Kriminologie [Reprint 2021 ed.] 9783112420409, 9783112420393


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German Pages 1117 [1120] Year 1987

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Kriminologie [Reprint 2021 ed.]
 9783112420409, 9783112420393

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de Gruyter Lehrbuch

Kriminologie Hans Joachim Schneider

w DE

G 1987 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Dipl.-Psych. Dr. jur. Hans Joachim Schneider o. Professor und Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften an der Universität Münster/Westf.

Gustav Aschaffenburg (1866—1944), Max Grünhut ( 1 8 9 3 - 1 9 6 4 ) , Hans von Hentig (1887—1974) und Hermann Mannheim (1889—1974) in Dankbarkeit gewidmet.

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Schneider, Hans Joachim: Kriminologie / von Hans Joachim Schneider. — Berlin; New York: de Gruyter, 1987. (De-Gruyter-Lehrbuch) ISBN 3-11-007023-5 flexibler Kunststoffeinbd. ISBN 3-11-011197-7 geb.

© Copyright 1986 by Walter de Gruyter & Co, Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck H. Heenemann G m b H & Co, 1000 Berlin 42 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer Buchgewerbe G m b H , 1000 Berlin 61

Vorwort N a c h dem 2. Weltkrieg hat sich die Kriminologie im deutschsprachigen R a u m erfreulich, zum Teil stürmisch entwickelt. Neue kriminologische Universitätsinstitute und Lehrstühle sind entstanden. Kriminologie wird nicht nur an juristischen, psychologischen, soziologischen und pädagogischen Fakultäten der U n i versitäten, sondern auch an Fachhochschulen, an Polizei- und Strafvollzugsakademien gelehrt. Sie spielt bei der Fortbildung der Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger eine Rolle. Die kriminologische Forschung im deutschsprachigen Bereich kann auf Weltniveau mitreden. D i e vorliegende Gesamtdarstellung der Kriminologie versucht, dieser E n t wicklung gerecht zu werden und sie zu fördern. Sie ist in erster Linie für Studierende der Rechtswissenschaft, der Psychologie, Soziologie und Pädagogik, aber auch für kriminologische Forscher und Praktiker der Strafrechtspflege, namentlich für Kriminalbeamte, Staatsanwälte, Strafrichter, Strafverteidiger, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbedienstete geschrieben. Ihr vornehmlichstes Ziel besteht darin, unter intensiver Verarbeitung der wichtigsten in- und ausländischen Literatur ebenso umfassend wie knapp, konzentriert und angemessen zu informieren. Sie bemüht sich um Verständlichkeit und Anschaulichkeit. D e r Lesbarkeit sollen nicht allein die zahlreichen Beispiele dienen, mit denen der T e x t aufgelockert worden ist. 42 Abbildungen und 9 Tabellen erhöhen vielmehr die Bildlichkeit. D u r c h dreißig „Fenster" (Kästen) wird eine zweite Illustrationsund Informationsebene eröffnet und hochschulpädagogischen und -didaktischen Bestrebungen R a u m gegeben. Kurzinformationen vermitteln „ E i n - B l i c k e " in wichtige Einzelprobleme der Kriminologie. Fälle sollen den T e x t veranschaulichen. Alle Beispiele stammen ausnahmslos aus der Wirklichkeit. Nichts ist ersonnen oder gedanklich konstruiert. D i e Fälle sind freilich dort, w o es notwendig erschien, zum Schutz der Persönlichkeit verfremdet. J e d e Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre deshalb rein zufällig und unbeabsichtigt. Z u r V e r ständlichkeit sollen nicht nur die Kurzbiografien der Pioniere der Kriminologie, sondern auch die Erklärungen der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke beitragen, soweit sie nicht schon im T e x t selbst verdeutlicht worden sind. D i e häufig den Sozialwissenschaften entlehnten Fachausdrücke sind im Sinne der Kriminologie und ihres Gebrauchs in diesem B u c h e definiert worden. U m dem Leser ein vertieftes Studium und ein W e i t e r f o r s c h e n auf Spezialgebieten zu ermöglichen, habe ich mich um eine sorgfältige D o k u mentation des T e x t e s bemüht. Das ausführliche Literaturverzeichnis bietet reichlich Anregung zur Weiterarbeit. D i e kriminologische Gesamtdarstellung, die keiner Vorstudien bedarf und die aus sich selbst heraus verständlich ist, setzt bewußt Akzente. D i e Stoffauswahl und Schwerpunktverteilung sind hierbei freilich nicht nur aufgrund meiner langjährigen Lehr- und Prüfungserfahrung vorgenommen w o r d e n , sondern sie

VI

Vorwort

beruhen auch auf vielen Diskussionen mit meinen Kollegen während meiner zahlreichen kriminologischen Informations- und Vortragsreisen im In- und Ausland. Auf drei Gesichtspunkte habe ich besonderes Gewicht gelegt: — Alle kriminologischen Probleme, die ich behandele, werden mit einem einheitlichen theoretischen und kriminalpolitischen Konzept zu lösen versucht. Mit kriminalbiologischen, psychopathologischen und marxistischen Theorien setze ich mich zwar auseinander; ich lehne sie aber mit eingehender Begründung ab. Die Darstellung versucht vielmehr, psychoanalytische Erkenntnisse zum Tragen zu bringen. Hauptsächlich folgt sie soziologischen und sozialpsychologischen Konzeptionen, z. B. der Theorie der sozialen Desorganisation, der Subkulturtheorie, der sozialen Lern- und Kontrolltheorie und dem symbolischen Interaktionismus, schließlich dem Konzept der Täter- und Opferkarriere. Sie setzt sich demzufolge für eine liberale, rechtsstaatliche Kriminalpolitik ein. — Die Stoffdiskussion beschränkt sich nicht allein auf Tätergesichtspunkte und die Sozialkontrolle. Die Opferperspektive ist vielmehr gleichrangig eingearbeitet worden. Frauen, junge und alte Menschen werden nicht nur als Täter gesehen. Ihr Opferwerden (z. B. Frauen-, Kindes- und Altenmißhandlung, Vergewaltigung, sexueller Mißbrauch von Kindern) wird gleichfalls erörtert. Bei Verbrechensformen im einzelnen, z. B. bei Terrorismus und Völkermord, werden nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer und ihre Belange berücksichtigt. — Der dritte zentrale Aspekt liegt im geschichtlichen und im Ländervergleich. Uber das kriminologische Denken wird in seiner historischen Entwicklung wie in seiner weltweiten Ausbreitung orientiert. Die Kriminalität im deutschsprachigen Raum wird in ihren geschichtlichen Verlauf eingeordnet. Um einen Maßstab für die Besonderheiten der Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen, wird sie mit der Kriminalität in den Entwicklungsländern und in anderen entwickelten sozialistischen und kapitalistischen Staaten, insbesondere im deutschsprachigen Raum, verglichen. Die Kriminologie wird als internationale, interdisziplinäre und empirische Wissenschaft verstanden. Das Verbrechen wird nicht nur als Einzel-, sondern die Kriminalität wird auch als Massenerscheinung diskutiert. Anhand von Beispielen wird den methodologischen Problemen der kriminologischen Forschung in der Einleitung breiter Raum gewidmet. Die modernen Fortschritte der Kriminologie sind vor allem auf die kriminalstatistische und die Dunkelfeldforschung zurückzuführen. Deshalb sind die Methoden und Erträge dieser Forschungen ausführlich dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die kriminalgeographischen und -ökologischen Untersuchungen, die in einem besonderen Abschnitt diskutiert werden. Das Kernstück des Buches bildet freilich sein 4. Kapitel, das die „Hauptrichtungen der Kriminologie" darlegt, mit denen ich mich eingehend auseinandergesetzt habe. Neben dem Abschnitt über das Verbrechensopfer müssen noch die Abschnitte über Jugenddelinquenz und Massenmedien erwähnt

Vorwort

VII

werden, weil sie S c h w e r p u n k t e der Darstellung bilden. M o d e r n e kriminalpolitische K o n z e p t e werden in allen Kapiteln vorgestellt; sie sind indessen in d e m Strafvollzugsabschnitt besonders ausführlich beschrieben. Mein spezielles Interesse gilt der politischen Kriminalität, deren D i s k u s s i o n den Schluß des Buches ausmacht. In den „ F e n s t e r n " ( K ä s t e n ) sind K u r z i n f o r m a t i o n e n über wichtige Einzelprobleme der K r i m i n o l o g i e , z. B. über C o m p u t e r - und Sexualkriminalität, über Berufsverbrechertum, über T ä t e r - und O p f e r t y p e n , über Rauschmittelmißbrauch und P o r n o g r a p h i e , enthalten. Meinen Assistenten, den A s s e s s o r e n H a n s - J ü r g e n Bußmeyer, D r . U l r i k e H e e t f e l d und Christiane U t h e m a n n , und meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern T h e o d o r D o p h e i d e M. A. und H a r t w i g L a h r m a n n d a n k e ich f ü r ihre kritische Durchsicht meines Manuskripts, f ü r ihre Mithilfe bei der Zusammenstellung der Literatur und insbesondere f ü r ihre Herstellung des Sachregisters. Meine S e k r e tärinnen, Frau J u t t a R ö w e k a m p und Frau Birgit S c h ö n i n g , haben mit Fleiß, G e duld und S o r g f a l t das Manuskript geschrieben und mir beim Lesen der K o r r e k turen geholfen. Bei ihnen möchte ich mich herzlichst bedanken. Mein besonderer D a n k gilt schließlich wiederum meiner F r a u H i l d e g a r d Schneider, die mir nicht nur in mannigfaltiger Weise bei der H e r s t e l l u n g des Buches geholfen, sondern die mich auch jahrelang z u r Weiterarbeit ermutigt hat, s o daß ohne sie dieses Buch nicht geschrieben w o r d e n wäre.

Münster, im N o v e m b e r 1986

H a n s J o a c h i m Schneider

Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort V Abkürzungsverzeichnis und Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur XXI Verzeichnis und Erklärung der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke XXV Literaturverzeichnis XXXII I. Einleitung: Einige Probleme kriminologischer Forschung Vorurteile und Tabus Beobachtung sozialabweichenden Verhaltens Kriminelle Karrieren Tat- und Täteruntersuchungen Opferstudie und Experiment Vergleichende Methode Erforschung der Wirtschafts- und Betriebskriminalität Untersuchung des organisierten Verbrechens Kontrollforschung Fenster 1: Rauschmittelmißbrauch Fenster 2: Prostitution Fenster 3: Computerkriminalität II. D i e Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft 1. Der Verbrechensbegriff in der Kriminologie Die naturrechtlich-ethische Definition Die strafgesetzliche Definition Die soziale Definition Die strafgesetzlich-soziale Definition Die konfliktorientierte Definition Die psycho- und soziodynamische, realistische Definition Kriminalität im weiteren Sinne Kriminalität im engeren Sinne Begriffsbestimmungen 2. Begriff, Aufgaben und Abgrenzung der Kriminologie 3. Geschichte der Kriminologie Überblick Die Klassische Schule im 18. Jahrhundert Kriminalpsychologie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kriminalsoziologie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Der Positivismus, seine Vorläufer und seine Auswirkungen Die nordamerikanische Kriminologie gegen Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

1 3 6 13 22 28 31 42 51 55 8 18 48 66 66 67 67 68 69 71 74 77 80 82 84 90 90 92 94 97 101 115

X

Inhaltsverzeichnis Seite Die deutschsprachige Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Kriminologie der Nachkriegszeit

131 137

4. Organisation und Institutionalisierung der Kriminologie 141 Kriminologische Forschung und Lehre in der Bundesrepublik 141 Kriminologische Organisationen und Institute im deutschsprachigen Raum 144 Internationale Organisationen und Institute 145 Einige Beispiele kriminologischer Organisationen, Institute und Fakultäten des Auslandes 148 Die Kriminologie als autonome, interdisziplinäre, internationale, empirische und praxisnahe Wissenschaft 153 Fenster Fenster Fenster Fenster Fenster

4: Verbrechersprache 5: Verbrecherhandschrift 6: Aberglaube und Kriminalität 7: Tätowierungen unter Kriminellen 8: „Gaunerzinken"

III. Kriminalität, ihre Messung, ihr U m f a n g , ihre Struktur, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre räumliche Verteilung . . . . 1. Probleme und Aufgaben der Kriminalitätsmessung Alltagswissen über Kriminalität und Kriminelle Datenerhebung Aufgaben der Kriminalstatistik Wechselwirkung zwischen Kriminalitätsbegehung und Sozialkontrolle . .

102 106 110 112 114

159 159 159 161 162 163

2. Kriminalstatistiken Begriff und Geschichte Formen Verfälschungseinflüsse Der Anzeigevorgang Alternative Internationale Kriminalstatistik Kriminologische Kritik

168 168 170 172 174 177 179 181

3. Dunkelfeldforschung Begriff und Geschichte Methoden Erträge der Selbstberichtuntersuchungen Erträge der Studien zum Opferwerden Grenzen der Dunkelfeldforschung Bedeutung für die Kriminologie

182 182 190 209 211 215 218

Inhaltsverzeichnis

XI Seite

4. Kriminalitätsumfang,-struktur und-verlauf Die Weltsituation Geschichtliche Entwicklung Krieg und Kriminalität Wirtschaftskrisen: Depression und Inflation Wohlstandskriminalität Kriminalität in den entwickelten Ländern des Kapitalismus Kriminalität in Japan Kriminalität in sozialistischen Staaten Osteuropas Kriminalität in den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens, Mittel- und Südamerikas Kriminalität im deutschsprachigen Raum Ausländerkriminalität Kriminalprognose

221 221 231 241 251 253 255 261 268 274 283 301 308

5. Kriminalgeographie, -Ökologie und-topographie 327 Begriffe und Geschichte 327 Kriminalitätsverteilung und -bewegung 331 Tourismus und Kriminalität 337 Umweltzerstörung 339 Gemeinschaftsbildung durch Städtebau und Architektur 341 Viktimogene Gebäude, Gebäudeteile, Parks, Grünanlagen und Straßen . . 343 Kriminalitätsabwehrende Städteplanung und Baugestaltung 348 Verbrechensvorbeugung durch Raumgestaltung 356 Fenster 9: Schmuggel und Piraterie Fenster 10: Der Fall Rivière Fenster 11: Sexualkriminalität Fenster 12: Rückfalltäter, Berufsverbrecher und gefährliche Intensivtäter

IV. Hauptrichtungen der Kriminologie

224 238 246 . 314

359

1. Theorie, Empirie und Ideologie

359

2. Die Neoklassische Schule

364

3. Kriminalbiologische Theorien Zwillingsforschung Familien-und Adoptionsstudien Körperbau und Kriminalität Reifungsstörungen und hirnorganische Schäden Chromosomale Aberration Dysfunktion endokriner Drüsen Intelligenz und Verbrechen

369 370 371 374 376 378 379 380

4. Psychopathologie und klinische Kriminologie Definition Psychopath

382 382

XII

Inhaltsverzeichnis Seite

y

Psychopathologie in der Kriminologie Physiologische Erforschung des kriminellen Psychopathen Elektroenzephalographie Biosoziale Theorien zur Psychopathologie Einwände gegen die Psychopathologie Klinische Kriminologie Theorie der kriminellen Persönlichkeit

383 388 389 390 392 394 394

Mehrfaktorenansatz

396

6. Ökonomische Theorie, Marxismus und sozialistische Kriminologie Ökonomische Verbrechensursachen Schichtspezifische Erklärungsansätze Marxistische Kriminalitätstheorie Sozialistische Kriminologie

404 404 407 409 413

7. Kriminalsoziologische Theorien Soziale Desorganisation Anomietheorien Subkulturtheorien Konflikttheorien Radikale Theorien Rasse und Kriminaliät Religion und Kriminalität

419 419 429 434 441 450 457 469

8. Psychoanalytische Kriminologie Das psychoanalytische Persönlichkeits-und Entwicklungsmodell Die psychoanalytische Kriminalitätstheorie Der Verbrecher aus Schuldbewußtsein Geständnisarbeit „Latente" Verwahrlosung Verbindung des Marxismus mit der Psychoanalyse Verbrecher aus sozialer Entmutigung Empirische Bestätigung der psychoanalytischen Kriminalitätstheorie Fallstudien Klinische Beobachtungen Stichprobenuntersuchungen Der gegenwärtige Stand der psychoanalytischen Kriminologie Neurose und Kriminalität Psychoanalytische Behandlung des Rechtsbrechers Psychoanalyse der strafenden Gesellschaft Richterpsychologie Opferaspekt 9. Sozialpsychologische Kriminalitätstheorien Lerntheorien Theorie der differentiellen Assoziation

471 471 473 475 476 477 480 481 . . . 483 484 486 487 491 493 495 497 498 500 501 502 505

Inhaltsverzeichnis

XIII Seite

Theorie der unterschiedlichen Verstärkung 512 Neutralisationstheorie 516 Aggressionstheorien 519 Kontrolltheorien 523 Halttheorie 529 Theorie der sozialen Bindung 532 Theorie der unterschiedlichen Vorwegnahme 535 Interaktionstheorie („Labeling"-Theorie) 538 Vorläufer der kriminologischen Interaktionstheorie 539 Ausarbeitung der kriminologischen Interaktionstheorie 540 Labeling-Theorie 551 Empirische Erforschung der Interaktionstheorie (des Labeling-Ansatzes) . 552 Kriminalpolitische Konsequenzen der Interaktionstheorie 558 Stellungnahme 559 Fenster Fenster Fenster Fenster Fenster

13 : Täter- und Opfertypen 14: Alkoholmißbrauch Ii:Glücks- und Falschspiel 76. Autorität, Gehorsam und Gewalt 17: Selbstmord

V . Kriminalität, Geschlecht und Alter 1. Frauen und Kriminalität Der Frauenanteil an der Kriminalität Entwicklung der Frauenkriminalität Struktur der Frauenkriminalität Die Altersverteilung der Frauenkriminalität Gründe für den geringeren Kriminalitätsanteil der Frau Kriminalitätsstruktur und Geschlechtsrolle Änderungen der Frauenkriminalität Ursachen für die Wandlungen der Frauenkriminalität Ursachen der Frauenkriminalität Gewaltdelikte von Frauen Reaktion auf Mädchendelinquenz und Frauenkriminalität Der Strafvollzug an Mädchen und Frauen Kriminalität an Frauen und Mädchen Frauenmißhandlung Ursachen der Frauenmißhandlung Verhütung und Behandlung der Frauenmißhandlung Vergewaltigung: Begriff, Umfang und Entwicklung Erscheinungsformen der Vergewaltigung Vorurteile gegen Vergewaltigungsopfer Ursachen der Vergewaltigung Behandlung des Vergewaltigungstäters Behandlung des Vergewaltigungsopfers Verhütung der Vergewaltigung

384 460 506 524 544 561 561 561 561 562 563 563 567 567 568 570 572 573 575 578 580 581 588 589 591 593 593 597 598 599

XIV

Inhaltsverzeichnis Seite 2. Kinder- und Jugenddelinquenz, Kriminalität an Kindern Begriff, Umfang und Entwicklung der Kinder- und Jugenddelinquenz Wesen und Formen der Kinder- und Jugenddelinquenz Schulschwänzen und Fortlaufen aus dem Elternhaus Vandalismus Jugendkrawalle und Bandendelinquenz Ursachen der Kinder- und Jugenddelinquenz Delinquenzverhiitungsprogramme Kriminalität an Kindern: Kindesentführung Kindesmißhandlung Sexueller Mißbrauch von Kindern

603 . . 603 612 617 621 630 647 653 665 668 685

3. Alter und Kriminalität Begriff und Umfang der Alterskriminalität und der Kriminalität an alten Menschen Der Prozeß des Alterns Kriminalität alter Menschen Kriminalität an alten Menschen Altenmißhandlung Ursachen der Kriminalität alter Menschen und an alten Menschen Verbrechensfurcht alter Menschen Kontrolle der Alterskriminalität und der Kriminalität an alten Menschen . Fenster 18: Reaktionsprozeß auf eine Vergewaltigung Fenster 19: Krawall im Brüsseler Heysei Stadion

VI. Soziale Verursachung und Kontrolle der Kriminalität 1. Massenmedien Probleme Soziale Desintegration durch das Fernsehen Nachahmung kriminellen Verhaltens Wirkungen der Gewaltdarstellungen Die Verstärkerhypothese Die Katharsishypothese Die Inhibitionshypothese Die Stimulationshypothese Die Habitualisierungshypothese Ergebnis: Gewalt in Film und Fernsehen Live-Sendungen über Kriminalitätsbegehung und Handlungen der Sozialkontrolle Sündenbockprojektion, repressive Kriminalpolitik und Verbrechensfurcht Kriminalitätsdarstellungen in Zeitungen Gerichtsberichterstattung in Zeitungen Kriminalitätsdarstellung in Karikaturen und Comics Kriminalitätsdarstellung im Fernsehen

699 699 700 702 705 707 709 711 712 600 638

715 715 715 717 718 719 719 721 722 722 724 725 725 727 732 739 740 741

Inhaltsverzeichnis

XV Seite

Minderheitsprogramme Zusammenfassung 2. Das Verbrechensopfer Definition und Entwicklung der Viktimologie Opferbegriff und theoretische Grundlagen der Viktimologie Aufgaben der Viktimologie Der Prozeß des Opferwerdens Verbrechensfurcht Verhütung des Opferwerdens Opferschaden Wiedergutmachung Das Opfer in der Kriminalpolitik Opferhilfs- und Behandlungsprogramme Gefahren für und durch die Viktimologie Fenster Fenster Fenster Zensier

20: „Kriminalität" in Märchen 21: Kriminalroman 22: Pornographie 23 . Der Mord an einer alten Dame

VII. Formelle Reaktion auf Kriminalität 1. Strafgesetzgebung Kriminalität als symbolische Interaktion Gefährdung der Lebensinteressen der Gesellschaft Beteiligung der Kriminologie an der Strafgesetzgebung Die fünf Phasen des Strafgesetzgebungsprozesses Das wirkliche Mißverhältnis zwischen sozioökonomischer und juristischer Lage Das scheinbare Mißverhältnis zwischen sozioökonomischer und juristischer Lage Die weiteren Phasen des Strafgesetzgebungsprozesses Erfolgskontrolle der Strafgesetzgebung Die unmittelbare Abschreckungswirkung von Strafgesetzen Die werteschaffende und werterhaltende Aufgabe der Strafgesetzgebung . 2. Strafgesetzanwendung, insbesondere Strafvollzug Straf- und Vollzugsziel Strafvollzug in der Frühzeit und im Mittelalter Strafvollzug in der Zeit des Kolonialismus Der Beginn der Freiheitsstrafe und ihrer Begrenzung Die Strafvollzugssysteme im 19. Jahrhundert Geschichte des Jugendstrafvollzugs Strafvollzug und Rechtsstaat Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland

744 745 751 751 754 759 760 767 772 774 777 780 785 787 720 734 746 764

789 789 789 790 790 792 794 796 797 799 801 802 803 803 806 807 815 817 819 821 824

XVI

Inhaltsverzeichnis Seite Differenzierung im Strafvollzug Klassifikation im Strafvollzug Beispiel für eine Klassifikationsmethode Klassifikation und Behandlung Arbeit, Ausbildung und Freizeit im Erwachsenenstrafvollzug Lebensbedingungen, Ausbildung und Freizeit im Jugendstrafvollzug Der Behandlungsbegriff Das Behandlungsmodell Die therapeutische Gemeinschaft Die Realitätstherapie Die Gruppentherapie Die Verhaltensmodifikation Die transaktionale Analyse Das medizinische Modell Rückfallforschung Künstlichkeit und Absonderung des Anstaltsmilieus Der Prisonisierungsprozeß Das Scheitern des Behandlungsprozesses Das Justizmodell Das soziale Wiedereingliederungsmodell „Diversions"-Programme Ausweitung und Intensivierung der Bewährungshilfe Das Gemeinschaftsbehandlungsprojekt Gruppenwohnheime, Pflegefamilien und Tagesbetreuungsstätten Schließung der Jugendstrafanstalten in Massachusetts Auswertung und Bewertung von „Diversions"-Programmen Die Strafanstalt der Zukunft Fenster 24: Todesstrafe Fenster 25: Folter

VIII. Schluß: Einige Aspekte politischer Kriminalität Politische Kriminalität: Begriff und Geschichte Formen politischer Kriminalität Machtmißbrauch Die Karriere politischer Straftäter Terrorismus: Begriff, Umfang, Erscheinungsformen Terroristische Ideologie und Strategie Ursachen des Terrorismus Terrorismus-Opfer Bekämpfung des Terrorismus Völkermord: Begriff, Geschichte, Voraussetzungen Ideologische, gesetzliche und verwaltungsmäßige Vorbereitung Der Vernichtungsprozeß Nationalsozialistische Gewalttäter

828 828 829 831 833 . . . 835 836 837 838 840 840 841 843 844 845 848 849 849 850 851 854 856 857 858 859 860 861 808 852

862 862 867 870 871 873 876 877 880 885 886 889 893 897

Inhaltsverzeichnis

XVII Seite

Die Rolle der O p f e r Überlebensstrategien der O p f e r Schäden und Behandlung der überlebenden O p f e r und ihrer Kinder Trauerarbeit

903 908 910 911

Fenster 26: Das Attentat auf Präsident John F. Kennedy Fenster 2 7: Die Watergate-Affäre Fenster 28: Der Mord an Hanns Martin Schleyer und die Entführung der Lufthansamaschine „Landshut" Fenster 29: Das Vernichtungslager Treblinka Fenster 3 0: Kommandant in Auschwitz

864 874

Arbeitsmittel der Kriminologie Pioniere der Kriminologie Sachregister

882 894 904 915 920 931

Verzeichnis der Abbildungen Seite Abbildung

1: Trichtereffekt des Ausleseprozesses von den begangenen, entdeckten Straftaten bis zum Vollzug der Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten

Abbildung 2: Prozentverteilung des kriminellen Opferwerdens (des Dunkelfeldes) in den USA im Jahre 1981

