiert seinem Leser sowohl zahlreiche Verrisse wie auch seltene Lobesurteile (Grimm 1983: 417). Entscheidend aber ist der Wandel in der Darstellungsform, also im literaturkritischen Genre. Dieser kommt bereits in der Titelwahl (»Gespräche«) zum Ausdruck, wird aber durch die beigegebenen Adjektive spezifiziert: »scherz= und ernsthafft, vernünfftig und einfältig« sollen »Bücher und Fragen« dargestellt werden.47 An dieser Titelwahl lässt sich ein Wandel hinsichtlich des Zwecks der ›Buch-Gespräche‹ festhalten: Thomasius will neben der neutralen Information auch Aspekte der Begründung und Verwendung der besprochenen Bücher liefern – also Wissen bereitstellen (vgl. Jaumann 1995: 280). In seinen Literaturkritiken referiert Thomasius Titel und Inhalte der besprochenen Werke, diskutiert und reflektiert aber zugleich bestimmte Fragen und Konzepte, die sich anschließen lassen. Damit geraten die Monatsgespräche in ihrer Kritik des gelehrten Pedantismus selbst zu einer ›anderen‹ Darstellungsform, die sie im Medium der neu entstandenen Literaturkritik zugleich zu reflektieren vermögen. Daraus ergibt sich eine neue Form des Schreibens, die über das bloße Exzerpieren der gelehrten Journale hinausgeht: diese exegetische Form der Litera-
47 | Zur Tradition konversationeller Literaturkritik vgl. Heudecker 2004.
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turkritik fragt immer auch nach der praktischen Anwendbarkeit des zu vermittelnden Wissens – Gedichte scheiden so etwa aus der Liste der zu besprechenden Bücher aus (vgl. Grimm 1983: 411). Erkenntnis und Vernunft werden im Medium der Literaturkritik im Sinne der horazschen Formel integriert. Auf der einen Seite sollen die Literaturkritiken bei Thomasius also aufklären (sie sind »freymüthig« und »vernünfftig«), auf der anderen Seite sollen sie unterhalten (sie wollen »lustig« sein). Thomasius vertritt die Ansicht, »daß weder die allein lustigen/ noch die allein nützlichen Bücher/ sondern diejenigen/ so zugleich nützen und belustigen/ den Preiß für allen andern meritiren«. Da es leichter sei, eine historische Realität zu beschreiben »als etwas zu dichten/ daß der Warheit ähnlich sey«, fänden sich in den Romanen »mehr Kunst« und »mehr Nutzen« als in den »wahren Historien« (MG Jan. 1688: 40 f.). Nur im Zusammenklang von Nutzen und Vergnügen erweist sich der Zweck der Literaturkritik als erkenntnisstiftend. Erkenntnis allerdings meint nicht die theoretische Erkenntnis des pedantischen Gelehrten, sondern die praktische Erkenntnis des vernünftigen Weltmanns (des Honnête homme). Dazu ist es nach Thomasius notwendig, dass der Kritiker über ein Buch auch urteile: nur durch das Iudicium sei es möglich, die wirklich lohnenden – weil erkenntnisfördernden – Bücher von unnützen zu unterscheiden (MG Febr. 1688: 239; vgl. 1. Thess 5:21). Die Information betrifft »das ingenium des Menschen«, das Urteil hingegen »dessen iudicium« (MG Febr. 1688: 238); letzteres sei mit mehr Belustigung verbunden und daher vergnüglicher. Ausgangspunkt dieser literaturkritischen Poetik ist ein Unbehagen Thomasius’ an der Praxis der Literaturkritik Pierre Bayles (in den Nouvelles de la République des Lettres, 1684–1687), dessen aufgeklärtes Programm – »Lobt man die Leute/ so ist es nicht recht. Schilt man sie/ und entdecket ihre Fehler/ so ist es auch nicht recht. Hält man sich in dem Mittel/ so ist es doch nicht recht. Dannenhero sey es besser/ daß ein Autor seinem genio folge und schreibe was er sich getraut zuverantworten« (MG Febr. 1688: 240) – nur eine vorläufige Lösung darstellt. Indem Thomasius in den ersten Heften seiner Monatsgespräche die Form des fingierten literarischen Gesprächs wählt, um letztlich den Leser zum Richter der Respublica literaria zu erheben, der aus den unterschiedlichen Positionen und den eher objektiv-berichtigenden Einwänden der Gesprächsteilnehmer (»modum objectionum« statt »iudicii decesivi«, MG Febr. 1688: 245) ein eigenes Urteil schöpfen muss, installiert er einen Geselligkeitsdiskurs, in dem das Gespräch per se den Status der ›liebenden Vernunft‹ vertritt (vgl. Schneiders 1971: 110 f.). Durch diese Praxis verschränkt Thomasius den literaturkritischen mit dem hermeneutischen Diskurs, insofern er dem Leser eine Dechiffrierung der in den Monatsgesprächen angelegten Sprecherrollen (zumindest partiell) abverlangt und ihn auf diese Weise in die naturrechtliche Praxis der vernünftigen Geselligkeit bzw. geselligen Vernunft integriert.
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Bei Thomasius finden sich jedoch auch Zeichen eines Umbruchs, wenn er für das vergnügliche Anrecht auf Urteilsbegründung eintritt und betont, dass es »sehr schwer sey/ seine præjudicia und affecten zu supprimiren/ […]/ und daß man sie so fidel extrahire/ als die Scribenten selbst würden gethan haben.« (MG Febr. 1688: 229) Autoren, »so widriger Meynung sind«, würde der Exeget »entweder critisire[n]/ oder refutire[n]/ oder dieselben zu extrahiren nicht würdig achte[n].« (MG Febr. 1688: 230) Daher verbietet sich für die Monatsgespräche auch eine redaktionelle Auswahl, die einer Zensur gleichkomme: Thomasius wirbt um Rezensionen, »wenn es auch gleich wider diese Gedancken [des Herausgebers] selbst wäre« (MG Febr. 1688: [114]). Und wirklich veröffentlicht Thomasius im Mai- und Juni-Heft 1689 die Antikritik Pro Masio (vgl. Grunert 2004: 149–169). Gleichzeitig bemüht sich Thomasius, die neu gewonnene literaturkritische Urteilsfähigkeit dadurch zu nobilitieren, dass er ihr einen exegetischen Charakter zuspricht. Er wolle nicht richten, bedürfe ein Urteil doch »einer deutlichen und durch genugsame Ursachen gegründete[] Censur« (MG Jan. 1689: 30). Seine literaturkritischen Urteile fußten auf einer exegetischen Interpretation, »die zur rechtschaffenen Untersuchung der Warheit und Tugend« diene (MG Dez. 1689: 1153), wie er es durch Pierre Bayles iudicium musterhaft vorgeprägt finde (MG Febr. 1688: 243). Das Vokabular, das Thomasius in Anschlag bringt, entschuldigt seine literarischen Urteile eher als daß es sie verteidigte; sein Urteile basiere auf »gegründete[n] Ursachen« (MG April 1689: 308); er Urteile nicht »aus affecten/ sondern aus Liebe zur Warheit« (MG Dez. 1689: 1079); die Beurteilten mögen seine »objectiones« nicht übel aufnehmen, schließlich wolle er nur zur Besserung der angezeigten Missstände beitragen (MG Dez. 1689: 1079).48 Auch wenn Thomasius’ Monatsgespräche das erste literaturkritische Journal darstellen, das sich zu klaren Urteilen durchringt, so lässt sich aus den angeführten Relativierungen ablesen, wie dominant eine rein exegetische Kritik noch war und welcher Rechtfertigung und Relativierung das literaturkritische Urteil um 1700 bedarf: der gelehrte Zweifel in all seiner Gründlichkeit und Langsamkeit stellt das Fundament einer verstandesmäßigen Urteils, das ansonsten vorschnell erfolge. Im Sinne der Epikur-Rezeption des späten 17. Jahrhunderts nimmt Thomasius mit seiner literarisch inszenierten »Gesellschaft der Müßigen« in Anspruch, dem Leser mit seinen Monatsgesprächen eine Handreichung zur literarischen Hemeneutik und zugleich eine Lehrstunde in gesellschaftlicher Interaktion zu bieten (vgl. Jaumann 1997: 401 ff.; Peter 1999: 64). Die Entscheidung, welche der vorgestellten literaturkritischen Gedanken nun ›vernünfftige‹ und
48 | Thomasius wiederholt seine Argumente in MG Dez. 1689: 1146 f.
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welche ›einfältige‹ sind, bleibt dem Leser überlassen. Die Form des Gesprächs gewährleistet, dass der Leser die Rollen unterscheiden muss, um selbst zu einem literaturkritischen Urteil zu gelangen. Die »vota« der verschiedenen Gesprächsteilnehmer sollen »nicht gezehlet« werden, sondern »müssen allemal nach dem Maßstab gesunder Vernunfft abgemessen/ und in der Wage des allen Menschen gemeinen Verstandes abgewogen werden.« (MG Dez. 1689: 1149) Anders gesagt: Die polylogische Form intendiert ein bürgerliches Publikum, das sich – um mit Kant zu sprechen – selber aufklärt. Mehr noch: erst das entfaltete Muße-Programm des entspannten und unterhaltsamen literarischen Gesprächs »untereinander in der gleichesten Gleichheit« (MG Jan. 1688, Vorr. Bl. )(7v) biete die Möglichkeit der Selbsterkenntnis – nicht jedoch die Konzentration auf ›brauchbare‹ Bücher, sondern auf »diejenigen/ so zugleich nützen und belustigen« (MG Jan. 1688: 41). Die Wahl des Gegenstandes – ›nützliche‹ wie ›lustige‹ Bücher – bedingt zugleich die formalästhetische Darstellung des Gegenstands in Form ›scherzhaffter Gedancken‹ (Schneiders 1997: 13 f.; 17 f.). Dass die hochfliegenden literaturkritischen Pläne des Christian Thomasius – eine neue Gattung etablieren zu wollen, ohne den älteren Modus der Exegese abzuschaffen, gleichsam das literaturkritische Bewusstsein durch Rückgriff auf die ältere Auslegungstradition zu stiften – gescheitert sind, steht auf einem anderen Papier. Das Publikum, das sich Thomasius wünschte (weder pedantische Gelehrte noch genusssüchtige Aristokraten), existierte noch nicht oder war schlicht überfordert vom eklektizistischen Programm dieses Kritikers (vgl. Jaumann 1994: 161–162), wie auch Thomasius mit Fortschreiten seines Projekts den dialogischen Anspruch zugunsten einer zunehmend »monologischen Aufklärung« preisgibt (Grunert 1997; Martens 1971: 80), in deren Folge sich die Monatsgespräche immer mehr in ein gelehrtes Rezensionsorgan (zurück)verwandeln – und schließlich Christian Thomasius mit seinen Summarischen Nachrichten (1715–1718) den Anspruch auf polylogische literaturkritische Aufklärung zugunsten einer monologischen Büchergelehrsamkeit wieder preisgibt (vgl. Raabe 1989: 59). Thomasius bespricht in den Nachrichten nur mehr Werke bereits verstorbener Autoren – sein Argument für dieses Vorgehen ist implizit pietistisch geprägt: selbst wenn man sich des Urteils enthalte, biete man – sobald man Werke von Zeitgenossen bespreche – eine Angriffsfläche. Mit anderen Worten: die Literaturkritik verführt ihre Leser, immer mehr Bücher zu lesen, statt durch Verinnerlichung »Weißheit« zu erlangen, wie es Abdanckungen des Autoris heißt, mit der Thomasius die Einstellung seiner Monatsgespräche begründet (MG Dez. 1689:
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1157).49 Was seine Monatsgespräche aber leisten ist erstmals die Wissensvermittlung via Literaturkritik für ein fachfremdes Publikum, und zugleich die Sichtbarmachung des Rezensionswesens. Doch nicht allein Erkenntnis – auch Bekenntnis will die exegetische Literaturkritik von Christian Thomasius sein. 1695 – Thomasius ist inzwischen Professor an der neugegründeten preußischen Universität Halle – kommt es durch die Begegnung mit dem Halleschen Pietismus und seinem Begründer August Hermann Francke zu einer Glaubenskrise, die er erst mit Abfassung seiner großen juristischen und moralphilosophischen Schriften 1705 (Fundamenta juris naturae et gentium) und 1710 (Cautelae circa praecognita jursiprudentiae) überwindet.50 Beschluss und Abdanckung des Autoris, die 1690 die Einstellung der Monatsgespräche begründen, zeugen von einer pietistischen Sinnkrise, in deren Folge das Geschäft der Literaturkritik fragwürdig geworden ist: »Und hat sich solger gestalt ein die wahre Weißheit liebender Mensch nicht mehr für denen journalen als für andern Büchern zu hüten, weil diese dem süssen, und dem Geschmacke nach lieblichen/ aber doch dabey ziemlich gesaltzenen oder hitzigen Geträncke nicht ungleich sind.« Wie das überwürzte Getränk nie den Durst zu löschen vermöge, so würden auch des Lesers »Begierden nimmermehr dadurch [also durch Lektüre der Monatsgepräche] gesättiget werden/ sondern er [verlanget] immer noch mehr neues zu wissen«. Statt Novitäten (die nur die Curiositas beförderten) empfiehlt Thomasius Verinnerlichungen, indem man »nach reiffen Alter die Weißheit in sich selbsten sucht«. (MG Dez. 1689: 1156)51
49 | Thomasius bedient sich zur Verdeutlichung einer pharmazeutischen Metapher: Bereits in seiner Rezension zur Lohensteins Arminius hatte er bei der Entfaltung des Geschmacks-Diskurses postuliert, dass es Bücher gebe, die wie »Speise und Drank« wirkten, aber – wie »Artzneyen« – je nach ihrer Zusammensetzung und der konsumierten Menge gesund oder ungesund seien (MG Aug. 1689: 666). In der Abdanckung des »Autoris« (MG Dez. 1689: 1155) schreibt er, dass durch »Lesung der Bücher« diese als »Nahrung und Speise des menschlichen Verstandes« aufzufassen seien, folglich »Essen und Trincken« zwar das »Leben erhalten und verlängern«, aber »Fressen und Sauffen« dasselbe verkürzen. Denkt man diese Metaphorik weiter, so wirkt Literaturkritik durch ihre Selektionsfunktion als Diätik. 50 | Die ältere Thomasius-Forschung hat etwa den Versuch vom Wesen des Geistes (1699) als Rückfall in voraufklärerisches Denken deklassiert, vgl. Bloch 1953: 328 ff. u. Schneiders 1971: 49/238. 51 | Interessant ist die antipietistische Begründung, die Christian Gottfried Hoffmann anlässlich der Einstellung seines Periodikums Aufrichtige und unpartheyische Gedancken in der Vorrede des 13. Stücks gibt (von 1715): er sei nicht »unvermuthet in die Gesellschaft derjenigen gerathen […], welche die Tugend in niedergeschlagenen Augen, nach der Seite hangende Kopfe, und was dergleichen herrliche Posituren mehr sind, suchen«. Da Hoffmann als orthodoxer Lutheraner in Halle
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In seinen 1695 zum Druck beförderten Ostergedancken vom Zorn und der bitteren Schreib=Art wider sich selbst rechnet Thomasius mit seinen Verfehlungen ab, besonders aber mit seiner »bitteren Schreib=Art«, die auch die fünf Jahre zuvor publizierten Literaturkritiken in den Monatsgesprächen betrifft. In den Ostergedanken, einem Dialog zwischen ›Geist‹ und ›Fleisch‹, verteidigt sich letzteres: »Was kan ich dafür/ daß die Leute solche verderbte Geschmacke haben/ daß ihnen alles bitter vorkömmt? Es wäre gleichwol wider gewissen gehandelt/ um des verderbten Geschmacks willen/ die Warheit zu unterlassen.« Der Geist setzt dem entgegen, dass die Welt verderbet [ist]/ und kan die Warheit nicht wohl leiden: Aber gleichwie du einen Patienten/ dem alles bitter schmeckt/ dennoch Artzney eingiebest/ aber dieselbe lieblich machest und versüssest/ und nicht Wermuth und Gallen darunter thust/ also ist dein Mangel bishero darinnen gar gröblich gewesen/ daß/ da du gewust/ daß die Warheit der Welt bitter schmeckt/ du mit Fleiß und Fürsatz/ bloß dein Müthgen zu kühlen/ dieselbe mit Bitterkeit durch und durch vergället hast.52
Entscheidend und für den Diskurs der exegetischen Literaturkritik relevant ist, dass Kritik aus der Sicht des ›Geistes‹ nur funktionieren kann und akzeptabel ist, sofern der Kritiker sie ›lieblich‹ macht und ›versüsset‹: »Man muß die Wahrheit alsdenn nicht wegschmeissen/ sondern das bittere davon tun/ und sie lieblich machen.« (723) Die Vorstellung von Kritik als Medikation ist ja auch bei Liscow (und vielen anderen) geläufig, aber Thomasius verschränkt das Moment der exegetischen (theologisch fundierten) Kritik mit dem Aspekt einer angenehmen und lieblichen Vermittlung.53 Auch wenn sie in ihrer satirischen Stoßrichtung in einer epikureischen Tradition stehen (vgl. Kimmich 1993: 30; Bogner 2008; Disselkamp 2008), so deutet Thomasius in seiner Erwiderung auf die Kritik am März-Heft 1688 in seiner vier Jahre später erschienenen Einleitung zur Sittenlehre Epikurs Kernanliegen pietistisch als »vernünfftige Liebe« und als »Artzney=Mittel wider die unvernünfftige Liebe« um (Thomasius 1692: Vorr., Bl. b5vf., vgl. Beetz 2003). In diesem Sinne schärft Thomasius die iudicia der Protagonisten in seinen Monatsgesprächen, indem er »ein paar alberne Kerle
lehrte, ist es durchaus möglich, dass er dabei an Thomasius und das Ende von dessen Monatsgesprächen dachte. Die Pietisten verwerfen zwar im Rahmen der Adiaphora-Diskussion die Curiositas, doch erwirbt August Hermann Francke 1703 (als erster in Preußen) ein Zeitungsprivileg, vgl. Martens 1984: 21. 52 | Thomasius 1701: 722. Mit Seitenzahl im Text zitiert. Zum konversationellen Aspekt vgl. Deupmann 2002: 346–359. 53 | Signifikanter Weise verdeutlicht der ›Geist‹ im Verlauf der weiteren Argumentation seine Position am Beispiel des als bitter empfundenen Wassers (Ex 15,22–26), vgl. Thomasius 1701: 723.
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einführete/ die ihre einfältig Bedencken mit vortrügen«, denen jedoch ernsthafte Kritiker gegenübergestellt werden, »die […] mit vernünfftigen Ursachen ihre Meinung vorbrächten« (MG Febr. 1688: 245).54 Der von der Forschung gerne betonte satirische Charakter der Monatsgespräche begründet also nur zu einem Teil das literaturkritischen Verfahren. Problematisch ist eine Begründung von liebend-exegetischer Literaturkritik, da sie theologisch fundiert ist (»alterum non ladere«) und daher die literaturkritische Urteilsfindung – so diese überhaupt statt hat – theologisch abgesichert wird, durch diese Praxis aber zugleich das historische Vorrecht der damaligen Prima scientia, der Theologie, in Anspruch genommen wird. Aufschlussreich ist hier der Blick auf die Vorrede der Unschuldigen Nachrichten von alten und neuen theologischen […] Büchern von 1710. Der Herausgeber und lutherische Theologe Valentin Ernst Löscher verwahrt sich darin gegen die Kritik, die gegen die Unschuldigen Nachrichten vorgebracht worden sei. Vielmehr mahnt er, in der literaturkritischen Bewertung nicht »der Christlichen Liebe im judicando [zu] vergessen« (13), da der Literaturkritiker durch Publikation nicht einfach ein »privatJudicio« verkünde, sondern »nach dem allgemeinen Judicio der rechtgläubigen Kirche/ nach der allgemeinen Analogie des Glaubens« verfahre (10). Diese Form der Literaturkritik nennt Löscher »Censirung«, sie folgt den Regeln der exegetischen Kritik. Löscher grenzt dagegen eine andere Praxis der Literaturkritik mit der sprichwörtlich gewordenen Sentenz von Terenz »veritas odium parit« (5) scharf ab und bezeichnet sich als Praxis des »receniren[s]«. Anders als das ›censiren‹ hat das ›recensiren‹ das Vorrecht, vor »verwerffliche[n] und schädliche[n] Dinge[n]« zu warnen und »tüchtige[] Gegen=Mittel« zu ergreifen (9). Löscher verdeutlicht an seiner Kritik zu Gottfried Arnold pietistischer (und also antilutherischer) Kirchen= und Ketzer=Historie (1700), dass durchaus »Recensionibus« möglich sind, die sich eines »moderaten polemischen stylo« (19) bedienen, aber sich doch in »Christlicher Lindigkeit« (19) üben und keinesfalls »Scandala« (5) oder »Querelen« (17) erzeugen. Die Begrenzung der Kritik auf das ›sympathetische Werturteil‹ (vgl. Stenzel 1991: 249) ist damit – bei Thomasius wie bei der zeitgenössischen Literaturkritik ›um 1700‹ – noch weitgehend theologisch legitimiert und exegetisch begründet. Entsprechend postuliert Thomasius in der letzten Ausgabe seiner Monatsgespräche auch: »Die Liebe ist nicht mißtrauisch« (MG Dez. 1689: 1106; vgl. 1. Kor 13,4–7).55
54 | Zur differenzierten Bewertung von Satire und Sprecherrolle vgl. Bogner 2008: 473 ff. 55 | Darüber hinaus eignet Thomasius’ Praxis der Literaturkritik ein Moment der Verzeitlichung: Thomasius bezieht sich mit liebender Erkenntnis, die eigentlich der theologischen Hermeneutik (und in diesem Fall: der literaturkritischen Auseinandersetzung mit Philipp Jacob Speners Pia
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Kritische Praxis: Thomasius über Lohensteins Arminius Auch wenn Thomasius die Literaturkritik im Kontext einer Hermeneutica juris verortet und im Sinne der generellen Liebe die Höflichkeit zur Regel des literaturkritischen Umgangs macht (vgl. Beetz 1990: 283 ff.; Beetz 1989: 214), so ist er doch in den eigenen Kritiken unnachgiebig. Die Abnahme der frühmodernen Höflichkeit in den literaturkritischen Texten nach Thomasius erzählen gleichwohl von einem Verlust und vom reduzierten Potential der literaturkritischen Umgangsformen. Die Aufhebung der Bildungsunterschiede und die damit zwangsläufigen einhergehenden Verabschiedung des Decorum bedeutet, »daß in einer Gesellschaft solcher Leute, die gleich weise sind, oder darinnen die höchste Vollkommenheit bey allen in gleichen Grad ist; kein Decorum noch Indecorum anzutreffen« (Thomasius 1713: 376) ist. Hinzu kommt, dass mit Verabsolutierung des aufgeklärten Bildungs- und Beurteilungsanspruchs der frühmodernen Literaturkritik auch ihr skeptisches Potential verloren geht: sie stelle schließlich kein sicheres Wissen (scientia certa), sondern nur ein wahrscheinliches Wissen bereit; ihre Urteile hätten deshalb im Rahmen der frühmodernen Höflichkeitslehren nur einen relativen Charakter, keinen Absoluten: »Derowegen läufft aller Ursprung der natürlichen Erkäntnüß [...] auff das Zeugnüß anderer Menschen hinaus, welches nicht mehr als eine Wahrscheinligkeit würken kan« (Thomasius 1691a: 244). Letztlich beugt sich Thomasius damit dem Druck der Zeit, wenn er die Publikation der Monatsgespräche einstellt und schlussendlich verspricht, sich künftig mehr mit der »defendirung unschuldig beschuldigter/ als in censirung unvernünfftiger Autorum« zu begnügen (MG Dez. 1689: 1160 f.). Und im später noch einmal unter seiner Herausgeberschaft firmierende Rezensionsorgan der Hallischen Neuen Bibliothec oder Nachrichten und Urtheile von neuen Büchern (1709–1720) befolgt Thomasius den Grundsatz, dass innerakademische Auseinandersetzungen nicht in Form persönlicher Angriffe erfolgen dürften (mit Ausnahme der Rezensionen zu Christian Wolff, vgl. Arndt 1989: 279). Doch selbst in diesem Kontext kann Thomasius noch für eine liebende Form der Literaturkritik plädieren, die sich Erkenntnis zum Ziel setzt und daher das zu kritisierende Werk nicht als »ein bloßes und zerstümmeltes Sceleton, welchem aller Safft abgezogen ist«, betrachtet (NB 1/1709: Vorr., Bl. A2v). Da Kritik und Satire, wie Thomasius sie in den Monatsgesprächen betrieb (der letzte Jahrgang sieht vom Scherzen ab), »Wahrheit und Tugend« selbst nicht vermitteln (MG Dez. 1689: 1159), rückt er letztlich von der polemischen Literaturkritik ab und ordnet die Literaturkritik wieder dem exege-
desideria) entstammt und auf historisch zurückliegende Gegenstände appliziert ist, auf die Literatur der eigenen Gegenwart, also auf die noch nicht historisch gewordene Literatur.
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tischen Diskurs zu, der auf ein Iudicium zugunsten der reinen Inhaltswiedergabe verzichtet. Das lässt sich durch einen exemplarischen Vergleich zeigen: 1689 bis 1698 erscheinen in Leipzig die Monatlichen Unterredungen von Wilhelm Ernst Tentzel (Tentzel 1689). Obgleich sie ein ganz ähnliche Leserschaft wie Christian Thomasius mit seinen Monatsgesprächen ansprechen – sie wollen in Dialogform gegen die »lose[n] Mäuler« und »gifftige[n] Zähne« der »gelehrten Männer«, die »anderer Schrifften und Erfindungen censiren und recensiren«, um »unpartheyisch [zu] raisonnire[n]« (Tentzel 1689: 3 f.) – richten sie sich eindeutig an ein gelehrtes Publikum, indem sie die »Historiæ Ecclesiastiquæ, civilis, naturalis & litterariæ« (Tentzel 1693: 2) zu ihrem Gegenstand machen. Tentzels Monatlichen Unterredungen nehmen früh Thomasius’ Monatsgespräche wahr, verteidigen sie gar gegen Jacob Ludolphs Kritik.56 Dieser sei den ›Müßigen‹ gar zu nahe getreten, weil er sie für »junge Purse [Burschen]« (Tentzel 1689: 1080) gehalten habe, obwohl ihm der Verfasser (also Thomasius) bekannt sei. Besonders habe er die Monatsgespräche wegen ihres ›Schertzes‹ und ihrer »natürlichen Belustigung an Romanen« getadelt (Tentzel 1689: 1080). Soweit scheint Tentzel Partei für Thomasius zu nehmen. Doch der anschließende gelehrte Exkurs zur Etymologie der ›Bärenhäuter‹, als die Ludolph die ›Müßigen‹ apostrophiert, führt zum eigentlichen Kern der Auseinandersetzung: die von Tentzel in den Monatlichen Unterredungen eingeführte Figur des Herrn Antonius warnt davor, »vocabulis mediæ significationis« (Tentzel 1689: 1081) zu verwenden – »zumahl/ wenn er [Thomasius] etwa andre zu schrauben gedencket« (Tentzel 1689: 1081). ›Schrauben‹ bezeichnet hier die »thätigkeit des henkers« (Grimm XV: Sp. 1653), und es ist signifikant, dass Tentzel, der auf ein literaturkritisches Urteil weitgehend verzichtet und also nicht als Richter auftritt, sein Journal (alle Fortsetzungen unter anderem Titel eingerechnet) über einen Zeitraum von dreizehn Jahren vertreibt, ohne Form oder Inhalt wesentlich zu verändern. Thomasius hingegen gibt die polylogische und dialogische Struktur seiner Monatsgespräche rasch auf, und seine Summarischen Nachrichten (1715–1718) bewegen sich ganz im Rahmen der ausschließlich exzerpierenden gelehrten Journale. Auch wenn Thomasius für die Summarischen Nachrichten das kritische Urteil in Anspruch nimmt, so reduziert er sein Programm doch deutlich, da keine negativen Urteile ausgesprochen werden sollen und Urteile zur Gegenwartsliteratur als problematisch, da prinzipiell nicht unparteiisch, gelten (Thomasius 1715, Bd. I: Vorr., Bl. A2r). Orientiert am Vorbild von Jean Le Clercs Bibliothèque choisie will Thomasius in seinen Summarischen Nachrichten nur noch ältere Bücher
56 | Geäußert in dessen Bedencken über die Schertz- und ernsthafte, alberne und unvernünftigen Gedancken einer seltzamen neuen Gesellschaft derer Müssigen (Tentzel 1689: 1079 ff.).
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in Erinnerung rufen, da ein kritisches Urteil gegen Bücher eines bereits verstorbenen Verfassers leichter auszusprechen sei als gegen einen Lebendigen. Die ›Extracte‹ lässt Thomasius aus Zeitgründen von Dritten verfassen; auch finden belletristische Werke keinen Eingang in die Nachrichten. Und in den Auserlesenen Anmerckungen von 1707 nennt Thomasius auf die Frage »[w]elches das beste Buch sey?« die Bibel, Seneca, Plinius und andere, aber kein belletristisches und kein neuzeitliches Werk (Thomasius 1704, Tl. IV: 174–212). Dass das pointierte literaturkritische Votum, das die Monatsgespräche deutlich von den Konkurrenzunternehmen unterscheidet, von den Zeitgenossen als problematisch empfunden wurde, war Thomasius klar: Bereits im Februar 1688 zitiert er jene Episode, die Grimmelshausen im Simplicissimus erzählt: eine Katze rettet sich auf der Flucht vor den Hunden auf den Kopf des Erzählers und zerkratzt ihm das Gesicht (Grimmelshausen 1669: 356 [B. 4, Cap. XXII]) – Thomasius passt nun diese Erzählung auf den mitreisenden ›Müßigen‹ Herrn David (ein Schulmeister) an, um die Gefahr der Satire (in satirischer Absicht) zu widerlegen, sei doch die Katze »ein Spiegel derer Satyricorum, weil dieses Thieres Eigenschafft ist daß sie vornen lecke und hinten kratze« (MG Feb. 1688: 220). Tentzel scheint aus den Streitigkeiten um Thomasius’ Monatsgespräche gelernt zu haben. Er nimmt diese und die durch sie entfachte Debatte nicht nur sehr früh wahr, sondern rückt – trotz gegenteiligen Anspruchs – vom galantcurieusen Ideal schnell ab. Seine Curieuse Bibliothec, die von 1704 bis 1706 erscheint, sowie der Ausführliche Bericht von allerhand neuen Büchern (1708–1710) geben die Dialogform völlig auf. Auch inhaltlich verharrt Tentzel im etablierten Rahmen des gelehrten Diskurses: die Curieuse Bibliothec richtet sich in erster Linie an Gelehrte und nur in zweiter an »Leute von andern Professionen« (Tentzel 1704: Bl. 4v) – die ›Curieusität‹ ist nur mehr inhaltsfreies Werbemittel. Das zeigt bereits die erste Rezension, die an die vorwortliche Versicherung der ›Curieusität‹ anschließt: sie präsentiert eine ganze Textseite Latein, wie auch der restliche Text in weit höherem Maße, als dies bei den Vorgängerperiodika der Fall ist, von lateinischen Exzerpten, Wendung und Zitaten durchsetzt ist (Tentzel 1704: 3). Spätestens mit der Curieusen Bibliothec macht Tentzel, was ihm kritische Leser bereits zwölf Jahre zuvor für seine Monatlichen Unterredungen geraten hatten: »man solte die Gespräche gar einstellen/ die Bücher bloß aneinander hin recensiren/ und das judicium beyfügen« (Tentzel 1692: 1). Das bedeutet aber auch, dass Tentzel den zweiten Vorschlag seiner ›kritischen‹ Leser ernst nimmt, nämlich nur noch ›positiv‹ – d. h. zustimmend bzw. ergänzend – zu rezensieren. Statt ›Critique‹ im Rahmen einer dialogisch entfalteten Streitkultur (wie sie in Thomasius’ Monatsgesprächen präsent ist) betreibt Tentzel die hergebrachte Form der exzerpierenden Gelehrtenkritik, die sich im
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Rahmen der Ars critica bewegt und (ausschließlich positiv-zustimmende) Urteile fällt (Tentzel 1692: 282: 980 ff.).57 Dem ersten Jahrgang von 1688 seiner Monatsgespräche hatte Thomasius noch einen Index beigefügt, in dem ein Kreuz (†) anzeigte, dass sich zum besprochenen Titel ein ausführlicheres Exzerpt findet, während der Asteriskus (*) ein Urteil symbolisiert – Bücher, denen ein solcher Hinweis mangelt, wird nur eine Erwähnung zuteil (Vgl. MG Jan.-Juni 1688, Reg. Bl. 1r). In den letzten beiden Jahrgängen von 1689 und 1690 fehlt ein solches Register, wie überhaupt weniger geurteilt, dafür mehr exzerpiert wird: Die Monatsgespräche haben sich von einem literaturkritisch inszenierten Polylog zu einem wissenschaftlichen Monolog zurückentwickelt; von der streitlustigen Aufbruchstimmung, die noch die beiden ersten Bände auszeichnete, ist im letzten Jahrgang nicht mehr viel zu spüren. Der Preis, den Thomasius für die Integration der ›liebenden Kritik‹ in die Praxis der Literaturkritik zahlen muss, wird von seinen Gegnern klar benannt: ein Beharren auf exegetischen Formen der Literaturkritik und ihre Verbindung mit einem prägnanten Werturteil bedeutet das Ende der wissenschaftlichen Karriere. Diesem ›Dispositiv der Macht‹ ordnete sich Thomasius lieber unter. Die letzten Bände der Monatsgespräche stehen damit an einem Wendepunkt, an dem die liebende Form der Literaturkritik in mehr oder minder affirmative ›Sympathiebekundung durch bloße Erwähnung‹ umschlägt – das Experiment einer ›liebenden Kritik‹ kann als gescheitert gelten, wo eine kritische Erkenntnisleistung zur inhaltsleeren Formel wird und Buchinhalte nur referiert, jedoch nicht mehr kritisiert werden. Die Unterschiede zwischen Tentzel und Thomasius, aber auch zwischen Thomasius und der Ars critica lassen sich aufzeigen an den Rezensionen zu Daniel Casper von Lohensteins Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann, dessen erster Band 1689 posthum erschien und dessen zweiter Band im Folgejahr von Christian Wagner ergänzt und (um eine Verteidigung des Arminius in Gedichtform von Benjamin Neukirchs angereichert) herausgegeben wird. Mit über 3100 Seiten Umfang handelt es sich um den Höhe- und zugleich Endpunkt des gelehrten Barockromans – jene Gattung, die Joseph von Eichendorff als »toll gewordenen Realenzyklopädie[]« (Eichendorff 1857: 102) charakterisiert. Lohenstein schildert die Ereignisse der Varusschlacht, in der neun römische Legionen unter dem Kommando des Publius Quinctilius Varus von germanischen Stämmen unter Führung von Arminius vernichtet werden. Im er-
57 | Dass Thomasius spätestens mit dem zweiten Jahrgang seiner Monatsgespräche das Modell von Tenztel übernimmt und damit die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der deutschsprachigen Literaturkritik preisgibt, erweist ein Vergleich mit deren erstem Jahrgang.
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sten Teil des Romans werden, nach dem Muster des Heliodoros, nur Vorgeschichten erzählt, im zweiten Teil wird die Handlung dann chronologisch bis zum glücklichen Ende weitergeführt. Lohenstein reichert die Erzählung durch zahllose gelehrte Exkurse an, die alle Wissensgebiete der Zeit umfassen. Drei Rezensionen erscheinen 1689, die Lohensteins Arminius besprechen: zunächst veröffentlicht Tentzel im Januar 1689 in seinen Monatlichen Unterredung eine Besprechung, der im Mai eine Besprechung in den Acta eruditorum (durch Johann Georg Pritius) folgt, ehe im August 1689 Christian Thomasius seine Rezension in den Monatsgesprächen publiziert.58 Der Roman ist im gelehrten Diskurs dieser Zeit nicht wohlgelitten, weil er doch mehr der Unterhaltung als der Belehrung dient. Allein der unterschiedliche Umfang der drei Rezensionen (insgesamt 84 Seiten bei Tentzel, 6 Seiten bei Pritius und 44 Seiten bei Thomasius) zeigen deutlich, dass Lohensteins Arminius v. a. für die weniger am gelehrten Publikum orientierten Kritiker von Interesse waren – auch, weil er sich der deutschen ›Vulgärsprache‹ bedient. Tentzels Monatliche Unterredungen (vgl. dazu Hofmann 1978: 131 f.)59 arbeiten – wie Thomasius’ Monatsgespräche – mit Dialogen zwischen Gesprächspartnern (die jedoch nicht, wie bei Thomasius, als Rollenprosa unterschiedliche Positionen und damit Funktionen einnehmen).60 Der bürgerlich-gelehrte »Herr Leonhard« übernimmt die einführende Vorstellung von Lohensteins Arminius, den er als unikales Werk der deutschen Belles lettres preist. Doch statt, wie von »Herrn Anton« gefordert rasch auf den Inhalt zu sprechen zu kommen, geht »Herr Leonhard« zunächst die Widmung an Friedrich Wilhelm III. v. Brandenburg durch, in der Lohenstein die Wahl seines Stoffes mit dem (antifranzösischem) sprachpatriotischen Anliegen verbindet (514). Das anrüchige Roman-Genre werde durch die Gattungs-Vorbilder (v. a. Anton Ulrichs v. Braunschweig-Wolffenbüttel) legitimiert (512); damit ist der Roman als Werk der Gelehrsamkeit rezipierbar (und für die Literaturkritik bewertbar) gemacht. Der Arminius eröffne die Möglichkeit, unterhaltend zu belehren – das im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts vorgeberachte Schutzargument ist also bei Tentzel schon gut etabliert, reduziert jedoch die schöne Literatur auf ihren pädagogischen Nutzen. Doch berücksichtigt der Rezensent auch die literarische Konstruktion, beinhalte der Arminius doch »anmuthige Reden/ gute Gleichniße und sinnreiche Sprüche« (513). Aufgrund dieser Qualitäten und v. a. durch
58 | Die Acta eruditorum wie auch die Monatlichen Unterredungen erschienen – wie auch Lohensteins Arminius – beim Leipziger Buchdrucker Johann Friedrich Gleditsch. 59 | Die Rezensionen erscheinen in den Monatlichen Unterredungen v. Jan. 1689: 510–589 und v. Jan. 1690: 504–509. 60 | Tentzel 1689: 530. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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die zwanglose Verbindung von Moral und Ästhetik werde er von der »Gesellschafft gelehrter Leute geliebet« und biete »seinen Satyrischen Spöttern« keine Angriffsfläche (513). Tentzel beruft sich auf die Vorrede des Arminius, um die »Tadler[]« und Grübler[]« abzuwehren und (den bereits verstorbenen) Lohenstein »zum Oberhaupt und Richter aller Bücherschreiber« (513) zu erheben. Tentzel kommt nun zur eigentlichen »recension« des Arminius, wobei er die Nachzeichnung und kritische Bewertung des Inhalts trennt von der Beurteilung der »Ausführung« (514). Die fünfseitige Inhaltszusammenfassung weist keine weitere kritische Kommentierung auf, was ihm »am besten darinnen gefallen«, will Tentzel aufzeigen und bezieht sich dabei auf die formale Gestaltung des Arminius. In Übereinstimmung mit den zeitgenössischen poetologischen Autoritäten lobt Tentzel die gelungene Verknüpfung der »schönsten Sprüche« mit der edelsten »Sitten=Lehre« (520), so dass sich dieser Roman-Typus im genus grande auch für den Adel schicke. Die zahlreichen gelehrten Kommentare, die Lohenstein in seinen Arminius einflicht, hebt Tentzel eigens hervor, weil sie nicht nur die Gelehrsamkeit des Autors verbürgen, sondern den Roman gleichsam zu einem Sammelsurium nützlichen Wissens machen (520 f.). Diese Einlassung nimmt Tentzel sogleich zum Anlass, um einen umfangreichen Dialog zu entfalten, der die verbleibenden vier Fünftel der Rezension dominieren wird: die Dialogpartner überbieten sich mit gelehrtem Detailwissen, das die Ausführungen Lohensteins gleichsam ›kritisch ergänzt‹. Da werden Anmerkungen zur Astronomie eingebracht, gelehrte Abhandlungen in lateinischer Sprache zitiert und geographische Angaben korrigiert – kurz: der Arminius ist zwar ein »trefflicher Schatz der Gelehrsamkeit und Klugheit« (523), doch liefert er nur die willkommene Vorlage, um das eigene gelehrte Wissen (curiositas) zu entfalten. Kritik tritt hier im Sinne der älteren Ars critica als philologische Gelehrsamkeit auf, die die literarische Quelle – Lohensteins Arminius – durch nachgelieferte Fußnoten historisch, sachlich, geographisch und anderweitig ergänzt, korrigiert und dechiffriert. Als Roman hingegen wird der Arminius positiv insofern beurteilt, als dass die Intrigenhandlungen (wie sie für den höfischen Barockroman typisch sind und die »die meisten Leser der Romainen zu æstimieren pflegen«, 523) zwar vorhanden sind, aber – da »ein Meister=Stück« – nicht die Erzählung zu verwirren vermögen. Insgesamt fällt die literarische Beurteilung des Arminius (also ein Urteilsspruch über dessen poetische Qualität) mager aus61 – vielleicht auch, weil Tent-
61 | Fast schon ironisch wirkt das Eingeständnis anlässlich der Rezension des zweiten Teils des Arminius, dass es »wegen Mangel des Raums unmüglich ist/ eine so weitläufftige recension zu geben/ als vom ersten Theil« (Tentzel 1690: 504). Das Verdienst dieser zweiten, nur fünf Seiten umfassenden Rezension sieht Tentzel in der Dechiffrierung des Arminius als Kaiser Leopold I.
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zel das Recht auf ein iudicium einzig Autoren untereinander zuerkennt: so zitiert er Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Positivurteil zu Hans Aßmann v. Abschatz’ Übersetzung des Pastor fido von Giovanni Battista Guarini (531 f.) – Abschatz hatte für den Arminius ein Widmungsgedicht verfasst; die positive Beurteilung von Abschatz korreliert also in gewisser Weise der Beurteilung des Arminius, bringt aber zugleich prinzipielle Probleme der literarischen Urteilsverkündung zur Sprache. In ähnlicher Weise weigert sich »Herr Leonhard«, eine kritische Frage in der Genealogie des Habsburger Herrscherhauses (die in einem ausführlichen Exkurs zum Arminius dargelegt wird) zu entscheiden, da ihm »als einem Privato nicht zukäme/ von solchen Sachen/ die hohe Standes=Personen angehen/ ein Judicium decesivum zu geben.« (558) Verstärkt die zweite Rezension (von Pritius) diese Tendenz? Die Acta eruditorum richten sich in lateinischer Sprache an ein gelehrtes Publikum. Daher wäre zu erwarten, dass der pietistische Theologe Johann Georg Pritius62 in seiner Rezension des Arminius63 auch einzig die gelehrt-curiösen Anteile bewertet – und nicht auf die ›belle-lettristischen‹ Inhalte (etwa Sprache und Komposition) zu sprechen kommt. Überraschend ist hingegen, dass Pritius bereits eingangs die zeitgenössische Roman-Diskussion referiert und den nationalphilologischen Nachholbedarf der deutschen Literatur, wie ihn etwa der von Pritius zitiert Polyhistor Daniel Gottlieb Morhof postuliert, einfordert (Pritius 1689: 287). Pritius rekapituliert die Bedeutung des historischen Arminius für das Selbstverständnis der Deutschen, um die Wahl des Sujets als vorbildlich zu loben. Dann kommt Pritius umgehend auf die literarischen Vorzüge des Arminius zu sprechen: die Ausdrucksweise sei völlig rein und zeuge von natürlicher Bildung und Eleganz wie auch der Stil durch erhabene Gedanken und entsprechende Würde im Ausdruck gefalle (»genus ipsum dicendi totum apparet excelsum, quod sublimia animi cogitate pari cum signitate referat«, 289). Der Redefluss, die Gleichnisse, die Redensarten und sprachlichen ›Edelsteine‹ verdienten ›höchste Bewunderung‹ (»admirablis est maxime«, 289). Der Stoff, die res, sei – bei allen Handlungsverwicklungen – harmonisch und genau geordnet.
Überraschend deutlich wird in dieser Rezension jedoch die gelegentlich durchschlagende »Schlesische Redens=Art« kritisiert (505). Tentzels zurückhaltende Inszenierung der literarischen Urteilsfindung basiert mutmaßlich auf den Erfahrungen, die Thomasius mit seinen Monatsgesprächen gemacht hatte (Hofmann 1978: 132). 62 | Autor ermittelt nach Laeven 1990. Aus welchem Grund Béhar 2007: 74 die Rezension Leibniz zuweist, erschließt sich nicht. Martino 1978: 192 vermutet (12 Jahre vor der Publikation von Laevens Studie, die alle Rezensenten ermittelt) den Lohenstein-Herausgeber Christian Wagner als Verfasser der Rezension. 63 | Die Rezensionen erscheinen in Bd. VIII v. Mai 1689: 289–290 und in Bd. IX v. Juni 1690: 271–276 der Acta eruditorum.
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Erst im Anschluss an diese literarische Beurteilung widmet sich Pritius dem Inhalt und beurteilt die universelle Gelehrsamkeit Lohensteins, die nicht nur die Alten und die Neuen, sondern auch die Chinesen, Ägypter, Gallier und Germanen umfasse (289). Daher diene der Arminius dem Vergnügen (volputas) ebenso wie der Belehrung (studium, 290). Abschließend wünscht Pritius eine Dechiffrierung der Protagonisten und identifiziert – wie vor ihm bereits Tentzel – den Titelhelden mit Kaiser Leopold I. Dass der Arminius in der führenden lateinischen Gelehrtenzeitschrift besprochen wird, scheint mir weniger signifikant als die Feststellung, dass Pritius ausdrücklich die literarische Form berücksichtigt und zu einer (positiven) Bewertung gelangt.64 Wie verhält sich nun Thomasius’ Arminius-Rezension in den Monatsgesprächen zu diesen beiden Besprechungen?65 Thomasius geht zunächst vom ersten äußeren Anschein aus: in diesem Fall vom Buchtitel, der den Arminius als Roman klassifiziert. Thomasius rekapituliert zunächst die Bedeutung des Sehsinns, der alle anderen Sinne dominiere und »Concepte« (647) des Lesers präge. Das gelte besonders für den »Geschmack« (648) – Thomasius etabliert im literaturkritischen Diskurs einen Begriff, der erst eine Generation später Karriere machen sollte (vgl. Brücker 2003; Niefanger 2003). Er konstatiert, dass »bey dem Geschmack der Mensch überaus unterschiedener Meynung zuseyn« (648) scheint – und erweitert den Begriff sogleich auf den Einverleibungsdiskurs wie er auch einen Bezug zum kritischen Urteil herstellt, bevorzugten doch alle Tiere eines Geschlechts dieselben Speisen. Hingegen sei die »Lüsternheit des Menschen […] dißfalls unendlich« und habe sich »auch ebenmäßig auff unzehliche mal verändert. Dieser ißt gerne Gesaltzenes/ ein anderer Saueres/ der dritte Süsses u.s.w.« (648) Thomasius ergänzt seine Reihe von Analogien, um zu verdeutlichen, dass nicht nur unterschiedliche Geschmäcker existieren, sondern dass jeder Mensch seinen eigenen Geschmack gar öffters [ändert]/ entweder daß wir einen Eckel für dem/ was uns zeithero gut geschmeckt/ bekommen/ oder aber/ daß der Concept, den wir uns selbst davon machen/ wenn wir hören/ daß etwas denen uns angenehmen Personen gut schmeckt/ uns gleichfals beredet einen Geschmack an einer Sache zu finden/ den wir zuvor daran nicht gewohnet gewesen. (648)
Thomasius dringt auf die Soziabilität des (literarischen) Geschmacksurteils – und in diesem Zusammenhang entfaltet er die Wirkmächtigkeit der Literaturkritik: Geschmack haben und Geschmack vermitteln sind beides Diskurse der
64 | In seiner Rezension des zweiten Teils des Arminius setzt Pritius seine positive Bewertung fort und lobt nicht allein die Gelehrsamkeit des »eruditissimus Lohensteinius«, sondern auch die Arbeit des Herausgebers und Kommentators Wagner sowie des Verlegers Gleditsch. 65 | Erschienen im August 1689: 646–686 und im Dezember 1689: 1141–1144.
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Literaturkritik. Die »Zurichtung einer Speise« erfordert daher ebensoviel Geschmack wie deren gerechte Beurteilung durch die »Leckermäuler« (649). Mit dieser ›gustatorischen‹ Argumentation wertet Thomasius das subjektive Urteil auf, negiert eine normative Kritik »und bereitet somit das individuelle, ästhetische Urteil vor.« (Hofmann 1978: 110) Das gelte – und nun kommt Thomasius zum Kern seines literaturkritischen Prolegomenons – auch für die Beurteilung von »Bücher[n] und Schriften gelehrter Leute: Diese sind gleichsam die Speise der Gemüther/ und die Verfertiger derselben sind die Köche/ so denen andern diese Speise zubereiten« (650). Die Entstehung des Geschmacksurteils verlegt Thomasius vor auf die Praejudicii: »Dieser liebt Historische/ ein ander Politische Bücher« (650) und die Geschmacksvorlieben veränderten sich individuell »wenn wir sehen/ daß Leute/ die wir veneriren und hochachten/ eine Art [von Büchern] für der andern recommendiren« (650). Nach Thomasius existiert folglich ein (überhaupt nicht pejorativ gedachtes) Vorurteil, das die Buchauswahl und das Urteil des Lesers vorwegnimmt und das sich im Diskurs des Liebens (oder des Ekels) entfaltet. Doch ist dieses Urteil nicht unveränderlich, sondern kann sich – das ist das Soziabilitätsargument – infolge der Verehrung (veneratio) für eine intellektuelle Instanz (etwa einen akademischen Lehrer) ändern.66 Doch sei das Bücherschreiben eine ebenso »delicate« Angelegenheit wie das Kochen von Speisen: es bedürfe des »gusto« (651), um sich nicht »mit denenselben [den Büchern] für aller Welt [zu] prostituiren.« (652) Thomasius tritt eindrücklich dafür ein, ein deutliches und bestimmtes Urteil über Bücher zu sprechen, zugleich aber die eigenen Urteilsvoraussetzungen zu reflektieren – doch er weiß um den Idealismus seines literaturkritischen Vorhabens: »es sollte wohl dieses [das reflektieren und verfertigen literaturkritischer Urteile] alles so seyn [wie es Thomasius dargelegt hat]. Gleichwol wird man befinden/ daß mehrentheils die Sachen anders gehen/ als so sollten.« (652) Gerade unter Gelehrten fänden sich zu viele »Schmeichler« (652): es sei »wunderlich[] […]/ daß all diejenigen/ die neue Bücher in Druck herauß geben/ eben dadurch dieselbigen gleichsam öffentlich außsetzen/ daß jeder dieselbigen kosten und seine Meynung davon sagen möge« (652) – was aber nicht geschehe. Vielmehr sei die Tendenz zu beobachten, einer kritischen Auseinandersetzung von vornherein aus dem Weg zu gehen. So auch in der Vorrede zu Lohensteins Arminius, deren Verfasser das Buch gegen alle Kritik abzusichern versuche (653). Thomasius jedoch dringt darauf, dass der Kritiker ein Buch nicht danach zu beurteilen habe, was er an Urteilen von anderen gehört habe – eine implizite Selbstverteidigung auch gegen die vorausgegangenen Kritiken Tentzels und Pritius’ –, sondern dass er »dieses
66 | Zur »Gegen=Liebe« vgl. auch MG Dez. 1688: 434.
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Buch selbst vor mich zu nehmen« habe, um »meine Meynung davon zu sagen« (654).67 Thomasius tritt also nachdrücklich dafür ein, die eigene Lektüreerfahrung im Prozess der literaturkritischen Selbstverständigung zu versprachlichen – ein durchaus ›modern‹ zu nennender Zug, der Thomasius bis in unsere Gegenwart den Vorwurf eingebracht hat, Werke anderer nur aus Eigeninteresse zu lesen (und – darauf zielt wohl die literaturwissenschaftliche Kritik – zu beurteilen, vgl. Martino 1978: 201). Thomasius beginnt sodann mit seiner eigentlichen Kritik. Zunächst ordnet er den Arminius in die Gattung der »Liebes=Geschichte[n]« (654) ein, von denen er – aufgrund seiner eigenen gründlichen Kenntnis der zeitgenössischen Romanproduktion – vier Untergattungen unterscheidet, die er durch Zuhilfenahme von kulinarischen Kriterien unterscheidet: die »Sudel=Köche« (654) verfassen Volks- und Ritterromane;68 die ›Dekorateure‹ (oder Verfasser von Schäferromanen) überhäufen ihre Speisen mit unnötigem und nicht zusammengehörigen Dekor ohne sie nahrhaft zu machen, so dass »keine Wahrscheinligkeit und Leben innen ist« (655); die Verfasser historisch- (oder heroisch-)höfischer Romane böten »delicate[] und gesunde[] Speisen«, die sie »magnifiqve und propre außzuzieren wissen« (658); mit »gewürzten und scharffen Speisen« (661) schließlich versuchten die Verfasser satirischer Romane »unsern apetit […] zu erwecken« (661). Thomasius erachtet alle vier Gattungen als Subgattungen des Liebesromans – welche Funktion kommt der Liebe in der Gattung der Volksund Ritterromane, der Schäferromane, der höfischer-heroischen und der satirischen Romane nach Thomasius zu? Die gemeine Liebe lehnt er ab; die ›buhlerische‹ Liebe des Schäferromane entschuldigt er, da sie nicht »animo injuriandi« (657) erfolge; die höfischen Romane hingegen enthielten eine »Lehre von affecten […]/ die/ wie ich schon öffters geklaget/ zwar die nöthigste ist/ aber nirgend gebührend tractiret wird« (659); der satirische Roman schließlich mache auf »Tugenden und Wissenschaften umb destomehr begierig/ je deutlicher und anmuthiger sie uns die Thorheiten und Laster der Menschen fürzustellen wissen« (661), allein die dazu notwendige Darstellung des »Laster[s] der Geilheit« (662) sei abstoßend. An diesem Punkt seiner Argumentation kommt Thomasius unvermittelt wieder auf die Vorrede zum Arminius zu sprechen, deren Verfasser den satirischen Roman ablehne. Thomasius warnt vor einer übersteigerten Moralvorstellung, die Satire und Pamphlet nicht auseinander zu halten verstehe und beide als ›gefährlich‹ qualifiziere – zur Erklärung weicht Thomasius
67 | Thomasius gibt zwar die Dialoginszenierung auf, vereint aber im Kritikersubjekt die verschiedenen Positionen seiner zuvor eingeführten Protagonisten, vgl. Hofmann 1978: 111 f. 68 | Laut Zedler XL: 1726 sind Sudelköche solche, »so das Essen nicht allzu reinlich zurichten, und alles auf eine unflätige und säuischen Art anzugreiffen pflegen.«
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sodann auf eine Analogie aus: »bey diesen letzten Zeiten« (also gegenwärtig) sei die »Gottesfurcht gefährlich/ und wird je zuweilen als eine Enthusiasterey und Quackerey verfolget; Ob sie gleich der Grund aller Christlichen Tugend ist.« (663 f.) Thomasius rekapituliert die zeitgenössische protestantische wie katholische Kritik an verinnerlichten Frömmigkeitspraktiken, die die ›Liebe Gottes‹ in Zentrum stellen (Quietismus, Pietismus, vgl. Gierl 1997: 453 f.). Daraus und aus dem Stellenwert, den der Liebes-Diskurs in den vier Roman-Genres einnimmt, leitet Thomasius die Feststellung ab, dass der Arminius keiner Gattung zugerechnet werden könne (664), eigne Lohensteins Werk doch »was sonderliches und irregulaires« (664) – das sei jedoch kein Tadel: »was auch vortrefflich ist/ weicht von der gemeinen Regel ab.« (664) Seine Kritik am Arminius leitet Thomasius – in konsequenter Fortsetzung der gustatorischen Metaphern, die seine Romantheorie prägen – mit einer kulinarischen Kritik ein: der Herr von Lohenstein setzt uns in seinem Buch lauter gelehrte/ scharffsinnige und tugendhaffte Sachen vor/ und überziehet dieselbigen nur mit etwas von einer angenehmen invention. Es giebt der lehrbegierigen Jugend das thee [!] der Weißheit zu trincken/ und damit ihre an dem schmackhafften Wein und andere scharffe Geträncke gewehnete Zunge an dem ungewohnten Geschmack derselben keinen Eckel bekomme/ so thut er als ein wenig Zucker alllerhand Historischer und Politischer inventionen hinein/ umb ihnen den appetit zu erwecken. (667)
Thomasius unterzieht zunächst den Inhalt einer Bewertung, wenn er konstatiert, dass die »entworffenen Sachen« von größter »Wichtigkeit« seien (668) und der Roman viel Stoff zum Nachdenken böte. Thomasius empfiehlt daher ausdrücklich die Gesamtlektüre des Arminius und nicht bloß die Lektüre der Inhaltszusammenfassungen (»Summarien«, 668), die vom Herausgeber stammen und tadelnswert seien – doch enthält sich Thomasius hier eines deutlichen Urteils. Stattdessen weicht er aus auf Diego de Saavedra Fajardo (Idea de un principe politico christiano, 1640) und v. a. auf die Werkausgabe des französischen Prinzenerziehers François de La Mothe Le Vayer von 1654, die er positiv bespricht, um ein Beispiel für die gelungene Politica christiana zu geben (670– 681). Lohenstein nun habe die lohnenswerten Inhalte der Politica christiana seinem Arminius erzählerisch »einverleibet« (681). Die Narration erlaubt es Lohenstein – und darin sieht Thomasius eine lobenswerte Qualität – eine Fragestellung nicht zu beurteilen (»decidire[n]«), sondern die Diskussion abzubrechen (»abrumpiret«), um zu den Wurzeln des Strittigen (»die Grichischen und Lateinischen Scribenten«, 682) vorzudringen. Lohenstein vermittelt also dem Leser Begriffe und Probleme um seinen Geist zu schärfen, behält sich jedoch ein Urteil vor (Martino 1978: 199). Thomasius’ ausführliche Auseinandersetzung mit de La Mothe Le Vayer kommt daher auch die Funktion zu, eine Politica christiana für die Praxis der Literaturkritik zu entwickeln, die darin besteht,
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dass sie zunächst ihr Urteil zurückstellt, um zu den Quellen vorzudringen (Martino 1978: 199). Was Thomasius für Lohensteins Politica christiana konstatiert, fordert er für die Literaturkritik: dass der Kritiker »nichts determiniret, sondern dem Leser dasselbige zuthun überläst.« (668) Thomasius bewertet also die »Welt=Weißheit« des »Polyhistor[s]« und »Poëte[n]« (682) als unstrittig; zum Beleg greift er – wie Lohenstein selbst – über die zeitgenössische Literaturproduktion hinaus (die er gleichwohl zitiert) auf die Antike zurück. Dieses Verfahren der literaturkritischen Bewertung, das seinen Maßstab aus dem zu bewertenden Werk selbst ableitet und damit eine sympathetische Interpretation vornimmt, wendet Thomasius anschließend auch auf die formale Gestaltung des Arminius an. Lohensteins Dichtung übertreffe zwar Hoffmannswaldaus Lyrik nicht »an Liebligkeit und Anmuth« (682), finde aber »in der heroischen Schreib=Art« (683) nicht seinesgleichen. Diese Einordnung des Arminius in die Gattung der höfisch-heroischen Romane findet sich noch in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, bei Thomasius begründet sie jedoch, warum er zuvor die Schriften des französischen Prinzenerziehers de La Mothe Le Vayer ausführlich gewürdigt hat: noch in der Literaturkritik gilt es, die Standesgrenzen zu wahren – und der Arminius richtet sich seinerseits an eine höfische Leserschaft. Dass ein solches »Wunder der Dichtung« überhaupt einer kritischen Wertung zu unterziehen ist, erklärt sich aus einer doppelten Liebeshermeneutik: indem Thomasius seine literaturkritische Hermeneutik am Arminius entfaltet und zugleich auf das höfische Publikum rückbezieht, entfaltet er eine Literaturkritik, die im Namen der Liebe die Standesgrenzen überwindet. Daher ist es Thomasius auch möglich, dezidiert Kritik an der Komposition des Arminius zu üben, indem er – in Anbetracht der Handlungsverwicklungen in einer Nebenhandlung – die Missachtung des Wahrscheinlichkeitsgebots thematisiert, um gleich im Anschluss den Autor zu entschuldigen: er habe die Gesetze (»leges«) der Romane nicht so genau beachtet, »weil es mehr auff den Nutzen und die Gelahrtheit/ als auff die Belustigung sein Absehen gerichtet« (684).69 Auch wenn Thomasius’ hermeneutische Reflektionen zur ›sympathetischen‹ Literaturkritik entscheidende erste (und unsystematische) Hinweise für eine literaturkritische Selbstreflexion bieten, so darf doch nicht übersehen werden,
69 | Thomasius setzt diese Form der Kritik am zweiten Teil des Arminius fort (der letzten überhaupt publizierten Kritik, ehe die Monatsgespräche eingestellt werden), dessen Publikation Thomasius »mit Verlangen« (1141) erwartet habe. Er wandelt das Horaz-Zitat »Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci« geringfügig ab, um auf Lohenstein bezogen zu urteilen, dass das Nützliche das Angenehme überwiegt (1144).