167 212

Abbildung

3: Häufigkeitszahlen der polizeilich bekanntgewordenen Delikte in den USA in den Jahren 1960 bis 1981

257

Abbildung

4: Täter-Opfer-Beziehungen bei Tötungsdelikten im Jahre 1981

259

Abbildung

5: Prozentverteilung der gesamten Bevölkerung und der verhafteten Personen nach Altersgruppen in den USA im Jahre 1981

260

Abbildung

6: Entwicklung der angezeigten Kriminalität in den USA, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Japan in den Jahren 1972 bis 1981

264

Abbildung

7: Raub-Häufigkeitszahlen in ausgewählten Ländern während der Jahre 1973 bis 1982

284

Abbildung

8: Einbruch-Häufigkeitszahlen in ausgewählten Ländern während der Jahre 1973 bis 1982

285

Abbildung 9: Die Kriminalität in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1984

286

Abbildung 10: Aufgeklärte Fälle mit und ohne Täter-Opfer-Beziehungen im Land Schleswig-Holstein im Jahre 1982

287

Abbildung 11: Tatverdächtige nach Lebensalter und Geschlecht im Land Nordrhein-Westfalen in den Jahren 1983 und 1984 (Kriminalitätsbelastungszahlen)

289

Abbildung 12: Entwicklung der Rauschgiftkriminalität in Baden-Württemberg in den Jahren 1974 bis 1983

290

Abbildung 13: Wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilte in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1954 bis 1983

292

Abbildung 14: Entwicklung der Jugenddelinquenz nach Geschlecht — Zehnjahresvergleich — in Baden-Württemberg

295

Abbildung 15: Kriminalitätsverteilung in der Stadt Grand Rapids, Michigan, USA (Bevölkerung 208 000)

332

Abbildung 16: Wohnhochhaus. Links Außenansicht, rechts Innenansicht (mit Eingang, Fahrstühlen, Treppenhäusern, Fluren und Wohnungen)

. . 345

Abbildung 17: Häufigkeit von Wohnungseinbrüchen f ü r Experimental- und Kontrollwohnblocks

346

Abbildung 18: Straßenpläne

347

Abbildung 19: Hierarchie definierter halböffentlicher und halbprivater Zugangsund Durchgangssysteme

348

Abbildung 20: Gebäudeanordnung mit nichtzugeschriebenem öffentlichem und zugeschriebenem halbprivatem Gebiet

349

XIX

Verzeichnis der Abbildungen

Seite Abbildung 21: Symbolische Barrieren, die Z u - u n d Durchgangszonen definieren

. . 350

Abbildung 22: Zugangs- und Durchgangszonen zwischen öffentlicher Straße und Gebäudeinnern Abbildung 23: Gebäude mit halbprivaten Eingängen und Kinderspielplatz

351 352

Abbildung 24: Spielplatz an der Peripherie eines Wohnprojekts

353

Abbildung 25: Spielplätze, die von Gebäuden umgeben sind

354

Abbildung 26: Spielplatz im Innern eines halbprivaten Gebiets

355

Abbildung 27: Douglas Park, Chikago, USA

357

Abbildung 28: Biosoziale Psychopathentheorie (nach Hans Jürgen Eysenck)

391

Abbildung 29: Biosoziale Psychopathentheorie (nach Sarnoff A. Mednick)

392

Abbildung 30 : Großstadtwachstum Chikagos

420

Abbildung 31: Typologie der Arten individueller Anpassung

432

Abbildung 32 : Jugenddelinquenz aus Statusfrustration

436

Abbildung 33: Jugenddelinquenz wegen unterschiedlicher Zugangschancen

437

Abbildung 34: Jugenddelinquenz als Notwendigkeit zum Erlernen der männlichen Rolle

439

Abbildung 35: Psychoanalytisches Persönlichkeitsmodell

473

Abbildung 36: Verbrecher aus Schuldbewußtsein

476

Abbildung 37: Verbrecher aus sozialer Entmutigung

483

Abbildung 38 : Einstellungen der Väter gegenüber ihren 500 delinquenten und 500 nichtdelinquenten Jungen

490

Abbildung 39: Einstellungen der Mütter gegenüber ihren 500 delinquenten und 500 nichtdelinquenten Jungen

491

Abbildung 40: Bevölkerung über 8 Jahre in Nordrhein-Westfalen am 31. 12. 1983 . . 610 Abbildung 41 : Ermittelte Tatverdächtige über 8 Jahre in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1984

611

Abbildung 42: Strafgefangene in der Bundesrepublik Deutschland nach ihrem Alter und nach ihrer Vollzugsdauer in den Jahren 1965 bis 1984

825

Verzeichnis der Tabellen Seite Tabelle 1: Fallmerkmale und Gewichtungssystem des Sellin-Wolfgang-Index

. . . .

178

Tabelle 2 : Das Ausmaß des Dunkelfeldes bei ausgewählten Delikten in den USA in den Jahren 1965—1966

189

Tabelle 3: Selbstberichtuntersuchungen

192

Tabelle 4: Empirische Untersuchungen zum Opferwerden

203

Tabelle 5: Internationaler Vergleich aller polizeilich bekanntgewordenen Straftaten und der Gewaltdelikte im Jahre 1982

263

Tabelle 6: Räumliche Verteilung der Einwohner und der Straftaten in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1984

294

Tabelle 7: Voraussagetafel nach fünf sozialen Faktoren für männliche jugendliche Delinquente

319

Tabelle 8: Rückfallprognosetafel f ü r 16- bis 23jährige männliche Straftäter, die aus einer J u g e n d - o d e r Erwachsenenstrafanstalt entlassen werden sollen . . . 324 Tabelle 9 : Die Strafgefangenen in den Mitgliedsstaaten des Europarates am 1. Februar 1985

827

Abkürzungsverzeichnis und Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur a. A. Abs. AIDS AmJOrth. AmJSoc. AmSocR. Anm. Annais. ANZJCrim. Art. BGBl. BGHSt. BKA BritJournCrim. BtMG BtMW CanJCrim.

CIA Crim. CrimDel. D. C. DPA ECCP

EEG Encyclopedia FBI FPI GG H d K . I.

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XXII

HEUNI Hrsg. i. d. F. IKV ILANUD

Interpol

Int. H a n d b o o k

IntJCrimPen. IntJOffTher.

IntRevCrimPol. IRA JAG JGG JournCrim.

JResCrimDel. JZ KIKrimWb.

KrimJ. KZ lat. LEAA LKA LSD Mass. MschrKrim.

Abkürzungsverzeichnis Berlin-New York 1966, 1975, 1977, 1979, 1983 Helsinki Institute for Crime Prevention and Control Affiliated with the United Nations Herausgeber in der Fassung Internationale Kriminalistische Vereinigung Instituto Latinoamericano de Naciones Unidas Para La Prevención del Delito y Tratamiento del Delincuente. Lateinamerikanisches Institut der Vereinten Nationen f ü r Verbrechensverhütung und Behandlung des Rechtsbrechers, San José, Costa Rica Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation, zentrale Stelle zur internationalen Koordination der Ermittlungsarbeit in der Verbrechensbekämpfung Johnson, Elmer H . (Hrsg.): International H a n d b o o k of Contemporary Developments in Criminology. 2 Bände. Westport-London 1983 International Journal of Criminology and Penology (1971-1978) Journal of Offender Therapy (1961 — 1966) International Journal of O f f e n d e r Therapy (1967—1971) International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology (seit 1972) International Review of Criminal Policy. Zeitschrift der Vereinten Nationen Irish Republican Army. Irisch-Republikanische Armee (Terrororganisation) Juristenausbildungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen 1. d. F. vom 16. 7. 1985 Jugendgerichtsgesetz Journal of Criminal Law and Criminology (1910—1950/51) Journal of Criminal Law, Criminology, and Police Science (1951/52-1973) Journal of Criminal Law and Criminology (seit 1974) Journal of Research in Crime and Delinquency Juristenzeitung Kaiser, G ü n t h e r / H a n s - J ü r g e n Kerner/Fritz S a c k / H a r t m u t Schellhoss (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 2. Aufl., Heidelberg 1985 Kriminologisches Journal Konzentrationslager lateinisch Law Enforcement Assistance Administration, Abteilung im Bundesjustizministerium in Washington D. C. Landeskriminalamt Lysergsäure-Diäthylamid Massachusetts Monatsschrift f ü r Kriminalpsychologie und

Abkürzungsverzeichnis

m. w. N. NCCD NJW n , N. NOVA Nr. (No.) OEG o.J. ÖJZ Ph. D. RAF RGBl. SA s. a. Schneider: Psychologie

Schneider: Verbrechensopfer Schneider: Victim SchrRPFA SchwZStr. SocProb. SS StGB StVolIzG

Terrorism u. a. UNAFEI UNSDRI U. S. Department of . vgl. Vict. Yearbook I.

XXIII Strafrechtsreform (1904—1936) Monatsschrift f ü r Kriminalbiologie und Strafrechtsreform (1937-1944) Monatsschrift f ü r Kriminologie und Strafrechtsreform (seit 1953) mit weiteren Nachweisen National Council on Crime and Delinquency Neue Juristische Wochenschrift Zahl der Beobachtungen in einer Datenmenge, der Personen in einer Population National Organization of Victim Assistance. Organisation zur Unterstützung von Verbrechensopfern in den USA Nummer Gesetz über die Entschädigung für O p f e r von Gewalttaten i. d. F. vom 11.5. 1976 ohne Jahr Österreichische Juristenzeitung D o k t o r der Philosophie (in Nordamerika) Rote Armee Fraktion (Terrororganisation) Reichsgesetzblatt Sturmabteilung (nationalsozialistische Terrororganisation) siehe auch Schneider, Hans Joachim (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band X I V : Auswirkungen auf die Kriminologie. Zürich 1981 Schneider, Hans Joachim (Hrsg.): Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege. Berlin—New York 1982 Schneider, H a n s Joachim (Hrsg.): T h e Victim in International Perspective. Berlin—New York 1982 Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie Schweizerische Zeitschrift f ü r Strafrecht Social Problems Schutzstaffel (kriminelle Terrororganisation der Nationalsozialisten) Strafgesetzbuch Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz) i. d. F. vom 16. 3. 1976 Terrorism — An International Journal unter anderem / und andere United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Fuchu, Tokio United Nations Social Defence Research Institute, Rom Bundesministerium der Vereinigten Staaten f ü r . . . vergleiche Victimology Morris, Norval/Michael T o n r y (Hrsg.): Crime and Justice. Bände 1 - 6 . C h i k a g o - L o n d o n 1979—1985

XXIV Yearbook II.

ZK der SED ZStrW

Abkürzungsverzeichnis Messinger, Sheldon L./Egon Bittner (Hrsg.): Criminology Review Yearbook. Bände 1 und 2. Beverly Hills—London 1979,1980 Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Verzeichnis und Erklärung der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke (soweit sie im T e x t nicht erläutert sind)

Aberration Ätiologie, ätiologisch Affekt, affektiv Akzeleration

akzidentell Animismus, animistisch Anomie, anomisch Anthropologie, anthropologisch Antinomie Anthropometric, anthropometrisch Anus, anal Apriorismus, apriorisch Arteriosklerose, arteriosklerotisch Asthenie, asthenisch Atavismus, atavistisch Atrophie, atrophisch Bagatellkriminalität

Behaviorismus, behavioristisch Chiffren Chromosom Daktyloskopie Darwinismus

Demographie, demographisch Demoskopie, demoskopisch

Abweichung von der Normalform Lehre von den Ursachen heftige Erregung, Zustand einer außergewöhnlichen seelischen Angespanntheit Beschleunigung des Entwicklungsprozesses, Vorverlegung der körperlichen und (oder) psychischen Wachstums- und Entwicklungsreife (Gegensatz: Retardierung) zufällig, gelegentlich Glaube an seelische Mächte, an Geister Normlosigkeit, Zustand mangelnder sozialer und psychischer Ordnung (Gegensatz: Synnomie) Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung in natur- und geisteswissenschaftlicher Hinsicht Widerspruch zweier Lehrmeinungen, von denen jede Gültigkeit beansprucht Lehre von den Maßverhältnissen am menschlichen Körper After Lehre von der Erkenntnis, die unabhängig von der Erfahrung vorgegeben ist krankhafte Veränderung der Arterien, Arterienverkalkung Kraftlosigkeit, Schwäche, Kräfteverfall Entwicklungsrückschlag Organschwund Verstöße gegen Strafrechtsnormen, die geringen materiellen, körperlichen, psychischen und sozialen Schaden anrichten und die von der Bevölkerung als unbedeutend angesehen werden Richtung der Lernpsychologie, die dem Reiz-Reaktions-Modell zentrale Bedeutung beimißt verschlüsselte Zeichen, Geheimzeichen Träger von Erbanlagen Fingerabdruckverfahren von dem englischen Naturforscher Charles Darwin (1809—1882) begründete Lehre von der stammesgeschichtlichen Entwicklung durch Auslese Bevölkerungswissenschaft Meinungsumfrage, -forschung

XXVI

Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke

Deprivation Desperado Diversion

dynamisch dysfunktional Egozentrismus, egozentrisch Einstellung Eklektizismus, eklektisch Elektroenzephalogramm Embryologie Emotion, emotional endokrin Endokrinologie, endokrinologisch ethnisch Exploration, explorieren extra-, intrauterin Feminismus, feministisch

Fetus (Fötus) Frustration

Frustrationstoleranz

Funktion, funktional

genetisch Genitalien, genital Geriatrie, geriatrisch Gerontologie, gerontologisch

Mangel, Verlust, Entzug von etwas Erwünschtem, fehlende Zuwendung, Liebesentzug ein zu jeder Verzweiflungstat Entschlossener Umleitung des Straftäters um das Kriminaljustizsystem herum, informelle außergerichtliche Regelung krimineller oder delinquenter Konflikte durch inneren Antrieb sich bewegend (Gegensatz statisch = feststehend) den funktionalen Ablauf störend Ichbezogenheit, Weltauffassung, die alles in bezug auf die eigene Person wertet Motivationsbereitschaft unoriginelle geistige Arbeitsweise, bei der Ideen anderer zusammengetragen und übernommen werden Aufzeichnung des Verlaufs der Hirnaktionsströme Wissenschaft von der vorgeburtlichen Entwicklung der Lebewesen Gefühlszustand, Gemütsbewegung die nach innen gerichtete Absonderung betreffend Lehre von den endokrinen Drüsen einer sprachlich und kulturell einheitlichen Volksgruppe angehörend Gespräch mit dem Probanden außerhalb und innerhalb der Gebärmutter Frauenbewegung, die eine grundlegende Veränderung der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und die Beseitigung des Patriarchats, der bevorzugten Stellung des Mannes in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, anstrebt menschliche Leibesfrucht vom dritten Schwangerschaftsmonat an Erlebnis der wirklichen oder vermeintlichen Benachteiligung bei enttäuschter Erwartung oder bei erlittener Ungerechtigkeit Fähigkeit, eine Versagung über längere Zeit auszuhalten, ohne sie durch Verdrängung ins Unbewußte fehlzuverarbeiten oder unmittelbar aggressiv zu reagieren die Leistung, der Beitrag oder die erkennbare Konsequenz eines sozialen Elements f ü r den Aufbau, die Erreichung, Erhaltung oder Veränderung eines bestimmten Zustandes des gesamten Systems, zu dem das Element gehört die Entstehung, Entwicklung der Lebewesen betreffend, entwicklungsgeschichtlich die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane Teilgebiet der Psychiatrie, das sich mit Alterskrankheiten befaßt Wissenschaft vom menschlichen Altern, die sich mit allen Phänomenen auseinandersetzt, die Begleiterscheinungen

Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke

XXVII

oder Folgen des höheren Lebensalters sind philosophische Lehre, die die sinnliche Lust, das Vergnügen, den Genuß als Motiv, Ziel oder Beweis alles sittlichen Handelns betrachtet Heterogenität, heterogen Verschiedenartigkeit, Uneinheitlichkeit Vorurteil, das Mitglieder einer Gruppe von einer anderen Heterostereotyp Gruppe besitzen Heuristik, heuristisch Wissenschaft von den Verfahren, Probleme zu lösen, methodische Anleitung zur Gewinnung neuer Erkenntnisse die unbewußte Angleichung an das Wesen und Verhalten Identifikation eines anderen Menschen, meist aufgrund der (unbewußten) Nachahmung von Vorbildern Neuerung Innovation in re in der Sache, im Rechtsstreit, im Verfahren Instinkt, instinktiv angeborene, keiner Übung bedürfende Verhaltensweise und Reaktionsbereitschaft Interaktion Wechselbeziehung, gegenseitig aufeinander bezogene Handlungen, aktive Reaktion gegenseitige Abhängigkeit Interdependenz Verinnerlichung Interiorisation irrational nicht verstandesgemäß, vernunftwidrig Internalisation, internaliHereinnahme fremder Einstellungen, Uberzeugungen, sieren Motive und soziokultureller Muster (Werte, Normen, Erwartungen) in das kognitive (Denk-) und das affektive (Gefühls-)System der Persönlichkeit interpsychisch zwischenmenschlich intrapsychisch innerseelisch Introjektion Einverleibung fremder Anschauungen und Motive in die Persönlichkeit (Gegensatz: Projektion) nicht umkehrbar, nicht rückgängig zu machen irreversibel Kapitalverbrechen Straftaten, die schwere körperliche, wirtschaftliche, seelische und soziale Schäden anrichten und die von der Bevölkerung als Schwerkriminalität beurteilt werden, z. B. Mord, Raub, Vergewaltigung Straftat, die zwar schweren wirtschaftlichen, Kavaliersdelikt gesundheitlichen und sozialen Schaden anrichten kann, die von der Bevölkerung aber als akzeptabel, als nichtkriminell angesehen wird Kognition, kognitiv psychische Vorgänge, die mit dem Erkennen zusammenhängen, z. B. Wahrnehmung, Erinnerung, Vermutung, Erwartung, Problemlösen Kohabitation, kohabitieren Geschlechtsverkehr Kohorte Gruppe von Menschen, die im selben Zeitabschnitt geboren sind und die man auswählt, um die Einflüsse der Faktoren zu ermitteln, die im Laufe der Zeit auf ihr Verhalten einwirken Prozeß der Informationsübertragung Kommunikation Zusammenstoß, Widerstreit zwischen Personen, Gruppen, Konflikt Gesellschaften, Staaten über Werte, Ziele, Machtverhältnisse Hedonismus

XXVIII

Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke

Konquistador Konstitution Korrelation, korrelieren Kortex, kortikal Labilität, labil latent Legalbewährung Magna Charta Masturbation Moratorium Mortalität Motiv

Motivation

Nahraum (sozialer)

Narzißmus, narzißtisch Neurasthenie Neurophysiologie, neurophysiologisch obskur Okkultismus Ontogenese, ontogenetisch oral Orgasmus Orthodoxie, orthodox Ottoman, ottomanisch Phänomenologie, phänomenologisch Phrenologie

Teilnehmer an der spanischen Eroberung Südamerikas im 16. Jahrhundert körperliche und seelische Verfassung des Menschen Ausmaß, in dem zwei oder mehr veränderliche Merkmale voneinander abhängig streuen Großhirnrinde Beeinflußbarkeit, Schwäche (Gegensatz: Stabilität) vorhanden, ohne äußerlich erkennbar zu sein (Gegensatz zu manifest: äußerlich sichtbar) keine Rückfälligkeit nach Strafverbüßung im Sinne eines Verstoßes gegen Strafgesetze Grundgesetz von 1215, in dem der englische König dem Adel grundlegende Freiheitsrechte garantieren mußte geschlechtliche Selbstbefriedigung gesetzlich angeordneter oder vertraglich vereinbarter Aufschub Verhältnis der Todesfälle an einer Erkrankung, bezogen auf die Zahl der Gesamtbevölkerung der bewegende, richtunggebende, leitende, antreibende seelische Hinter- und Bestimmungsgrund des Handelns (Triebfeder des Wollens) Struktur aktivierender und richtunggebender Bestimmungsgründe, die für die Auswahl und Stärke der Aktualisierung von Verhaltensbereitschaften bedeutsam sind Bereich, in dem der persönliche Kontakt und die Interaktion von Person zu Person möglich ist, z. B. in der Familie, Schule, in der Berufs- und Freizeitgruppe. Der soziale Fernraum, in dem Angesicht-zu-Angesicht-Kontakte wegfallen, übt gleichwohl auch bedeutsame Einflüsse auf die Person, z. B. durch die Massenmedien, aus Verliebtsein in sich selbst, Selbstliebe nervöse Erschöpfung, Nervenschwäche Wissenschaft von den Lebensvorgängen und Funktionen des Nervensystems dunkel, verdächtig, zweifelhafter H e r k u n f t Lehren und Praktiken, die sich mit der W a h r n e h m u n g übersinnlicher Kräfte beschäftigen Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand den Mund betreffend H ö h e p u n k t der geschlechtlichen Erregung Rechtgläubigkeit; im negativen Sinne auch: engstirniges Festhalten an einer Lehrmeinung Bezeichnung nach Osman, dem Begründer des türkischen Herrscherhauses der Ottomanen Lehre von den Erscheinungen, den Phänomenen wissenschaftlich widerlegte Lehre, die aus der Schädelform

Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke

Phylogenese, phylogenetisch Physiognomie, physiognomisch Polemik, polemisch Polygraph Polymorphie, polymorph Population Prädestination Prädisposition proaktiv Proband Prohibition Projektion Promiskuität prospektiv Puritanismus, Puritaner, puritanisch

Quäker

Rassismus reaktiv Repression, repressiv Retardierung Ressource retrospektiv Ritual, rituell Sanktion, Sanktionierung Schicht

XXIX

auf bestimmte geistig-seelische Anlagen schließen wollte Stammesgeschichte der Lebewesen Gesichtsausdruck eines Menschen unsachlicher Angriff, ins Persönliche gehende Kritik „Lügendetektor", Gerät zur gleichzeitigen Registrierung mehrerer Vorgänge und Erscheinungen Vielgestaltigkeit Gesamtheit der Träger eines Merkmals oder aller Meßwerte Vorherbestimmung Anlage, Empfänglichkeit von sich selbst aus tätig werdend, selbständig, unabhängig handelnd Versuchsperson, die sich in ihrer Leistungsfähigkeit und Persönlichkeitsstruktur zu „erweisen" (lat. probare) hat staatliches Verbot der Herstellung und des Verkaufs alkoholischer Getränke Übertragung und Zuschreibung eigener unerwünschter Motive und Eigenschaften auf andere Geschlechtsverkehr mit verschiedenen, häufig wechselnden Partnern vorausschauend englische protestantische Bewegung, die der Kirche in Liturgie, Lehre und Verfassung eine „reine" Form geben wollte. Evangelische Reinheit der Lebensführung, strikte Sonntagsheiligung und religiöses Berufsethos zeichneten ihre Anhänger aus. Die Puritaner prägten durch ihre Einwanderung die Geistesart und den Lebensstil der Bevölkerung Nordamerikas. ursprünglich Spottname, evangelische Sekte, „Gesellschaft der Freunde", die dank ihrer brüderlichen und sozialen Gesinnung für die Sklavenbefreiung, die Gleichberechtigung der Frau, den Weltfrieden eintraten und die nach beiden Weltkriegen durch große Hilfsleistungen hervorgetreten sind Einstellung, die einen Menschen allein wegen seiner Rasse benachteiligt und diskriminiert auf Handlungen anderer tätig werdend, unselbständig, von anderen abhängig handelnd Unterdrückung Entwicklungsverzögerung (Gegensatz: Akzeleration) Hilfsmittel, Hilfsquelle rückschauend, rückblickend Vorgehen nach festgelegter, förmlicher O r d n u n g gesellschaftliche, mißbilligende Reaktion auf sozialabweichendes Verhalten Bevölkerungsgruppe, deren Mitglieder bestimmte gemeinsame Merkmale besitzen und sich dadurch von

XXX

Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke

senil Sensibilität, sensibilisieren Sequenz Sexismus Signifikanz, signifikant

Simulation somatisch Stereotyp

Stigmatisierung, Stigmatisation Sozialstruktur, sozialstrukturell

Substrat Symbol, symbolisch Synnomie Synthetikum System

Telepathie

anderen Bevölkerungsgruppen in einer Sozialstruktur unterscheiden, die durch eine feste Rangordnung gekennzeichnet ist. Die soziale Schicht kann man objektiv durch Familieneinkommen und Beruf des Familienvaters oder subjektiv durch eigene Zurechnung zu einer Schicht und Zustimmung zu deren Wertvorstellungen und Leitbildern bestimmen greisenhaft, altersschwach Empfindsamkeit, Feinfühligkeit Aufeinanderfolge, Abfolge Einstellung, die einen Menschen allein wegen seines Geschlechts benachteiligt und diskriminiert Bezeichnung f ü r die Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit, mit der angenommen werden kann, daß bestimmte Unterschiede zwischen Stichproben oder Teilgesamtheiten einer Stichprobe sowie bestimmte Größen wie etwa Korrelationskoeffizienten nicht zufällig, durch die Zufallsauswahl bedingt, sondern Kennzeichen der untersuchten Grundgesamtheiten sind. Als signifikant werden aufgrund eines Signifikanztests solche Ergebnisse bezeichnet, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf dem Auswahlfehler der Zufallsauswahl beruhen Nachahmung auf den Körper bezogen, körperlich festgefügte, f ü r lange Zeit gleichbleibende, durch neue Erfahrungen kaum veränderbare, meist positiv oder negativ bewertende und emotional gefärbte Vorstellung über Personen und Gruppen, Ereignisse und Gegenstände Brandmarkung Gliederung eines sozialen Systems nach bestimmten Merkmalen, z. B. nach Einkommen, Bildung, Produktionsverhältnissen, sozialer Schichtung, nach Prestige und Macht Unterlage, Grundlage Zeichen, Kennzeichen, Sinnbild, das im Rahmen einer Interaktion eine Bedeutung ausdrückt Zusammenhalt, Ubereinstimmung, Teilhabe an gemeinsamen Werten, Normen und Bräuchen (Gegensatz: Anomie) zusammengesetztes Kunstprodukt nach einem einheitlichen Prinzip geordnetes Ganzes (statisch), ein Ganzes, dessen Elemente miteinander in wechselseitigen Beziehungen stehen, und zwar derart, daß jede Veränderung eines Elements auf andere Elemente im System fortwirkt (dynamisch) Wahrnehmen seelischer Vorgänge eines anderen Menschen ohne Vermittlung der Sinnesorgane

Verzeichnis der benutzten Fremdwörter und kriminologischen Fachausdrücke Theokratie, theokratisch Totem Totemismus, totemistisch Trauma, traumatisch, traumatisieren Triebe

Ubiquität, ubiquitär Vagant, Vagabund V j ^ i n a , vaginal Verbalisierung, verbal, verbalisieren Voyeur Wergeid Zetetiker

XXXI

„Gottesherrschaft", bei der der Herrscher die Staatsgewalt als Statthalter für Gott ausübt Wesen oder Ding, das als Ahne gilt, als zauberischer Helfer verehrt wird und nicht verletzt werden darf Glaube an die übernatürliche Kraft eines Totems Wunde, Verletzung, insbesondere seelische Schädigung erlebte Instinkte (Karl Jaspers), leibnahe Vorgänge, die auf ein Ziel hindrängen, dessen Erreichung mit Spannungslösung und Lustgewinn verbunden ist (Triebbefriedigung) Allgegenwart, Gleichverteilung umherziehender Mensch, Herumtreiber weibliche Scheide das Ausdrücken von Gedanken, Gefühlen, Wertvorstellungen in Worten Zuschauer, Mensch mit der perversen Neigung, sexuelle Vorgänge bei anderen zu beobachten Sühnegeld f ü r eine kriminelle T ö t u n g im germanischen Recht Zweifler, Wissenschaftler, der nicht an Dogmen glaubt oder in statischen Systemen, sondern in Problemen denkt

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I. Einleitung: Einige Probleme kriminologischer Forschung Kriminologie ist eine eigenständige interdisziplinäre Wissenschaft (Hans E. Göppinger 1964, 20; 1968; 1980, 7 7 - 7 9 ; Günther Kaiser 1980 a, 12; Marvin E. Wolfgang, Franco Ferracuti 1967, 74/75; a. A. Fritz Sack 1978, 199—227). Denn sie hat eine eigene Geschichte (Karl-Heinz Hering 1966), eigene Methoden und weltweit eigene Institute und Organisationen. Kriminologie besteht nicht nur in der Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden (z. B. des Interviews oder psychodiagnostischer Testverfahren) auf Rechtsbrecher, Verbrechensopfer, Polizisten, Strafrichter und Strafvollzugsbeamte. Sie hat vielmehr die sozialwissenschaftlichen Methoden für eigene Zwecke so sehr verselbständigt, daß man von eigenständigen Methoden sprechen kann (John Lekschas 1967, 8). Sie verdankt zwar der Soziologie, Psychatrie, Psychologie und Pädagogik sehr viele Anregungen und Beiträge. Kriminalsoziologische {Franz Filser 1983) und -psychologische ( U w e Füllgrabe 1982) Mitwirkung wird auch als Bereicherung beurteilt und begrüßt. Gleichwohl ist die Diskussion der Probleme der Kriminalität und Sozialabweichung (z. B. des Rauschmittelmißbrauchs und der Prostitution) aus der Perspektive einer Wissenschaft (z. B. der Soziologie oder Psychiatrie) notwendigerweise einseitig und deshalb nicht ganz unbedenklich. Es ist das Problem der Kriminologie, daß sie von Juristen in der Strafgesetzgebung und -anwendung praktiziert werden soll, daß sie sich aber zur Erforschung der Tatsachen der Kriminalität und der Sozialabweichung sozialwissenschaftlicher Methoden und Theorien bedienen muß, die sie für ihre eigenen Zwecke umzuarbeiten hat. Der Kriminologe sollte deshalb Jurist und Sozialwissenschaftler (z. B. Soziologe, Psychologe) sein. Eine eigenständige Ausbildung in Kriminologie oder Kriminaljustiz wird seit neuem in zahlreichen Ländern (z. B. in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in England und in der Bundesrepublik Deutschland) angestrebt. Der Bedarf an speziell ausgebildeten Kriminologen ist freilich nicht so groß, daß jede Universität eine solche besondere Ausbildung einrichten könnte. Alle Juristen und alle Sozialwissenschaftler (z. B. Soziologen und Psychologen) sowie alle Polizei- und Strafvollzugsbeamten und alle Sozialarbeiter (z. B. spätere Bewährungshelfer) sollten allerdings in die Grundlagen der Kriminologie eingeführt werden. Die Kriminologie ist eine empirische Wissenschaft; sie richtet sich an der Erfahrung aus. Tatsachen können nicht einfach behauptet werden; sie müssen sich der Nachprüfung durch wissenschaftlich zuverlässige Methoden unterziehen {ArmandMergen o. J., 5). Mit Tatsachen darf man nicht nur spekulieren. Deshalb ist es nicht unbedenklich, in der philosophischen Anthropologie die „sinngebende Mitte" für die kriminologische Forschung zu sehen (so Thomas Würtenberger 1957, 44; zutreffend dagegen Göppinger 1964, 32/33). In der gegenwärtigen Kriminologie ersetzt Polemik, scharfe unsachliche Kritik immer noch zu

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I. Einleitung

h ä u f i g empirisch f u n d i e r t e T h e o r i e ( M a r v i n E. Wolfgang 1981a, 212), w e n n auch das Niveau kriminologischer F o r s c h u n g und A u s e i n a n d e r s e t z u n g in neuester Zeit gestiegen ist. D a s Streben nach wissenschaftlicher Profilierung läßt zahlreiche Kriminologen in die Fehler verfallen, m ü h s a m empirisch erarbeitete und gesicherte Forschungsergebnisse immer wieder in Frage zu stellen und die Meinungsunterschiede u n n ö t i g stark zu betonen, die einzelne Forschungsricht u n g e n o d e r auch „Schulen" t r e n n e n m ö g e n . D a s G e m e i n s a m e , das die K r i m i n o logen eint, wird zu wenig h e r v o r g e h o b e n , so daß f ü r den A u ß e n s t e h e n d e n der E i n d r u c k einer heillosen Zerstrittenheit entstehen muß. Dieser u n z u t r e f f e n d e E i n d r u c k m a c h t die gesamte Kriminologie in unberechtigter Weise u n g l a u b h a f t . Forschungsergebnisse k ö n n e n nicht in praktische H a n d l u n g s a n w e i s u n g e n umgesetzt w e r d e n , weil diejenigen, die an der E r h a l t u n g kriminologisch unbefriedig e n d e r Z u s t ä n d e in der Praxis d e r Strafrechtspflege interessiert sind, darauf verweisen k ö n n e n , d a ß die „Experten uneinig" sind. H i n z u k o m m t noch, d a ß politische und wirtschaftliche Interessengruppen die Kriminologie zu beeinflussen und f ü r ihre Z w e c k e zu m i ß b r a u c h e n versuchen. Es ist auch f ü r eine an den T a t sachen, an der E r f a h r u n g ausgerichtete Kriminologie äußerst schwer, wissenschaftliche Objektivität zu erreichen. Z u viele Interessen stehen auf dem Spiel. Die Kriminologie soll sich auf die Seite des T ä t e r s ( H o w a r d S. Becker 1967; Nils Christie 1971a, 140—145), des O p f e r s {Kurt Weis 1982) o d e r der Gesellschaft stellen. Kriminologische Forschungsergebnisse haben politische A u s w i r k u n g e n . G e r a d e deshalb sollte sich die Kriminologie um möglichst unparteiische, u n v o r e i n g e n o m m e n e Analysen, um wissenschaftliche Objektivität b e m ü h e n ( G ü n t h e r Kaiser 1980 a, 5 5 / 5 6 ) , w e n n auch eine „wertfreie N e u t r a l i t ä t " äußerst schwer erreichbar und vielleicht sogar nicht einmal w ü n s c h b a r erscheint (Arnold Binder, Gilbert Geis 1983, 17). M a n sollte jedem Kriminologen seinen persönlichen S t a n d p u n k t zubilligen. Selbstkritischer Zweifel und das Bemühen um G e m e i n samkeit — bei aller n o t w e n d i g e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g und A r g u m e n t a t i o n — sollten freilich nicht gering geachtet w e r d e n . Die Kriminologie strebt nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie erzählt nicht n u r Begebenheiten, die sie nach den Kriterien der Kuriosität und d e r M e r k w ü r digkeit auswählt. Sie unterscheidet sich hierin von d e r „anekdotischen K r i m i n o logie", der es nicht um die H e r a u s a r b e i t u n g von Gesetzmäßigkeiten z u m Z w e c k e der V e r b r e c h e n s v o r b e u g u n g und der Behandlung des Rechtsbrechers und des V e r b r e c h e n s o p f e r s geht, s o n d e r n die vielmehr auf die A u s s c h m ü c k u n g kurioser Einzelheiten spektakulärer Einzelfälle abzielt, die sie erzählt, um die Bevölkerung zu unterhalten. G e g e n die anekdotische Kriminologie ist an sich nichts e i n z u w e n d e n , w e n n sie nicht durch Unrichtigkeiten nach Sensation strebt. Sie m u ß sich allerdings ihrer beschränkten Zielsetzung b e w u ß t bleiben. Sie darf sich nicht den Anschein wissenschaftlicher Erkenntnis geben, der Kritiker der Kriminologie zu der U b e r z e u g u n g verleiten k ö n n t e , die Kriminologie strebe wissenschaftliche Erkenntnis g a r nicht an o d e r sie sei d a z u außerstande. U m ihrer Glaubwürdigkeit willen m u ß sich die wissenschaftliche Kriminologie von der

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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anekdotischen abgrenzen. Gegenwärtig sind die Übergänge noch fließend. Populärwissenschaftliche Studien über Verbrechen und Verbrecher werden keineswegs abgelehnt, wenn sie mit Sachverstand geschrieben sind und empirisch-kriminologische Analysen nicht ersetzen wollen. V o r u r t e i l e und T a b u s Nicht nur die Kriminologie, sondern die gesamte Gesellschaft und viele Gruppen innerhalb der Gesellschaft befassen sich mit Kriminalität und Sozialabweichung. Weil alle diese verschiedenen Gruppen kriminelle Phänomene aus ihrer eigenen Perspektive beurteilen und weil man auf Sozialabweichung und Kriminalität vorwiegend irrational, moralisch und gefühlsmäßig reagiert, haben sich Klischees, Stereotype, Vorurteile über Kriminalität, Straftäter, Sozialabweichler und auch über die Kriminologie und die Kriminologen in der Gesellschaft gebildet: — Sie sieht die Kriminellen und Sozialabweichler als Fremd- und Außengruppe, die es nur zu fassen gilt. Dann ist das Kriminalitätsproblem schon gelöst. Diese falsche Beurteilung überträgt sich auch auf die Kriminologie, die bestenfalls als Kriminalistik mißverstanden wird, die sich mit der Aufklärung der T a t und der Uberführung des Rechtsbrechers beschäftigt. Versucht die Kriminologie den U m f a n g , die Erscheinungsformen, die Entwicklung und die Ursachen der Kriminalität und Sozialabweichung rational verständlich zu machen und vernünftige Reaktionen auf Kriminalität und Sozialabweichung zu empfehlen, so wird sie als „Entschuldigungswissenschaft" herabgesetzt und in Verruf gebracht. Kriminelle werden als Monster (Symbolfiguren) angesehen. Die Gesellschaft macht mit ihnen eben das, was die Kriminellen mit ihren Opfern tun. — Sind die schweren Straftaten, z. B. Gewaltverbrechen, in der Wirklichkeit seltene Erscheinungen, so ist die Phantasie über solche Verbrechen ein ubiquitäres, überall verbreitetes Phänomen. Journalisten nehmen sich der Darstellung „merkwürdiger" Kriminalfälle an. Die Gesellschaft unterhält sich mit der Diskussion solcher Straftaten, die ihr rätselhaft erscheinen. Das Bild, das sie sich von der Kriminalität macht, überträgt sie auch auf die Kriminologie, die als „unseriöse Sensationswissenschaft" abgetan wird. — Für die Praktiker der Strafrechtspflege stehen verständlicherweise die Aufgaben im Vordergrund, die sie zu erfüllen haben. Die Kriminalpolizei muß die T a t aufklären und den Täter überführen. D a s Strafgericht muß den Angeklagten im rechtsstaatlich einwandfreien Strafverfahren strafrechtlich richtig beurteilen. Der Strafvollzug muß die Freiheitsstrafe am Strafgefangenen in ordnungsgemäßer und sicherer Art und Weise vollziehen. Sie alle neigen dazu, die Kriminologie als Wissenschaft zu sehen, die sich von der konkreten Wirklichkeit, wie sie sie zu bewältigen haben, zu weit entfernt hat. Für die wichtigen Fragen der Beweiserhebung und -Würdigung, der Strafauswahl und -zumessung gibt man sich

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I. Einleitung

mit d e n P r i n z i p i e n d e r p r a k t i s c h e n „ L e b e n s e r f a h r u n g " u n d „ M e n s c h e n k e n n t n i s " z u f r i e d e n , die w i s s e n s c h a f t l i c h nicht a b g e s i c h e r t sind u n d die z u o f t n u r gesells c h a f t l i c h e S t e r e o t y p e darstellen. D e r V o r w u r f d e r „ P r a x i s f e r n e des k r i m i n o l o gischen T h e o r e t i k e r s " ist n i c h t g e r e c h t f e r t i g t , weil die K r i m i n o l o g i e die A u f g a b e h a t , die s o z i a l e n u n d p s y c h i s c h e n Z u s a m m e n h ä n g e d e r K r i m i n a l i t ä t u n d d e r S o z i a l a b w e i c h u n g mit w i s s e n s c h a f t l i c h e n M e t h o d e n z u e r f o r s c h e n . Sie k a n n die praktischen Fragen der Strafrechtspflege deshalb nicht unmittelbar, sondern nur m i t t e l b a r b e a n t w o r t e n . Alle ihre e m p i r i s c h e n F o r s c h u n g e n u n d t h e o r e t i s c h e n D i s k u s s i o n e n sind freilich v o r allem d a r a u f a u s g e r i c h t e t , d e r K r i m i n a l j u s t i z H i l f e zu leisten. — Z a h l r e i c h e K r i m i n o l o g e n sehen ihre A u f g a b e n freilich n i c h t d a r i n , „ h a r t e D a t e n " z u s a m m e l n u n d P o l i z i s t e n o d e r R i c h t e r a u s z u b i l d e n , s o n d e r n staatliche I n stitutionen wie G e r i c h t e , P o l i z e i , S t r a f a n s t a l t e n , B e w ä h r u n g s h i l f e u n d Entlassen e n f ü r s o r g e systematisch z u v e r u n s i c h e r n u n d in d e r G e s e l l s c h a f t „ d y s f u n k t i o nal" zu w i r k e n , d. h. ihr S c h w i e r i g k e i t e n z u m a c h e n (vgl. z. B. Marie Andrée Bertrand bei Virginia Enquist Grabiner 1973). Diese K r i m i n o l o g e n b e z e i c h n e n die traditionelle K r i m i n o l o g i e als „alte" K r i m i n o l o g i e u n d als „ L e g i t i m a t i o n s o d e r P o l i z e i w i s s e n s c h a f t " ; sie selbst legen sich die B e n e n n u n g e n d e r „ n e u e n " u n d „ k r i t i s c h e n " K r i m i n o l o g i e z u . Sie t r a g e n nicht w e n i g z u d e m v e r b r e i t e t e n V o r u r t e i l bei, die K r i m i n o l o g i e sei eine politische I d e o l o g i e v o n E i f e r e r n , die mit „ w e i c h e n " s o z i o l o g i s c h e n u n d p s y c h o l o g i s c h e n M e t h o d e n a r b e i t e n u n d die n u r an e i n e m „ M e i n u n g s s t r e i t im E l f e n b e i n t u r m " , nicht aber an p r a k t i s c h e r H i l f e f ü r die K r i m i n a l j u s t i z interessiert seien. Es ist u n z u l ä s s i g , die K r i m i n o l o g i e d u r c h d a s V e r h a l t e n einer M i n d e r h e i t z u k e n n z e i c h n e n . K r i m i n a l i t ä t u n d S o z i a l a b w e i c h u n g sind m e n s c h l i c h e s V e r h a l t e n . Will m a n sie e r f o r s c h e n , m u ß m a n n o t w e n d i g e r w e i s e in die P r i v a t - u n d I n t i m s p h ä r e v o n M e n s c h e n , v o n T ä t e r n u n d O p f e r n u n d v o n p o t e n t i e l l e n T ä t e r n u n d O p f e r n eing r e i f e n . D u r c h solche E i n g r i f f e k ö n n e n V e r f a s s u n g s - u n d M e n s c h e n r e c h t e b e einträchtigt werden. Die Ä u ß e r u n g bestimmter Meinungen zum Täter- und O p f e r w e r d e n auf b e s t i m m t e n G e b i e t e n u n d d u r c h b e s t i m m t e P e r s o n e n o d e r zu R e a k t i o n e n auf solches T ä t e r - u n d O p f e r w e r d e n k a n n T a b u s v e r l e t z e n , die im k r i m i n o l o g i s c h e n M e i n u n g s s t r e i t d u r c h das A p p e l l i e r e n a n G e f ü h l e m i t u n t e r bew u ß t als W a f f e e i n g e s e t z t w e r d e n . T a b u ist ein polynesisches W o r t , das m a n in e t w a mit „heilige S c h e u " ü b e r s e t z e n k a n n . Sigmund Freud (1940 a, 26) h a t die D o p p e l d e u t i g k e i t des W o r t e s T a b u b e t o n t . Es b e d e u t e t n ä m l i c h einerseits etwas Heiliges, G e w e i h t e s , a n d e r e r s e i t s etwas U n h e i m l i c h e s , G e f ä h r l i c h e s , V e r b o t e n e s u n d U n r e i n e s . T a b u s z i e h e n B e s c h r ä n k u n g e n u n d V e r b o t e n a c h sich, b e s t i m m t e F r a g e n zu stellen u n d b e s t i m m t e G e d a n k e n z u ä u ß e r n . Sie v e r s u c h e n , g e f ü h l s m ä ß i g e n W i d e r w i l l e n i r r a t i o n a l d u r c h z u s e t z e n , u n d sind w a h r s c h e i n l i c h auf die Angst vor den Wirkungen dämonischer Mächte zurückzuführen. Wissenschaft u n d T a b u ist ein W i d e r s p r u c h in sich. E i n e W i s s e n s c h a f t , die sich d u r c h T a b u s beeinflussen läßt, ist w e r t - u n d sinnlos. F o r s c h u n g g e d e i h t n u r in einer A t m o -

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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Sphäre intellektueller Freiheit. Wahrheiten können und dürfen nicht für immer unterdrückt werden. Freilich führt man häufig ins Feld, daß es gerade im Hinblick auf die Kriminalität und Sozialabweichung „gefährliche" Gedanken und Ideen gibt, die Kriminalität vorzubereiten und zu rechtfertigen geeignet sind. Es ist einerseits richtig, daß Gedanken und Ideen gefährliche Folgen in der Wirklichkeit haben können. Andererseits versucht man häufig mit dem Argument, es handele sich um „gefährliche" Gedanken, Tabus aufzurichten und durchzusetzen. Die Gefährlichkeit von Gedanken muß durch Argumentation deutlich gemacht werden. Denn vor allem das Unterdrücken von Gedanken ist gefährlich {Edward Sagarin 1980 b). Es gehört in der Wissenschaft schon Zivilcourage dazu, unpopuläre Ansichten zu vertreten. Ein Wissenschaftler kann Arger mit „Pressure Groups" (Interessenverbänden) bekommen. Er kann informellen kollegialen Sanktionen ausgesetzt sein: Zeitschriftenredaktionen veröffentlichen seine Beiträge nicht mehr. Buchbesprechungen fallen vernichtend aus. Kollegen ziehen ihn bei Kongressen und Sammelwerken (z. B. Festschriften) nicht mehr zur Mitarbeit heran. Es wird dafür gesorgt, daß ihm Forschungsgelder nicht mehr bewilligt werden. Die Hetze kann so weit führen, daß der Wissenschaftler körperlich angegriffen oder seelisch schwer verletzt wird. Tabus entwickeln sich manchmal in seltsamer Weise. So wurde die Homosexualität lange Zeit einfach verneint; sie galt als unaussprechlich und unhaltbar. Neuerdings hält man es für unangemessen, Kritik und Unwillen über Homosexuelle zu äußern. Wörter wie Vergewaltigung und Opfer sind gefühlsmäßig stark aufgeladen (S. Deon Henson 1980). Mit dem häufig zitierten W o r t von der „Opferbeschuldigung" tut man in der Kriminologie ganze Kategorien der Forschung einfach ab (Robert A. Gordon 1980, 56). Michael E. Levin hat (1980, 23) die Meinung geäußert, daß der Feminismus in den USA fast schon „zu unserer Staatsreligion" geworden ist. C. Ray Jeffery vertritt (1980, 122) sogar die pessimistische Ansicht, daß die akademische Gemeinschaft sich nicht dem Streben nach Wahrheit, sondern der Erhaltung einer Ideologie verpflichtet fühlt, daß die Wahrheit nur durch Zufall und nach einem furchtbaren Kampf zutage gefördert wird und daß für die Zurückweisung und Unterdrückung neuer Ideen nur die humansten Gründe angegeben werden. Richtig ist, daß nicht nur Journalisten durch Appelle an das Gefühl den kriminologischen Forschungsprozeß erschweren, sondern daß Kriminologen selbst durch unangemessene Empörung über Gedanken ihrer Kollegen zu deren Tabuisierung beitragen. Als Beispiele für Tabus in der Kriminologie können folgende Themen genannt werden: Kriminalbiologie in den USA ( J e f f e r y 1979), Kriminalsoziologie und psychoanalytische Kriminologie in der Bundesrepublik, ferner die Fragenkomplexe Rasse, Intelligenz und Kriminalität (Gordon 1980; Andrew Karmen 1980), Kriminalität der Frauen und Mädchen und an Frauen und Mädchen (Henson 1980) und Mitverursachung des Verbrechens durch das Opfer. Diese Probleme dürfen zwar diskutiert, aber nur in bestimmter Weise gelöst werden. Wenig abgehandelt werden Fragen der Sexualkriminalität und der Gewalt in der Familie (Frauen- und Kindesmißhandlung), weil sie allzu stark den

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I. E i n l e i t u n g

menschlichen Intimbereich b e r ü h r e n und weil sie dem gesellschaftlichen Stereotyp widersprechen, w o n a c h S t r a f t ä t e r n u n einmal Fremde sind, die „von außen" k o m m e n . Sehr umstritten sind auch Fragen der A b t r e i b u n g (Zad Leavy, Jerome M. Kummer 1968; Robert F. Drinan 1968) und der T o d e s s t r a f e ( H u g o Adam Bedau, ehester M. Pierce 1976, Thorsten Sellin 1980). Die A b h a n d l u n g der politischen und d e r Wirtschaftskriminalität wird gemieden, weil staatlich und wirtschaftlich Mächtige häufig die T ä t e r sind, die Definitions- und Stigmatisationsm a c h t besitzen. Schließlich geht man den P r o b l e m e n des V ö l k e r m o r d s der N a tionalsozialisten an den J u d e n im 2. W e l t k r i e g aus dem W e g e , weil Aussagen hierzu mißdeutet w e r d e n k ö n n t e n und weil das deutsche V o l k an diesem V ö l k e r m o r d nicht selten mitschuldig g e m a c h t wird.