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dass er letztlich mit dem Versuch, die Literaturkritik als eigenständige Disziplin zu begründen, gescheitert ist. Die Grenzen seiner ›sympathetischen Literaturkritik‹ hat Thomasius bereits 1689 – nachdem er sein ursprüngliches (dialogisch-amatives) Kritik-Modell aufgegeben hatte – verbildlichen lassen. Thomasius hatte sich mit dem deutschen Hofprediger am dänischen Königshof zu Kopenhagen Hector Gottfried Masius angelegt, der 1687 in seiner Schrift Interesse principium circa religionem evangelicam behauptet, dass nur das Luthertum mit dem fürstlichen Absolutismus vereinbar sei, während die Reformierten mit ihren Lehren zur Herbeiführung von Unruhen neigten. Dagegen erhebt Thomasius in seinen Monatsgesprächen vom Dezember 1688 Einspruch und überführt einen theologischen in einen Gelehrtenstreit. Masius seinerseits kritisiert in seiner 1689 erschienenen Schrift Abgenöthigtes Gespräch von dem Bande der Religion und Societät unter dem Pseudonym ›Peter Schipping‹ die Rezension von Thomasius, woraufhin Thomasius das Mai- und das Juni-Heft seiner Monatsgespräche der Widerlegung von Masius widmet. Die literaturkritische Fehde wird bis zur Anrufung des Landesherrn durch Masius schließlich so heftig, dass Thomasius das literaturkritische Konzept seiner Monatsgespräche ändert, ehe er seine Zeitschrift aufgibt und aus Leipzig flieht.70 Die beiden Hefte der Monatsgespräche, die Schipping-Masius’ Gespräch gewidmet sind, warten mit zwei Kupferstichen auf, die in einer Sequenz den Widerspruch von alter (theologischer) Weisheit und neuer (rationaler) Weisheit ins Bild setzen:
Abbildung 4: Frontispizien zu Thomasius’ Monatsgesprächen v. Mai u. Juni 1689
70 | Vgl. dazu Grunert 1997a, zu den Frontispizien bes. 77. Vgl. auch Grunert 2004: 125 ff.
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Das erste Frontispiz zeigt zwei Vertreter der universitären (und also – durch ihre Talare und das Beffchen so gekennzeichneten – überalterten) theologischen Gelehrsamkeit. Beide knien vor der personifizierten weiblichen Weisheit, die erhaben auf einem Thron sitzt, und ein Gelehrter ist soeben im Begriff, ein Buch (oder eine Schriftrolle) zu überreichen. Im Bildhintergrund ist ein barocker Landschaftsgarten mit einem Springbrunnen auszumachen. Direkt unter dem Springbrunnen, jedoch im Bildvordergrund, befindet sich eine mit einem Vorhängeschloss gesicherte Holztruhe. Das zweite Bild zeigt denselben Raum, doch ist der Weißheit die jugendliche Maske vom Gesicht gerutscht (im Aufstehen ist zudem die Toga verrutscht und entblößt die ausgelaugten und herabhängenden Brüste). Die beiden Gelehrten haben sich erschrocken erhoben und beobachten eine Szene, in deren Mittelpunkt ein junger Mann in galanter Mode steht. Er hat das schwere Zahlenschloss von der vorgelagerten Truhe entfernt (die angezeigte Kombination »Sophista« bezeichnet den Inhalt)71 und damit die jugendliche und nackte Weisheit befreit, die nun gleißend ans Tageslicht tritt. In der zugehörigen Rezension fordert Thomasius Masius auf, auch im literaturkritischen Streit nicht die Forderung Christi zu vergessen: »Liebet Euch/ […] daran wird man erkennen/ daß ihr meine Jünger seyd.«72
c. Kritik und Erkenntnis: Die Urteilskraft des Gefühls Literaturkritik stiftet – das verdeutlicht das zweite Frontispiz – als Liebespraxis Erkenntnis: wenn Liebe als polare Struktur beschrieben werden kann, bei der Eigenschaften des Anderen begehrt werden, die mit den eigenen Eigenschaften korrespondieren, so lässt sich auch die literaturkritische Wertungspraxis als polare Struktur beschreiben, als latent unsystematisches Moment (Brehm 2011: 38). Dieser Zusammenhang von Kritik, Liebe und Erkenntnis ist nicht neu,
71 | Thomasius bezeichnet Masius daher auch als »Sophisten« (Thomasius, Schippings »Gespräch« [Rez., 1689], MG Mai 1689: 474) und weist ihm zahlreiche »Sophistereyen« nach. 72 | Thomasius, Schippings »Gespräch« [Rez., 1689] (MG Mai 1689: 342, vgl. auch 486, 500). Thomasius bemüht sich, den literaturkritischen Streit auf eine sachliche Ebene zu heben, bedient sich dabei aber selbst polemischer Mittel, etwa wenn er die von Masius zitierte Sentenz »suum cuique tribuere« übersetzt als »Ehrliche Leute schmähen und lästern« (518) oder wenn er bezüglich der Entrüstung von Masius über die Streitkultur im Allgemeinen konstatiert: »Gemeiniglich schmehlen die Huren am meisten auff die Hurerey.« (519).
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sondern reicht bis auf die Antike zurück73 – wie jedoch verträgt sich diese Form der Ästhetik (αίσθησις) mit der literaturkritischen Wertung? Bereits das Alte Testament kennt den Zusammenhang von Lieben, Sexualität und Erkenntnis (vgl. Gen 3:7; 4:1; 4:17; 4:25), doch ist für die Ästhetik – als der Lehre von der sinnlichen Erkenntnis der Schönheit – v. a. Platons Definition der Anamnesis (altgr. ανάµνησις, d. h. ›Erinnerung‹) als der Lehre vom Wiedererkennen des Schönen wirkmächtig, die die klassische Hermeneutik vorwegnimmt. Anders als sein Lehrer Sokrates, für den ›schön‹ und ›gut‹ noch zusammenfallen, verbürgt für Platon die Liebe zum Schönen dessen göttliche Herkunft; zwischen Weisheit und Schönheit vermittelt Eros (Platon, Symposion 204a; vgl. Engelen 2001). Platon wertet also den Intellekt und seine Erkenntnisleistung auf, während noch Sokrates Schönheit als rein sinnlich Gegebenes denkt. Nach Platon liebt der Philosoph die Wahrheit, wird ihrer jedoch nicht habhaft. Durch die Trennung vom geliebten Gegenstand entstehe eine Sehnsucht nach Wiedervereinigung mit eben diesem Schönen, das dem Menschen eben nur deswegen schön erscheint, weil er es entbehrt. Angereichert durch hermetische Traditionen, die erst um 1730 allmählich in Vergessenheit geraten (Theisohn 2010: 380), wird diese platonische Hypothek in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der philosophischen Ästhetik wirksam, die hier ihren Ursprung hat: ›Liebe‹ bereitet dem Menschen den Weg zum ›Logos‹, ist also eine Form des Erkennens, die dem Logos unterlegt ihm zugleich voraus liegt. 1739 erweitert der im Umfeld des Hallischen Pietismus wirkende Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Metaphysica den Liebesbegriff: Liebe sei Freude an der Schönheit einer Sache oder Person (»Gaudium ex alicuius perfectione est amor«, B § 684), warnt jedoch vor einer überzogenen Selbstliebe (Schwaiger 2008: 229 f.).74 Der Künstler als Felix aestheticus trachte danach, sich in Liebe mit Allem zu verbinden, das Schöne zu erfassen und diese liebende Erkenntnis dichterisch rückzuübertragen (Baumgarten, Aesthetica, § 28 f.). Die englischen Sensualisten um Shaftesbury und Edmund Burke fokussieren den Zusammenhang von Liebe und Erkenntnis näher und arbeiten dabei den Zusammenhang von Schönheit und Liebe deutlicher heraus (Kringler 2010: 132 ff.). Shaftesbury spricht der Materie jeden Anspruch auf Ordnung und Formbildung ab; einzig der menschliche Geist sei in der Lage, das Schöne, Gu-
73 | Mit Blick auf den englisch- und romanisch-sprachigen Kritik-Begriff hat Peter Szondi bündig beschieden, dass diese Formen der Kritik immer auch auf Erkenntnis zielen, die vorhermeneutische Philologie in Deutschland hingegen auf Wissensanhäufung, Szondi 1967: 264 ff. 74 | Bezeichnender Weise rekurriert Baumgarten zur Entfaltung seiner Liebeskonzeption auf Leibniz, der sich seinerseits mit der Liebeskonzeption Fénelons auseinandersetzt, vgl. Schmitt-Maaß 2018b.
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te und Wahre, also die Ordnung und Proportionalität, zu erkennen.75 In diesem Zusammenhang propagiert Shaftesbury den Moral Sense als eine Urteilskraft des Gefühls, die weder dem Diktat der Leidenschaft folgt noch Mystik propagiert, sondern – damit die ursprüngliche Bedeutung von κρινέιν restituierend – die Herausbildung eines reflexiven, aber affektiv unterfütterten Unterscheidungsvermögens einfordert. Laut Burke (der hierin mit Platon übereinstimmt) ruft die Schönheit erst die Liebe hervor, Schönheit erscheint mithin als soziale Eigenschaft: »Unter Schönheit verstehe ich diejenige Beschaffenheit oder Beschaffenheiten eines Körpers, durch welche er Liebe, oder eine dieser ähnlichen Leidenschaft erregt.« Weiter unterscheidet Burke Liebe als »das Vergnügen, welches der Seele das Anschauen des Schönen in jeder Gattung macht, von Begierde oder sinnlicher Lust, dem heftigen Bestreben der Seele dasjenige zu besitzen, was ihr nicht als schön, sondern aus ganz andern Ursachen gefällt.« (Burke 1773: 142) Kurz und bündig verkündet 1757 der schottische Erkenntnistheoretiker David Hume: »Schönheit liegt im Auge des Betrachters«76 – und setzt damit Erkenntnis und Selbsterkenntnis in Eins. Vermittelt über die Ästhetik des französischen Klassizismus Boileaus (der seinerseits auf dem britischen Sensualismus Hutchesons aufbaut) formuliert Johann Christoph Gottsched 1751, dass Schönheit den Gegenstand des Interesses angenehm empfinden lässt (Gottsched 1751: 123), und Goethe schließt noch über 50 Jahre später an den Gnostiker Plotin an, der im Sinne des Neuplatonismus argumentiert, dass der Geist das ihm Entsprechende suche (Keller 2002: 442 ff.). Im Übergang zum neunzehnten Jahrhundert zeichnet sich jedoch ein Wandel ab. Die essentialistische-ontologische Schönheits-Auffassung wird zunehmend verworfen; nicht der Gegenstand ist per se schön, sondern in der Erkenntnis wird er schön. Während Novalis aphoristisch zugespitzt und ohne nähere Begründung formuliert, dass erst die intensive Auseinandersetzung mit einem Gegenstand diesen schön erscheinen lässt (»Was einem [!] Mühe kostet, das hat man lieb«, Novalis 1798b: 286) definiert der Berliner Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik (1835) Liebe als 75 | Darin geht Shaftesbury mit John Lockes Erkenntnistheorie zusammen, die zwar äußere und innere Eindrück unterscheidet (»sensations« und »reflections«), aber keinesfalls im Sinne des Sensualismus die Rolle des Verstandes auf eine Ordnungsistanz reduziert, die die äußeren Eindrücke nur noch selektiert – vielmehr geht Locke von einem aktiven Verstand (»intellectus agens«) aus. 76 | »Die Schönheit ist keine Eigenschaft in den Dingen selbst: sie ist blos in der Seele vorhanden, welche diese Dinge betrachtet; und jede Seele stellt sich eine andere Schönheit vor.« (Hume 1757: 243).
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»versöhnte Rückkehr aus seinem Anderen zu sich selbst« (Hegel 1835: 155). Daran schließt noch 1928 Walter Benjamin mit seinem Trauerspielbuch an, wenn er schreibt: »der Mensch ist schön für den Liebenden, an sich ist er es nicht« (GS I.1: 211). Jede Lektüre wird zu einer Anamnesis, in der sich der Textkörper und der Körper des Lesers einander durchdringen. In diesem Sinne setzt auch Hans-Georg Gadamers Vorstellung einer Sinnauffüllung des Textes durch den Leser voraus, dass Text und Leser sich ›ähnlich‹ sein müssen, um sich etwas zu sagen zu haben (Gadamer 1960: 46 ff.). Gegen die postmoderne Unterstellung einer ›imperialistischen‹ Besetzung des vollkommen opaken Textes durch eine ihm zutiefst fremde Interpretationen betont Jürgen Habermas die Interaktion von Lektor und Lektüre (Habermas 1968: 277 ff.) – Verstehen und Erkennen werden damit zu einer kommunikativen Erfahrung. Die ReProduktion, der Nachvollzug der Produktion, erlaubt das Verstehen des ›TextGegenüber‹ (Gadamer 1960: 75). Diese psychologische Interpretation – Gadamer beruft sich auf Friedrich Schleiermacher – gewährt die Lebendigkeit des Gegenübers als Gewachsenes. ›Literatur‹ ist so nicht mehr ein erratischer Block, sondern etwas Gewordenes. In dieser ›sympathetischen Hermeneutik‹ verbinden sich erotisches Erkennen und Wiedererkennen bzw. Selbsterkenntnis. So fordert Johann Joachim Winckelmann in den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), dass man die Gegenstände ansehe und nicht bloß über sie lese. Erst so erschlösse sich die ›Seele des Materials‹ –Winckelmann denkt hier freilich an Statuen – und es ergäbe sich eine Freundschaft mit künstlerischen Werken (Winckelmann 2002: 29 f.; vgl. Mülder-Bach 1998: 20 f.; Arburg 1998). Anhand der Pygmalion-Statue im Belvedere verdeutlicht Winckelmann sein kunstkritisches Credo: »Das Körperliche wird dir geistig […] werden.« (Winckelmann 2002: 276) Das liebende Verständnis erscheint in dieser Perspektive als Voraussetzung von Kritik, da erst das Verstehen das Werk vollendet: »Was ich verstehn soll, muß sich in mir organisch entwickeln,« fordert Novalis im achtzehnten der Blütenstaubfragmente (Novalis 1797: 418–419) Die Sinnlichkeit der Anschauung soll die kunstkritische Erkenntnis sichern. Wie man von individueller empirischer Erfahrung induktiv zu allgemeingültigen Erkenntnissen gelangen kann, versucht auch Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) näher zu bestimmen. In seiner Kritik der Urteilskraft (1790) bezieht Kant diese allgemeinere Fragestellung auf die Ästhetik und gelangt zu dem Schluss, dass weniger der Vernunft (wie er noch neun Jahre zuvor vermutet hatte) als vielmehr der Einbildungskraft eine »productives Erkenntnißvermögen« eignet (KAA I.5: 314, § 49). Damit fundiert Kant seine Ästhetik subjektiv, so dass er im weiteren Verlauf der Argumentation die These begründen kann, dass das Genie jenes Talent ist, das eine subjektive Erkenntnis stiftet, da es »der Kunst die Regel gibt.« (KAA I.5: 308, § 46) Erkenntnisurteil und ästheti-
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sches Urteil werden auf diese Weise durch Kant voneinander abgegrenzt, zugleich aber für die ›Gesellschaft‹ intersubjektiv gültig.77 Wenn Winckelmann diese ästhetische Auffassung an der Pygmalion-Statue im Belvedere verdeutlicht, so wird auch zugleich die Dialektik dieses Schönheits- und Erkenntnisbegriffs greifbar. Ovid, der uns im ersten nachchristlichen Jahrzehnt die Geschichte Pygmalions überliefert, verdeutlicht den Mythos von der Lebendigkeit bzw. Verlebendigung des Kunstwerks (Ovid, Metamorphosen, X,243–299). Bei allen Wandlungen, den dieser kunst- und kulturgeschichtliche Topos unterworfen war (vgl. Sckommodau 1970), zeichnet sich ein Auseinandertreten von künstlerischer Perversion und kreativer Schöpfung ab, der in den Kunst- und Naturdiskurs hineinspielt. Hatten die Schweizer Bodmer und Breitinger die Abkehr von den Regelpoetiken gefordert (diese sahen in der regelgerechten Nachahmung des französischen Klassizismus das Ideal der griechischen Naturauffassung verewigt), so läuteten sie mit ihrer Forderung, den Eigenwert der künstlerischen Schöpfung gegen das Gebot einer idealen Naturnachahmung zu betonen, eine ästhetische Wende ein: Kunst korrigiert Natur. Natur als Schöpfung Gottes ist nicht mehr das theologisch begründbare und uneinholbare Vorbild aller Kunst, sondern wird durch das Subjekt transzendiert (vgl. Picht 1989: 202 ff.). Auf diese Weise erfährt der Pygmalion-Mythos seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine Umprägung, indem die liebende Erkenntnis des Künstlers, die durch den Kritiker selber wieder aus dem Kunstwerk herauszulösen ist, zum Kunstideal der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wird. Der Pygmalion-Mythos erzählt im 18. Jahrhundert davon, wie die Kunst die Natur auf ihrem eigenen Feld schlägt.78 Das Parallelstück zum Pygmalion-Mythos und sein eigentlicher Gegenentwurf zugleich ist der Midas-Mythos, der erzählt, wie König Midas unter den Händen alles zu Gold wird, was er berührt, aber zugleich auch alles erstirbt – sei es Lebendig oder Kunst (Ovid, Metamorphosen, XI,85–145).79 Damit stehen sich zwei Kunstideale gegenüber, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend auseinandertreten. Während der Pygmalion-Mythos das erotische Mo-
77 | Dazu sowie zur Gleichzeitigkeit der transzendentalen Argumentation auf der einen und dem anthropologisch vorfindliche Gefühl der ästhetischen Lust auf der anderen Seite vgl. Arnold 2003: 28–36. 78 | Vgl. das Kapitel Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller Kraft in Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) und dessen Phantasien über die Kunst (1799). 79 | Zur »Tödlichkeit der Kunst« im Midas-Mythos und dessen Kontrastierung durch den Pygmalion-Mythos vgl. Mayer 1990. In einem Brief v. 12.4.1745 charakterisiert Samuel Gotthold Lange gegenüber Johann Jacob Bodmer den ›Dichterkrieg‹ als »Heerzüge[] des Midas« (Lange 1769: 113). Zum Dichterkrieg vgl. Nebrig 2011.
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ment der Kunstkritik veranschaulicht – also die liebende Erkenntnis –, versinnbildlicht der Midas-Mythos die kunsttötende Seite des Kritikers, der das Kunstwerk ›be-greift‹. Die literaturkritische Liebe geht also – denkt man den Pygmalion-Mythos als Verkörperung einer möglichen literaturkritischen Praxis zu Ende – der eigentlichen Kritik voraus, sie ist nicht ihr Ergebnis. Indem sich der Kritiker einem Text zuwendet, befindet er ihn der Auseinandersetzung für wert. Und Auseinandersetzung, Dialog mit dem zu kritisierenden Text führt zum Verständnis des Textgehalts, seiner Machart, seiner Struktur, seiner Einbettung in die literarische Tradition – auch, wenn der Kritiker dem Text ablehnend bespricht: Am Anfang steht eine sympathetische Liebe, die den Anderen (den Text) erkennen will. Dieses Korrespondenzverhältnis erklärt auch, warum Literaturkritiken selbst einen künstlerischen Anspruch haben können: sie spiegeln den Gegenstand ihrer Kritik wider, indem sie ihn imitieren (Hochkonjunktur hat dieses Verfahren im Zeitalter der Romantik). Während aber die Erkenntnislehren des 17. und 18. Jahrhunderts noch vieldeutig und widersprüchlich sind und die affektiven Anteile bei der literaturkritischen Urteilsbegründung nicht eskamotieren, legt erst Kant die (pejorative) Bedeutung der Begriffe »Empirismus« und »Rationalismus« fest, um sie gegen seinen Begriff des Kritizismus auszuspielen (vgl. Specht 1984: 75; Schneiders 1978). Kritik als liebende Erkenntnis und Selbsterkenntnis im Schönen ist zwar in allen Epochen der LiteraturkritikGeschichte präsent – am prägnantesten wohl im Zeitalter der Romantik –, doch an der Wende zum 19. Jahrhundert wird sie den Begründungs- und Reflexionsanforderungen nicht mehr gerecht: die ›Urteilskraft der Gefühle‹ wird in ihrem Eigenwert daher weitgehend verdrängt. Präsent ist sie nur mehr subkutan in der Praxis der Literaturkritik.
9. K APITEL : D ER L ITERATURKRITIKER ALS S CHARFRICHTER (T ÖTENDE K RITIK ) Kritiker sind blutrünstige Leute, die es nicht bis zum Henker gebracht haben. George Bernard Shaw, Erste Hilfe für Kritiker (1905)
Der Hallische Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten gilt als Begründer der neuzeitlichen Ästhetik, und Georg Friedrich Meier als sein Meisterschüler. Auch wenn Christian Wolff nach seiner Rückkehr von Marburg nach Halle 1740 beide als »Schöndenker in der Philosophie« abtat, so setzt sich die Ästhetik allmählich als akademische Disziplin durch. Ab 1746 außerordentlicher und ein Jahr später ordentlicher Professor, etabliert Meier die Ästhetik in Halle,
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Deutschland und der Schweiz. Dabei gerät er in Konflikt mit Johann Christoph Gottsched, dem im nahe gelegenen Leipzig residierenden ›Kritikerpapst‹ des 18. Jahrhunderts. Gegen ihn formuliert Meier einen scharfen Angriff, indem er postuliert: »Kein vernünftiger Kunstrichter strebt nach einer Universalmonarchie.« Zwar hatte Gottsched sich auf die Vernunft berufen und aus ihr allgemeingültige (am französischen Klassizismus orientierte) deduktive Regeln abgeleitet, nach denen Literatur zu beurteilen war. Zur Durchsetzung seiner Literaturdoktrin zog er zahlreiche Schüler heran und baute ein umfassendes Korrespondenznetzwerk auf. Meier nun beruft sich in seiner Kritik an Gottscheds Regelpoetik gleichfalls auf die Vernunft, zeiht ihn jedoch der Tyrannei und gelangt zu einem im wahrsten Wortsinne vernichtenden Fazit: Ein vernünftiger Kunstrichter verabscheut alles falsche Ansehen, und ist aus patriotischem Eiffer ein geschworner Feind aller derjenigen Afterkunstrichter, die ein grosses aber dabey falsches Ansehen erlangt haben. Ja ich gebe allen rechtschaffenen Kunstrichtern die Erlaubniß, diesen Tyrannen, in dem Reiche der Critik, sich mit aller Macht zu widersetzen, und wenn es nicht an80 ders seyn will, sie zu ermorden. (Meier 1745: 200)
Dieses schroffe Urteil über Gottsched, das in einem Aufruf zum Mord gipfelt, verdeutlicht, dass der Sprachgebrauch für den (Kunst-)Richter – die bis heute wohl vertrauteste Metapher des Literaturkritikers – im frühen 18. Jahrhundert noch von jener Ambivalenz gekennzeichnet ist, die die Frühe Neuzeit prägt: auf der einen Seite existiert die Bezeichnung ›Henker‹, andererseits auch die (sachlich identische) Berufsbezeichnung des ›Scharfrichters‹.81 Ein kurzer Blick in die zeitgenössischen Wörterbücher und Lexika offenbart, dass der Begriff des Richters immer auch den Begriff des Henkers impliziert: die Legislative fällt in ihrer Funktion mit der Exekutive zusammen. So definiert Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon (1726) die Aufgabe des Richters dahin gehend, »Verbrechen [zu] bestraffen« (Walch 1726: Sp. 2160); und auch bei Johann Heinrich Zedler (1733) ist der Begriff des Richters noch mit negativen Bedeutungsinhalten aufgefüllt, »da es [d.i. richten] eben so viel heisset als von einem übel reden« (Zedler XXXI: Sp. 1313). Schließlich findet sich bei Zedler unter dem Lemma ›Hencker, Scharfrichter‹ (»ist derjenige, welcher die peinlichen Urtheile vollstrecket«, Zedler XII: Sp. 1359) auch noch jene kulturpolitische Variante, die den Grad der (eigenen) Zivilisiertheit an der Trennung des Richter- vom Hen-
80 | Umgekehrt entfaltet Gottsched in seiner moralischen Wochenschrift Der Biedermann ein kannibalische Diätik, vgl. Der Biedermann, Viertes Blatt v. 22.5.1727, S. 15. 81 | Zur frühneuzeitlichen Gleichsetzung von Henker und Kannibale vgl. Attali 1979: 77.
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keramtes misst: bei den ›Morgenländern‹ fielen nämlich noch Urteil und Vollstreckung personell zusammen.82 Was ist mit einem solchen Befund gesagt? Offensichtlich fallen legislatives Urteil und exekutive Strafe in der Instanz des Scharfrichters zusammen. Der Scharfrichter ist damit eine ältere (vielleicht im wahren Wortsinne altbiblische) Richtergestalt, die den Richtspruch ausspricht und zugleich die Exekution betreibt. Gotthold Ephraim Lessing ist wohl derjenige deutschsprachige Literaturkritiker, dem die Palme im Wettbewerb um die vernichtendsten Kritiken gebührt (Berghahn 1993) – doch bereits vor ihm wurden Literaturkritiken im satirischen Stil geschrieben, die weniger durch sachliche Argumente als durch die Aburteilung und Exekution des Besprochenen auffielen. Vor allem Christian Ludwig Liscow erwarb eine Generation zuvor den Rang eines ›Literaturpapsts‹ sine cura seiner Zeit, indem er rücksichtslos, mit Lust an der aburteilenden Polemik, sein Amt betrieb – mehr Henker denn Richter. Zugleich reflektierte Liscow aber auch in hohem Maße sein Handeln – und lässt eine Reflexion auf den Zusammenhang von Richten und Henken erwarten.
a. Christian Ludwig Liscow: Der Kritiker als Henker Seit Goethes in Dichtung und Wahrheit (1812) geäußertem Urteil findet Liscow in der Literaturgeschichte wenig Beachtung, da dieser »nur das Alberne albern gefunden« (GFA 14: 285) und sich folglich keine Verdienste in den literaturkritischen Auseinandersetzungen seiner Zeit erworben habe.83 Goethes Urteil ist insofern begründet, als dass sich Liscow in der Tat nur mit eher unbedeutenden Dichtern auseinandergesetzt hat. Betrachtet man jedoch die zeitgenössische Debatte, so zeichnet sich ein differenzierteres Bild ab: Gottlieb Wilhelm Rabener vertritt einen anderen Typus der Satire, der objektiver und auf Gegenstände allgemeineren Interesses gerichtet ist. Bei Liscow hingegen dominiert ein »Ton der persönlichen Attacke, der schäumenden Invektive gegen die unbedeutenden und meist wehrlosen Opfer« (Jacobs 1980: 280), der die Satire als »StraffGedicht« etabliert (Morhof 1682: 307) und den Verriss in die deutsche Litera-
82 | In den zeitgenössischen Lexika ist nicht berücksichtigt, dass der frühneuzeitliche Scharfrichter als ›Carnifex‹ zugleich Metzger sein, aber auch die Funktion des Apothekers einnehmen konnte, also magische Praktiken tradierte, vgl. Helfer 1964: 352 f. 83 | Für ein differenzierteres Bild der Liscow-Rezeption vgl. Schwarz 1976: 10–47, vgl. auch Hentschel 2004.
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turkritik einführte (vgl. Lamping 1986: 37).84 Der aggressive Angriffston Liscows erhebt die Literaturkritiken in den Rang eines ›satirischen Strafamts‹ (vgl. Deupmann 2000: 48–179) und führt damit die apologetische Satiretradition in die deutsche Literatur ein.85 Vor dem Hintergrund eines prosperierenden Buchmarktes greift Liscow v. a. Buchgelehrte an, deren Werke keine Erkenntnisleistung beanspruchen können (Hentschel 2004: 112). »[C]hristliche Geduld« bringt Liscow für das »gelehrte Ungeziefer« (Liscow 1739, Vorr.: 53) nicht mehr auf, vielmehr will er jene, die »mit einer unerträglichen Verwegenheit der gesunden Vernunft und dem guten Geschmack den Krieg ankündige[n]«, mit dem »Standrecht« begegnen und »ihn zum Tode verurtheile[n]« (Liscow 1739: 251). Solchermaßen als Novum installiert und derart eindringlich vorgeführt, bedarf die Satire einer Verteidigung – ein Umstand, den auch Liscow erkannt hat. Seine Unpartheyische Untersuchung86 von 1733 entwirft eine Poetologie der Literaturkritik und fordert Potestas für den Literaturkritiker, also die Übertragung der politischen Gewalt des Monarchen auf den Kritiker:87 »Ein Gelehrter hat eine unumschränckte Gewalt, über alle Scribenten und ihre Bücher zu urtheilen. Es stehet ihm also frey, sie zu richten, wie er sie findet.« (267) Die Aufgabe des Literaturkritikers besteht folglich darin, dem ›Unfug‹ in der Literatur »so viel möglich, vor[zu]beugen« und sein »rechtes Mißfallen über das Verfahren der bösen Scribenten, so ernstlich und nachdrücklich [zu] bezeugen, daß andere sich scheuen, diesen Verächtern der Vernunft und Feinden des guten Geschmacks nachzuahmen.« (272) Doch Liscow rät auch zur Mäßigung im Urteil: Ich gebe demnach zu, daß ein Gelehrter nicht zugleich hinter alle Scribenten, die eine Züchtigung verdienen, [...] mit dem Schwerd her seyn müsse. Es giebt Scribenten, deren Verbrechen in einem kleinen Versehen [...] bestehen, von welcher kein Gelehrter frey ist. Diese verdienen nicht mehr, als eine Erinnerung, und es wäre ein Mißbrauch der Gewalt, die ein Gelehrter hat, wenn er wegen des geringsten Fehlers in der Historie [etc.] gleich einen Sribenten mit harten Censuren, scharffen Wiederlegung, und beissenden Satyren verfolgen [...] wolte. [...] Dieses verdient niemand, als solche Leute, die weder ordentlich dencken, noch ihre Gedancken geschickt, und angenehm vortragen können. [...] Und diese Art der Scribenten verdient eine Züchtigung. (268 f.)
84 | Doch gilt Liscow im 18. Jahrhundert auch als Deutschlands Jonathan Swift (Hentschel 2004: 116 u.ö.). 85 | Eine Tradition, die sich von Swift und Pope herschreibt und im deutschen Sprachraum weitgehend fremd bleibt, vgl. Brummack 1975: 124. 86 | Liscow 1739: 197–336. Mit Seitenzahl im Text zitiert. Die Unpartheyische Untersuchung kann man wiederum als Satire lesen, vgl. Freund 1977. 87 | Vgl. für das Folgende Heudecker 2005: 307 ff. Liscow beteiligt sich also nicht an der satirepoetologischen Debatte, wie sie in England durch John Dryden begonnen wurde und die strafende und scherzende Satire miteinander verschränkt.
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Zum einen warnt also Liscow vor dem Gewaltmissbrauch, zum anderen aber weist er den Richtern die Aufgabe der Züchtigung zu. Dementsprechend müsse der Literaturkritiker in seiner Funktion als Richter zunächst entscheiden, ob »noch Hoffnung der Besserung« beim zu Verurteilenden besteht oder nicht und »darnach die Strafe, die er ihm zuerkennet, mildern oder schärfen.« (268) Durch die Einführung der strafenden Satire in die Literaturkritik sozialisiert Liscow den Angriff in der sensualistischen Ästhetik. Das Instrumentarium, das Liscow nun entfaltet, um es als Beurteilungsmaßstab an den jeweiligen kritisierten Schriften anzulegen, entstammt der Rhetorik: wichtiger als der sprachliche Feinschliff (verba bzw. ornatus) sei die Wahrheit der Sache (res): »Man kann auch Thorheiten in schöne Worte einhüllen, und eine unzierliche vorgetragene Wahrheit bleibt doch Wahrheit.« (270) Das rhetorische Instrumentarium, mit dem Liscow als frühneuzeitlicher Gelehrter umzugehen gelernt hat, wird literarturkritisch ›ummontiert‹. So wird der Gelehrte zum Literaturkritiker der Res publica litteraria: Die gelehrte Welt hat also vollkommene Gewalt, über die Schriften zu urtheilen, die herauskommen, und ein jeder Gelehrter insonderheit ist befugt sich dieser Gewalt zu bedienen. Diese Befugniß fliesset aus der besondern Verfassung der Republick der Gelehrten. Die Gelehrten haben kein sichtbares Ober=Haupt, und folglich kein sichtbares Tribunal, das über ihre Schriften urtheilen könnte. Sie erkennen die Vernunft vor ihre Königin [...]. (259)
Die ›Königin Vernunft‹ legitimiert die ›Gewalt‹ des ›Tribunals‹ – die gesamte Rhetorik Liscows ist durchsetzt vom juristischen Vokabular. So erringt der Literaturkritiker zwar Potestas, aber um den Preis, dass die Gelehrtenrepublik und die bürgerliche Öffentlichkeit zwei voneinander geschiedene Sphären sind – ein frühneuzeitliches Gesellschaftsmodell, das nicht unwidersprochen blieb und die Auseinandersetzungen um Liscows satirische Literaturkritik zu erklären vermag (262).88 Dass der Literaturkritiker nach Liscow nicht nur urteilt und verurteilt, sondern auch züchtigt, hatte ich bereits angedeutet. Doch Liscow geht noch weiter. Er unterscheidet zwischen »ernsthaften Widerlegungen«, die »auf wichtigere Fälle verspart werden [müssen]« und dem »Ungeziefer« auf dem Helikon, also Schriftsteller von so minderwertiger Qualität, dass sich ein »ernstlicher[r] Kampf« mit ihnen nicht weiter lohne. Diese letzteren müsse man »spielend vertilgen, und eine einzige Satyre ist ihnen so tödlich als den Fliegen das Fliegenwasser« (281); man benötige zu ihrer Erlegung nicht die »Mist=Gabel« des Bauern noch das Gewehr des Jägers, »sondern man braucht nur die Fliegen=Klappe« (280 f.). Vor allem bei ›verstockten Übeltätern‹, die sich trotz 88 | Liscow argumentiert, daß die negative wie positive literaturkritische Resonanz auf ein Buch ohne Wirkung auf das bürgerliche Leben seines Verfassers sei.
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mehrmaliger Ermahnungen »stoltz und aufgeblasen« verhalten, müsse man das »Stand=Recht« halten, indem man »ihn zum Tode verurtheilet, und durch eine scharfe Satyre, anderen zum Abscheu, und zur Verhinderung allen Unfugs, den er durch sein böses Exempel anrichten könnte, aus dem Lande der Gelehrten vertilgt, und also die beleidigte Vernunft rächet. Denn an einem solchen Menschen ist alle Hoffnung verloren.« (271) Signifikant erscheint hier, dass Liscow seine Satiren als ›Artzeney‹ begreift, die heilen sollen – sie können aber zugleich als Gift wirken, insofern sie konsequent die Res publica litteraria von ›schlechten Einflüssen‹ reinigen.89 Für den betroffenen Schriftsteller entfalte dann die Arznei eine giftige Wirkung: »Eine Satyre ist eine Artzeney, weil sie die Besserung der Thoren zum Endzweck hat; und sie hört es nicht auf zu seyn, wenn sie gleich, als ein Gift, den Thoren tödlich ist. Denn in dem Tode, welchen sie verursachet, bestehet eben die Besserung der Thoren.« (283) Die literaturkritische Satire ist also »eine Art der Strafe in der Gelehrten Republick und ein tödliches Gift« (284), das der Richter verabreicht.90 Damit fallen Richter- und Henkeramt zusammen; der Literaturkritiker (bzw. der literaturkritischen Satire) tötet den ›Sribenten‹ dritten Ranges. Mit seinen solchermaßen theoretisch explizierten wie praktisch durchgeführten Satiren überschreitet Liscow aber den Rahmen der gelehrten Literaturkritik und öffnet eine Perspektive auf den modernen Literaturkritiker (Heudecker 2005: 311). Liscow verwendet den Begriff des Tötens zwar metaphorisch und meint den Tod des ›Scribenten‹ als Autor (Einstellung der Publikationstätigkeit, Ausschluss aus der Res publica litteraria), aber der Fall des von ihm wiederholt befehdeten Hallenser Rhetorikprofessors Johann Ernst Philippi und dessen Flucht aus der Universitätsstadt zeigt, dass dem metaphorischen Tod – »todt wollte er mit Gewalt nicht seyn« (Liscow 1739: 33) – durchaus der gesellschaftliche und der reale folgen kann (vgl. Brummack 1975: 118–122). Missglückt hingegen die Hinrichtung des Angeklagten, trennt also das Richtschwert oder das Fallbeil nicht beim ersten Schlag den Kopf von Rumpf (bzw. bringt die Feder nicht den Kritisierten zum Schweigen), droht ein Übergriff des Mobs (vulgo: der Gelehrtenrepublik) auf den Scharfrichter (Helfer 1964: 334). Daher wird ab den 1730er Jahren das Scharfrichter-Amt durch das Richter-Amt und den ›Anatomisten‹ ersetzt und damit ›zivilisiert‹.
89 | Liscow imprägniert damit seine Satire gegen moralisch und juristisch Angriffe, vgl. Lazarowicz 1963: 40. 90 | Im 17. Jahrhundert ist Chirurgie ein Ausbildungsberuf, der im 18. Jahrhundert vom medizinischen Studium verdrängt wird, vgl. Attali 1979: 154.
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b. Gotthold Ephraim Lessing: Verstehen statt Vernichten. Von der Exekution zur Vivisektion – der Kritiker als Anatomist Für die Zeitgenossen waren der (heute weitgehend vergessene) Liscow und der Begründer der deutschen Literaturkritik, Gotthold Ephraim Lessing, gleichrangige Literaturkritiker: »Liskow spottete des Philippi, Leßing Gottscheds«, erinnert sich noch 1803 Johann Gottfried Herder im von ihm verantworteten Periodikum Adrastea (FHA 10: 945). Doch konzentrierte sich Liscows Polemik nicht nur auf einen minoritären Gelehrten wie Johann Ernst Philippi – wie nach ihm Lessing bekämpfte bereits Liscow den selbsternannten Leipziger Spiritus rector der deutschen Literatur: Johann Christoph Gottsched.91 Die barbarische Wirkmacht dieser Literaturkritik schildert Johann Jacob Bodmer 1741 als Complot der herrschenden Poeten: »Ich sehe, wie die Critik sich ein neues Reich in unserm Reiche stiftet, und dieses seit der Zeit, da Silcow [i. e. Liscow] ihr zuerst in Deutschland einen Altar erbauet, und ihr Menschen […] zum Opfer abgewürget hat.« (SCPS 1742: 170) Lessing war eine Generation nach Liscow sicherlich der gefürchtetste Großkritiker: eine Geißel der deutschen Literatur, die das Amt des Scharfrichters (der historisch auch für die Folter zuständig war) ausübte.92 Lessing begründet seine Berufung als Literaturkritiker in seinen Rettungen (1754) damit, dass er sich gegen die ›jungen Gelehrten‹ und ihre Produkte habe zur Wehr setzen müssen, »die einzige Art von Narren, die mir auch damals schon unmöglich unbekannt sein konnte. Unter diesem Ungeziefer aufgewachsen, war es ein Wunder, daß ich meine ersten satyrischen Waffen wider dasselbe wandte?« (LWB 3: 156) »Es wäre vorteilhaft,« wünscht der Jungkritiker Lessing, wenn die verrissenen Autoren »immer im voraus, ein wenig tot zu sein lernen wollten« (LWB 3: 158), denn schließlich sei ja jeder (auch der posthume) Ruhm nur geborgt und daher vergänglich. Im Durchgang durch die scholastische Horaz-Philologie kommt Lessing auch auf die Horaz-Philologen der Aufklärung zu sprechen – die frühneuzeitliche Ars critica und die moderne Literaturkritik gehen bei Lessing also noch durchaus Hand in Hand (vgl. Barner 1993: 21), doch verfährt Lessing in beiden Fällen – anders als Gottsched etwa – induktiv (Steinmetz 1968: 32; Berghahn 1992: 39 f.; Multhammer 2013: 135 ff.). Dabei versteht es Lessing, das Ausmaß der kritischen Reaktion am Gegenstand zu be-
91 | In seiner Vorrede zur Neuausgabe von Carl Heinrich v. Heineckens (Pseudo-)LonginÜbersetzung Vom Erhabenen (1742). 92 | Seine Rezensionen unterzeichnete Lessing häufig mit dem Kürzel »Fll.«, das nach »flagello« (lat. f. ›ich geißele‹, ›ich peitsche‹) aufzulösen ist (Seiffert 1969: 77). Lessing beschreibt sich selbst als ›Windmühle‹, um seine Tätigkeit als Literaturkritiker in ein Bild zu fassen, vgl. Strohschneider-Kohrs 1969.
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rechnen. »Wenn ich Kunstrichter wäre«, schreibt Lessing 1769 in Konjunktivform im 57. der Antiquarischen Briefe, »wenn ich mich getraute, das Kunstrichterschild aushängen zu können: so würde meine Tonleiter diese sein. Gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger; mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister; abschreckend und positiv gegen den Stümper; höhnisch gegen den Prahler; und so bitter als möglich, gegen den Cabalenmachen.« (LWB 5/2: 581) Lessings Literaturkritiken sperren sich aber unverändert und vehement jedem Versuch, eine geschlossene Theorie der literarischen Kritik zu rekonstruieren.93 Vielmehr scheint es, also ob Lessing in polemischer Übertreibung sich bewusst ein ›Opfer‹ gesucht habe, um an dessen Schriften die Möglichkeiten der literaturkritischen Argumentation vorzuführen (vgl. Guthke 1981: 142 ff.) – möge man sie nun induktiv oder deduktiv nennen (vgl. Nivelle 1977: 102 ff.). Vor allem in der Auseinandersetzung mit Gottsched, aber auch mit den Zürchern (vgl. Guthke 1975: 24 ff.; Baasner 1993) gewinnt Lessings eigenes literaturkritisches Programm Profil. Als Beiträger zu Friedrich Nicolais Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste umreißt Lessing eine programmatische Erwiderung, in der er der Bibliothek der schönen Wissenschaften Parteilichkeit und Tadelsucht vorwirft. Er verwahrt sich 1759 im 16. Literaturbrief gegen den Vorwurf, im »Gericht der Critik« keine »grausame Inquisition« (LWB 4: 496) üben zu dürfen, und bezieht damit Stellung gegen die sich etablierende Geschmacksdebatte: »Nur wenn das Ganze untadelhaft befunden wird, muß der Kunstrichter von einer nachteiligen Zergliederung abstehen, und das Werk so, wie der Philosoph die Welt, betrachten« (497) – nämlich als schön. Damit wehrt sich Lessing gegen einen Vorwurf, der von Seiten der philosophischen Ästhetik erstmals geübt und in der deutschen Kunstperiode vervollkommnet wurde: Jede Auseinandersetzung mit Kunstwerken hat deren Schönheit herauszustellen, und nicht etwa deren Ungenügen zu betonen. Die analytische – d. h. zergliedernde – Kunstbetrachtung wird daher ebenso wenig geschätzt wie die philologische Detailanalyse von heutigen Studenten (Stadler 1999: 221). Dass Lessing Kunstwerke in seiner Funktion als Kunstrichter mitleidlos zergliedere, wurde ihm häufig zum Vorwurf gemacht.94 Gegen die Genieästhetik und die mit ihr einhergehende Emanzipation des Geschmacksbegriffs setzt
93 | Auch der rekonstruktive »Systementwurf« zu Lessings Literaturkritik von Röttgers 1973 ist wenig hilfreich. 94 | Kein geringerer als der berühmte Göttinger Anatomist Albrecht von Haller kritisiert 1753 jedoch auch Wielands Zergliederung von Bodmers Noah, vgl. Haller 1970: 64.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Lessing auf die Fähigkeiten des ›kalten Kunstrichters‹,95 selbst um den Preis, dass – wie es im 96. Stück der Hamburgischen Dramaturgie von 1768 heißt – »kein Mensch mehr einen Schmetterling bunt und schön findet, seitdem das böse Vergrößerungsglas erkennen lassen, daß die Farben desselben nur Staub sind.« (LWB 6: 658) Was der ›kalte Kunstrichter‹ aus den ›zerstückten‹ Kunstwerken ›herauszugrübeln‹ versteht, sind einzig deren »Squelette«.96 Der Preis einer solchen polemischen Literaturkritik ist letztlich die Vernichtung des Kunstwerkes, wie sie auch dem Kritiker Erhebliches abverlangt:97 »was ich den Leuten zu sagen habe, sage ich ihnen unter die Augen, und wenn sie auch darüber bersten müßten.«98 Damit begründet Lessing eine Funktion von Literaturkritik, die Goethe pejorativ als deren Wesen fasst: Kritiker und Literat vertreten in Goethes Perspektive zwei jeweils unvereinbare Positionen, da der Literatur ›Witz‹ besitzen muss, um das Getrennte zu vereinen, wohingegen der Kritiker das Vereinte trennt – Witz (Dichter) und Scharfsinn (Kritiker) treten in Opposition zueinander,99 oder, um ein Bild Lichtenberg aufzugreifen, »[w]enn Scharfsinn ein Vergrößrungs Glas ist, so ist der Witz ein Verkleinerungs Glas.« (Lichtenberg 2005: 278) Goethe deklariert den Dichter zum Antiaufklärer, analog zu Lessing Definition des Kritikers als Protoaufklärer.100 Bedingt durch diese unterschiedlichen Auffassungen von kritisch-künstlerischer Darstellung verkörpert Lessing die Gegenposition zu Gottsched ebenso wie zu Goethe.101 Auch wenn Lessings literaturkritisches Denken kein System der Kritik, sondern der Kritiken ist (Steinmetz 1968: 32) und sich zwischen der Ambivalenz von Geist und Buchstabe entfaltet (Bohnen 1974: 7 f.), so blieb doch die polemische Kritik gegen so unbedeutende Autoren wie Dusch und Klotz nicht folgen-
95 | Lessing, Abhandlungen zur Fabel [1759] (LWB 4: 396), vgl. auch Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 230, 9. St.). 96 | Lessing, Abhandlungen zur Fabel [1759] (LWB 4: 396). Vgl. auch Stadler 1999. 97 | Zur »Dialektik der Polemik« gehört, »daß sie dem Polemiker nicht nur Lustgewinn bringt, sondern auch ins eigene Fleisch schneiden kann« (Berghahn 1993: 178). Umgekehrt gilt, dass der Literaturwissenschaftler, der das schöne Gedicht zergliedert, am Ast sägt, auf dem er sitzt (Stadler 1999: 222). 98 | Lessing, Vademecum für […] Lange [1754] (LWB 3: 105). 99 | Goethe/Schiller, Über den Dilettantismus [1799] (GFA I.18: 747, 764, 772, 779). 100 | Schiller schließt an Goethe an, wenn er einen Sprachforscher als ›Anatomisten‹ bezeichnet, vgl. Goethe/Schiller, Xenien [1797] (SFA 1: 595, Nr. 141). 101 | Am deutlichsten vertreten wird die Auffassung einer Welt, die als Summe das Ganze ihrer Teile darstellt von Hegel, der gegen Descartes’ Vorstellung einer res extensa argumentiert. Susan Sontag aktualisiert dieses Paradigma der Kunstauffassung in Against Interpretation, wenn sie konstatiert, dass das aggressive Potential der Literaturkritik bedenklich zugenommen habe und die literaturkritische Interpretation »die Rache des Intellekts an der Kunst« sei (Sontag 1966: 13).
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los für das Selbstverständnis der Literaturkritik (Demetz 1971; Barner 1977). Heinrich Heine – selbst ein Meister der spitzen Feder – fasste in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland von 1834 die schneidende Wirkung von Lessings Polemiken102 gegen die unterlegenen Gegner mit den Worten zusammen: »Indem er [i. e. Lessing] seine Gegner tötete, machte er sie gleichsam unsterblich,« und charakterisiert diese literaturkritische Praxis: »Kein Kopf war vor ihm sicher, ja, manchen Schädel hat er sogar aus Übermut heruntergeschlagen, und dann war er dabei noch so boshaft, ihn vom Boden aufzuheben und dem Publikum zu zeigen, daß er inwendig hohl war.« (Heine 1834: 586) Als ein solcher Hohlkopf galt Lessing Gottsched, der in seiner Critischen Dichtkunst, aber auch in zahlreichen anderen Schriften und mit Hilfe eines weit gesponnenen Netzes von Schülern und Adepten eine normative und statische Literatursystematik erarbeitet hatte, gegen die Lessing im Verbund mit Friedrich Nicolai mit seiner funktionalen Bestimmung von Literatur anging. Zwischen 1749 und 1759 verlief der Streit zwischen Gottsched und Lessing diskontinuierlich, aber andauernd und gipfelte im 16. und 17. Literaturbrief. Die Kritik des ›Niemand‹, als der Lessing Gottscheds Verdienste um eine deutsche Bühnenreform vollständig desavouiert, ist vernichtend: so konstatiert Lessing 1749 in seiner Rezension zu Gottscheds Neuesten Gedichten, dass der Leipziger Kunstrichter nach den unzählichen Kritiken, welche seine Gedichte haben ausstehen müssen, eingesehen [habe], daß seine bisherigen Verse nichts taugen, er aber gleichwohl, man weiß nicht, durch was für eine Erscheinung, bei sich völlig überzeugt ist, daß er in der großen Kette der wirklichen Dinge ein poetisches Glied zu sein bestimmet worden,
gleichfalls sei »seine poetische Stunde noch nicht [ge]kommen« (LWB 2: 695). Alle Gedichte Gottscheds seien – »bei unserer kritischen Ehre« – vollkommen einfalls- und abwechslungslos.103 Die zweite Auflage erfährt eine noch herbere Abwertung: da es sich zum größten Teil um alte Gedichte handele, und die neueren ›entbehrlich‹ seien, bezahle man mit dem Kaufpreis von zwei Talern »das Lächerliche« und mit vier Groschen »ohngefehr das Nützliche.« (695) Was Lessing auf diesem Weg erreicht, ist die Verhinderung weiterer schlechter Poesie: Literaturkritik als tötende Kritik arbeitet nicht länger kuratorisch (indem sie die Schäden nachträglich benennt), sondern als »Preservatif« (indem sie die Schäden – auch um den Preis der Vernichtung – zu vermeiden sucht). »[E]s ist ersprießlich,« schreibt Lessing im 29. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1767), »diejenigen [Torheiten] zu kennen, mit welchen man in Collision kom102 | Zur Gattung der literaturkritischen Polemik vgl. Feinäugle 1969; Berghahn 1992. 103 | Mit dem Ehrbegriff ruft Lessing eine Vokabel auf, die bereits bei Thomasius das literaturkritische Feld kartiert, vgl. Berlemann 2011: 170 ff.
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men kann; ersprießlich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Preservatif ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigeres, wirksameres, als das Lächerliche.« (LWB 6: 324, 29. St.) Mit diesen Sätzen und der damit einhergehenden Konversion von Publikum und Kritiker (Barner 1977) leitet Lessings polemische Literaturkritik zur Selbstzensur über (Bödeker 1993). Lessing mildert jedoch den Tonfall (im Gegensatz zu Liscow) nach 1760 geschickt und signifikant ab. Während er noch am Beginn seiner Karriere als Literaturkritiker und in kämpferischer Auseinandersetzung mit Gottsched (den er als »großen Duns« verspottet, während er die Gottschedin als intellektuelles Zentrum Leipzigs preist)104 die Polemik etabliert und sich als Scharfrichter geriert, richtet er sich mit der Rede vom ›kalten Kunstrichter‹, der nur die ›Squelette‹ der Werke freilege, aber nicht zu deren ›Grund‹ vordringe, auch gegen die ältere Auffassung vom Kunstrichter als Henker und markiert damit eine ›ästhetische Wende‹ (vgl. Neumann 1980):105 der Kunstrichter verwendet ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kein Fallbeil mehr, um die Lebenden ins Jenseits zu befördern, sondern bedient sich des sehr viel feineren Skalpells.106 Lessing zielt damit gegen zwei Entwicklungen: gegen die ältere Tradition des gelehrten ›Kunstrichters‹ und gegen die kategoriale Emanzipation des Geschmacks, die unter den Dichtergenies der Empfindsamkeit (und später des Sturm und Drang) um sich greift. Lessing lehnt das ältere literaturkritische Rollenmodell des Scharfrichters ab. Zugleich zielt er auf die ältere Praxis der gelehrten (Quellen-)Kritik, wenn er im 77. Literaturbrief (1760) schreibt, dass beim »Polygraph […] alle Critik umsonst« (LWB 4: 683) sei und in den Rettungen (1754) bereits konstatiert: »Ein klares Exempel, daß es den Criticis gleichviel ist, ob sie ihren Schriftsteller etwas ungereimtes sagen lassen, oder nicht, wann sie nur ihre Belesenheit auskramen können!« (LWB 3: 189) Lessing begreift Philologie keineswegs als ausschließlich historisch orientierte Gelehrsamkeitspraxis, sondern als eminent gegenwartsbezogen. Das kommt auch in seiner Literaturkritik an Samuel Got-
104 | Lessing, Antwort auf die Frage: wer ist der große Duns? [1755] (LWB 3: 365) 105 | Erst 1778 und mit Publikation der Duplik, die dem Fragmenten-Streit ein Ende setzt, bekennt Lessing: »Ich fühle es sehr wohl, daß mein Blut anders umfleußt itzt« (Lessing, Eine Duplik [1778], LWB 8: 585). Vgl. auch Schilson 1993: 68. Die körperlichen Signifikanten der literaturkritischen Fehde werde ich nicht eigens analysieren. 106 | Zur Diskussion um den anatomischen Buchdruck und seine Kritik – ein interessantes Nebengebiet, das hier nicht weiter verfolgt werden kann – vgl. Cunningham 2010: 251 ff. Ebenfalls nicht weiter verfolgt werden kann Lessing Rezeption von Albrecht v. Haller, den er in einer Rezension als »Zergliederer« anspricht, vgl. Lessing, Hallers »Opuscula anatomica« [Rez., 1752] (LWB 2: 205 f.).
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thold Langes Horaz-Übersetzung zum Ausdruck. Zwar unterzieht Lessing die Übersetzung einer detaillierten Analyse und versieht sie mit historischen und ästhetischen Erklärungen (Riedel 1990: 110). Doch lautet Lessings Hauptkritikpunkt, dass Lange den Lebenswandel des Horaz verachte, und ihn daher als »Trunkenbolde und Hurer«107 deklariere. Lessing erweist Langes Horaz-Kritik als moralisch vorverurteilende Philologie, die auch philologisch unzulänglich sei. Diese Form der gelehrten Kritik sieht Lessing noch im Leipzig-Zürcher Literaturstreit praktiziert, wenn auch in einer gleichsam säkularisierten Variante der theologischen Kontroversialliteratur. Im Umgang mit diesen Polygraphen fordert Lessing im bereits zitierten 77. Literaturbrief jedoch Vorsicht: »Ja man sollte sich fast ein Gewissen machen, ihn zu kritisieren; denn die kleinste Kritik, die man sich gegen ihn entfahren läßt, gibt ihm Anlaß und Stoff zu einem Buche. Und so macht sich ja der Criticus seiner Sünden teilhaft!« (LWB 4: 683) Lessing richtet sich also ausdrücklich gegen die Form der gelehrten Polemik. Um seine Ablehnung zu markieren und das ›vorkulturelle‹ dieser literaturkritischen Praxis zu verdeutlichen, überblendet er im 46., 47. und 51. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1767) die funktionalen Rollen von Henker, Tyrann und Kannibale (LWB 6: 413, 414, 434 f.;). Deren ›zersetzende‹ Praxis kontrastiert Lessing mit dem Bild des ›Anatomisten‹, der sich den Beruf mit dem Arzt teilt: wie dieser kann er mit seinen medizinischen Instrumentarien Leben verlängern, Leben beenden oder nach dem Ableben die Todesursache analysieren.108 Lessings Literaturkritik zielt jedoch auch noch gegen eine andere Bewegung: die Vertreter der Empfindsamkeit (und später die jungen Stürmer und Dränger) versuchten die Kategorie des Geschmacks als ästhetische Wertungskategorie durchzusetzen. Doch hat Lessing Vorbehalte gegen die damit eingeläutete Relativierung des literaturkritischen Urteils: was »nach dem Geschmacke unsers oft mehr eckeln als feinen Kunstrichters«109 sei, habe oft bei Prüfung mit dem Verstand keinen Bestand.110 Die ›jungen Criticis‹ besäßen »nichts als
107 | Lessing, Vademecum für […] Lange [1754] (LWB 3: 116). 108 | Zudem leitet die vergleichende Anatomie im 17. Jahrhundert die Vorherrschaft der exakten Wissenschaften ein und bereitet damit die Anthropologie vor (Leroi-Gourhan 1964: 18). Zu den frühneuzeitlichen Traditionsbeständen des ›Anatomisten‹ vgl. die Beiträge in Schirrmeister 2005; zu den (meist Hexen zugeschriebenen) kannibalischen Praktiken im 15. bis 17. Jahrhundert vgl. die Beiträge in Röckelein 1996. Die Eskamotierung des ›kritischen Cannibalism‹ fällt historisch zusammen mit der Todesverdrängung, wie sie Philippe Ariès in seiner Geschichte des Todes dargestellt hat. 109 | Lessing, Abhandlungen zur Fabel [1759] (LWB 4: 387). 110 | Doch schreckt Lessing nicht davor zurück, selbst die Geschmacksdebatte in Anspruch zu nehmen, wenn er am 25.2.1778 an seinen Bruder Carl Gotthelf schreibt: »Besonders freue ich
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wenig Geschmack und recht viel Stolz […], welches, wie man sagt, gleich der Fall der meisten Kunstrichter ist.«111 Die gegenwärtige Literatur – Lessing meint das französische Lustspiel, das in Übersetzungen und Adaptionen das zeitgenössische Theater dominierte – bestehe nur aus »Modeschönheiten, Geburten eines flüchtigen Geschmacks«.112 Doch schränkt Lessing ein: »Plaisanterien muß man nicht zergliedern wollen.«113 Sowohl der Gegenstand (französische Lustspiele) als auch die zu seiner Beurteilung in Anschlag gebrachte literaturkritische Kategorie (Geschmack) sind damit als minderwertig desavouiert. Lessing wusste natürlich, dass die Geschmack-Kategorie ein romanischer Kulturimport war (ital.: gusto, frz. goût). Das macht seine Kritik an dem Geschmacks-Begriff verständlich, wobei er dem Mund (Organ der Kommunikation und der Essensaufnahme zugleich) eine zentrale Funktion einräumt, wenn er schreibt: »Der angeführte französische Schriftsteller fängt mit einem bescheidenen, ›Uns wäre lieber gewesen‹ an, und geht zu so allgemein verbindenden Aussprüchen fort, daß man glauben sollte, dieses uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.«114 Der durch den französischen Geschmacks-Begriff maßgeblich geprägten Theoriedebatte seiner Zeit kann Lessing also ebenso wenig abgewinnen wie dem älteren Kunstrichter-Imago. Er fegt daher »die alten und neuern Kunstrichter« für die Ausfertigung seiner eigenen vernunftbegründeten Literaturkritik beiseit. Dafür jedoch – und damit trägt Lessing dem gewandelten Verständnis von Ratio Rechnung – versucht er, Verstand und Herz auszutarieren: »Ich suchte aus meinen Empfindungen gewisse allgemeine Maximen zu abstrahieren, und aus diesen eine Art von System zu machen; so ist meine Abhandlung entstanden.«115 Zwar findet diese Überzeugung auch Ausdruck in Lessings sprichwörtlich gewordenem Apodiktum: »Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es begreift und behält und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in Worten ausdrücken.«116 Doch deutet Lessing hier nur die modische Genieästhetik seiner Zeit für seine eigenen Zwecke, um die eigenen literaturkritimich, daß Du das haut-comique der Polemik zu goutieren anfängst, welches mir alle andern theatralischen Arbeiten so schal und wäßrig macht.« (LWB 12: 1778). 111 | Lessing, Rettungen [1754] (LWB 3: 161). 112 | Lessing, Wielands »Erzählungen« [Rez., 1753] (LWB 2: 493). 113 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 325, 29. St.). 114 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 275, 19. St.). 115 | F. Nicolai an G. E. Lessing, Br. v. 14.5.1757 (LWB 11/1: 202). 116 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 657, 96. St.).
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schen Verfahren anschlussfähig erscheinen zu lassen – seine grundlegende Ablehnung von genieästhetischen Werken bis hin zu Goethes Werther sind bekannt (Strohschneider-Kohrs 1969: 89 f.). Literaturkritik hat nach Lessing (in den Worten des weisen Nathan) »Arznei, nicht Gift« (LWB 9: 497) zu sein – wie verträgt sich dieser Anspruch mit seiner Praxis der literaturkritischen Polemik? Lessing war in seiner Zergliederungsästhetik auf den heftigen Wiederstand Moses Mendelssohns gestoßen, der in seinen Briefen über die Empfindungen ein Gegenprogramm lieferte, dessen Grundsatz lautete: »Allzusorgfältige Zergliederung der Schönheit stöhret das Vergnügen.« (MJubA I: 45)117 Doch nicht nur von Seiten des jüdischen Freundes, auch von Seiten der Lutheraner kamen Bedenken. Lessing hat sich mit diesen Vorwürfen auseinandergesetzt, etwa in seiner Kritik an Christoph Martin Wieland in seinen Literaturbriefen. Darin zeiht er Wieland eines Gesinnungswandels: erst unter dem Einfluss der Zürcher Literaturkritiker Bodmer und Breitinger habe Wieland sich in seiner Sammlung einiger prosaischen Schriften (1758) vom Freigeist (eine durchaus positiv konnotierte Kategorie in den Literaturbriefen) zum religiösen Schwärmer gewandelt (vgl. Albrecht 1993: 104 f.).118 Lessing Kritik nimmt den personalsatirischen Angriff auf Wieland zum Ausgangspunkt, »Wielands Religiosität in ihren literarischen Folgen zu ergründen.« (Albrecht 1993: 104, a. i. Folg.) Der Vergleich von Wieland Prosahymnus Empfindungen des Christen (1757/58) mit der chiliastischen Erbauungsdichtung des Radikalpietisten Johann Wilhelm Petersen im 8. Literaturbrief begründet Lessings Verdikt vom »Geschwätze« eines »Schwärmers« (LWB 4: 472 f.). Die religiöse Empfindsamkeitsdichtung verurteilt Lessing ebenso wie die Neologie als »wegphilosophieren« von Religion durch jene, »die uns eben diese Religion wegwitzeln.« (471). Der »witzige[] Kopf« Wieland (470) begeistere sich und seine Leser durch eine affektierte Dichtersprache für eine nur vordergründig religiöse Dichtung, verfehle durch diesen »Enthusiasmus« jedoch »das wahre Gefühl der Religion« und nenne fälschlich »Ausschweifungen der Einbildungskraft Empfindungen« (471).119 Lessing votiert jedoch nicht gegen Empfindsamkeit, sondern gegen inszenierte Gefühligkeit: »Wo diese [die Einbildungskraft] so geschäftig ist, da ist ganz gewiß das Herz leer, kalt.« (471) Das Herz des Kri117 | Mendelssohn, der auch Friedrich Justus Riedels Schrift Über das Publicum rezensiert und sich kritisch mit Hogarths Zergliederungsästhetik auseinandersetzt, leitet aus dem Auseinanderfallen des Schönen (und Guten) letztlich seine Begründung für die Statthaftigkeit des Selbstmordes ab – die vielleicht radikalste Zuspitzung des ›critischen Cannibalism‹. 118 | Zur literaturkritischen Differenz zwischen Lessing und Bodmer vgl. Fries 2009. 119 | Daher nennt Lessing die Unterstellungen Goezes, die sich nicht gegen Lessings Art der Beweisführung richteten, sondern ihm Atheismus unterstellen, »meuchelmördrisch[]« (Lessing, AntiGoeze [1778] (LWB 9: 154).
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tikers Lessing jedenfalls wird nicht von dieser Dichtung angesprochen, und so gehe es – laut Lessing – sicherlich auch vielen Lesern. Zumindest fordert Lessing von seinen Lesern, sich selbst ein Bild von Wielands Sammlung zu verschaffen (470) wie er auch im gewählten Brief-Medium ein literaturkritisches Gesprächsangebot macht. Das benimmt Lessings literaturkritischem Votum nichts von seiner Prägnanz. Nach Lessing »mißlang Wielands religiöse Dichtung, weil sie keiner Einheit von ›Kopf‹ und ›Herz‹ entsprang und keine hervorzubringen vermag.« (Albrecht 1993: 105) Religiöse Dichtung von der Machart Wielands verflacht christliches Empfinden zur bloßen Schwärmerei. Gegen Wielands ›Schwärmerei‹ richtet sich Lessing: er fordert die Einbeziehung des christlichen Liebesgebots in seine Praxis der Literaturkritik; sie bildet gleichsam ein Seitenstück zu seiner dramaturgischen Forderung des Mitleidsaffekts und verbürgt das literaturkritische Verständnis, sei doch im literaturkritischen Urteilsstreit die »Ähnlichkeit der Denkungsart, die Identität der Urteile, der Grund aller Liebe.«120 Lessing entwickelt seine Restitution der Urteilskraft der Gefühle und des literaturkritischen Mitleidsgebots in seiner Hamburgischen Dramaturgie von 1768, in der er Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (1755) bespricht, und zwar jenen Passus, in dem Mendelssohn über die Empfindungen eines zum Tode Verurteilten spekuliert. Lessing schreibt: Sein Urteil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm: ein Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wünschen itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurteilet haben würden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annäherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen Übel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussöhnen, und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich mitleidig mit seinem Schicksale sein.
Lessing beruft sich auf eine Feststellung von Moses Mendelssohn, die dieser seinen Briefen über die Empfindungen (1755) hinterhergeschickt hatte: »Das Mitleiden […] ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist.« (MJubA I: 381–424, vgl. LWB 6: 554, 74. St.)121 An dieser Stelle hakt Lessing ein und leitet aus dem signifikanten Zusammenhang von Todurteil und Urteilsempfindung ein Gebot zur »Liebe« ab, »die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umständen ganz verlieren können, die unter der Asche, mit welcher
120 | Lessing, Bemerkungen über Burkes »Philosophische Untersuchungen« [1758] (LWB 4: 450). Vgl. Werner 1990: 26. 121 | Zur theologischen Fundierung von (auch rationaler) Ästhetik im 18. Jahrhundert vgl. auch Danneberg 2003: 75 f.
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sie andere stärkere Empfindungen überdecken, unverlöschlich fortglimmet, und gleichsam nur einen günstigen Windstoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen« (LWB 6: 565). Diese Umdeutung von Mendelssohn ist im Kontext einer literaturkritischen Praxis signifikant, konstatiert doch Friedrich Nicolai, dass sich Mendelssohn »bloß durch Selbstdenken, fast ohne Bücher« gebildet habe. Daher habe Mendelssohn »Lessings Liebe zur Litteratur, zur Kritik der alten Schriftsteller, und zum Lesen der Bücher aller Art nicht wohl leiden« können.122 Lessings Liebe zum Buch, auch zum kritisierten Buch, bildet also die Grundlage der literaturkritischen Liebesethik Lessings, die den Mitleidsaffekt des Rezipienten aktiviert, um ihn zum Selbstdenken und Selbsthandeln zu stimulieren. Das ist allein durch kontemplative Bewunderung (wie sie die Sammlung Wielands und anderer ›Schwärmer‹ einfordert) unmöglich zu erreichen. Lessings Mitleidstheorie ist an zwei Bedingungen geknüpft, die auch für seine Praxis der Literaturkritik prägend sind: Zum Einen müssen die Figuren Identifikation ermöglich, dürfen also weder einseitig gut noch einseitig böse sein – adäquat gilt: auch der Kritiker muss eine Identifikation, ein Verständnis, des ablehnend kritisierten Textes ermöglichen; sein Urteil darf nicht so destruktiv sein, dass es unbegründet und damit unverständlich ist. Zum Anderen müssen die Figuren nach Maßgabe der Einheit von Reflexion und Handeln auftreten – entsprechend muss der Kritiker den Entstehungsanlass und die Adressierung des kritisierten Werkes berücksichtigen und sein literaturkritisches Schreibverfahren am intendierten Publikum ausrichten. Erst diese Liebesethik sichert das anatomische Verfahren ab und verhindert, dass der ›Anatomist‹ durch seine Untersuchung dessen, was »moralisch gut« und »poetisch böse« sei,123 wieder zum Scharfrichter mutiert. Sie ermöglicht durch ihren hohen Grad an Reflexivität aber auch, dass das abschließende Urteil nicht vom Literaturkritiker gesprochen wird, sondern vom Leser. Oder, in einer gegen Klotz gerichteten Formulierung: »Wenn ich mir nun aber das Publicum als Richter denke?«124 Mit dieser Verlagerung der Urteilsinstanz trägt Lessing der Dynamisierung der literarischen Kommunikation seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Rechnung (Werner 1990: 31). Selbstkritisch fragt Lessing: »Woher kömmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun wei-
122 | Nicolais Anm. zum Brief v. G. E. Lessing an Fr. Nicolai 17.1.1763 (Lessing 1794: 125, Anm.). 123 | Lessing, Literaturbriefe [1759–1765] (LWB 4: 645, 63. Br.). 124 | Lessing, Antiquarische Briefe [1768/69] (LWB 5/2: 552 f.). Vgl. Berghahn 1992: 31.
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ter nichts hören zu wollen […]?«125 Erklärbar ist die hier von Lessing angesprochene nationale Eigenart, die in die Sonderwegsthese (und in die Trennung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft) münden sollte, durch eine Unsicherheit: anders als die französische oder englische Dichtung und Ästhetik ist die deutsche Literaturkritik um 1750 immer noch auf der Suche nach Orientierungsmaßstäben – und meint sie zunächst in der Imitation französischer, später englischer Ästhetiken gefunden zu haben. Anhand seiner Besprechung von Klopstocks Messias (1748) verdeutlicht Lessing jedoch das Unzureichende einer bloßen ›Anatomisierung‹. »Ich fing an [Klopstocks Messias] zu zergliedern; jede[n] Gedanke[n] insbesondre, und eine[n] gegen die andre[n] zu betrachten. Nach und nach verlor ich meinen Zweck aus den Augen, weil sich mir andre Anmerkungen anboten, die ich vorher nicht gemacht hatte.«126 Doch erweist sich das Zergliederungsverfahren als inadäquat für den ästhetischliteraturkritischen Zugang, weil er seinen Gegenstand zerstört (Danneberg 2003: 310 ff.). Von einer »nachteiligen Zergliederung« könne der »Kunstrichter« jedoch nur dann absehen, »wenn das Ganze untadelhaft befunden wird«, erst dann kann er es von einem übergeordneten Standpunkt aus beurteilen. Wenn nun aber (und hier folgt der gesamte Zitatzusammenhang, der oben bloß angedeutet werden konnte) das Ganze keine angenehme Wirkung macht, wenn ich offenbar sehe, der Künstler hat angefangen zu arbeiten, ohne selbst zu wissen, was er machen will, alsdenn muß man so gutherzig nicht sein, und einer schönen Hand wegen, ein häßliches Gesicht, oder eines reizenden Fußes wegen, einen Buckel übersehen. […] Die Güte eines Werks beruhet nicht auf einzeln Schönheiten; diese einzelne Schönheiten müssen ein schönes Ganze ausmachen, oder der Kenner kann sie nicht anders, als mit einem zürnenden Mißvergnügen lesen. Nur wenn das Ganze untadelhaft befunden wird, muß der Kunstrichter von einer nachteiligen Zergliederung abstehen, und das Werk so, wie der Philosoph die Welt, betrachten.127
Der Kritiker darf also in seiner Analyse durchaus das Hogarthsche Zergliederungs-Verfahren anwenden (s. u.).128 Doch gilt für den Literaturkritiker: »besser 125 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 262, 16. St.). 126 | Lessing, Klopstocks »Messias« [Rez., 1753] (LWB 2: 211). 127 | Lessing, Literaturbriefe [1759–1765] (LWB 4: 497 f., 16. Br.). Satz umgestellt. 128 | Der Dichter selbst praktiziert hingegen eine ›Ars combinatoria‹, indem er die disparaten Elemente in seinem Werk zusammenfügt, wie etwa Anakreon (Lessing, Laokoon [1766], LWB 5/2: 152) oder Marivaux (Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] LWB 6: 269: 18. St.). Zum problematischen Verhältnis von Dichter und Kunstrichter, das Lessing auch für die eigene Person und das eigene Schaffen ausagiert, vgl. seine frühen Gedichte An die Kunstrichter (1753) (LWB 2: 390) und Für wen ich singe (1751), LWB 2: 366. Lessing bezieht sich in seiner Konzeption von Schönheit explizit auf Hogarth, was bereits Friedrich Georg Justi bemerkt hat, vgl. Heier 1979. 80.
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fühlen als umständlich zergliedern«.129 Damit wendet sich Lessing gegen den satirischen Tonfall, den er auch in einigen seiner frühen Literaturkritiken bis 1769 erprobt hatte, oder besser: durch die Kombination fachsprachlicher Termini (die Lessing der Philosophie und der Theologie entnimmt) mit pointierten literaturkritischen Stellungnahmen eignet Lessing für die Literaturkritik wieder an, was im allgemeinen Tugendeudämonismus der moralischen Wochenschriften zur überlebten Standardforderung der Aufklärung geworden war: Wahrheit und Geschmack (Vollhardt 2015: 303).130 Lessing argumentiert im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Deismus nicht nur um 1760 anti-apologetisch und deutet den Pietismus (v. a. in seiner fragmentarischen Schrift Gedanken über die Herrnhuter, um 1750) als natürliche Religion. Vielmehr nutzt er seine Beschäftigung mit der apologetischen Kontroversialliteratur, um das apologetische Liebesgebot gegen Freigeister umzumünzen: »Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten erfüllen das Gehirn des Litterators; wo soll der Platz darin für die Wahrheit herkommen?,«131 fragt Lessing kritisch gegen die Wahrheit der natürlichen und die Unentbehrlichkeit der positiven Religion (Vollhardt 2002: 191). »[A]ndächtig schwärmen« sei viel leichter als »Gut handeln«,132 daher greift Lessing in seiner Praxis der Literaturkritik auf die Konversialargumentation der Kontorversialliteratur zurück, wendet sich aber gegen den »Kanzelstil seichter Homileten«,133 die in ihren moralisierenden Wochenschriften nur »neumodische Rechtgläubigkeit«134 (Neologie) begründen (Vollhardt 2015: 306). Lessings »mikrologische Besessenheit« (Riedel 1990: 110) im literaturkritischen Umgang auch mit Texten der Antike verbindet sich mit dem literaturkritischen Generalurteil: »die geringste Kleinigkeit«,135 die »allergeringsten Dinge« werden auf »Wahrheit und Unwahrheit«136 geprüft, wobei Lessing vor-
129 | Lessing, Rettungen [1754] (LWB 3: 196). 130 | Insofern sehe ich Lessing auch nicht als Erben von Liscows satirischen Literaturkritiken (vgl. dagegen die schlüssige Darlegung von Grimm 1993: 260, v. a. 262 ff., die literaturkritische Minimierung Johann Jacob Duschs zum Schüler durch den Kritiker Lessings betreffend). Grimm selbst räumt direkt und indirekt ein, dass Lessing über Liscow hinausgeht und eine andere Form der literaturkritischen Satire praktiziert: »Er [Lessing] demonstriert seine Affekte nicht mehr unverhüllt [wie noch Liscow].« (267) 131 | Lessing, Über die Elpistiker [1763] (LWB 5/1, S. 417). 132 | Lessing, Nathan der Weise [1779] (LWB 9: 497). 133 | Lessing, Literaturbriefe [1759–1765] (LWB 4: 614, 50. Br.). 134 | Lessing, Literaturbriefe [1759–1765] (LWB 4: 603, 49. Br.). 135 | Lessing, Sophokles [1760] (LWB 5/1: 233). »Ich habe das Unnütze nicht unnützlich gelesen, wenn es, von nun an, dieser oder jener nicht weiter lesen darf.« (234). 136 | Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet [1769] (LWB 6: 718).
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
zugsweise – dem Kirchengebot folgend (Mt 22,39; Ps 79,6) – die Position der Schwachen verteidigt: »Auf wen alle zuschlagen, der hat vor mir Friede.«137 Es gehe jedoch nicht an, dass der Kritiker, aus »Schwäche seines Gesichts [i. e. seiner Augen] […] den Wert der Dinge«138 nicht beurteile. Das Ergebnis – also das literaturkritische Urteil – ist nur möglich auf der Basis einer Methode, die sich dem ›Kleinen‹ und ›Schwachen‹ zuwendet. Mikro- und Makroperspektive schießen in der literaturkritischen Praxis des ›Anatomisten‹ zusammen: die literaturkritische Zergliederung mittels Verstand bildet die Basis des moralisch souveränen Urteils. Dazu muss jedes kritisierte Werk nach seinem Eigenwert bestimmt werden (und nicht etwa anhand einer formelhaften Regelpoetik). Bereits die Zeitgenossen haben festgestellt, dass Lessings Kritiken nicht nach einer allgemeinen Methode verfahren, sondern sich jeweils am kritisierten Gegenstand entwickeln (Strohschneider-Kohrs 1969: 63). Die argumentative Praxis der ›Liebe zum Widersprechen‹ (F. Nicolai) – er müsse seine »Waffen« nach seinem »Gegner« richten, so daß er »nicht alles, was ich γυµναστικως [agr. gymnastikos: zur Übung] schreibe, auch δογµατικως [agr. dogmatikos: mit Absolutheitsanspruch] schreiben würde«139 – erlaubt es Lessing, Kritik und Philologie sowie Gelehrsamkeit und »Schöngeisterei« in einer produktiven Synthese zu verbinden. Literaturkritische ›Wahrheit‹ ist nicht als »sektiererische Wahrheit«140 zu haben. Den literaturkritischen ›Diskurs von Herz und Verstand‹141 legt Lessing meisterlich in einer kleinen Polemik dar. Sie entsteht wohl 1769 vor dem Hintergrund der vernichtenden Rezension von Lessings Hamburgischer Dramaturgie in Christian Adolph Klotz’ Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften.142 Der Leipziger Philologe Klotz beklagt darin, dass Lessing sich verbeten habe, gelobt oder getadelt zu werden, selber ein »wahrer Proteus« sei (932) und sich in Spitzfindigkeiten flüchte, »wenn er sich nicht mehr mit Wahrheit wehren kann.« (933) V. a. aber fordert Klotz, dass Lessing selbst produktiv an der Verbesserung des Nationaltheaters mitwirke, statt es nur zu kritisieren. Statt dichterischer Begabung habe Lessing nur »philosophische Kälte« und »Raisonnemens« vorzuweisen: »raisonniren ist leichter als selbst erfinden.« (934) Lessing greift das Argument auf und löst den Gegensatz von ›Erfinden‹ (Genie) und 137 | G. E. Lessing an E. König, Br. v. 8.1.1773 (LWB 11/2: 496). 138 | Lessing, Zur Geschichte und Literatur [1773] (LWB 7: 505, II. Beitr., X. St.). 139 | G. E. Lessing an K. Lessing, Br. v. 16.3.1778 (LWB 12: 131). Zur Gymnastik der Literaturkritik bei Lessing vgl. Strohschneider-Kohrs 1969: 64. 140 | G. E. Lessing an K. Lessing, Br. v. 30.4.1774 (LWB 11/2: 642). 141 | In einer Wieland-Rezension spricht Lessing von einer »thelematologischen Anatomie der Leidenschaften«, Lessing, Wielands »Erzählungen« [Rez., 1753] (LWB 2: 493). 142 | Klotz, Lessings »Hamburgische Dramaturgie« [Rez., 1769] (LWB 6: 932 ff.).
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›Raisonnieren‹ (Kritiker) auf: »Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muß raisonnieren können.«143 Doch zugleich holt Lessing zum Gegenschlag aus, wenn er hinzusetzt: »Nur die glauben, daß sich das eine von dem andern trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind.« (659). Nach Lessing habe sich in wenigen Jahren »ein Geschlecht […] von Critikern« etabliert, »deren besten Critik darin besteht, – alle Critik verdächtig zu machen. Genie! Genie! schreien sie. Das Genie setzt sich über alle Regeln hinweg! Was das Genie macht, ist die Regel.« (657) Von Lessings Auseinandersetzung mit diesem ›Geschlecht der Critiker‹ legt auch eine 1799 posthum veröffentlichte kleine Schrift mit dem Titel Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt144 Zeugnis ab. Lessing führt die Geschmacks-, die Empfindungsund die Urteils-Debatte zusammen, indem er zunächst festhält, dass der literaturkritische Tadel – als das literarische Missfallen – sich entweder durch »bloße Empfindung« oder durch »Empfindung mit Gründen« rechtfertige. »Jenes tut der Mann von Geschmack: dieses der Kunstrichter.« (710) Lessing verdeutlicht seine Trennung von Kenner (›Mann mit Geschmack‹, empfindend) von Kritiker (›Kunstrichter‹, Empfindung begründend) durch eine Analogie zur Geschmacks-Debatte: »Ich finde meine Suppe versalzen: darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen kann?« (711)145 Der Kunstrichter – und Lessing verwendet den Begriff nun im neuen, gereinigten Sinne des Anatomisten, nicht im Sinne Gottscheds – der Kunstrichter also gleiche die Begründung seiner Empfindung mit Empfindungen anderer (und deren Begründung) ab, um sie »auf die Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen« (711) zurück zu führen146 und leitet damit gegen 1769 eine Wende in seiner literaturkritischen Praxis ein: »Die polemische Literaturkritik verwandelte sich in eine verstehende.« (Berghahn 1993: 183) Die kritisierten Werke zu verbessern, sei hingegen nicht die Aufgabe des Kunstrichters (711), sondern einzig ein »Stichblatt« des Autors, »die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen.« (712) Der Kunstrichter sei also kein »Arzt, der einen Blinden bloß sehen macht« (712), sondern riskiere bei Verbesserung eines Kunstwerks sein eigenes Augen-
143 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 659, 96. St.). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 144 | Lessing, Der Recensent [1769] (LWB 6: 710–713). Mit Seitenzahl im Text zitiert. Vgl. auch Martus 2007: 65 f. 145 | Lessing greift hier auf Überlegungen Bodmers zurück, vgl. Kap. 10. Der Koch tritt Ende des 17. Jahrhundert als ›Escuyer de cuisine‹ (wörtlich als Küchen-Schildknappe) in Erscheinung; die ›Entrées de table‹, die das Festmahl einläuten, korrelieren dem Kriegsbeginn (›Entrée en guerre‹), vgl. Camporesi 1990: 37. 146 | Das Urteil von Klotz, Lessing habe seinem »Raisonnemen […] das Fernglas der Baumgartischen Philosophie« (934) vorgesetzt, ist also durchaus zutreffend.
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licht: zwar gelte unter den Künstlern das Sprichwort »keine Krähe wird der andern die Augen aushacken: die Reihe könnte auch an sie kommen.« (713) Doch unter den »Kollegen in der Kunstrichterei« verkehre sich das Sprichwort ins Gegenteil: »Und überhaupt sind die Kunstrichter die einzige Art von Krähen, welche das Sprichwort zum Lügner machen.« (713)147
Kritische Praxis: Lessing über Hogarths Zergliederung der Schönheit Sehen und Urteilen bilden ein Begriffspaar, das Lessing im Zusammenhang mit der ›Urteilskraft des Verstandes‹ häufig bemüht – nicht zuletzt, weil visuelle Kunstwerke sich viel unmittelbarer dem ästhetischen Urteil erschließen. Diesen Zusammenhang entfaltet Lessing in seiner epochemachenden Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766. Es ist nicht das erste Mal, dass Lessing sich im Rahmen des Paragone-Streits mit Kunstgeschichte und Archäologie auseinandersetzt. Lessing will gründlich aufräumen mit der Horaz-Devise »ut pictura poesis« (bzw. deren zeitgenössischer Aneignung). So geht dem Laokoon-Aufsatz eine Auseinandersetzung mit William Hogarths Zergliederung der Schönheit voraus (vgl. Bedenk 2004: 81 ff.). 1753 erschienen, findet Hogarths Abhandlung in Lessings skandalumwitterten und in London lebenden ›Vetter‹ Christlob Mylius bereits im Dezember desselben Jahres einen kompetenten Übersetzer (der in Übersetzungsfragen von Hogarth sogar beraten wird).148 Eine kurzer Seitenblick auf Mylius lohnt sich: er wurde als ZeitschriftenHerausgeber von Gottsched regelrecht zerlegt,149 und als studierter Mediziner nimmt er mit seiner Untersuchung ob man die Thiere, um physiologischer Versuche willen, lebendig eröffnen dürfe kritisch an der Diskussion über den Sinn von Vivisektionen teil (Pott 2002: 122 f.) – seiner Schrift kommt im Zusammenhang mit der Entfaltung einer anatomischen Literaturkritik besondere Bedeutung zu.150 In seiner 1754 posthum von Lessing veröffentlichten Untersuchung vertei-
147 | Zur Etablierung der literaturkritischen Negativität durch Lessing und seine Abkehr vom Verbesserungsprinzip vgl. Martus 2007: 65 f., der diesen kleinen Lessing-Text zur Begründung zitiert. 148 | Bereits 1750 veröffentlichten Mylius und Lessing eine gemeinsame Übersetzung von Voltaires Lettres sur la tragédie und die Lettres sur la comédie (beide entstammen den Lettres philosophiques ou lettres anglaises, 1734) für die Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, vgl. Nisbet 2008: 129. 149 | Lessing, Vorrede zu Mylius’ Schriften [1754] (LWB 3: 335 f.). Zu Mylius als Vertreter der ›literaturkritischen Freygeisterey‹ vgl. Schmitt-Maaß 2018. 150 | Die satirischen Signale des Mylius-Textes sind m. E. nicht eindeutig. Zum (vorchristlichen) Gesamtzusammenhang von Vivisektion und Textanalyse vgl. Danneberg 2003, bes. 118 f.,
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digt Mylius Albrecht von Hallers Vivisektion an lebendigen Tieren, wählt jedoch keinen streng wissenschaftlichen Darstellungsstil, sondern setzt die Argumente satirisch gegeneinander. Mylius ebnet durch den Begriff »Zergliedern« die unterschiedlichen Analysemethoden der Natur- und schönen Wissenschaften ein, um den Vorwurf abzubauen, das Sezieren der Toten durch Ärzte sei grausam und unmenschlich.151 Vielmehr diene dieses Argument nur dazu, die Vivisektion an lebendigen Tieren, wie sie Mylius‘ Lehrer Haller in unzähligen Versuchen exerziert, zu desavouieren. Mylius erteilt theologischen Vorbehalten (die häufig das unausgesprochene Hauptargument gegen die Vivisektion bilden) eine Absage und stärkt das Gegenargument: nicht die ungeprüfte Meinung, sondern die »nützliche Neubegierde der Aerzte« (189) verteidigt er. Zur Begründung verfährt er induktiv, d. h. er geht zunächst nicht auf die Vivisektion ganzer Tiere ein, sondern widmet sich den »Eröffnungen einzelner Theile derselben« (190), konkret: der Bauchspeicheldrüse (Pankreas). Dieses zersetze nach Meinung aller Ärzte die im Magen befindlichen Speisen. Wenn man nun diese Drüse am lebendigen Tier entfernt, stürben einige Tiere, während andere überlebten. Die Bauchspeicheldrüse könne also nützlich sein, sei jedoch zur »Verdauung der Speisen […] nicht unentbehrlich« (190). Ähnlich verfährt Mylius in seiner Argumentation bezüglich weiterer Organe – doch läuft die Argumentation von Mylius stets darauf hinaus, die medizinische Partikularerkenntnis, die durch die Vivisektion gewonnen werden kann, mit der »vollkommensten Weisheit« Gottes in Übereinstimmung zu bringen bzw. deren ungeklärtes Verhältnis zu thematisieren. Anders ausgedrückt: Die physiologischen Teilerkenntnisse sollen beitragen zur wahren (allumfassenden) Erkenntnis der Schöpfung Gottes. Dazu sei es notwendig, lebendige Tiere zu sezieren, weil der »bloße todte Körper« (191) keine »Erfahrungen von der Seele« (192) ermöglicht. Bedauerlicher Weise sei es unvermeidlich, dass im Zuge der Zergliederung die Tiere stürben (194). Zur Rechtfertigung verweist Mylius auf die »vernünftigen Seelen« der Menschen, die »die schönsten Werke der Kunst« zu erschaffen imstande seien (197). Das »Maaß[] der Vollkommenheit« (198) des Menschen rechtfertige es, auf Tiere zurückzugreifen – je unvollkommener also ein Wesen ist, desto eher ist eine mitleidlose Zergliederung gerechtfertigt. Dass Hogarths Zergliederung der Schönheit für Mylius von Interesse sein würde, lässt sich aus dem Argumentationsgang der Abhandlung erahnen – sie bildet gleichsam einen Parallelentwurf, jedoch bezogen auf die schönen Wissenschaften. Was bietet Hogarths Ästhetik? Sie versucht, Ästhetik nicht ganz-
181 ff., zum grundlegenden Ambivalenz von ›Anatomia‹ und ›Analysis‹ des Textkörpers im 18. Jahrhundert ebd., 310 ff. 151 | Mylius 1754: 188. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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heitlich zu fassen, sondern einen analytischen Zugang zu finden, der das Kunstschöne in einer scheinbar hoch abstrakten Linienästhetik als Zusammengesetztes auffasst, das Kunstschöne jedoch dadurch konkretisiert (Arburg 2000: 281). Hogarth führt – wie er selbst schreibt – einen Krieg gegen die Kenner (ein Begriff, der sich zusammen mit der Geschmacksdebatte herausbildete) und bestreitet, dass es einer Geschmacksbildung bedürfe, um Schönheit erkennen und beurteilen zu können. Vielmehr sei Schönheit nach sechs universalen Kategorien beurteilbar (Zweckmäßigkeit, Vielfalt, Symmetrie, Einfachheit, Verwicklung und Größe). Anhand der kursiven Linie legt Hogarth im neunten Kapitel dar, dass einzig eine Linienart (Nr. 4) als »Line of Beauty« beschrieben werden könne, während die anderen Linien entweder zu dürftig (Nr. 1–3) oder zu schwerfällig (Nr. 5–7) seien.
Abbildung 5: William Hogarth, Zergliederung der Schönheit (1755), Tafel 1 (Detail)
Dieses ästhetische Prinzip der schönen Linie identifiziert Hogarth dann in zahlreichen klassischen Kunstwerken und verwendet es auch in seinen eigenen Kupferstichen. Die ästhetische Universalbetrachtung weicht damit der partiellen, zergliedernden Kunstbetrachtung, die jedoch ihre Grundlage bildet (vgl. Stadler 1999: 227 f.). Mylius betont denn auch in der Vorrede seiner Übersetzung, wie sehr Hogarths Zergliederung dazu beitragen könnte, die Geschmacksdebatte in Deutschland zu überwinden (in ästhetischen Geschmacksfragen gebe es so wenig Übereinstimmungen wie im »Küchengeschmack«),152 erweitert jedoch den Zuständigkeitsbereich von Hogarths Ästhetik sogleich auf alle Künste, etwa Ly-
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152 | Hogarth 1754a, Vorbericht des Übersetzers: Bl. 4 .
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rik.153 Lessing nun kann aus drei Gründen an Hogarth anschließen: nicht nur, dass er Werbung für den gescheiterten ›Vetter‹ Mylius und seine Übersetzung macht – Hogarths Ablehnung der gelehrten Ästhetik und seine Betonung der Zweckmäßigkeit dürften Lessing ebenso angesprochen haben wie Hogarths Kampf gegen Kennerschaft und Geschmackskultur und sein Eintreten für eine ›vernünftige‹ Ästhetik.154 Hogarths analytischer Zugang zu Kunstwerken »[z]wischen realistischer Anatomie und artistischer Zergliederung« (Arburg 2000: 282) leitete sich zwar von Bildwerken her, war jedoch sowohl für die Analyse anderer Kunstgattungen wie auch für die Abfassung von Kunstkritiken anschlussfähig.155 Zwei Mal setzt Lessing zu einer Kritik von Mylius’ Hogarth-Übersetzung in der Berlinischen Privilegierten Zeitung von 1754 an (im 65. und im 76. Stück).156 Die erste Besprechung vom Mai lobt die »satyrische Moral« von Hogarths Sujets; diese verbürge, dass in seiner Ästhetik »das Herz an dem Vergnügen der Augen Teil […] nehme[]« (48) Mit der Zergliederung habe Hogarth auch aller Genieästhetik das Wort geredet und vielmehr gezeigt, »daß auch ein tiefes Nachdenken über die Gegenstände seiner Kunst damit verbunden gewesen« (48) – Hogarth tariert also den Widerspruch zwischen Genieästhetik und Vernunftästhetik auf der einen Seite und zwischen Gelehrsamkeit und Geschmacksdebatte auf der anderen Seite aus. Hogarths Theorie der »Line of Beauty« findet Lessings vollste Zustimmung, da diese die einzelnen Bestandteile dessen, was als schön empfunden werde, erklärbar macht und in der abschließenden »Zusammensetzung« der Einzelbeobachtung das »Meisterstücke aller sinnlichen Schönheit«, den »menschlichen Körper«, (formalästhetisch) beschreibbar macht (48). Da nun »alle Schönen Künste und Wissenschaften« miteinander verbunden seien, könnten Hogarths Erkenntnisse auch für »Dichter und Tonkünstler« Geltung beanspruchen, »und ihren schwankenden Geschmack auf feste und unwandelbare Begriffe zurückbringen lernen.« (48) In seiner zweiten Besprechung vom Juni 1754 legt Lessing noch einmal nach und desavouiert »das elende Sprichwort, daß man über den Geschmack weder streiten könne noch dürfe«, der durch Hogarths Zergliederung »aus dem r
153 | Hogarth 1754a, Vorbericht des Übersetzers: Bl. [a] f. 154 | August Wilhelm Schlegel lehnte daher 1799 Hogarths »ekelhafte Anatomie« ab, vgl. dazu Arburg 2000: 282. 155 | Von diesem doppelten Nutzen der Hogarthschen Ästhetik macht auch noch Herder Gebrauch, vgl. Arburg 2000: 281 f. 156 | Lessing, Hogarths »Zergliederung der Schönheit« [Rez., 1754] (LWB 3: 47–49), Lessing, Hinweis auf den Nachdruck [1754] (LWB 3: 56–57), Lessing, Hinweis auf den Nachdruck [1754] (LWB 3: 59– 61). Mit Seitenzahl im Text zitiert. Die Zergliederung erschien 1754 im selben Verlag als Nachdruck.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Munde des Pöbels und der Gelehrten« verbannt sei (56). Noch nachdrücklicher als zuvor schon tritt Lessing für die »praktische Anwendung« der Zergliederung ein, da sich »der Nutzen desselben« so weit erstrecke »als sich das Schöne der Formen erstreckt.« (56)157 Die formalistische Ästhetik Hogarths gewährt also eine naturgesetzliche Mathematisierung des Kunstschönen (Arburg 2000: 284). Doch relativiert Lessing in der Vorrede zur zweiten Auflage der Zergliederung (die er selbst angeregt hatte) dieser Verabsolutierung wieder, da Hogarth zwar mit seiner Linienästhetik den »schwankenden Geschmak […] glücklich […] auf etwas gewisses eingeschränkt«, aber eben nicht »festgesetzt« habe.158 Drückt sich hier nicht eine gewisse Scheu vor den barbarischen Anteilen dieser literaturkritischen Zergliederungsästhetik aus, die so typisch deutsch sein soll? Zurückhaltung erlegt sich zumindest Georg Christoph Lichtenberg auf, der sonst keine Gelegenheit für eine scharfe Sottise ungenutzt lässt – er ist es, der maßgeblich Hogarths graphisches Werk im deutschsprachigen Raum popularisiert hat. Ausgespart hat Lichtenberg in seinen Erläuterungen hingegen den Bildzyklus Die vier Stadien der Grausamkeit (The Four Stages of Cruelty), der das Leben des Wüstlings Tom Nero von der Kindheit bis zum Tod schildert.159 Das letzte Blatt, betitelt mit Der Lohn der Grausamkeit (The Reward of Cruelty), zeigt eine Vivisektion, die Lichtenberg dem deutschen Leser wohl nicht zumuten wollte, und die erst 1839 – zusammen mit Lichtenbergs Kommentaren zu den übrigen Bildfolgen Hogarths – von Franz Kottenkamp geschildert wurde: »Die Zerlegung des Leichnams hat er [Hogarth] offenbar deßhalb gewählt, weil die Vorurtheile des niederen Volkes in England dieselbe für ein eben so großes Unglück halten, wie die Hinrichtung durch den Strick, und über Anatomen eine Meinung hegen, welche jenem Vorurtheile vollkommen entspricht. Der Künstler hat auch dem letzteren gemäß die Anatomie hier dargestellt; sie ist eine zweite Küche der Hecate.« (Kottenkamp 1839: 763)
Dem Leser sei dieser Hogarth-Stich nicht vorenthalten. Vielmehr möchte ich einen zweiten Stich zur Seite stellen, der einerseits die frühneuzeitliche Tradition dieses Bildmotivs (gerade in seiner abschreckenden Wirkung) verdeutlicht, andererseits aber den spezifischen literaturkritischen Zusammenhang offen-
157 |Unter dem Namen des Verlegers Christian Friedrich Voß resümiert Lessing seinen Rezensionen noch einmal und betont für Hogarths Zergliederung: »Ihm [Hogarth] werden wir es also zu verdanken haben, wenn man bei dem Worte schön, das man täglich tausend Dingen beilegt, künftig eben so viel denken wird, als man bisher nur empfunden hat.« (LWB 3: 59) Zugleich wendet sich Lessing jedoch auch wieder an die »Kenner«, die Hogarth und Lessing abgelehnt hatten. v 158 | Lessing, Vorbericht zu diesem neuen Abdrucke, in: Hogarth 1754b, Vorbericht: Bl. b2 . 159 | Zum Todes-Diskurs bei Hogarth den Ausstellungskatalog von Mitchell 1999; zu Lichtenbergs Hogarth-Bild vgl. erschöpfend Arburg 1998; zu Lichtenbergs Orientierung an der von Lessing im Laokoon-Aufsatz entwickelten visuellen Hermeneutik vgl. Burwick 1999: 231 f.
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bart: es handelt sich um einen Stich, der das anti-lutherische Flugblatt des polnischen Jesuiten Jacobus Vitellius krönt und die Anatomia M[artin]. Luther zeigt: Luther wird von seinen Anhängern und Nachfolgern (Jean Calvin, Huldrych Zwingli, Johann Spangenberg u. a.) seziert im Versuch, seine Lehre weiter auszuformulieren. Damit kehrt Vitellius das Sole-scriptura-Prinzip der lutherischen Orthodoxie gegen sich selbst (und wehrt sich gegen den lutherischen Vorwurf, bei der Transsubstitution des römisch-katholischen Abendmahls handele es sich um Kannibalismus).
Abbildung 6: William Hogarth, The Reward of Cruelty (1751)
Abbildung 7: Monogrammist TK, Anatomia M. Lutheri (1567)
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Soweit die Traditionslinien einer anatomischen Literaturkritik bei Lessing. Doch wie gestaltet sich eine anatomische Praxis der Literaturkritik? Das werde ich am Folgenden anhand von Lessings berühmter Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie aus dem Jahre 1766 aufzeigen.160 Darin versucht Lessing eine Definition der »allgemeinen Regeln« der »Schönheit« vorzunehmen, die universell Geltung beanspruchen können.161 Lessing legt dar, dass sich ›Malerei‹ und ›Poesie‹ grundsätzlich unterscheiden, da sie sich räumlich bzw. zeitlich realisieren und semiotisch in ›natürliche‹ und ›künstliche‹ Zeichen zerfallen (vgl. Nisbet 2006: 378). Nun ordnet die LessingForschung den Laokoon-Aufsatz in der Regel (wie auch Lessing thematisch verwandten Briefe antiquarischen Inhalts, 1768/1769) der ›archäologischen‹ Phase in Lessings Schaffen zu. Doch lässt sich zeigen, dass der Laokoon-Aufsatz Literaturkritik praktiziert.162 Lessing definiert nämlich, dass dem »Kunstrichter« im Paragone-Streit die Funktion zufalle, »den Wert und […] die Verteilung dieser allgemeinen Regeln« zu beurteilen (13) – die der Kenner verinnerlicht und der Philosoph reflektiert. Die funktionale Differenzierung (Liebhaber, Philosoph und Kunstrichter) dient Lessing dazu, den Kunstrichter (also Lessing) als jene Instanz zu etablieren, die zwischen der unreflektierten (gefühlsbasierten) und der überreflektierten (vernunftbasierten) Position des Kenners (gemeint ist Friedrich Nicolai) und des Philosophen (Moses Mendelssohn) vermittelt. Laut Lessing besteht nämlich die Gefahr, dass sich eine »Aftercritik« (15) etabliert, die auf »falsche[m] Geschmack« (Nicolai) und »ungegründeten Urteilen« (Mendelssohn) basiert. Lessing unternimmt also eine Zuspitzung der rationalistischen Ästhetik des Aufklärungszeitalters (Wellbery 1984: 99 ff.), baut jedoch gleichzeitig den Verdacht ab, er betreibe Wissenschaft, da seine Abhandlung nur »unordentliche Collectanea zu einem Buche« seien (15), er zudem wenig systematisch verfahre und stattdessen immer wieder einräumt: »ich gerate aus meinem Wege.« (19) Das ist wenig mehr als eine Schutzbehauptung Les-
160 | Vgl. zum lebensgeschichtlichen Zusammenhang der Todessemantik im Laokoon-Aufsatz Mayer 1997: 207 ff. 161 | Lessing, Laokoon [1766] (LWB 5/2: 11–321). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 162 | Für eine gegensätzliche Einschätzung (jedoch mit Einschränkungen) vgl. Steinmetz 1968: 33. Kein geringerer als Thomas de Quincey übersetzte 1826 Auszüge aus Lessings LaokoonAufsatz und begründete im Vorwort: »What he did was to apply philosophy – by which I would be understood to mean, in a large sense, the science of grounds and principles – to literature and the fine arts; an idea which expresses accurately what the Grecians meant by criticism. […] He became the founder of criticism for Germany; and by the very idea of criticism, and this extension of it, he secured the combined advantages of a popular and a scientific interest.« (Quincey 1826: 157) Zur literaturkritischen Systematik des Laokoon-Aufsatzes vgl. Nisbet 2008: 416–425; Stiening 2013: 116 f.; Nivelle 1977: 91 ff.
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sings, um unter dem Deckmantel der archäologischen Gelehrtheit und der ›essayistischen Darstellungsform‹ eine »Gymnastik des Geistes« einzuüben, die der Darstellung der »reine[n] Wahrheit« dient.163 Lessings implizit literaturkritisches Anliegen hat mit diesen Worten nicht nur Elise Reimarus (ablehnend) bemerkt, sondern es ist auch in der zeitgenössischen Literaturkritik zum Laokoon-Aufsatz aufgefallen: Helfrich Peter Sturz stellt in einem Brief Lessing das ambivalente Lob aus, er habe »ein meisterhaftes Werk« vorgelegt: Man kann nicht schöner über die Kunst vernünfteln. Sie sind tief in das Heiligtum gedrungen, und das ferne von den Werken der Kunst, bloß durch ein richtiges Gefühl, durch ein mit Gelehrsamkeit genährtes Urteil und den Ihnen eigenen Forsch-Geist, welcher Sie auf allen Ihren Spaziergängen im Reiche der Wissenschaften begleitet.164
Der Laokoon-Aufsatz lässt sich daher als praktizierte Literaturkritik beschreiben, die keineswegs anti-systematisch verfährt, sondern sich vielmehr an der englischen Essayistik orientierend, einen ›Versuch‹ betreibt, der auf die Vermittlung von Kritik und Systematik zielt. Der Laokoon-Aufsatz ist also keinesfalls so unstrukturiert, wie Lessing dem Leser weißmachen will, sondern »eben jenes ›ganze Buch‹, das Lessing angeblich nicht verfasste.« (Stiening 2013: 123) Ich werde also den Laokoon-Aufsatz nicht als kanonischen Text der Paragone-Debatte erläutern, sondern statt dessen zeigen, dass die analytische Zugangsweise, die Winckelmann-Kritik, deren literarische Begründung und die sich daraus ergebende kritische Darstellungsweise im Laokoon-Aufsatz Aspekte des anatomischen Diskurses fortschreiben, mithin der polemisch betriebenen öffentlichen Literaturkritik zuzurechnen sind.165 Lessings Laokoon-Aufsatz erweist sich damit als praktizierte Literaturkritik, die zum besseren Verständnis ihren Gegenstand ›anatomisiert‹. In seinem Kunstrichter-Amt konzentriert sich Lessing daher (anders als die Aesthetica Baumgartens, Jacob 2013: 294 f.) »auf den einzeln Fall« (13) – in diesem Fall: auf die Laokoon-Statuengruppe (und die zugehörige Literatur). Die Auseinandersetzung mit Winckelmann, der durch seine Schrift Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) Lessings Auseinandersetzung mit der Laokoon-Gruppe und dem Paragone-Streit motiviert hat, erfolgt zwar noch im Gestus der gelehrten Kritik. Doch verweigert Lessing eine Auseinandersetzung auf der Bildebene,166 sondern rekurriert ausschließlich auf Texte, um seine Kritik zu begründen –
163 | E. Reimarus an M. Mendelssohn, Br. v. 16.8.1783 (MJubA III: 125). 164 | H. P. Sturz an G. E. Lessing, Br. v. 23.9.1767 (LWB 11/1: 477). 165 | Für eine detaillierte Diskussion des Laokoon-Aufsatzes als Literaturkritik vgl. Stiening 2013: 116 ff. 166 | Auch die zweite Auflage von Winckelmanns Nachahmung, nach der Lessing in seinem Laokoon-Aufsatz zitiert, enthält keine Darstellung der Statuengruppe.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Lessing kanalisiert damit den gelehrten Diskurs Winckelmanns von der Bildauf die Schriftkultur und leitet einen Medienwechsel ein. Gedoppelt wird dieser Medienwechsel darüber hinaus durch die Tatsache, dass Lessing nicht etwa auf die Statuengruppe – auch nicht in Form eines Abgusses – rekurriert; sie bleibt ihm lebenslang unbekannt.167 Vielmehr scheint Lessing die Laokoon-Gruppe ausschließlich in zweidimensionaler Darstellung, als Druckgraphik, gekannt zu haben – die gezeichnete Linie und nicht etwa die dreidimensionale Darstellung ist also der Ausgangspunkt und die Grundlage von Lessings Kritik. Hogarths Laokoon-Interpretation in der Zergliederung der Schönheit wirkt als Impulsgeber, so dass Lessing die antike Statuengruppe unter den ästhetischen Prämissen von »schöne[r] Linie« (26) und »pyramidalischer Zuspitzung« (56) liest – zwei ästhetische Kriterien, mit denen Hogarth bereits auf dem Titelblatt seiner Zergliederung das ästhetische Ideal symbolisiert, und mit der er auch die LaokoonStatuengruppe er in seiner Zergliederung analysiert (Hogarth 1754b: 6 f.):
Abbildung 8: William Hogarth, Zergliederung der Schönheit (1755), Titelblatt (Detail)
Lessing überträgt jedoch nicht nur Hogarths Prinzip auf die antike LaokoonGruppe. Überraschend ist vielmehr, dass Lessing in seiner detaillierten Auseinandersetzung mit der antiken Statuengruppe keine Abbildung bereitstellt, die dem Leser einen Nachvollzug ermöglicht (das holen erst die Nachdrucke des 19. Jahrhunderts nach).168 Vielmehr bezieht sich Lessing mit seinen Ausführungen zur ›schönen Linie‹ und zur ›pyramidalischer Zuspitzung‹ (beide prägen im Übrigen auch den Bildaufbau von Hogarths Lohn der Grausamkeit) unmittelbar auf die erste Bildtafel, die Hogarths Zergliederung beigegeben war und deren 167 | Weder in Ficks Lessing-Handbuch findet der Bezug Erwähnung noch in Nisbets umfassender Lessing-Biographie. Vgl. hingegen die Hinweise bei Amann 1999: 45 sowie Jacob 2011: 189 ff. 168 | Dass der Verzicht auf einen Abbildung programmatisch ist, verdeutlicht Lessing, indem er ein die Laokoon-Statuengruppe beschreibendes Gedicht des neulateinischen Dichters Jacopo Sadoleto einrückt, das »sehr wohl die Stelle eines Kupfers vertreten kann« (61 f.).
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Mittelpunkt eben die antiken Laokoon-Gruppe unter einem pyramidalen Konstruktionsgerüst bildet, das der Aufrichtung der Statuengruppe dient.
Abbildung 9: William Hogarth, Analysis of Beauty (1753), Tafel I (Detail)
Lessings Auseinandersetzung mit den linienhaften Zügen von Laokoons Antlitz zergliedert nicht nur die Gesamtstatue in einzelne Segmente, sondern analysiert diese Segmente weiter. Seine Kritik entzündet sich an der Darstellung des schmerzverzerrten Mundes Laokoons. Durch dessen Anblick sei aus der (schriftlichen) Darstellung, »die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte«, eine »häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden« (29). Hogarth wiederum hatte in seiner Zergliederung der Schönheit ein eigenes Kapitel Von dem Gesichte eingerückt, in dem er sich mit den »Statuen der Alten« auseinandersetzt. Im Zusammenhang mit der Darstellung des lachenden Mundes bestimmt Hogarth, dass der »Ausdruck des Gesichts […] unangenehm« werde, wenn sie übertrieben seien: »Die Linien welche ein angenehmes Lächeln um die Winkel des Mundes bilden, haben schöne Windungen, […] aber bey dem lauten Gelächter verlieren sie ihre Schönheit.« Der »Ausdruck eines übermäßigen Gelächters« verleihe einem Gesicht ein »närrisches oder widerliches Ansehen […] welches zuweilen aussieht, als ob man schrie.« (Hogarth 1754b: 75) Hogarth illustriert in seiner Zergliederung seine Darlegung zum besseren Verständnis:
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Abbildung 10: William Hogarth, Analysis of Beauty (1753), Tafel II (Detail)
Deutlich wird, dass die Hauptargumente Lessings zur ästhetischen Beurteilung der Laokoon-Gruppe durch die anatomische Ästhetik Hogarths gestützt werden. Im XVII. Kapitel seiner Abhandlung dringt Lessing zum Kern des Paragone-Streits vor, indem er die unterschiedlichen »Schilderungen der Körper« (126, 127) durch Malerei (auch Bildhauerkunst) und Poesie diskutiert. Sie entscheidet sich für Lessing wesentlich an der Frage, inwiefern Malerei und Poesie vermögen, »ein körperliches Ganzes nach seinen Teilen zu schildern«. Lessing konstatiert, dass das »Coexistierende des Körpers mit dem Consekutiven der Rede […] in Collision kömmt« (127). Die Paragone-Frage entscheide sich daher wesentlich in der unterschiedlichen Praxis der »Zergliederung des Ganzen in seine Teile« (126) und der Rekombination der Teile zu einem Ganzen in der Wahrnehmung des Rezipienten. ›Dem Dichter‹ nun sei »mehr an der Auseinandersetzung der Teile als an dem Ganzen gelegen«, und die »feinsten Richter[]« beurteilten wiederum den Erfolg dieser Zergliederung (128). Lessings Zergliederungs-Verfahren ist – wie er es selbst nennt – »transitorisch« (32), d. h. dass »der Betrachter das Äußerste« (33) nicht nur ansieht, sondern durch analytische Betrachtung die »sichtbare Hülle« (35) durchdringt.169 Diesen Zusammenhang entfaltet Lessing am Beispiel des Philoktet, dessen offene Wunde (»nicht eine [innerliche] Krankheit«, 37) dem Rezipienten den »innern Schmerze« veranschaulicht (57), zugleich aber eine Öffnung darstellt, die dem Kritiker einen analytischen Zugang bietet, gleichsam das Innere nach außen kehrt.170 Daher widmet sich Lessing einzelnen Partien der Laokoon-Statuengruppe: neben dem Gesicht und darin besonders dem Mund etwa den »leidenden Nerven und arbeitenden Muskeln« (56). Das Verfahren der Ars critica, das Lessing im
169 | Vgl. zum Transitorischen auch Bedenk 2004: 96. 170 | Implizit bestätigt Albrecht von Haller den Erfolg von Lessings Verfahren im Laokoon-Aufsatz, wenn er in seiner Rezension 1766 schreibt, dass es Lessing verstehe, »die Eigenschaften aus[zu]drucken, die inwendig liegen, die durch die übrige[n] Sinne erkannt, oder durch Versuche entdeckt werden« (Haller 1970: 104).
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Laokoon-Aufsatz auch übt,171 verlagert er in die Anmerkungen, die gleichsam tiefer in den Text Winckelmanns ›einschneiden‹, aber auch die im Haupttext geäußerten Urteile begründen (51). Die antike Laokoon-Plastik ist zwar Lessings Ausgangspunkt, doch verfährt er nach Art des »Spaziergänger[s]« recht frei und kombiniert unterschiedliche Wissensfelder, um den Laokoon und die zeitgenössische Laokoon-Rezeption zu zergliedern. Dabei konzentriert sich Lessing auf die »körperlichen Gegenstände« und v. a. auf die »körperlichen schönen Gegenstände«. Während der Bildhauer die »[k]örperliche Schönheit« durch die »übereinstimmende Wirkung mannigfaltiger Teile« darstelle und dazu »diese Teile nebeneinander« legen müsse, könne der Poet die »Elemente der Schönheit nur nacheinander« sortieren. Lessing weist nach, dass dieses Verfahren für die Dichtkunst nicht erfolgreich imitierbar ist, da die sukzessive Schilderung einzelner körperlicher Vorzüge (wie etwa Mund, Augenbrauen, Hand etc.) »doch kein übereinstimmendes Bild gewähret« (144). Ein Dichter, der solcherart die »Schönheit seines Mädchens […] zergliedert« (152), sei unfähig, das Schöne darzustellen. Lessing zitiert an dieser Stelle zustimmend Hogarths Zergliederung – die einzige Referenz an jene Ästhetik, die doch Lessings Laokoon-Aufsatz wesentlich prägt (163). Den Abschluss von Lessings Abhandlung bildet eine Art ›Poetik des Hässlichen‹, und es ist bezeichnend, dass sich Lessing erst jetzt eingehend mit den Argumenten von Winckelmann (und von Klotz) auseinandersetzt (164 ff., 172 f.).172 Am Beispiel des Marsyas-Mythos’ verdeutlicht Lessing einerseits eine Poetik des Hässlichen, die von Ovid im sechsten Buch der Metamorphosen in der Zergliederung von Marsyas entfaltet wird: Doch wie er [Marsyas] schrie, zog jener [Apollo] die Haut ihm [Marsyas] über die Glieder; Und nichts war, als Wunde, zu schaun. Blut rieselte ringsum; Aufgedeckt lag Muskel und Sehn’; auch die zitternden Adern Schlugen, der Hülle beraubt, aufzuckende Eingeweide Konnte man zählen sogar, und der Brust durchscheinende Fibern. (Übertragung v. Johann Heinrich Voß)
171 | Exemplarisch in der Anmerkung, die eine Fehlüberlieferung des Sadoleto-Gedichts auf die Laokoon-Gruppe korrigiert (Anm. z. 61). 172 | Der Laokoon-Aufsatz ist in weiten Teilen eine Auseinandersetzung mit Joseph Spences Polymetis (1747) (Kap. VII-IX) und Anne Claude Philippe de Tubieres, Comte de Caylus Tableaux tirés de l’Iliade (1757) (Kap. XI-XVI). Zwar folgt Lessing in seiner Auseinandersetzung mit Spence und Caylus augenscheinlich dem gelehrten Kritik-Modell, beansprucht aber »Unterscheidungskraft« (70). Lessings »polemisch-agonalen« Urteile verdeutlichen, dass der Laokoon-Aufsatz auch als Sammelrezension gelesen werden kann (vgl. Stiening 2013: 120).
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Andererseits appelliert Lessing nun an die Leserschaft: »Aber wer empfindet auch nicht, daß das Ekelhafte hier an seiner Stelle ist? Es macht das Schreckliche gräßlich; und das Gräßliche ist selbst in der Natur, wenn unser Mitleid dabei interessieret wird, nicht ganz unangenehm; wie viel weniger in der Nachahmung?« (178) Für den herausgehobenen Rezipienten, den Kunstrichter, gilt adäquat, dass er nicht ›kalt‹ sein darf, sondern nur ›kühl‹: sein Verstand zergliedert zunächst den Text; ist dieser einmal ›aufgeschnitten‹, soll er seinem Urteil Mitleid beimischen. Literaturkritik nähert sich somit auf zeichentheoretischer wie moralisch-praktischer Ebene der göttlichen Erkenntnisweise an (Wellbery 1984: 191 ff.). Diese Mitleidsfähigkeit mit dem kritisierten Text verhindert, was Lessing im Anschluss an das Marsyas-Zitat thematisiert: den fortdauernden Hunger. Nur wenn der Kritiker – gerade in Bezug auf seine eigene literaturkritische Praxis wie auf den Berufsstand – »Erbarmen und Greul und Ekel […] empfinden« (179) kann, lässt sich verhindern, »die Zähne in seine eigene[n] Glieder [zu] setzen, um seinen Leib mit seinem Leibe zu nähren« (179).173
c. Kritik und Wahrheit: Die Urteilskraft des Verstandes Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer – gilt diese (häufig Samuel Johnson zugeschriebene) Feststellung des Aischylos auch für die Federkriege Lessings? Während die literarische Debatte im 18. Jahrhundert um die Frage der Wahrscheinlichkeit kreiste, war für die Literaturkritik das Wahrheitspostulat Reflexionsmovens, und Lessing, den Herder bereits als »edle[n] Wahrheitsucher, Wahrheitkenner, Wahrheitverfechter« (FHA 2: 706) rühmte, darf in seiner literaturkritischen Praxis eine herausgehobene Bedeutung für den Diskussionszusammenhang von sezierender Literaturkritik und Wahrheitspostulat beanspruchen.174 »Die Wahrheit rühret unter mehr als einer Gestalt«175 postuliert Lessing für seine Praxis der Literaturkritik, und bricht damit eine Lanze für die
173 | In zugehörigen Anmerkung zitiert Lessing zwar ausgiebig aus der Komödie The Sea Voyage (1622/1679) von John Fletcher und Philip Massinger, um zu illustrieren, dass die Thematisierung des Hungers nicht selbst Hunger beim Leser hervorruft, unterschlägt aber, dass die schöne Aminta nur knapp dem kannibalischem Zugriff der Mitreisenden entzogen werden kann. 174 | Zur literaturhistorischen Lessing-Legende vom preußischen Kämpfer für die Wahrheit vgl. Grimm 1993: 258. Thomasius ist zwar der erste, der einen autoritätsfreien Wahrheitsbegriff entfaltet, dabei jedoch paradoxerweise »haufenweise eigene Autoritätsformen hervorgebracht« hat (Mulsow 2003: 109). 175 | Lessing, Oporins »Religion und Hoffnung im Tode« [Rez., 1751] (LWB 2: 254 f.).