Beobachtung sozialabweichenden Verhaltens Kriminologie ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Sie versucht, die Realität kriminellen und sozialabweichenden V e r h a l t e n s zu e r k e n n e n und auf diese Realität einzuwirken. V e r b r e c h e n als Einzeltat und Kriminalität als Massenerscheinung sind K o n s t r u k t e , gedankliche E n t w ü r f e , die nicht k o n k r e t b e o b a c h t b a r sind, s o n d e r n n u r aus anderen b e o b a c h t b a r e n D a t e n erschlossen w e r d e n k ö n n e n . V e r brechen k ö n n e n deshalb nicht unmittelbar betrachtet w e r d e n , weil Rechtsbrecher alles d a r a n s e t z e n , Dritte nicht A u g e n z e u g e n ihrer T a t w e r d e n zu lassen, und weil Dritte, die gleichwohl zufällig die Straftat w a h r n e h m e n , zumindest moralisch verpflichtet sind, dem V e r b r e c h e n s o p f e r beizustehen und damit die T a t zu unterbinden. Eine systematische unmittelbare B e o b a c h t u n g kriminellen V e r h a l t e n s verbietet sich aus diesen G r ü n d e n . D a s b e d e u t e t freilich nicht, d a ß sich die Kriminologie ihr Bild von der Wirklichkeit kriminellen Geschehens n u r aus S t r a f a k t e n macht, weil solche Akten f ü r praktische Z w e c k e ( A u f k l ä r u n g der T a t , U b e r f ü h r u n g des Straftäters) angelegt w e r d e n und deshalb Forschungsgesichtspunkte weitgehend unberücksichtigt lassen und weil S t r a f a k t e n n u r ein „gefiltertes Bild" d e r kriminellen Wirklichkeit w i e d e r g e b e n : eine kriminelle Realität, wie die Strafrechtspraxis sie sieht. Sozialabweichung ist schon eher unmittelbar b e o b a c h t b a r , obgleich solchem methodischen V o r g e h e n mannigfaltige Bedenken und Schwierigkeiten entgegenstehen. D e r Kriminologe setzt sich den V o r w ü r f e n d e r B e r ü h r u n g s a n g s t und d e r Wirklichkeitsfremdheit aus, w e n n er vorwiegend an seinem Schreibtisch verh a r r t und über Kriminalität n a c h d e n k t („Lehnstuhlkriminologie"). W e n n er sich freilich dem Gegenstand seiner Forschung, z. B. dem sozialabweichenden V e r halten, allzu stark nähert, tadelt und rügt man ihn, d a ß er die D i s t a n z zu den Sozialabweichlern verloren und sich mit ihnen solidarisiert habe. Will m a n z. B. die Rauschmittelabhängigkeit studieren, so k a n n man Rauschgiftsüchtige nicht n u r in den „künstlichen A t m o s p h ä r e n " der Drogenberatungsstelle, der Klinik o d e r des Rehabilitationszentrums b e f r a g e n , weil man hier nicht mit d e r vollen

Einige P r o b l e m e k r i m i n o l o g i s c h e r F o r s c h u n g

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Wirklichkeit bekannt wird und weil man — mangels eigener E r f a h r u n g — die volle Wirklichkeit auch nicht mittelbar — durch den Rauschgiftsüchtigen nämlich — erfahren wird. D e r kriminologische Forscher muß also schon eine Zeitlang im D r o g e n u n t e r g r u n d leben, um die Probleme der devianten Subkultur kennenzulernen. Eine deviante Subkultur, eine sozialabweichende „Unterkultur", ist ein System von W e r t e n , N o r m e n und Verhaltensweisen, die eine Gruppe von Sozialabweichlern anerkennt und miteinander teilt; dieses Subsystem f ü h r t innerhalb des Systems der Gesellschaft ein relatives Eigenleben, w o r aus sich Konflikte der gesamten Subkultur und ihrer einzelnen Mitglieder mit der Gesellschaft ergeben. Hans-Heiner Kühne (1974) hat eine Drogensubkultur, die „Saarbrücker Szene", unmittelbar beobachtet, 93 Drogensüchtige befragt und psychodiagnostisch untersucht. Ihm sind w ä h r e n d seiner Beobachtung folgende Probleme entstanden: — Die verschworene Drogengemeinschaft betrachtete ihn mit Mißtrauen. Allein schon wegen seiner äußeren Erscheinung (Kleidung, Haarschnitt) w u r d e er den verachteten „Etablierten" zugeordnet und f ü r einen Polizeispitzel gehalten. Er mußte w ä h r e n d seiner gesamten Beobachtungszeit darum ringen, von den Mitgliedern der Szene „ a n g e n o m m e n " zu werden. — N a c h d e m er mühsam K o n t a k t und Vertrauen errungen hatte, mußte er sich entgegenhalten lassen, er k ö n n e kein echtes Verständnis f ü r Rauschgiftsüchtige aufbringen, solange er nicht selbst einige Rauschmittel genommen habe. — Da er die Rauschmittelabhängigen nicht zu bloßen Forschungsobjekten erniedrigen wollte, ließ er sie die Rollen von gleichberechtigten Partnern seiner Forschungsarbeit spielen. H i e r d u r c h geriet er allmählich aus seiner Forscherrolle in eine Rolle des Beraters und Helfers in allen Lebenslagen. D a die Rauschgiftsüchtigen sehr o f t elterliche Z u w e n d u n g hatten entbehren müssen, w u r d e er zur Vaterfigur hochstilisiert. „Die Inanspruchnahme durch die Freunde aus der Szene w a r total . . ." (Kühne 1974, 68). — Aus dieser verlorengegangenen Distanz entstanden wiederum Schwierigkeiten f ü r seine Forschungsarbeit, die er nicht — wie ursprünglich geplant — d u r c h f ü h r e n konnte. Ferner machte man den Helfern der Rauschmittelabhängigen ganz allgemein z u m V o r w u r f , sie versuchten, durch ihre Hilfeleistung eigene Probleme zu lösen. — Schließlich geriet er allein durch seine teilnehmende Beobachtung in die N ä h e strafrechtlicher Sanktionen. D e n n ihm wurden Apothekeneinbrüche, Rezeptfälschungen, Rauschmittelkäufe und -Verkäufe größeren Stils und Autodiebstähle bekannt, f ü r die sich Polizei und Staatsanwaltschaft lebhaft zu interessieren pflegen. A u f g r u n d seiner Beobachtungen und Untersuchungen kam Kühne (1974, 102) zu dem Ergebnis, daß die S t r a f a n d r o h u n g e n gegen den Rauschmittelgebrauch einerseits auf denjenigen, der noch keine E r f a h r u n g e n mit Rauschmitteln hat,

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I. E i n l e i t u n g

Ein-Blick

Fenster 1: R a u s c h m i t t e l m i ß b r a u c h Die Weltgesundheitsorganisation versteht unter Rauschmittel eine natürliche oder künstlich erzeugte Substanz, die im lebenden Organismus eine oder mehrere Funktionen zu ändern vermag und die insbesondere eine Wirkung auf das Zentralnervensystem ausübt. Rauschmittel sind z. B. Opiate (Heroin), Marihuana, Amphetamine, Kokain, Barbiturate und LSD (LysergsäurediäthylaVnid). Heroin ist eine suchtverursachende Droge. Man benötigt nämlich mit anhaltendem Konsum wachsende Mengen, um eine gleichmäßige Wirkung zu erzielen. Es verursacht starke Entzugserscheinungen (körperliche Qualen), wenn ein Süchtiger mit der Anwendung der Droge aufhört. Marihuana, das aus der Cannabis-Pflanze gewonnen wird und das verhältnismäßig gutartig ist, hat die öffentliche Aufmerksamkeit in den letzten zwanzig Jahren am meisten auf sich gezogen. Alkohol und Nikotin werden häufig für gesundheitsschädlicher gehalten als Marihuana, das allerdings nicht völlig ungefährlich ist. In großen Dosen genommen, beeinträchtigt es das Gedächtnis, die Lesefähigkeit, das Lern- und Sprachvermögen und die Fähigkeit zum logischen Denken. Amphetamine und Kokain dienen als Stimulanzien, als Reiz- und Aufputschmittel. Sie werden auch zur Steigerung der Leistungsfähigkeit verwandt. Barbiturate sind Beruhigungsmittel, die Angst und Hemmungen vermindern. LSD ist eine halluzinogene Droge, da sie Trugwahrnehmungen verursacht. Der Konsum von Rausch mittein wird nicht immer als angenehm empfunden. Die Phasen des „Entzückens" können plötzlich in schwere Angsterlebnisse und Panikreaktionen („Horrortrips") umschlagen. Drogen werden genommen, um der Langeweile und den Verpflichtungen des Alltags zu entfliehen, um sich von der unerträglichen Umklammerung durch die Realität zu befreien und um „neue Ebenen des Erlebens" zu erschließen. Bis in die sechziger Jahre blieb das Drogenproblem auf Arzte und Schwestern, auf Schwerkranke und aut Kriegsveteranen beschränkt, die wegen ihrer Kriegsverletzungen zur Schmerzlinderung an Drogen gewöhnt waren. Mit der „Hippieund Gammlerbewegung" der sechziger Jahre entstand eine neue „Drogenszene". Die Massenmedien dramatisierten den Rauschmittelkonsum der Jugend und verschlimmerten damit das Problem, das man auf „Entfremdung in der Konsum- und Industriegesellschaft" und auf eine „politisch-gesellschaftskritische Protesthaltung" der Jugend zurückführte. Auch Sozialisationsschäd t n und negative Persönlichkeitszüge der Drogenabhängigen wurden für den Rauschmittelmißbrauch verantwortlich gemacht. Drogenkonsum wird in der Drogensubkultur gelernt; es entwickelt sich eine Drogenkarriere (Howard S.

Einige Probleme kriminologischer Forschung

Becker 1 9 7 3 , 1 7 — 7 0 ) . D e l i n q u e n z u n d K r i m i n a l i t ä t sind m i t D r o g e n k o n s u m v e r b u n d e n : D e r R a u s c h g i f t h a n d e l liegt w e i t g e h e n d in d e n H ä n d e n d e s o r g a n i s i e r t e n V e r b r e c h e n s , d a s z u r S i c h e r u n g s e i n e r i l l e g a l e n A k t i v i t ä t e n Beg l e i t k r i m i n a l i t ä t v e r ü b t . D i e R a u s c h m i t t e l a b h ä n g i g e n selbst, b e g e h e n u n m i t t e l b a r e B e s c h a f f u n g s k r i m i n a l i t ä t ( z . B. A p o t h e k e n e i n b r u c h , R e z e p t f ä l s c h u n g u n d d i e b s t a h l ) o d e r m i t t e l b a r e B e s c h a f f u n g s k r i m i n a l i t ä t (z. B. D i e b s t a h l v o n Geld o d e r Sachen z u m Z w e c k e des Erwerbs von Betäubungsmitteln). Zur Drogenkriminalität, g e h ö r t auch die Folgekriminalität. H i e r u n t e r versteht m a n die n a c h E i n n a h m e einer D r o g e b e g a n g e n e n S t r a f t a t e n , die auf die W i r k u n g e n d e r D r o g e z u r ü c k z u f ü h r e n sind. G e g e n ü b e r d e m A l k o h o l i s m u s ist d e r R a u s c h m i t t e l m i ß b r a u c h e i n z a h l e n m ä ß i g k l e i n e r e s P r o b l e m : E t w a m i n d e s t e n s 6 0 0 0 0 0 A l k o h o l i k e r n s t e h e n in d e r B u n d e s r e p u b l i k s c h ä t z u n g s w e i s e 6 0 bis 8 0 0 0 0 D r o g e n g e s c h ä d i g t e g e g e n ü b e r . Die G r ü n d e f ü r die K r i m i n a l i s i e r u n g des R a u s c h m i t t e l m i ß b r a u c h s sind u m s t r i t t e n : W e g e n d e r B e g r e n z t h e i t m e n s c h l i c h e r A r b e i t s k r a f t d ü r f e sich n i e mand unproduktiv machen. Man spricht von „Schmarotzerentwicklung" (Arthur Kreuzer 1978 a, 110). A l k o h o l - u n d T a b a k k o n s u m s e i e n „ s o z i a l i n t e g r i e r t " ; m a n h a b e sich d a r a n g e w ö h n t , d a m i t a u f h ö r e n z u k ö n n e n , w e n n d e r K o n s u m s c h ä d l i c h w e r d e . Sie s e i e n d o s i e r b a r ; H e r o i n k o n s u m sei n i c h t d o s i e r b a r . D e r R a u s c h m i t t e l a b h ä n g i g e v e r l i e r e d i e K o n t r o l l e ü b e r sich selbst u n d s e i n e V e r a n t w o r t u n g s f ä h i g k e i t . D u r c h s e i n e U n b e r e c h e n b a r k e i t sei d i e m e n s c h l i c h e I n t e r a k t i o n u n d K o m m u n i k a t i o n stark b e e i n t r ä c h t i g t , o h n e die die m o d e r n e Industriegesellschaft f u n k t i o n s u n f ä h i g werde. Die G e g n e r einer K r i m i n a l i s i e r u n g w e i s e n d a r a u f h i n , d a ß sich d i e G e s e l l s c h a f t i h r D r o g e n p r o b l e m e r s t d u r c h i h r e i r r a t i o n a l e , v e r n u n f t w i d r i g e R e a k t i o n auf R a u s c h m i t t e l k o n s u m s e l b s t s c h a f f t ; d i e s e R e a k t i o n sei allein a u s m o r a l i s c h e n , r e l i g i ö s e n G r ü n d e n v e r s t ä n d l i c h . Sie f o r d e r n , d i e H e r s t e l l u n g , d i e V e r t e i l u n g , d e n Besitz u n d d e n K o n s u m v o n R a u s c h g i f t z u e n t k r i m i n a l i s i e r e n , d a d i e g e g e n w artige „ U b e r k r i m i n a l i s i e r u n g " das Problem n u r noch verschlimmere ( N o r v a l Morris, Gordon Hawkins 1 9 7 0 , 8, 9). D e r K o n s u m v o n H a s c h i s c h u n d v o r allem v o n M a r i h u a n a soll n i c h t m e h r b e s t r a f t w e r d e n ; M e t h a d o n - E r h a l t u n g s p r o g r a m m e s o l l e n z u s a m m e n mit S o z i a l t h e r a p i e n f ü r H e r o i n s ü c h t i g e e i n e n R a u s c h m i t t e l e n t z u g l a n g f r i s t i g e r m ö g l i c h e n (Stephan Quentel 1982). M e t h a d o n ist e i n e E r s a t z d r o g e f ü r H e r o i n , ein S y n t h e t i k u m , d a s —- mit ä h n l i c h e n R a u s c h w i r k u n g e n w i e H e r o i n — sich v o n d i e s e m d a d u r c h u n t e r s c h e i d e t , d a ß mit d e r Z e i t k e i n e h ö h e r e D o s i s e r f o r d e r l i c h ist, u m e i n e g l e i c h b l e i b e n d e W i r k u n g z u erzielen. M a n hält d e n k u r z f r i s t i g e n völligen E n t z u g beim langj ä h r i g e n H e r o i n s ü c h t i g e n f ü r u n r e a l i s t i s c h . D e s h a l b will m a n mit M e t h a d o n gaben unter ärztlicher Kontrolle und mit Sozialtherapie versuchen, den H e r o i n s ü c h t i g e n l a n g f r i s t i g z u h e i l e n . M a n e r h o f f t sich d u r c h s o l c h e E r h a l t u n g s p r o g i a m m e : D e r illegale R a u s c h g i f t m a r k t wird beseitigt, u n d das o r ganisierte V e r b r e c h e n k a n n keine illegalen B e d ü r f n i s s e m e h r b e f r i e d i g e n .

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I. Einleitung

D u r c h die Normalität d e r Rauschgiftpreise wird Beschaffungskriminalität unnötig. D a das Rauschmittel unter ärztlicher Kontrolle g e n o m m e n wird, verschwinden Todesfälle wegen U b e r d o s i e r u n g und Hepatitis (Leberentzündung). Denn eine V e r u n r e i n i g u n g des Rauschmittels und der Hilfsmittel seiner Verabreichung ist nicht mehr zu befürchten. Da der Rauschgiftsüchtige nicht mehr als Krimineller, sondern als K r a n k e r definiert wird, erwartet man, daß e r sich a u f g r u n d dieser Zuschreibung auch nicht mehr kriminell verhalten wird. Gegen diese L ö s u n g wendet man ein: Iis entstehe ein S c h w a r z m a r k t ; M e t h a d o n sei g e n a u so schwer e n t z i e h b a r wie H e r o i n ; durch Methad o n - P r o g r a m m e werde der W e g freigegeben, D r o g e n z u r Lösung persönlicher Probleme einzusetzen. In Übereinstimmung mit einem großen Teil der öffentlichen Meinung besteht man d a r a u f , totale Abstinenz sei Voraussetzung jeder erfolgreichen T h e r a p i e (Kreuzer 1978 a, 143). In den U S A wird Z w a n g s b e h a n d l u n g unter Zivilhaft mit sehr mäßigem Erfolg praktiziert ((Ulbert Geis 1981). Opiatantagonisten (Gegenmittel gegen Opiate) sollen deren W i r k u n g blockieren. In therapeutischen Gemeinschaften, wie z. B. S y n a n o n , will man f ü r die Rauschmittelabhängigen eine Ersatzfamilie schaffen; man will G r u p p e n d r u c k und Selbsthilfe z u r Selbstheilung einsetzen (Rita Volkman Johnson, Donald R. Cressey 1981). Die Behandlungskosten sind h o c h ; die Erfolge sind nicht sehr ü b e r z e u g e n d . Behandlung ist unwirksam bei Patienten, die eine negative Einstellung z u r Behandlung haben. Es gibt Länder, die versuchen, durch harte Strafen ihr Rauschgiftproblem zu kontrollieren. In Schweden ist eine solche Lösung nicht gelungen. In der Volksrepublik C h i n a und in Japan haben harte Strafen dazu g e f ü h r t , daß diese L ä n d e r n a h e z u d r o g e n f r e i sind (Geis 1981). In diesen Staaten sind Kontrollmaßnahmen der Kriminaljustiz freilich nur deshalb so effektiv, weil ihre informelle Kontrolle durch u n z e r s t ö r t e Gemeinschaften in O r d n u n g ist. Die Vereinten N a t i o n e n b e f ü r w o r t e n eine V e r b i n d u n g von Straf- und Beliandl u n g s m a ß n a h m e n ( U N S D R I 1984 a). In d e r Bundesrepublik verfolgt das Betäubungsmitteigesetz (BGBl. 1981, 6 8 1 - / 0 3 ) folgende Kriminalpolitik: — S c h w e r e Strafen (Freiheitsstrafen bis zu 4 Jahren) sollen R a u s c h g i f t h ä n d ler abschrecken. — Die Möglichkeiten der Zurückstellung der Strafvollstreckung und des Absehens von S t r a f v e r f o l g u n g bei S t r a f t ä t e r n , die betäubungsmittelabhängig sind und die leichtere o d e r mittelschwere Rechtsbrüche verübt haben, sollen deren Behandlung f ö r d e r n . — Strafmilderung o d e r Absehen von S t r a f e f ü r organisierte R a u s c h g i f t h ä n d ler in den Fällen der V e r h i n d e r u n g o d e r der A u f k l ä r u n g von Rauschgiftkriminalität durch deren I n f o r m a t i o n e n sollen entscheidende Schläge gegen das organisierte V e r b r e c h e n erleichtern .

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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möglicherweise abschreckend wirken können, daß sie aber andererseits die Probleme des Rauschmittelabhängigen nur noch vertiefen und den Ausstoßungsprozeß aus der Gesellschaft nur noch beschleunigen. In der öffentlichen Meinung wird die Straßen- und Autoprostitution als ein wahlloses, chaotisches und völlig ungeordnetes Phänomen beurteilt. Daß eine solche Sichtweise nicht der Wirklichkeit entspricht, hat Bernard Cohen (1980) herausgearbeitet, der in New York City durch unmittelbare Feldbeobachtung und informelle Interviews zwei Jahre lang die Straßen- und Autoprostitution untersucht hat. Cohen hat für seine Beobachtungen ein Kraftfahrzeug benutzt, und er hat alle seine Erfahrungen sofort auf einen Kassettenrecorder diktiert. Er stellte fest, daß die Straßen- und Autoprostitution eine wohlgeordnete Subkultur bildet. Jede Prostituierte hat ihren festen „Standplatz" am Gehweg, von dem aus sie die langsam vorbeifahrenden Autofahrer auf sich aufmerksam zu machen versucht. Diesen festen Standplatz, mit dem sie sich so sehr identifiziert, daß sie an ihm „Quasi-Eigentümer-Rechte" geltend macht, besitzt sie aus folgenden Gründen: Sie kennt das Gebiet um ihren Standplatz herum so gut, daß sie sich notfalls leicht und schnell verstecken oder auch bei Gefahr flüchten kann. Ihre Stammkunden wissen, wo sie zu finden ist. Ihr Zuhälter kann sie gut überwachen. Ihre Mitbewerberinnen halten so weit Abstand, daß sie mit ihnen konkurrieren kann. Innerhalb des Prostituiertenbezirks sind die Straßen- und Autoprostituierten nach ihrem Alter, ihrer Attraktivität und nach den sexuellen Diensten, die sie anbieten, in einer bestimmten Ordnung verteilt. Schon etwas ältere und weniger attraktive Prostituierte würden sich unter jungen, hübschen Mädchen nicht halten können. Deshalb sucht sich jede ihren Platz oder bekommt ihn von ihren Mitbewerberinnen oder den Zuhältern angewiesen. Insofern reguliert und kontrolliert sich die deviante Subkultur selbst. Autoprostituierte benutzen auch immer wieder denselben „Stellplatz", zu dem sie ihre Kunden leiten, um dort die vereinbarten sexuellen Handlungen mit ihnen auszuführen. Auf diese Weise kann ihr Zuhälter sie vor Angriffen ihrer Kunden am besten schützen und sie gleichzeitig wirksam kontrollieren. Der Zuhälter genießt im kriminellen Milieu kein großes Ansehen, weil er keine besonderen Fähigkeiten — wie z. B. der Berufseinbrecher — besitzt. Er ist bewußt modisch gekleidet, schmückt sich mit Juwelen, besitzt ein großes, modernes Auto und läßt auf jede Weise erkennen, daß es ihm nicht an Geld mangelt. Sein Prestige steht in Wechselwirkung zum Ansehen, das seine Prostituierten in der devianten Subkultur genießen. Die Prostituierte braucht ihren Zuhälter, weil er ihren „Beruf" versteht und sie emotional stützt, weil er sie schützt, ihr die Regeln der devianten Subkultur beibringt und sie überredet, diese Regeln einzuhalten. Er kennt sich im kriminellen Milieu gut aus und wird von Kriminellen als Auskunftsperson und mitunter auch als Geldquelle benutzt. „Teeräume" sind öffentliche Toiletten in Großstadtparks in der Sprache der homosexuellen Subkultur. Sie sind leicht zugänglich, für den Eingeweihten unschwer erkennbar und gering sozial sichtbar. Der nordamerikanische Krimino-

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I. Einleitung

löge Laud Humphreys (1971, 1973) hat homosexuelle Handlungen in zehn öffentlichen Toiletten in vier verschiedenen Parks einer nordamerikanischen Großstadt mit zwei Millionen Einwohnern unmittelbar beobachtet. Homosexuelle entwickeln Verteidigungsmechanismen gegenüber der Gesellschaft: Sie halten ihre wahre Identität geheim, machen sich mit Gesten und Gebärden bekannt und lassen außerordentliche Vorsicht beim Kontakt mit Fremden walten. Deshalb war es für Humphreys, der die homosexuelle Subkultur studieren wollte, nicht einfach, Zugang zu Homosexuellen zu bekommen. Da er meinte, als Außenstehender durch Befragung von Homosexuellen in Homosexuellenbars kein wahres Bild von deren sozialabweichender Verhaltensweise bekommen zu können, und da er die Homosexuellen auch nicht zu bloßen Forschungsobjekten machen wollte — sie fühlen sich ohnehin von der Gesellschaft verachtet —, gab er sich den Anschein, selbst ein Homosexueller zu sein. Die Männer treffen sich zu unpersönlichen homosexuellen Handlungen auf ihrem Weg von der oder zur Arbeit in öffentlichen Toiletten. Bei diesen homosexuellen Begegnungen, an denen jeweils zwei Männer teilnehmen, ist häufig noch ein dritter Mann zugegen, der die Rolle des Aufpassers spielt, der die beiden Teilnehmer bei drohenden Störungen warnt und der häufig ein Voyeur ist, der sich durch das Zuschauen bei dem Sexualakt sexuell erregt und befriedigt. Diese Rolle des Aufpassers und Voyeurs spielte Humphreys nach außen hin. In Wirklichkeit untersuchte er das homosexuelle Verhalten mit der Methode der direkten teilnehmenden Beobachtung, indem er nach jeder homosexuellen Begegnung einen systematischen Erhebungsbogen ausfüllte. Er notierte sich ferner die polizeilichen Kennzeichen der vor den öffentlichen Toiletten parkenden Autos von 134 homosexuellen Männern, ließ sich von der Polizei deren Namen und Adressen geben und interviewte sie in ihren Wohnungen. Humphreys ist wegen der Täuschung über seine wahre Rolle bei den homosexuellen Begegnungen kritisiert worden. Man hat geltend gemacht, es widerspreche der Berufsethik eines Forschers, seine Probanden, seine Versuchspersonen, über seinen wahren Forschungszweck im unklaren zu lassen. Außerdem hat man das Eindringen in die Privatsphäre der homosexuellen Männer bemängelt. Zwar hatte Humphreys die Freiwilligkeit und Anonymität seiner homosexuellen Probanden bei seinen Interviews gewahrt. Man meinte aber gleichwohl, es habe sich um einen unzulässigen Einbruch in die Häuslichkeit und das Privatleben der homosexuellen Männer gehandelt. Humphreys hat sich gegen diese Vorwürfe nicht ganz überzeugend mit dem Argument zu wehren versucht, die Männer hätten ihre Privatsphäre dadurch freiwillig aufgegeben, daß sie in öffentlichen Toiletten homosexuelle Handlungen vornahmen. Er kam nach seiner Untersuchung zu folgenden Ergebnissen: Bei den „homosexuellen Spielen" (Humphreys 1971, 47) geht es um hastige unpersönliche sexuelle Befriedigung, um Sexualität ohne jede persönliche Verpflichtung. Die Männer bleiben sich gegenseitig unbekannt; sie schweigen bei der homosexuellen Begegnung und verständigen sich nur mit Signalen, Gesten und Gebärden; sie üben keinen Zwang aus und vermeiden jeden Kontakt mit Jugendlichen. Humphreys