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Vereinbarkeit von Wahrheit, Vernunft und Religion176 – nicht ohne Grund gewinnt Lessings literaturkritischer Wahrheitsbegriff zwischen 1759 und 1778 Kontur: seine literaturkritische Polemik wird durch theologische Begründungen angereichert: »Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!«177 Wenn die Wahrheit bei Gott liegt, und der Kunstrichter gottgleich Urteil und Vollstreckung praktiziert – wie ist dann die literaturkritische Praxis zu realisieren? Indem Allgemeines und Besonderes zu erkennen, zu erfahren und zu prüfen sind. Die Ring-Parabel des Nathan entfaltet auch in der literaturkritischen Praxis ihre doppelte Wirkung: als Frage, wie es der Kritiker mit der Wahrheit und der Vernunft halte. Die Wahrheit, die nach Lessings bekanntem Wort noch bei jedem Streit gewinne,178 macht jeden Text durch seine »Beziehung auf das Gegenwärtige«179 zum Prüfstein für diese Frage. Nach Lessing »beruhet das Meiste [in der Kunstrichterei] in der Richtigkeit der Anwendung auf den einzeln Fall«180 – Richter, auch Kunstrichter, sprechen Recht, indem sie richtig entscheiden, und zwar, indem die allgemeinen Gesetze auf den Einzelfall angewendet werden. Nun deduziert der Kunstrichter jedoch nicht nach einem Gesetzeswerk, einer Fallsammlung oder ähnlichem, sondern macht Erfahrung und Gefühl zu Grundlagen seiner Urteilsbegründung. Er teilt in angemessener Weise von der jeweiligen Sache her, sei es ein theologischer oder philosophischer Disput, ein französisches Lustspiel oder ein empfindsamer Roman (Strohschneider-Kohrs 1990: 86). Statt sich zu einem »eigensinnigen Gesetzgeber auf[zu]werfen«, der seinem Geschmack »einer Allgemeinheit erteilen« will,181 rekurriert Lessing auf das Bescheidenheitsgebot (modestia): die Kritik »giebt jedem, was jedem gebühret«,182 um »keiner Sache weder zu viel noch zu wenig zu tun.«183 Der literaturkritische Streit ist daher nicht zu verwer-
176 | Lessings Kritik an der Neologie (wie am Schwärmertum Wielands) schreibt sich von seiner Überzeugung her, dass das gegenwärtig erreichte Niveau vernünftig zugänglicher Wahrheit durch die Anbiederung an den Rationalismus heruntergeschraubt werde, vgl. Schilson 1993: 60 f. 177 | G. E. Lessing an J. A. H. Reimarus, Br. v. 6.4.1778 (LWB 12: 144). Vgl. Nisbet 1993: 411. 178 | Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet [1769] (LWB 6: 717 f.). 179 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 204, 4. St.). 180 | Lessing, Laokoon [1766] (LWB 5/2: 13). 181 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 275). 182 | Lessing, Antiquarische Briefe [1768/69] (LWB 5/2: 355). 183 | Lessing, Laokoon [1766] (LWB 5/2: 14). Lessings Literaturkritik praktiziert letztlich eine »Selbstorientierung des Denkens am Gegenstand« (Kimpel 1984: 217).
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fen, sondern befördert vielmehr erst den »Glanz […] der Wahrheit«.184 Oder wie Lessing – unter Zitation von Laktanz – an anderer Stelle formuliert: ›Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere […] secundus, vera cognoscere.‹ Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kommt er nach und nach in die 185 Materie, und das übrige findet sich.
Der literaturkritische Streit ist nach Lessing also wahrheitsfördernd. Warum? Weil die (rhetorische) Schärfung der Waffen die Urteilskraft des Verstandes fördert – sowohl die Urteilskraft der Kritiker (die ihre Argumente schärfen) wie der Leser (die die unterschiedlichen Urteile der Kritiker auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüfen). Die von Gottsched her tradierte Vorstellung des Literaturkritikers als Kunstrichter scheint daher aufgelöst: einerseits fungiert der Kritiker nicht mehr als Richter, sondern allenfalls als Anwalt am ästhetischen Gerichtshof (vgl. 10. Kap.). Andererseits billigt Lessing auch dem zeitgenössischen Publikum keine absolute Autorität zu, sondern richtet seine Apelle an das Publikum der »Nachwelt« (Guthke 1993: 266 f.). Durch diese gleichsam ›utopische‹ Perspektive hin auf eine ungesicherte Zukunft öffnet Lessing seine literaturkritische Praxis theologischen Argumentationsformen. Die literaturkritische Wahrheitsfrage stuft Lessing als gleichwertig zur theologischen Wahrheitsfrage ein. Im Zusammenhang mit dem Fragmentenstreit pariert Lessing einen Angriff mit dem Votum, dass nicht der Besitz der Wahrheit den Wert des Menschen ausmache, »sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen«.186 Auch im Religionsstreit mit Goeze plädiert Lessing: »Wahrheit allein giebt echten Glanz; und muß auch bei Spötterei und Posse, wenigstens als Folie, unterliegen.«187 Daher vernachlässigt Lessing die philologische Detailarbeit (auch wenn er die entsprechenden Sachkenntnisse besitzt) zugunsten eines pointierten Urteils, das den Streit weitertreibt: »es ist gar nicht wahr, daß so tiefe und ausgebreitete Kenntnisse erfordert werden, um in allen diesen Stücken auf den Grund zu kommen, als sich manche wohl einbilden, und manche die Welt bereden möchten.«188 Federkriege und literatur-
184 | Lessing, 2. Anti-Goeze [1778] (LWB 9: 150). Zum Aggressions-Potential Lessings vgl. Barner 1993: 31 ff.; zum Gegensatz von »Glanz der Wahrheit« und »blendendem Stil« vgl. Schilson 1993. 185 | Lessing, Hamburgische Dramaturgie [1767–1769] (LWB 6: 535). 186 | Lessing, Eine Duplik [1778] (LWB 8: 510). Vgl. zum Hintergrund Bahr 1993. 187 | Lessing, 2. Anti-Goeze [1778] (LWB 9: 151). Zu Lessings bildhaftem Kritikverfahren im Religionsstreit und Goezes Versuch, den Streit nicht-öffentlich als Gelehrtenstreit zu führen vgl. Schilson 1993: 70 f. 188 | Lessing, Nötige Antwort auf Goeze [1778] (LWB 9: 343). Bahr 1993: 144.
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kritische Feldzüge als Gezanke abzutun, entspricht zwar einem üblichen Verfahren im Gelehrtenstreit. Aber gerade indem Lessing nicht die philologische Detailarbeit zur Grundlage seiner Argumentation macht, sondern nur als Hilfsmittel einsetzt und stattdessen den Streit mit pointierten Urteilen einheizt, dass er zudem die Kontroverse publizistisch (und nicht allein im gelehrten Leserkreis, vgl. Barner 1977) austrägt – all das ist getragen von Lessings Überzeugung, daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten. ›Gezankt;‹ denn so nennet die Artigkeit alles Streiten: und Zanken ist etwas so unmanierliches geworden, daß man sich weit weniger schämen darf, zu hassen und zu verleumden, als zu zanken. [...] Aber die Wahrheit, sagt man, gewinnet dabei so selten. – So selten? Es sei, daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte 189 Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.
Wahrheit ist kein absolute Größe, die es im literaturkritischen Streit zu erlangen gilt, sondern eine relative: »nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine [des Kritikers] Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz«190 Wahrheit ist keine Besitz mehr, sondern nur eine Annäherung. Auch der Literaturkritiker als Scharfrichter ist der »Wahrheitsliebe«191 verpflichtet, bemisst jedoch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die literarische Qualität daran, inwiefern Literatur den Vorgaben einer Regelpoetik gerecht wird. Literaturkritik folgt also einem Kohärenzbegriff von Wahrheit. Durch Ausdifferenzierung der gelehrten Res publica litteraria ist Orientierung im kritischen Diskurs jedoch zunehmend schwerer zu erlangen. Während die älteren literaturkritischen Formen Anonymität als Garant für eine sachgerechte Rezensionspraxis auswiesen – noch Georg Christoph Lichtenberg tritt in den 1770er Jahren für die Beibehaltung der anonymen Rezensionspraxis in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen ein (Gierl 2007: 126) –, wurden die literaturkritischen Auseinandersetzungen auch unter den Wissenschaftlern nach 1750 per-
189 | Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet [1769] (LWB 6: 717). 190 | Lessing, Eine Duplik [1778] (LWB 8: 510). 191 | Mit diesem Wort charakterisiert Friedrich Hagedorn im seiner Fabel Die Thiere Liscows Literaturkritik, vgl. Hentschel 2004: 117 f.: »Der Freyheit unverfälschte Triebe | Erhöhn den Werth der Wahrheitsliebe, | Die Deine Sele stark gemacht. | Dein glücklicher Verstand durchdringt in edler Eile | Den Nebel grauer Vorurtheile| Des schulgelehrten Pöbels Nacht. | Was Halle und die Wahrheit preisen, | Mein Freund! das wagst Du zu beweisen. | ›Wer frey darf denken, denket wol.‹«
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sonalisiert. Mit Folgen, die Lichtenberg im Blick gehabt haben mag, die aber auch Kant zu verarbeiten sucht, mit Individualisierung der Erkenntnis vor einem öffentlichen Gericht (Kant) also wurden die kollektiven Wissensanordnungen der älteren Formen der Literaturkritik gleichsam ›ent-institutionalisiert‹ und die institutionell gestützte Autorität kollektiver Wissensanordnungen zu Fall gebracht (vgl. Gierl 2007: 126 f.).192 Wahrheit ist – unter dem Aspekt der gesteigerten Buchproduktion, der Wissenszunahme und der damit eingehergehenden Ausdifferenzierungsprozesse – vom einzelnen Rezensenten nicht mehr zu garantieren, sondern nur auf die Kohärenz des je individuellen Werks, das es zu beurteilen gilt, anwendbar. Statt nun die einfachere Lösung zu wählen, Lob mit Gegenlob zu beantworten (und damit den kritischen Diskurs zum Erliegen zu bringen), fordert Lessing, dass der Kritiker »die Wahrheit für keine Schmeicheleien verleugnet«, sei doch »die nachdrückliche Warnung vor einem schlechten Buche ein Dienst […], den man dem gemeinen Wesen leistet, und der daher einem ehrlichen Manne weit besser anstehet, als die knechtische Geschicklichkeit, Lob für Lob einzuhandeln.«193 Literaturkritische Macht ist inkorporierte Kritikervernunft, die sich zur Herrschaft bringt, indem sie in Anspruch nimmt, vernünftig zu sein. Kraft Interpretation, die sie vollzieht, unterwirft sie das Kritisierte ihren Kategorien und beansprucht für die eigenen Urteile absolute Geltung. Wenn Vernunft universell ist und universale Geltung beanspruchen darf, dann müssen sich ihr alle unterwerfen. Wer sich der Vernunft, der Kritik nicht unterwirft, erliegt der Verurteilung. Wer die Vorgaben und Normen der literaturkritischen Vernunft nicht beachtet hat, ist an seiner Hinrichtung selbst schuld. Der Literatur(kritik)betrieb des fortschreitenden 18. Jahrhundert droht, keine Res publica zu sein, sondern – qua Normensetzung und Machtkompetenz – eine Tyrannis. Aus diesem Widerspruch – dem Anspruch, vernunftbegründete Urteile zu sprechen, sie aber selbst zu vollstrecken (also die Gewaltenteilung nicht zu respektieren) – ergibt sich die zutiefst gewalttätige Dimension der Literaturkritik: dem ›Guten‹ muss man folgen, das ›Schlechte‹ kann man nur verachten, der
192 | Spätestens mit Immanuel Kant ist die ›ursprüngliche‹ Bedeutung des (literatur-)kritischen Handelns in zivilisierte Kulturpraktiken überführt. So schreibt der Königsberger Philosoph um 1752 in seinen Reflexionen zur Logik: »Andere sind nicht Lehrlinge, auch nicht [R]ichter, sondern Collegen im großen Rathe der menschlichen Vernunft« (Kant, Reflexionen zur Logik [1752] (KAA III.3: 419). 193 | Lessing, Literaturbriefe [1759–1765] (LWB 4: 663, 65. Br.). Vgl. Bodmer, Nachrichten von dem Ursprunge der Critik bei den Deutschen [1741] (SCPS 2/1741: 156): »Wenn man die Höflichkeit so hoch treiben wollte, so würde sie zur Schmeicheley, Zagheit, und Scheinfrömmigkeit werden, die Critik würde dadurch ihre Nerven verliehren, und die albernen Scribenten würden der verdienten Straffe, womit sie andern zum Exempel dienen sollen, entrissen werden.«
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›Vernunft‹ muss man sich unterwerfen. Diese gleichsam göttlichen Geltungsansprüche des Literaturkritikers verkörpern die Macht der Vernunft. Noch die Zuerkennung von Lob ist eine Machtausübung, die urteilende, verurteilende wie lobende Vernunft ist Anmaßung, Überheblichkeit und Machtausübung. Die Gewalt und Intoleranz der Literaturkritik resultiert aus der Vernunft, die absolut geltende quasi-göttliche Urteile spricht. Diesen monarchischen Geltungsanspruch gilt es zu durchschauen. Die Form der ›tötenden Literaturkritik‹ tritt besonders dort zutage, wo Literaturrichter sich ausschließlich um das belletristische Tagesgeschäft kümmern – Urteilsspruch und Exekution lassen sich nur am ›lebenden Objekt‹ vollziehen (vgl. Heudecker 2005: 384). In ihrem Bestreben, Unnützes aus der aktuellen literarischen Produktion auszusondern, geht die tötende Literaturkritik formal und inhaltlich neue Wege: ihre bevorzugte Form wird die satirische Polemik, die den Anspruch auf Unterhaltung mit dem Anspruch auf Gelehrsamkeit verknüpft und sich damit an eine literarische Öffentlichkeit wendet, die beide Anteile zu goutieren versteht. Darin drückt sich aber ein neues, geändertes Verständnis von Literaturkritik aus: der Konflikt mit der ›schlechten Literatur‹ und die Auseinandersetzung mit ihrem Urheber wird von vorn herein für obsolet erklärt, weil Kritik (ähnlich der Zensur) präventiv bzw. ›präservatif‹ solche Formen von Literatur mit dem Argument der Wahrheit zu verhindern sucht – analog zu Benjamins Postulat ist dem Kritiker die neueste Literatur, was dem Kannibalen der Säugling ist. Damit ist die diskursive Praxis des Tötens kanalisiert im Wahrheitsdiskurs (vgl. Hamburger 1979). Bereits Alexander Gottlieb Baumgarten hatte in seiner eine philologische Disziplin begründenden Aesthetica (1750–1758) den Schönheitsmit dem Wahrheitsbegriff überblendet. Schönheit vermittelt laut Baumgarten Erkenntnisse, denen ein objektiver Wahrheitsstatus eignet, auch wenn die sinnliche Erkenntnis einen tief verborgenen und dunklen Sinn – eine Idea confusa im Sinne Descartes – sein mag. Die gelegentliche Aufwertung der Obscuritas darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Baumgarten mit dem bevorzugten Konzept der Claritas im Rahmen der alten Schönheitslehren verharrt und ›Wahrheit‹ sich im Rahmen einer ›prästabilisierten Harmonie‹ (Leibniz) entfaltet: »nulla perfectio sine ordine« (Baumgarten, Aesthetica, § 19) – die Zeichen (Signa) und Dinge (Res) müssen übereinstimmen (Adaequatio). Verharrt Baumgartens Ästhetik in weiten Teilen im Rahmen herkömmlicher Poetiken, so erweist sich seine Theorie von der ›ästhetischen Falschheit‹ als innovative Neuerung (Baumgarten, Aesthetica, § 445–477). Hatte der französische Klassizismus des späten siebzehnten Jahrhunderts die Forderung nach Wahrscheinlichkeit zur Literaturdoktrin erhoben, postuliert Baumgarten die Anerkennung spezifischer Gesetze. Als Rationalist kann Baumgarten Verstöße gegen das allgemeine Wahrheitsprinzip nicht zulassen; der Ästhetiker (d. h. der Literaturkri-
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tiker) müsse stets ein ›Freund der Wahrheit‹ (veritas, vgl. Baumgarten, Aesthetica, § 477) bleiben, ohne ein Sklave des abstrakten französischen MimesisPostulats zu werden. Unter Berufung auf Horaz, der dem Dichter das Recht einräumt, faktisch Wahres mit erfundenem Falschem zu mischen (Horaz, Carmina, 3,11,35 f.), plädiert Baumgarten für eine maßvolle Fiktionalitätstheorie. In deren Rahmen kommt dem Kritiker die Aufgabe zu, die Wahrheit des in der Literatur Thematisierten wie auch die innere Stimmigkeit des literarischen Kunstwerks zu überprüfen. Für Baumgarten ist das Kunstwerk ein ›Heterokosmos‹, ein eigene Wirklichkeit, die offen ist zur tatsächlichen Welt und der eine relative Autonomie zukommt (vgl. Kondylis 1986: 558–561, 569, 617). Um die ›heterokosmische Wahrheit‹ zu bestimmen (und damit die antike mythologische Dichtung zu retten) legt Baumgarten historische Kriterien an. So erklärt er, dass in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Ovidischen Metamorphosen unwahr, da fantastisch erscheinen, für die antiken Zeitgenossen jedoch sei dieser »Traum aus einer Fabelwelt« heterokosmisch wahr. Die Wahrheit der Kunst, wie Baumgarten sie in seiner Aesthetica formuliert, ergänzt damit die intellektuelle Erkenntnis im Sinne einer »Vermittlungsfunktion der Sinnlichkeit« (Franke 1972: 88). Indem Baumgarten das sinnliche Erkennen »als Wahrheitsaspekt des Ganzen geltend macht, wirft er das Problem einer Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft [...] auf, wie es die philosophische Ästhetik vorranging dann seit Kant [...] beschäftigt.« (Franke 1972: 91) Zur Unterscheidung über das Kunstwahre bestellt Baumgarten den Ästhetiker zum Richter: auf der Basis eines »iudicium sensitivum non publicum quidem, probe tamen maturum« (Baumgarten, Aesthetica, § 515) unterscheidet die Ästhetik »secundem exactum analogi rationis iudicium« (Baumgarten, Aesthetica, § 608). Die »Veritas aesthetica« ist also nur dann wahr, »quatenus sensitive conoscenda est« (Baumgarten, Aesthetica, § 423), wenn kein Widerspruch der Gedanken mit der Wahrheit der Gegenstände für die Empfindungen ausgemacht werden kann (Baumgarten, Aesthetica, § 445). Gegen das Je ne sais quoi der französischen und englischen Literaturkritik, das auch Leibniz vertritt, sucht Baumgarten nach Kriterien zur Begründung des sensitiven Urteils (vgl. Klein 1967). Durch das Insistieren auf einer sensualistischen Ästhetik als Wahrheit der Kunst gelingt es Baumgarten nun, Geschmack und Verstand als unabhängige Instanzen zu etablieren. Der Literaturkritiker entfernt sich solchermaßen um 1770 von seinem barbarischen Erbe. Friedrich Nicolai, der Mitstreiter Lessings, markiert diesen Diskurswechsel 1769. »Man glaube nicht«, schreibt er gegen den Antikriticus (eine Zeitschrift, die andere Rezensionsmedien rezensiert), »daß er [der Kunstrichter] auf einem Richterstuhle sitze, um über Leben und Tod zu urtheilen.« (Nicolai 1769: 114) Und in der Tat wurden Lessings literaturkritische Polemiken, die weniger ›Eisenfeilen‹ im Sinne Friedrich Schlegels als ›Fallbeile‹ waren, häufig
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entschuldigt.194 Leben und Tod: die Antinomien prägen auch das Amt des Literaturkritikers: »Schließlich existiert die Kritik nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst: Sie ist Instrument, Mittel zu einer […] Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann.« (Foucault 1978: 8 f.) Diese Antinomien prägen bis heute die Praxis der Literaturkritik, obgleich der Anspruch auf Wahrheit nicht zu hintergehen ist. So votiert noch Adorno in der Ästhetischen Theorie (1961 f.) für die Schärfung literaturkritischer Wahrheit und gegen die Verwässerung des bloß geschmacklich begründeten Kunsturteils: »Ästhetik, die nicht in der Perspektive auf Wahrheit sich bewegt, erschlafft vor ihrer Aufgabe; meist ist sie kulinarisch.« (AGS 7: 516)
10. K APITEL : D ER L ITERATURKRITIKER ALS A NWALT UND K OCH (V ERZEHRENDE K RITIK ) Manche Bücher darf man nur kosten, andere muss man verschlingen und nur wenige kauen und verdauen. Francis Bacon, Essays (1597)
Literaturkritiker treten auch heute noch als Anwälte der Literatur ins öffentliche Bewusstsein – auf diese Position beruft sich auch Marcel Reich-Ranicki, um eine historische Tradition zu adressieren, in die er sein eigenes Wirken eingebettet sieht (vgl. Reich-Ranicki 1994). Zugleich kann Reich-Ranicki damit ein anderes Feld im juridischen Diskurs besetzen, wenn er nicht ganz auf die Rolle eines Erziehers ausweicht (Reich-Ranicki 1989: 40).195 Jacob Grimm dekretiert im Lemma »Anwalt«, dass dieser als ›Sachwalter‹ seines Klienten dessen Position vertritt, damit zum ›Widersprecher‹ einer gegnerischen Partei wird, der (so die Hoffnung) ›anwalten‹ – also obsiegen – möge (vgl. Grimm I: Sp. 513). Und in der zeitgenössischen Verwendung bezeichnet Zedlers Universal-Lexicon den Anwalt als »Gevollmächtigte[n]« (Zedler II: 738), der »so wohl zu außergerichtlichen, als gerichtlichen Sachen bestellet« wird (739), wobei der Beklagte eine Vollmacht ausstellt, »alles dasjenige zu thun, was mein eigener Nutzen erfordert« (740). Und: »es können in einer Sache so viel Anwälde bestellet werden, als man will.« (741)
194 | Es wird Friedrich Schlegel überlassen bleiben, Lessings polemische Literaturkritiken zu verteidigen (Über Lessing, 1800), bei gleichzeitiger Neuausrichtung der polemischen Literaturkritik, vgl. Oesterle 1986. 195 | Zu den Rollen Reich-Ranckis vgl. Anz 2004a: 149.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Auch der zeitgenössische literaturkritische Diskurs kennt den Begriff des Anwalts oder ›Advocats‹ der Literatur (vgl. z. B. Bodmer/Breitinger 1746, II: 54). Die apologetische Form der Literaturkritik findet sich vor allem im Umkreis der gelehrten Rezensionen, also im Übergang von der Ars critica zur Literaturkritik. Während die exegetische Literaturkritik auf das kritische Urteil verzichtet, bringt die apologetische Literaturkritik ihr Urteil in der Vereidigungsrede in Anschlag. Anhand zweier exponierter Vertreter der Literaturkritik soll der apologetische Diskurs in der Literaturkritik der (Früh-)Aufklärung verfolgt werden. Während Nicolaus Hieronymus Gundling von Haus aus Jurist war, sich aber als frühneuzeitlicher Universalgelehrter auch für vieles Andere interessierte, entstammte Johann Jacob Bodmer einer angesehenen Theologenfamilie. Es ist interessant zu beobachten, wie sehr Gundling noch auf der juristischen Basis argumentierend das Recht von Literatur auf Verteidigung einfordert und damit die Sache des Autors zu seiner eigenen macht. Dagegen dominiert bei Bodmer der Streit um die Geschmacksdebatte, die er zusammen mit Johann Jacob Breitinger und gegen Johann Christoph Gottsched vorantreibt. Obwohl im ›Literaturstreit‹ zwischen Leipzig und Zürich der Begriff des ›Geschmacks‹ vielfach präsent ist, wird dessen semantische Nähe zur diskursiven Praxis des ›Essens‹ bislang kaum beachtet. Anstatt nun aber diesen gut dokumentierten Literaturstreit neuerlich aufzurollen, soll die allmählich Ausblendung der diskursiven Praxis des Verzehrens im Diskurs der Literaturkritik bei Bodmer erhellt werden. Bei Bodmer begegnet der Literaturkritiker nicht mehr als Anwalt oder Advocat, sondern als ›Mediator‹. Zugleich verschiebt sich die Perspektive: der Mediator berücksichtigt das Publikum und dessen Konsumationshaltung – im Zuge der Ausrichtung an einem bürgerlich-anonymen Publikum wird der Kritiker selbst zum Koch, der seine Kritiken schmackhaft zubereiten muss, wenn er gelesen werden will. Zur Explikation rekurriert Bodmer auf die Kategorie des Geschmacks – eine Kategorie, die allen ›Kennern‹ ein Urteil ermöglicht und das Publikum auf Augenhöhe mit dem Kritiker bringt.
a. Nicolaus Hieronymus Gundling: Der Kritiker als Advocat Viel gerühmt für seine Literaturkritiken war der Hallesche Juraprofessor für Reichspublizistik und Naturrecht Nicolaus Hieronymus Gundling (Fischer 2002), der – inspiriert von seinem Lehrer Christian Thomasius (Hammerstein 1972: 208) – von 1709 bis 1721 das Rezensionsperiodikum Neue Bibliothec oder Nachricht von neuen Büchern und allerhand zur Gelehrsamkeit dienende Sachen und von 1715 bis 1728 seine Gundlingiana herausgab, ein pointen- und anekdo-
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tenreiche Sammlung vermischter Aufsätze, »darinnen [laut Untertitel] allerhand zur Jurispudentz, Philosophie, Historie/ Critic/ Litteratur/ Und übrigen zur Gelehrsamkeit gehörige Sachen« gehandelt wird. Hatte Gundling in Halle – gleichfalls inspiriert durch Thomasius – seine Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten und dies in einer so vergnüglichen Weise, dass ihm der Applaus des Publikums ebenso sicher war wie der Neid der Kollegen, so erweiterte er mit der Neuen Bibliothec die eingefahrenen Bahnen der gelehrten Critica und knüpfte mit seinen Gundlingiana an Thomasius’ Monatsgespräche an. In den Vorreden zu beiden Journalen thematisiert Gundling sein Anliegen. So heißt es bezüglich der Neuen Bibliothec: Vielen ist verdrießlich/ lange Extracten/ die doch gemeinlich den Inhalt eines Buches weder halb noch gar exprimiren, zu lesen/ zumahl wann öffters zwey oder drey Chartequen den Appetit eines hungerigen Lesers stillen müssen/ andere erwarten vielmehr ein vernünfftiges Urtheil/ als ein blosses und zerstümmeltes Sceleton/ welchem aller Safft abgezogen ist. Ich bin daher schlüßig worden in der Mitte ein Temperament zu suchen/ und die vornehmsten Bücher welche ans Licht treten/ nicht sowohl umständlich zu excerpiren/ als vielmehr den general-Zweck/ die Güte und Beschaffenheit/ samt denjenigen Nachrichten anzurühren/ welche man nach Gelegenheit der Sachen/ dienlich zu seyn erachten wird. Die Urtheile sollen dergestalt eingerichtet seyn/ daß ein jeder erkennen möge/ wie man sich nicht einigen Affect, sondern bloß die gesunde Vernunfft zum v Leitstern erwehlet. (NB 1/1709, Vorr.: Bl. A2 )
Gundling will also zwischen den Positionen einer rein liebenden (also gar nicht urteilenden, sondern nur inhaltszusammenfassenden) Literaturkritik und einer rein tötenden Kritik vermitteln. Zugleich betont Gundling mit kulinarischen Metaphern (Garprozess, Lesehunger, Saft) das Recht des Publikums auf ein vernünftiges – d. h. emotionsfreies – Urteil. Doch ist die Instanz des Anwalts (und damit die Instanz des anwaltlichen Kritikers) bei Gundling nicht allein positiv konnotiert. In seinem Kommentar zum Pandekten-Recht definiert Gundling die sich von der antiken Rechtspraxis herschreibende Rolle des Advokaten als die »wackere[r] ehrliche[r] Leute«, die keinen Skandal oder Anstoß erregt hätten, und begründet: »Das ist keine geringe Sache: Ich vertraue dir meinen Process, mein Haab und Gut […]. Man hat die Advocatos angesehen als amicos [Freunde], consanguineos [Blutsverwandte], patrones [Beschützer]. […] Daher muste freylich ein Advocat ein habile homme seyn.« Doch erteilt Gundling diesem Ideal des Honnête homme eine Absage, da er nur ein gelehrtes Idealbild (Idea) und »ein perfecter Advocat nicht anzutreffen« sei. Als Grund gibt Gundling die Masse an Advokaten an, die nach Beschäftigung suchten.196 Während in Rom – die Pandekten wurden 533 von Kaiser Justinian zur geltenden Rechtsnorm erhoben – die Anwälte noch kostenlos für das Recht eingetreten und da-
196 | Gundling 1748: 716. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
für mit Ehrenämtern belohnt worden seien (718), »machet der Advocat [gegenwärtig] Processe, […] er hetzet die Leute auf, er kan sonst nicht leben, er ist wie eine Spinne, die die Bauern aussauget und den Balg liegen lässet.« (720) Signifikant ist die Abwertung des Anwalts als Blutsauger und die spiegelbildliche Entsprechung von Kritiker und Anwalt. Diese kritische Einschätzung des Anwaltsberufs wirft die Frage auf, ob ›Anwalt‹ eine passende Entsprechung für den Literaturkritiker ist. Wie wir sehen werden, findet Gundling eine Antwort. In seinen Gedancken von der Nothwendigkeit einer Critisirung der neu herauskommenden Bücher und Schrifften (1715) tritt Gundling für eine Form der Literaturkritik ein, die sich dem gegenwärtigen Schrifttum widmet, um gegen die »ungeheure Anzahl unnöthiger und schlechte[r] Bücher« vorzugehen (NB 41/1715: 399). Mit der Übernahme der Neuen Bibliothec, deren Herausgeber Gundling 1715 wird, profiliert er auch deren literaturkritisches Programm, das nicht mehr länger in seitenlangen Buchauszügen oder Inhaltswiedergaben besteht, die »wenig Verstand und Iudicium« besitzen (NB 41/1715, Vorr.: 9). Gundling plädiert stattdessen dafür, dass das literarische ›Unkraut‹ »zu desto besserem Aufnehmen und Flor der wahren Gelehrsamkeit ausgerottet« werde, aber ohne dass »das Unkraut gar samt dem Weitzen möge ausgereutet [ausgerottet] werden.« (NB 41/1715: 400) Zu diesem Zweck empfiehlt Gundling der Neuen Bibliothec »Recensiones und Urtheile/ aber keine Extracten.« (NB 41/1715, Vorr.: 16) Da durch obrigkeitliche Gebote dem Missstand einer Bildungsexpansion nicht abgeholfen werden könne, empfiehlt Gundling die Literaturkritik als adäquates Mittel: vermittelst der Wirkung der Literaturkritik läsen die Studenten nur Nützliches, die Verleger sparten Papier, die unbegabten Schriftsteller wählten einen passenderen Beruf – kurz: »allen [...] wird solchergestalt geholffen/ und niemand im geringsten beleidiget oder beschädiget.« (NB 41/1715: 401) Das ›Bücher-Critisiren‹ diene letztlich dazu, »den Kern von der Spreue und den Hülsen« zu unterscheiden (402). Wie in dieser Zeit üblich begreift sich der Kritiker als Arzt, der seinem Patienten mit der Kritik ein Heilmittel verabreicht: Gleichwie man aber in natürlichen Dingen beobachtet/ daß bittere und unangenehme Sachen meistens dem Leibe gesunder/ als die süssen und wohlschmeckenden sind; also wäre freylich vor dergleichen armseelige Creaturen rathsamer/ daß sie der wieder sie ergangenen Censur zu ihrer Besserung gebrauchten/ als diejenige/ so sie ihrer Fehler erinnert/anfeindeten. Die Critisirung neuherauskommender Bücher sind gesunde obgleich bittere Pillulen/ wer solche gutwillig 197 einnimmt/ wird sich ohnfehlbar besser befinden. (402 f.)
197 | An anderer Stelle insistiert Gundling: »Wann in irgend einer Sache Vosichtigkeit und Accuratesse nöthig seyn will/ so ist es gewißlich vor allen andern in der Artzney-Kunst. Ein Juriste oder Advocate, der zuweilen etwas versiehet/ oder versäumet, bringet zwar seinen Clienten auch
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Die therapeutische Wirkung der Literatur kann nun einerseits in satirischen Schriften bestehen, die Gundling verfasst hat und im dialogischen Stil eine streitende Flanerie durch die neueste theologische, historische und juristische Literatur inszenieren.198 Hatte der Marchese d’Orsi noch 1706 Satire und Literaturkritik streng geschieden – der Criticus ziele auf die moralischen, der Satyricus auf die intellektuellen Fehler (vgl. Jaumann 1995: 412) –, so betont Gundling im Gegenteil die wechselseitige und notwendige Durchdringung von Satire und Kritik. Der eigentliche Kern von Gundlings Literaturkritik besteht jedoch in einer Kritik der Kritiken und Kritiker: er will gegen solche Kritiker, die »sich unterfangen von Dingen zu urtheilen, die er [der Kritiker] nicht verstehet« (5), Beweise vorlegen und dadurch die Autoren verteidigen: Die Zeit wird mich dir unter einer gantz andern Gestalt entdecken; und du sollst erfahren, daß mich weder ein zeitliches Interesse, oder eine unzuläßige Rachgier so weit verleiten könne, daß ich die Schrancken, so die göttliche und menschliche Gesetze auch denen Gelehrten gesetzet, 199 auf einige Weise überschreiten sollte. (7)
Zu Gundlings juristisch-apologetischer Auffassung von Literaturkritik gehört, dass die ›Parteyen‹ sich gegenseitig Gelegenheit geben, die jeweiligen Argumente vorzutragen: »Ich kan gar wohl leiden, daß man mir einige Zweiffel mache: Ich kan vertragen, daß man von mir dissentire: [...] Nur bitte ich in aller Ergebenheit, daß man mich zuerst höre und nicht poltere oder wetterleuchte, ehe es nothwendig.« (Gundlingiana 1/1715: 104) Wie sich Gundling diese Form der Kritik vorstellte, lässt sich anhand seiner Rezension einer Silius-Neuausgabe zeigen.200 Der römische Staatsmann und Dichter galt als begnadeter Ciceronischer Redner, war aber in seiner Doppelfunktion als Staatsmann und Dichter der Literaturgeschichtsschreibung verdächtig. Besonders seine Punica, die Darstellung des punischen Krieges, wurde als unpoetische »fabelhaffte[] Erzehlung« abgelehnt (116). Gundling wagt 1717 anlässlich der kommentierten Neuausgabe von Silius’ Werken durch Arnold Drakenborch den Versuch, dessen Schriften zu rehabilitieren, wobei er in sei-
dadurch in Schaden; aber es gilt noch nicht gleich dem Kopf, sondern nur dem Beutel.« (Gundling, Balthasars »De dosis medicamentorum« [Rez., 1720], NB 91/1720: 236 f.) 198 | Gundling 1738. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 199 | Gundling demonstriert sein Vorgehen in seiner Verteidigung von Christian Thomasius’ Schrift De Trinitate, vgl. Gundling 1738: 203 ff. 200 | Gundling, Gedancken über Silii Italici Poesie [1717] (Gundlingiana 12/1717: 101–156). Mit Seitenzahl im Text zitiert. Den Hinweis auf diese Rezension verdanke ich Heudecker 2005: 197– 217.
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ner apologetischen Literaturkritik über den argumentativen Rahmen der Ars Critica und der gelehrten Rezension hinausgeht. Gundling behandelt die Silius-Neuausgabe wie ein Werk der Gegenwartsliteratur, indem er darauf verzichtet, den Inhalt der Punica zu referieren, und statt dessen Urteile verschiedener Gelehrter zitiert und um eigene Urteile ergänzt. Damit wertet Gundling das eigene literaturkritische Urteil im Vergleich zu den gelehrten Journalen seiner Zeit erheblich auf. Gundling nimmt zudem einen eigenen Standpunkt ein, der es ihm ermöglicht, die kursierenden Negativurteile über Silius zu revidieren. Indem Gundling sich zum Anwalt von Silius aufschwingt, kann er zugleich seine eigene ästhetische Ansicht gegen die Regelpoetik verteidigen. Wie Sylvia Heudecker nachdrücklich dargelegt hat, durchzieht eine Reihe juristischer Begriffe die Silius-Rezension, die als akademische Disputation angelegt ist (vgl. Heudecker 2005: 200 ff.). Indem Gundling nun die gelehrten Negativurteile zu Silius zitiert, um sie anschließend zu widerlegen, entwickelt er im Rahmen der Rezension eine dialogische Struktur, wie sie in der Disputation üblich ist. Dadurch integriert er die gelehrte Ars critica in die apologetische Literaturkritik. Diese findet ihren unmittelbaren Ausdruck in einer literaturkritischen Polemik, die sich an der Frage des Geschmacks entfaltet. Noch Christian Ludwig Liscow (s. o.) konstatiert 1733: »Die Urtheile von der Schreib=Art sind so unterschieden, als der Geschmack der Leser: Und über den Geschmack streitet man nicht.« (Liscow 1739: 270)201 Und wirklich verwirft Gundling die Kategorie des Geschmacks als literaturkritische Beurteilungsinstanz: »so ists mir in der That nicht anderst/ als wann ich etliche Leute/ deren Judicia sie anführen/ raisonniren hörte/ ob der Kohl besser und schmackhaffter/ als Kraut/ oder ein Rebhun delicater/ als ein Fasan sei.« (107) Indem sich Gundling auf die antike Gleichsetzung des Dichters mit dem Koch rückbezieht (Platon, Gorgias 462d), verwirft er die Vorstellung der regelpoetischen Bestimmbarkeit des ›guten Geschmacks‹: das literarische Werk soll nicht nur angenehm für den Verstand sein wie die Speise schmackhaft für den Gaumen ist, es soll sich auch als nützlich erweisen: »Das beste Carmen Epicum ist, so einem gefället.« (143) Der Geschmack unterscheide sich nicht nur von Kritiker zu Kritiker, sondern auch von Volk zu Volk: »Der gout gantzer Nationen und Völker ist auch unterschieden. Was diesem wunderwürdig / das scheint andern kindisch.« (135) Mit der Entfaltung eines »disputatorischen Verfahrens« (Heudecker 2005: 206) verbleibt Gundling zwar im Rahmen des gelehrten Kommunikationsmusters; gleichzeitig schöpft er aber auch aus dem juristischen Vokabular, um ›sei-
201 | Liscow 1739: 270; Gundlingiana 1/1715: 104
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nen‹ Autor zu verteidigen – er tut das mit affektiven und kolloquialen Mitteln. Auf diesem Wege unternimmt er nicht nur eine Verteidigung des Silius, sondern führt eine Verteidigung seiner eigenen gegen die Regelpoetiken gerichteten ästhetischen Auffassungen durch. Damit erlaubt ihm die Verteidigung des Silius die Reflexion der literaturkritischen Beurteilung; die »Hyper=Critic« (106) der Regelpoetik ist abzulehnen, da die »Praetores« (105) zu unterschiedlichen Geschmacksurteilen gelangen und sie daher den »bon sens als eine verächtliche Wasser=Suppe« ansähen (114). Gundling will mit der Einführung des Geschmacks-Begriffes die ältere Poetik durch die neuere Kritik ablösen, und diese Ablösung vollzieht sich im Rahmen einer literaturkritischen Apologie.
b. Johann Jacob Bodmer: Publikumswirkung und Konsumation – Der Kritiker als Mediator und Koch Hatte Gundling im Rahmen der Geschmacksdebatte immer wieder die EssensMetapher stark gemacht, um die Willkürlichkeit der Regelpoetiken herauszustellen, so entwickelte sich die Debatte um den Geschmack (und damit auch die Debatte um die literarische ›Speise‹ des Kritikers) im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts zunehmend weiter, beherrschte gar maßgeblich die ÄsthetikDebatte. Bodmer hat im Verbund mit Breitinger von Zürich aus die Kunstideologie der Leipziger Regelpoeten angegriffen. So entwirft Bodmer in der Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst ein literaturkritisches Gegenmodell zu Gottsched, beruft sich jedoch auf dieselben Instanzen, die der Leipziger Kunstrichter angeführt hatte: es gehe nicht darum, »guten Geschmack« durch »häufige und in einander verwickelte Regeln der critischen Gesetzgeber« zu begründen, sondern die Natur zum Maßstab der literaturkritischen Beurteilung zu erheben (Breitinger 1740, I, Vorr.: Bl. )(2r). Gottsched bezeichnet daher die Zürcher Kunstrichter als »Feinde der Critick«, da sie sich gegen sein regelpoetisch begründetes Kritik-Konzept stellen, doch bestehe die »wahre Critick« nicht in »überlverdauete[m] Bücherlesen« (Gottsched 1730, Vorr.: xv). Gottsched benennt damit die aus seiner Sicht prägende Metapher des literarischen Geschmacks, die Bodmer und Breitinger in der Literaturkritik durchsetzten wollen und versucht, Geschmackspostulat und Regelpoetik in Übereinstimmung zu bringen: »Derjenige Geschmack ist also gut, der mit den Regeln überein kommt, die von der Vernunft […] fest gesetzet worden.« (Gottsched 1730: 105) Dass Bodmer und Breitinger von Zürich aus die weitgehend unreflektierte Kunstrezeption mit einer Tendenz zur Versinnlichung in der Poetik etablieren,
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schmeckte Gottsched seinerseits gar nicht (Amann 1999: 263 f.).202 Nach Bodmer verbürgt nicht mehr das Einhalten mehr oder minder willkürlicher Regeln die Qualität von literarischen Werken, sondern – und hier folgt er der französischen Klassik, speziell Boileau – die Nachahmung der Natur und das Festhalten am Wahrscheinlichkeitspostulat (vgl. Bodmer/Breitinger 1746, I: 247–263). Auch wenn es sich letztlich um ästhetische Klopffechtereien handelt, so verlängert der Streit um Regelpoetik und Naturnachahmung letztlich nur eine theologische Debatte.203 Bodmer und Breitinger legen im 57. Blatt der Mahler der Sitten (1721/1746) eine »freye Nachahmung« von Boileaus neunter Satire vor, die den Diskurs des Literaturadvokaten expliziert. Nun besteht das Hauptanliegen Boileaus in der Verteidigung der Satire (vgl. Deupmann 2000: 362),204 doch Bodmer nutzt den vorgegebenen Rahmen, um den Diskurs der Literaturkritik zu rechtfertigen und ihn in ein reguläres juristisches Verfahren zu überführen (vgl. Deupmann 2000: 363). Analog zu Boileau baut Bodmer eine dialogische »Streitrede[]«205 auf, die sich zwischen »Kläger« und »Advocat« (54) entspannt. Dieser inszenierte Dialog dient der Selbstreflexion des Literaturkritikers: »Ich habe nun lange die Rede an andre Leute gerichtet,« schreibt Bodmer unter dem Pseudonym des ›Mahlers‹ Rubens, »es ist Zeit, daß ich einmahl mir selber predige«, da er ›Fehler‹ und ›Gebrechen‹ bei sich finde, diese aber auch zu rechtfertigen wisse (54). Die Verteidigung geschieht ebenso umsichtig wie die Klage scharf geführt wird, doch von vornherein steht der Gewinner dieses Disputs fest: der Advocatus saturae wird das letzte Wort behalten, das juristische Verfahren und der Gerichtsort werden zu Institutionen, an der sich der Diskurs der Literaturkritik bewährt. Der ›Advocat‹ macht den Anspruch des Klägers auf das Richteramt zum Gegenstand der Auseinandersetzung: dessen umfassende moralische, sittliche, wissenschaftliche und künstlerische Kritik sei der anmaßende Versuch des Kritikers, »das Richteramt auf seine Schultern« zu nehmen (55). Der Kritiker sei sich selbst gegenüber unkritisch und entbehre damit einer entscheidenden Eigenschaft für das Richteramt. Die Argumentation verlässt aber die moralische Ebene und verschiebt sich auf eine ästhetisch-literarische Ebene; etwa, wenn der Kläger die Qualität der schweizerischen Wochenschrift gegenüber ihrer
202 | Vgl. dagegen die Einordnung des Geschmacks-Diskurses als rationalistisch bei Zelle 2009: 33. 203 | Vgl. Hilliard 2018. 204 | Satirische Komik und Literaturkritik prägen alle Satiren Boileaus, vgl. Schulz-Buschhaus 1997: 131–154. 205 | Bodmer/Breitinger 1746, II: 54. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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Vorlage (Addisons und Steeles Spectator) vermisst (55).206 Dem Kläger geht es darum, das »[u]nter einer verstellten Bescheidenheit« verborgene »satyrische Gift« (57) zu entdecken und damit den juridischen Anspruch des selbsternannten ›Kunstrichters‹ als haltlos da unbegründet zu verwerfen. Der Advokat ziele ausschließlich darauf, »eine neue Thorheit auszuspähen, von welcher du einen halben Bogen voll schreiben könnest« (57). Auch das apologetische Argument, das Publikum bessern zu wollen und nur die Wahrheit zu sagen, wird vom Kläger als Illusion entlarvt. Der Advocat hält aber vorerst noch an seiner Rolle fest und schiebt die Schuld auf die ›Thorheit‹ der Leser: »Habe ich eben so wohl gefehlet, wenn ich ein Laster bestrafen, als wenn ich es begangen habe?« (60 f.) fragt er den Kläger ob seiner Literaturkritiken. Hingegen glaubt der Kläger dem ›Advocaten‹, wenn dieser betont, ›redlich‹ zu handeln und nur die besten Absichten zu hegen (62). Schließlich übe der Advokat seine Kritik in aller Öffentlichkeit und nicht »in Winkeln und im Finstern« (61). In Anspielung auf die Leipziger Kunstrichter warnt der Kläger den Advokaten vor »beleidigten Reimschmiede[n] und Dichterlinge[n]« (63), die an seinem Versuch, literarischen Geschmack ästhetisch zu begründen statt die Regelpoetik anzuerkennen, Anstoß nähmen und drohten, den »harten Kopf« des Advokaten »mit Prügeln [zu] breche[n].« (63) Letztlich fühlt sich der ›Advocat‹ genötigt, der ›satyrischen Kritik‹ abzuschwören – »Wenn es denn seyn muß, und man mir keinen bessern Danck giebt, so will ich in einem andern Tone schreiben« (64) –, aber er folgt dabei nicht der Einsicht in die besseren juristischen Argumente des Klägers, sondern der Selbsterhaltungsökonomie, die die Kosten der satirischen Kritik gegen die Regelpoetiken mit dem Anspruch auf Begründung des Geschmacksurteils verrechnet und zu einer negativen Bilanz kommt (vgl. Deupmann 2000: 365). In Folge dieser Erkenntnis setzt der Advokat nun auf konstruktives Lob statt destruktiven Tadel, fördert aber den Geschmack des Schönen statt die Poetik nach Regeln. Den Begriff des Geschmacks expliziert Bodmer in seinem Brief=Wechsel von der Natur des poetischen Geschmackes (1736),207 den er mit dem italienischen ›virtuoso‹ und ›uomo universale‹ Pietro di Calepio führt.208 Während der Italiener dem Geschmackssinn jedoch rein sensualistisch-mechanistisch auffasst, betont Bodmer die Verzahnung von Sinneseindruck (›Empfindung‹) und intellektuel-
206 | Auch dass die theologische Begründung der Kunstkritik entfällt, entkleidet die Argumente ihres moralischen Gehalts, vgl. Deupmann 2000: 364. 207 | Bodmer 1736. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 208 | Zur Unterscheidung vgl. Bodmer 1736: 48.
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ler Reflexion.209 In Ablehnung des französischen Klassizismus dekretiert Bodmer gegen den französischen Klassizisten Jean-Baptiste Dubos, dass »der sinnliche Geschmack zwar von Natur allen Menschen gleich gegeben ist, […] aber durch […] unnatürliche Speisen, […] verderbt wird« (2 f.) Die ›Seele‹ sei sich zwar »aller dieser Empfindungen bewußt« (42), alleine die »mechanische Empfindung« entdecke das »angenehme und eckelhaffte«, und diese Harmonische Empfindung bringet sogleich das Urtheil ohne fernere Untersuchung zu einem Ausspruche, der mit der Empfindung harmonirt: Also daß der Verstand hierinne nichts zu thun, noch die Ideen oder Eindrücke gegen einander zu halten und zu vergleichen hat. Diesemnach ist die Empfindung in dem sinnlichen Geschmack einem Richter gleich, der nach seinem eigenen Befinden eine Sache entscheidet; und die Seele gleichet einem Gerichts=Bedienten, der nichts anders zu thun hat, als das schon gefällte Urtheil auszusprechen und zu verkündigen. (42)
Und auch für die widerstreitenden Geschmacksurteile hat Bodmer eine Erklärung: »Wären die Gliedmassen des Geschmacks bey allen Menschen in ihrem unverletzten natürlichen Stande, so würde auch ihre Urtheil von dem angenehmen und eckelhafften gleich und allgemein seyn, weil bey allen nothwendig nur eine und eben dieselbe Empfindung seyn müßte.« (43) Angenehm sei, »was einem wohl schmecket (43), und folglich können die »Empfindungen des Geschmacks« (45) nicht vor den »Richterstuhl der Vernunft gefordert« werden (46). Der Literaturkritiker behauptet sich in einem solchen System als Verteidiger des Wohlschmeckenden: Dieses Systema machet auch den Criticis ein erwünschtes Spiel, indem es ihre gantze Kunst in diese eintzige Regel einschliesset: Deine Empfindung soll der Probier=Stein aller Wercke der Wohlredenheit seyn. Also dörffen sie ihre Vernunft nicht mehr quälen, um Gründe aufzusuchen, mit welchen sie ihre Aussprüche unterstützen, vertheidigen und behaupten wollen. (47)
Im Brief=Wechsel tritt Bodmer noch für eine wenigstens implizite Elitenbildung ein, die die Literaturkritiker zur Avantgarde der Geschmackskultur macht und damit pädagogisierend auf das breite Publikum wirkt.210 In seinen späteren Schriften hingegen und in der Auseinandersetzung mit Calepio und Gottsched öffnet Bodmer sein literaturkritisches Programm schließlich dem Publikum, indem er den Geschmacksbegriff bürgerlich umdeutet – der Kritiker wird vom Verkoster und Vorkoster zum Koch. Die Verteidigung der Literatur mit Gründen der Vernunft als Aufgabe des Literaturkritikers scheint also bereits bei Bodmer zu wanken, wobei in Rechnung zu stellen ist, dass er den Begriff der ›Empfindungen des Geschmacks‹
209 | Vgl. Brückner 2003: 36 f. 210 | Bodmer hat damit implizit zunächst das breitere Publikum vom Literaturkritikdiskurs ausgeschlossen, vgl. Amann 1999: 271.
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gegen Gottscheds dominierenden Einfluss der Regelpoetik und ihrer ›vernünftigen Gründe‹ geltend macht. In der Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) bezieht Bodmer – im Gegensatz zu Gottsched – die Kritik auf die lebenden Gegenwartsautoren, verteidigt das Recht der negativen Kritik und rekurriert auf die Geschmackskategorie. ›Geschmack‹ hat damit eine dreifache Funktion: er betrifft die literarische Produktion, die literaturkritische Beurteilung und die literaturkritische Beurteilungsform – Bodmers Feststellung, dass »der Geschmack an literarischen Schriften bey der deutschen Nation noch nicht so wohl befestiget«211 sei, kann produktiv genutzt werden. Bodmer verweist zur Begründung auf Liscow und König, die einerseits die Freiheit der Kritik (gegen Gottsched) verteidigt hätten, andererseits – mit Etablierung der Geschmackskategorie – ein Beurteilungsinstrument an die Hand gegeben hätten, das es erlaubt, die Machtgefüge der Literaturkritik zu durchschauen, zu nutzen und auf das Publikum hin zu erweitern ([)(8]r). Zugleich erlaubt der Geschmacksdiskurs, literaturkritische Negativität nicht länger als Tötung zu praktizieren: es geht nun um die lebendigen Gegenwartsautoren, um das gelehrte Publikum und um das allgemeine Publikum – Literaturkritik, auch negative, ist keine ›Toten-Kritik‹ mehr ()()(5v; vgl. Martus 2007: 154). Damit ist aber zugleich die philologische Wortklauberei überholt, die in weiten Teilen noch den literaturkritischen Diskurs des Leipzig-Zürcher Literaturstreits bestimmt. Literaturkritik entfaltet sich im höfischen Kontext des Geschmacksdiskurses als gesellschaftliches Phänomen.212 Bodmer versucht nun, den Geschmacksbegriff aus dem höfischen Bezugssystem zu lösen und für alle Leser nutzbar zu machen. Dazu greift er auf eine monetäre Metaphorik zurück, die in Teilen Bourdieu vorwegzunehmen scheint: Höflichkeit (und damit Geschmack) dient der »Mässigung der Affecte und des Willens nach den Regeln oder Gewohnheiten des äusserlichen Wohlstands«, Kritik hingegen könne auf »Ansehen und Credit« keine Rücksicht nehmen und nur das »innerliche Vermögen des Geistes, Verstandes und Witzes« beurteilen. Diese drei Eigenschaften seien jedoch »nicht an einen gewissen Rang oder an gewisse Ämter in der Welt gebunden, sie können nicht mit Geld erkauft, noch […] verliehen oder verpachtet werden.«213 Anders als Gottsched, der Geschmack als Erziehungsleistung des Literaturkritikers denkt (Amann 1999: 263), gehen Bodmer und Breitinger davon aus, r
211 | Breitinger 1740, I, Vorr.: Bl. [)(6] . Mit Paginierung im Text zitiert. 212 | Der Dresdner Hofpoet und seinerzeitige Förderer Bodmers, Johann Ulrich König, bestätigt in einem Brief die höfische Bindung seines Geschmacksbegriffs: »Es ist viel leichter, ausschweiffend, unnatürlich, schwülstig und mit einem Worte schulfüchsig, als männlich, natürlich, sittsam und nach dem Geschmack des Hofes und der Weltklugen zu schreiben.« (J. U. König an J. J. Bodmer, Br. v. 28.3.1724, Bodmer 1781: 31). 213 | Bodmer, Fortsetzung der Echo des deutschen Witzes [1742] (SCPGS 1742, VI: 39 f.).
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dass es einen »natürlichen« bzw. »angebohrnen« (Breitinger 1740, II: 16, 400) Geschmack gebe, der noch dem »grobe[n] Bauern-Kerl« zu eigen ist, »dem nichts schmackhaft däuchtet, als das gesund und unschädlich ist« (Bodmer/Breitinger 1721, II: 137). Erziehung zum Geschmack, wie sie Gottsched vorschlägt, ist daher abzulehnen, da der gesunde ›Naturgeschmack‹ ›verhöflicht‹ wird.214 Deutlich kritisiert Breitinger in seiner Dichtkunst von 1740 Gottscheds Geschmackskategorie: »Darum ist es auch unmöglich, daß der gute Geschmack durch Regeln, die ein vollständiges Systema der Kunst ausmachen, gelehret und vorgetragen werde« (Breitinger 1740, I: 430). Gottscheds Geschmackskategorie und das darauf begründete Urteil sei nicht verallgemeinerbar, weil literarische Urteile auf »besondere Stellen« und die »besondere[] Absicht, und […] Beschaffenheit besonderer Dinge« abgestimmt sein müssten (Breitinger 1740, I: 430). Breitinger »vergleichet einen solchen Geschmack sehr bequeme mit dem Geschmacke eines Wirthes, welcher gedächte ein Gastmahl mittelst der grossen Anzahl Schüsseln statt der Gerichte herrlich und prächtig zu machen.« (Breitinger 1740, II: 98) In seiner Vorrede zu Bodmers Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter (1740) fasst Breitinger zusammen, was für das »Amt eines rechtschaffenen Critici« gilt: Dieses Straf= und Richter=Amt ist […] nicht wie in dem politischen Staat an einen gewissen Stand, Rang oder gewisse Personen gebunden, sondern es kömmt einem jeden rechten Leser oder Kenner mit Recht zu; eben so wohl als ein jeder die Befugniß hat, nach seinem eigenen Geschmack von der Güte der Speisen zu urtheilen. Der Verstand ist keinem Geseze unterworffen, und läßt sich so wenig als Geschmack befehlen […].215
Während der Verstand durch Lektüre und Vergleiche geschult werden könne, müsse der Geschmack durch Empfindung und Erfahrung herangebildet werden, ansonsten bleibe das Urteil »saftlos und ungeschmackt« ()(4r).216 Breitinger greift auf das bereits 1721 entwickelte Bild des naturverbundenen Geschmacks zurück, das den Bauer vor dem Adligen auszeichne, um für einen ›naturgesunden‹ Geschmack zu plädieren ()(4v). Der Literaturrichter firmiert als »der Musen Aufwärterinn«, also Kellnerin ()(8r). Indem Breitinger ein Bild übernimmt, das Alexander Pope etabliert hat, erweist er den grundlegenden Unterschied zwischen der Zürcher und der Leipziger Orientierung: während
214 | In Breitingers Schriften jedoch findet sich gelegentlich noch die Vorstellung, dass etwa Opitz reinigend auf den Geschmack gewirkt und den ›eckelen‹, ›verdorbenen‹ oder ›schlimmen‹ Geschmack von Lohensteins Dichtung verdrängt habe (Breitinger 1740a: 245, 315, 459 ff.). v 215 | Bodmer 1741, Vorr.: Bl. )(3 . Mit Paginierung im Text zitiert. 216 | Anders als Bodmer hat der konservativere Breitinger deutliche Vorbehalte gegen einen allgemeinen Publikums- und Geschmacksbegriff.
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Gottsched weitgehend den ästhetischen Vorgaben des höfischen französischen Klassizismus folgt, orientieren sich Bodmer und Breitinger verstärkt an England. Dort hatte die Literaturkritik sich früh dem zahlungskräftigen bürgerlichen Publikum geöffnet. Der Kritiker soll daher, nach den Vorstellungen Bodmers und Breitingers, bei der Abfassung seiner Kritiken das bürgerliche (und nicht das höfische oder am höfisch-galanten orientierte bürgerliche) Publikum adressieren und seine Kritiken ›schmackhaft‹ zubereiten. Wer die natürliche Schweizer Speise, einen »Topff Milch und ein Stück Käse«, stehen lässt und stattdessen dem französisch-sächsischen »Zucker-Brodt« zuspricht (Bodmer/Breitinger 1721, II: 137, 143),217 folgt der verfeinerten EssThetik des höfisch-galanten Geschmacks: diese »Delicatheit« sei ein »Gebrechen des Geschmacks«, eine »Kranckheit, delicat zu essen« (Bodmer/Breitinger 1721, II: 137, 143). Wie unnatürlich und schädlich die französische Geschmackskultur ist, verdeutlichen Bodmer und Breitinger mit Blick auf die heimische Fauna: Tiere verstünden es, »die Speise, die ihnen schädlich ist, und dasjenige Kraut, das ihrem Geschlechte gemäß ist, aus einem Feld auszulesen und zu unterscheiden« (Bodmer/Breitinger 1721, II: 137). Der gute (da natürliche) Geschmack hat also eine pharmazeutische Wirkung, während der menschliche (zivilisierte) Geschmack »eine geringere Scharffsinnigkeit« aufweise und »minder vollkommen« sei und daher der Gesundheit abträglich sein könne (Bodmer/Breitinger 1721, II: 137). Der Kritiker wirkt folglich nicht nur als Koch, sondern entfaltet durch seine literaturkritische Diätik eine pharmazeutische Wirkung.218 Bodmer öffnet also mit Hilfe der ›natürlichen‹ Geschmackskategorie den literaturkritischen Diskurs für ein breiteres Publikum (den »gemeine[n] Haufen«, Breitinger 1740, I, Vorr.: Bl. )(2r,v) und stellt durch Forderung einer ›leckeren‹ (nicht ›ekelen‹) Abfassung von Literaturkritiken zudem die Perspektive auf das Publikum (als Leserschaft von Literaturkritiken) um. Der Literaturkritiker Bodmerscher Prägung wird unter dem Aspekt des Geschmacksdiskurses zu einem Mediator – einem Vermittler und Vorkoster219 – zwischen Autor, Werk, Markt und Publikum, verlebendigt in der Geschmacks-Metapher jedoch auch eine Theorie, die die vorwissenschaftlichen Exzesse nicht desavouiert (vgl. Camporesi 1990: 14). Gleichzeitig wirkt der Mediator als Koch; die Ingredienzen seiner Literaturkritik müssen schmackhaft sein. Das Laienpublikum muss
217 | Das Argument wird wiederholt Bodmer/Breitinger 1721, III: 37. Vgl. auch Bodmer/Breitinger 1746, II: 171 ff. 218 | Vgl. Murnane 2018. 219 | Vgl. die Lemmata »Vermittler« (Grimm XXV: Sp. 880–881) und »Vorkosten/Vorkoster« (Grimm XXVI: Sp. 1243–1244).
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nun nicht mehr oder minder willkürliche Regeln verinnerlichen, um ›gute‹ und ›schöne‹ Kunst zu verstehen, sind diese Regeln doch bloßer »Aberglaube[]«: »Man erinnere sich nur, daß der verderbte Geschmack sich durch Vorurteile, steiffe Gewohnheiten, Partheyen, schützen muß, und daß er durch niederträchtige Schmeicheleyen, die von einer dummen Bewunderungen entstehen, fortgepflanzet wird.« (Breitinger 1740, I, Vorr.: Bl. [)(6]r) Die schmackhaften Kritiken sollen ihrerseits die prinzipielle Qualität eines Werkes vermitteln und den Laien der Notwendigkeit entheben, sich selbst ein Urteil zu bilden – er prägt seinen Geschmack durch Konsumtion der guten Werke und der schmackhaften Kritiken aus (Amann 1999: 263).
Kritische Praxis: Bodmer über Miltons Verlorenes Paradies Der literaturkritische Streit zwischen Leipzig und Zürich drehte sich wesentlich um die Frage, wie die ›regellose‹ englische Dichtung – und hier besonders John Miltons Paradise Lost (1667) – zu beurteilen sei. 1732 verkündet Gottsched in einem Brief an Bodmer, dass er »begierig« sei zu erfahren, wie Bodmer seine literaturkritische Theorie auf Milton beziehe, also »die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regellose EinbildungsKraft, als des Miltons seine war, entschuldiget werden kan.« Davon sei sicherlich »viel Gutes zu Beförderung des guten Geschmackes« zu erwarten.220 Bodmer, der Miltons Werk seit 1724 im Original las und übersetzte, argumentierte gegen Gottsched (der sich seinerseits einzig auf Voltaires Milton-Kritik stützen konnte) und zitiert zur Verteidigung die Milton-Apologie des englischen Literaturkritikers Joseph Addison. 221 Der »[c]ritische[] Advocat« benötigt »sichern Geschmack, [...] festes Urtheil, aufrichtige Critick«. Das alles fehle Voltaire und Magny, wenn sie Milton kritisierten (Bodmer 1740: 115 f., 158, 265). Bereits in der Vorrede zu seiner Übersetzung des Verlust des Paradieses von 1732 avisiert Bodmer einen prinzipiellen Diskurswechsel: nicht mehr die gelehrte Kritik und der Gelehrtenstreit über philologische Details sind es, gegen die er sich in seiner Vorrede verwahrt. Vielmehr eröffnet er in der Vorrede eine Perspektive auf das gesamte Publikumsspektrum. Dazu dient ihm der Rückgriff auf die Milton-Verteidigung Addisons als Argumentationsbasis: Addison habe für die »Engelländische[] Nation insgemein« Miltons Dichtung angeeignet. Mit seiner eigenen Übersetzung wolle Bodmer »so wohl Frauenzimmer als Mannspersonen von allerley Stande, Alter, Lebensart und Wissenschaft« mit Miltons Dichtung bekannt machen
220 | J. Ch. Gottsched an J. J. Bodmer, Br. v. 7.10.1732 (Gottsched 2007, II: 309). 221 | Zur frühen Milton-Rezeption Bodmers vgl. immer noch Bodmer 1893.
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(Bodmer 1732, Vorr.: Bl. )(2v). Der erweiterte britische Begriff von Literaturkritik wird von Bodmer also literatursoziologisch adaptiert. Die Leipziger Critischen Beyträge von 1739 zeigen sich – wenig verwunderlich – überrascht von der Anmaßung Bodmers, der das deutsche Publikum zwingen wolle, »ein ausländisches Buch zu bewundern, weil er es übersetzt hat« (Gottsched 1739: 659). In der von Gottsched kritisierten Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie hatte Bodmer eine breit angelegte Leserkritik eröffnet. So fragt Bodmer in der Vorrede nach den Ursachen einer ausgebliebenen Milton-Rezeption im deutschsprachigen Raum, die »im Zustande der deutschen Leser zu suchen« sei.222 Doch macht Bodmer nicht etwa die ›gelehrte Welt‹, sondern das »so genannte Publici« als Adressaten seiner Milton-Übersetzung aus ()(2r). Dem von Gottsched223 erhobenen Vorwurf, die am literaturkritischen Diskurs Beteiligten (in Gottscheds Sicht also die Gelehrten) hätten keinen Gefallen am Paradise Lost gefunden, begegnet Bodmer mit dem Hinweis, dass das (breite) Publikum Miltons Werk noch gar nicht beurteilt habe, sondern einzig die (gelehrten) Kunstrichter, die sich zu »Statthalter[n]« ()(2r) des allgemeinen Publikums ermächtigt und ihr Urteil gesprochen hätten. Da es im deutschen Reich keine Hauptstadt gebe, könne es weder einen Kritikerpapst noch ein eindeutiges Urteil zu Milton geben. Darüber hinaus stützen sich die Engländer in ihrer Urteilsfindung auf Empfindungen, während die deutschen Kunstrichter an abstrakten Kategorien festhielten ()(4v). Bodmer nun will nicht die abstrakte Perspektive dieser abgehobenen Kunstrichter einnehmen, sondern die Perspektive des »niederigern und zugleich grössern Haufen[s]« ()(4v), richte sich doch die deutsche Kunstrichter-Kritik primär gegen den Inhalt von Miltons Epos (und nicht gegen Bodmers Wechsel von Versmaß zu Prosa in der Übertragung).224 Bereits in der Vorrede seiner MiltonÜbersetzung verteidigt Bodmer den Wechsel vom Versmaß zur Prosa, und er legitimiert diesen Wechsel durch Berufung auf den Geschmack: eine geschmackvolle Übersetzung zeichne sich dadurch aus, dass sie das Original »mit dessen [des Übersetzers] eigenen Geist und der absonderlichen Art, so die Gedancken darinne [im Gedicht] haben, unverletztet ausdrücke[]« ()(5v). Das ger
222 | Bodmer 1740, Vorr.: Bl. )(4 . Mit Paginierung im Text zitiert. 223 | Bodmer argumentiert gegen Gottsched (der sich seinerseits auf Voltaires Milton-Kritik stützt) und zitiert zur Verteidigung Addisons Milton-Apologie, vgl. Bodmer 1740: 115 f., 158, 265. 224 | Bodmers Literaturkritik ist widersprüchlich, da sie eine elitäre Literaturkritik verwirft und ihr zugleich huldigt: »Ein gewisses Kennzeichen, daran ihr einen Kunstrichter, der weder Geschmack noch Gelahrtheit hat, erkennen könnet, ist dieses, daß er sich selten waget, eine Stelle in einem Verfasser zu loben, welche nicht zuerst bey dem grossen Haufen Beyfall erhalten hat, und daß seine gantze Critick sich alleine bey kleinen Fehlern aufhält.« (Bodmer 1740: 265).
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schmackvolle von Bodmers Übersetzung hat sich u. a. auch daran zu erweisen, wie Miltons Verwendung »fremde[r] Mundarten« und »alte[r] machtvolle[r] Wörter« integriert wird.225 Zur Explikation verweist Bodmer auf Johann Ulrich König, dessen einflussreiche Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht= und Redekunst 1727 erschienen war.226 Die gelehrten Kunstrichter, die sich diese Übersetzungspraxis nicht zu eigen machten und stattdessen an der formalen Imitation festhielten, hätten einen »übel befestigten Geschmack« ([6]r). Die zur Milton-Übersetzung zugehören literaturkritischen Schriften Bodmers (»unterschiedene[] Critische[] Aufsätze«) dienen folglich dazu, den »Geschmack« der Leser zu fördern und sie mit dem Befremdlichen von Miltons Dichtung vertraut zu machen ([7]rf.).227 Die Übersetzungspraxis Bodmers wird flankiert von einer Übersetzungstheorie, die zugleich literaturkritisch zurückgebunden ist und den Einverleibungsdiskurs ausagiert. Am Paradise Lost entfaltet Bodmer also einen Geschmacksbegriff, der zwischen Gefühl (»Empfindungen«) und Verstand vermittelt sowie zwischen einem breiten und einem spezialisierten Publikum. Die deutschen Negativurteile zu Milton führt Bodmer auf »de[n] Mangel an Fähigkeit auf Seite der […] Kunstrichter« zurück; dem sei nur zu begegnen, indem das Publikum (die »geschicktesten Leser«) in den literaturkritischen Diskurs miteinbezogen würde ([)(6]v). Bodmer legt also – anders als Gottsched – wert auf die Publikumswirkung, die ein literarisches Werk, aber auch seine zugehörige Literaturkritik entfaltet.228 Er führt daher an: »Ich habe viele besondere Nachrichten und Anmerckungen einfliessen lassen, welche dienen, die Fähigkeit des Leser zu erweitern, ihn in die Gedancken, und Vorstellungen des Poeten einzuführen, und die Vorurtheile, welche desfalls im Lichte stehen, wegzuräumen.«229 Was Bodmer
225 | Bodmer 1732, Vorr.: Bl. [)(6]v. Mit Paginierung im Text zitiert. Vgl. auch Bodmer, Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese [1742] (SCPS 1742, III: 78 f.). 226 | König ist es auch, der Ernst Gottlieb v. Berges Erstübersetzung des Paradise Lost (unter dem Titel Das verlustigte Paradis, 1682) nach Zürich vermittelt, vgl. Johann Ulrich König an Johann Jacob Bodmer, Br. v. 30.4.1725 (vgl. Zentralbibliothek Zürich, Ms. Bodmer 39.2 sowie 3.12). König zitiert in seiner Untersuchung aus Berges Milton-Übersetzung. 227 | Vgl. auch Bodmers Character der Teutschen Gedichte (1734), wo die personifizierte ›Critica‹ die Geschmacksbildung der Deutschen herleitet und gegen den ›schwachen‹ und ›leckern‹ Geschmack der sächsischen Dichterschule argumentiert. 228 | So Bodmer in seiner Erwiderung auf Gottscheds Kritik an seiner Milton-Übersetzung wie an seiner Critischen Abhandlung in Bodmer, Ablehnung des Verdachts, daß die Schweitzerische Nation sich habe überreden lassen, an Miltons Verl. Par. einen Geschmack zu finden [1741] (SCPS 1741, II: 73 f.). Vgl. auch Wetterer 1981: 163. 229 | Bodmer, Abhandlung von der Schreibart in Miltons verlohrnen Paradiese [1742] (SCPS 1742, III: 75).
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durch die Einführung des Geschmacksbegriffs und seine Applizierung auf die literarische Kommunikation zwischen Autor, Werk, Publikum und Literaturkritik erreichen will, ist eine »Neuorientierung der Kritik durch die Naturalisierung seiner [Bodmers] abstrakten Maßstäbe.« (Martus 2007: 159) Einerseits entfaltet Bodmer daher eine Genieästhetik, die den genialen Autor zum »second maker under jove« (Shaftesbury) erhebt und damit jeder Beurteilungsfähigkeit enthebt (Martus 2007: 164). Wenn Dichtung jedoch nicht- bzw. selbstrepräsentativ ist, dann kommt dem Literaturkritiker andererseits die Aufgabe zu, das literarische Werk dem Publikum zu vermitteln – der Kunstrichter wirkt als Advokat bzw. Mediator und Koch, der durch seine Kritik das Werk einem breiten Publikum ›schmackhaft‹ macht (er wirkt also nicht mehr als richterlichte Instanz innerhalb der Res publica litteraria). Das »gefährliche Schisma«, das infolge der mangelnden Übereinstimmung des Geschmacksbegriffs Leipzig und Zürich trennt, liegt in der doppelten Erkenntnisleistung begründet, die Bodmer vom Literaturkritiker fordert: »mit dem Hertzen verstehen und mit dem Verstande glauben.«230 Dass sich die Praxis der literaturkritischen Sinnlichkeit an Miltons biblischen Epos bewährt, ist kein Zufall: ist doch in Miltons Epos, das die biblischen Texte in weltliche Dichtung überträgt, auch die Erzählung vom Sündenfall enthalten. In diesem Zusammenhang thematisiert Milton den Geschmacksdiskurs, wenn Adam bekennt: »Eva/ itzo sehe ich, du hast einen geschickten und zierlichen Geschmack, der kein geringes Stück der Weisheit ist; gestalten wir das Wort Geschmack auch von der Wissenschaft brauchen, und den Gaume[n] verständig heissen.« (Bodmer 1732: 111)231 Die Früchte der Erkenntnis sind vom Schöpfer wohlweißlich geschaffen worden: Eva wendet […] sich mit ausrichtsamen Blicken hurtig um, in ihren Gedancken beschäfftigt, was für auserlesene Gattungen der leckersten Spiesen sie erkiesen, und was für eine Ordnung sie in deren Auftischung beobachten wolle, daß sie die von ungleichem Geschmack nicht vermische, nicht übel und unzierlich zusammen füge, sondern eine Gattung des Geschmackes nach der an232 dern mit der artigsten Abwechselung auftrage […]. (Bodmer 1732: 175)
230 | Bodmer, Ablehnung des Verdachts, daß die Schweitzerische Nation sich habe überreden lassen, an Miltons Verl. Par. einen Geschmack zu finden [1741] (SCPS 1741, II: 80). 231 | »Eve, now I see thou art exact of taste | And elegant, of Sapience no small part, | Since to each meaning savour we apply, | And Palate call judicious«; für einen detaillierten Textvergleich siehe Viles 1903. 232 | »And Eve within, due at her hour prepar’d | For dinner savourie fruits, of taste to please | True appetite, and not disrelish thirst | Of nectarous draughts between, from milkie stream,| Berrie or Grape: to whom thus Adam call’d.«)
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Die literaturkritische sinnliche Erkenntnis als »Erkänntniß des Guten und auch des Bösen« (Bodmer 1732: 99) realisiert sich damit in der dreifachen literaturkritischen Praxis des Liebens, des Tötens und des Verzehrens und ist zugleich an den alttestamentarischen Erkenntniszusammenhang rückverwiesen. Als diskursive Praktiken treten lieben, töten und essen bereits in der Erzählung vom Sündenfall zusammen – als »Buch der Bücher« erzählt die Bibel vom todbringenden Baum der Erkenntnis: Eva pflückt, verführt von Satan, den Apfel, verzehrt ihn gemeinsam mit Adam, beide erkennen ihre Blöße und werden sterblich (Gen 3,6). Bodmer wirkt für die Milton-Rezeption nicht nur durch seine Übersetzung. Auch den jungen Theologiestudenten Johann Heinrich Füßli nimmt er 1763 unter seine Fittiche und vermittelt ihm Kenntnisse des Nibelungslieds, Homers, Dantes, Shakespeares – und Miltons. Füßli gibt das Theologiestudium auf, tritt in die Fußstapfen seines Vaters und wird – ab 1788 – Maler an der Royal Academy in London. Bereits im calvinistischen Zürich setzt er sich mit Miltons Paradise Lost auseinander und versucht sich 1776 in Rom erstmals an einer graphische Umsetzung des biblischen Epos. In der englischen Hauptstadt wirkt Füßli ab 1791 an der Planung einer Milton Gallery mit, die sich am Vorbild von John Boydells berühmter Shakespeare Gallery orientiert (Becker 1997: 10 f.; Calè 2006: 184 ff.). Zwar ist die Verkaufsausstellung mit Füßlis 50 Gemälden nicht sonderlich erfolgreich, doch finden seine Bildmotive Eingang in die illustrierten Milton-Ausgaben vom beginnenden 19. Jahrhundert. Dem Sündenfall hat Füßli mehrere Bilder gewidmet, er bildet gleichsam den Kern des Bildprogramms. Die Verführung der Eva (The Temptation of Eve) durch Satan hat sich in einer Ölskizze erhalten, die durch den englischen Kupferstecher Peltro William Tomkins in der Milton-Ausgabe von 1805 popularisiert wurde (siehe Abb. 11, vgl. Schiff 1973 I: 650 [Nr. 41] sowie Nr. 1022 u. 1215). Im Zentrum der Sündenfallerzählung steht jedoch das Pflücken des Apfels durch Eva, und es ist signifikant, dass sich von diesem ›erkenntnisstiftenden‹ wie todbringenden Moment kein Gemälde Füßlis erhalten hat, sondern lediglich ein dynamischer Federtuschentwurf: Eva am Baum der Erkenntnis (Eve at the Forbidden Tree) illustriert Paradise Lost IX, 780–784.
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Abbildung 11: Peltro William Tomkins, The Temptation of Eve (nach J. H. Füßli) [1805]
c. Kritik und Geschmack: Die sinnliche Urteilskraft In der sinnlichen Urteilskraft des Geschmacks schießen die Urteilskraft des Gefühls und des Verstandes zusammen. Doch markiert diese Ess-Thetik keineswegs einen historischen Kulminationspunkt. Vielmehr verbildlicht sie eine mögliche literaturkritische Praxis, die zu unterschiedlichen Zeiten, appliziert auf unterschiedliche Texte und praktiziert von verschiedenen Kritikern, sich je anders realisiert als die liebende oder die tötende Praxis der Literaturkritik. Bereits der französische Klassizist Nicolas Boileau-Despréaux hatte in seiner dritten Satire Die verdrießliche Gasterey (Le repas ridicule, 1665) Essen und literarischen Geschmack zusammengedacht233 und als Farce gestaltet. Boileau schildert, wie ein Adliger eine bürgerliche Gesellschaft besucht, die erfolglos versucht, Geschmack zu demonstrieren: die dargebrachten Speisen ebenso wie die literarischen Gespräche fallen in sich zusammen, sind dilettantisch ›zubereitet‹; weder kann der Gastgeber (wie angekündigt) mit der Päsenz von Molière und Lambert ›aufwarten‹, noch sind seine Speisen essbar. Vielmehr sind sie »so angebrandt/ | Daß man vor dem Gestanck/ sich selbst nicht mehr empfand.« (Boileau 1694: 15) Auch die ausgeschenkten Weine eignen sich nur für ein »elend Sauffen« (16), so dass der Gast fürchten muss, dass ihn »deß Gifftes
233 | Boileau überführt damit den imitativen und rhetorischen Geschmacks-Diskurs in den literarischen, vgl. Moriarty 1988: 171 ff.
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Macht/ | […] ohn alle Gnad/ ohnfehlbar umgebracht.« (16) Bei den beiden übrigen Gästen, die unkritisch die Kochkünste und die literarische Urteilskraft ihres Gastgebers loben, handelt es sich um »zwey Edelleuth/ die rochen nach dem Felde/ | Sie stancken von Roman« (14 f.) Auf den Hausherren werden Trinksprüche, Gedichte und Lieder ausgebracht (18 f.), um schließlich, bereits im Zustand der Volltrunkenheit, literaturkritische »Urtheil[e]« über »Guts und Böses« (20) zu fällen. Die Positivurteile der Gäste zu den »köstlich ausgeführet[en]« (21) Werken Pierre Ronsards, Pugets de La Serre, René Le Païs, Philippe Quinaults und Jean Chapelains stehen in diametralem Widerspruch zu Boileaus eigener Beurteilung in dessen literaturkritischem Lehrgedicht L’Art poétique. Die strittigen Fragen des literaturkritischen Urteils werden im wahrsten Wortsinne durch ungeheuren Weinkonsum ›ersäuft‹ (22) und enden tumultarisch im allgemeinen Handgemenge. Vor diesem flieht endlich der Ehrengast als ›Mann von Geschmack‹. Boileau also als »große[r] Kunstrichter« (Gottsched 1750: 370), »ein Verbesserer des Geschmackes in Frankreich«,234 »dessen Aussprüche von kritischen Dingen, für Regeln der gesunden Vernunft und des guten Geschmackes gehalten werden«,235 wie Gottsched schreibt? Der Geschmack ist jene literaturkritische Kategorie, die sich im 17. Jahrhundert entwickelt, im 18. Jahrhundert durchsetzt und literaturkritische Erkenntnis und literaturkritische Wahrheit nicht ersetzt, jedoch ergänzt.236 Vier Ahnherren hat der Geschmacksdiskurs des 18. Jahrhunderts: Baltasar Gracián definiert in seinem Werk El discreto (1646) den Geschmack als durch Erfahrung und Reflexion erworbene Kunstfertigkeit, der in allen Lebenslagen die richtigen Entscheidungen, frei von Vorurteilen, zu treffen erlaubt. Der Moralist François de La Rochefoucauld ergänzt in seinem Werk Von den Geschmäckern (Des goûts, 1678), dass Geschmack ein spontan-
234 | Gottsched, Bielfelds »Progrès des Allemands« [Rez., 1752] (NAG 1752: 685). 235 | Gottsched, Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey [1752] (NAG 1752: 65). 236 | Zur antiken Tradition sowie zur Umstellung auf den Buchmarkt (Negierung der Rhetorik und des Mäzenatentums) im 17. Jahrhundert vgl. Gabler 1982: S. 205 ff. Im 17. Jahrhundert bewährt sich der Geschmacks-Diskurs als intellektuelles Vergnügen (und nicht als Lobrede an den Gönner oder durch rhetorisches Können, 211). Mit diesem Wechsel tritt auch der ›schlechte‹ Geschmack in Erscheinung, da Literatur nun auf den Beifall des breiten Publikums angewiesen ist. In der Folge kommt es zu erbitterten Kämpfen um die Definition von Geschmack (231), da das kritikfähige Publikum letztlich nicht eingeschätzt werden kann – verbindliche Normen existieren nicht mehr, Literaturkritik wird (wie die Moderne) zum unabgeschlossenen Projekt (vgl. auch Schümmer 1955, mit kritischen Einschränkungen zur ästhetischen Begriffsgeschichte, soweit sie Gracián als Begründer des Geschmacks-Diskurses betreffen). Zur Geschmacks-Debatte seit Gottsched vgl. Brückner 2003: 36 ff.
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unreflektiertes Urteil erlaube, das die Besonderheit und Einmaligkeit von Menschen, Dingen und Kunstwerken beurteilt. Shaftesbury verteidigt 1710 in seiner Soliloquy. Advice to an Author den Kunstkritiker und weist ihm – über die Kunstkritik hinaus – die Aufgabe zu, für Geschmacksstandards und Geschmacksbildung einzutreten. 1712 schließlich setzt sich Addison im Spectator mit der dem Begriff »Taste« auseinander: Geschmack fungiert als Unterscheidungskriterium einer nicht-regelhaften Ästhetik. Die verfeinerte (›bürgerliche‹) Geschmackskultur richtet sich also gegen die überbordenden (höfischen) Gelage des 17. Jahrhunderts, bricht jedoch nicht völlig mit ihnen, da die (neuen) ›Feinschmecker‹ durchaus noch der ›Genusssucht‹ – jedoch ausgeweitet auf alle gesellschaftlichen Stände – frönten (Camporesi 1990: 32, 69 f.). Den neuen Zeitgeist der verfeinerten Geschmackskultur und ihre atavistischen Wurzeln hat Boileau also satirisch geschildert als Durchsetzung eines neuen Lebensgefühls im Zeitalter der Aufklärung. Wie in der Tischkultur das dunkle Fleisch durch Geflügel und die Pastetenpyramiden durch Küchlein ersetzt werden, so distanziert sich auch die literaturkritische Geschmackskultur von der barbarischen Aggressivität feudaler Tischkultur: der Geschmacks-Reform korrespondiert eine Literatur-Diätik (mit pharmakologischen Implikationen, vgl. Camporesi 1990: 57 f., 73). Vorangegangen war Christian Thomasius, der seinem Discours welcher Gestalt man denen Frantzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen solle (1690) ein Motto des spanischen Jesuiten und Schriftstellers Baltasar Gracián voranstellt: »Er [der Philosoph] bemühe sich jedwedes Schmack und Phantasie zu vergnügen/ welches denn/ rechte methode zu wehlen ist. Denn es gehet eben wie mit einem Gastgebote zu/ woselbst die Speisen nicht nach dem Geschmack des Koches/ sondern derer [E]ingeladenen zugerichtet und abgewürtzet werden müssen.« (Gracián 1686: 213) Im Rahmen der Decorum-Lehre stellt Thomasius auf die Publikumsperspektive um (vgl. Sinemus 1978: 161); Ingenium und Iudicium werden – der barocken Rhetoriklehre folgend – auf die Urteilsfähigkeit des Verstandes bezogen, der Geschmack hingegen auf die Urteilsfähigkeit der unteren Sinnesvermögen (vgl. Sinemus 1978: 164). Gracián differenziert noch Iudicium und Geschmack: »Es soll ein weiser Staatsmann mit einen von vieler Wissenschafft angefülleten Verstand/ tieffsinnigen judicio, und subtilen Geschmack/ die Abwürzung und Güte iedwedes Dinges zuprüffen/ wohl versehen und begabet seyn.« (Gracián 1686: CCXCVIII. Maxime) Gadamer hat festgestellt, dass der Geschmack bei Gracían noch rein sinnlich und animalisch konnotiert sei, aber als »Ideal einer Bildungsgesellschaft« eine Unterscheidung von Gutem und Schlechtem und damit die Überführung des moralischen in den ästhetischen Diskurs bereits ermöglicht habe (Gadamer 1960:
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41, vgl. auch Lemke 2007: 349 f.). Damit ist eine Urteilsfähigkeit ausgebildet, »in dem sich geistige Freiheit« manifestiert.237 Thomasius hingegen vereint diese Positionen im Rahmen seines Politicus-Ideals der »sehenden Klugheit« (Sinemus 1978: 166). Die Geschmacksnormen leitet Thomasius nicht aus metaphysischen Ordo-Prinzipien ab und auch nicht aus naturrechtlichen Axiomen, »sondern aus den Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs vorbildlicher Personen« untereinander (Sinemus 1978: 167). Der kritisierte Autor wird ebenso wie das Publikum als Kommunikationspartner aufgefasst und die Literaturkritik als soziale Interaktion praktiziert. Oder, um mit Johann Gottfried Herder zu sprechen: »Der Koch kocht für die Gäste, nicht für Köche«.238 Voll entfaltet wird der französisch-höfische Geschmacksdiskurs in Johann Ulrich Königs Kurzer Untersuchung des Geschmacks in der Dicht- und Redekunst (1727). König war als sächsischer Hofpoet und Herausgeber von Barthold Hinrich Brockes Marino-Übersetzungen eine Gestalt des Übergangs zwischen höfischer und bürgerlicher Sphäre, zwischen ›Spätbarock‹ und ›Früher Aufklärung‹ (Amann 1999: 241–256). Er bestimmt (in Anlehnung an den französischen Sentimentalismus, namentlich von Crousaz und Dubos) den dem Bel esprit zuzurechnenden Geschmack als »gesunde[n] Witz und scharffe[] Urtheilungs=Krafft«, die es erlaubten, »das wahre, gute und schöne richtig zu empfinden« (König 1727: 259). König unterfüttert Dubos, der sich von den klassizistischen Vorgaben des Je ne sais quoi abgelöst und die emotiven Bedürfnisse des Publikums stärker berücksichtigt hatte, mit aufklärerischem Gedankengut (Amann 1999: 248). Schlechten Geschmack schreibt König der »Gewohnheit des Verstandes« zu.239 Zur näheren Bestimmung des Geschmacks-Begriffs nimmt König eine Aufteilung in einen aktiven und einen passiven Geschmacksbegriff vor, den er mit Hilfe von kulinarischen Metaphern verdeutlicht. Durch den »Geschmack der Zunge« (260) würde der »äusserliche[] Sinn, welcher eine solche Beschaffenheit der Speisen empfindet«, ›kosten‹ und ›entscheiden‹ (d. h. urteilen): »Daher sagt man nicht nur, daß eine Speise oder Brühe von gutem Geschmack sey, sondern auch, daß der Koch einen guten Geschmack habe.« (260) Während im Lateinischen Sapor (das Wissen um die Güte des Geschmacks) und Gustus (die Wahrnehmung des guten Geschmacks) unterschieden seien, würden die Deutschen im Anschluss an die französische Bedeutung des Goût das Wort ›Geschmack‹ in dieser doppelten Bedeutung gebrauchen, »[s]o daß der Geschmack manchmal die Fähigkeit bedeutet, welche würcket, und bißweilen die Würckung, so hervor gebracht worden.« (261) Die-
237 | Vgl. auch Gadamer 1960: 40–47. 238 | Herder, Humanitätsbriefe [1793–1797] (HFA 7: 653, 113. Br.). 239 | König 1727: 259. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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ser Geschmack erstrecke sich »über alles, und ist allen Völckern gemein, wie die menschliche Vernunfft« (261). Bei Gottsched und König wird der Anteil »sinnlicher Empfindung am Geschmacksurteil und die Eliminierung jeglichen Ansatzes zu historischer Individuation« (Sinemus 1978: 170) – im Vergleich zu Thomasius – reduziert. Wenn nun aber der Geschmack auf sinnlicher Erkenntnis beruht und diese wiederum allgemein gleich ist, wie kommt es dann zu unterschiedlichen Geschmacksurteilen? ›Geschmack‹ und ›Urtheil‹ hätten nach König »fast einerley Beschaffenheit, [...] indem das, was sie bezeichnen, aus einerley Vermögen der Seele herrühret« (272). Einzig nach ihrer ›Würckung‹ ließen sich Geschmack und Urteil unterscheiden. Geschmack nenne man, wann die Seele auf den ersten Eindruck eines Gegenstandes, durch eine natürliche oder verbesserte, aber doch fertige Empfindung urtheilt. Und hingegen heist man das ein Urtheil, wann die Seele nach vorher geschehener Verknüpffung oder Trennung unterschiedener Begriffe, durch Beweiß=Gründe schließt. (272, Hvhbg. CSM)
Damit stellt König die seit Descartes bekannte Vernunfterkenntnis (Res cogitans) der Geschmackserkenntnis (Goût) gegenüber, etabliert aber Geschmack als ästhetisches Kriterium der Aufklärung (Amann 1999: 251).240 Während die letztere die ›fertige Empfindung‹ beschreibe,241 begründet die erstere ihr Urteil durch vernünftige Beweisketten. Geschmacksurteile werden also schnell (›fertig‹) gefällt, während sich die kognitive Erkenntnis langsam vollzieht. Beide Formen der Urteilsbildung können jedoch koexistieren und schließen sich keinesfalls aus: »Demnach ist der Geschmack eine fertige, und das Urtheil eine bedachtsame Untersuchung, welche beyde, falls derselbe vollkommen seyn soll, bey einander stehen müssen.« (König 1727: 277) Geschmack und Urteil werden 240 | König schätzt die Griffigkeit der Geschmacksmetapher zur ästhetischen Vermittlung: »Da nun die Schlecker-Mäuler ihre gröste Wollust in dem Geschmacke suchen, und von geistigen Dingen, durch diese cörperliche Vergleichung sie die beste Vorstellung machen können, so mag solches zur Erwehlung dieses Gleichniß-Worts ein vieles beygetragen haben.« (König 1727: 396 f.) 241 | Zum Begriff ›fertig‹, der Geschmack und Geschwindigkeit vereint vgl. Grimm III: Sp. 1548– 1554. Noch 1755 rekurriert Friedrich Nicolai in den Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland auf Shaftesburys literaturkritische Geschmackskategorie: »Dieser berühmte Schriftsteller [i. e. Shaftesbury], der dem Geschmakk nicht allein die Herrschaft über das Reich des Wizzes einräumet, sondern der auch die Fertigkeit in der Weltweisheit und Sittenlehre, das Wahre von dem Falschen, zu unterscheiden, einen Geschmakk zu nennen beliebt, und dadurch die schönen und höhern Wissenschaften auf einen einigen Grund zu bauen gedenkt, dem also der Begriff des Geschmakks weit wichtiger und fruchtbarer war, als er nach der gemeinen Erklärung ist, giebt gleichwohl die Bemühungen der Kritik als das einzige Mittel an, einen richtigen und sichern Geschmakk zu erhalten.« (Nicolai 1755: 185).
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bei König komplementär gedacht: Während die sich aus der französischen sensualistisch-materialistischen Tradition herschreibenden sinnliche Erkenntnis allen Menschen offen steht, ist die kognitive Erkenntnis nur in der Wissenschaft gebräuchlich – »Urtheile« der sinnlichen Erkenntnis sind durch »Beweiß=Gründe« (König 1727: 272) zu verifizieren. Dadurch kommen die Geschmacksurteile zu Klarheit, wo die kognitive Erkenntnis zu deutlichen Urteilen kommt.242 Ergänzend wirkt der englische Sensualismus:243 David Hume reflektiert 1757 in Von der Grundregel des Geschmacks über die Feinheit des künstlerischen Geschmacks, indem er betont, dass »eine gute Zunge […] nicht mit starkschmeckenden Speisen geprüft [wird], sondern durch eine Mischung allerhand kleiner Zuthaten, worinn man doch noch ein jedes schemcken kann, so klein und so sehr es auch mit dem übrigen vermischt sey.« Auch wenn ein solcher feiner Gaumen eine gesellschaftliche und existentielle Belastung darstellen könne, so erfahre die »Zärtlichkeit des Geschmacks« immer Billigung, sofern sie auf »diejenigen Muster und Grundsätze« zurückgehe, »welche durch den einmüthigen Beyfall und die Erfahrung aller Zeiten und Völker als ausgemacht angenommen worden sind.« (Hume 1757: 254 f.) Die ursprünglich höfische Geschmackskultur gibt in ihrer sensualistisch reflektierten Form v. a. dem bürgerlichen Publikum eine Orientierung an die Hand, mit deren Hilfe es eine eigene Urteilskraft entfalten soll, die nicht länger an die strikten Vorgaben der Regelpoetik gebunden ist und dem galanten Geschmacksideal huldigt. Edward Young formuliert 1759 als geistiger Stammvater dieser Rebellion gegen die rationalistische Geschmackskultur: »Denn Regeln sind wie Krücken, eine nothwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden.« (Young 1760: 29) Indem der Geschmacksbegriff der ästhetischen Theorie gegen das Je ne sais quoi – von Christian Thomasius als ›das gewisse Etwas‹ in den deutschen Sprachraum integriert – des französischen Klassizismus (Dubos, Bouhours, Crousaz) eingesetzt wird, bildet er die Grundlagen einer Gruppenzughörigkeit: das Geschmacksurteil erlaubt die Idealbildung einer bürgerlichen Gesellschaft, die in der Gemeinsamkeit des Urteils und nicht in der Gleichheit des Standes ihr Verbindendes findet.244 ›Geschmack‹ wird zu einer universellen Kategorie, 242 | Zu den Begriffen ›klar‹ und ›deutlich‹ vgl. Grimm XI: Sp. 981–1000; II: Sp. 1041–1050. 243 | Zum Übergang von den normativen Verfahren (John Dennis) zu sensualistischen (David Hume) und gesellschaftstheoretischen (Henry Home) Ansätzen vgl. Klein 1967. 244 | Ähnlich wie in der vorbildhaft wirkenden französischen Kultur wird hierbei die GeschmacksKultur des Adels pädagogisch angeeignet (und habitualisiert), ehe das Bürgertum auf den ökonomischen Diskurs umstellt und ›Geschmack‹ zur symbolischen und schließlich monetären Kapitalakkumulation nutzt, vgl. Bourdieu 1979: 103, 127. Kunst ist im Bürgertum das »am nach-
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weil dieser Begriff individuelle Leiblichkeit und soziokulturelle Allgemeingültigkeit ebenso betrifft. Einseitig konzentriert die bürgerliche Kultur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich auf die kognitive Begründbarkeit des Geschmacksurteils, getreu dem Lehrsatz Christian Wolffs, dass man »von allem demjenigen, was im gemeinen Wesen vorkommet, richtigen Grund anzeigen und alles […] vernünfftig beurtheilen« können muss (Wolff 1725, Vorr.: Bl. )(5r). Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte trennt sich der Erkenntnisdiskurs vom Geschmacksdiskurs – Kant verweist bekanntlich in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) darauf, dass es in Geschmacksfragen nur Streit, aber keine Disputation geben könne (KAA I.5: 338, § 56). Guter Geschmack ist also nicht begründbar, sondern bestimmt sich aus dem geistigen Unterscheidungsvermögen (vgl. Gadamer 1960: 43). Die Geschmacksdebatte ist komplementär zur Wahrheitsdebatte: da die ›reine Lehre‹ von der Deduktion der Kunstschönen nicht unproblematisch ist, setzten die Philosophen den Begriff des Geschmacks durch, der – jenseits aller Begründungslogik – das kennerschaftliche Kunsturteil legitimiert. Kunst ist wesentlich unwägbar, doch aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken. Da sie jedoch im 17. und 18. Jh. auf Höheres zielt (göttliches Liebesgebot, Verherrlichung des Schöpfers oder des Monarchen), muss der Zugang zu ihr limitiert bleiben. Während also einerseits die Ästhetiker sich darum bemühten, literaturkritische Urteile nach allgemeingültigen und allen Menschen zugänglichen Regeln zu definieren, sind sie andererseits – wollen sie nicht ihren eigenen herausgehobene Stellung riskieren – gezwungen, die literaturkritische Erkenntnis auf einen auserwählten Personenkreis zu begrenzen. Das ermöglicht der Geschmacksbegriff, der im Ungefähren bleibt und mit Stichworten wie Je ne sais quoi den Zugang der breiten Masse zur kennerschaftlichen Kunst verwehrt. Geschmack hat man eben (oder auch nicht), er kann nicht näher begründet werden – er gewinnt seine Legitimation durch ein Know How (gewusst wie), nicht durch ein Know That (als genaue Kenntnis dessen, was ist). Aus diesem Kennerschaftsanspruch leitet sich noch heute die Abgrenzungslogik der mit Kunstbeurteilung befassten Wissenschaften (aber auch der Museen) ab. Die um die Mitte des 18. Jahrhunderts eskalierende Geschmacksdebatte, in deren Folge die Regelpoetiken von der ästhetischen Theorie abgelöst werden, argumentieren auffallend häufig mit einem einfachen Vergleich, der sich aus einer semantischen Nähe des ›Geschmacks‹ zum ›Schmecken‹ ergibt. So schreibt Georg Friedrich Meier, der als Baumgarten-Schüler gegen die Regelpoetik Gottscheds opponiert, 1744 in seinen Gedanken über die Frage: Ob ein
drücklichsten, klassenstiftende, rangverleihende Privileg«; es »eint und trennt die ästhetische Einstellung gleichermaßen.« (104)
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Kunstrichter seine Urtheile jederzeit erklären und beweisen müsse: »Gleichwie jemand eine Speise gerne essen kann, die dem andern nicht gut schmeckt, ohne daß der erste dem letztern eine verdorbene Zunge zuschreiben darf, so verhält sichs auch mit dem geistlichen [ästhetischen] Geschmacke.«245 Dass mit der Verabschiedung der Regelpoetik und der Begründung des ästhetischen Geschmacksurteils zugleich ein Problem verbunden ist, das den Anwalt der Literatur neu konfiguriert, enthüllt eine Bemerkung Meiers. Er schreibt, dass zwar allein der Geschmack die Kunstrichter »in beständiger Übung ihrer Waffen« halte, da es aber nicht möglich sei, »daß alle Kunstrichter einerley Geschmack bekommen sollten, so können sie allezeit in etwa einander die Wage halten, und dieser gesegnete Krieg ist ewig.« (21) Daher sei den »schönen Wissenschaften [...] nichts zuträglicher als beständige Streitigkeiten der Kunstrichter« (20). Die Einsicht Meiers in die Unendlichkeit der ›kritischen Kriege‹ speist sich aus der Erkenntnis, dass die Metapher des Schmeckens den Anwälten der Literatur die Möglichkeit eröffnet, sich und die rezensierte Literatur in der Matrix der »Prozeßordnung der Kritik« (Meier 1745: 223) zu verorten. Diese spannt sich zwischen zwei Polen, die sich jedoch vielfältig überlappen und überschneiden: auf der einen Seite steht eine Kunstauffassung, die ›Vernunft‹ und ›Regel‹ als Kennzeichen ›bekömmlicher‹ Literatur deklariert, auf der anderen Seite steht eine Kunstauffassung, die ›Empfindung‹ und ›Geschmack‹ zu ihren Parametern erhebt.246 Dass letzere Position ab der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts den Zuspruch von Literaturkritik wie Literaten erfuhr, aber gleichwohl das ältere Erbe der ›Geschmacks‹-Debatte (die Definition des Kritikers als Anwalt des Schmackhaften) nicht vergessen oder überholt ist, verdeutlicht der Blick auf die Metaphern, die noch um 1800 Verwendung finden. So schreibt Novalis, dass der Kritiker mittels Literaturverzehr Fremdes in eigenes verwandeln könne (Novalis 1798: 646; 620), Jean Paul bezeichnet die Kritiker als »Schmeckherren« (Jean Paul 1796: 159) die Literatur vorkosten, und Georg Christoph Lichtenberg spricht ganz unumwunden vom ›critischen Canibalism‹ (Lichtenberg 2005: 572). Gleichwohl war es ein weiter Schritt bis zu dieser Mündigkeit des Publikums, denn die Debatten um Natur, Kunst und Geschmack um die Mitte 245 | Meier 1744: 21. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 246 | Gleichwohl Bodmer und Breitinger diese ›sensualistische Wende‹, innerhalb derer literarische Negativurteile eigentlich undenkbar sind, propagieren, verfahren sie durchaus nicht zögerlich in ihren eigenen Urteilen. Im Übrigen hält der Geschmacksbegriff auch Einzug in die Kunstund Musikkritik. So schreibt der Hamburger Komponist und Musikkritiker Johann Mattheson 1744: »Was gut und gesund ist zu essen, wird auch gut schmecken; aber alles, was gut schmecket, ist darum nicht gut und gesund zu essen. […] Der Geschmack untersuchet und urtheilet zwar; aber endliche Schlüsse kann er nimmer machen.« (Mattheson 1744: 123).
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des 18. Jahrhunderts zeugen von der Furcht der Kritiker, zur Bedeutungslosigkeit verdammt zu sein, wenn erst einmal alle Bürger selber ästhetisch urteilen lernten. Daher läuft die Argumentation in dieser Zeit häufig darauf hinaus, das ästhetische Urteil des Publikums ›beherrschbar‹ zu machen, indem man entweder als Fachkritiker das Publikum im Umgang mit dem Fachwissen der Kenner unterweist oder indem die Fachkritiker das Publikum zielgerichtet in eine bestimmte Geschmacks- und Urteilsrichtung lenken. Die Gleichursprünglichkeit von Scharfrichteramt, Anwaltstätigkeit und Geschmacksdiskurs findet nicht zuletzt darin seinen Ausdruck, dass der Scharfrichter zugleich als Metzger oder Mediziner fungieren konnte, also auf magische Praktiken zurückgriff (Helfer 1964: 352 f.). Das Bewusstsein um die dunklen Ursprünge der Literaturkritik ist also durchaus noch vorhanden, wird aber im Zuge der ›ästhetischen Wende‹ um 1750 zunehmend vom ›kannibalischen‹ in den ästhetischen Diskurs überführt.247 So sind denn auch die kunsttheoretischen Texte des späteren achtzehnten Jahrhunderts fast ausschließlich Traktate zur Geschmackstheorie, die fast immer von kunsttheoretischen zu gastronomischen Beobachtungen übergehen. Die Geschmackstheorie arbeitet dabei mit einer Doppelbedeutung: wie das Kunstwerk geschmackvoll sein kann, so bedarf der Lesende bzw. Betrachtende einer kulinarischen Ausbildung, um die Schönheit des Kunstwerkes wahrnehmen zu können (Bormann 1974). Auch auf semantischer Ebene manifestiert sich dieser Umschwung, wenn im achtzehnten Jahrhundert noch der aktive und passive Gebrauch des Wortes ›Geschmack‹ geläufig ist (Stierle 1974). Spätestens bei Immanuel Kant kann das Geschmacksurteil nur mehr als geselliges Ereignis gedacht werden: »Der Geschmack ist ein Vorbothe der Geselligkeit; und Geselligkeit die Nahrung des Geschmacks.«248 Gleichzeitig wird das Geschmacksurteil in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts privatisiert, da jeder an der solchermaßen demokratisierten Geschmacksdebatte partizipieren kann (Flandrin 1991). In seiner Abgrenzung des Erkenntnisurteils vom Geschmacksurteil hat Kant letzteres als niedere Erkenntnisart eingeführt, die zwar Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, selbst aber formal nicht verallgemeinerbar ist – Kant lehnt den kulinarischen Geschmack »der Zunge, des Schlundes und der Gaumen«249 zugunsten der komplexeren Geschmacksreflexion ab (Bourdieu 1979: 756 ff.): »Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl
247 | Zum Geschmacks-Diskurs bei Christian Thomasius im Jahre 1688 vgl. Niefanger 2003. 248 | Kant, Vorlesungen über Logik [1772] (KAA IV.1/1: 355). 249 | Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1796/97] (KAA I.7: 157, § 20).
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gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.«250 Dennoch bleibt der Geschmack ein »gesellschaftliches Phänomen ersten Ranges« (Gadamer 1960: 41) – und daher umstritten. Das hängt auch damit zusammen, dass der Begriff der Urteilskraft, die das Geschmacksurteil durchdringt, juristisch fundiert ist: der hermeneutischen Leistung der Jurisprudenz – die Konkretion des allgemeinen Rechts in Hinsicht auf den konkreten Rechtsstreit – korrespondiert die Funktion der Urteilskraft. Das bedeutet: der Richter wendet Gesetze nicht nur an, sondern entfaltet das Recht in der Gesetzesanwendung – übertragen auf die Literaturkritik bedeutet dies, dass der Kunstrichter das einzelne ästhetische Werk nicht nur am allgemeinen Geschmack misst, sondern in seinem Urteilsspruch dieses allgemeine ›Urteil‹ auf den konkreten ›Fall‹ anwendet (Gadamer 1960: 44; 323f). Im Reflexivwerden des Geschmacksbegriffs wird Kritik selbst zu einem kulinarischen Akt: »So viel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche«, diskreditiert Kant die ältere regelpoetische Auffassung von Literaturkritik.251 In seiner Anthropologisierung der Urteilskraft durch die Verbannung des Geschmacksbegriffs aus dem Bereich von Recht und Sitte252 sowie durch seine Legitimierung der auf die subjektive Allgemeinheit des ästhetischen Geschmacks zielende Genieästhetik ›erledigt‹ Kant die auf Objektivität – d. h. auf Erkenntnis und Wahrheit zielende – Literaturkritik (vgl. Gadamer 1960: 47). Kant unterscheidet Naturschönheit und Kunstschönheit253 und spricht dem Geschmack jede Erkenntnisbedeutung ab, weil nach Kant den Geschmacksbegriff nicht auf die Ästhetik restriktiert ist, sondern als anthropologische Konstante gefasst werden müsse (vgl. Gadamer 1960: 49). Diese wiederum ist bestimmt durch Kants Verdikt, dass ›schöne Kunst Kunst des Genies‹ sei.254 Auch wenn Kant den Geschmacksbegriff überhaupt im Zusammenhang mit der Genieästhetik argumentativ zu behaupten sucht, so setzt doch mit dem Aufkommen des Geniegedankens der Niedergang des Geschmackbegriffs ein.255 Für die Beisetzung eines aufgeklärten Begriffs und Verfahrens von Literaturkritik ist denn auch weniger Kant verantwortlich, der sich noch um die Vermittlung von Geschmackbegriff und Genieästhetik bemüht, als vielmehr der deutsche Idealismus, namentlich Hegel, Fichte und Schelling (vgl. Gadamer 1960: 88).
250 | Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] (KAA I.5: 223, § 13). 251 | Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik [1783] (KAA I.4: 366). 252 | Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1796/97] (KAA I.7: 249 ff., § 72). 253 | Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] (KAA I.5: 311, § 48). 254 | Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] (KAA I.5: 311, § 48). 255 | Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] (KAA I.5: 311, § 48).
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Das Verhältnis von Geschmacksurteil und kognitiver Erkenntnis ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts Thema zahlreicher Kunst- und Ästhetiktheorien, die das moderne Denken wesentlich geprägt haben. Angefangen bei Johann Joachim Winckelmann (1759) über Johann Georg Sulzer (1771) bis zu Georg Forster (1788) entspinnt sich anhand der Debatte von Geschmack, Schmecken und Schönheit ein ess-thetischer Diskurs um die psychologische Beurteilungsfähigkeit von Kunstwerken. Johann Joachim Winckelmann leitet diese Wende mit einer Konzentration auf die Grazie in Werken der Kunst (1759) ein. Er bestimmt, dass nur der »menschliche[n] Figur« Grazie zukomme; »sie ist wie Wasser, welches desto vollkommener ist, je weniger es Geschmack hat«.256 Unter dem Postulat der Natürlichkeit wird auch in Winckelmanns Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (1763) der »gemeine[] gesunde[] Verstande« negativ, da für die Erkenntnis der Schönheit abträglich, abgewertet.257 Analog wird das ›Gefühl‹ als Mittel der sinnlichen Erkenntnis aufgewertet: »Das Werkzeug dieser Empfindung ist der äußere Sinn, und der Sitz derselben der innere; jener muß richtig, und dieser empfindlich und fein seyn.«258 Weiter führt Winckelmann aus, dass »die ersten Eindrücke die stärksten sind, und vor der Ueberlegung vorhergehen«.259 Im Lexikonartikel ›Kunstrichter‹ der Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771) vermeidet Johann Georg Sulzer jede Erwähnung des Geschmacks. In seiner Bemühungen, die akademisch gebildeten Literaturkritiker vom breiten Publikum abzugrenzen, da nur sie über die nötigen Kenntnisse zur Beurteilung von Kunstwerken verfügten, negiert Sulzer den kennerschaftlichen Geschmacks-Begriff. Die vorangegangene Litertaturkritik der Gottsched-Zeit verwirft Sulzer als »eitele Ehrsucht schwacher Köpfe« und »finstere Barberey«.260 Der Kenner sei nur der Lehrer des Liebhabers, und damit unterschieden vom Kunstrichter, der als »Rathgeber des Künstlers« fungiert wie er auch über (zwangsläufige) Fehlurteile des Kenners urteilt (631). Literat und Kunstrichter werden beide als ebenbürtige Genies gleichgesetzt (632); das »gute[] natürliche[] Genie« der Kunstrichters tritt an die Stelle des Geschmacks (632). Ganz vermeiden kann Sulzer die Diskussion des Geschmacks-Begriffs nicht und widmet 256 | Winckelmann, Von der Grazie in Werken der Kunst [1759] (Winckelmann 2002: 158) 257 | Winckelmann, Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (Winckelmann 2002: 215). 258 | Winckelmann, Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (Winckelmann 2002: 217). 259 | Winckelmann, Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (Winckelmann 2002: 218). 260 | Artikel »Kunstrichter« in Sulzer 1771, II: 633. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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ihm daher einen eigenen Artikel. Auch wenn es in den Schönen Künsten einen allgemeineren Geschmacks-Begriff gebe, so müsse man doch erst »gewisse[] Fertigkeiten entwikelt«261 haben, um über Geschmack zu verfügen – also eine Spezialistenfähigkeit. Als »Vermögen das Schöne anschauend zu erkennen« (462) stehe der Geschmack höher, weil er die beiden unteren Erkenntnisvermögen des Gefühls und des Verstandes (das »sittliche Gefühl« empfinde das Schöne als »gut«, während »der Verstand es vollkommen« finde, 461) vereine. Im weiteren Argumentationsgang kann Sulzer diese Trennung nicht konsequent durchhalten und bestimmt, das »jedes Vermögen der Seele, es gehöre zum Verstand, zur Einbildungskraft oder zu dem Herzen, das seinige dazu [zum Geschmack] beytragen müsse.« (463) Selbstverständlich versucht Sulzer, sowohl die dunklen Ursprünge des Geschmacks (seine gustatorischen EssensMetaphern) zu eliminieren als auch die Geschmacks-Kategorie einzig auf den Künstler und den (geschulten) Kunstrichter anzuwenden. Der Geschmack des Künstlers erlaube die Hervorbringung geschmackvoller Kunstwerke; der Kenner und Liebhaber von Geschmack hingegen ›genieße‹ passiv das Schöne (462). Diese gleichen in ihrer passiven Haltung den »Schwälgern, die immer auf höhere Reizungen der Speisen raffiniren, […] und verlieren den Geschmak an den einfachen Schönheiten der Natur.« (464). Sulzer beschränkt folglich den passiven Geschmacks-Begriff auf den Kenner und Liebhaber, der sich aber nur für »Leckerbissen« interessiere, »die zwar die Zunge reizen, aber dem Körper keine Nahrung geben.« (465) Sulzer kritisiert, dass sich das »Volk« (also das breite Publikum) einen solchen Geschmack zu eigen gemacht habe, und fordert die »Bildung des Geschmaks [als] eine große Nationangelegenheit,« habe man ihm doch mehr »als den höhern Wissenschaften zu danken.« (465) Der Schluss, der aus dieser Feststellung zu ziehen ist, wird von Sulzer nicht mehr verschriftlicht, deutet sich jedoch an: Volks-›Bildung‹ mittels Literaturkritik (und nicht Volks-›Belehrung‹ mittels Wissenschaft). Dagegen verwahrt sich indirekt der weltreisende Naturforscher Georg Forster: 1788 reflektiert er Über Leckereyen im Zusammenhang der »Beurtheilungsgabe« die allmähliche Verfeinerung des Geschmacks bei dessen Beurteilung. Die »Begriffe des Nützlichen, Guten und Schönen nebst ihren Gegenbildern« würden »immer feiner und schneller, bis man endlich gar ein Wohlgefallen daran findet zu denken, bloß um gedacht zu haben« – kunstkritisches Urteil also aus Langeweile oder um »sich Brod zu verdienen« (Forster 1788: 21). Mit scharfem Blick für koloniale Ausbeutungsverhältnisse macht Forster »die Zunge als bewegende Feder« aus: »Die Leckerhaftigkeit unseres Welttheils unter-
261 | Artikel »Geschmack« in Sulzer 1771, I: 461. Mit Seitenzahl im Text zitiert.
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hält Geschäftigkeit und Betrieb im ganzen Menschengeschlechte.« (Forster 1788: 22. Vgl. Schivelbusch 1980) Noch 1785 definiert der pietistische Theologe Gotthilf Samuel Steinbart in seinen Grundbegriffen zur Philosophie über den Geschmack, dass allgemein Geschmack bedeute, »das Schöne mit Wohlgefallen und das Häßliche mit Widrigkeit zu empfinden«. Steinbart konstatiert, dass dieser Geschmack allen Menschen eigen sei, differenziert aber für die Kunstrichter, dass sie die Fähigkeit besäßen, »das Schöne und das Häßliche auch nach Graden zu unterscheiden«.262 Kunstrichter verfügten also über einen feineren Gaumen als andere Menschen, wie er weiter ausführt: Der Grund, warum man den Namen eines der gröbern Sinne, durch welchen wir das angenehme und widrige der Speisen und Getränke empfinden, zur Bezeichnung dieses höhern verständigern Vermögens gewählet hat, liegt in der Aehnlichkeit, welche man zwischen diesen beyden sinnlichen Beurtheilungsarten der Objekte antrift. (15)
Steinbart verharrt im Rahmen der älteren Geschmacksdebatte, wenn er die Unbegründbarkeit des Geschmacksurteils angibt. Aus der Differenz der möglichen Urteile leitet Steinbart eine Maxime ab: »daß man über Sachen, die der Geschmack entscheiden muß, nicht streiten solle.« (16) Steinbach bleibt in seiner Argumentation eine Figur des Übergangs, die den älteren und vollständigen Gehalt des Geschmacksbegriffs noch kennt und die daraus resultierenden Probleme benennt, aber sein Wunsch, durch »Zergliederung […] bestimmte Begriffe von dem, was eigentlich das Schöne und Häßliche sei, zu erlangen«, erfüllt sich nicht (16). Daher nimmt Steinbart seine Zuflucht in die regelpoetische Bestimmung dessen was schön ist. Dabei hätte Steinbart nur nach Königsberg blicken müssen:263 fünf Jahre nach Steinbart bescheidet Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, dass ›Geschmack‹ nicht länger ein Erkenntnisurteil ist, da Ästhetik und Erkenntnistheorie voneinander separiert werden. Kant leitet einer ›kritische Wende‹ ein, wenn er nicht mehr länger das Urteil des Geschmacks, sondern das Verhältnis von Kritiker und Gegenstand auf die Agenda der ›Urteilskraft‹ setzt. Ästhetik ist dann nach Kant nicht mehr Teil der Erkenntnislehre, sondern Motiv des Schönen, ›Geschmack‹ daher nicht mehr Teil einer bürgerlichen Kultur, sondern zunehmend an Voraussetzungen und Interessen gebunden.264 Die kritische
262 | Steinbart 1785: 15. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 263 | Steinbart zitiert allerdings noch Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), vgl. Steinbart 1785: 21. 264 | »Geschmack klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikationen vornimmt. Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifikation selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär
III. Tiefe Lektüre: ›Critischer Canibalism‹ im Zeitalter der Aufklärung
Vernunft ›der‹ Aufklärung hindert also durchaus nicht dogmatische Befangenheit durch analytische Macht (Habermas 1974), sondern verurteilt den ›Dilettantismus‹ (Goethe und Schiller) des bürgerlichen Publikums (Vaget 1971).265 Mit der Psychologisierung des Geschmacksurteils ist aber zugleich das Ende des (vernunftbegründeten) Laienurteils eingeläutet. In der Aufwertung des Kunstgefühls gegenüber dem Laienurteil arbeitet die sensualistische Geschmacksdebatte der klassischen These von der Autonomie der Kunst vor – und stärkt den Machtanspruch des Kunstrichters. Reichte der Geschmacksbegriff in der Frühaufklärung über die Ästhetik hinaus, so wird er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ausschließlich ästhetische Kategorie eingehegt. Nach Kant existieren im Bereich des Geschmacksurteils keine universalen Regeln bzw. Axiome, fallen Einzelfall und Urteil also gewissermaßen zusammen: Das Geschmacksurteil ist ein Urteil, das wie »eine[] allgemeine[] Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird«.266 Statt Objektivität zu beanspruchen (wie noch bei Gottsched) zielen ästhetische Urteile auf ein intersubjektives Einverständnis aller Menschen mit gleichem Geschmack. Die Idee des Gemeinsinns, der »unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mittheilbar macht«,267 tritt somit an die Stelle universaler Regeln. In der Folge wird das subjektive Moment der literaturkritischen Beurteilung und die emotionalen bzw. sympathetischen Momente des Geschmacksurteils verabschiedet (vgl. König 1727: 260) und die Begründung des Geschmacksurteils in der Eigentümlichkeit des Urteilenden aufgehoben. Wenn gilt, dass der Mensch in der Besten aller möglichen Welten lebt (Leibniz), dann muss auch gelten, dass alles, was in dieser besten aller möglichen Welten existiert, schön und vollkommen sein muss. Ein negatives Geschmacksurteil legt daher nahe, dass der Urteilende nicht über die umfassende (d. h. ›richtige‹) Erkenntnis ver-
machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät. […] Der Geschmack bewirkt, dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmale, die einem de facto zugeteilt und durch Klassifikation de jure zugewiesen werden.« (Bourdieu 1979: 25, 285 f.). 265 | Richard Wagner diskreditiert Geschmack schließlich als »niedrigste[] Sinnesfunktion«, die »auf eine geistige Tendenz hingeleitet worden« sei: »[M]it diesem Geschmack schmeckt er [der Franzose] sich eben selbst, nämlich so, wie er sich zubereitet hat, als eine schmackhafte Soße. Unstreitig hat er es hierin zur Virtuosität gebracht: es ist durch und durch ›modern‹ […].« (Wagner 1870: 101) Wagner verknüpft also den kannibalischen Diskurs der Selbstverspeisung mit dem Attribut der Modernität, die dem traditionalistisch-romantischen Kunstverständnis entgegengesetzt wird. 266 | Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] (KAA I.5: 237, §18). 267 | Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] (KAA I.5: 295, §40).