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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stellte zwar vier verschiedene Typen von Homosexuellen fest. Bei der Mehrheit seiner Interviewpartner (54 % ) handelte es sich jedoch um verheiratete Männer, die mit ihren Ehefrauen zusammenleben. Sie wählen die unpersönliche homosexuelle Begegnung, weil sie in ihren Ehen aus verschiedenen G r ü n d e n sexuell unbefriedigt sind, weil ihnen sexuelle Selbstbefriedigung (Masturbation) zu wenig, eine Liebesbeziehung aber finanziell und zeitlich zu aufwendig ist und weil sie ihre Ehefrauen und ihren Beruf lieben und ihre bürgerliche Stellung wahren wollen. Ihre Ehen sind keineswegs instabil. Ihre Frauen wissen nichts von den geheimen homosexuellen Begegnungen. Humpbreys hält diese Begegnungen f ü r „harmlos". Er schreibt (1971, 172/3): „Ich habe keine moralischen oder intellektuellen und nur milde ästhetische Bedenken gegen das, was in den , T e e r ä u m e n ' geschieht. Ich habe allerdings einen moralischen Einwand gegen die Art, mit der die Gesellschaft auf diejenigen reagiert, die an diesen H a n d l u n g e n teilnehmen." W e g e n dieses Ergebnisses hätte es eines solchen Forschungsaufwandes (Eindringen in die Intimsphäre!) nicht bedurft. O b man das untersuchte Verhalten wirklich als harmlos bewerten kann, steht wegen der Begrenztheit des erhobenen Forschungsmaterials nicht mit ausreichender Sicherheit fest. D u r c h die empirische Untersuchung von Humpbreys wird freilich das Problem aufgeworfen, ob es moralische Grenzen wissenschaftlicher Beobachtung gibt und ob diese Grenzen hier überschritten worden sind. D e r Forschungsgegenstand ist empfindlich. Ästhetik und Gefühl sind zwar bei einer solchen Untersuchung unbeachtlich. O b man als Forscher aber nach außen hin die Rollen eines Sozialabweichlers oder eines Kriminellen spielen darf, um kriminologische Forschungsziele zu erfüllen, erscheint außerordentlich zweifelhaft. Kriminelle Karrieren Da man die Kriminalität nicht unmittelbar w a h r n e h m e n kann, m u ß man die Methode der indirekten U n t e r s u c h u n g anwenden. Man kann nicht an die Stelle der Beobachtung die „phänomenologische Wesenschau", die Intuition setzen. Eine empirische Wissenschaft kann sich auch nicht auf eine Beobachtung eines Phänomens beschränken. Vielmehr muß die Beobachtung von anderen Forschern wiederholt werden, und sie müssen zu gleichen Ergebnissen k o m m e n , wenn die Forschungsresultate allgemein anerkannt werden sollen. Eine Form der mittelbaren Beobachtung ist das Interview eines Kriminologen mit einem Straftäter oder mit mehreren Kriminellen. Das Forschungsinterview, eine persönliche, verbale Interaktion zwischen zwei Personen, ist dem Alltagsgespräch oder dem Interview in den Massenmedien sehr unähnlich. Das Interview als Forschungsinstrument ist ein planmäßiges V o r g e h e n mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei dem die Versuchsperson durch eine Reihe gezielter Fragen zu verbalen Informationen veranlaßt wird (Erwin E. Scheuch 1962a, 138). D a m i t man solche brauchbaren Informationen b e k o m m t , muß man zunächst eine vertrauensvolle persönliche Beziehung zur Versuchsperson aufbauen. Die Fragen, die man stellen will,

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I. Einleitung

müssen zwar wissenschaftlich vorbereitet sein, sie dürfen aber nur so formuliert werden, daß der Befragte sie versteht und daß er nicht überfordert wird. Im Interview muß der Forscher seine Versuchsperson, sein Forschungsinstrument (die Fragestellung) und sich selbst „kontrollieren". Er muß bestrebt sein, die W i r k lichkeit in der Interaktion mit seinem Interviewpartner zu erarbeiten. Er kann zwar die Introspektion, das Hineinsehen in die Psyche seiner Versuchsperson, nicht völlig vermeiden, wenn er deren Motivationen ermitteln will. Er muß dieses „Verstehen" aber bewußt als Hilfsmittel seiner Beobachtung einsetzen, da auf Psychisches nur geschlossen werden kann. Er muß affektiv besetzte Formulierungen, absichtlich falsche und leichtfertige Angaben und die mangelnde Ernsthaftigkeit von Antworten erkennen. Er muß die Empfindlichkeit des Befragten gegenüber bestimmten T h e m e n durchschauen. Er muß ferner berücksichtigen, daß einzelne seiner Fragen Ausstrahlungswirkungen (halo effects) auf andere Fragen haben können. Er muß sich schließlich bemühen, den Versuchsleitereffekt auszuschließen: Seine eigenen Ansichten, Vorurteile und U b e r z e u g u n g e n dürfen weder bei der Fragestellung noch bei der W a h r n e h m u n g der Antworten noch bei deren Interpretation eine Rolle spielen (René König 1962b, 120). Als einer der ersten hat Edwin H. Sutherland (1937) mit einem Berufsdieb zusammen dessen kriminelle Karriere erarbeitet und damit einen Einblick in die Verhaltensweisen und Einstellungen der Mitglieder einer kriminellen Subkultur gegeben. Er hat seinem etwa fünfzigjährigen Interviewpartner, der mehr als zwanzig Jahre Berufsdieb gewesen und dreimal zu Freiheitsstrafen verurteilt worden war, bestimmte Fragen vorgelegt, die er aufgrund der vorhandenen kriminologischen Literatur vorbereitet hatte und zu denen der Berufsdieb schriftlich Stellung nahm. Sutherland ging dann mit seinem Interviewpartner sieben Stunden p r o W o c h e und zwölf W o c h e n lang die Aufzeichnungen durch. D a nach stellte er ein Manuskript her, indem er zwar das erarbeitete Material gliederte, k u r z e Uberleitungen verfaßte und Wiederholungen beseitigte, indem er aber die ursprünglichen Ideen und Einstellungen und die eigene Sprache des Berufsdiebs möglichst bewahrte. Es entstand ein Erfahrungsbericht eines Berufskriminellen über sein Leben, seine Verhaltensweisen und Ansichten. Diesen Erfahrungsbericht gab Sutherland vier anderen Berufsdieben und zwei ehemaligen Kriminalbeamten zur Ü b e r p r ü f u n g . Er diskutierte die Probleme und Ideen seines Straftäters ferner mit einigen anderen Berufsdieben und mit einigen anderen Kriminalbeamten. Sutherland kam zu folgenden Ergebnissen: Wie jeder Angehörige eines legalen Berufs, jeder Arzt, jeder Jurist, jeder Maurer, hat der erfolgreiche Berufsdieb bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten, die er allerdings im Gegensatz zu jedem Angehörigen eines legalen Berufs zur Planung und D u r c h f ü h r u n g von Verbrechen einsetzt und mit denen er den Verkauf gestohlener Güter und die V e r m e i d u n g seiner V e r h a f t u n g sicherzustellen versucht. Die G r u n d z ü g e seiner Persönlichkeit sind W i t z , Unverfrorenheit und Sprachgewandtheit. Wie jeder Angehörige eines legalen Berufs besitzt der erfolgreiche Berufsdieb eine soziale Stellung und soziales Ansehen, die sich auf seine krimi-

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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nellen Fähigkeiten, seine finanzielle Lage, seine Verbindungen, sein Benehmen und seine Berufserfahrung gründen. Er entwickelt innerhalb seiner Gruppe von Berufsdieben einen gewissen Stolz auf die von ihm erreichte soziale Stellung. Die Berufsdiebe fühlen sich aus der Gesellschaft ausgestoßen und einem Subsystem von gemeinsamen Werten verpflichtet, die den einzelnen Dieb in seiner kriminellen Karriere unterstützen. Sie schalten alle Betrachtungen über die negativen Wirkungen ihrer Verbrechen auf ihre Opfer und über das letzte Ende ihrer kriminellen Karriere aus ihren Gedanken aus. Sie lernen das traditionelle Wissen ihres „Berufs", das von einer Generation von Berufsdieben auf die nächste übertragen wird, durch praktische Erfahrung in einer Art „Lehre". Die Gruppe der Berufsdiebe, die ihre eigene Sprache, ihre eigenen Gesetze, Traditionen und Bräuche besitzt, beschließt aufgrund ständiger Prozesse der Auswahl und der Bevormundung, wer zu ihr gehört. Sie definiert ihre eigene Mitgliedschaft. Eine Person, die von der Gruppe angenommen und als Berufsdieb anerkannt wird, ist ein Berufsdieb, der jedem anderen seiner „Kollegen" in einer gefährlichen Situation helfen wird. Der Berufsdieb führt ein Leben innerhalb einer kriminellen Gruppe, in der Ehrlichkeit am höchsten geschätzt wird, die sich freilich nur auf den Umgang innerhalb der eigenen Gruppe bezieht. Die Verbalisierungen, die Wortschöpfungen der Berufskriminellen, ihre sprachlichen Besonderheiten spiegeln ihre Einstellungen sich selbst, ihren Opfern, anderen Kriminellen, dem Gesetz und der Gesellschaft gegenüber wider. Kriminelle Lebensstile werden in den eigenen Worten des Täters ausgedrückt. Die Art, wie er mit sich selbst und mit anderen umgeht, seine Gedanken, seine Freude, sein Schmerz, seine Verzweiflung, seine H o f f n u n g sind Teile seines „Inder-Welt-Seins". Fünf 20- bis 35jährige aus der Strafanstalt entlassene Berufseinbrecher hat Pedro R. David (1974, 1975) in ausgedehnten Interviews untersucht. Es ging ihm darum, die kriminellen Karrieren, die Rechtfertigungen, die Denkweisen der Täter in ihrer eigenen Sicht und in ihrer eigenen Sprache kennenzulernen. Er kam zu folgenden Ergebnissen: Von früher Kindheit an hatten die Einbrecher fast keine Wahl. In heruntergekommenen Nachbarschaften wuchsen sie nahezu ohne elterliche Aufsicht auf. Es war ihren Eltern gleichgültig, wo sie sich herumtrieben. Die Schule spielte bei der Bildung ihrer Persönlichkeit und ihrer Wertvorstellungen keine bedeutsame Rolle. Ihre Herkunftsfamilien waren instabil (Alkoholismus, Selbstmord ihrer Eltern). Mit ihrer devianten Gleichaltrigengruppe hatten sie intensiven Kontakt. Von früher Kindheit an waren sie in sozialabweichendes Verhalten verwickelt. Sie liefen häufig aus ihrem Elternhaus weg, begingen Ladendiebstähle und hatten Drogenprobleme. Berufseinbrecher definieren sich selbst als kriminell. Sie sind stolz auf ihre Spezialkenntnisse und -fähigkeiten und betrachten das Verbrechen als einen gewinnbringenden und zufriedenstellenden Lebensweg. Sie verübten — nach Davids Erkenntnissen — etwa 300 Einbrüche im Durchschnitt im Jahr und wurden erst nach etwa zwei- bis dreihundert Einbrüchen entdeckt. Sie hatten bis zu ihrer Entdeckung ein verhältnismäßig hohes und stabiles Einkommen: durchschnitt-

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I. E i n l e i t u n g

lieh 500 bis 550 U S D o l l a r p r o W o c h e . V o n ihren H e h l e r n w a r e n sie abhängig. Sie waren auf die schnelle V e r w e r t u n g gestohlener G ü t e r nicht n u r aus wirtschaftlichen G r ü n d e n , s o n d e r n auch deshalb angewiesen, um ihrer V e r h a f t u n g zu entgehen. D e n n die Kriminalpolizei hätte einen ausgezeichneten Beweis gehabt, w e n n sie aus einem E i n b r u c h s t a m m e n d e G e g e n s t ä n d e in ihren W o h n u n gen g e f u n d e n hätte. O h n e ein wohlorganisiertes Hehlereisystem bricht die Aktivität von Berufseinbrechern z u s a m m e n . D e r abschreckende und bessernde Einfluß der Polizei, des Gerichts und des Strafvollzugs ist in der Sicht der Einbrecher gering. N a c h ihrer Entlassung aus der Strafanstalt e r h ö h e n sie ihre A n strengungen, in Z u k u n f t nicht mehr von der Kriminalpolizei und dem Gericht ü b e r f ü h r t zu w e r d e n . Sie berechnen rational die Risiken z u k ü n f t i g e r Rechtsbrüche und rechnen stets mit ihrer Straflosigkeit. Im H i n b l i c k auf Zeit, O r t und A u s f ü h r u n g ihrer Einbrüche entwickeln sie intuitive, eingebungsartige Fähigkeiten (ahnendes Erfassen günstiger Gelegenheiten). Nachteilige W i r k u n g e n ihrer Straftaten auf ihre O p f e r neutralisieren die Berufseinbrecher: „Ich d e n k e , die Leute b r a u c h e n n u r ihre V e r s i c h e r u n g a n z u r u f e n , um ihre E n t s c h ä d i g u n g zu kassieren. H e u t e ist doch n a h e z u jeder versichert." Viele empirische U n t e r s u c h u n g e n sind bisher an erfolglosen Kriminellen, an S t r a f g e f a n g e n e n in der Strafanstalt d u r c h g e f ü h r t w o r d e n . Die Kriminologie der G e g e n w a r t b e m ü h t sich d a r u m , I n f o r m a t i o n e n von erfolgreichen Kriminellen zu b e k o m m e n , die in ihrer natürlichen U m g e b u n g beobachtet und b e f r a g t w e r d e n . Einen erfolgreichen H e h l e r b e f r a g t e Carl B. Klockars (1975). E r interessierte sich f ü r dessen Lebensgeschichte, Geschäftspraktiken und Selbstrechtfertigungen. N a c h dem Studium d e r gesamten bisher erschienenen Literatur z u r H e h l e rei studierte Klockars Polizeiakten und b e f r a g t e Polizeibeamte. D a er keinen erfolgreichen H e h l e r in den Polizeiakten und unter den S t r a f g e f a n g e n e n finden k o n n t e , interviewte er eine Reihe von Berufsdieben in der Strafanstalt über ihre Beziehungen zu H e h l e r n . V i e r Diebe machten ihn auf einen M a n n a u f m e r k s a m , den sie f ü r einen „idealen" H e h l e r hielten. Klockars sandte ihm einen Brief, in dem er sich vorstellte und sein Anliegen vortrug. Er schickte ihm Sutberlands Buch über den Berufsdieb mit, um deutlich zu m a c h e n , d a ß ein a n d e r e r Krimineller bereits mit einem K r i m i n o l o g e n z u s a m m e n g e a r b e i t e t hatte und d a ß sie z u sammen ein Buch geschrieben hatten. Ein paar T a g e später telefonierte er mit dem H e h l e r , der ihn in sein G e s c h ä f t einlud. Klockars verbrachte etwa vierhundert Stunden über einen Z e i t r a u m von f ü n f z e h n M o n a t e n z u s a m m e n mit dem H e h l e r . Er sprach nicht n u r mit ihm und stellte ihm F r a g e n , s o n d e r n er b e o b a c h tete auch seine Geschäfte, die er mit den Dieben und mit seinen K ä u f e r n machte. Er w u r d e ein Freund des H e h l e r s und k o n n t e dessen Familienangehörige und F r e u n d e b e f r a g e n . U m die Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit) der A n g a b e n des H e h l e r s zu ü b e r p r ü f e n , interviewte er ihn über jeden V o r g a n g zweimal. Er ging seine gesamten A u f z e i c h n u n g e n fünf bis sechs M o n a t e nach dem ersten D u r c h g a n g ein zweites Mal durch. Er hatte bereits viel über H e h l e r e i d u r c h andere Q u e l l e n in E r f a h r u n g gebracht. E r ließ sich von seinem

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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Hehler Dokumente zeigen. Unter Reliabilität versteht man die Übereinstimmung der Ergebnisse gleichartiger Beobachtungen unter gleichartigen Bedingungen. Der Begriff der Validität bezeichnet den Umstand, daß mit der angewandten Methode genau das erhoben wird, was erhoben werden soll. Klockars kam zu folgenden Ergebnissen: Seine kriminellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen lernt der Hehler. Er muß schnell und meist ohne Anleitung Kenntnisse sammeln. Denn jeder Fehler (Strafanstaltsaufenthalt!) schädigt sein Geschäft und sein Ansehen. Ein Hehler kauft und verkauft legale und gestohlene Waren. Mit den legalen Waren tarnt er die entwendeten. Ein Hehler ist gleichzeitig ein Trödler, der beschädigte und unmoderne Waren kauft und verkauft, die im normalen Handel unverkäuflich geworden sind. Seine Preise liegen unter den Großhandelspreisen. Der wesentlichste Trick des Hehlers liegt darin, sein kriminelles Verhalten von seinen legalen Geschäftsaktivitäten nicht unterscheidbar zu machen: — Er kauft und verkauft gestohlene Güter. Er muß deshalb Kontakt mit Dieben und Käufern aufnehmen. Wie jeder legale Unternehmer hat er Probleme der Finanzierung, der Werbung, des Angebots und der Nachfrage und der Verteilung der Waren. — Uber seine legalen Probleme hinaus muß sich der Hehler als erfolgreich erweisen. Er muß genügend Erfindungsreichtum entwickeln, gestohlene Waren als legale Waren zu tarnen. — Früher oder später wird der Hehler bekannt. Er muß sogar bekannt werden, um ein erfolgreicher Hehler zu sein. Er wird bei der Polizei angezeigt, die sein Geschäft durchsucht. Sie darf bei ihm keine Ware finden, die aus Einbrüchen oder sonstigen Straftaten stammt. Findet die Polizei keine solchen Waren, ist er ein erfolgreicher Hehler, der in den Kreisen Ansehen genießt, mit denen er Geschäfte macht. Der Hehler rechtfertigt sein kriminelles Verhalten vor sich selbst und anderen in mannigfaltiger Art und Weise: „Ich bin ein Geschäftsmann. Ich habe nie in meinem Leben gestohlen. Man bietet mir entwendete Sachen an. Wenn ich sie nicht kaufe, tut es ein anderer. Das Kaufen und Verkaufen gestohlener Waren schädigt niemanden. Fast jeder ist heute versichert. Es mag zwar sein, daß sich durch Diebstähle und Einbrüche die Preise und Versicherungsprämien erhöhen. Jeder kann diese Erhöhungen aber unschwer dadurch ausgleichen, daß er bei mir billige Waren kauft. Ich bin ein „anständiger", geachteter Hehler. Ich gehöre nicht zur schmutzigen Konkurrenz, die an jeder Straßenecke kauft und verkauft. Ich behandle meine Lieferanten und Kunden großzügig. Sie mögen mich alle. Ich habe schon vielen geholfen, wenn sie in einer Notlage waren." Der Hehler verneint seine Verantwortlichkeit. Es kommen viele respektierte, geachtete Bürger, selbst Polizisten und Richter, zu ihm, um günstig einzukaufen. Die Wertschätzung, die diese Bürger genießen, verleiht dem Hehler selbst — in seinen Augen

I. Einleitung

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Ein-Blick

F e n s t e r 2 : Prostitution Die Prostituierte gibt sich zum Zwecke der Bestreitung ihres Lebensunterhalts in der Regel ohne Gefühlsbeteiligung gegen Entgelt — Geld oder sonstigen materiellen Gewinn — wahllos vielen Partnern, meist Männern, die sie für gewöhnlich nicht kennt, zum Geschlechtsverkehr oder zu anderen Sexualhandlungen hin. Neben der berufsmäßigen Prostitution gibt es die N e b e n erwerbs- und die Gelegenheitsprostitution. Zahlreiche junge Damen gehen als Bardamen, Fotomodfile, Masseusen oder Kosmetikerinnen der Prostitution als Nebenerwerbsquelle nach, wobei ihnen ihr Beruf nicht selten zur Tarnung dient. Einige T e e n a g e r , die noch im Elternhaus leben und die Schule besuchen, prostituieren sich — ohne Wissen ihrer Eltern — gelegentlich und amateurhaft an Nachmittagen oder an einzelnen W o c h e n e n d e n ( D o rothy Heid Bracey 1979, 58). Dasselbe tun bisweilen Ehefrauen ohne Wissen ihrer Ehemänner. Sie finanzieren mit dem Entgelt besondere Anschaffungen, bessern ihr Taschengeld auf oder versuchen, einer finanziellen Notlage zu steuern, in die sie geraten sind (Henner Hess 1978; Michael Bargon 1982). Die Erscheinungsformen der Prostitution sind endlos. Niedrigere Formen wie Straßen- und Autoprostitution und Prostitution in Bordellen und E r o s - C e n tern (z. B. Hamburg) sind sozial stark abgewertet. Prostitution wird freilich auch in manchen Massagesalons oder Badehäusern (z. B. T o k i o ) betrieben. Sie wird ferner durch einige Fotomodellagenturen, Party-Dienste (PartyGirls) oder Vermittlungsbüros für Begleitdamen („Escort-Services") (z. B. Sydney) vermittelt. Call-Girls üben ihre Tätigkeit in Appartements aus; sie machen durch Zeitungsanzeigen auf sich aufmerksam und vereinbaren ihre T e r m i n e telefonisch (Leszek Lerneil 1973, 3 0 4 — 3 1 1 ; Paul K. Rasmussen, Lauren L. Kuhn 1 9 7 8 ; Jürgen Kahmann, Hubert Lanzerath 1981). In osteuropäischen sozialistischen Ländern werden Prostituierte nur für harte Devisen tätig; ausländische Touristen oder Geschäftsmänner treffen sich in Nachtklubs oder Hotels (z. B. in Warschau oder in den polnischen Hafenstädten) ( M i c h a ! Antoniszyn, Andrzej Marek 1985). Manche Prostituierte haben sich auf K o n gresse spezialisiert oder arbeiten für Handels- oder Industrieunternehmen, die eigene Manager oder die Manager der Vertrags- oder Konkurrenzunternehmen unterhalten, auf diese Weise günstige Vertragsabschlüsse erleichtern oder geheime Informationen erhalten wollen. Zu den Ursachen der Prostitution werden verschiedene T h e o r i e n vertreten: — Die Psychopathologie macht abnorme Persönlichkeitszüge und angeborene psychische Mängel der Prostituierten für ihr sozialabweichendes Verhalten verantwortlich (zuerst: Cesare Lombroso, Guglielmo Ferrero 1894; dann

Kurt Schneider 1926 und Siegfried Boreiii, Willy Starck 1957).

Einige P r o b l e m e k r i m i n o l o g i s c h e r F o r s c h u n g

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— N a c h der ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e verdienen M ä d c h e n und junge Frauen aus der Unterschicht als Arbeiterinnen, H a u s g e h i l f i n n e n , Kellnerinnen, Friseusen zu wenig, so d a ß sie davon nicht leben k ö n n e n und sich d e r Prostitution z u w e n d e n müssen (August Bebel 1892; Abraham Flexner 1914; Kingsley Davis 1966). — D e r psychoanalytische E r k l ä r u n g s a n s a t z betont die mangelnde Identifikationsmöglichkeit des M ä d c h e n s mit seiner Mutter und seinen „ E l e k t r a - K o m plex" ( T o d e s w u n s c h gegenüber der M u t t e r und Besitzwunsch gegenüber dem Vater). Die Prostituierte will ihre Mutter d a f ü r bestrafen, daß sie ihr ihre Liebe vorenthalten hat; sie sucht in ihren K u n d e n unbewußt ihren Vater (Edward Glover 1960, 1969; Harold Greenwald o. J.). — N a c h der feministischen T h e o r i e ist Prostitution das k o n s e q u e n t e Ergebnis der patriarchalischen U n t e r d r ü c k u n g der Frau. D a s H a u p t m o t i v der P r o stituierten ist ihr W u n s c h nach Selbständigkeit und materieller U n a b h ä n g i g keit (Rosemarie Giesen, Gunda Schumann 1980). — D e r M e h r f a k t o r e n a n s a t z hält zahlreiche G r ü n d e f ü r b e d e u t s a m : Unvollständigkeit der Familie, Schulschwierigkeiten, sexueller Mißbrauch des M ä d chens in seiner Kindheit, Alkoholismus in der Familie und in der Gleichaltrig e n g r u p p e (Magdalena Jasinska 1976). — N a c h der Lerntheorie eignen sich die Prostituierten die W e r t - und V e r haltensstrukturen ihrer Sozialabweichung in einer regelrechten Lehrzeit an (James H. Bryan 1969a). — D e r gegenwärtig am meisten vertretene Ansatz ist die sozialpsychologische T h e o r i e der Prostituiertenkarriere (Diana Gray 1978; Norman B. Jackman, Richard O'Toole, Gilbert Geis 1967; Nanette J. Davis 1971; James H. Bryan 1969b; Jennifer James 1983). Es handelt sich um einen P r o z e ß des langsamen Hineingleitens in eine deviante Karriere (drift) (David Matza 1964), der in verschiedenen Phasen beschrieben wird und der in jeder Phase abgebrochen werden k a n n : — In seinem Elternhaus kann sich das Mädchen wegen u n g e n ü g e n d e r e m o tionaler Z u w e n d u n g seiner Eltern, insbesondere seiner M u t t e r , keine soziale Beziehungs- und Bindungsfähigkeit aneignen (Travis Hirschi 1969b). — Die junge Frau k o m m t in K o n t a k t mit der prostitutiven S u b k u l t u r ; sie sucht diese V e r b i n d u n g auch selbst. Die devianten Verhaltenstechniken und Einstellungen w e r d e n in d e r prostitutiven Subkultur verstärkt (z. B. durch leicht und schnell verdientes Geld, d u r c h Zuspruch und E r m u t i g u n g von Seiten der Zuhälter, bereits e r f a h r e n e r Prostituierter und Bordellwirte). D a d u r c h lernt die junge Frau die Prostitution (Donald R. Cressey 1983). — Sie m a c h t sich mannigfaltige Neutralisationstechniken zueigen, d u r c h die sie ihr Verhalten vor sich selbst und vor anderen zu rechtfertigen vermag.

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I. Einleitung

Solche Neutralisationstechniken lernt sie in der devianten S u b k u l t u r : „Ich bedauere es nicht, mich gelegentlich zu prostituieren, weil ich Menschen damit helfe. Die M ä n n e r suchen bei mir F r e u n d s c h a f t und Zuneigung. Ich verhindere manche Vergewaltigung und manchen sexuellen Mißbrauch von Kind e r n " (Gresham M. Sykes, David Matza 1968). — Schon in seinem Elternhaus hat das M ä d c h e n öfters h ö r e n müssen: „Du wirst 'mal 'ne H u r e werden. Du landest 'mal auf dem Strich." N u n definiert die junge Frau ihr Verhalten, das sie unter dem Einfluß subkultureller N o r men und Verhaltensweisen bisher nur gelegentlich verwirklicht hat, selbst als sozialabweichend. A u f g r u n d der stark abwertenden sozialen Reaktion auf ihr Verhalten muß sie ihre soziale Rolle und ihren Lebensstil ändern. Sie organisiert ihr gesamtes Leben um ihre prostitutive Tätigkeit herum. Aus Primärdevianz ist S e k u n d ä r d e v i a n z g e w o r d e n ( E d w i n M. Lemert 1951, 1967, 1975). — Die Prostituierte wird nun immer mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie e n t f e r n t sich immer mehr aus ihr. Schließlich ändert sie ihre Identität und ihr Selbstbild. Sie schließt sich völlig d e r Prostitutions-Subkultur an (Howard S. Becker 1973, 1 7 - 3 5 ) . Die Karriere der Prostituierten ist durch Alter begrenzt. Die meisten Prostituierten geben nach drei o d e r vier J a h r e n auf. Die wenigen, die ihr Geld zusammenzuhalten vermochten, kaufen sich eine eigene Boutique o d e r einen Friseursalon. Die meisten heiraten. Auf viele wartet kein vielversprechendes Leben, da sie keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und sich mit schlechtbezahlten Berufen (z. B. T o i l e t t e n f r a u ) begnügen müssen. Die Mehrheit der Prostituierten leidet weder an N y m p h o m a n i e , an einem k r a n k h a f t gesteigerten Geschlechtstrieb, n o c h an Frigidität, an Geschlechtskälte. Die meisten Prostituierten sind auch keine Lesbierinnen, sondern e m p f i n d e n sexuell außerhalb ihres Gewerbes relativ normal (Dorothea Röhr 1972, 12C—124). Prostituierte haben gegen M ä n n e r keine u n ü b e r w i n d b a r e Abneigung und keinen H a ß (Gilbert Geis 1975, 333). Aus Abscheu vor ihrem G e werbe sind manche rauschgift- oder alkoholsüchtig, andere depressiv und selbstmordgefährdet. Die meisten drogensüchtigen F r a u e n , die sich gelegentlich prostituieren, entwickeln allerdings kein Selbstbild einer Prostituierten (Marsha Rosenbawn 1982). Zahlreiche Prostituierte w a r e n in ihrer Kindheit und Jugend V e r b r e c h e n s o p f e r . Sie sind von ihren Eltern o d e r anderen Erwachsenen körperlich mißhandelt o d e r sexuell mißbraucht worden Sie sind opferanfällige, opfergeneigte Personen, weil sie sich in viktimogene Situationen begeben, aus denen heraus häufig ein P r o z e ß des kriminellen O p f e r w e r dens in G a n g kommt. D u r c h Dramatisierung und mangelnde Sachlichkeit erschwert die Gesellschaft die Lösung des Problems. Ehemalige Prostituierte äußern die Meinung, die soziale Reaktion ( B r a n d m a r k u n g ) sei schlimmer als die Prostitution selbst (Claude Jaget 1980). In erster Linie wird die Prosti-

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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tuierte selbst sozial abgewertet und nur in stark abgeschwächter Form auch ihr K u n d e ( E d w i n M. Schur 1984, 164). Motive der K u n d e n sollen Neugier, Abenteuerlust, Interesse an Perversionen, W u n s c h nach Abwechslung sein. Günstige Gelegenheiten w ä h r e n d einer T a g u n g o d e r einer Reise werden ausgenutzt. W e g e n körperlicher Unansehnlichkeit o d e r fortgeschrittenen Alters wird die Prostituierte zum Ersatz f ü r eine normale heterosexuelle Partnerin (Charles Winick, Paul M. Kinsie 1971, 193 — 209). Prostituierte befriedigen nicht nur die sexuellen Bedürfnisse ihrer K u n d e n , s o n d e r n zuweilen auch deren W ü n s c h e nach mitmenschlicher N ä h e , Z u w e n d u n g und Selbstbestätigung (Richard Symanski 1981, 8 1 / 8 2 ) . Die Prostituierte v e r k a u f t nicht nur Sexualität, s o n d e r n manchmal ihre H e r a b w ü r d i g u n g als Frau und als Mensch ( K a t e Millctt 1976); sie verachtet ihrerseits mitunter ihre K u n d e n und ihren Z u h ä l ter. Es gibt heute keinen einheitlichen Zuhältertyp. M a n c h m a l sind die Z u h ä l ter Gewalttäter, manchmal M a n a g e r , manchmal schwache Parasiten (Travis Schroeder 1978). Hirschi 1969b; Reimer Dieckmann 1975; Friedrich-Christian Die heutige Prostituierte ist selbständiger und unabhängiger als f r ü h e r , mehr Arbeitgeberin, U n t e r n e h m e r i n , die Zuhälter beschäftigt. D a d u r c h , daß sie ihren Z u h ä l t e r mit m o d e r n e r Kleidung und mit dem neuesten S p o r t w a g e n ausstattet, sucht sie nach Prestige und Status (Ansehen) in der Prostitutions-Subkultur. Mit drei Reaktionsweisen versucht man che Prostitution strafrechtlich zu bekämpfen: — D e r Prohibitionismus kriminalisiert sie; er stellt sie u n t e r strafrechtliches Verbot. — D e r Regulationismus beschränkt die Prostitution auf Bordelle und auf „Rotlichtbezirke", in denen die Prostituierten ihrem G e w e r b e nachgehen k ö n n e n . Z u r B e k ä m p f u n g von Geschlechtskrankheiten sind sie registriert und zu regelmäßigen ärztlichen U n t e r s u c h u n g e n verpflichtet. — N a c h dem Abolitionismus ist z w a r die Prostitution unerwünscht und sollte beseitigt werden. Da man das indessen nicht erreichen kann, kriminalisiert man ihr gesamtes U m f e l d , um sie mittelbar zu t r e f f e n und ihre Ausbreitung zu verhindern. Die Entkriminalisierung der Prostitution wird als ein Zeichen der sexuellen Befreiung der Frau und der Akzeptierung ihrer Sexualität gewertet (Freda Adler 1975, 82/83). Prostitution soll zum Beruf wie jeder andere w e r d e n (Legalisierung). Man b e f ü r w o r t e t sogar eine G e w e r k s c h a f t der Prostituierten (David A. / . Richards 1983). Literaturhinweis: Hans Joachim Schneider. Prostitution Rudolf Sieverts, Hans Joachim Schneider (Hrsg.): H a n d w ö r t e r b u c h der Kriminologie. 2. Aufl., 5. Band. Berlin, N e w Y o r k 1983, 1 - 1 6 .

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I. Einleitung

— sein persönliches Ansehen. Klockars hat bemängelt, daß der Kriminologe, der eine solche empirische Forschung durchführt, kein Zeugnisverweigerungsrecht besitzt. Da die von ihm durchgeführte Untersuchung nicht verborgen blieb, hätte er von der Polizei jederzeit über die von ihm ermittelten Fakten vernommen werden können. Es wäre auch möglich gewesen, sein Forschungsmaterial zu beschlagnahmen (Marvin E. Wolfgang 1981b). Dieser unbefriedigende Schutz erschwert die kriminologische Forschung außerordentlich. Ein Bordell, ein Haus, in dem die Prostituierten ihrer Tätigkeit nachgehen, ist ein illegales Unternehmen, in dem ständig unsichere und unbeständige menschliche Begegnungen stattfinden. Es handelt sich um eine unkontrollierbare, unkooperative Umgebung, in der ein Bordellwirt oder eine Bordellwirtin unerwartete, unvorhersagbare Problemsituationen meistern muß. Die Lebensgeschichte einer Bordellwirtin, einer Kupplerin, die in ihrer Jugend als Prostituierte tätig gewesen war, hat Barbara Sherman Heyl (1979) erarbeitet, indem sie mit ihrer Probandin drei Jahre lang Interviews führte. Sie befragte ferner die Eltern, Freunde und den Arzt ihrer Probandin sowie Prostituierte aus dem Bordell, das ihre Probandin leitete. Sie ergänzte ihre Interviews mit der biographischen Methode, indem sie Briefe, private Dokumente und Gerichtsakten heranzog. Da es sich beim Bordell der Probandin um ein Haus handelte, das sich die Unterweisung junger Prostituierter zur Aufgabe gemacht hatte, konnte Sherman Heyl beobachten, wie die Bordellwirtin die jungen Anfängerinnen unterrichtete. Sie erlernten die grundlegenden Techniken und Regeln ihres „Berufs". Im Rollenspiel wurden sie mit Selbstverteidigung und damit vertraut gemacht, wie man Kunden behandelt. Sie wurden in die Wertvorstellungen der devianten Subkultur eingeführt und systematisch der konventionellen, konformen Gesellschaft verfremdet. Die Bordellwirtin hatte als Leiterin eines illegalen Unternehmens zunächst alle die Schwierigkeiten, die ein legaler Unternehmer auch hat: Finanzierung, Werbung, Nachwuchs. Darüber hinaus mußte sie mit mannigfaltigen Problemsituationen fertig werden, da es sich um einen illegalen Betrieb handelte: Die Prostituierten versuchten, sich ihrer Kontrolle zu entziehen und ihre Autorität herauszufordern. Sie litten unter seelischen Depressionen (Niedergeschlagenheit) und unter psychosomatischen (seelisch-körperlichen) Beschwerden. Die Zuhälter versuchten, ihre Anweisungen zu mißachten. Die Polizei bemühte sich, ihr strafbare Handlungen nachzuweisen. Die Kunden beschwerten sich und waren unzufrieden. In allen diesen Problemsituationen mußte die Bordellwirtin danach trachten, ihre Interpretation und Definition der Konfliktsituation durchzusetzen. Das erforderte ein hohes Maß an psychischer, devianter Energie.

Tat- und Täteruntersuchungen Die Erarbeitung der kriminellen Karriere eines Rechtsbrechers hat den Vorteil, daß sie auf persönliche Eigenschaften und Eigenarten eingehen kann, die sich der objektiven Meßbarkeit entziehen (qualitative Studie). Sie hat den Nachteil,

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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daß die Forschungsergebnisse, die man erzielt, nur in beschränktem Maße verallgemeinerungsfähig sind. D e n n man kann einen Straftäter, z. B. einen H e h l e r , untersucht haben, der f ü r die entsprechende G a t t u n g der Rechtsbrecher, z. B. alle H e h l e r , untypisch ist. Deshalb versucht man, möglichst viele Straftäter, z. B. alle jugendlichen Raubtäter in N o r d r h e i n - W e s t f a l e n , zu untersuchen, die gefundenen Merkmale meß- und zählbar zu machen, sie statistisch auszuwerten und sie mit Faktoren zu vergleichen, die man bei Nichtkriminellen, z. B. bei nichtdelinquenten Jugendlichen in N o r d r h e i n - W e s t f a l e n , ermittelt hat (quantitative U n tersuchung). D a man häufig wegen der hohen Zahlen nicht alle in Frage k o m menden Personen (Grundgesamtheit, Population) untersuchen kann, trifft man eine Auswahl, die repräsentativ sein muß, damit man f ü r die Population gültige Schlüsse aus den erzielten Ergebnissen ziehen kann. Eine Auswahl, eine Stichprobe, ein Sample ist dann repräsentativ (stellvertretend), w e n n jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Chance besitzt, im ausgewählten Querschnitt zu erscheinen. Die Repräsentativität der Auswahl wird durch ein Zufallsverfahren (Lotterie-, Karteiauswahl, Herausgreifen jedes n-ten Falles) oder durch eine systematische Organisierung der Stichprobe erreicht, so daß sie nach einem oder mehreren Kontrollmerkmalen eine bestimmte Zusammensetzung entsprechend der bekannten Verteilung dieser Merkmale in der Population aufweist. Die ausgewählte Teilmasse muß also ein verkleinertes Abbild der gemeinten Gesamtheit darstellen. Willkürliche Auswahlen, Stichproben aufs Geratewohl, z. B. Ansprechen aller Menschen, die zu einer bestimmten Tageszeit an einer beliebigen Straßenecke vorbeikommen, sind nicht repräsentativ (Scheuch 1962b). D u r c h Ausfälle, d. h. durch die Unmöglichkeit, ursprünglich ausgewählte Personen wirklich untersuchen zu können (z. B. Verweigerer, Nichterreichbare), wird die Repräsentativität negativ beeinflußt. Wie die folgenden Beispiele zeigen, sind viele kriminologische Untersuchungen nicht repräsentativ. Die Erscheinungsformen der Tötungsdelikte hat Marvin E. Wolfgang (1958) in Philadelphia überprüft. Er hat die Akten der Mordkommission der Polizei in 588 Fällen mit 621 T ä t e r n herangezogen. Die T ö t u n g e n w a r e n in einem Zeitraum von fünf Jahren, zwischen dem 01.01.1948 und dem 31.12.1952, begangen worden. Wolfgang stellte fest, daß in 65 % seiner Fälle enge T ä t e r - O p f e r - B e z i e hungen vor der T a t bestanden hatten: enge Freundschaft, Familienzugehörigkeit, Liebschaft oder homosexuelle Partnerschaft. Verhältnismäßig enge Freundschaft (28 % ) und Familienzugehörigkeit oder V e r w a n d t s c h a f t (25 % ) bildeten die beiden häufigsten Beziehungen. V o n 588 Fällen waren 150 (oder 20 % ) durch das O p f e r hervorgerufen. Es ist — nach Wolfgang — o f t eine zum G e t ö tetwerden neigende Person, d. h. jemand, der ständig in Situationen gebracht wird oder sich selbst in Situationen bringt, die gewaltsame körperliche Angriffe fördern. In vielen Fällen hat es dieselben Kennzeichen wie der Täter. In einigen Fällen kommen zwei potentielle T ä t e r in einer Tötungssituation zusammen, und es ist wahrscheinlich nur dem Zufall überlassen, wer T ä t e r und wer O p f e r wird. Die Forschungsdaten, die Wolfgang aus den Polizeiakten entnahm, konnten sich

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I. Einleitung

im wesentlichen nur auf beschreibende äußere P h ä n o m e n e des Tathergangs, nicht aber auf die Ursachen der Tötungsdelikte beziehen. Denn Polizeiakten werden nicht f ü r wissenschaftliche Zwecke angelegt, und Polizeibeamte sind keine kriminologischen Forscher. Gleichwohl sind die von Wolfgang g e f u n d e n e n Ergebnisse anscheinend f ü r Tötungsdelikte repräsentativ, weil zwei weitere Forschungsarbeiten über kriminelle T ö t u n g e n in H o u s t o n und C h i k a g o zu ähnlichen Resultaten gekommen sind (Alex D. Pokorny 1965; Hartwin L. Voss, John R. Hepburn 1968). A u f g r u n d von Schul- und Polizeiakten untersuchten Wolfgang (1973), Robert M. Figlio und Thorsten Sellin (1972) eine K o h o r t e von 9 945 Jungen, die 1945 in Philadelphia geboren waren und die von ihrem zehnten bis achtzehnten Lebensjahr dort gelebt hatten. Eine Kohortenanalyse ist eine U n t e r s u c h u n g einer Jahrgangsgruppe, bei der Entwicklungen und V e r ä n d e r u n g e n der G r u p p e in einem bestimmten Zeitablauf herausgearbeitet werden. 35 % der untersuchten Kohorte wurden delinquent; 3 475 Jungen verübten 10 214 Straftaten (ohne Straßenverkehrsdelikte), die zu mindestens einem Polizeikontakt in jedem Fall geführt hatten. Wolfgang, Figlio und Sellin ermittelten, daß die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls mit jeder begangenen Straftat wächst (delinquente Karriere) und daß die 627 chronischen Rückfalltäter, die mehr als jeweils fünf Rechtsbrüche vor ihrem 18. Lebensjahr verübt hatten, 6 % der Kohorte und 18 % der delinquenten U n t e r g r u p p e ausmachten. Diese 627 Rezidivisten waren f ü r 52 % der von den untersuchten Jungen begangenen Straftaten und f ü r zwei Drittel der verübten Gewalttaten verantwortlich. Bei dieser Untersuchung handelte es sich um eine retrospektive, rückschauende Studie, die die Rückfälligkeit einer G r u p p e von Delinquenten im nachhinein beurteilt, die der Polizei bereits bekannt sind und deren Straffälligkeit schon in Polizeiakten festgehalten ist. Prospektive, vorausschauende Untersuchungen erheben Fakten, die sich noch in der Entwicklung befinden. N a c h einer solchen prospektiven Versuchsanordnung hätte man die K o h o r t e der 9 945 Jungen von ihrem 10. Lebensjahr an begleitend untersucht und jeweils selbst registriert, w e r von ihnen delinquent geworden wäre. Als forensischer Psychiater hat Reinhart Lempp (1977) achtzig wegen eines Tötungsdeliktes angeklagte Jugendliche und H e r a n w a c h s e n d e in den Jahren 1954 und 1975 vor Jugendgerichten begutachtet. Er hat stundenlange Gespräche mit den T ä t e r n geführt. Die angewandten psychodiagnostischen Tests gaben Auskunft über die Testzeitpersönlichkeit, aus der auf die Tatzeitpersönlichkeit geschlossen werden mußte. Den psychischen Verlauf (Persönlichkeit als Prozeß) und die Interaktion zwischen T ä t e r und O p f e r , die der T a t vorausging, hat Lempp nicht ermitteln können. Seine G u t a c h t e n a u f t r ä g e bezogen sich auf Probleme der Jugendgerichtspraxis, auf Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) und Verantwortungsreife (§§ 3, 105 J G G ) der jugendlichen und heranwachsenden Angeklagten. Die von ihm erstatteten Gutachten hat Lempp kriminologisch ausgewertet. Das ist zwar wertvoll; denn er hat die T ä t e r aus der N ä h e gesehen. Man muß aber die Grenzen seiner Untersuchung erkennen: Er konzentriert sich auf

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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die als schwer e m p f u n d e n e Delinquenz (Tötungsdelikte), die selten vorkommt. Gerade zur Delinquenz, die sich häufig ereignet, zu Einbruch, Diebstahl und Betrug, braucht der Jugendrichter indessen jugendkriminologische Erkenntnisse, da in diesen Fällen die jugendpsychiatrische, -psychologische und -kriminologische Begutachtung selten ist. An der Repräsentativität der Studie von Lempp können ferner Zweifel bestehen. Bei der Zuweisung, Annahme o d e r Ablehnung von Begutachtungsaufträgen können Auswahlfaktoren wirksam geworden sein. D e n n die A n o r d n u n g einer jugendpsychiatrischen Begutachtung, also die Beantw o r t u n g der Frage, wer in welchen Fällen Gutachter sein soll, liegt im schwer kontrollierbaren Ermessen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts. Gleichwohl sind die jahrzehntelangen Erfahrungen eines jugendpsychiatrischen Gerichtsgutachters von unschätzbarem W e r t : Das Klischee, die abgegriffene R e d e w e n d u n g vom mörderischen Menschen, vom Mördertyp, vom kalt berechnenden, planenden M ö r d e r , das in der Vorstellung der Bevölkerung wegen entsprechender Massenmediendarstellungen so weit verbreitet ist, fand Lempp in der Wirklichkeit nur äußerst selten bestätigt. 78 von 80 T ä t e r n entsprachen nicht diesem Klischee. Den Typ des jugendlichen Mörders gibt es nicht. Jugendliche M ö r d e r sind Jugendliche wie viele andere auch. Die zwei T ä t e r , die den landläufigen Vorstellungen des „Mörders" n a h e k o m m e n , waren auch gleichzeitig die psychisch am stärksten gestörten Persönlichkeiten. Die meisten T ö t u n g s h a n d lungen sind „Unglücksfälle im zwischenmenschlichen K o n t a k t " ( L e m p p 1977, 215). D e r Handlungsablauf ist nicht geplant, sondern die Handlungsglieder sind unlogisch aneinandergereiht. T ö t u n g s h a n d l u n g e n sind ungesteuerte Reaktionen, die aus überschießender Angstabwehr entstehen. Die Fähigkeiten zur Selbststeuerung werden infolge einer ungenügenden Sozialisation, einer unzureichenden Erziehung mangelhaft erlernt. Die T ä t e r begeben sich nicht, sie geraten vielmehr in Situationen, die sie nicht mehr übersehen, denen sie vor allem emotional infolge ihrer sozialen Unreife und ihrer affektiven Instabilität nicht gewachsen sind. U n g e h e m m t e Aggression ist in unserer Gesellschaft keineswegs so verboten, und ihre U n t e r d r ü c k u n g und Beherrschung wird in unserer Erziehung auch nicht so gelehrt, wie es notwendig wäre. In ungezählten Filmen und bildlichen Darstellungen wird sie zur Identifikation angeboten. Aggressivität zwischen Familienmitgliedern ist immer noch ein Mittel der sozialen Auseinandersetzung. Die möglichen W i r k u n g e n aggressiven Verhaltens (Schwere der Verletzungen) werden infolge der Mediendarstellung der Gewalt in der Bevölkerung unterschätzt. Die meisten jugendlichen oder heranwachsenden M ö r d e r hatten ein gespanntes Verhältnis zu einem Elternteil oder zu beiden Eltern und Schwierigkeiten in Schule und Beruf. In der Bevölkerung ist das Meinungsstereotyp weit verbreitet, daß Geisteskranke unberechenbar und gefährlich sind. N a c h diesem Stereotyp begehen sie schwerste Gewalttaten plötzlich, unmotiviert und gleichsam „aus heiterem H i m mel". Die Schilderung besonders merkwürdiger und erschreckender Gewalttaten geistesgestörter T ä t e r in der Literatur und in den Massenmedien hat wahrschein-

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I. Einleitung

lieh maßgeblich zu diesem Vorurteil beigetragen, das zur Folge hat, daß man Geisteskranken aus dem W e g geht und sie auf diese Weise sozial isoliert. Diese soziale Isolierung hat wiederum einen ungünstigen Einfluß auf die Behandlungsund Wiedereingliederungschancen vieler psychisch Kranker. Eine Totalerhebung aller Geisteskranker, die in der Bundesrepublik Deutschland zwischen dem 01.01.1955 und dem 31.12.1964 eine Gewalttat (z. B. ein Tötungsdelikt) begingen, haben Wolfgang Böker und Heinz Häfner (1973) durchgeführt. Sie ermittelten 533 geisteskranke und schwachsinnige Gewalttäter und werteten die Ermittlungs- und Gerichtsakten, insbesondere die psychiatrischen Gutachten, und die Krankenblätter der psychiatrischen Landeskrankenhäuser aus. Eigene psychiatrische Untersuchungen waren fünf bis sechs, mitunter zwölf Jahre nach der Tat schwer durchführbar, jedenfalls wahrscheinlich nicht mehr sehr ergiebig. Aufgrund ihrer retrospektiven Untersuchung kamen Böker und Häfner u. a. zu folgenden drei Ergebnissen: — Die 533 ermittelten Geistesgestörten stellten in der Zehnjahresperiode etwa 3 % der Gesamtzahl der Gewalttäter. Geistesgestörte insgesamt begehen also nicht häufiger, aber auch nicht wesentlich seltener eine Gewalttat als Geistesgesunde. — Die Opfer geistesgestörter Täter entstammten häufig dem Kreis ihrer engsten menschlichen Beziehungen. Etwa 60 % der Opfer gehörten der Familie des T ä ters an — Ehepartner, Eltern, Geschwister — oder waren in einer intimen Beziehung mit ihnen verbunden. N u r etwa 9 % waren fremde, dem Täter unbekannte Personen, während etwa 7 % ihm in irgendeiner Autoritätsrolle (Arzte, Richter, Polizeibeamte) begegnet waren. Die übrigen etwa 23 % der Opfer waren mit dem Täter befreundet oder bekannt. Aus diesem Resultat kann man schließen, daß enge menschliche Beziehungen für die Tatmotive Geistesgestörter — wie für die Geistesgesunder — bei den Gewaltdelikten eine wichtige Rolle spielen. — Der spätere geisteskranke Täter gibt nicht selten Hinweise in Gestalt von Drohungen und Andeutungen, wen er angreifen könnte. Er wendet sich häufig mit Drohgebärden unmittelbar gegen die gefährdete Person. Menschen seines sozialen Nahraums können also Vorzeichen drohender Gewalttätigkeit und der Gefährdung bestimmter Personen im engsten Beziehungskreis des Täters durchaus vor der Tat wahrnehmen. Die stärksten Gefühlsbeziehungen sind zugleich die intimsten und spannungsreichsten Beziehungen des psychisch Kranken. Aus diesen drei Forschungsergebnissen folgt, daß das Meinungsstereotyp der Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit Geisteskranker falsch ist. Geisteskranke Gewalttäter verhalten sich grundsätzlich ähnlich wie geistesgesunde Gewalttäter. Böker und Häfner werteten empirische Daten aus, die andere Psychiater erhoben hatten. Sie führten also eine retrospektive, rückschauende Untersuchung durch, die den Nachteil hat, daß der Forscher keinen Einfluß auf die Auswahl empirischer Daten besitzt, die erhoben werden sollen. Einen solchen Einfluß hat er