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fügt.268 König betont noch 1727, dass kognitiver Erkenntnis wahr erscheine, was sinnlicher Erkenntnis schön erscheine und beide Anteil an der Geschmacksbildung haben, die einzig erlaubt das Geschmacksurteil zu bilden (vgl. König 1727: 288). Daran schließt Baumgarten an, der das Iudicium sensitivum als Gustus bezeichnet (Baumgarten, Metaphysica, § 607), der – ähnlich wie die Diskussion um den ›geistlichen Geschmack‹ zwischen Pietisten und Lutheranern – das sinnliche Erkenntnisvermögen präfiguriert (Grote 2016: 370). Während noch Kant hieran anschließt, indem er formuliert »Eine sinnliche Beurteilung der Vollkommenheit heißt Geschmack« (zit. n. Gadamer 1960: 37), so wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Geschmacks-Kategorie als Negation des dichterischen Genies durch den zersetzenden Kritiker abgelehnt (Schümmer 1955: 134). Anders formuliert: während die Geschmacksästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts noch durchaus den ›eckelen‹ Geschmack wahrnahm und ihn in Rezensionen kritisieren konnte, interessierte sich die Literaturkritik der Spätaufklärung und der Weimarer Klassik nur mehr für die ›Leckereien‹ des Wahren, Guten und Schönen. Und während die Literaturkritik um 1800 selbst Kunst wird bzw. sich in Zustimmung erschöpft, gelangt die literaturkritische Praxis des Aufklärungszeitalters nie zu einem Ende. Der ›kritische Kannibale‹ des Aufklärungszeitalters kann lieben, töten und verzehren und er kann all diese diskursiven Praktiken ausagieren und zumindest teilweise auch reflektieren. ›Kritischer Kannibalismus‹ ist somit nicht – wie man zunächst annehmen möchte – das Gegenteil von aufgeklärter Literaturkritik, sondern ihr zutiefst eigen.
268 | Adorno, Ästhetische Theorie [1961] (AGS 7: 248).
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie der Literaturkritik
Der Mensch ist Thier, doch selbst in seinen thierischen Funktionen bleibt er nicht als in einem Ansich stehen, wie das Thier, sondern wird ihrer bewußt, erkennt sie und erhebt sie, wie z. B. den Prozeß der Verdauung, zu selbstbewußter Wissenschaft. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die romantische Kunstform (1835) [D]as moralische Werthschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen. Wer legt aus? Unsere Affekte. […] Man darf nicht fragen: wer interpretiert denn? sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ›Sein‹, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt. Friedrich Nietzsche, Fragmente aus dem Nachlass (1885–1887) Wer in der Vergangenheit wie in einer Rumpelkammer von Exempeln und Analogien herumstöbert, der hat noch nicht einmal einen Begriff davon, wieviel in einem gegebnen Augenblick von ihrer Vergegenwärtigung abhängt. Walter Benjamin, Das Jetzt der Erkennbarkeit (1939)
Der Kannibale, der sich einen Säugling zurüstet – mit diesem polemischen Bild unterminiert Walter Benjamin jede harmlose und verharmlosende Vorstellung von der kritischen Tätigkeit und definiert sie zugleich als kulturelle Praxis. Die schockierende, durch Benjamins Vergleich erst ermöglichte Einsicht besteht in der Tatsache, dass Literaturkritik wie -wissenschaft nicht objektiv sind – son-
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dern affektiv.1 Dadurch aber kommt uns dieses Bild sehr nahe. Zudem wählt Benjamin explizit den Säugling als Äquivalent des Buches,2 um das Verhältnis von Produktion und Reproduktion zu thematisieren und den ›sekundären Charakter‹ jeder Form von Literary Criticism (also Literaturkritik und Literaturwissenschaft gleichermaßen) zu benennen.3 Die Metapher vom ›kritischen Kannibalen‹ begegnet jedoch keineswegs nur in der deutschen Literaturkritik und -wissenschaft. In diesem Sinne habe ich dem dritten Teil der Arbeit Motti vorangestellt, die der Weltliteratur entnommen sind und eine Perspektive auf die europäische Tradition des ›critischen Canibalism‹ eröffnen.4 Indem der Kannibale in seiner schockhaften Wirkung aufgerufen und mit dem Literatursystem des 18. Jahrhunderts verknüpft wird, bietet sich zugleich ein Ausblick auf mögliche Erweiterungen des Untersuchungsgegenstandes in Richtung der Postcolonial oder Global Studies an,5 wie ja Benjamins Praxis der Literaturkritik auch viel eher dem Literary Criticsim bzw. der Critique littéraire gerecht wird. Im deutschsprachigen Raum geht erst nach 1800 das Bewusstsein für den Zusammenhang von Literaturkritik und ›Literaturhistorie‹ allmählich verloren.6 Die gegenwärtige Perspektive auf Literaturkritik und Literaturwissenschaft ordnet die Diskurse im Rückblick, kann jedoch
1 | Vgl. dazu die Arbeiten der Stanforder Anglistin Sianne Ngai (Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting, 2012, und Ugly Feelings, 2005), die bezeichnender Weise auf die Frankfurter Schule zurückgreift. 2 | Ein aus dem 18. Jahrhundert bekannter Vergleich: 1726 definiert Gottsched in den Vernünftigen Tadlerinnen das Amt des »Criticus« (die Zweitauflage von 1748 spricht von »Kunstrichter«) dadurch, dass die literarischen Werke als Kinder des Schriftstellers gelten; die ›Eltern‹ werden für die Missetaten der ›Kinder‹ durch den Kunstrichter haftbar gemacht (Gottsched 1726: 132). 3 | Besonders deutlich wird das ›Misstrauen‹ von Feuilleton und Akademie am Beispiel der ›Gegenwartsliteraturwissenschaft‹, die die Literaturkritik als ›Beobachtung erster Ordnung‹ disqualifiziert, um sich selbst als ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ abzuheben, vgl. Geitner 2016: 56. Nach Luhmann ist diese Einteilung falsch, vgl. S. 77. 4 | Freilich unter je unterschiedlichen Gesichtspunkten: so wäre mit Bezug auf die englische wie die französische Literaturkritik sicherlich zu einem früheren Zeitpunkt anzusetzen; zudem würde sich – aufgrund einer anders gelagerten Öffentlichkeits- und Moraldebatte – die diskursive Praxis der Literaturkritik anders formieren. Dies zu leisten kann nicht Aufgabe vorliegender Studie sein, aber es war mir doch ein Anliegen, die europäische Debatte wenigstens zitathaft anzureißen. 5 | Vgl. etwa die Überlegung von Achille Mbembe zur »kannibalischen Struktur« der westlichen Moderne in seiner Kritik der schwarzen Vernunft (2013). 6 | Die Epoche der Aufklärung wird seit einigen Jahren zunehmend kritisch betrachtet: zum einen wird das überlieferte Bild vom ›Ursprung der Moderne‹ zumindest hinterfragt (wenn nicht revidiert), zum anderen erweist sich, dass die ›philosophes‹ (Voltaire, Rousseau etc.) durchaus nicht die herrschenden Machtstrukturen des 18. Jahrhunderts in Frage gestellt haben, sondern sich ihnen angedient, sie sogar verteidigt haben (Pečar/Tricoire 2015).
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie
für das 18. Jahrhundert ebenso wenig Gültigkeit beanspruchen wie für Benjamin. Nicht zu leugnen sind die faktisch bestehenden Unterschiede von ›journalistischer Literaturkritik‹ und ›akademischer Literaturwissenschaft‹ im deutschsprachigen Raum, führen sie doch zu erheblichen Spannungen. Beide Disziplinen bilden ein stabiles Inventar von Stereotypen aus, um die jeweils andere Disziplin zu diskreditieren: Während die Literaturwissenschaft der Literaturkritik vorwirft, oberflächlich, subjektivistisch und aktualitätsgebunden zu sein, kontert die Literaturkritik: Literaturwissenschaft ist abstrakt-hermetisch sowie öffentlichkeits-, welt- und gegenstandfern. Sicherlich: Die als Philologie elitarisierte Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich gegen die Frage nach ihrer Berechtigung derart lange und vehement gesperrt, dass sie schließlich irgendwann zu einer Randerscheinung wurde, die sich erst – so definiert sie ihre Aufgabe als ›objektiv-beobachtende Wissenschaft‹ – mit der Gegenwart beschäftigt, wenn diese bereits historisch geworden ist. Literaturkritik hingegen erlebte in derselben Zeit aufgrund ihrer Einmischung in Gegenwartsfragen einen rasanten Aufstieg, auch wenn sie im Vergleich zur Literatur ebenso ein ›sekundärer Diskurs‹ (George Steiner) ist wie die Literaturwissenschaft. Nicht nur durch die Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur, sondern v. a. mit den dahinterstehenden gesellschaftspolitischen Fragen kann Literaturkritik beanspruchen, Gegenwart zu gestalten: sie ist es, die der Einhegung des weltliterarischen Kanons vorarbeitet, und nicht die Literaturwissenschaft – parallel dient die Präfiguration des Kanons in den Bestsellerlisten einer Entlastung der eigenen Urteilskraft (Bolz 1998: 248). Daher auch hat sich die Literaturwissenschaft an der in den 2000er Jahren lebhaft geführten Kanondebatte nicht beteiligt, sondern sie nur im Nachhinein analysiert.7 Mit der auch ökonomisch erfolgreichen Anthologie Marcel Reich-Ranickis Kanon jedoch hat die Literaturkritik den Kanon definiert. Die Konkurrenz- und Prestigekämpfe der beiden Disziplinen lassen sich zwar beschreiben (Lämmert 1991). Die Analyse der damit verbundenen »Affekte[] gegenseitiger Geringschätzung oder auch des Neides« (Anz 2004: 202) scheint hingegen sinnvoller. Einen ersten Schritt dazu bildet vorliegende Studie, der die klassischen Rollenbilder des Literaturkritikers (Richter, Anwalt, Erzieher) auflöst in einer Genealogie, die die zugrunde liegende Praktiken sichtbar macht. Diese Praktiken wiederum teilt die Literaturkritik mit der Literaturwissenschaft. Der Anteil, den die Praktiken im Handeln des Literaturkritikers und des Literaturwissenschaftlers einnehmen, ist durchaus unterschiedlich,
7 | Signifikant daher die literaturwissenschaftliche Aufarbeitung des Kanon-Streits unter Einbeziehung der Literaturkritik, vgl. die Beiträge in Neuhaus/Schaffers 2016.
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aber (zumindest latent) immer vorhanden: »Auch die literaturwissenschaftliche Arbeit ist Praxis, hat Gebrauchscharakter, sie ist nur eine andere Praxis als die der Literaturkritik, hat einen anderen Gebrauchscharakter, wendet ihr Wissen anders an.« (Anz 2004: 203) Die unterschiedlichen Praktiken lassen sich jedoch nicht in ein genetisches Erklärungsschema einordnen. So steht nicht die liebend-exegetische Kritik am Anfang, wird von der zergliedernd-polemischen Kritik abgelöst, um schließlich in eine gustatorisch-apologetische Kritik zu münden. Vielmehr existieren alle drei Praktiken zu allen Zeiten, ergänzen sich, lösen sich einander ab und treten bei verschiedenen Kritikern und zu verschiedenen Lebensphasen und Epochen unterschiedlich in Erscheinung. Es scheint aber so, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Modelle von Literaturkritik dominant waren bzw. verstärkt praktiziert wurden. So bedient sich auch Thomasius der Polemik und Lessing kann ebenso die Rolle des Anwalts annehmen wie Bodmer die des Scharfrichters. Die jeweiligen Praktiken bilden sich in Auseinandersetzung mit ›Gegendiskursen‹ heraus, die im Gefüge der Legitimationstechniken dazu beitragen, dass die Praktiken verstärkt reflektiert werden. Auf Benjamins grundlegenden Aphorismus zurückkommend, kann eine kurze Genealogie des Kannibalen, die bis auf die abendländische Antike zurückreicht, eine Brücke zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert bilden (vgl. Immer 2015). Bereits Homer imaginiert den Zyklopen Polyphem als kulturlosen Gottesverächter, der, durch den von Odysseus kredenzten Wein betäubt, einschläft, wobei dem ›Rachen‹ des ›schnarchenden Trunkenbolds‹ Wein und ›Stücke von Menschenfleisch‹ entstürzen (Odyssee ι:373). Doch erst mit der Kolonialisierung Amerikas erhielt der Kannibale seinen Namen und kann politisch zur Unterdrückung indigener Völker instrumentalisiert werden (Arens 1979: 41 ff.). Seither wird Kannibalismus als Vorwurf aufgefasst oder zur Skandalisierung eingesetzt. An der metaphorischen Verwendung des Begriffs ›Kannibale‹ (und ›Neokannibalismus‹) wird postkoloniale Kritik geübt, da sie Praktiken des Einverleibens bezeichnet, Alterität negiert und Unterschiede einebnet (MacCannell 1992: 62). Doch ist die Figur des (nichtmenschlichen) Kannibalen notwendig, um das (menschliche) westliche Subjekt zu konstituieren (Sanborn 2001: 193). Daher kommen Imaginationen des Kannibalen seit der Frühen Neuzeit auch identitätsstiftende Funktionen zu – der ›literale Kannibalismus‹ errichtet ein kompliziertes System von Verhältnissen, innerhalb derer die Frage, wer wen verschlingt, nur schwer zu beantworten ist (Kilgour 1990: 15). Im 18. Jahrhundert wird nicht nur erstmals ›Kannibalismus‹ als Ausgrenzungsstrategie des ›ganz Anderen‹ kritisch diskutiert, sondern auch zur metaphorischen Selbstbeschreibung und -Imagination verwendet, etwa in Bezug auf die neu entstandene Marktwirtschaft (Forbes 1992). Die Differenz des Kannibalen zur westlichen Zivilisation erfährt gar eine Umkehrung: ›wir‹ – also die Zu-
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie
gehörigen der westlichen Kultur der Moderne – sind infolge der rücksichtslosen Naturausbeutung die eigentlichen Kannibalen (Root 1996). Mit dieser gleichsam dialektischen Umkehrung erweist sich die Chiffre des Kannibalen als Selbstdeutung westlicher Kultur. In der klassischen Moderne um 1900 wird der Kannibale dann als Chiffre des Barbaren eingesetzt, um die Notwendigkeit einer kulturellen Neubesinnung vitalistisch gegen die überkommene Décadence zu begründen (Schneider 1997: 201 ff.). Walter Benjamin rechnet zur vordersten Front jener Autoren, »die an einer Positivierung des Barbaren gearbeitet haben.« (Schneider 1997: 210).8 Als ›positiven Barbaren‹ hat Benjamin Karl Kraus gedeutet – die Geschichtsphilosophischen Thesen verklammern Kultur und Barbarei apodiktisch: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein«.9 Es lohnt sich an dieser Stelle, noch einmal auf Benjamins KarlKraus-Essay von 1931 zu sprechen zu kommen, weil Benjamin darin den Konnex von Barbarei und Kultur im Modus der Literaturkritik erläutert.10 Benjamin macht den Literatur- und Theaterkritiker Karl Kraus als »Satiriker echten Schlages« aus, den er von jenen polemischen Kritikern gesondert wissen will, »die aus dem Hohn ein Gewerbe gemacht« haben und denen es einzig darum gehe, das Publikum zum Lachen zu bringen.11 Kraus hingegen sei zum »eigentlichen Mysterium der Satire« vorgedrungen, als welches im Verspeisen des Gegners besteht. Der Satiriker ist die Figur, unter welcher der Menschenfresser von der Zivilisation rezipiert wurde. Nicht ohne Pietät erinnert er sich seines Ursprungs und darum ist der Vorschlag, Menschen zu fressen, in den eisernen Bestand seiner Anstrengungen übergegangen […]. (355)
Nur wo »Ursprung und Zerstörung« zueinander finden, wo »Kind und Menschenfresser« eins werden,12 ist der kritische Kannibalismus durch den »Unmensch[en]« und »neue[n] Engel« zu überwinden (367)13 – die unrealisierbare
8 | Vgl. gegen Schneider die differenzierten Ausführungen von McLaughling 2006. 9 | Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1939] (GS I.2: 696). 10 | Vgl. oben, Kap. 7.c. 11 | Benjamin, Karl Kraus [1931] (GS II.1: 354 f.). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 12 | Benjamin sei zur »Welt des Kindes und kindlichen Wesen mit geradezu magischer Gewalt« hingezogen gewesen, erinnert Scholem 1972: 136. In Altes Spielzeug hat Benjamin die »grausame, […] groteske und […] grimmige Seite im Kinderleben« gegenüber der Reformpädagogik favorisiert und das »Despotische und Entmenschte an Kindern« betont (GS IV: 515). Zum Kind als Barbaren vgl. Gess 2010: 683 ff. 13 | »Er [Karl Kraus] hat sich mit der zerstörerischen Seite der Natur solidarisiert. So wie der alte Kreaturbegriff von der Liebe ausging […], geht der neue, der Kreaturbegriff des Unmenschen, vom Fraße aus.« (Benjamin, Entwürfe zu »Karl Kraus« [1931], GS II.3: 1106).
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messianische Utopie einer Literaturkritik, die Philologie, Polemik und Dichtung entgrenzen würde und zudem mit der kapitalistischen Verwertungslogik (der Literatur, der Philologie und der Literaturkritik) wie dem technischmaschinellen Dominanz bräche, kurz: ein »neue[r], positive[r] Begriff des Barbarentums«.14 Das Kind (Verkörperung der Ursprünglichkeit und Reinheit) und der Kannibale (Verkörperung der Zerstörung mythischer Ordnung) ermöglichen erst die Erschaffung einer modernen Zivilisation als »Ursprung der Kreatur« (GS II: 365): »es ist […] das Lachen des Säuglings, der im Begriff steht, seinen Fuß zum Munde zu führen. So begann die Menschheit […] von sich zu kosten. […] Es ist das Lachen des gesättigten Säuglings. Diese Menschheit hat das alles ›gefressen.‹« (GS II: 1108) Jedes neu erschienene Buch gibt Anlass zu einer neuen Literaturkritik, die – nach Benjamin – an der Neuerrichtung dessen wirken soll, was Benjamin als Literaturkritik imaginiert haben mag. Soweit die Rekontextualisierung des Eingangszitats, das vorliegender Arbeit die zugrunde liegende These und das Argumentationsverfahren liefert. In ihm schießen Reflexionen zur Anthropologie, Marktwirtschaft und Literary Criticism zusammen. Abschließend unternehme ich daher den Versuch, die literaturkritische Marktwirtschaft sowie die anthropologischen Grundlagen der Literaturkritik zu analysieren.
11. K APITEL : S ELBSTVERZEHR DES L ITERATURKRITIKERS IM MARKTWIRTSCHAFTLICHEN UND IM I NTERNET -Z EITALTER Die Berufskritiker können rohe Diamanten und Goldbarren nicht unterscheiden und würdigen. Sie sind Kaufleute und kennen nur die gangbare Münze in der Literatur. Joseph Joubert, Gedanken (1780–1824) Kritik ist die Steuer, die ein Mensch der Öffentlichkeit entrichtet, damit sie ihm erlaubt, außergewöhnlich zu sein. Jonathan Swift, Miscellanies (1711–1726)
Kriegerische Auseinandersetzungen begleiten die Geburt der Literaturkritik. Doch wandelt sich das bellizistische Bild tatsächlich um 1760, werden wirklich die Waffen der Polemik (gr. πόλεµος, Krieg) gesteckt und wird fortan nur eine ›vernünftige‹, an den Gesetzen des Marktes orientierte Literaturkritik praktiziert (Martus 2007: 93 ff.; Schürmann 2018)? Führt also die Herausbildung des Marktes zur Überwindung des Krieges durch »Vergesellschaftung mit Unge-
14 | Benjamin, Erfahrung und Armut [1933] (GS II.1: 215).
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie
nossen, also Feinden«, wie Max Weber annimmt (Weber 1922: 385)? Dass auch noch im Internet-Zeitalter Schlachten zwischen Kritikern ausgetragen werden (Streitfeld 2013) zeugt von der unverminderten Relevanz der kritischen Kriege: sie sind essentiell und konstitutiv für die Entstehung und den Fortbestand der Literaturkritik. Doch sie sind nicht ohne Risiken. Die realen Kriege der Frühen Neuzeit führten zu Hungersnöten, in deren Folge es zu Kannibalismus kam.15Zwar kann die Metapher des kritischen Kannibalismus auf die Literaturkritik der Frühen Neuzeit übertragen werden wie sie auch für die Moderne noch Geltung beanspruchen kann – doch gilt das auch für das InternetZeitalter? Thomas Anz hat darauf hingewiesen, dass sich noch »im Internet viele Problemkomplexe und Phänomene wiederholen, mit denen Literaturkritik seit dem 18. Jahrhundert immer wieder konfrontiert war«:16 das Internet »imitiert und modelliert alte Strukturen und Prozesse literaturkritischer Kommunikation, macht sie aber durch die Nötigung zur technischen Operationalisierung oft noch deutlicher erkennbar.« (Anz 2010: 58) Das ist eine ermutigende Diagnose – ermutigend, weil sie sich gegen einen beherrschenden Trend in Feuilleton und Forschung stellt: demzufolge befindet sich die Literaturkritik in Zeiten des Internets und der Laienrezensionen17 in einem elenden Zustand – bedroht von einem diffusen, ständig wachsenden Nichts, das in nicht allzu ferner Zukunft alle ernst zu nehmende Literaturkritik vernichtet haben wird. In der Dynamik dieser Debatte, die sich mitunter sehr leidenschaftlich ausnimmt und die »Lordsiegelbewahrer der literarischen Tradi-
15 | Ebenso wie ›primitive‹ Gesellschaften Kriege führten, um proteinreiche Nahrung zu organisieren (Camporesi 1981: 43 f.). 16 | Andreas Wistoff sieht Marcel Reich-Ranickis oft kritisierten Umgang mit Literatur in Kontinuität zur Spätaufklärung (Wistoff 1996). 17 | Zumindest drei Formen der Internet-Literaturkritik können unterschieden werden: erstens die digitalisierten Angebote gedruckter Rezensionen, die auf den Archiv-Websites der großen Tageszeitungen abrufbar sind; zweitens die vorwiegend oder ausschließlich im Internet veröffentlichten Netzkritiken wie etwa literaturkritik.de; und drittens die digitalen ›Nutzerkommentare‹ auf den Websites großer Internet-Buchhändler wie Amazon. Während in den beiden ersten Fällen das Internet nur als Distributionsquelle benutzt wird, finden sich einzig im letzt genannten Fall genuine Schreibweisen, die an das Medium Internet angepasst sind (darin unterscheiden sich digitale von digitalisierten Inhalten). Im Folgenden geht es mir v. a. um diese dritte Form der Literaturkritik, die ich zur Verdeutlichung als ›Laienkritik‹ bezeichne, auch wenn der Begriff unscharf ist (kann man einen Kritiker, der über 500 teils ausführliche Kritiken verfasst hat und zudem studierter Germanist ist, dessen Kritiken von Amazon-Usern zudem als ›hilfreich‹ gewertet werden, als ›Laien‹ bezeichnen?). Vgl. Wozonig 2013; Stein 2015; Anz 2010: 51 f.
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tion und der permanenten Überforderung« (Winkels 2005: 48)18 ein ums andere Mal beschäftigt, ordnet die Wissenschaft die Phänomene historisch. Die Dynamik der aktuellen Debatte zeugt von der unverminderten Relevanz jeder Form von Kritik für eine offene Gesellschaft – und die teils leidenschaftlich bis emotional vorgetragenen Argumente belegen, dass wir uns gegenwärtig in Zeiten des Umbruchs und der knapper werdenden Ressourcen befinden, in denen Kritik (und besonders Literaturkritik) zu einer weltanschaulichen, politischen und ästhetischen Neuorientierung beitragen kann. Doch was wäre das Gegenmodell? Die ›neutrale‹ Leseempfehlung? In historischer Sicht wurden in Deutschland Literaturkritiken zwei Mal zu Leseempfehlung degradiert: einmal im Sinne der völkischen Erziehung 1933 bis 1945, einmal im Sinne der Volkserziehung 1949 bis 1989. Beide Male hat Literaturkritik erheblich an Vertrauen eingebüßt. Ob aktuelle Tendenzen – also die Forderung nach Beendigung von Kritikerkriegen einerseits (Spoerhase 2009), die Fokussierung auf ›gute‹, ›hohe‹, ›schöne‹ und ›wahre‹ Literatur, aber auch die unkritisch-positive ›Meinung‹ der Laienkritiker andererseits – dazu angetan sind, die Relevanz der Literaturkritik zu verfestigen, lässt sich bezweifeln. Doch vielleicht – dem gehe ich im folgenden Kapitel nach – handelt es sich bloß um Effekte einer radikalisierten Marktwirtschaft. Wie gestaltet sich also der kritische Kannibalismus im Zeitalter der Marktwirtschaft (seit dem 17. Jahrhundert) und im Internet-Zeitalter?
a. Kredit der Kritik Dass Kannibalen die »Körper ihrer Feinde […] auffrassen«, weiß 1733 Zedlers Universallexicon zu berichten, aber auch, dass sie »dem Geitze sehr zuwider« gewesen seien.19 Ist der Kannibale der edle Wilde, der den beginnenden Kapitalismus verschmäht und der Literaturkritiker, der in der Süddeutschen Zeitung, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder in der ZEIT spaltenlange Analysen veröffentlicht, ehe er zu einem dezidierten Werturteil gelangt, der eigentliche, der wahre kannibalische Kritiker, während sein jüngeres Pendant, der InternetKritiker, nur User Generated Content bereitstellt und damit unkritisch Werbung für das Buch (v. a. aber für den Verleger und für den Buchhändler) betreibt?
18 | Winkels, selbst Literaturkritiker der Zeit, negiert übrigens noch 2005 die Rolle der OnlineKritik völlig, räumt aber ein, dass die Literaturkritik seit Mitte der 1990er Jahre zum »Infotainment« (50) tendiere. 19 | Art. »Cannibales«, in: Zedler V, Sp. 558. Vgl. auch Art. »Menschen-Fresser« in: Zedler XX, Sp. 751–753.
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie
Positioniert sich also der Feuilleton-Rezensent kritisch zum Buch, und dient der Laienkritiker, wie er v. a. in den Bewertungsportalen des Internet-Versandhändlers Amazon begegnet,20 nur dem marktwirtschaftlichen Servicegedanken (Domsch 2003)? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen und zeigen, dass der kannibalische Diskurs auch den marktwirtschaftlichen Aspekt der Literaturkritik prägt. Mehr noch: gegenwärtig droht der kannibalische Diskurs durch seine verstärkte marktwirtschaftliche Orientierung in einen Selbstverzehr umzukippen. Literaturkritik unterlag in der (literaturhistorisch betrachteten) kurzen Zeitspanne ihrer dreihundertjährigen Existenz vielfältigen medialen und ökonomischen Wandlungsprozessen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert folgen Literaturrezensionen – nach gängigem Verständnis – marktwirtschaftlichen Kriterien: sie besprechen aktuellste Neuerscheinungen in bündiger Form, um vom Kauf eines Buches ab- oder zuzuraten. Versieht die im späten 17. Jahrhundert ›entstandene‹ Marktwirtschaft die Literaturrezension mit einem Beschleunigungsimpuls, begründet also die marktwirtschaftliche Einbindung von Literaturkritik einen Modernisierungsschub? Zunächst dominiert noch die überlieferte Form der Ars critica: wenige ›Kritiker‹ rezensieren wissenschaftliche Neuerscheinungen für gelehrte Leser. In dieser an den Maßgaben der Rhetorik orientierten literarischen Kultur ist jeder Produzent zugleich auch Rezipient und umgekehrt. Indem Julius Caesar Scaliger in seinen Poetices libri septem (1561) die Literaturkritik aus dem Bereich der Grammatik ausgliedert und sie in die Poetik einordnet, löst er sie aus dem Verbund der gelehrten Philologie (Martus 2007: 67 f.). Damit ist der Weg geebnet: mit Begründung des literarischen Marktes im 17. Jahrhundert differenzieren sich die Funktionen von Autor und Leser. An die Stelle einer »Mechanik des Tausches« tritt nun das »Gewebe der Konkurrenz« (Vogl 2010: 57). Die ältere rhetorische Tradition, in der noch Gottsched und die Zürcher Kunstrichter stehen, reagiert – da sie Bestandteil der Repräsentationskultur ist – mit Unverständnis auf die literaturkritische Negativität eines Lessing, der sich auf dem literarischen und literaturkritischen Markt behaupten muss. Das klare Machtgefüge der Repräsentationskultur wird durch die Marktorientierung diffus. Zugleich ist die Sozialsemantik der älteren rhetorischen Kritik-Tradition am Paradigma der Interaktion orientiert – die Monatsgespräche des Christian Thomasius legen davon noch ebenso Zeugnis ab wie die Literaturbriefe Lessings. Der literaturkritische Diskurs ersetzt jedoch ab
20 | Amazon sollte ursprünglich Cadabra heißen, aber durch die unschöne Lautnähe zu »Cadavre« wurde das Unternehmen nach dem größten Fluss der Welt benannt (Byers 2006: 46 f.). An den Ufern des Amazonas lebt jedoch auch das indigene Volk der Tupi, die Kannibalen sein sollen.
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der Mitte des 18. Jahrhunderts die unmittelbare bellizistische Interaktion durch eine literarische Fernkommunikation (Martus 2007: 73). Dieses Aufkommen von neuen Medien wie Journalen, Zeitungen und Zeitschriften verleitet zu Krisendiagnosen.21 Zugleich überführt die marktwirtschaftliche Orientierung die ältere und kriegerische Tradition der literarischen Polemik vom Kampf zwischen Feinden in einen Kampf zwischen Gegnern, und, daraus resultierend, zu einem Wettstreit mit dem Kontrahenten; der »Antagonismus« wird durch den »Agonismus« überwunden (Mouffe 2013: 12; 28). Das bedeutet nun nicht, dass keine Urteile mehr notwendig oder möglich sind: gerade die Ökonomisierung zwingt die Literaturkritik, Grenzen zu ziehen, einzuschließen und auszugrenzen, kurz: zu urteilen. Einerseits entspricht jedem Medienwechsel eine Produktionssteigerung – ein Umstand, der schon 1806 dem Berliner ›Literaturpapst‹ Friedrich Nicolai das Bekenntnis abrang, dass durch die »ungeheure Zunahme der Bücher« die Aufgabe des Kritikers »auf mancherlei Weise viel beschwerlicher geworden« sei, »denn die deutsche Literatur, so wie der deutsche Buchhandel, ersticken nach und nach, gleich sorglosen Schlemmern, in ihrem eigenen ungesunden Fette.« (Nicolai 1806: XXVf.)22 Andererseits erweist sich noch die aktuelle Kritik der Internet-Literaturkritik »als Buchstabenkritik, wie sie schon das 19. Jahrhundert formulierte: Dem abstrakten und arbiträren Zeichensystem Schrift wird der menschliche Körper untergeschoben, um Sinnpräsenz zu garantieren.« (Keck 2001: 79)23 Daher stiftet die Metapher des Kannibalismus im ökonomischen Kontext Sinn, auch wenn sie nicht offen zu Tage liegt. Der kannibalische Diskurs der Literaturkritik tritt zunächst im Zeichen des Konsumismus hinter den ökonomischen Diskurs zurück. Die Kulturwarenproduktion verschlingt alles, um zu überleben: ein »Warenkannibalismus mittels Waren.« (Attali 1979: 12) Im ökonomischen Zeitalter ›essen‹ die Kritiker nicht mehr, um zu überleben, sondern sie konsumieren um zu produzieren – Literaturkritik ist die ›exkarnierte‹ (d. h. ent-fleischlichte) und ins ökonomische gewendete Praxis der Literaturwissenschaft, das »Aufklärungsmodell eines ökonomischen, systematischen Stoffwechsels« (Hart Nibbrig 1995: 133). Während sich die Literaturwissenschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch Positi21 | Zur wissenschaftlichen Aufarbeitung vgl. Mühlfeld 2006; Hartmann 2011; Viehoff 1981. Eine Studie, die die mediale Entwicklungsgeschichte der Literaturkritik und den formalen Einfluss der Medien auf die Darstellung der Literaturkritik untersuchen würde, fehlt bislang. Vgl. aber Schmitt-Maaß 2018a. 22 | An Nicolais Diagnose hat sich auch im marktwirtschaftlichen Zeitalter nichts geändert, vgl. Drews 1988. 23 | Darüber hinaus ähneln sich Literaturkritik und Literatur unter den dem digitalen Produktionsdiktat einander an (Chevel 2016).
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vismus, Philologisierung und immanenter Interpretation auf die liebende Praxis zurückzieht und damit den ökonomischen Diskurs größtenteils ausblendet, pflegt die Literaturkritik unverändert die drei unterschiedlichen Praktiken – auch, weil sie dem Gesetz des Marktes und der Aufmerksamkeitsgenerierung folgt (mit Hartmut Winkler: »Diskursökonomie«). Nicht ohne Grund gerät die Literaturkritik zum selben Zeitpunkt in eine Krise, als auch die politische Revolution von 1789 die Banken in eine Krise stürzt, indem sie das Substitut (das Papiergeld) vom Warenwert (dem Goldwert) entkoppelt (Vogl 2010: 68): die Hyperinflationen des Bedeutungsträgers (Papiergeld bzw. Buchseiten) führt zu einer Entkoppelung der jeweiligen Ökonomie – Papiergeld ist nicht mehr durch Münz- oder Goldwert gedeckt, und Literaturkritik kommt angesichts der inflationären Buchproduktion nicht mehr mit den Besprechungen nach.24 Nach Lessings 63. Literaturbrief liegt die eigentliche Aufgabe der Literaturkritik noch in der Bestimmung dessen, was »moralisch gut« und »poetisch böse« ist (LWB 4: 645). Der Literaturmarkt taxiert am Ende des 18. Jahrhundert Gewinn und Verlust, und zwar auch in Bezug auf die Ökonomie der Literaturkritik: wichtig wird nun, dass der Literaturkritiker verschiedene Felder besetzt, sich rasch zu unterschiedlichen Neuerscheinungen ein Urteil bilden kann und Literaturkritik als Geschäft betreibt. Zunächst muss der Literaturkritiker einen habituellen Status erwerben, ehe er ihn – feldanalytisch gesprochen – in monetären Verdienst umrechnen kann.25 Darüber hinaus eignet der Literaturkritik um 1800 eine Scharnierfunktion: sie vermittelt zwischen der Produktionsideologie und ihrem Gegenentwurf, der Genieästhetik. Zunächst zur Produktionsideologie: Unter den verschärften ökonomischen Bedingungen stellt der kritische Kannibalismus eine Selbstverzehrleistung – eine Autophagie – dar, deren Ursachen in der massiven Expansion des Buch-, Lese- und v. a. Kritikmarktes begründet liegt und der der Umstellung von gelehrten und kennerschaftlichen auf ökonomische Kriterien geschuldet ist (Domsch 2014: 270). Die Expansion des Buch- (und damit: des Kritik-)Marktes lässt sich nicht allein als Zunahme von Wissen beschreiben, sondern umgekehrt auch als Bedrohung der (Lebens-)Standards jener, die – wie die kannibalischen ›Cariben‹ – bereits länger in diesem Umfeld (ihrer Insel) leben: die Gelehrten in ihrem ›Elfenbeinturm‹. Diese haben im Lauf der Frühen Neuzeit ein komplexes System von Regeln entwickelt, das einen gewaltsamen Schlagabtausch reglementiert, nämlich die Disputation. Doch während des 17. Jahrhunderts wird diese Disputationspraxis zunehmend abgelöst durch eine öffentliche
24 | Inwiefern das literaturkritische Reputationssystem mit dem Kreditwesen gleichzusetzen ist, hat Berlemann 2011: 302 etwa am Beispiel von Wielands Teutschem Merkur angedeutet. 25 | Für einen feldtheoretischen Zugang vgl. Neuhaus 2015.
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Adressierung von Kritik: der Literaturkritiker wendet sich nicht mehr in lateinischer Sprache an Experten, sondern in der jeweiligen Nationalsprache an alle Lesefähigen. Dazu nutzt er Zeitschriften und Zeitungen, die periodisch erscheinen. Der technologische Wandel (die ›Erfindung‹ der Periodika) ermöglicht also eine erhöhte Produktionseffektivität, die jedoch mehr Arbeit für den einzelnen Kritiker bei gleichzeitig sinkendem Lohn und reduzierten Privilegien bedeutet. Literaturkritik wird ein Geschäft, mit der Folge, dass Kritik professionalisiert wird und selbst erheblichen Einfluss auf den ökonomischen Erfolg eines literarischen Werkes hat; Literaturkritik wird folglich Teil des Literaturmarktes und ist nicht mehr nur ›neutrale‹ Beobachterin. Zugleich mit ihrer ökonomischen Einbettung wird die ›Neutralität‹ der Literaturkritik in Frage gestellt: ist nicht zu befürchten, dass der Literaturkritiker Gewinn (auch ideeller Art) auf Kosten seiner kritischen Unabhängigkeit zu machen versucht? Und dass Rezensionskartelle, Allianzen von Verlegern, Kritikern und Autoren die Autorität des Kritikers korrumpierten (Domsch 2014: 270 f.)? Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird das Laienpublikum zudem im Zuge der allgemeinen Verwissenschaftlichung zunächst in seinem Mitspracherecht eingeschränkt und auf die ›schönen Wissenschaften‹ verwiesen, ehe es am Ende des 18. Jahrhunderts infolge von Professionalisierungstendenzen der Literaturkritik zu einer Verabschiedung des Laienpublikums kommt (Schlaffer 2005: 175). Im Zuge der Ökonomisierung der Literaturkritik kommt es daher zur Autophagie. Das hat zwei Ursachen: erstens orientiert sich die Literaturkritik auf dem entstehenden Markt – Literaturkritik begleitet den ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ nicht nur, sondern trägt in ihren ›barbarischen‹ Praktiken (Polemik, Satire und Pasquill) allererst zu einer Herausbildung von öffentlichkeitsfokussierten Formen der Literaturkommunikation bei, die nicht mehr länger einzig auf ein Fachpublikum (Gelehrte) zielen. Diese ›Genese‹ der Literaturkritik bedingt aber zugleich die erste Krise des frühen Literaturmarktes: wo immer mehr literaturkritische Zeitschriften entstehen, wo immer mehr Kritiker schreiben, entsteht letztlich auch immer mehr Literatur, die von immer noch mehr Kritikern in immer noch mehr Zeitschriften besprochen werden will. Am Ende des 18. Jahrhunderts droht das Literatursystem zusammenzubrechen. Das mag man bedauern, wie auch mutmaßlich der Bibliothekar der Königlichen Bibliothek Berlin, Johann Erich Biester, im anonym erschienenen Beitrag Auch ein Wort über unsre recensirenden Journale und gelehrten Zeitungen im Leipziger Litterarischen Anzeiger 1798 konstatiert: die »RecensionsAnstalten« erfüllen keinen belehrenden Zweck mehr, vielmehr »liest oder blättert [der Rezensent] das Buch für Geld durch, und setzt dann, statt Gründe, einen MachtSpruch«. Immer häufiger komme es daher vor, dass der Rezensent »ein Buch anpreist, ohne sein Urtheil zu rechtfertigen.« Vor allem aber lassen sich die Rezensenten
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für ihre »überaus leichte und seichte Arbeit bezahlen«. Hier agitiert ein Verfasser von gelehrten (und daher kostenlosen) Rezensionen gegen die »triviale[n] Kritiken« und bescheidet: »Geld ist die Losung, und so wird BücherMachen und Recensiren ein merkantilisches Geschäft!« (Biester 1798, Sp. 633 f.) Bei aller Kritik am neu aufgekommenen ›merkantilischen Geschäft‹ hat Biester doch richtig erkannt, dass der Produktionsdruck die Qualität der Rezensionen schmälert, und das heißt v. a.: dass an die Stelle eines literaturkritischen Urteils die unbegründete Meinung tritt: »Ein Urtheil muss das Resultat aus Gründen sein. Sind die Gründe fest und richtig: so ergiebt sich der Schluss von selbst. Anführen der Gründe ist also eine HauptSache, um den Leser in den Stand eigener Prüfung zu setzen. Diess muss ein Recensent auch pflichtmässig thun.« (634) Wie wir noch sehen werden, rührt Biester hier an ein Grundproblem der Literaturkritik noch im Internet-Zeitalter. Zwar kanalisiert der literarische Markt den kritischen Kannibalismus; er transsubstiiert die ›primitive‹ Praxis – und ist doch selbst wieder kannibalisch, wo er um einen ›König‹ (oder um einen anderen ›starken Mann‹) herum organisiert ist. Infolge der zunehmenden Konkurrenz organisiert sich der Literaturkritik in Gruppen; die Gruppen sortieren sich in den immer neuen literaturkritischen Periodika des 18. Jahrhunderts, in deren Folge sich verfeindete ›Stämme‹, die um einen ›Häuptling‹ organisiert sind, bekriegen – da kein ›König‹ oder ›Papst‹ seine Untertanen überzeugen kann, dass es gleichgültig ist, ob man isst oder gegessen wird. Noch 1797 kritisiert der Berliner Literaturpapst Friedrich Nicolai (selbst ein begnadeter Polemiker) den Versuch seiner Weimarer Widersacher, in den Xenien das Egalitätsprinzip der Gelehrtenrepublik durch eine »poetische[] Universalmonarchie« (zit. n. Albrecht 1997: 293) zu ersetzen als unzulässig – und verschweigt doch, dass er selbst den Thron beansprucht. Die Verdrängungsmechanismen, die Nicolai (wie vor ihm viele Andere) nutzt, zeugen von subkutanen Kritikerkriegen und feindlichen Übernahmen, die den ›cannibalischen Criticism‹ in marktwirtschaftliches Vokabular übersetzen (Ammon 2013; Wolf 2013). Zugleich zeugen sie jedoch von einer Polemik, die sich nicht nur gegen die Dichterkritiker, sondern v. a. gegen die zunehmende Masse unstudierter Kritiker und ihre ›unbegründeten‹ Urteile richtet. Vom Verfahren her gleicht diese Kritik an der Literaturkritik in Vielem den Vorbehalten, die Feuilleton-Kritiker heutzutage gegen Internetliteraturkritik äußern. Während im klassischen Kapitalismus der Zeitungsbesitzer den Literaturkritiker ausbeutet, beutet sich im Neoliberalismus der Literaturkritiker als Unternehmer seiner selbst auch selbst aus – und erlebt das als Selbstverwirklichung. Bleibt aber als einziger Mehrwert des Rezensierens die Selbstverwirklichung, so hat der Feuilleton- dem Amazon-Rezensenten nichts mehr voraus. Es gibt jedoch eine Gegenbewegung gegen die Kommerzialisierung der Literaturkritik und die Produktionsideologie. Die Frühromantiker entheben
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(›transsubstituieren‹) um 1800 die Literaturkritik der marktwirtschaftlichen Ebene – indem Friedrich Schlegel den Kritiker zum Vollender des literarischen Kunstwerks erklärt, wechselt die Literaturkritik die Diskursebene: Literaturkritik ist nicht länger nur rezeptiv, sondern produktiv. Anders gesagt, vollzieht der kritische Kannibalismus einen Diskurswechsel von der autophagen Critophagie (also vom Verzehr der Literaturkritiken durch Literaturkritiker) zur Fötophagie (also zum Verzehr der frischen ›Werke‹ – der ›Kinder‹ des Literaten – durch Literaturkritiker). Der Opferpriester (also der Literaturkritiker) beansprucht Anteil am Göttlichen, d. h. am kreativen Schöpfungsprozess des literarischen Autors. Aus diesem liminalen Zustand – zwischen göttlicher Kreativität (Dichter) und Dienst am Text (Philologe) – ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das in der Opferung gelöst wird: der literarische Text wird zwar durch den Priester getötet, erfährt jedoch durch die verschriftlichte Kritik eine Wiedergeburt. Der Priester-Kritik ›reinigt‹ gleichsam den Text durch die Opferung, jedoch nicht im Sinne der Philologie, die sich um die Herstellung einer ›reinen‹ Lesart bemüht, sondern im Sinne der Literaturkritik durch Vollendung des Kunstwerks (vgl. Leach 1976: 105 f.). Diese Gegenbewegung gegen die autophage Kommerzialisierung ist notwendig, da die Leserevolution des 18. Jahrhunderts zwar zu einer wahren Flut von literaturkritischen Zeitschriften führt, zugleich aber die Verdienstmöglichkeiten der einzelnen Kritiker erheblich erschwert.26 Zwar wird Literaturkritik mit Universalpoesie und Symphilosophie selbst Kunst, macht aber dadurch ihrerseits der Literatur das Terrain streitig. Durch das Einverleiben des literarischen Textes absorbiert der Literaturkritiker Eigenschaften des ›Opfers‹ – frühromantische Literaturkritik wird gleichsam zu eine Art kannibalischen Pharmazeutikum, wie es vom realen europäischen ›Kannibalismus‹ der Frühen Neuzeit her bekannt ist: die beiden Prinzipien »Homo homini salus« (Galenus) und »Homo homini lupus« (Thomas Hobbes) greifen ineinander (Camporesi 1981: 43 f.). Wie beim real existierenden Kannibalismus der Frühen Neuzeit die Alten den Jungen als Speise dienen, um das Überleben des Spezies zu sichern, so formiert sich bereits an der Wende zum 18. Jahrhundert ein kannibalischer Diskurs der jungen Schriftsteller gegen die alten Autoritäten, der in der Querelle des Anciens et des Modernes ausgetragen wird (im deutschsprachigen Raum mit gehöriger Verspätung um 1750 zwischen Leipzig und Zürich). Die Frage ist also nicht, ob der ›critische Cannibale‹ Menschenfleisch essen soll, sondern welche Sorte: andere Kritiker (»Fleisch vom eignen Fleisch«, Gen 29,14) oder neue Bücher (das fleischgewordene Wort, Joh 1,14). Der Umschlag der Ars critica zur Literaturkritik und damit der Umschlag von der Kritik an an-
26 | Für eine feldtheoretische Darstellung vgl. Neuhaus 2015a: 44.
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tiken Autoren zur Kritik an den Autoren der eigenen Gegenwart steht im Zentrum des ›critischen Cannibalism‹: die Aufwertung der eigenen Gegenwart korrespondiert einer notwendigen Abwertung von (geschichtlicher) Vergangenheit (und heilsgeschichtlicher Zukunftserwartung) – der kannibalische Literaturkritiker ist auf sich gestellt, erfährt jedoch keinen Trost in der Schriftauslegung, sondern ist auf literaturkritische Selbstvermarktung angewiesen.27 Es ist die medizinale Tradition, in der der europäische Kannibalismus – etwa in Form von Salben oder Säften, denen Blut oder Mumien-Mehl beigemischt ist – bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts überdauert (Sugg 2011: 228 f.). Doch der Niedergang des Kannibalismus kann mit der Emanzipation der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert angesetzt werden – also zu exakt jener Zeit, als der ›critische Cannibalism‹ sich durchsetzt. Die Tradition, in der er steht, entspricht der archaischen Vorstellung, dass der Verzehr des Anderen die Kräfte auf den Essenden überträgt – und tatsächlich hat der Literaturkritiker der Frühromantik selbst Anteil am kreativen Prozess, werden Literaturkritiken eine eigene (nicht mehr nur dienende) Kunstgattung. Der Literaturkritiker wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst zu einem Produzenten. Das entspricht der kannibalischen Ordnung, in der die Seelen der Toten beseitigt werden, indem man sie isst – Schlegel vollzieht in seiner Kritik an Goethes Wilhelm Meister exakt diesen Schritt: durch Einverleibung die Kräfte absorbieren. Wie wir noch sehen werden, zeitigt Schlegels Transsubstitution erhebliche Effekte für die Ausdifferenzierung von Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Doch welchen Effekt hat die Marktwirtschaft – oder der ›entfesselte Kapitalismus‹ – auf die Literaturkritik des dritten Jahrtausends? In der digitalen Phase des Anthropozäns werden Ordnungen des literaturkritischen Wissens neu konfiguriert. Die therapeutische Bedeutung, die jeder kannibalischen Ordnung (auch der Literaturkritik und -wissenschaft) eingeschrieben ist, wird also durch eine ökonomische Bedeutung ergänzt und verschärft. Die Konsumtion von Literatur heißt: ›aufbrauchen‹, also Zerstörung zum Zweck der Produktion – ›kreative Selbstzerstörung‹ in Erweiterung Joseph A. Schumpeters. Zwar isst der Kritiker keine echten Menschen, aber er verzehrt die Ware Literatur bzw. andere Kritiken, um durch Akkumulation der Objekte zu überleben – der Kannibalismus mag vergessen sein, die Ökonomie hingegen triumphiert: die Akkumulation von (zunächst ideellem, dann materiellen) Kapital ist die ökonomische Übersetzung der literaturkritischen Fötophagie; das Zeilenhonorar und die Aufmerksamkeitserregung ist die Nahrung, die zirkuliert und sich akkumuliert; die Profilierungslibido ihr Pendant. Der Literaturkritiker lebt durch möglichst
27 | Diese Aufwertung setzt – anders als von Schlaffer 2005: 163 diagnostiziert – nicht erst um 1800 ein.
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zahlreiche und möglichst einflussreiche Rezensionen, er lebt also weniger von seiner ›korrekten‹ Analyse und Beurteilung, als vielmehr von der durch die Beurteilung in Gang gesetzten ›sekundären Diskurse‹ des Kultur- und Medienmarkts, der ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ (Georg Franck). Das bedeutet nicht, dass der Kritiker möglichst viele Bücher besprochen haben muss: vielmehr wird er versuchen, eine Rezension besonders gewinnbringend unterzubringen oder mehrfach zu lancieren, und er wird sich auf Bücher konzentrieren, die ohnehin alle namhaften Kritiker besprechen – solchermaßen entstandene literaturkritische Urteile haben Züge des Zirkelschlusses. Dazu bedient der Kritiker einen Markt der Gleichgesinnten: einerseits bespricht er Literatur in jenem Sinne, der dem potentiellen Käuferkreis gerecht wird, sowohl hinsichtlich der Objektwahl wie hinsichtlich des literarischen Urteils. Andererseits positioniert sich der Kritiker durch den Gegenstand, die Form und die Platzierung seiner Rezension auch mit Blick auf andere Kritiker. Damit eröffnet sich ein Resonanzraum, der es dem Kritiker erlaubt, sich einzuverleiben, was der andere begehrt: Auf dem Grunde des Begehrens liegt Mimesis als Erinnerung an den Kannibalismus. In diesem quasi-kannibalischen Raum funktioniert Kapitalismus: Waren die konsumiert werden müssen; Menschen, die dazu taugen, zu produzieren und zu essen. So beschleunigt sich der Rhythmus des ökonomischen Wachstums mit der Komsumtions- und Produktionskapazität, das heißt mit der Angst vor dem Mangel – kapitalistische Waffe, Furcht vor dem Gegessenwerden. (Attali 1979: 196)
Daran ändert die Umstellung von analogen auf digitale Medien wenig, im Gegenteil: sie intensiviert den kannibalischen Effekt in einer simulierten Konsumentendemokratie. Am Ende steht der Literaturkritiker als ›rentabler Kannibale‹, der den ›Kulturinfarkt‹ mit zu verantworten hat (Haselbach et al. 2012) – im digitalen Anthropozän praktiziert der kritische Kannibale Critophagie, Fötophagie und Autophagie parallel.
b. Markt der Meinungen Die Durchsetzung der literaturkritischen Autorität lässt sich beschreiben als eine virtuelle Währung in der Ökonomie der literarischen Welt. Die kritische Autorität – das hat Sebastian Domsch für den englischen Literaturmarkt des 18. Jahrhunderts eindrucksvoll dargelegt – verdankt sich einem Kreditsystem, bei dem der Kritiker nicht als Spender, sondern Gläubiger in Erscheinung tritt: Der Kritiker erbittet vom Leser seiner Kritiken ständig einen Kredit, der ihn mit jener Autorität ausstattet, die es ihm erst erlaubt, seine kritischen Wertungen durchzuführen. Die Währung dieses Systems beruht auf dem Vertrauen (lat.
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creditum) des Kritiken-Lesers, und wird rückerstattet, indem der Leser jenes kritische Urteil beim Lesen der Literaturkritik wiederfindet, das mit seiner eigenen Meinung am ehesten übereinstimmt (Domsch 2003) – wir, die Konsumenten, wollen etwas Neues (sonst droht Langeweile), das anders ist, jedoch nicht radikal anders, sondern anschlussfähig anders, sonst sind wir befremdet. Sowohl der Griff des Literaturkritiken-Lesers nach den Feuilleton-Seiten seiner bevorzugten Tageszeitung erklärt sich auf diese Weise wie die Kür eines Amazon›Toprezensenten‹, der nach dem Motto »Fünf Sterne, ein Satz« verfährt: »Kundenflüsterer« sind beide, der Kritiker des Feuilletons wie der Internet-Kritiker. Sie fungieren im Rahmen einer »Bewußseinsindustrie« (Enzensberger 1970) als »Geschmacksstatthalter« (Domsch 2003), die soziale Distinktion und literarisches Urteil verknüpfen, um dem Leser eine Selbstvergewisserung zu ermöglichen: der Leser liest was er ohnehin schon kennt – das betrifft die Bücher ebenso wie die Kritiken, sie sind » Reproduktion von Kommunikation aus Resultaten der Kommunikation.« (Luhmann 1994: 150) Sowohl im Feuilleton als auch im Internet findet der Kritiken-Leser seine Gruppenzugehörigkeit in der Schwarmintelligenz bestätigt und bekräftigt damit Bourdieus Distinktionsthese. Dabei wird das argumentgestützte ›Urteil‹ außer Kraft gesetzt und abgelöst durch die gustatorische ›Meinung‹ – sie vermittelt eine Haltung, die frei von jeder Begründung sein kann (nicht muss), also weder durch Fakten noch durch Argumente erhärtet wird. Der Leser liest (gleichgültig ob auf Papier oder am Bildschirm) nur noch Kritiken, die ihn in seinem eigenen Geschmack bestätigen; er will herausfinden wer es ist, indem er herausfindet, was alle lesen; er bewegt sich in seiner eigenen Filterblase, die er auch nicht mehr verlässt: Die Grundlage unserer eigenen Meinung ist die Meinung der anderen, von denen wir annehmen, dass sie (aufgrund des Publikationsmediums und -orts) dieselbe Meinung wie wir äußern werden. Wir konsumieren Meinung. Bei Filterblasen, Echokammern und Schweigespiralen handelt es sich um Phänomene, die zwar aktuell brisant sind, doch bereits zu Beginn der Aufklärung vor über 300 Jahren problematisiert wurden. Schon Baruch Spinoza konstatiert 1664: »Jedes Ding strebt, so viel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren. […] Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nicht als das wirkliche Wesen des Dinges an sich.« (Ethica, 3, Prop. 6) John Locke ergänzt in seinem Versuch vom menschlichen Verstande (1690), dass wir in Wirklichkeit keine eigene Meinung äußern, sondern nur die Meinung Anderer widerspiegeln (Locke 1690: 62 [1. B., 3. HSt., § 12]). Meinungen (gr. δόεα: Fürwahrhalten) zielen nicht auf eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen, sondern sie restituieren die Wirkkraft der ›niederen Sinne‹ (Riechen, Schmecken und Tasten) – daher begegnet die Meinung bei Platon als Mittelding zwischen Wissen und Nichtwissen (Theaitetos 206b6–8). Kulturkritik im Allgemeinen und Literaturkritik im Besonderen wollen aber eben nicht
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unbestimmt sein, sondern gründen in hohem Maße auf Urteilen, genauer: auf Geschmacksurteilen. Doch Geschmack ist elitär, antidemokratisch und diskriminierend (lat. discriminatio: ich unterscheide) – »[d]eshalb haben demokratische Kulturen den Geschmack durch die öffentliche Meinung ersetzt, die von den Medien inszeniert wird.« (Bolz 2009: 70) Anhand der Laienkritik wird ersichtlich, wie sinnvoll Pierre Bourdieus Kritik an der Literaturkritik war. Nach Bourdieu besitzen die Literaturkritiker keine kritische Distanz zu ihrem eigenen Milieu, sondern bewegen sich im Rahmen einer »Logik der Homologien« (Bourdieu 1979: 371) bzw. einer »bloßen Mimesis« (142) – sei es als ererbtes (Familie) oder erworbenes (Schule) ›Kapital‹ – , die das bestehende literarische Wertesystem noch in der Kritik in »ethische[r] und ästhetische[r] Komplizenschaft« (371) sanktioniert (vgl. dazu exemplarisch am Beispiel einer Kritik und einer Antikritik, 369 f.). Ästhetik und Kritik sind nach Bourdieu »Praxis ohne praktische Funktion« (101); Ästhetiker und Kritiker »spielen« nur eine »Rolle« innerhalb einer »ästhetischen Illusion« (101); das Publikum besteht aus »Gläubige[n]« (372), die in prinzipiellen »Doxa« (373) mit ihrem Priester übereinstimmen. Daher klammert Bourdieu in seiner feldtheoretischen Analyse bewusst die »Tradition der philosophisch-literarischen Ästhetik« (756) aus: sie verkörpere nur die sakrosankte Geschmacks-Kultur der »kulturell Ambitionierten« (100) als »ästhetische Einstellung«, kann aber keine Aufschlüsse über die Stratifikation des gustatorischen Habitus geben: »Der Geschmack paart die Dinge und Menschen, die zueinander passen, die aufeinander abgestimmt sind, und macht einander verwandt. […] Der Geschmack ist die Gestalt des amor fati schlechthin.« (374; 378) Eine solche Form von konsumistischer Literaturkritik – wohlgemerkt: es hat sie seit dem Beginn der Moderne gegeben, aber gegenwärtig hat sie Hochkonjunktur – dient dazu, die eigenen Gefühle und Empfindungen als ›Stimmungen‹ (durch kommunikative Mechanismen von Vergesellschaftungsprozessen) zu bestätigen (vgl. Böhme 1995; Gumbrecht 2011). Die gustatorische Literaturkritik muss nicht durch den Leser angeeignet werden: als Leser auf der Suche nach Orientierung stehe ich der Literaturkritik nicht distanziert gegenüber, sondern ich befinde mich in ihr bzw. finde mich in ihr wieder. Die verschiedenen Literaturkritiken in den unterschiedlichen Medien schaffen Stimmungsräume, die durch gemeinsame Erregung aufrechterhalten werden und das Erleben der Gesellschaft intensivieren.28 Damit entfällt die pädagogische Funktion von Literaturkritik: der Kritiker schreibt seinen Text so, dass er möglichst exakt die milieu- und medienspezifischen Vorgaben des Publikums trifft. Und
28 | Vgl. für den Literaturbetrieb allgemein (mit Bezügen zur Literaturkritik) Kessler 2014.