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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zwar bei prospektiven, vorausschauenden Untersuchungen. Solche Forschungen sind aber sehr kostspielig und zeitaufwendig, da die Entwicklung der Fakten abgewartet werden muß. Die zwischenmenschliche Gewaltanwendung hat Hans H. Toch (1969) analysiert. Strafgefangene interviewten Strafgefangene, bedingt entlassene Strafgefangene andere bedingt entlassene und Polizeibeamte andere Polizeibeamte. Menschen wurden befragt, die an Gewalthandlungen beteiligt waren. Gleichgestellte, Laien als Forschungshelfer erkundigten sich aus folgenden Gründen bei Gleichgestellten: Die natürliche Sprache, der Umgangston sollte bewahrt bleiben. Durch Kleidung und Ausdrucksverhalten sollte die soziale Distanz vermindert werden. Durch ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Interviewer und Interviewtem sollte vermieden werden, daß sich der Befragte als Objekt der Forschung vorkam. Das Interview wurde zwar strukturiert; der Interviewer erhielt genaue Anweisungen. Er konnte diese Anweisungen aber flexibel anwenden. Es kam Toch darauf an, den Zusammenhang zu verstehen, in dem sich Gewalthandlungen ereigneten, und auf diese Weise die Bedeutung der Gewalthandlung für den Gewalttäter, seine Gefühle, Einstellungen, Motive und Wahrnehmungen zu ermitteln. Toch bezog auch die Gewaltanwendung durch und gegen Polizeibeamte in seine Untersuchung mit ein. In diesem Zusammenhang wurden Polizeiakten zusätzlich herangezogen. Es wurden 344 Gewalthandlungen insgesamt analysiert. Folgende Personen wurden interviewt: 32 Polizeibeamte, die gewaltsam angegriffen worden waren, 19 Männer, die Polizisten gegenüber tätlich geworden waren, 44 Strafgefangene und 33 bedingt entlassene Strafgefangene. Toch kam zu folgenden Ergebnissen: Der Gewalttäter hat ein übertriebenes Selbstwertstreben. Er will mit seiner Gewalthandlung sein Selbstbild verteidigen und sein Selbstwertgefühl stärken. Er glaubt, seine soziale Position und sein soziales Ansehen seien fragwürdig. Er ist nicht von seinem eigenen Wert überzeugt. Er ist äußerst empfindlich gegenüber einem Verhalten, das seine persönliche Unverletzlichkeit und seine Männlichkeit in Frage zu stellen geeignet ist. Die Niederlage seines Angreifers oder des von ihm Angegriffenen trägt dazu bei, den eigenen Status, das eigene Prestige zu erhalten oder zu festigen. Wenn der Gewalttäter Erfolg hat, so zeigt ihm dies, daß sich Gewalttätigkeit auszahlt. Mißerfolg macht ihm demgegenüber deutlich, daß er noch größere H ä r t e anwenden muß, um erfolgreich zu sein. Gewalt schafft Achtung, und Achtung ist für ihn das Maß persönlicher Wertschätzung. Obgleich diese grundlegenden Annahmen ihren Ursprung in subkulturellen Normen und frühkindlichen Erlebnissen haben, nehmen sie durch Verwirklichung, Lernen am Erfolg Gestalt an. Die Konfrontation ereignet sich zwischen zwei Symbolen, nicht zwischen zwei wirklichen Menschen. Das Verhalten und die Persönlichkeiten beider Gewaltanwender werden in der Interaktion zwischen beiden von beiden falsch interpretiert. Die Mehrheit der gewaltgeneigten Personen hat nicht gelernt, mit zwischenmenschlichen Konflikten friedlich und mit Worten umzugehen. Es fehlen ihnen verbale und soziale Fähigkeiten. Die Gewaltanwendung ist ein Ausdruck der

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I. E i n l e i t u n g

Hilflosigkeit. D a s V e r h a l t e n s r e p e r t o i r e der G e w a l t t ä t e r ist begrenzt. Ihre Aggression erhält f ü r sie die Bedeutung einer brüsken Z u s a m m e n f a s s u n g der A r g u mente, die sie nicht in W o r t e zu kleiden v e r m ö g e n . D e r I n t e r a k t i o n s p a r t n e r wird als O b j e k t z u r Befriedigung eigener Bedürfnisse m i ß b r a u c h t ; sein Leiden dient der eigenen Genugtuung. Das Motiv ist Angst, die man nicht zu fürchten braucht, w e n n man sie bei a n d e r e n erregt. Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungsdrang zeigen, d a ß die gewaltgeneigte Person in ihrer Kindheit u n g e n ü g e n d e gefühlsmäßige U n t e r s t ü t z u n g und Stabilität e r f a h r e n hat, so d a ß sie keine positive S e l b s t w a h r n e h m u n g entwickeln konnte. Die Persönlichkeit der gewaltanfälligen Person ist insofern sozial unreif. G e w a l t t ä t e r wachsen in einer S u b k u l t u r der Gewalt auf, die eigene gewaltfreundliche V e r h a l t e n s m u s t e r , Einstellungen und Wertvorstellungen besitzt, die v o n G e n e r a t i o n zu G e n e r a t i o n weitergegeben w e r d e n . Die S u b k u l t u r der G e walt verwirklicht sich hauptsächlich in der Unterschicht. In Unterschichtsfamilien hat die M u t t e r eine g r ö ß e r e Bedeutung als der V a t e r , der ein beruflicher V e r s a g e r ist. Die männliche Rolle kann nicht durch Identifikation mit dem V a t e r gelernt w e r d e n . Deshalb besitzt der G e w a l t t ä t e r ein übertriebenes Selbstwertstreben, das sich auf die eigene männliche Unsicherheit g r ü n d e t . Mitglieder der Subkultur der G e w a l t n e h m e n sich als aggressiv w a h r ; sie sehen Situationen f ü r G e w a l t a n w e n d u n g in ihrer U m w e l t ; sie spielen stereotype gewaltgeneigte „Spiele". Zerbrechliche Selbstbilder, m a n g e l n d e Selbstsicherheit und zwischenmenschliche U n r e i f e sind d u r c h die f e h l e r h a f t e Art und Weise entstanden, mit d e r E r z i e h u n g s p e r s o n e n das a u f w a c h s e n d e Kind in seinen persönlichkeitsbildenden Jahren emotional u n t e r s t ü t z t und sozial kontrolliert haben. D e r G e w a l t t ä t e r sieht andere als Symbole, I n s t r u m e n t e und nicht als Lebenspartner. W e n n man den h e r a n w a c h s e n d e n J u n g e n vernachlässigt und nicht liebt, wird der e r w a c h sene M a n n von Selbstzweifeln erfüllt und von seiner eigenen Unzulänglichkeit ü b e r z e u g t sein. D a s Kind hat kein Selbstvertrauen und keine Selbstlosigkeit gelernt. Es hat nicht e r f a ß t , wie man zwischenmenschliche K o n f l i k t e friedlich löst.

Opferstudie und Experiment Die kriminologische F o r s c h u n g hat sich in d e r V e r g a n g e n h e i t allzu stark auf die U n t e r s u c h u n g d e r T a t u m s t ä n d e und der Persönlichkeit des Rechtsbrechers beschränkt. D a das V e r b r e c h e n s o p f e r und die Gesellschaft an der E n t s t e h u n g der T a t — in unterschiedlicher Weise und in verschiedenem U m f a n g — mitwirken und da sie sich auch an der V e r b r e c h e n s v e r h ü t u n g und an der Behandlung des Rechtsbrechers beteiligen müssen, k ö n n e n sie bei d e r kriminologischen Forschung nicht ausgespart bleiben. D e r Einbruch ist z. B. ein weitverbreitetes D e likt. N a c h d e r Polizeilichen Kriminalstatistik f ü r die Bundesrepublik D e u t s c h land aus dem J a h r e 1985 m a c h t er 36,5 % der traditionellen Straftaten (ohne Straßenverkehrsdelikte) aus und steht d a m i t an 1. Stelle in d e r H ä u f i g k e i t dieser Straftaten. Sein D u n k e l f e l d , d e r v e r b o r g e n gebliebene, nicht entdeckte, nicht an-

Einige P r o b l e m e k r i m i n o l o g i s c h e r F o r s c h u n g

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gezeigte Einbruch, ist hoch. Nach einer in Göttingen durchgeführten Opferbefragung (Hans-Dieter Schwind 1975, 159) blieb etwa die Hälfte aller Einbrüche im Dunkelfeld. Von den der Polizei bekanntgewordenen Einbrüchen wurden im Jahre 1985 in der Bundesrepublik nur 18,1 % aufgeklärt. Es handelt sich also um ein häufig vorkommendes Delikt, dessen Bekämpfung freilich sehr im argen liegt. In Toronto/Kanada haben Irvin Waller und Norman Okihiro (1978) den Wohnungseinbruch erforscht. Da die Täter häufig nicht gefaßt und nicht überführt werden, haben Waller \iná Okihiro im Frühjahr 1974 1 655 Mitglieder von Haushalten in der Stadt Toronto danach gefragt, ob sie im Zeitraum von 15 Monaten vor dem Interview, vom 01.01.1973 bis zum 31.03.1974 Opfer eines Einbruchs geworden waren. Sie haben freilich auch mit Einbruchsspezialisten der Polizei gesprochen und verurteilte Einbrecher befragt, um herauszubekommen, in welcher Weise sie ihre Einbruchsobjekte auswählen und warum sie einbrechen. Sie haben fünftausend polizeiliche Einbruchsakten durchgesehen. 116 Einbruchsopfer und 309 Nicht-Einbruchsopfer wurden zum Zwecke des Vergleichs intensiv interviewt. Waller und Okihiro erzielten folgende Ergebnisse: Menschen sehen ihre Wohnung als ihr eigenes Gebiet an. Sie fühlen sich durch Verwüstungen und Zerstörungen in ihrer Wohnung nach einem Einbruch mehr bedroht als durch den wirtschaftlichen Verlust, der durch einen Einbruch entsteht und der durchschnittlich weniger als 250 kanadische Dollar betrug. Von 116 Einbrüchen wurde nur in 15 Fällen die Wohnung stark verwüstet und zerstört. Waller und Okihiro schließen daraus, daß Einbruch grundsätzlich ein friedliches Delikt ist. Nur junge Amateureinbrecher richten absichtliche Zerstörungen und Verwüstungen an, wenn sie darüber enttäuscht sind, daß sie nichts Wertvolles gefunden haben. Berufseinbrecher suchen nach Bargeld und entwenden wegen der leichten Absetzbarkeit hauptsächlich wertvolle Schmuckstücke und elektrische Apparate. Sie versuchen, Begegnungen mit ihren Opfern und Gewalt zu vermeiden. Vor ihrem Einbruch pflegen sie sich zu vergewissern, ob die Wohnung bewohnt ist. Gleichwohl waren 44 % der von Waller und Okihiro befragten Einbruchsopfer anwesend, als sich die Straftat ereignete. 21 % trafen sogar mit ihren Tätern zusammen, die allerdings nur selten Gewalt anwendeten. Ein Viertel der Einbrecher trug während ihrer Tat eine Waffe, ein Messer oder eine Pistole, bei sich. Zwei Drittel der Einbruchsopfer waren mit der Arbeit der Polizei zufrieden. Die Unzufriedenen gaben meist als Grund ihres Mißfallens an, die Polizei habe sie über Erfolg oder Mißerfolg ihrer Bemühungen nicht unterrichtet, so daß sie den Eindruck gehabt hätten, die Polizei habe überhaupt nichts getan. Die Attraktivität der Gelegenheit ist für die Verursachung des Einbruchs wichtiger als die Faktoren, die sich auf den Täter beziehen. In Häuser, die für den Nachbarn überschaubar sind, wird weniger eingebrochen als in unüberblickbare Gebäude. Darüber hinaus ist wichtig, ob die Nachbarn ein „Gefühl gegenseitiger Eigentümerschaft" (Waller, Okihiro 1978, 56) entwickeln. Sozialer Zusammenhalt zwischen den Nachbarn, ein Sinn für „gemeinsames" Eigentum,

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I. Einleitung

ermöglicht es, verdächtige Fremde zu erkennen, die sich in dem Gebiet zu schaffen machen, in dem die einbruchsgefährdeten Wohnungen liegen. Die Bewohner müssen sich um ihre Wohnungen kümmern; sie müssen sie pflegen; sie müssen ihre Besitzergreifung und ihre Inhaberschaft deutlich machen. Das Leerstehen von Wohnungen und die Abwesenheit der Bewohner sind wesentliche Faktoren für die Verursachung des Einbruchs. Darüber hinaus tragen Sorglosigkeit und Nachlässigkeit des potentiellen Einbruchsopfers zur Entstehung des Einbruchs bei. Das Anbringen von Alarmanlagen, Spezialschlössern, Spezialbeleuchtungen und Gittern an Fenstern und Türen hat nur eine geringe Bedeutung für die Einbruchsverhütung. Die Berufseinbrecher orientieren sich an dem wohlhabenden Aussehen eines möglichen Einbruchsobjektes. 60 % der Einbruchsopfer verglichen mit 36 °/o der Nichteinbruchsopfer kamen in der Stichprobe von Waller und Okihiro aus Haushalten mit einem Einkommen von über 15 000 kanadischen Dollar im Jahr. Neben den Berufseinbrechern gibt es allerdings auch Einbruchsamateure, die nur ein- oder zweimal in ihrem Leben aus Sensationslust einbrechen. Die Effektivität der Polizei bei der Aufklärung des Einbruchsdiebstahls wird von der Bevölkerung überschätzt. 65 % der von Waller und Okihiro untersuchten Einbrüche waren der Polizei bekannt. Einbruchskriminalität ist vorwiegend Gelegenheitskriminalität. Mit der Beseitigung der Gelegenheit durch Verbesserung der Uberschaubarkeit und der Anwesenheit von Personen in der einbruchsgefährdeten Wohnung werden Einbrüche nicht nur auf andere Wohnungen verlagert, sondern zahlreiche Einbruchsdiebstähle auch verhindert. Denn viele Einbrecher suchen nicht nach verschiedenen Möglichkeiten, sondern sie nutzen nur sich ihnen bietende günstige Gelegenheiten aus (Waller; Okihiro 1978, 103). Um dem Einbruch vorzubeugen, hat man sich bisher zu sehr damit begnügt, die Tatumstände aus den Polizei- und Gerichtsakten zu entnehmen und die T ä termerkmale durch Interviews mit ehemaligen Strafgefangenen festzustellen (Pedro R. David 1974, 1975). Man geht nun zunehmend dazu über, Informationen von ehemaligen Einbrechern darüber zu bekommen, welche Objekte sie für ihre Einbrüche ausgewählt haben und aus welchen Gründen sie ihre Auswahl getroffen haben. Als dritte Informationsquelle befragt man eine repräsentative Stichprobe von Wohnungsinhabern, ob sie innerhalb einer bestimmten Zeit Einbruchsopfer geworden sind. Man stellt die Opfermerkmale fest und vergleicht sie mit den Angaben der ehemaligen Einbrecher. Man fragt ferner potentielle Verbrechensopfer nach ihrer Furcht vor Einbrechern und nach ihrer Meinung über die Wirksamkeit der formellen Sozialkontrolle, der Polizei, der Gerichte, des Strafvollzugs, bei der Bekämpfung des Einbruchs. Das Unsicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit kann mit seinen Konsequenzen für das Leben der Menschen, besonders der Alten und der Frauen, ebenso schwerwiegend sein wie der Einbruch selbst. Opferhaltung, z. B. Leichtsinn, Gleichgültigkeit, „Opfererwartung", und übertriebene Furcht vor dem Einbruch können zur Tatbegehung beitragen. Schließlich macht man Vorbeugungsexperimente; man entwirft Verhü-

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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tungsprogramme, probiert sie praktisch aus und beobachtet ihren Erfolg oder Mißerfolg. Bei der Operation „Kennzeichnung" markieren die Bewohner alle Gegenstände in ihrer Wohnung, um deren Weiterverkauf nach einem eventuellen Einbruch zu erschweren. Bei dem traditionellen Ansatz der „Verbarrikadierung" rät man den Bewohnern, ihre Häuser durch Alarmanlagen, Spezialschlösser und Gitter an Fenstern und Türen zu sichern. Bei der „Wohnblocküberwachung" ermutigt man Nachbarn zur Zusammenarbeit bei der Erkennung fremder, verdächtiger Personen, die sich einer Wohnung im Wohnviertel nähern. Bei diesem Verhütungsprogramm müssen die Nachbarn allerdings selbst anwesend sein und zum Einschreiten im Interesse ihrer Mitbürger motiviert werden. Bei dem Experiment „Bewohnervertretung" gibt man Wohnungen, deren Inhaber zeitweise abwesend sind, den Anschein der Anwesenheit ihrer Bewohner, z. B. durch das Anbringen von Lichtschaltern, die sich automatisch nach einer gewissen Zeit ein- und wieder ausschalten. In Seattle/USA hat man diese vier Verhütungsprogramme verwirklicht und ihre Wirksamkeit gemessen (Irvin Waller 1982; Betsy D. Lindsay 1982). Die Wohnblocküberwachung ist ein wirkungsvolles Programm zur Bekämpfung von Einbrüchen in Einfamilienhäuser, die bei Tageslicht verübt werden. Sowohl bei Häusern als auch bei Etagenwohnungen erwies sich die Anwesenheit oder der Anschein der Gegenwart von Menschen als bedeutender Faktor zur Verringerung der Einbruchsgefährdung. Wohnungen sind in geringerem Maße einbruchsgefährdet, wenn durch „Bewohnervertretung" der Anschein der Anwesenheit der Wohnungsinhaber erweckt wird. Die Operation „Kennzeichnung" und der traditionelle Ansatz der „Verbarrikadierung" waren in Seattle/USA nicht erfolgreich.

Vergleichende Methode Empirisch-kriminologische Untersuchungen sind kostspielig und zeitaufwendig. Viele hochqualifizierte Spezialisten müssen jahrelang tätig sein, um Forschungsergebnisse zu erarbeiten, die — im Grunde genommen — nur für den Raum und für die Zeit gültig sind, in denen sie erhoben worden sind, und die wegen des schnellen sozialen Wandels bereits zu dem Zeitpunkt überholt sein können, in dem sie erzielt worden sind. Deshalb wendeten die Kriminologen von Anbeginn der Kriminologie die vergleichende Methode an, die die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität betonen (z. B. Gabriel Tarde 1886). Auch in der Gegenwart läßt man kriminologische Forschungsergebnisse des Auslandes mit Vorsicht für die eigenen sozialen Verhältnisse gelten, sofern sie in Ländern gewonnen worden sind, die in ihrer Sozialstruktur dem eigenen Land ähneln. Das gilt im Hinblick auf die Bundesrepublik für die westeuropäischen und für die nordamerikanischen Länder, die in ihren sozioökonomischen Strukturen miteinander verwandt sind (Hans Joachim Schneider 1979 b). Bereits ein so guter Kenner deutscher wie angloamerikanischer sozialer Bedingungen wie Hermann Mannheim (1965, 1974), der in Deutschland wie in Großbritannien gelebt und ge-

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I. E i n l e i t u n g

f o r s c h t hat, griff in seiner Darstellung d e r Kriminologie in gleicher Weise auf deutsche wie angloamerikanische Forschungsergebnisse z u r ü c k . N a c h dem 2. W e l t k r i e g hat N o r d a m e r i k a w e g e n seiner politischen M a c h t und seiner W i r t s c h a f t s k r a f t einen g r o ß e n Einfluß auf die Gestaltung der Lebensbedingungen in W e s t e u r o p a ausgeübt (Amerikanisierung). D a s trifft in b e s o n d e r e r Weise f ü r ein Land wie die Bundesrepublik zu, die nach dem Z u s a m m e n b r u c h des D e u t s c h e n Reiches im J a h r e 1945 in politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht neu beginnen m u ß t e , obgleich sie auf viele gute deutsche T r a d i t i o n e n z u r ü c k g r e i f e n konnte. Die Kriminologie w a r 1945 in N o r d a m e r i k a weiter f o r t geschritten als in D e u t s c h l a n d , weil die deutschen Kriminologen d u r c h zwei verlorene W e l t k r i e g e und die nationalsozialistische Zeit (1933—1945) stark in ihrem wissenschaftlichen W e t t b e w e r b behindert w o r d e n w a r e n . Die n o r d a m e r i k a nischen Kriminologen hatten nicht n u r viel m e h r finanzielle Mittel und viel mehr hochqualifiziertes Forschungspersonal z u r V e r f ü g u n g (Leon Radzinowicz 1961, 114—166), die n o r d a m e r i k a n i s c h e Gesellschaft stand sozialen P r o b l e m e n auch viel aufgeschlossener g e g e n ü b e r als die deutsche, die ihr Land z u n ä c h s t einmal wieder a u f b a u e n mußte. W i e die n o r d a m e r i k a n i s c h e Kriminologie in ihrer G e schichte viel von der deutschen gelernt hatte, so m u ß t e n u n m e h r die deutsche Kriminologie von der n o r d a m e r i k a n i s c h e n lernen. D a s fiel ihr deshalb so leicht, weil die Kriminologie — nicht zuletzt w e g e n der e n o r m e n V e r b e s s e r u n g der internationalen V e r k e h r s v e r b i n d u n g e n — noch viel w e i t g e h e n d e r als f r ü h e r zu einer internationalen Wissenschaft g e w o r d e n war. W e n n m a n den U m f a n g , die E r s c h e i n u n g s f o r m e n und die Entwicklung d e r Kriminalität und der Sozialabweic h u n g in der Bundesrepublik beurteilen will, m u ß man sie in einen internationalen Z u s a m m e n h a n g stellen. Sonst besitzt m a n keinen Maßstab. W e n n m a n Erscheinungen wie die politische und die Wirtschaftskriminalität und das o r g a n i sierte V e r b r e c h e n darstellen will, so k a n n man das w e g e n der internationalen politischen und wirtschaftlichen V e r f l e c h t u n g nicht t u n , o h n e ausländische kriminologische Erkenntnisse maßgeblich zu berücksichtigen. Eine g r u n d l e g e n d e M e t h o d e der empirischen Wissenschaften ist die W i e d e r holung. Forschungsergebnisse w e r d e n in ihrer zeitlichen und räumlichen Allgemeingültigkeit erst einigermaßen sicher, w e n n man sie u n t e r unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Bedingungen wiederholt hat. Freilich sind solchen W i e d e r h o l u n g e n enge finanzielle und personelle G r e n z e n gesetzt. M a n m u ß die finanziellen und personellen Mittel, die m a n z u r V e r f ü g u n g hat, möglichst rationell und forschungsstrategisch wirksam einsetzen. Deshalb empfiehlt es sich, jede empirisch-kriminologische Forschungsarbeit d a d u r c h gut vorzubereiten, daß man alle bisher v o r h a n d e n e n theoretischen und empirischen Studien auf internationaler G r u n d l a g e auswertet. Stützt man sich in der Bundesrepublik Deutschland n u r auf die kriminologische Literatur, die in d e r Bundesrepublik erschienen ist, so läßt man wesentliche Gesichtspunkte außer acht. D a r ü b e r hinaus ist es beispielsweise nicht n u r nützlich f ü r ein Entwicklungsland, w e n n deutsche Kriminologen d o r t empirische F o r s c h u n g e n d u r c h f ü h r e n . Es zahlt sich auch

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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ganz wesentlich für den Fortschritt deutscher kriminologischer Forschung aus, wenn die in dem Entwicklungsland erzielten Forschungsergebnisse mit den Fakten verglichen werden, die in der Bundesrepublik erhoben worden sind. Freilich müssen die unterschiedlichen demographischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse berücksichtigt werden. Bei diesen übernationalen Studien muß ferner darauf geachtet werden, daß dieselben Begriffe und Methoden angewandt werden und daß auf die Empfindlichkeit Rücksicht genommen wird, die dadurch entstehen kann, daß ausländische Forscher zu so emotional besetzten T h e m e n wie Kriminalität und Sozialabweichung Daten sammeln ( D e -

nis Szabo 1981; Sheldon Glueck 1964; Paul C. Friday 1973). Freilich müssen nicht

nur empirische Forschungen an einzelnen Straftätern, an delinquenten oder kriminellen Gruppen und an Verbrechensopfern und potentiellen Verbrechensopfern wiederholt werden. Zeitlich und räumlich verschiedene soziale Systeme müssen auch in ihrer unterschiedlichen kriminellen Belastung und in den Ursachen dieser Verschiedenheit miteinander verglichen werden ( N i l s Christie 1970; Franco Ferracuti 1980). Die vergleichende Methode ist insofern in der Kriminologie keine am Rande liegende, sondern eine zentrale Methode, da Kriminalität und Sozialabweichung vor allem sozialpathologische Erscheinungen sind. Die vergleichende Kriminologie ist kein untergeordnetes Spezialgebiet der Kriminologie, sondern Kriminologie muß stets vergleichend vorgehen ( L e s l i e Sebba 1979). Die Untersuchung der Tötungsdelikte anhand der Akten der Mordkommission der Polizei in Philadelphia, die Wolfgang ( 1 9 5 8 ) durchgeführt hatte, wurde von Walter D. Connor (1973) anhand der Angaben in der sowjetrussischen kriminologischen Literatur überprüft, die für Tötungsdelikte in fünf Großstädten der U d S S R herausgearbeitet worden waren. Connor kam zu dem Ergebnis, daß sich Tötungsdelikte auch in sowjetrussischen Großstädten hauptsächlich unter Verwandten, guten Bekannten und Nachbarn ereignen. D a ß Tötungsdelikte Straftaten sind, die im wesentlichen auf Konflikten in menschlichen Beziehungen beruhen, ist daher eine Erkenntnis, die sich international zu bestätigen scheint.