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die Internetkonzerne – allen voran Amazon – forcieren diese Entwicklung, weil sie den Vertrieb vereinfacht und Werbeeinnahmen optimiert. Man mag bedauern, dass unter diesen Vorgaben – es sind die Vorgaben (emphatisch formuliert) eines ›globalisierten‹ oder ›entfesselten Kapitalismus‹ – kaum mehr Debatten und echte inhaltliche Auseinandersetzungen stattfinden. Sowenig es einer (selbsternannten) Elite noch möglich ist vorzugeben, über welche Themen, mit welchen Argumenten und in welchen Medien eine bestimmte Debatte ausgetragen wird (Bolz 2016), sowenig kann die Literaturkritik im Internetzeitalter eine Distinktionsfunktion beanspruchen. Das Internet filtert nicht, es transportiert Sinn, Unsinn und Gegensinn gleichermaßen. Eine – wiederum im emphatischen Sinne – ›kritische‹ Bewertung der Internetinhalte ist schon aus quantitativen Gründen nicht mehr möglich, auch nicht im Teilsystem der Literaturkritik. Die Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt führt dazu, dass sich der literaturkritische Furor in neuen Diskussionskanälen entlädt – als Meinungsverkündung, nicht als Meinungsstreit: »Wer braucht noch Debatten, wenn es doch überall Meinung gibt?« (Jandl 2016) Auch wenn die Klagen der Gebildeten unter den Verächtern der InternetLiteraturkritik berechtigt sein mögen – dass Internet-Literaturkritik gelegentlich nur noch Geschwätz ist, dass emphatische Meinungen gegenüber begründeten Urteilen dominieren, dass Laienkritiken nur Werbetexte sind – haben die Kritiker der Internet-Kritik diese Tendenz teils selbst vorbereitet. Bereits im Feuilleton der 2000er Jahre wird kaum ein kritischer Diskurs mehr geführt, sondern werden die immer gleichen Autoren der immer gleichen Bücher von den immer gleichen Kritikern mit immer gleichen Argumenten in immer gleicher Weise beurteilt. Das literaturkritische Urteil wird nicht mehr abgewogen und begründet. Stattdessen tendiert die Literaturkritik des Feuilletons dazu, jedes aufgegriffene Buch sofort zu etikettieren – vorzugsweise moralisch (und nicht etwa stilistisch): Peter Handke? Leugner des Srebrenica-Genozids! Martin Walser? Holocaust-Verharmloser! Günter Grass? Israel-Feind! Diese erstarrte Debatte – die Namen der genannten Autoren verdeutlichen es – ist auch ein Generationenproblem: die Feuilleton-Kritiker (teilweise nur eine Generation jünger als die Kritisierten) konzentrieren sich auf etablierte Autoren und versuchen, schwindenden Auflagenzahlen durch neue, wirkungsvollere, publikumszentriertere Schreibweisen zu begegnen.29 Daher arbeitet bereits die Feuilleton-Literaturkritik unmittelbar vor Durchsetzung des Internets auf Verkürzung und Pointierung hin – und arbeitet damit der Werbeindustrie zu. Der emphatische Anspruch der Literaturkritik auf Selektion der gu-
29 | Umgekehrt gilt: die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Internet-Literaturkritik stammen von Nachwuchswissenschaftlern und Digital Natives.
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ten Werke, auf Lenkung und Erziehung der Leser zur erbaulichen Lektüre – dieser Anspruch ist bereits um die Jahrtausendwende von der etablierten Literaturkritik aufgegeben. Die alte Kluft zwischen Konsumentenverhalten und Konsumentenerziehung verdeutlichen auch zwei konkurrierende Bestenlisten: während die Spiegel-Bestsellerliste die tatsächlichen Buchverkäufe abbildet, beruhte die SWR-Bestenliste auf der Bewertung verschiedener Literaturkritiker – es versteht sich, dass beide Listen nur selten übereinstimmten, dass also der Spiegel in der Art des Reader’s Digest goutiert, was die Leser tatsächlich kaufen, wohingegen der Südwestdeutsche Rundfunk propagiert, was sie stattdessen hätten kaufen sollen.30 Wenn das Medium die Botschaft ist und der Wille zur Macht durch den Willen zur (positiv gerankten) Wirkung ersetzt wird, erfüllt Literaturkritik eine allenfalls repräsentative, häufiger jedoch werbende Aufgabe: »Fünf Zeilen in der [Frauenzeitschrift] Brigitte bewirken mehr als das gesamte deutsche Feuilleton«, konstatiert der Autor Peter Kurzeck 2002 resigniert (zit. n. Berlemann 2009: 383), und der Literaturkritiker Michael Braun stellt im selben Jahr fest, dass Literaturkritiker zu »Klappentexter[n]« degradiert seien, die nur mehr »werbeträchtige Zehnzeiler« und »argumentfreie[] Buchtip[s]« verfassten (Braun 2002: 87).31 Während die Meinungsmache und Kritik-Darstellung im Literarischen Quartett noch weitgehend ein elitäres Literaturkritik-Verständnis bedient und den Unterhaltungsaspekt in den Vordergrund stellt, ersetzt Elke Heidenreich in ihrer Sendung Lesen! (2003–2009) das literaturkritische Urteil durch eine subjektive Kaufempfehlung: »Lesen Sie dieses Buch, es wird Sie glücklich machen!« Ähnlich, wenn auch differenzierter, unterhält Denis Scheck in seiner Sendung Druckfrisch (seit 2003) die Zuschauer: sarkastisch-pointierte Verrisse im Minutentakt sind seine unverwechselbare Marke; daneben kommt dem Autoreninterview zentrale Bedeutung zu – beide, Heidenreich wie Scheck, stehen für eine Form von Literaturkritik, die primär auf Unterhaltungswert berechnet ist und die Urteilsbegründung vernachlässigt. Es bilden sich intellektuelle Monokulturen heraus: Performanz ersetzt Kompetenz und Streit (Bolz 1998: 250). Auf Facebook – eine digitale Performancesammlung mit analogem Namen – existiert einzig das unbegründete also kritiklose Like; ein Dislike ist nicht vorgesehen. Bei Amazon hingegen kann man zwar differenzierter bewerten, aber Leserinnen und Leser bestimmen mittels Votum über die Nützlichkeit einer sol-
30 | In jüngster Zeit tendiert der Spiegel jedoch dazu, ›politisch unerwünschte‹ Bücher nicht aufzulisten, selbst wenn diese erhebliche Verkaufserfolge zeitigen, vgl. Moritz 2017. 31 | Die empirische Untersuchung von Rezensionen, die zwischen 2011 und 2014 in der Frankfurter Allgemeinen, in der Süddeutschen und in der Zeit veröffentlicht wurden, entkräftet diese Annahme, vgl. Pilz 2016.
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chen Rezension: sie bemisst sich in der Regel an ihrer Kürze und Konsumierbarkeit. Sie hat zudem (überwiegend) ›konstruktiv‹ zu sein – wer hart urteilt, erntet mitunter einen Shitstorm, der sich in den Kommentarfunktionen entlädt. Dass Kritik zwingend ›konstruktiv‹ zu sein habe forderte bereits die ›völkische‹ Literaturkritik und der real existierende Sozialismus – beide sind nicht zuletzt an der sich daraus ergebenden Schönfärberei gescheitert. Kritik, die keine mehr sein darf – ex negativo: in äußerster Zuspitzung ihres Urteils, ex positivo: in bloßer Inhaltswiedergabe – entledigt sich ihrer Funktion. Dieses Phänomen ist durch die etablierte Literaturkritik des Feuilletons vorgezeichnet und erfährt bereits durch das Unterhaltungsmedium Fernsehen eine Dynamisierung.32 Seit Literaturkritik nicht mehr im Printmedium, sondern über den Äther von Funk und Fernsehen verbreitet wird, findet sich ein reiches Inventar an Untergangsszenarien: Der Großkritiker ist seit 1968 ein »Anachronismus« (Hamm 1968),33 »[d]ie Form der Rezension […] als solche nicht mehr zu retten,« (Enzensberger 1988: 59) weil »[a]us einem ursprünglich zur Öffnung der Diskurse gedachten, lockeren und experimentellen Submedium […] ein geschlossenes selbstreferentielles und dogmatisches Instrument zum kulturpolitischen Mainstreaming geworden« ist (Seeßlen 2012). Die erfolgreichste Literaturkritik ist daher nicht notwendig die Beste (im Sinne von: am ausgewogensten, alle Positionen vernünftig gegeneinander abwägend und ihr Urteil stichhaltig begründend), sondern jene, die am ehesten mit der eigenen Meinung des Kritiken-Lesers übereinstimmt oder den größten Unterhaltungswert besitzt (Domsch 2014: 22 f.) – der klassische printbasierte ›Literaturbetrieb‹ befindet sich seit den 2000er Jahren in der Krise;34 die dort geäußerte Kritik an neuen Formen der Literaturkritik in den (gar nicht so) sozialen Medien lassen sich auch als »Schwanengesang der klassischen Leitmedien« deuten (Bolz 2017). Doch lässt sich dieser Verlust an Diskussionskultur nicht mit einem Zugewinn an neuen pluraleren Kritikformen verrechnen. Schwarmintelligenz droht vielmehr in pluralistische Ignoranz umzuschlagen: einerseits in der literaturkri-
32 | Und zwar bereits seit der bundesdeutsche Bildungsreform nach 1968 und der damit einhergehenden Pädagogisierung der Literaturkritik, vgl. Klein 2010. Parallel dazu lässt sich in Reaktion auf den Ansturm Studierwilliger auf die Massenfächer eine Rephilologisierung der Literaturwissenschaft beobachten (Winkels 1999: 7). 33 | Vgl. auch Drews 1988, der die (v. a. freie) Literaturkritik als Kombination von Prostitution, Sklavenarbeit und Kennerschaft definiert und die daher zwingend – bei Zuspitzung der marktwirtschaftlichen Verhältnisse – zum Niedergang verurteilt sei. 34 | Und versucht darauf mit Abgrenzung zu reagieren, ohne den medialen Wettlauf gegen die Zeit gewinnen zu können Vgl. die Darstellung der sich ausprägenden Poetologien des Literaturbetriebs bei Assmann 2014.
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tische Diskussion auf den Feuilleton-Seiten der ›Leitmedien‹, andererseits durch immer mehr Fake Reviews auf Plattformen wie Amazon (Henshell 2015): Zwar gilt für die Digitale Literaturkritik: »Öffentliche Meinung ist der Eigenwert der Massenmedien« (Bolz 1998: 254). Je mehr gefühlte Meinungen jedoch, desto weniger begründetes Urteil35 – und das ist es, was die selegierende und kanonorientierte Literaturkritik des Feuilletons vordergründig als Beliebigkeit kritisiert, während sie eigentlich um den eigenen Deutungsanspruch und die traditionellen Formen und Funktionen der Literaturkritik bangt. Hinzu kommt, dass Literaturkritik im Zeitalter des Internets noch rascher als im Printzeitalter auf Trends reagiert, auf den Zeitgeist und den Literaturmarkt – gerade dadurch aber erscheinen neue Formen der Literaturkritik der BerufsKritik verdächtig: sie vertritt das ›kritische Bewusstsein‹, wonach der Markt korrumpiert sei, Trends kurzlebig seien und der Zeitgeist von einigen wenigen Diskursreitern geschaffen werde. Kurz: die Internet-Literaturkritik sei oberflächlich, und wo es den Vertretern des kritischen Bewusstseins um das große Ganze ging, um Gesellschaftsentwürfe, Weltpolitik und das gute Leben aller Menschen, würden die oberflächlichen Internet-Kritiker nur Self Fashioning betreiben oder wollten unterhalten.36 Erst die Internet-Literaturkritik sei demokratisch, behaupten hingegen ihre Verteidiger. Wirklich? Demokratisch ist Internet-Literaturkritik nämlich nur dem Anspruch nach (alle Bücher aller Autorinnen und Autoren sind prinzipiell kritisierbar, können also positiv oder negativ bewertet werden); doch artikuliert in der Moderne zumeist nur eine gut organisierte Minderheit ihre Meinung und bildet dabei (intrinsische und extrinsische) Kontrollmechanismen heraus, die definieren, welche Meinung die ›richtige‹ ist. Daraus resultierend kommt es im bereits im Print-Feuilleton zu Schweigespiralen (Elisabeth NoelleNeumann): die eigene Meinung wird zurückgehalten, wenn man fürchtet, durch Formulierung einer Minderheitenmeinung politisch, sozial, kulturell oder publizistisch benachteiligt zu werden. Das gilt natürlich v. a. für gesellschaftspolitische Themen, in begrenzterem Maße jedoch auch für ›Stellvertre-
35 | Vgl. für eine soziologische Analyse von Meinung und Urteil Boltanski/Thévenot 1991: 179 ff. 36 | Die Kulturverfallsdiagnostiker übersehen (im 18. Jahrhundert wie heute), dass sich ihre Befürchtungen größtenteils gegen eine veränderte Kommunikationsform richten – während im klassischen Feuilleton maximal Literaturkritiker und kritisierter Autor ins Gespräch kommen, und der Leser sich allenfalls durch einen Leserbrief in die Kommunikation einschalten kann, nimmt die Kommunikation zur im Internet publizierten Literaturkritik inflationäre Ausmaße an – in Form von Links, Likes und Kommentaren als ›wilde Lektüren‹ (Porombka 2011). Vgl. dazu a. Giacomuzzi 2015 sowie Basting 2013, die den ›Niedergang‹ der Literaturkritik (durch Kanon, Quote und Ranking) mit dem Ende der Moderne und dem Beginn der Postmoderne identifizieren und der ›Metakritik‹ die Rettung der traditionellen Feuilleton-Literaturkritik zuweisen.
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie
terfunktion‹ Literaturkritik. Literaturkritiker im Feuilleton verstehen sich als Gatekeeper (Walter Lippmann), die die eigenen Meinungen als Mehrheitsmeinung simulieren – Mehrheitsmeinung jedoch nicht im Sinne des literaturkritischen Urteilsspruchs, sondern im Sinne der Frage, welche Autoren und Bücher überhaupt kritikwürdig sind und in welcher Weise sie zu beurteilen sind. Kurz gesagt: Thema (Buch und Autor), Meinung (kritisches Urteil) und Medium (Tagezeitung, Internetblog) fallen zusammen. Das gilt für die ›klassischen‹ Formen und Medien der Literaturkritik ebenso wie für ihre digitalen Entsprechungen: auch die Internet-Communities pflegen ihre eigenen Schweigespiralen – etwa, indem Buchempfehlung (»Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…«) und gekaufte Fake Reviews Hand in Hand gehen oder indem Fan Communities enthusiastisch jede Neuerscheinung ihres ›Meisters‹ oder ihrer ›Meisterin‹ bejubeln. Verkauft wird nicht, was neu und unbekannt ist, sondern was dem etablierten Kaufverhalten und der unterstellten Erwartungshaltung entspricht. Übertragen auf den Vergleich vom kritischen Kannibalismus entspricht eine solche einseitige Ernährungsweise nicht unserer Spezies, die evolutionsgeschichtlich eine große Bandbreite von Ernährungsgewohnheiten hervorgebracht hat – weder historisch noch geographisch bestand die Menschheit ausschließlich aus Carnivores, aber im digitalen Zeitalter werden alle User zu Informavores (George Miller).37 Die Verheißung des analogen Paradieses – »all you can eat« – würde bei seiner Realisierung im Diesseits gravierende körperliche Auswirkungen zeitigen; für das digitale Gratis-Paradies der Bits (der Bissen) und Cookies (der Kekse) – »all you can read« – gilt das nicht minder: produziert Internet-Literaturkritik in den sozialen Medien wirklich nichts weiter als »Bullshit« (Mendelson 2013: 61)? Ein Teil der Aufregung, der Ton und Stil der Auseinandersetzung in den etablierten ›Leitmedien‹ prägt, lässt sich auch aus der Tatsache erklären, dass im Zeitalter der Digitalisierung mehr Menschen als je zuvor die Möglichkeit hatten, ihre eigene literaturkritische Meinung einer großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Doch sollte man sich keiner Illusion hingeben: im Internet realisiert sich nicht etwa eine radikaldemokratische Utopie, sondern es produziert Filterblasen und Echokammern, die durch Netzwerkknoten (also durch eine hohe Zahl von Link-Verweisen) stabilisiert wird. Im Internet herrscht keine Demokratie, sondern das Matthäus-Prinzip: wer hat, dem wird gegeben werden (Mt 25,29). Dabei ist es völlig gleichgültig, was jemand zu sagen hat: die Algorithmen bestimmen das Sozialprestige – etwa 80 Prozent der Links ver-
37 |Bereits die Google-Algorithmen schränken die Vielfalt unserer Informations-›Nahrung‹ ein (vgl. Allesina/Pascual 2009).
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weisen auf 20 Prozent der Webseiten (Bolz 2009: 131). Die in ihren eigenen Echokammern und Filterblasen lebenden Leitmedien mussten zur Jahrtausendwende – vor dem Hintergrund sinkender Abonnementen- und WerbeVerträge – zur Kenntnis nehmen, dass auch andere Echokammern und Filterblasen (oder -bläschen) existieren, die weitgehend unbeeindruckt vom etablierten ›Literaturbetrieb‹ neue Formen der Kritik ausbilden. Literaturkritik institutionalisiert sich in den verschiedenen Medien in unterschiedlicher Weise und mithilfe unterschiedlicher kultureller Praktiken. Sie lässt sich als Produkt einer Reihe von Praktiken auffassen, die darauf abzielen, in einem kontingenten Umfeld Ordnung zu schaffen mithilfe gleichfalls kontingenter Praktiken. Die sympathetische Wahl eines bestimmten Mediums oder eines bestimmten Kritikers (und umgekehrt: deren vehemente Ablehnung) lassen sich als gefühlsbasierte soziale Praktiken definieren, die biologisch begründet werden können (Damasio 2017).38 Doch die etablierten Praktiken sind Ergebnis einer sedimentären hegemonialen Ordnung. Sie werden durch den neu entstandenen Pluralismus zum ›agonalen Wettbewerb‹ (Chantal Mouffe) herausgefordert. Kritische Autorität erlangt der Kritiker nicht – oder nicht mehr? – durch ein akademisches Studium oder die Publikation von Literaturkritiken in (selbsternannten) ›Leitmedien‹, sondern primär dadurch, dass andere Leser – ›gewöhnliche‹ Leser, Autoren und andere Kritiker – ihm literaturkritische Autorität zuerkennen. Im Sinne der Aufklärung kann JederR, dem ein wie auch immer geartetes Publikum diese Autorität zubilligt, als Kritiker bezeichnet werden – auch im Internet (natürlich nur, sofern er Konsument ist).39 Wenn kritisieren bedeutet, eine eigenständige und begründete Meinung aufgrund von binären Oppositionen (gut – schlecht, schön – hässlich, wertvoll – wertlos etc.) zu formulieren, dann kann für die idealen République de Lettres gelten: sie wäre ein literarisches Utopia, in der JederR ein Autor bzw. eine Autorin wäre und alle Texte als KritikerIn lesen würde, d. h. mit der Fähigkeit und dem Willen ausgestattet, sein oder ihr Urteil aktiv zu verantworten. Kritische Autorität würde
38 | Damasio konstatiert den Zusammenhang von emotiven Reaktionen auf vielfältige innere und äußere Reize, dessen ständiger – aber nie abgeschlossener – Ausgleich (körperlich, mental und sozial) als Homöostase beschrieben wird und die Entstehung der Kultur aus den so definierten Gefühlen begründet. Kultur (also Geist) ist folglich an den Körper gebunden, auch in Form von ›provozierten‹ (und nicht ›spontanen‹) Gefühlen. 39 | »Schließlich dürfen die Kritiker nicht deshalb eine Meinung äußern, weil sie ein Amt verwalten; vielmehr dürfen sie ein Amt verwalten, weil sie eine Meinung haben.« (Reich-Ranicki 1989: 42) Dem hält Theodor W. Adorno entgegen: »eine Meinung haben, urteilen, dichtet sich schon in gewisser Weise gegen die Erfahrung ab und tendiert zum Wahn, während andererseits doch nur der zum Urteil Fähige Vernunft hat: das ist vielleicht der tiefste und untilgbare Widerspruch im Meinen.« (Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft [1960], AGS X.2: 576).
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gerecht unter den KritikerInnen aufgeteilt und Kommunikation würde sich direkt zwischen allen Mitgliedern der KritikerInnen-Gemeinschaft vollziehen (Domsch 2014: 49; Stein 2015: 62 ff.). Nie waren die Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Utopie weitgehender erfüllt als im Zeitalter des Web 2.0 (Domsch 2009). JederR kann an der Kommunikation teilnehmen und interagieren, kritische Kommunikation ist nicht mehr nur bidirektional (Produzent – Konsument), sondern immer und mit allen möglich – nicht länger sprechen Experten zu Laien, sondern alle können von der Gemeinschaft der KritikenLeser zu Kritikern erhoben werden wie auch die Kritisierten selbst Kontakt zu den Kritikern aufnehmen können (Domsch 2009).40 Im Zeitalter von Amazon, Youtube und Blogs erfahren die Kritiken sogleich ihre eigene Kritik, indem einzig der Nutzer – und nicht länger ein Redakteur, Verleger oder Kritikerkollege – entscheidet, wie hilfreich die Rezension für ihn war.41 Daraus resultiert eine gewisse ›Zahnlosigkeit‹ der Internet-Literaturkritik: kein Kritiker will es sich mit seinem Leser verscherzen, sondern er will den Kritiken-Leser für sich und für seine Meinung gewinnen (vgl. Bauman 2000: 32 ff.). Für das 18. Jahrhundert wie für das Internet-Zeitalter gilt, dass kritische Autorität die Währung (verliehen durch die Ökonomie der Meinung) in der literarischen Welt ist – warum jedoch stellen sich die Vertreter des Feuilletons so unnachgiebig gegen diese Durchsetzung der im Aufklärungszeitalter entwickelten literarischen Utopie, die nun – im Internet-Zeitalter – doch endlich Realität werden könnte, warum wird in den Feuilletons das Phänomen der massenhaften Literaturkritik im Internet bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls polemisch herabgesetzt?42 Weil in dieser Perspektive Literaturkritik nur dann funktional bleibt, wenn sie Macht ausüben kann – Macht über andere Texte, aber auch über andere Kritiker: »Alle eigentlichen aesthet[ischen] Urtheile,« das wusste schon 1797 Friedrich Schlegel, »s[ind] ihrer Natur nach Machtsprüche und können nichts andres sein.« (KFSA II.16: 91) Doch nicht jeder Mensch, der im Internet seine Meinung zu einem Buch bekennt, möchte ein Reich-Ranicki werden. Vielleicht kommt auf Seiten des Feuilleton zur Furcht um den Verlust der Deutungshoheit und des Ansehens auch die Sorge um die kaum mehr zu bewältigende pädagogische Lenkung des 40 | Natürlich bringt die Internet-Literaturkritik neben positiven Eigenschaften auch alle negativen mit, die das Medium auszeichnen, wie Guerilla-Marketing oder Kritiker-Trolle, vgl. Merschmann 2007; König 2006. 41 | Bookblogger verzichten bezeichnender Weise auf eine didaktische Lenkung und betonen den kommunikativen Aspekt, vgl. Glasenapp/Rouget 2016: 226. 42 | Noch Enzensberger, der 1988 die »Rezensentendämmerung« diagnostizierte, prognostiziert Mündlichkeit als einzige mögliche Zukunft der Literaturkritik – ob das die Internet-Kritik einschließen würde, kann Enzensberger natürlich zum Veröffentlichungszeitpunkt noch nicht erhellen.
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Lesepublikums im Internet-Zeitalter: »Je umstandsloser die Masse ihre Meinung sagen kann, desto mehr sorgt sich eine Elite um die Definitionsmacht.« (Hugendick 2008) Die Feuilleton-Kritik wirft der Netz-Kritik besonders gerne vor, in ihrer Urteilsbegründung subjektiv zu verfahren und die kritische Distanz zu Autor und Werk nicht zu wahren – doch die etablierte Berufs-Kritik hat nicht nur an der Umbildung vom Urteil zur Meinung mitgewirkt, sondern ist selbst eingebunden in ein Netzwerk von Interessen und Beziehungen: Verleger, Redakteure, Herausgeber und Autoren – mit ihnen muss der Berufs-Kritiker täglich umgehen, sie trifft er auf Lesungen, Literaturmessen und sonstigen (Marketing-)Veranstaltungen. Daraus resultieren Sympathien und Antipathien, die selbstverständlich auf die ästhetische Beurteilung der literarischen Werke durchschlagen, auch wenn sie in der Rezension selbst nicht formuliert werden. Wenn nun die Laien-Kritiker offensiv ihre Subjektivität (sowohl in stilistischer wie urteilender Hinsicht, aber auch in Bezug auf die Gleichrangigkeit von Autor und Kritiker) betonen (Wozonig 2013: 50), so folgen sie damit nur einer Forderung, die seit der Aufklärung an die Literaturkritik herangetragen wird. Statt Leser-Erziehung – wie sie Lessing oder Addison vorgeschwebt haben mag – geht es der Internet-Literaturkritik um Service und Komfort: der Leser wird nicht mehr gedrängt, etwas Neues zu entdecken, um sich zu bilden oder seine Persönlichkeit zu erweitern – nein: Laien-Literaturkritik sucht nicht Distanz, sondern Nähe zu den Lesern, um sie mit der Literatur zu versorgen, die sie auch schon in der Vergangenheit gerne gelesen haben. Doch unterscheidet sich dieser ›ästhetische Avatar‹ (Domsch 2009: 236) so gänzlich vom sonntäglichen Feuilleton-Leser oder gar von den Berufskritikern, etwa des Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur (Ingold 2014)? Und handelt es sich dann noch um einen Dialog, oder unterhält sich der lesende Kunde nicht vielmehr mit sich selbst? Der Kritiker kommuniziert seine Lesart eines Textes an einen Leser in der Hoffnung, damit die Lektüre des Anderen zu ersetzen. Kritik, die letztlich den Leser in den Kritiker verwandelt, tendiert immer zur Selbstauflösung, während sich Kritiker krampfhaft an die Autorität über den Text und seine Interpretation klammern. Während die Kritik im der Akt des Kritisierens kritische Autorität verteilt, versucht der Kritiker, dieselbe zu akkumulieren. Die Demokratisierung von Literaturkritik – wenn man darunter die digitale Laienkritik als »Massenphänomen« und »ernsthafte[] Alternative zur professionellen Kritik« (Pfohlmann 2004: 188) fassen möchte – kann daher niemals zu einem Ende gelangen, weil jede mediale Schließung einer Kritik auch das Ende aller Literaturkritik bedeuten würde. Die egalitär-demokratischen Standards der Literaturkritik im Zeitalter des ›ästhetischen Kapitalismus‹ (Böhme 2016) sind daher einzig daran zu messen, ob das kritische Urteil die Zeit überdauern kann bzw. ob das Urteil von der Mehrheit der (gegenwärtigen und künftigen) Leser geteilt wird –
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der Citizen Journalism (Gillmore 2004) von Lesern für Leser folgt anderen Regeln als das etablierte Feuilleton, dessen Texte zudem von zahlreichen Lesern als unverständlich klassifiziert werden (Wiedau 2006); neue Textformen entstehen, die in ihrer Dialogizität jedoch zugleich auf den Beginn der Literaturkritik um 1700 zurückverweisen (Domsch 2009). Das Maximum an literaturkritischer Demokratie, wie sie sich im Internet realisiert, bedeutet freilich, dass es keine absoluten Autoritäten mehr gibt: weder solche des literarischen Kanons noch solche der Literaturkritik und der Kritiker. Statt den Habitus der Exklusivität zu zelebrieren, erleben etablierte Literaturkritiker, dass sie inkludiert werden in die Masse der ›Literaturbewerter‹ – Amazon etwa listet durchaus klassische Pressezitate zu einem belletristischen Titel, belässt aber den Amazon-Nutzern ihr Recht auf eigene Beurteilung (die jede nur denkbare Form annehmen kann, bis hin zum Plagiat einer Feuilleton-Kritik, vgl. Stein 2015: 73 f.). Zudem wird das Pressezitat ebenso einer Nutzerwertung unterzogen wie die Kaufempfehlung andere Amazon-Nutzer. Damit realisiert die Literaturkritik des Internetzeitalters, was bereits Walter Benjamin und Bert Brecht mit Blick auf den Rundfunk als Medienutopie imaginierten: »die Aktivierung des Konsumenten« (Pfohlmann 2004: 189), der nun jedoch zum Prosumer wird. Aus der InternetLiteraturkritik ergeben sich neue generische Formen. Die Literaturkritik rechnet nicht zu einer bestimmten Gattung, sondern realisiert sich (»performed«). Dazu bedarf es des Lesers, der in den Dialog mit dem Text eintritt und durch seine Lektüre die Gattungszurechnung des Textes legitimiert oder ablehnt. Im Zeitalter des digitalen Imperativs, in dem die inhaltliche belanglosen Likes (oder Dislikes) auf Amazon neben differenzierten Online-Feuilleton-Kritiken wie literaturkritik.de bestehen können,43 markiert der kritische Kannibalismus den Tod der Literatur als Untauschbares und Ende aller Transaktion. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte die elitäre Geschmacksdebatte verhindert, dass Literaturkritik ein ebenso sekundärer wie brotloser Diskurs wurde – Literaturkritik war ein Elitendiskurs, der seine Teilnehmer (wenn auch häufig wohl eher schlecht) ernähren konnte. Im Zeitalter der Aufklärung lautet die Crux der Literaturkritik: wenn theoretisch alle Vernunftbegabten Literaturkritik betreiben können – wozu bedarf es dann noch der ›professionellen‹ Kritiker? Da im Web 2.0 prinzipiell jeder Leser zum Literaturkritiker werden kann (sei es durch einen einfachen Like, sei es durch eine Kürzestkritik à la »Tolles Buch, voll spannend geschrieben«, sei es durch differenzierte Kritiken im Stil des klassischen Feuilletons), droht der ›Tod des Kritikers‹ durch ökonomische Aushunge-
43 | Vgl. die differenzierte Kategorisierung bei Ernst 2015: 102 ff.
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rung,44 wie sie (klassisch gesprochen) durch Stellenabbau in führenden Tageszeitungen seit der Jahrtausendwende manifest wird: das Urteilsverzicht des Kritikers zugunsten von Unterhaltung und Meinungs-Resonanzen überführt die Fötophagie (ohne ihren Diskurs abzulösen, sondern nur in dessen Ergänzung) in die Autophagie – der Kritiker wird im Zeitalter der »Aufmerksamkeitsökonomie« (Ernst 2011: 312) zum Warentester (Wegmann 2012: 284), die Literaturkritik zur Produktbewertung und der Leser zum Prosumer (Ernst 2015).45 Die Ablehnung, die der Internet-Literaturkritik von Seiten des PrintFeuilletons entgegenschlägt, bildet den Distinktionskampf im digitalen Zeitalter ab.46 Es zeugt aber auch von der Weigerung der Etablierten, gewohnte Rollenmodelle in einem Zeitalter, in dem Leser, Kritiker, Konsument und Prosumer in einer Person zusammenfallen, aufzugeben oder wenigstens kritisch zu hinterfragen (Ernst 2015: 94).47 An die Stelle des klassischen ReaderResponder-Modells48 tritt – und darin besteht die Chance des kritischen Kannibalismus im digitalen Zeitalter – eine polylogische, alle Entäußerungsformen umfassende Bewertung, die sich in sozialen Medien dynamisiert.49 Literaturkritik in sozialen Medien »versteht den [literarischen] Text […] als Substanz im pharmazeutischen Sinn, als eine Substanz also, die man einnimmt, um zu sehen, was passiert, und um anschließend in einer Art Erfahrungsbericht mitzu-
44 | »Das literarische Feld hat sich immer mehr, in Richtung der Ununterscheidbarkeit, dem ökonomischen angepasst.« (Neuhaus 2015a: 55). 45 | Vgl. auch die Debatte, die 2015 von W. Schütte auf Perlentaucher.de angestoßen wurde, dokumentiert bei Drees 2015a; Drees 2015b. Ein Bewertungsportal wie Rotten Tomatoes (für Filme), das die Urteile von annähernd 1000 Kritikern statistisch zusammenfasst, existiert (anders als von Giacomuzzi 2016: 194 ff. vermutet) für den englischsprachigen Bereich seit 2012 und nennt sich idreambooks.com. 46 | Am Beispiel des Romans Axolotl Roadkill (2010) der zum Veröffentlichungszeitpunkt 17jährigen Helene Hegemann vollzieht Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach, wie Hegemann zunächst als Genie hochgejubelt wurde, um nach Bekanntwerden des Plagiatsvorwurfs auf dem Altar des Feuilletons geopfert zu werden, weil das »Kulturestablishment« sich zunächst ein solches »Wunderkind« vorgestellt habe, um schließlich »einer solchen Phantasie eventuell sogar ein tatsächliches Kind zum Opfer« zu bringen (Kaube 2010). 47 | Gegenwärtig scheint sich die Aufregung, die die Netz-Kritik unter Profi-Kritikern um das Jahr 2000 verursachte, gelegt zu haben, vgl. auch Schütte 2015 und die daran anschließende Diskussion. 48 | Vgl. die Diskussion um »Emphatiker« und »Gnostiker« unter den Literaturkritikern, die 2004 von Hubert Winkels vorgeschlagen wurde, vgl. Neuhaus 2010. 49 | Vgl. das entschiedene Eintreten für eine differenziertere Analyse der Netz-Kritik durch Porombka 2011: 300.
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teilen, was einem passiert ist.« (Porombka 2011: 301)50 An Stelle einer überholten Medienkritik kann im Zeitalter des Internet die Erkenntnis treten, dass Literaturkritik nicht noch weitgehender professionalisiert werden muss, sondern dass ihr – soweit sie sich auf eine Auseinandersetzung mit literarischen Neuerscheinungen beschäftigt – weniger ein diagnostischer, als vielmehr ein therapeutischer Wert zukommt. Dass der Leser eine Literaturkritik nach dem Sympathieprinzip auswählt, ist nicht nur zutiefst gefühlsgeleitet, sondern trägt zugleich zum homöostatischen Ausgleich des Gefühlshaushalts bei – und eben darin besteht vermutlich der biologische Ursprung menschlicher Kultur (Damasio 2017). Das gemeinsame Mahl am Bildschirmfeuer – das könnte die realisierbare Utopie des kritischen Kannibalismus sein, der von den Erfordernissen einer kapitalistischen Verwertungslogik absieht. 51 Das Festhalten am überlieferten Modell der Literaturkritik hingegen – mit seinen Kritikerexperten, Hochfeuilletons und bürgerlichen Lesern – droht zu erstarren und im marktwirtschaftlichen Wettbewerb zerrieben zu werden. Literaturkritik, die an der Etablierung eines Literaturpapstes festhält, der die Diskurs- und Deutungshoheit beansprucht, wird dann allenfalls noch ironisiert: sei es durch Anleitungen zum »Büchern-Nörgeln« (Sopper 2000), sei es durch Rezensionsautomaten oder automatisierte Literaturkritik (Krass 2011; Passig 2016). Übertragen auf den ›kritischen Kannibalismus‹ gilt es festzuhalten, dass der Fleischverzehr immer dazu dient, den Gesellschaftzustand zu bestätigen, er hat daher eine immense kulturelle und gesellschaftsbildende Funktion. In der modernen Gesellschaft wird das Symbolische des Essens ökonomisch, »und deckt in diesem ›Ökonomisierungsprozeß‹ zugleich die symbolischen Grundlagen zu, auf de[nen] das Ökonomische immer beruht.« (Eder 1988: 214) Beim Bücherappetit des Kritikers verhält sich nicht anders: auch der Kritiker verdeckt seine wirtschaftlichen Verflechtungen, indem er auf auf die Macht des kritischen Diskurses verweist, der vorgeblich Bücher mustert und Urteile spricht, um den Diskurs der Literaturkritik zu objektivieren. Das Gegenteil ist der Fall: Leser wollen nicht erzogen werden und benötigen keine literarischen Vorkoster, sondern wollen sich in ihren habituellen Lesegewohnheiten bestätigt sehen. Dass die Leser sich von einem Kritiker eine Art Beratung wünschen, dass sein Urteil dazu dienen soll, ihnen unvertrautes literarisches Terrain zu erschließen – das rechnet zur Illusion der Literaturkritik seit der Aufklärung. Vielmehr
50 | Bereits um 1700 ist die pharmakologische Praxis der Literaturkritik ausformuliert (vgl. Murnane 2018) – eine Pharmakologie, in der der Verzehr von Mumien- und Menschenbestandteilen integraler Bestandteil des medizinalen Diskurses war. 51 | Precht 2018: 241 ff.
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sucht der Leser in Literaturkritiken eine Selbstbestätigung. Dadurch droht die Rezeption von Literaturkritiken rasch schal zu werden. Die Berufskritiker sollten sich vielleicht auf die kannibalische Praxis der Literaturkritik zurückbesinnen und etwas mehr Biss entwickeln,52 und den Veganern unter den Literaturkritikern das Internet überlassen. Der Literaturkritiker kann nämlich in verschiedene Rollen schlüpfen, und diesen spielerischen Charakter gilt es – wie ich im Schlusskapitel zeigen werde – produktiv zu nutzen.
12. K APITEL : »T UPI OR NOT TUPI , THAT ’ S THE QUESTION « – A NTHROPOLOGIE UND R OLLENSPIEL Ja, aber wir sind doch keine Wilden. Kein Anthropologe erforscht uns in dieser Weise. Und es ist geradezu unmöglich, mit unserer Kultur, […] zu verfahren, wie es anderswo, mit den anderen, möglich ist. Warum? Weil wir modern sind. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen (2002) Nur der Kannibalismus eint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. Oswald de Andrade, Kannibalisches Manifest (1928) Die Kritik ist die unterste Eskalationsstufe der Aggression. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral (1969)
Im selben Jahr 1928, in dem Walter Benjamin in seiner Essaysammlung Einbahnstraße den Literaturkritiker mit dem Kannibalen gleichsetzt, publiziert der Mitbegründer des brasilianischen Modernismo, Oswald de Andrade, sein Kannibalisches Manifest (Manifesto antropófago). Er propagiert darin die Aneignung der europäischen Kultur und der vorkolonialen Tradition Brasiliens, um zu einer neuen Kultur zu gelangen: das Fremde soll gefressen, nicht jedoch verleugnet werden, heißt es im Kannibalischen Manifest. An zentraler Stelle zitiert de Andrade die berühmte Hamlet-Frage im englischen Original, nimmt dabei aber eine minimale phonetische Verschiebung vor. Dadurch ruft er nicht nur das am Amazonas lebende ›Kannibalen-Volk‹ der Tupí auf, sondern deutet auch Shakespeare postkolonial. Damit eröffnet de Andrade eine Perspektive auf die bewusste Rollenannahme der Literaten und Literaturkritiker: »Tupi or not tupi,
52 | Das fordern die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff, der Literaturkritiker der Neuen Zürcher Zeitung Roman Bucheli und der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck unabhängig voneinander (Lewitscharoff 2010; Süselbeck 2015; Bucheli 2016).
IV. Statt eines Schlusses: Der Kannibalismus, der Markt und die Anthropologie
that’s the question« (Andrade 1928: 38) – für die Rolle des Kannibalen muss man sich entscheiden.
a. Anthropologie des kannibalischen Literaturkritikers Lieben, töten und verzehren erweisen sich im Durchgang durch die Geschichte und Praxis der Literaturkritik als anthropologische Konstanten – sie umreißen gleichsam eine Anthropologie der Literaturkritik,53 deren ›Virulenz‹ oder ›Entstehung‹ im 18. Jahrhundert durch ein genealogisches Verfahren herausgearbeitet werden konnte: die Gegensätze von ›Kopf‹ und ›Bauch‹ – oder um mit Augustinus zu sprechen: von Geist und Seele – werden in der literaturkritischen Praxis des Liebens, Tötens und Essens überwunden, und das tertium datur – der Mund – fungiert als ambivalente ›Schnittstelle‹. Diese anthropologischen Konstanten weiterzudenken hieße, Penetration, Dekuvration, Digestion, Regurgition und Defäkation als Praktiken der Literaturkritik zu behandeln – erinnert sei nur an die gemeinsame Etymologie von Penis und ›penna‹ (Schreibfeder), an Christoph Martin Wielands Aphorismus von 1776: »Ich habe das Unglück unter die Lauen zu gehören, die von den Warmen und Kalten ausgespien werden«,54 oder an Schopenhauers Bemerkung in Über Lesen und Bücher (1851): Und wie man durch zu vielen Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leibe schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. […] Daher kommt es nicht zur Rumination [d. h. Wiederkäuen]: aber durch diese allein eignet man sich das Gelesene an, wie die Speisen nicht durch das Essen, sondern durch die Verdauung uns ernähren. […] Überhaupt aber geht es mit der geistlichen Nahrung nicht anders als mit der leiblichen: kaum der fünfzigste Teil von dem, was man zu sich nimmt, wird assimiliert: das Übrige geht durch Evaporation, Respiration oder sonst ab. (Schopenhauer 1851: 604 [§ 291])
Diese Einlassungen sollen jedoch vorerst aufgespart bleiben.55 Stattdessen wird abschließend die Anthropologie der Literaturkritik konturiert. Sie kulminiert im Rollenspiel des Kritikers. Anthropologie zeichnet sich durch eine doppelte Perspektive aus: sie ermöglicht Orientierung hinsichtlich des ›primitiven‹ Kannibalismus; und ihr kommt eine Scharnierfunktion zu, indem sie einen Deutungszusammenhang zwi-
53 | In Anlehnung an die von Iser 1991 entwickelte Anthropologie der Literatur. 54 | Zit. n. Benjamin, Christoph Martin Wieland [1933] (GS II.1: 402). 55 | Anschließend an die neuere kulturwissenschaftliche Erforschung von Büchern (ich schreibe ausdrücklich nicht: Buchforschung) wäre der Bezug zu ›Büchergrüften‹ (Eric W. Steinhauer) oder ›Mordsbüchern‹ (Thomas W. Kniesche) herzustellen.
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schen den ›vormodernen‹ und den ›eminent modernen‹ Praktiken der Literaturkritik stiftet. Die Grand partage (Bruno Latour) zwischen Natur und Gesellschaft oder zwischen Natur und Kultur ist durch die Metapher des Kannibalismus nicht zu überwinden, aber vielleicht kann sie zwischen Literatur, Wissenschaft und Kritik vermitteln. Das zu erweisen, werde ich im Folgenden die Anthropologie des Kannibalen rekonstruieren, um seine Relevanz für den literaturkritischen Diskurs herauszuarbeiten. Literaturkritik und Anthropologie entstehen als Disziplinen im 18. Jahrhundert, was natürlich den diagnostischen Wert der Anthropologie schmälert – jedoch nur insofern man sich auf die historische Anthropologie beruft. Die philosophische und ethnographische Anthropologie hingegen, die sich auf Kant zurückführen lassen, stellen nicht die geschichtswissenschaftliche Frage (und damit implizit auch die heilsgeschichtliche Frage nach Herkunft und Zukunft), sondern fragen »pragmatisch[] […] was die Natur aus dem Menschen macht«.56 Kants Unternehmen einer pragmatischen (also Handlungslogiken analysierenden) Anthropologie umfasst neben der Vorlesung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1772–1795, publ. 1798) auch zentrale Teile der Kritik der reinen Vernunft (1781)57 und der Ethik (1800)58 und führt die Anthropologie aus physiologischen und metaphysischen Ansätzen heraus (Rölli 2011: 67). Parallel zu den kritischen Schriften entstanden, bildet sich die pragmatische Anthropologie Kants im Zuge der Entwicklung umfassender Vernunftkritik heraus (Andermann 2013: 225).59 Die anthropologische Frage ist im 18. Jahrhundert insofern neu, als dass die Zeitgenossen den »drei repräsentativen Organen der Vernunft« (Metaphysik, Naturwissenschaften und Geschichtsphilosophie) misstrauen und nach neuen Erklärungen suchen (Marquard 1973: 218), zunächst in physiologischen Untersuchungen. Kant hingegen basiert seine Anthropologie u. a. auch auf »Biographien, […] Schauspiele und Romane«: sie seien zwar »im Grade übertrieben, der Qualität nach aber doch mit der menschlichen Natur übereinstimmend« (121). Die Aufklärungs-Anthropologie vor Kant hat v. a. die pathologischen Physiologie fokussiert, und so interessiert sich auch Kant für die pathologischen Phänomene, die gerade im Kontrast zur Annahme des körperlich, rational und moralisch Guten Aufschluss über die Wesenseigenschaften des Menschen zu 56 | Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798] (KAA I.7: 119). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 57 | Sie enthält die anthropologischen Grundfragen (»Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?«), KAA I.3: 522. 58 | Sie fragt: »Was ist der Mensch?« (KAA I.9: 25). 59 | An diese Tendenzen schließt dann Foucault in seiner Kant-Lektüre an, vgl. Andermann 2013: 227.
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geben vermögen (Rölli 2011: 69 f.) Kants »Anthropologische Bemerkungen über den Geschmack« (245 ff.) zielen indirekt auch auf eine Anthropologie der Literaturkritik. Darin grenzt Kant Mode- und Kunstgeschmack voneinander ab, wobei nur in letzterer Kategorie Verstand und Sinnlichkeit (»Sinn des Schmeckens«) zu interagieren vermögen (246). Kant zieht die Geschmacks-Kategorien »Schwelgerei« und »Ekel« (250) zur negativen Charakterisierung des ›guten Geschmacks‹ heran, ohne seine Analysen an diesem Punkt zu vertiefen – worum es ihm aufklärungsemphatisch geht, ist die Herausarbeitung des ›guten Geschmacks‹ »zur äußeren Beförderung der Moralität« (244). Nach Hegels Degradierung der Anthropologie durch Integration in die Geschichtsphilosophie ist es Wilhelm Dilthey, der ihr wieder eine selbstständigeres Profil verleiht, indem er die philosophische Anthropologie mit der Frage betraut, die menschliche Natur aus den Grundzügen der Lebenserfahrung abzuleiten (Marquard 1973: 132). Damit wird das Anthropologie-Projekt der Aufklärung für die klassische Moderne reaktiviert, bei Aussparung von Nietzsches Kritik der philosophischen Anthropologie (Rölli 2011: 437 ff.). In der Zwischenkriegszeit kommt es zu einer pessimistischen Aneignung der Anthropologie, die auch von Walter Benjamin mitgetragen wird. »[K]örperliche Erfahrung und kulturelle Vermittlung« (Duttlinger/Morgan/Phelan 2012: 11) fundieren Benjamins Anthropologie, die aber noch für die Literatur (und damit auch für die Literaturkritik) Geltung beanspruchen kann. Vermittelt über die »Symbolintention des Einverleibens« kann nach Benjamin »ein Stück der anthropologischen Symbolintentionen aus dem Magischen, Hieratischen« herausgerissen und »ihm Wirklichkeit im Profanen« nachgewiesen werden: »Lesen ist Kommunion durch Essen im profanen Sinne. Das karnivore Element ist besonders hervorzuheben. Fleisch-Spannung.«60 Benjamin geht von der Kontinuität anthropologischer Prinzipien aus und bekundet ein besonderes Interesse an einer Anthropologie »im pathologischen Sinn«.61 Doch gerade indem Benjamin sein anthropologisches Denken auf scheinbar Nichtmenschliches ausdehnt, kann er die Grenzen des Menschlichen klarer fassen (Duttlinger/Morgan/Phelan 2012: 25). Als Nicht-Mensch und Barbar wird der Kannibale in der Moderne abgelehnt – und zugleich als Widerstandsfigur gefeiert. Sigmund Freud deutet Kannibalismus und Kannibalismustabu 1912 in Totem und Tabu positiv als Ursprung jeder Kultur und Ausdruck des Aggressions- wie Liebestriebs (Freud 1969, IX:
60 | Benjamin, Entwurf zu »Romane lesen« [1931] (GS IV.2: 1014). 61 | Benjamin, Reflexionen zu Humboldt [1925 f.] (GS VI: 26 f.).
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426 f.; vgl. Sagan 1974).62 1921 führt Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse weiter aus: »Der Kannibale […] hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie liebhaben kann« (Freud 1969, IX: 98). Der Mensch ist nach Freuds Unbehagen in der Kultur (1930) kein »sanftes, liebesbedürftiges Wesen«, vielmehr darf er »zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen […].« (Freud 1969, IX: 240) Doch nicht Freud, sondern Nietzsche wird zum Stichwortgeber der Anthropologiekritik der französischen Nachkriegsphilosophie, u. a. Michel Foucaults. Das anthropologische Postulat wird zugunsten der »Bodenlosigkeit der Empirzität« (Rölli 2011: 504) von Foucault preisgegeben; der gegenwärtige Mensch kann – bedingt durch den unabschließbaren Verweiszusammenhang auf die ›Vorherigkeit‹ seines Seins – nicht zu sich selbst kommen, sondern verfällt in einen »anthropologischen Schlaf« (Rölli 2011: 505). Anthropologie ist damit nicht mehr als Sammlung von Aussagen über das Wesen des Menschen verhandelbar, sondern nur noch als deren Kritik.63 Gegenüber der von Nietzsche inspirierten Anthropologiekritik Foucaults bildet die – sich auf Dürers Proportionsstudien, Goethes Pflanzenmorphologie und Wagners Leitmotivtechnik zurückführende (Lévi-Strauss 1971: 229) – strukturale Anthropologie des französische Ethnologen Claude Lévi-Strauss eine Brücke zwischen Empirizität, Wiederholungsstruktur und Fortschrittsvor-
62 | In seiner Vorlesung am Collège de France vom 29.1.1979 zu den »Anormalen« unterscheidet Foucault den König als inzestuöses Monster vom »menschenfressende[n] Monster« – ein »Monster von unten«, das »in der Figur des revoltierenden Volkes« auftritt (Foucault 1975a: 137). Der Grund für die Revolte liegt – vor der Einhegung des Kannibalismus durch die westliche Psychiatrie – im andauernden Hunger des Volks begründet: die rationale Begründung (Hunger) erlaubt, den Kannibalismus selbst als rational (und nicht als anormal) zu begreifen (146). Es ist zu bedauern, dass Foucaults persönliche Interessen den weiteren Gang der Vorlesung dominieren: so erfahren wir viel über die Normierung von Masturbation und Hermaphrodismus, aber die zweite große ›Monströsität‹ (neben dem Inzest), die Anthropophagie, ist weiter kein Thema bei Foucault. Foucault zitiert zudem indirekt Attalis Kannibalismus-Buch, vgl. Foucault, Ein endliches System [1983] (DE IV, S. 456), der entsprechende Nachweis findet sich jedoch nur in der französischen Erstpublikation des Interviews mit Robert Bono. Auch Foucaults ehemaliger Assistent Jaques Derrida meidet das Thema des Kannibalismus: für ihn tut sich angesichts der »symbolischen (oder nicht symbolischen) Gestalten des Kannibalismus« ein »Abgrund« auf, der »den Unterschied zwischen Gesetz und Recht, zwischen Gerechtigkeit und Gesetz« verwischt. Doch konstatiert Derrida die Universalität der Kannibalismus-Metapher (Derrida 1990: 38). 63 | Dagegen verwahrt sich Jürgen Habermas, der jedoch zugibt, dass die Anthropologie keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin darstellt, sondern nur andere Einzelwissenschaften verarbeitet (Marquard 1973: 137).
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stellung, indem Lévi-Strauss den überzeitlichen diagnostischen Erkenntniswert der Anthropologie klargestellt: Eine Gesellschaft kann leben, handeln, sich wandeln, ohne sich von der Überzeugung trunken machen zu lassen, daß die, die ihr um gut zehntausend Jahre vorausgegangen sind, nichts anderes getan haben, als ihr den Boden zu bereiten, daß alle ihre Zeitgenossen – und seien es auch die Antipoden – fleißig arbeiten, sie einzuholen, und daß die, die ihr bis ans Ende der Zeiten folgen, nur darauf bedacht sind, sich in ihrer Richtung weiterzuentwickeln. (Lévi-Strauss 1958: 362)
Damit behauptet Lévi-Strauss bereits 40 Jahre vor Bruno Latour, dass ›wir‹ nie modern gewesen sind: die Menschen hätten »immer und überall dieselbe Anstrengung im Hinblick auf dasselbe Ziel unternommen und sich im Laufe der Zeit lediglich verschiedener Mittel bedient,« kurz: »der Mensch [hat] sich seit Jahrtausenden immer nur wiederholt « (Lévi-Strauss 1955: 388f): Die fortschreitende Menschheit ist kaum einem Wesen ähnlich, das eine Treppe hinaufsteigt, das heißt mit jeder seiner Bewegungen den bereits zurückgelegten Stufen eine neue hinzufügt; sie läßt eher an einen Spieler denken, dessen Glück von mehreren Würfeln abhängt und dem sich mit jedem Wurf immer neue Kombinationen bieten. Was er durch den einen gewinnt, kann er immer durch den anderen verlieren, und nur von Zeit zu Zeit ist die Geschichte kumulativ, das heißt, lassen sich die Zahlen zu einer günstigen Kombination addieren. (Lévi-Strauss 1952: 32)
Die strukturale Anthropologie trennt daher nicht zwischen Vorzeit und Moderne und kann auf diese Weise selbst die ›Antipoden‹ (also die auf der anderen Weltseite Lebenden und folglich ›ganz Anderen‹) in die Analyse integrieren (Simek 2015: 54 ff.; 206 ff.).64 Besonders im Zusammenhang mit dem kriti-
64 | Moderne und Vormoderne, also Kultur bzw. ›Civilsation‹ und Barbarei sind sich gar nicht so fern, wie es den Anschein hat. Vielmehr sind beide Kategorien notwendige Setzungen, um zu Klarheit zu gelangen – wie auch das literaturkritische Urteil auf Klarheit dringt. Die Unterscheidung von βάρβαροι und Griechen ist beim Stammvater der europäischen Literatur, Homer, in der Ilias (II,867) angelegt – es handelt sich also keineswegs um ein modernes Unterscheidungskriterium, sondern um Grundmechanismus von Inklusion und Exklusion (vgl. Luhmann 1996). Barbarei ist also weder das Gegenprinzip der Moderne noch dessen geheimes Grundprinzip, wie es die großen Erzählungen von der Entstehung der Moderne nahelegen. Weder ist Zivilisierung das Gegenprinzip der Barbarei, noch wird letztere im Zivilisationsprozess der Moderne überwunden (wie Herbert Spencer und Norbert Elias postulieren). Auch ist die Moderne nicht von Barbarei geprägt infolge der Ambivalenzen der Moderne – seien es Ausbeutung und Entfremdung (Karl Marx), Sinn- und Freiheitverlust (Max Weber), Anomie und Demoralisierung (Émile Durkheim). Ebenso wenig ist Barbarei die niemals ausgeschlossene Kehrseite der Moderne oder gar ihr eigentlicher Kern (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer). Aber auch der Erklärungsansatz des hieran anschließenden ›unvollendeten Projekts der Moderne‹ (Jürgen Habermas) bleibt unbefriedigend, behauptet er doch, dass die Barbarei Moderne eingeschrieben ist, aber im Zivilisierungsprozess
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schen Kannibalismus bietet daher eine ethnographisch fundierte strukturale Anthropologie Anschlussmöglichkeiten. Lévi-Strauss nimmt eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Rohem und Gekochten vor: Unter der unmittelbaren Einwirkung des Feuers steht die gebratene Nahrung mit diesem in einem Verhältnis der nicht vermittelten Verbindung, während die gesottene [gekochte] Nahrung aus einem doppelten Vermittlungsprozess entsteht: durch das Wasser, in das man sie legt, und den Behäl65 ter, der beides enthält.
Der Unterschied besteht darin, dass Rohes »nicht bearbeitet« ist, Gekochtes hingegen »bearbeitet«. Lévi-Strauss vertieft seine strukturalistische Analyse dahingehend, dass Gekochtes und Gebratenes zwar gleichermaßen der Kultur zurechnen, doch dem ersteren einen bewahrenden, dem letzteren einen zerstörerischen und vernichtenden Charakter zu eigen ist: »Das Gesottene [Gekochte] ist das Leben, das Gebratene der Tod.« (520) Darüber hinaus ist die Unterscheidung von Gekochtem und Gebratenem sozial indiziert: ersteres entspricht einer aristokratischen, letzteres einer Volks-Küche (517).66 Wie beurteilt Lévi-Strauss in diesem Zusammenhang die Anthropophagie? Sie sei – schreibt er bereits 1955 in Traurige Tropen – »von allen wilden Praktiken zweifellos diejenige ist, die uns am meisten Entsetzen und Abscheu einflößt.« ›Reinen‹ Kannibalismus – also aus Nahrungsmangel – betrachtet LéviStrauss nicht eingehender. Dafür widmet er sich den ›positiven‹ Formen der Anthropophagie, also jenen, »die einen mystischen, magischen oder religiösen Ursprung haben – etwa das Verschlingen des Körperteils eines Vorfahren oder eines feindlichen Kadavers zu dem Zweck, sich dessen Tugenden einzuverleiben oder seine Macht zu neutralisieren«. Menschfresser sind im Rahmen der
zunächst bewusst gemacht und schließlich überwunden werden soll. Alle angeführten Auffassungen von Moderne und Barbarei operieren mit Hilfe einer binären (oder, wenn man will: dialektischen) Matrix. Nach Luhmann lassen sich diese Differenzkriterien im avancierten systemtheoretischen Modus als Wesen der Moderne beschreiben, die durch Binarität funktionale Differenzierung zu überwinden sucht: durch Inklusion des Exkludierten, durch Relativierung von Andersheit und durch Erfindung von ›Kultur‹. Tendenziell zielt die Moderne also darauf, alle Unterschiede – aber auch alle Unterscheidungsmöglichkeiten – qua Inklusion zu negieren, kann jedoch nur noch für »belanglose Entscheidungen« Freiheit und also Differenzierung beanspruchen (Luhmann 1996: 224). Doch ist Barbarei essentiell für das Selbstverständnis der Moderne, um Vergleiche anstellen und Differenzen benennen zu können (Luhmann 1996: 227). 65 | Lévi-Strauss 1968: 513. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 66 | Dass das Essen allgemein und der kochende Kannibalismus im Speziellen immer auch eine symbolische Kommunikation ist, hat Leach unter Bezug auf Lévi-Strauss zur Begründung seiner Sozialanthropologie herausgearbeitet (Leach 1976: 76 f.).
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strukturalen Anthropologie also positiv konnotiert, weil sie – darin schließt Lévi-Strauss an Freud an – eine kulturelle Leistung vollbringen. Lévi-Straus appelliert: Vor allem aber sollten wir einsehen, daß manche unserer eigenen Sitten dem Beobachter aus einer fremden Gesellschaft als ebenso unvereinbar mit dem Begriff der Kultur erscheinen wie uns die Anthropophagie. Ich denke dabei an unsere rechtlichen Praktiken und an unseren Strafvollzug. Betrachtet man diese von außen, könnte man versucht sein, zwischen zwei Typen von Gesellschaft zu unterscheiden: denjenigen, welche die Anthropophagie praktizieren, also in der Einverleibung gewisser Individuen, die furchterregende Kräfte besitzen, das einzige Mittel sehen, diese zu neutralisieren oder gar zu nutzen; und denjenigen, die – wie die unsrige – eine Haltung einnehmen, welche man als Anthropemie (von griech. emein, erbrechen) bezeichnen könnte. […] Gesellschaften, die uns in gewisser Hinsicht als wild erscheinen, sind menschlich und wohlwollend, sobald man sie unter einem anderen [nämlich struktural-anthropologischen] Ansatz betrachtet. (Lévi-Strauss 1955: 382 f.)
Eine Fortschrittsgeschichte erzählt die strukturale Anthropologie von LéviStrauss also nicht, ganz im Gegenteil: »Der erwähnte Vergleich [von ›westlichen‹ und ›primitiven‹ Gesellschaften] bringt einige Menschenfresser an den Tag: es erweist sich, daß wir dazugehören« (Lévi-Strauss 1955: 384). Kannibalismus kann mithilfe der strukturalen Anthropologie als symbolischer Akt verstanden werden, selbst wenn er real vollzogen wird (Noble 2011: 8). Was bedeutet das nun für den kritischen Kannibalismus, inwiefern sind die Erkenntnisse der (strukturalen) Anthropologie auf ihn übertragbar? Der Literaturkritiker ›rüstet‹ nach Walter Benjamin die Literatur-Speise ›zu‹, er verzehrt also kein rohes Fleisch, sondern goutiert kulinarisch – es handelt sich folglich beim Vergleich des ›critischen Canibalism‹ um einen kulturellen Akt. Zudem handelt es sich um einen gewaltsamen Kannibalismus (der Tote ist keines natürlichen Todes gestorben, sondern wurde zu Verzehrszwecken umgebracht), so dass das ›Fleisch‹ des ›Ermordeten‹ – anders als bei Verstorbenen, die erstens Krankheiten übertragen können und zweitens infolge Alters oder Siechtums abgemagert sind – nicht so sehr wegen seines Nährwerts konsumiert wird, sondern vielmehr aufgrund seiner vitalistischen Eigenschaften (Harris 1985: 216; 218 f.). Der Verzehr von Büchern, anderen Kritiken, Kritikern und Medien verleiht dem Esser (symbolisch) Kraft. Dabei muss der kritische Kannibale den trophologischen Energieerhaltungsgrundsatz beachten: setze nie mehr Energie bei der Beschaffung der Nahrung ein, als die Nahrung dir an Energie bietet. Die kriegskannibalische Ernährungsform ist jedoch langfristig unökonomisch, da Jäger und Gejagter gleich stark sind und sich die Rollen vertauschen können (oder zumindest der Gejagte dem Jäger erheblichen Schaden zufügen kann). Kriegskannibalismus ist primär ein politisches Verhalten (Unterwerfung
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des Gegners, Aneignung seiner Eigenschaften etc.) – das symbolische Kapital ist höher als ökonomische. Das belegt auch die grausame Tötungsprozedur, bei der das Opfer einer Folter unterzogen wird, ehe es verzehrt wird (Harris 1985: 235) – ihr entspricht die anatomische Literaturkritik. Symbolisches Kapital häuft der Kritiker v. a. im 18. Jahrhundert an, ehe in den ›Rezensionsfabriken‹ monetäres Kapital aus Literaturkritiken geschlagen wird. Der Widerspruch zwischen aufgeklärtem Anspruch (Verbesserung der Literatur) und realwirtschaftlichen Erfordernissen (Verbesserung der Einkommensbasis) ist dem tertiärem Diskurs der Literaturkritik substantiell eingeschrieben und wird kanalisiert durch Kritikerkriege, Urteilsverzicht oder Diversifikation. Es kommt also zu einem intrinsischen und extrinsischen Kannibalismus, bei dem prinzipiell Alles verzehrt werden kann: Bücher, Kritiken, Kritiker und Medien. Besonders in jenen indigenen Gesellschaften, die von einem einzelnen Oberhaupt befehligt wurden, weckt der Kriegskannibalismus immer wieder aufs Neue den Geschmack nach Menschenfleisch– ein Prozess, der erst durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Stratifikation eingedämmt wird (Harris 1985: 238). Zwar sammeln sich die Kritiker heute nicht mehr um die Throne, die in Leipzig oder Zürich errichtet wurden. An ihre Stelle sind vielmehr die unterschiedlichen Medien getreten, die mit unterschiedlichen Ansprüchen verschiedene Formen von Kritik üben und sich damit teilweise gegenseitig anfallen oder aber sich selbst zerfleischen. Kannibalismus und Marktwirtschaft sind seit Beginn der Literaturkritik eng miteinander verwoben. Darauf hat auch Walter Benjamin immer wieder hingewiesen. Umgekehrt hat der amerikanische Anthropologe Marvin Harris aufgezeigt, dass Kannibalismus – auch als Metapher – eine Krise bezeichnet, die die Wachstumsgrenzen von Hochkulturen markiert: die sich intensivierenden Produktionssysteme überfordert jede Gesellschaft, sei sie altsteinzeitlich, bäuerlich oder kapitalistisch, ab einem gewissen Punkt, weil die produktionssteigernde Investition die Selbsterneuerungs- und Selbstregenerationsfähigkeit des Ökosystems überfordert (Harris 1977). Die Lösung aus diesem Teufelskreis, wie ihn antike und indigene Kulturen praktiziert haben, besteht darin, nicht die Produktion zu intensivieren, sondern die Bevölkerungszahl zu reduzieren, sei es durch Kriegsführung, sei es durch Kannibalismus, sei es durch Tötung ›unnützer‹ (d. h. weiblicher) Föten (Harris 1977: 58 ff.). Alle drei Praktiken erscheinen ›uns‹ (also den westlich orientierten Leserinnen und Lesern) ›barbarisch‹, und sie haben auf den ersten Blick nichts mit Literaturkritik zu tun. Dass es Kritikerkriege gibt, hat Steffen Martus aufgezeigt, und dass der ›kritische Kannibalismus‹ als Metapher durchaus Erklärungspotential besitzt, hoffe ich gezeigt zu haben. Dass die Geschichte der westlichen Literatur und auch die Geschichte der westlichen Literaturkritiker eine Geschichte ›weißer Männer‹ ist, dürfte Konsens sein – der Anteil der Loui-
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se Adelgunde Victorie Kulmus am literaturkritischen Werk ihres Mannes Johann Christoph Gottsched ist immens – und doch weitgehend unbekannt. Damit ist auch die von der Literaturwissenschaft betriebene LiteraturkritikGeschichte angesprochen – ist sie fähig, eine Selbstbeschreibung zu liefern und den kannibalischen Diskurs zu erklären, ohne ihn zu diffamieren? Oder praktiziert sie unbewusst Kannibalismus? Wie wir gesehen haben, transsubstituiert Friedrich Schlegel den literarischen Text durch die Literaturkritik. Als Ergebnis dieses Diskurswechsels bilden sich zwei Systeme heraus, die um 1800 von Friedrich Schlegel noch aufeinander bezogen werden, die sich jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausdifferenzieren und aufspalten: Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Doch noch die LITERATURWISSENSCHAFT pflegt einen kannibalischen Diskurs. Zwischen der Entstehung der institutionalisierten Literaturwissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Nachkriegsgermanistik galt eine klare Arbeitsteilung: Literaturkritik beschäftigt sich mit der neu erschienenen Literatur der eigenen Gegenwart, Literaturwissenschaft kümmert sich um die großen Toten des literarischen Kanons. Wie in der kannibalischen Mythologie waren die Toten zu achten, indem man zunächst ihre Texte sezierte und einverleibte, schließlich den Autor selbst zur Instanz erhebt – der entehrende Umgang mit den Toten ist ein Sakrileg. Wenn die ersten Götter nichts anderes waren als »privilegierte Esser«, die als »Sieger« aus der »großen kannibalischen Schlacht hervorgegangen sind« (Attali 1979: 38), so gilt auch für die Literatur: der Schutz gegen das Böse (gegen das Schlechte, die minderwertige Literatur) ist nur durch Vermittler zu erreichen, die Kontakt zu den Götter halten – oder durch Interpreten, die den Rang Goethes wahren. Der Vermittler kann verschiedene Rollen einnehmen (Medizinmann, Schamane, Hexer, Priester etc.), zielt jedoch auf ›Heilung‹ der Literatur vom ›Schlechten‹ und ›Bösen‹ (oder schlicht vom ›Schund‹). Die komplexe Rollenverteilung von Literatur und Literaturwissenschaft, Gastgeber und Gast, Produzent und Parasit hat für die dekonstruktivistische Literaturwissenschaft 1977 J. Hillis Miller hervorgehoben und betont, dass der »Gastgeber sowohl ißt als auch gegessen wird«, dass der Wissenschaftler (ebenso wie der Kritiker) zum »kannibalische[n] Verzehrer« wird (Miller 1977: 169; 173).67 Während der LITERATURWISSENSCHAFTLER im Rahmen der kannibalischen Ordnung die ›großen Toten‹ durch Verzehr ehrt (er ist also ein Corpophage),
67 | In dieser Funktion kann er nur wirken, indem er selbst ein Toter unter Lebenden wird, wie Mircea Eliade in Schamanismus und archaische Extasetechnik (1951) dargestellt hat. Dass im Zeitalter der Aufklärung offen über den kritischen Kannibalismus reflektiert wird, zeugt von Verdrängungsmachanismen, die Mythos und Magie aus dem Prozess der literaturkritischen Aneignung auszugrenzen (Schmidt-Hannisa 2003: 236).
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wendet sich der LITERATURKRITIKER dem soeben Erschienenem, dem literarischen ›Frischfleisch‹ zu (er ist also ein Fötophage). Die literaturkritische Fötophagie in Benjamins eingängigem Aphorismus bildet ja den Ausgangspunkt vorliegender Studie. Und tatsächlich wandelt sich die seit der Urzeit praktizierte Kindstötung (zwecks Arterhaltung, wobei überwiegend weibliche Säuglinge liquidiert wurden) im 18. Jahrhundert: in Waisenhäusern und durch Ammen organisiert der Staat oder die Kirche eine Versorgung von ›überschüssigen‹ Kindern – wenn auch unter Inkaufnahme von horrenden Sterblichkeitsquoten (vgl. Harris 1977: 230 ff.). Die frühneuzeitliche Fötophagie kann zwei Ursachen haben: Nahrung und Heilung. Besonders im 30jährigen Krieg (1618–1648) häufen sich Berichte von Eltern, die mangels Nahrung ihre Säuglinge und Kinder töten und essen (Sugg 2011: 131). Doch wird dem Verzehr von Säuglingen und Kleinkindern auch Heilwirkung zugesprochen: das junge Leben sollte Kraft spenden – eine Vorstellung, die bereits aus der ägyptisch-hellenistischen Heilkunst bekannt ist und über Galenus und Paracelsus in Europa Verbreitung findet (Noble 2011: 18). Besonders wenn der junge Mensch eines plötzlichen und gewaltsamen Todes gestorben war, sollte der Verzehr seines Körpers besondere Heilkräfte freisetzen (Noble 2011: 3). Nichts ist heilig und alles ist käuflich – auch das Leben eines Säuglings. Kannibalismus und seine Sonderform der Föto- oder Pädophagie sind natürlich nur als Metaphern zu verstehen, als Metaphern für das frische, junge Buch zumal, also für ein Objekt, und nicht für ein anderes Wesen. Man könnte auch sagen, dass sich die LITERATURKRITIK der Säuglinge bedient, um sich selbst und die zeitgenössische Literatur zu kräftigen; während die LITERATURWISSENSCHAFT auf die Mumien (die kanonisierten Autoren) zurückgreift, um die Literatur zu heilen. Da Pharmakoi sowohl Heilmittel als auch Gift sein können, gilt es ihre Dosierung zu beachten. Indem die Literaturwissenschaft nach 1968 zunehmend auf jüngste Literatur zurückgreift, trachtet sie – wie die Literaturkritik, die dies seit jeher praktiziert – nach Stärkung und Verjüngung. Benjamin markiert also mit seinem Vergleich unbewusst exakt jene Scheidegrenze, gegen die er sein Leben lang angeschrieben hat: der Trennung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Die scheinbare Archaik von Benjamins Metapher verliert im Lichte der Psychoanalyse wie der strukturalen Anthropologie ihr Bedrohliches. Benjamins Kannibale ist trotz der abstoßenden Metapher (eigentlich handelt es sich – das sei noch einmal erinnert – um einen Vergleich, was Benjamin auch klar benennt) also kultiviert, und eben nicht roh. Sowohl Freud wie auch Lévi-Strauss fassen Kannibalismus essentialistisch auf. Der französische Anthropologe Bruno Latour erweitert diese Perspektive durch Historisierung – und kommt zu dem Schluss: »Das Verdrängte kehrt [in der Moderne] wieder« und führt zu einer »Vermehrung der Monstren«, da die Menschen der Moderne unfähig sind,
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»sich in Kontinuität mit den Vormodernen zu denken.« (Latour 1991: 16, 21, 56) Der kritische Kannibalismus zeugt also davon, dass »[w]ir die anthropologische Matrix nie verlassen haben – wir befinden uns noch in grauer Vorzeit, oder, wenn man so will: in der Kindheit der Welt.« (Latour 1991: 114, Verb umgest, CSM) Das ›wilde Denken‹ der Menschenfresser erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung zugleich als rationaler denn zunächst vermutet (LéviStrauss 1962: 289), und es erweist sich zugleich als eine anthropologische Praxis, die auf alle kulturellen Aneignungsprozesse ausgedehnt werden kann. Dieses Fortwirken der Vormoderne wird im Zeitalter der Aufklärung erstmals explizit reflektiert – möglichweise bildet die Reflexion und Kritik des frühen Kolonialismus den Hintergrund. Daher ist die absolute Metapher des kritischen Kannibalen keine Denunziationsformel, sondern stellt ein privilegiertes Bildreservoir zur Verfügung, das die anthropologische Kontinuität vormoderner Praktiken thematisiert und hilft, »die Praktiken aufzudecken die ihre Existenz ermöglichen« (Latour 1991: 64).
b. Rollenspiel: Kannibale sein Natürlich ist jede Form der Urteilsfindung nur innerhalb von Institutionen möglich; sie ist nur möglich, wenn die Institutionen ermächtigt sind, wenn ihnen Macht zukommt. Jede literaturkritische Urteilsverkündung ist »Machtausübung« (Walser 2002: 51) – und diese Machtausübung hat Martin Walser im Tod eines Kritikers kritisiert. Der Literaturkritiker, wie ihn Walser in der Person Marcel Reich-Ranickis verkörpert sieht, ist nicht nur Papst – er nimmt den ›Gottesstandpunkt‹ ein. Dieser Standpunkt ist jedoch ein ganz bewusst gewählter – und Marcel Reich-Ranicki hat sich nicht als ›Kritikerpapst‹ verstanden, sondern als Anwalt.68 Das hat nicht nur mit funktionalen Ausdifferenzierungsprozessen in der Moderne zu tun, sondern auch mit Rollenbildern: »jeder schreibt in einer eigenen Rolle. Zwischen Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft zu unterscheiden heißt, Unterschiede zwischen Autorenrollen zu machen.« (Anz 2004: 200) Das Rollenselbstverständnis ist bereits am Ende des 17. Jahrhunderts ausgebildet, entfaltet sich jedoch in den Epochen der Literaturkritikgeschichte unterschiedlich (Anz 2004: 196). Diese Rollen verbinden sich wiederum mit den spezifischen Praktiken.
68 | Gemeint ist Reich-Ranickis Darstellung Anwälte der Literatur, die verschiedene Vorgänger charakterisiert.
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Wenn Literatur den Menschen formt und der Mensch seinerseits durch Literatur geformt ist, wenn Literatur mehr ist als Vergegenständlichung des Menschen, wenn Literatur wesentlich das Spiegelstadium der Selbstauslegung des Menschen leistet – dann dürfte der »anthropologische Aufschlußwert« (Iser 1991: 12) auch von Literaturkritik immens sein, auch wenn sie, anders als Literatur, immer schon zwingend auf ein Sekundäres verweist, über das sie ein Urteil formuliert. Zu den Grundkonstanten der Anthropologie wie der Literatur scheint gleichermaßen das Spiel zu gehören – nach George Steiner ist gar alle Literatur Spiel (Steiner 1970: 12). Das Spiel des Homo ludens, das den »Ursprung der Kultur« (Johan Huizinga) markiert, aber auch wirtschaftliches Verhalten charakterisiert (John von Neumann), realisiert sich beim Literaturkritiker in der gegenstands-, medien- und situationsbezogenen Erprobung verschiedener Rollen.69 Diese Rollen sind weder Charaktermasken noch Tarnungen, sondern bieten die Möglichkeit, immer auch das Andere der jeweiligen Rolle zu verkörpern – Wettbewerb, Kampf und Lust fallen im Spiel zusammen. Entscheidend ist die oszillierende Bedeutung des Spiels, also ein ständiges Wechselverhältnis bzw. Umkippen der spielerisch bezogenen Positionen (Brandes 2009: 119). In der Rolle imitiert der Literaturkritiker nicht einfach, sondern verfährt nach der doppelten Relation70 von Wettstreit, Zufall, Nachahmung und Rausch (agôn, alea, mimicry, ilinx, Caillois zit. n. Iser 1991: 445). Die gewählten Spielrollen sind durch eine »unaufhebbare Doppelheit« gekennzeichnet: sie verkörpern etwas, »das durch sie für die Anschauung entworfen« wurde und gleichzeitig über sie hinausgeht (Iser 1991: 461). Die Literaturkritik als Spiel ist die Transformation ihrer Positionen – »agôn organsiert diese als Gegeneinander, alea
69 | Vgl. zur (begriffs- und ideengeschichtliche Aufarbeitung der philosophischen, rhetorischen und ästhetischen Traditionen des literaturwissenschaftlichen Spiel-Begriff) Matuschek 1998 sowie (mit Fokus auf die theoretische Aneignung der Spieltheorie durch die poetische Praxis des Spiels) Brandes 2009. »Das Wort Spiel provoziert dazu, seine Bedeutungselemente zu einem anthropologischen Wunschzettel zusammenzustellen. So wird die Reflexion über das eine Wort, wird dessen semantische Analyse rituell zur Utopie erfüllter Menschheit« (157). 70 | Iser hat unter Bezug auf Gregory Batesons Ökologie des Geistes (1981) darauf hingewiesen, dass Literatur immer eine Spiel mit Signifkanten und Signifikaten ist. Dieses Spiel besteht darin, dass Karte und Territorium (also Abbild und Realität bzw. Signifikant und Signifikat) in Relation gesetzt werden, ohne je deckungsgleich werden zu können – das Territorium wird selbst zu einer Fiktion, da es (anders als die Karte) nicht überblickbar ist (Iser 1991: 427 f.). Bateson nun leitet aus diesem Vergleich folgende Beobachtung ab: im Spiel werden Karte und Territorium nicht gleichgesetzt und auch nicht unterschieden. Vielmehr erlaubt das Spiel die synchrone Gleichsetzung und Unterscheidung – im Spiel sind die Differenzen des Signifkanten zugleich aufgehoben und durchgehalten.
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zerspaltet sie zu Unberechenbarem, mimicry doppelt sie durch Maskierung und ilinx läßt sie ständig in ein anderes ihrer selbst umschlagen.« (Iser 1991: 466). Wenn der Literaturkritiker sein Urteil nur in einer Rolle spricht, wenn er seine ›Meinung‹ nur als Rollenprosa äußert – wie kann dann sein Urteil Authentizität beanspruchen? Indem der kritische Kannibale sich einer Metapher bedient, deren ›Unappetitlichkeit‹ die Relevanz seines Unternehmens verbürgt: nämlich eben nicht als Dekonstruktion von hermeneutisch rekonstruierbaren literarischem Sinn, sondern als »materialer und formaler Nichtsinn« (Brandes 2009: 120). Daher handelt es sich bei der Rollennahme des kannibalischen Literaturkritikers immer auch um ein Spiel: kein Literaturkritiker hat je einen Autor (oder einen anderen Kritiker) umgebracht oder dessen Bücher (oder Rezensionen) verspeist (zumindest soweit mir bekannt ist), sondern er schlüpft in verschiedene Rollen, um als Literaturkritiker agieren zu können. Der Literaturkritiker als Spieler erlangt seine Autorität nicht durch Fußnoten und Zitatnachweise, sondern durch Anspielungen und Rollenwechsel. Für den KritikenLeser vertritt die Literaturkritik hingegen die Repräsentation des eigenen Inneren: nicht nur als Leser von Literatur, sondern auch als Leser von Kritiken suche ich nach einer Möglichkeit, mich angesichts einer disparaten Realität meines Selbst zu versichern. Mental, intellektuell und sozial bewirkt die Lektüre der Kritik mit ihren gefühlsgekoppelten Kategorisierungen in schön und hässlich, gut und schlecht, geschmackvoll und vulgär eine Einpassung und Rückversicherung meines Selbst (Damasio 2017: 92, 109, 119). Für den Literaturkritiker bedeutet dies, dass er nicht nur eine Rolle wählt, in der er seine Rezension verfasst – etwa als Scharfrichter, Liebender, Überkünstler oder Literaturpapst. Vielmehr kann er auch innerhalb einer Rezension zwischen den verschiedenen und widersprüchlichen Rollen changieren. Diese Rollen jedoch sind nicht die Funktion des Literaturkritikers, sondern sein (anlassbezogenes) Selbstbild. Dabei lässt sich Literatur selbst wieder als Spiel (»Textspiel«, Iser 1991: 426 ff.) auffassen, das der Autor mit verschiedenen Rollenmodellen füllt. Literaturkritik ist ›Spiel im Spiel‹. Im Spiel ist der Literaturkritiker immer nur Repräsentant eines (Text-)Anderen seiner selbst, der im »Spiel von Probierbewegungen« (Iser 1991: 434) entfaltet wird – nur zum ›ganz Anderen‹, zum Kannibalen, bekennt sich der Kritiker nicht: diese Rolle ist anderen Rollen als literaturkritische Praxis subkutan eingeschrieben (z. B. Literatur-Freund oder Scharfrichter). Die Rollen des Literaturkritikers beinhalten folglich immer etwas ihnen vorausliegendes, das durch sie zur Erscheinung kommt, ohne in die Inszenierung selbst einzugehen (sonst wäre diese selbst das ihr Vorausliegende, Iser 1991: 511). Das literaturkritische Rollenspiel lässt sich daher als Institution menschlicher Selbstauslegung beschreiben, da der Literaturkritiker einerseits immer wieder aus sich herauszutreten, andererseits aber mit dem Text-Anderen in Verbindung zu treten
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vermag. Die ›privilegierte‹ Lektüre des Kritikers folgt der »Struktur des Rätselspiels« (Brandes 1009: 128), wobei der Kritiker jedoch dem Kritiken-Leser keine Wahrheiten über das rezensierte Werk enthüllt, sondern Bedeutung in und durch die Literaturkritik generiert, dem Leser ein Sinnangebot macht – und nicht zuletzt seine eigene Bedeutung als ›privilegierter Leser‹ herausstreicht. Da es Spiele nur gibt, wenn Menschen Lust haben mitzuspielen (Caillois 1958: 12), legitimiert jeder Kritiken-Leser das literaturkritische Textspiel durch seine Aufmerksamkeit und hat durch Wahl des Mediums und Kritikers Anteil am Rollenspiel: der Leser von Kritiken ist stärker integriert durch Affektation und Mimikry. Einen Gewinner im klassischen Sinne kennt das Literaturkritik-Spiel nicht; sein Gewinn besteht jedoch im epistemologischen wie ästhetischen Mehrwert, der durch die Literaturkritik erhellt (bezogen auf das Kritisierte) und erbracht (bezogen auf die Kritik) wird.71 Welche Bedeutung kann literaturkritische Rollennahme im Web 2.0 noch beanspruchen, also in einem Medium, dass spielerische Rollenerprobungen in einer Weise ermöglicht, wie dies noch in keinem anderen Medium zuvor möglich war, und wie ist sie mit den anthropologischen Grundlagen verknüpft? Im Rahmen einer allgemeinen Medienanthropologie lässt sich Lesen als Verdauungsvorgang beschreiben, der eine Verbindung zwischen dem MagenDarm-Trakt und dem Gehirn herstellt (Uhl 2009: 11).72 Auf neuronaler Ebene lässt sich präzisieren, dass Lesen in jenen Gehirnregionen stattfindet, die vor etwa 6000 Jahren für die visuelle pars-pro-toto-Erkennung zuständig waren. Literaturkritisches Lesen lässt sich daher als anthropologische Konstante fassen, die die Zeichen und Gegenstände nach einem binären Wertungsschema sortiert, um über ihre allgemeine Verwend- und Verwertbarkeit zu urteilen (Uhl 2009: 174 f.). Literaturkritisches Urteilen ist folglich als Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Verhaltensmuster evolutionär angelegt und kulturell ausgestaltet. Dynamisierung erfahren diese Muster durch ökonomische und stimulatorische Quellen. Der Stimulus des literaturkritischen Urteils setzt eine Dynamik der Selbstverständigung frei, die aus der »Erlebnisqualität« des Urteilens erwächst (Uhl 2009: 322). ›Erkennen‹ und ›bewerten‹ von Literatur lassen sich kognitionswissenschaftlich und anthropologisch beschreiben als Teilfunktion von Gut und Böse, Freund und Feind, Essen und Esser. Sowohl Rezipienten wie Produzenten von Literaturkritiken sind sich zwar bewusst, dass sie urteilen bzw. einem literaturkritischen Urteil zustimmend oder ablehnend gegenüber-
71 | Insofern besteht eine Nähe zur dekonstruktiven Verfahren, die nicht etwa – so ein häufiges Missverständnis – die Bedeutung eines Textes auflösen, sondern für die das Spiel der Bedeutungen bereits das Resultat der Interpretation ist. 72 | Zugleich gibt der Leser ab auch dem Lusttrieb nach, vgl. Anz 1998: 34.
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stehen. Die Mechanismen, die die Praktiken der Literaturkritik prägen, sind ihnen jedoch nicht bewusst, sondern entsprechen »stammesgeschichtlich alten emotionalen Verarbeitungsmechanismen« (Uhl 2009: 328). In der Debatte um die Gegenwart und Zukunft, um den Wert und Wandel von Literaturkritik, die v. a. Berufskritikern emotional führen, wird gerne übersehen, dass neue Technologien keinen neuen Menschen erschaffen: »Jede Generation von Nutzern setzt die ihnen zur Verfügung stehenden Medien ein, um jene strategischen Ziele zu erreichen, die auch schon ihre nahen und fernen Vorfahren hatten.« (Uhl 2009: 320) Im Internet-Zeitalter des »postliterarischen Posthumanismus« (Peter Sloterdijk) wird die ›klassische‹ Rolle der Literaturkritik zudem ersetzt durch eine Consumer-Haltung, die den Annehmlichkeiten der Produktgleichheit einen Vorrang gegenüber der Auseinandersetzung mit dem neuen, fremden, unbekannten Produkten einräumt. Die medientechnologische Evolution tangiert das buchkulturelle Konzept des Humanismus empfindlich und erweist zugleich, dass der Mensch nicht atechnologisch gedacht werden kann. Über Marshall McLuhans Medientheorie hinausgehend büßt Literaturkritik im digitalen Zeitalter nicht nur jene Unterscheidungs-Qualität (gut – schlecht; brauchbar – unbrauchbar; schön – hässlich) ein, die sie ausmacht. Nicht mehr die Unterscheidung von ›guten‹ und ›schlechten‹ Büchern ist ihr Auftrag, auch nicht der Transfer literaturkritischer Inhalt in neue Medien (deren Botschaft sie dann wäre) – sondern: der Literaturkritiker wird zum Performer, dessen Funktion sich nicht im kritischen Widerspruch, sondern in der Rollenerprobung und Publikumsfixierung realisiert: Literaturkritik ist Performanz, und zwar kulturell, organisatorisch und technologisch (McKenzie 2001). Daher erfährt Literaturkritik im digitalen Zeitalter quantitativ einen immensen Aufschwung, der von Vertretern der etablierten Medien als qualitativer Verlust verbucht wird. Diese neue soziabele und emotive Form der Literaturkritik verweist jedoch zurück auf die Ursprünge der Kultur; Gefühle sind gar selbst ›Schiedsrichter‹. Doch sollte sich die Funktion dieser Literaturkritik nicht in der Herstellung eines Zustandes der sozialen, mentalen und emotiven ›Ausgeglichenheit‹ (»Homöostase«) erschöpfen, sondern sie sollte dem Leser mehrschichtige Gefühle und Urteile erschließen (Damasio 2017: 136, 195). Zu einem Zeitpunkt, an dem auf denkbar einfachste Weise (zumindest theoretisch) jede Leserin und jeder Leser zu einem Literaturkritiker werden kann, hat das klassische, von binären Oppositionen getragene Kritik-Modell ausgedient. Die diskursiven Praktiken auch der digitalen Literaturkritik hingegen werden sich kaum ändern, allenfalls wird es zu einer Verschiebung zu Gunsten der ›liebenden‹ (also unkritischen) Praxis kommen. Doch auch das gehört zur Anthropologie der Literaturkritik, die die Rolle der Medien bei der Ausbildung von anthropologischen Modellen nicht negiert. Die Medien der Literaturkritik haben folglich in ihrer 300-jährigen Geschichte eine Reihe von
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Rollenmodell und ›Sichtbarkeiten des Menschen‹ erzeugt (Pfeiffer 1999), zu denen der Kannibale rechnet. Das Bild des ›kritischen Kannibalen‹ macht einerseits die diskursiven Praktiken der Literaturkritik sichtbar, andererseits aber auch kenntlich, wie diese Sichtbarkeit von der Art der Mediennutzung und von weiteren Rollenbildern abhängt. Das emotional abstoßende des Vergleichs kann zugleich ein Hinweis darauf sein, wie sehr wir uns weigern, Kultur mit Akten der Gewalt in Verbindung zu bringen. Folglich wird der Mensch im digitalen Zeitalter nicht verabschiedet (er wird vielmehr selbst als Medium der Medien konzipiert, vgl. Rieger 2001), so dass das Bild des kritischen Kannibalen nicht an Relevanz verliert. Durch das (im digitalen Zeitalter medial katalysierte) Ver-Spielen und die Performanz verselbstständigt sich die eigene Andersheit des Lesenden. Dass die Praktiken der Literaturkritik sich im anthropologisch scheinbar fremdesten Anderen – im Kannibalen – realisieren, belegt die immense anthropologische Virulenz der Literaturkritik. Die Praktiken des kritischen Kannibalismus zu analysieren heißt – bezogen auf die gegenwärtige Gemengelage von Literaturkritik zwischen Philologie und angewandter Literaturwissenschaft – Literaturkritik als »Kulturwissenschaft der Jetztzeit« (Porombka 2005: 121) zu begreifen, aber auch darauf hinzuwirken, dass die Rolle des Kannibalen bewusst gemacht und bewusst angenommen wird. Die diskursiven Praktiken haben schließlich Anteil daran, dass sich die Reflexion auf Literatur im 18. Jahrhundert als spezifischer Vorgang herauskristallisiert, um an seinem Ende einen emphatischen Begriff von ›Literatur‹ wie von ›Kritik‹ zu entwickeln. ›Kritischer Kannibalismus‹ begründet daher nicht allein die Geburt der Literaturkritik, sondern fungiert letztlich auch als ›Geburtshelfer‹ der allgemeinen Kritik – doch das wäre ein eigenes Thema. Wenn Literaturkritik im Internet-Zeitalter implizit immer noch mit den Forderungen des Aufklärungszeitalters verbunden ist, wenn zugleich Literaturkritik auf anthropologischen und befremdlichen Konstanten beruht – kann man dann wirklich von einer ›Entwicklung‹ (im Sinne einer linearen Genese oder Evolution) der Literaturkritik sprechen? Sollte Literaturkritik im Zeitalter des Internet nicht eher wieder eine »reflexions- und kommunikationsstimulierende Funktion« (Anz 2004: 195) einnehmen? Während sich die Laienkritik ohnehin an literaturkritische Gesprächsformen der romantischen Salons anlehnt, hat die Bedrohung, die die Feuilleton-Kritik ob der neuen Kritik-Formen empfand, umfangreiche Debatte angestoßen. Dass mit Lust und Verve (wieder) für und gegen die Literaturkritik gestritten wird, dass im beginnenden dritten Jahrtausend, im digitalen Zeitalter, Kommunikation als Kult betrieben wird – das schadet der Literaturkritik nicht. Im Gegenteil: wer gegenwärtig eine Krise der Literaturkritik konstatiert oder die Legitimität der Literaturwissenschaft hin-
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terfragt,73 verkennt, dass die Krise der Kritik bereits etymologisch eingeschrieben ist: Wäre die Kritik nicht in der Krise, müsste man sich ernsthaft Sorgen um Freiheit, Liberalität und damit Demokratie machen. Solange der Barbarismus der Literaturkritik kritisch reflektiert werden kann, solange Literaturkritiken noch den nötigen ›Biss‹ haben dürfen, solange die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft dieser Genealogie ›eingedenken‹ darf, ist es um Kritik wie Wissenschaft nicht schlecht bestellt.
73 | Der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke fordert jüngst ein Ende der fachspezifischen Wehleidigkeit und »mehr Biss« (Doerry 2017). Die polemische Diagnose der Fachkrise komme, so Korschorke, einer »Obduktion« gleich, Drügh/Komfort-Hein/Koschorke 2017.
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Zitierte Literatur
Bei Neu- und Nachdrucken sowie bei Übersetzungen wird – um die historische Einordnung zu erleichtern – im Kurztitel das Jahr der Ersterscheinung genannt. Das Erscheinungsjahr der verwendeten Ausgabe findet sich am Ende des jeweiligen Titels. Aufgrund anderweitiger Arbeiten wurde Forschungsliteratur, die nach März 2017 erschienen ist, nur in Einzelfällen berücksichtigt.
A. S IGLEN AGS: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. 20 Bde. Hg. v. Rolf Tiedemann u.a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970–1997. BGW: Bert Brecht, Werke. 30 Bde. Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt a. M./Berlin: Suhrkamp/Aufbau, 1988–2000. DE: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. A. d. Frz. v. Reiner Ansén u.a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002. GB: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe. 6 Bde. Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995–2000. GFA: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Friedmar Apel u.a. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985–2013. Grimm: Grimm, Jacob u. Wilhelm (1854, Hg.), Das Deutsche Wörterbuch. 33 Bde. [1854–1971, Nachdruck], München: dtv, 1984–1991. GS: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, 7 Bde. Hg. v. Wolfgang Tiedemann/Karl Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974–1989. Gundlingiana: Gundlingiana. Darinnen allerhand zur Jurisprudenz, Philosophie, Historie, Critic, Litteratur und übrigen Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt werden. 45 Stk. i. 5 Bdn., Halle: Renger 1715–1732. HFA: Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher u.a. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985–2000.
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Kritischer Kannibalismus KAA: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Akademieausgabe. 23 Bde. Hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: Akademie, 1902– 1955. KFSA: Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bisher 31 Bde. Hg. v. Hans Eichner u.a., Paderborn: Schöningh 1958– KSA: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde. Hg. v. Giorgio Colli/Mazzimo Montinari, Berlin u.a.: De Gruyter, 1980. LAA: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR […]. Bisher 110 Bde. Berlin: Akademie, 1923ff. LWB: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe. 12 Bde. Hg. v. Wilfried Barner u. a., Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985–1994. MG: Christian Thomasius, Schertz= und Ernsthaffter/ Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen […], in einem Gespräch vorgestellet von der Gesellschafft der Müßigen, Halle: Saalfeld, 1688–1690. [zitiert mit Erscheinungsmonat und -jahr] MJubA: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. v. Ismar Elbogen u.a.Berlin u.a: Akademie u.a., 1929–2006. NAG: Das Neueste aus der anmutigen Gelehrsamkeit. 12 Bde. Hg. v. Johann Christoph Gottsched, Leipzig: Breitkopf, 1751–1762. NB: Neue Bibliothec oder Nachrichten und Urtheile von neuen Büchern. 100 Stk. Hg. v. Nicolaus Hieronymus Gundling, Frankfurt a. M./Leipzig [i.e. Halle]: Renger, 1709–1721. SCPS: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften, zur Verbesserung des Urtheils und des Wizes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. 12 Stk., Hg. v. Johann Jacob Bodmer, Zürich: Orell, 1741–1744. SFA: Friedrich Christoph Schiller, Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. v. Otto Dann u.a., Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1988–2004. Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexikon aller Wissenschafften und Künste, [...]. 68 Bde. Halle/Leipzig: Zedler, 1731–1754. [zitiert mit Bandnummer und Columne]
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Carl Spitzweg, Der Bücherwurm (ca. 1850) [The Yorck Project] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/ deed.de, PD-1923) Abbildung 2: Charles Joseph Travies de Villiers, La Critique (ca. 1830) [Bibliothèque des Arts décoratifs Paris] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de,PD-1923) Abbildung 3: Albrecht Dürer, Johannes verschlingt das Buch (1498) [Staatliche Kunsthalle Karlsruhe] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de, PD-1923) Abbildung 4: Christian Thomasius, Freymüthige Lustige und Ernsthaffte jedoch Vernunfft- und Gesetz-mäßige Gedancken Oder Monats-Gespräche, über allerhand, fürnehmlich aber Neue Bücher : Durch alle zwölff Monate des 1688. und 1689. Jahrs. Halle, Frankfurt a. M., Leipzig 1689, Frontispizen zu Mai und Juli 1689 [Verzeichnis Deutschspachiger Drucke des 17. Jahrhunderts - VD17 23:279186B] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/ 1.0/deed.de, PD-1923). Abbildung 5, 8, 9, 10: William Hogarth, The Analysis of Beauty. London 1753 [Metropolitan Museum of Art] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de, PD-1923) Abbildung 6: William Hogarth, The Four Stages of Cruelty, IV: The Reward of Cruelty: Tom Nero's Body is Dissected after he has been Hanged (1751) [Old Bailey Proceedings Online] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de, PD-1923) Abbildung 7: Monogrammist TK mit dem Schneidemesser, Anatomia M. Lvtheri. Explicatio hvivs typi per Iacobvm Vitellivm (um 1567) [Kunstsammlungen der Veste Coburg] (Creative-Commons-Lizenz CC0 1.0, https://creativecommons.org/ publicdomain/zero/1.0/deed.de, PD-1923) Abbildung 11: Peltro William Tomkins (nach Johann Heinrich Füßli), The Temptation of Eve. In: The Poetical Works of John Milton, Collated with the Best Editions by Thomas Park. Vol. II. London 1805, Frontispiz [Google Books] (Public Domain Mark 1.0, https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de, PD-1923)
Personenindex Der Personenindex beinhaltet ausschließlich historische Personennamen. Verfasser von neuerer wissenschaftlicher Forschungsliteratur wurden nicht aufgenommen, sehr wohl aber solche Forscher und Literaturkritik, die für die Entstehung des untersuchten Quellenkorpus Bedeutung beanspruchen können (also z. B. Theodor W. Adorno oder Max Kommerell). Zur Entlastung des Haupttextes wurden die Lebensdaten – soweit ermittelbar – in den Index aufgenommen, sofern sie nicht besondere Relevanz für das Rezeptionszeugnis beanspruchen können. Die Namensnennung in den Anmerkungen und in literarischen oder historischen Quellenzitaten wurde mit aufgenommen, jedoch nicht eigens gekennzeichnet. Autorinnen sind i. d. R. unter dem Namen ihres Gatten verzeichnet. Abschatz, Hans Aßmann v. (1646– 1699) 187 Addison, Joseph (1672–1719) 246, 251, 252, 258, 296 Adorno, Theodor W. (1903–1969) 19, 26, 40, 41, 44, 45, 48, 51, 54, 87, 88, 91, 93, 108, 149, 150, 238, 270, 294, 305 Aischylos (525–456 v. Chr.) 231 d’Alembert, Jean le Rond (1717–1783) 26 Alewyn, Richard (1902–1979) 121, 142 Améry, Jean (1912–1978) 23 Anton Ulrich (BraunschweigWolffenbüttel) (1633–1714) 185 Aretino, Pietro (1492–1556) 154 Aristoteles (384–322 v. Chr.) 64, 73, 74, 107 Arnold, Gottfried (1666–1714) 180 Bachelard, Gaston (1884–1962) 23, 26, 27, 34, 58
Bacon, Francis (1561–1626) 158 Balzac, Jean-Louis Guez de (1597–1654) 173 Barthes, Roland (1915–1980) 14, 34 Bataille, Georges (1897–1962) 26, 114 Bateson, Gregory (1904–1980) 312 Baudelaire, Charles (1821–1867) 51–53, 59, 108, 124, 148 Baumgarten, Alexander Gottlieb (1714– 1762) 65, 76, 77, 82, 195, 199, 226, 236–237, 262, 270 Bayle, Pierre (1647–1706) 74, 157, 163, 175, 176 Beer, Johann (1655–1700) 121, 142 Belmore, Herbert W. (1893–1978) 98, 106 Benjamin, Dora (1901–1946) 95, 115 Benjamin, Georg (1895–1942) 135 Benjamin, Walter (1892–1940) 12–14, 18, 26–27, 38, 39, 45, 59, 92, 93–150, 197, 271, 275, 297, 300, 303, 307, 308 Benn, Gottfried (1886–1956) 129
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Kritischer Kannibalismus Berge, Ernst Gottlieb v. (1649–1710) 253 Bernouilli, Carl Albrecht (1868–1937) 43 Biester, Johann Erich (1749–1816) 282–283 Blanchot, Maurice (1907–2003) 26 Blanqui, Louis-Auguste (1805–1881) 40–41, 50–53 Bligger von Steinach (1174?–1209?) 70 Bloy, Léon (1846–1917) 148 Blumenberg, Hans (1920–1996) 13–14 Bodmer, Johann Jacob (1698–1783) 65, 66, 69, 90, 154, 198, 205, 206, 212, 218, 235, 239, 244–256, 263, 274 Boileau-Despréaux, Nicolas (1636–1711) 196, 245, 256–258 Bouhours, Dominique (1628–1702) 261 Bourdieu, Pierre (1930–2002) 14, 24, 31, 81, 86, 163, 248, 261, 264, 269, 287–288 Boydell, John (1720–1804) 255 Boyneburg, Johann Christian v. (1622– 1672) 159 Brecht, Bert[olt] (1898–1956) 41, 51, 54, 87, 110, 122, 129, 146, 297 Breitinger, Johann Jacob (1701–1776) 69, 75, 80, 198, 212, 239, 244, 245, 248–251, 263 Brockes, Barthold Hinrich (1680–1747) 259 Bronnen, Arnolt (1895–1959) 129 Buber, Martin (1878–1965) 44 Buddeus, Johann Franz (1667–1729) 167 Burke, Edmund (1729–1797) 195–196, 213
Cavaillès, Jean (1903–1944) 23 Caylus, Anne Claude Philippe de Tubieres de (1692–1765) 230 Cicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) 74, 157, 166 Cohen, Hermann (1842–1918) 46 Cohn, Alfred (1892–1954) 115 Cohn, Jula J. Radt Crousaz, Jean-Pierre de (1663–1750) 259, 261 Cysarz, Herbert (1896–1985) 46 Dante Alighieri (1265–1321) 255 Deleuze, Gilles (1925–1995) 27–28, 29, 30, 31 Dennis, John (1658–1734) 261 Derrida, Jacques (1930–2004) 27, 28– 29, 31, 35, 304 Descartes, René (1596–1650) 27, 107, 163, 167, 207, 236, 260 Diderot, Denis (1713–1784) 26, 64 Dilthey, Wilhelm (1833–1911) 88, 111, 117, 142, 303 Drakenborch, Arnold (1684–1748) 242 Drews, Jörg (1938–2009) 134, 135 Dubos, Jean-Baptiste (1670–1742) 247, 259, 261 Dürer, Albrecht (1471–1528) 150, 304 Durkheim, Émile (1858–1917) 305 Dusch, Johann Jacob (1725–1787) 207, 216
Calepio, Pietro di (1693–1762) 246– 247 Calvin, Jean (1509–1564) 224 Canetti, Elias (1905–1994) 146 Canguilhem, Georges (1904–1995) 23, 27–28, 29, 31, 34
Fabricius, Johann Andreas (1696– 1769) 157–158 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 265 Fletcher, John (1579–1625) 231
Eckhard, Christian Heinrich (1716– 1751) 164 Eco, Umberto (1932–2016) 133 Eichendorff, Joseph v. (1788–1857) 184 Elias, Norbert (1897–1990) 305 Engels, Friedrich (1820–1895) 54
Personenindex Forster, Georg (1754–1794) 266, 267– 268, Förster-Nietzsche, Elisabeth (1846– 1935) 40 Foucault, Michel (1926–1984) 17–19, 23–38, 39, 40, 53, 55, 56, 58, 62, 86, 88, 89, 91, 238, 302–304 Francke, August Hermann (1663–1727) 178–179 Freud, Sigmund (1856–1939) 47, 86, 303–304, 306, 310 Fuchs, Eduard (1870–1940) 53–54, 57, 94 Füßli, Johann Heinrich (1741–1825) 255–256 Gadamer, Hans-Georg (1900–2002) 197, 258, 259, 262, 265, 270 Galenus (130–210 n. Chr.) 284, 310 Geertz, Clifford (1926–2006) 37 George, Stefan (1868–1933) 50, 60, 98, 101–103, 109, 111, 112, 126, 136, 141– 143 Gleditsch, Johann Friedrich (1653– 1716) 185, 188 Glück, Gustav (1902–1973) 145 Goethe, Johann Wolfgang (1749–1832) 47, 62, 65, 88, 99, 109–121, 125, 127, 141, 151, 196, 201, 207, 212, 269, 285, 304, 309 Goeze, Johann Melchior (1717–1786) 212, 233 Gottfried von Straßburg († um 1215) 70 Gottsched, Johann Christoph (1700– 1766) 63, 65, 66, 69–70, 75–78, 80, 85, 153, 158, 171, 196, 200, 205–209, 218, 219, 233, 239, 244–245, 247–253, 257, 260, 262, 266, 269, 271–272, 279, 308 Gottsched, Louise Adelgunde Victorie (1713–1762) 308 Gracián, Baltasar (1601–1658) 257–258 Grass, Günter (1927–2015) 289
Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel v. (1622–1676) 70, 143, 183 Grotius, Hugo (1583–1645) 165 Gryphius, Andreas (1616–1664) 121, 142–143 Guarini, Giovanni Battista (1538–1612) 187 Gundling, Nicolaus Hieronymus (1671–1729) 90, 154, 157, 167, 239– 244 Gundolf, Friedrich (1880–1931) 88, 111–115, 117, 121, 141–144 Habermas, Jürgen (*1929) 31, 35, 36, 58, 79, 163, 197, 269, 304, 305 Haller, Albrecht v. (1708–1777) 206, 209, 220, 229 Hamann, Johann Georg (1730–1788) 125 Handke, Peter (* 1942) 289 Hartmann von Aue († 1210–1220) 70 Hauptmann, Gerhart (1862–1946) 132, 133 Hebbel, Friedrich (1813–1863) 113 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770– 1831) 21, 24, 25–26, 28, 34–35, 38, 51, 107, 196, 197, 207, 265, 303 Hegemann, Helene (* 1992) 298 Heidegger, Martin (1889–1976) 26, 50, 58 Heine, Heinrich (1797–1856) 208 Heinecken, Carl Heinrich v. (1707– 1791) 205 Heinle, Fritz (1894–1914) 44, 98, 101, 103, 105 Heinrich von Veldeke (* vor 1150; † 1190–1200) 70 Heliodoros aus Emesa (3./4. Jh. n. Chr.) 185 Hellingrath, Norbert v. (1888–1916) 97, 99, 102–105 Helvétius, Claude Adrien (1715–1771) 26
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Kritischer Kannibalismus Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 20, 86, 205, 222, 231, 259, Hiller, Kurt (1885–1972) 43 Hobbes, Thomas (1588–1679) 170, 284 Hobrecker, Karl (1876–1949) 137–140 Hoffmannswaldau, Christian Hofmann v. (1617–1679) 187, 192, Hoffmann, Christian Gottfried (1692– 1735) 178 Hogarth, William (1697–1764) 212, 215, 219–231 Holborn, Hajo (1902–1969) 48 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 88, 96–106, 131 Homer (8. Jh. v. Chr.) 73, 255, 274, 305 Horatius [Horaz] Flaccus, Quintus (65– 8 v. Chr.) 64, 74, 173, 175, 192, 205, 210, 219, 237 Horkheimer, Max (1895–1973) 40, 45, 51, 53, 54, 55, 91, 305 Huizinga, Johan (1872–1945) 311 Hume, David (1711–1776) 196, 261 Husserl, Edmund (1859–1938) 23 Hutcheson, Francis (1694–1746) 196 Hyppolite, Jean (1907–1968) 27, 38 Iser, Wolfgang (1926–2007) 301, 311– 313 Jean Paul [i. e. Johann Paul Friedrich Richter] (1763–1825) 263 Jünger, Ernst (1895–1998) 126 Kafka, Franz (1883–1924) 93 Kames, Henry Home (1696–1782) 261 Kant, Immanuel (1724–1804) 13, 23, 29, 30, 38, 46, 71, 72, 73, 82, 84, 86, 107, 123, 153, 165, 177, 197–199, 235, 237, 262, 264–265, 268–270, 302 Kaube, Jürgen (*1962) 298 Keller, Philipp (1891–1973) 101 Kerr, Alfred (1867–1948) 145, 149 Kierkegaard, Søren (1813–1855) 23, 51
Klabund [i. e. Alfred Henschke] (1890– 1928) 142 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724– 1803) 215 Klossowski, Pierre (1905–2001) 27, 29, 31, 54 Klotz, Christian Adolph (1738–1771) 207, 214, 217–218, 230 Kommerell, Max (1902–1944) 60, 102, 141 König, Johann Ulrich (1688–1744) 248, 253, 259–261, 269, 270 Korsch, Karl (1886–1961) 54 Koselleck, Reinhart (1923–2006) 37, 71, 72–75, 77, 79 Kraus, Karl (1874–1936) 39, 145–150, 275 Kulmus, Louise Adelgunde Victorie L. A. V. Gottsched La Mothe Le Vayer, François de (1588– 1672) 163, 191–192 La Rochefoucauld, François de (1613– 1680) 257 Lange, Samuel Gotthold (1711–1781) 198 Latour, Bruno (*1947) 301, 304, 310–311 Le Clerc [Clericus], Jean (1657–1736) 67, 163, 182 Leibniz, Friedrich (1597–1652) 162 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646– 1716) 46, 47, 64, 65, 90, 154, 159– 162, 165, 187, 195, 236, 237, 269 Leopold I. (Habsburg) (1640–1705) 180, 186, 188 Lessing, Carl Gotthelf (1740–1812) 210 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781) 61, 63, 65–66, 69, 70, 72, 76, 77, 78, 84, 85, 90, 124, 125, 126, 143, 144, 153, 154, 155, 201, 205–235, 237, 238, 274, 279, 281, 296 Lévi–Strauss, Claude (1908–2009) 13, 34, 304–307, 310
Personenindex Lichtenberg, Georg Christoph (1742– 1799) 13, 207, 223, 234, 235, 263 Lippmann, Walter (1889–1974) 292 Liscow, Christian Ludwig (1701–1760) 90, 154, 179, 201–205, 209, 216, 234, 243, 248 Lohenstein, Daniel Casper v. (1635– 1683) 142, 178, 181–194, 249 Loos, Alfred (1870–1933) 147 Löscher, Valentin Ernst (1673–1749) 157, 180 Löwith, Karl (1897–1973) 41, 50–52 Ludolph, Jacob (Leb.-dat. unbek.) 182 Luhmann, Niklas (1927–1998) 11, 81, 84, 272, 287, 305 Lukács, Georg (1885–1971) 41, 117–118, 128–129 Luther, Martin (1483–1946) 80, 105, 155, 156, 161, 169, 178, 180, 193, 212, 270 Magny , Claude François Constantin de (1692–1761) 251 Mann, Klaus (1906–1949) 102 Mannheim, Karl (1893–1947) 19, 128 Marino, Giambattista (1569–1625) 259 Marx, Karl (1818–1883) 23, 24, 38, 41, 51, 54, 87, 88, 126, 137, 305 Masius, Hector Gottfried (1653–1709) 193–194 Massinger, Philip (1584–1640) 231 Mattheson, Johann (1681–1764) 263 Mayer, Hans (1907–2001) 114 McLuhan, Marshall (1911–1980) 315 Mehring, Franz (1846–1919) 54 Meier, Georg Friedrich (1718–1777) 76, 199–200, 262–263 Mencke, Otto (1644–1707) 160–161 Mendelssohn, Moses (1729–1786) 65, 212–214, 225, 226 Merleau-Ponty, Maurice (1908–1961) 23 Miller, Joseph Hillis (*1928) 309 Milton, John (1608–1674) 65, 251–256
Missac, Pierre († 1986) 87 Molière [i. e. Jean-Baptiste Poquelin] (1622–1673) 65, 173, 256 Morhof, Daniel Georg (1639–1691) 158, 164, 173, 187, 201 Mylius, Christlob (1722–1754) 219–222 Naudé, Gabriel (1600–1653) 158 Nestroy, Johann (1801–1862) 149 Neukirch, Benjamin (1665–1729) 184 Neumann, John v. (1903–1957) 311 Nicolai, Friedrich (1733–1811) 206, 208, 211, 214, 217, 225, 237, 260, 280, 283 Nietzsche, Elisabeth E. FörsterNietzsche Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 13, 14, 17–59, 60, 84, 91, 92, 97, 99, 101, 131, 133, 271, 303, 304 Nitzsch, Friedrich (1641–1702) 159 Noelle-Neumann, Elisabeth (1916– 2010) 292 Novalis [i. e. Friedrich von Hardenberg] (1772–1801) 96, 140, 196–197, 263 Oehler, Richard (1878–1948) 40 Opitz, Martin (1597–1693) 69, 142, 249 Orsi, Giovan Gioseffo (1652–1733) 242 Ovidius [Ovid] Naso, Publius (43 v. Chr.–17 n. Chr.) 198, 230, 237 Panofsky, Erwin (1892–1968) 150 Paracelsus [i. e. Theophrastus Bombast v. Hohenheim] (1493–1541) 310 Philippi, Johann Ernst (ca. 1700–ca. 1757) 204, 205 Platon (428/427–348/347 v. Chr.) 42, 46, 55, 65, 195, 196, 243, 287 Plotin (205–270 n. Chr.) 196 Pope, Alexander (1688–1744) 202, 249 Prasch, Johann Ludwig (1637–1690) 165, 170 Pritius, Johann Georg (1662–1732) 185, 187–188, 189 Pufendorf, Samuel v. (1632–1694) 169
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Kritischer Kannibalismus
Quincey, Thomas de (1785–1859) 225 Quintilian(us), Marcus Fabius (35?– 96?) 11, 12, 67 Rabener, Gottlieb Wilhelm (1714–1771) 201 Racine, Jean (1639–1699) 65 Raddatz, Fritz J. (1931–2015) 133, 134– 137 Radt, Fritz (1893–1978) 115 Radt, Jula (1894–1981) 115–117 Rang, Florens Christian (1864–1924) 41–42 Reich-Ranicki, Marcel (1920–2013) 11, 133–137, 238, 273, 277, 294, 295, 311 Reimarus, Elise (1735–1805) 226 Reimmann, Jacob Friedrich (1668– 1743) 157–158 Reinmar von Hagenau († 1210) 70 Sadoleto, Jacopo (1477–1547) 227, 230 Salomon, Albert (1891–1966) 48 Sartre, Jean-Paul (1905–1980) 23 Saxl, Fritz (1890–1948) 150 Scaliger, Julius Caesar (1484–1558) 279 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854) 265 Schiller, Friedrich (1759–1805) 77, 126, 150, 151, 207, 269 Schlegel, August Wilhelm (1767–1845) 222 Schlegel, Friedrich (1772–1829) 62, 88, 91, 97, 106, 11, 124–130, 153, 237, 238, 283, 285, 295, 308 Schlegel, Johann Elias (1719–1749) 65, 66 Schmitt, Carl (1888–1985) 41, 48, 72 Schoen, Ernst (1894–1960) 99, 103, 115 Scholem, Gershom (1897–1982) 12, 41, 42–44, 57, 87, 96, 104, 110, 115, 117, 121, 124, 128, 130, 132, 134, 135, 137, 139, 140, 141, 142, 145, 146, 275 Scudéry, Madelaine de (1607–1701) 165
Seligson, Rika (1891–1914) 98 Seneca, Lucius Annaeus (1–65 n. Chr.) 183 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl of (1671–1713) 65, 195, 196, 254, 258, 260 Shakespeare, William (1564–1616) 65, 150, 255, 300 Silius Italicus (25–100? n. Chr.) 242– 244 Simmel, Georg (1858–1918) 47, 110, 143 Spangenberg, Johann (1484–1550) 224 Spence, Joseph (1699–1668) 230 Spencer, Herbert (1820–1903) 305 Spiegel, Hubert (1962) 132, 133 Steele, Richard (1672–1729) 246 Steinbart, Gotthilf Samuel (1738–1809) 268 Steiner, George (*1929) 11, 273, 311 Strauß, Ludwig (1892–1953) 98 Sturm, Johann Christoph (1635–1703) 164 Sturz, Helfrich Peter (1736–1779) 226 Sulzer, Johann Georg (1720–1779) 266–267 Swift, Jonathan (1667–1745) 117, 148, 202 Szondi, Peter (1929–1971) 35, 40, 195 Taine, Hippolyte (1828–1893) 25 Tentzel, Wilhelm Ernst (1659–1707) 182–189 Thomasius, Christian (1655–1728) 69, 77, 82, 83, 84, 90, 151, 154, 155, 157, 159, 162–194, 208, 231, 239, 240, 242, 258–259, 260, 261, 274, 279 Thomasius, Jacob (1622–1684) 162 Tomkins, Peltro William (1759–1840) 255–256 Traviès de Villers, Charles Joseph (1804–1859) 144 Varus, Publius Quinctilius (47/46 v. Chr.–9 n. Chr.) 184
Personenindex Vitellius, Jacobus ( 1587–1648) 224 Voltaire (i. e. François-Marie Arouet) (1694–1778) 49, 64, 219, 251, 252, 272 Vossius, Gerardus Joannes (1577–1649) 169 Wagner, Christian (1663–1693) 184, 187 Walch, Johann Georg (1693–1775) 155, 156, 200 Walser, Martin (* 1927) 11, 289, 311 Walther von der Vogelweide (1170?– 1230?) 70 Walzel, Oskar (1864–1944) 104, 119 Weber, Max (1864–1920) 276, 305 Weidermann, Volker (* 1969) 11 Weise, Christian (1642–1708) 70 Wernicke, Christian (1661–1725) 69, 75
Wieland, Christoph Martin (1733–1813) 206, 211, 212–213, 214, 217, 232, 281 Winckelmann, Johann Joachim (1717– 1768) 65, 124, 153, 197, 226–227, 230, 266 Winkels, Hubert (* 1955) 11, 277, 298 Wolff, Charlotte (1897–1986) 115 Wolff, Christian (1679–1754) 158, 181, 199, 262 Wyneken, Gustav (1875–1964) 98, 99, 101, 102, 103 Young, Edward (1683–1765) 261 Zedler, Johann Heinrich (1706–1751) 20, 200 Zelter, Carl Friedrich (1758–1832) 109 Zenner, Gottfried (1656–1721) 173 Zesen, Philipp v. (1619–1689) 70 Zwingli, Huldrych (1484–1531) 224
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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
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