In Boston/Massachusetts haben Sheldon und Eleanor

Glueck (1950) 500 ju-

gendliche Rückfalltäter mit 500 nichtdelinquenten Jungen verglichen und T ä t e r merkmale der delinquenten Experimentalgruppe herausgearbeitet. Diese For-

schungsarbeit haben Franco Ferracuti, Simon Dinitz und Esperanza Acosta de Brenes ( 1 9 7 5 ) in Slumgebieten, Elendsvierteln in San Juan auf der karibischen Antilleninsel Puerto R i c o wiederholt, die etwa 2,7 Millionen Einwohner hat und deren Hauptstadt San J u a n mit 750 000 Einwohnern ist. Sie haben 101 delinquente und 101 nichtdelinquente Jungen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren sieben J a h r e lang (von 1966 bis 1972) beobachtet. Die demographische Zusammensetzung der delinquenten und der nichtdelinquenten Gruppe war gleich. Die 101 delinquenten Jungen waren vom Jugendgericht in San Juan verurteilt worden. Ferracuti, Dinitz und Acosta untersuchten die Jungen körperlich, neurolo-

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I. Einleitung

gisch, psychiatrisch und psychologisch (mit psychodiagnostischen Testverfahren). Sie maßen mit dem Elektroenzephalogramm ihre bioelektrische Hirnrindentätigkeit und nahmen ihren sozialen Hintergrund auf. Sozialarbeiter interviewten die Familien der Jungen mindestens zweimal; Verwandte und Nachbarn wurden befragt. Man zog Schul-, Polizei- und Gerichtsakten und die Akten der Sozialhilfebehörde heran. Ferracuti, Dinitz und Acosta kamen zu folgenden Ergebnissen: Die Jungen unterschieden sich nicht körperlich, nicht neurologisch und nicht in ihrem Elektroenzephalogramm. Die Nichtdelinquenten besaßen eine bessere Gesundheit. Die Delinquenten hatten wesentlich mehr zwischenmenschliche und emotionale Probleme. Es konnte allerdings nicht geklärt werden, ob diese Schwierigkeiten die Ursache oder die Folge der Delinquenz waren oder ob diese Probleme und die Delinquenz eine gemeinsame Ursache hatten. Die Hauptunterschiede fanden sie in Übereinstimmung mit Sheldon und Eleanor Glueck in familiärer und schulischer Hinsicht. Die Familien der Nichtdelinquenten hielten besser zusammen und waren in jeder Hinsicht stabiler. Die nichtdelinquenten Jungen machten nicht nur größere Fortschritte in der Schule; sie hatten auch eine positivere Einstellung zur Schule. In den Familien der delinquenten Jungen besaß die Mutter eine beherrschende Rolle; es mangelte meist an einer bedeutsamen Vaterfigur, mit der sich der Junge hätte identifizieren können. Der Lebensstandard der Familien der delinquenten Jungen war niedrig; die Familienmitglieder besaßen mannigfaltige körperliche und geistige Gebrechen; die Familien hatten sich aus der Gesellschaft zurückgezogen und lebten sozial isoliert. Im Vergleich zur Forschungsarbeit der Gluecks (1950) fanden Ferracuti, Dinitz und Acosta nur zwei wesentliche Unterschiede: Die jugendlichen Delinquenten begingen auf der Insel Puerto Rico mehr Straftaten alleine. Sie verhielten sich weniger delinquent in Banden als die von den Gluecks in Boston untersuchten Jungen. Die Delinquenten auf Puerto Rico verübten demgegenüber mehr Gewalttaten, z. B. mehr Körperverletzungen. Es ist einigermaßen erstaunlich, daß Ferracuti, Dinitz und Acosta so wenig Unterschiede zu den Forschungsergebnissen der Gluecks ermittelten. Hierin wird deutlich, daß die Jugenddelinquenz durch eine Reihe psychischer und sozialer Faktoren verursacht wird, die weitgehend unabhängig von den Besonderheiten der jeweiligen Sozialstruktur sind. Man muß sich nämlich nicht nur vor Augen halten, daß sich die sozioökonomischen Bedingungen auf der karibischen Antilleninsel Puerto Rico wesentlich von denjenigen unterscheiden, die man in Boston/Massachusetts findet. Man muß sich auch klarmachen, daß Puerto Rico im Gegensatz zur Gesellschaft der USA keine Rassenkonflikte kennt und daß diese Insel in den letzten dreißig Jahren zu den Gebieten der Erde zählte, die sich am schnellsten entwickelt haben. Diese rasante Entwicklung hatte einen Zusammenbruch der traditionellen Institutionen, der sozialen Symbole, Werte und Lebensstile zur Folge, ohne daß ein neuer sozialer Zusammenhalt gleichzeitig hätte aufgebaut werden können. Der ökonomische Erfolg konnte auf sozialem Gebiet nicht wiederholt werden. In den Slums von Puerto Rico versagt die Familie bei

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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der Sozialisation, bei der Erziehung der Kinder. Ferracuti, Dinitz und Acosta ziehen aus diesem Umstand den Schluß, daß die Schule in der modernen Gesellschaft weitgehend Sozialisationsaufgaben der Persönlichkeitsbildung übernehmen muß. Der schlechte Schüler, der in seiner Familie keinen sozialen und psychischen Halt findet, darf nicht einfach aus der Schule ausgeschlossen werden. Die Hauptschlußfolgerung, die Ferracuti, Dinitz und Acosta aus ihrer empirischen Studie ziehen, gilt auch für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, die mehr für ihre Schule tun muß, um der Jugenddelinquenz vorzubeugen. Es geht nicht allein darum, die Schule besser finanziell und personell (kleinere Klassen, mehr Lehrer) auszustatten. Ganz wesentlich ist vielmehr auch, daß die Lehrer ihren Beruf nicht nur als „Job", als einträgliche Verdienstmöglichkeit mißverstehen dürfen. Lehrersein ist auch in der modernen Gesellschaft etwas Besonderes. Man braucht nicht nach dem pathetischen, salbungsvollen Wort der „Berufung" zu greifen. Sicherlich kann auch der Typ des Lehrers, der früher im Schulgärtchen Bienen züchtete und den Männerchor des Dorfes dirigierte, in den modernen großstädtischen Ballungsgebieten nicht aufrechterhalten werden. Es erscheint aber höchst fraglich, ob dieser Lehrertyp durch einen anderen ersetzt werden sollte, der mit dem Auto zu seinen Schulstunden „anreist", der seinen Schülern nur das im Lehrplan vorgesehene Wissen vermittelt und der die Eltern seiner Schüler nur aus Elternsprechtagen kennt. Die Schweiz und Schweden sind zwei neutrale Länder, die sich seit 150 Jahren aus jedem bewaffneten Konflikt herausgehalten haben, die hoch industrialisiert sind und die in Wohlstand leben. Beide haben in etwa die gleiche Bevölkerungszahl, einen hohen Lebensstandard, harte Währungen und viele Gastarbeiter. Schweden hat eine hohe Kriminalität, eine hohe Jugenddelinquenz und eine hohe Verbrechensfurcht. Insbesondere die Gewaltkriminalität ist in jüngster Zeit angestiegen. Die Schweiz hat demgegenüber eine niedrige traditionelle Kriminalität und Delinquenz, insbesondere wenig Gewaltdelikte, und eine niedrige Verbrechensfurcht. Kriminalität und Delinquenz weisen einen geringen Anstieg auf. Alkoholismus und Selbstmord sind allerdings weit verbreitet. Auch die Wirtschaftskriminalität ist erheblich. Es lag nahe, die Gesellschaften in der Schweiz und in Schweden miteinander zu vergleichen, um die Ursachen der traditionellen Massenkriminalität zu ermitteln. Der nordamerikanische Kriminologe Marsball B. Clinard (1978) hat acht Monate in der Schweiz zum Zwecke der Datensammlung gelebt. Er hat Parlamentsberichte, Kriminalitätsdarstellungen in Zeitungen, Akten zweier Versicherungsgesellschaften über Einbrüche und Autodiebstähle, Kriminalstatistiken und Jahresberichte der Regierung ausgewertet. Er hat eine Opferbefragung in 482 Haushalten mit 940 über 14 Jahre alten Personen in Zürich durchgeführt. Er hat schließlich 35 schweizerische Kriminalitätsspezialisten interviewt. Aufgrund seiner Datenerhebung nennt Clinard (1978) folgende Gründe für den niedrigen Stand der traditionellen Kriminalität und Delinquenz (z. B. Mord, Totschlag, Körperverletzung, Raub, Einbruch, Diebstahl, Autodiebstahl, Rauschgiftdelikte) in der Schweiz:

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I. E i n l e i t u n g

— D e r Verstädterungsprozeß ist langsam vor sich gegangen. D i e Industrie ist dezentralisiert aufgebaut worden. Es sind deshalb keine Industriestädte mit Slum-Gebieten und keine kriminellen Großstadtbezirke mit kriminellen N o r m e n und W e r t e n , mit Opposition gegenüber der Polizei und schlechten sanitären und Gesundheitsbedingungen entstanden. D i e schweizerische Bevölkerung ist bodenständig. Mehrere Generationen wohnen in demselben Gebiet. Deshalb kennen die Leute ihre Nachbarn und fühlen sich der Gemeinschaft zugehörig und verpflichtet. T r o t z der hohen Bevölkerungsdichte hat sich verhältnismäßig wenig Unpersönlichkeit und Anonymität in den Großstädten breit gemacht. — W e g e n der Mannigfaltigkeit der Kulturen, Sprachen und Religionen ist die Schweiz politisch dezentralisiert. Deshalb konnte der Sinn für Bürgerverantwortlichkeit aus den D ö r f e r n der Vergangenheit in die heutigen Großstädte hinübergerettet werden. Die Schweizer sind beherrscht von einem eingefleischten Glauben an gegenseitige Hilfe und an Solidarität. Sie fühlen sich als ihre eigenen Herren. Sie möchten nicht von einem unpersönlichen Staat beherrscht werden und abhängig sein. Sie sparen und fühlen sich für ihre Alterssicherung selbst verantwortlich. Sie beteiligen sich am Gemeinschaftsleben aktiv. Sie nehmen die Mißbilligung der Öffentlichkeit (die informelle Sanktion) ernster als polizeiliches Einschreiten. Das schweizerische Polizeisystem ist gleichfalls dezentralisiert. — Die staatlichen Reaktionen auf Kriminalität und Jugenddelinquenz sind angemessen und verhältnismäßig. Keine Uberreaktion ist zu beobachten. N u r eine geringe Zahl von Rechtsbrechern wird verhaftet. V o n Alternativen zur Freiheitsstrafe, z. B. von Strafaussetzung zur Bewährung, wird häufig G e b r a u c h gemacht. W e n n Freiheitsstrafen ausgesprochen werden, sind sie kurz und werden in kleinen Strafanstalten vollzogen, so daß sich keine Gefängnissubkultur und kein Berufsverbrechertum zu bilden vermögen. D e n n die Strafgefangenen k ö n nen keine kriminellen Fähigkeiten und neuen kriminellen T e c h n i k e n zusätzlich erwerben; sie können kein kriminelles Selbstbild entwickeln und ihre Straftaten nicht vor sich selbst und anderen rechtfertigen. — Die Verstädterung hat zu keinem Zusammenbruch informeller S o z i a l k o n trollen über die Jugend geführt. Vandalismus und Bandendelinquenz sind nur in geringem U m f a n g verbreitet. Jüngere Altersgruppen (unter 18 J a h r e n ) sind kaum mit Delinquenz belastet. D i e Jugend hat sich nicht von den Erwachsenen und nicht von ihren Familien entfremdet. Es entspricht den zivilisatorischen Leitbildern und dem Lebensstil der Schweizer, ihre zwischenmenschlichen Konflikte friedlich, im W e g e von Kompromissen zu lösen. Die verheirateten Frauen sind in der Schweiz von allen westlichen Industrienationen am wenigsten berufstätig. Dadurch können sie für ihre Kinder besser sorgen und sie besser beaufsichtigen. D i e Erziehung in der Schule erlaubt nicht alles, läßt nicht alles zu. D i e Lehrer haben eine hohe soziale Stellung und verhältnismäßig hohes Ansehen. D i e R o l lenstruktur ist formell. Die soziale Distanz zwischen Lehrer und Schüler bleibt

Einige P r o b l e m e kriminologischer Forschung

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aufrechterhalten. Kameraderie und kumpelhaftes Benehmen der Lehrer machen die Identifikation der Schüler mit ihren Lehrern nicht — wie in anderen Ländern — unmöglich. Die Schule stellt hohe Anforderungen. Die Jugend ist in die Gesellschaft gut eingeordnet. Sie zieht es vor, innerhalb des Familienlebens und beim Sport mit Erwachsenen verschiedener Altersgruppen zusammen zu sein, so daß sich keine Jugendsubkultur bildet. Popularität unter gleichaltrigen Jugendlichen steht nicht sehr hoch im Kurs. Die Kommunikation zwischen den Generationen ist gut. — Die Schweiz hat zwar viele Gastarbeiter, die aber weniger kriminell sind als die Einheimischen, weil sie die Ausweisung aus ihrem Gastland fürchten und weil sie sich dem kriminalitätsarmen Lebensstil der schweizerischen Bevölkerung angepaßt haben. In Schweden hat Clinard zwar keine Daten erhoben. Er hat aber auf seine früheren Erfahrungen zurückgegriffen, die er dort gemacht hat: D e r Wohlfahrtsstaat (mit staatlicher medizinischer Versorgung und Alterssicherung), die starke Zentralregierung, das bürokratische System und die zentralisierte Polizei beherrschen den Bürger, machen ihn abhängig und gleichgültig gegenüber jeder Eigenverantwortung. Die Schweden verlassen sich für ihre Versorgung und ihre Sicherung ihr ganzes Leben lang auf den Staat. Hierdurch werden ihr Gemeinschaftssinn und ihre informelle Kontrolle geschwächt oder sogar völlig zerstört. Die Uberbetonung der Behandlung des Rechtsbrechers durch Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter im schwedischen Strafvollzug (Behandlungsideologie) trägt indirekt zur Entwicklung eines kriminellen Selbstbildes und zu einer kriminellen Karriere bei. Denn der Strafgefangene wird als „Krimineller" akzeptiert, und seine Eigenverantwortlichkeit wird zu wenig betont. Die Jugend ist schlecht in die Gesellschaft integriert. Es hat sich eine Jugendsubkultur mit eigenem Lebensstil, eigener Kleidung, Musik und Freizeitgestaltung gebildet. Die J u gend ist durch ein vorprogrammiertes Leben gelangweilt, das ihr keine Eigeninitiative mehr abverlangt. Die Sozialkontrolle der Familie ist geschwächt. Bürgerinitiative und -Verantwortlichkeit sind verloren gegangen. Weiße-Kragen-Kriminalität, die Clinard (1978) als Kriminalität definiert, die von Personen mit verhältnismäßig hohem sozialem und beruflichem Status, von Mitgliedern der sozioökonomischen Mittel- und Oberschicht in Verbindung mit ihrem Beruf begangen wird, ist in der Schweiz so weit verbreitet, weil sie ein internationales Zentrum der Finanz- und Geschäftswelt ist und weil die schweizerischen Banken international weitreichende und häufige Geschäftsbeziehungen pflegen. Steuerhinterziehungen werden so häufig begangen, weil die Schweizer Öffentlichkeit dieser kriminellen Aktivität tolerant gegenübersteht. Das Schweizer Bankgeheimnis (Nummernkonten, über die keine Auskunft erteilt wird) ermöglicht das „Waschen" „schmutzigen" Geldes aus dem Ausland: Kriminell erworbenes Geld wird in den legalen Geldumlauf gebracht. Die Schweizer K a n tone (Bundesländer) sind wegen ihrer Zersplitterung nicht in der Lage, mit die-

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I. E i n l e i t u n g

ser hochkomplexen Form der Kriminalität fertig zu werden. Die Schweizer Bundesregierung bekämpft die Weiße-Kragen-Kriminalität nicht wirksam genug. Im R a h m e n der ersten weltweiten Kriminalitätsaufnahme durch die Vereinten N a t i o n e n (United Nations 1977) haben 64 Länder über die Kriminalitätshöhe, -struktur und -entwicklung in den Jahren 1970 bis 1975 berichtet. Aufgrund dieser Berichte hat die nordamerikanische Kriminologin Freda Adler (1983) die zehn Länder ausgewählt, die innerhalb ihrer jeweiligen Weltregion die niedrigste Kriminalitätshöhe — gemessen an der Zahl ihrer V e r h a f t u n g e n — hatten. Sie hat sich bei ihrer Auswahl nicht allein auf die Regierungsberichte an die Vereinten Nationen verlassen. Sie hat darüber hinaus Ministerialbeamte und kriminologische Fachleute verschiedener Regionen der Erde befragt. Sie wählte folgende Staaten aus: die westeuropäischen Länder Schweiz und Irland, die osteuropäischen sozialistischen Länder Bulgarien und Deutsche Demokratische Republik, die lateinamerikanischen Länder Costa Rica und Peru, die islamischen Länder N o r d a f r i k a s und des mittleren Ostens Algerien und Saudi-Arabien und die asiatischen und fernöstlichen Länder Japan und Nepal. Uber Länder der Region „Afrika südlich der S a h a r a " lagen nicht genügend Informationen vor. Die von ihr ausgewählten Staaten waren in den verschiedensten Faktoren höchst unterschiedlich. Es handelt sich um reiche und arme, entwickelte und unterentwikkelte, um Agrar- und Industriestaaten. Ihre Unterschiede beziehen sich auf ihre Sozialstruktur, ihr Regierungssystem, ihre Bevölkerungsstruktur, ihre Besiedlung, ihre Religion, ihre Kultur, ihre Geschichte und ihr Kriminaljustizsystem. Ihre Bevölkerung ist rassisch höchst verschieden. Länder mit und ohne Arbeitslosigkeit, Wohlfahrtsstaaten und Staaten, die ihren Bürgern keinerlei soziale Sicherheit gewähren, Staaten mit oder ohne Todesstrafe gehören zu diesen zehn Ländern, die allein darin übereinstimmen, daß sie eine niedrige Kriminalität und eine geringe Jugenddelinquenz haben. Adler suchte nach weiteren Gemeinsamkeiten. Sie korrelierte, setzte miteinander in statistische Wechselbeziehung, die niedrige Kriminalität dieser Länder mit 47 sozioökonomischen und demographischen Indikatoren, die sie aus den verschiedensten demographischen und statistischen Jahrbüchern der Vereinten N a t i o n e n , ihrer Unterorganisationen und der Länder entnahm, die sie miteinander vergleichen wollte. Mit dieser quantitativen, auf meßbaren Größen beruhenden Untersuchung kam sie zu keinem Ergebnis. Sie versuchte es deshalb mit einer qualitativen, auf Bewertung, Beurteilung a u f b a u e n d e n Analyse, nahm die verschiedenen Länder als Elemente ihres Vergleichs und fand folgende drei Gemeinsamkeiten: — Alle zehn Länder verfügen über starke Sozialkontrollen außerhalb und getrennt von ihrem jeweiligen Kriminaljustizsystem. Die Familie ist als starke soziale Institution erhalten geblieben, oder das Familien- und Verwandtschaftssystem ist der Modernisierung angepaßt w o r d e n . Zahlreiche Regierungen haben große Anstrengungen u n t e r n o m m e n , um ein wirksames Familiensystem in ihren Ländern aufrechtzuerhalten. Die Familienmitglieder fühlen sich in ihrer Familie geborgen und von ihrer Familie getragen.

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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— Gemeinschaften und Gemeinschaftssinn ergänzen und stärken die Familie. Die Gemeinschaften sind nicht durch die Industrialisierung und Verstädterung zerstört w o r d e n ; sie haben sich in die Industriegesellschaften hinübergerettet oder sind in den Industriegesellschaften neu entwickelt worden. Die Jugend ist gut in die Gesellschaft integriert; sie hat sich in die Gesellschaft gut eingefügt. Generationskonflikte bestehen nicht oder werden friedlich gelöst. In der Schweiz ist es z. B. die Gemeinde, die Eigenverantwortlichkeit betont. In Japan ist es das K o n z e p t der Industriegemeinschaft, das eine starke soziale Solidarität gewährleistet und das Schutz, Dienst und Kontrolle bietet. Das Industrie- oder Handelsunternehmen ersetzt die traditionelle japanische Großfamilie; es bietet eine lebenslange Beschäftigung, gewährt N a h r u n g , W o h n u n g , Kleidung, U n t e r haltung, Erziehung und gestaltet die Freizeit. Für alle zehn Länder ist die Teilhabe an gemeinsamen W e r t e n charakteristisch. Religion oder Religionsersatz (z. B. politische Ideologie) bestimmen das tägliche Leben. D e r Islam prägt z. B. in Saudi-Arabien den Lebensstil der Bevölkerung. Wirksame informelle Kontrollen, gemeinschaftliche W e r t e sind erhalten geblieben oder neu geschaffen w o r den. D e r Ersatz oder die E r g ä n z u n g des Familiensystems ist nicht überall gleich. In unterschiedlichem zivilisatorischem Z u s a m m e n h a n g sind informelle Kontrollsysteme von der Bevölkerung angenommen worden; sie sind populär und in der Erhaltung sozialer Solidarität erfolgreich. Die wirksame Kriminalitätskontrolle geht Hand in Hand mit der Existenz eines wirkungsvollen Systems von der Bevölkerung anerkannter und zivilisatorisch harmonischer Sozialkontrollen, die in der Lage sind, gemeinschaftliche Werte zu schaffen, aufrechtzuerhalten und zu übertragen. — Die formelle Kontrolle, z. B. Polizei, Gerichte, Strafvollzug, hat sich gut in die informelle Kontrolle durch Familie und Gemeinschaft eingefügt. Das Kriminaljustizsystem ist populär, und die Bevölkerung nimmt an ihm in sechs von zehn Ländern regen Anteil. Den Schlüssel zum Problem erfolgreicher Kriminalitätskontrolle findet Adler in den von dem deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies (1887) entwickelten Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft und in den von dem französischen Soziologen Emile Dürkheim (1893) herausgearbeiteten Konzepten der sozialen Solidarität, des Gruppenzusammenhalts und der sozialen H a r m o n i e . Gemeinschaft (Gemeinsamkeit der Interessen) ist ein harmonischer sozialer Organismus, Gesellschaft (Disharmonie, Konflikt) ein mechanisches Kunstprodukt, das auf rationellem Willen, auf einer Mittel-Zweck-Beziehung beruht. W e n n in einer Gesellschaft die Stärke traditioneller Institutionen nachläßt, wenn die Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft geschwächt ist, bricht das Wertsystem zusammen und Anomie (Dürkheim 1893) entsteht. Adler setzt diesem Begriff die Synnomie entgegen, die Zusammenhalt, Ubereinstimmung, Teilhabe an gemeinsamen W e r t e n , N o r m e n und Bräuchen bedeutet. U m die G r u n d k o n z e p t i o n von Freda Adler (1983) zu verdeutlichen, werden im folgenden vier der von ihr ausgewählten Länder als Beispiele a n g e f ü h r t :

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I. E i n l e i t u n g

— Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistisches, hochentwickeltes Industrieland. Sie besitzt — nach Adler — ein gut entwickeltes Kindergartensystem, und die Jugend ist in aktiver und nützlicher Weise beschäftigt. H i e r z u trägt die politische Jugendorganisation („Freie Deutsche J u g e n d " ) nicht unerheblich bei. Die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung ist eingeschränkt. Dadurch wächst ihre Kontrollierbarkeit. Durch die kommunistischen Organisationen, die der Bevölkerung eine gemeinsame Ideologie vermitteln, ist der einzelne beschäftigt und kontrolliert. D u r c h Konfliktkommissionen, in denen Laien in Fällen von Bagatellkriminalität R e c h t sprechen, nimmt die Bevölkerung am Kriminaljustizsystem teil. — Saudi-Arabien ist ein reicher, ölexportierender Staat, der von einer M o n a r chie regiert wird. Ein Ministerrat berät den König, der durch D e k r e t e (Anordnungen) Rechtsnormen erläßt. Die Rechtsprechung stützt sich auf das islamische Gesetz. Das traditionelle Familiensystem, das Generationen, Jahrhunderte zurückreicht, vermittelt politische M a c h t , Geschäftsverbindungen und sozialen Einfluß. Das islamische Kulturerbe ist für die gesamte Bevölkerung verbindlich; religiöse Kontrollen regeln das soziopolitische und ökonomische Leben. — Japan ist ein hochindustrialisiertes, kapitalistisches Land mit dem zweitgrößten Sozialprodukt der W e l t . Seine historischen Traditionen blieben trotz seiner Industrialisierung weitgehend erhalten. D i e Bevölkerung fühlt sich der Ehre der Familie, der Gemeinschaft und der Nation verpflichtet. Industrie- und Handelsunternehmen ersetzen die traditionelle Großfamilie weitgehend. D i e patriarchalische Familienstruktur bestimmt den japanischen Lebensstil. Die Polizei besucht die Familien in ihren W o h n u n g e n , berät sie in Familienstreitigkeiten und schlichtet solche Streitigkeiten. D i e Beziehung des Bürgers zur Polizei ist gut, da sie ihm in mannigfaltiger W e i s e hilft. D i e Bürger nehmen am Kriminaljustizsystem teil. — Nepal ist ein zurückgebliebenes Land im Himalaya-Gebirge. Es ist arm, unterentwickelt und von der Industrialisierung verhältnismäßig unberührt. 95 % der Bevölkerung leben in D ö r f e r n , die häufig in Gebirgstälern liegen, die man nur über Fußpfade erreichen kann. In der einzigen größeren Stadt Katmandu wohnen 5 % der Bevölkerung. D e r Lebensstandard ist niedrig. Das T r a n s p o r t und Kommunikationssystem, die Ernährung, die W o h n u n g e n und die medizinische Versorgung sind unzulänglich. Gleichwohl hat Nepal eine niedrige Kriminalität und eine geringe Jugenddelinquenz. Die traditionelle Großfamilie, die eine ökonomische und politische Einheit bildet, und der Clan, die organisierte Verwandtschaft, formen die Grundlage der Sozialstruktur. Die Bevölkerung ist auf lokaler Ebene an der Regierung unmittelbar beteiligt. D i e vergleichende Methode bezieht sich nicht nur auf zwei oder mehrere (räumlich) nebeneinander existierende soziale Systeme (Querschnittanalyse), sondern auch auf soziale Systeme, die (zeitlich) nacheinander bestanden haben (Längsschnittanalyse). Die historische Kriminologie bemüht sich, durch die wissen-

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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schaftliche Analyse geschichtlicher Originaldokumente die Kriminalität als Element innerhalb eines Sozialprozesses der Geschichte zu untersuchen. Historische soziale Systeme sind einfacher als unsere heutige komplexe Industriegesellschaft. D e r Kriminologe hat zu historischen Sozialsystemen zudem eine größere persönliche Distanz als zur heutigen Industriegesellschaft, in der er lebt und deren kriminelle und deviante Probleme er zu lösen sich bemüht. Weil die historischen sozialen Systeme einfacher überblickbar sind, ist auch die Bedeutung der Kriminalität innerhalb solcher Systeme leichter bestimmbar. D a die historischen Sozialprozesse zum größten Teil zu einem gewissen Abschluß gekommen sind, können sie vom heutigen Kriminologen auch leichter verfolgt und überblickt werden. Anhand historischer Originaldokumente, z. B. von Gerichtsberichten, hat Kai T. Erikson (1966) die soziale Bedeutung der Sozialabweichung innerhalb einer historischen Periode der Besiedlung der Massachusetts Bai durch die aus England eingewanderten Puritaner untersucht. Er wollte durch seine historisch-kriminologische Analyse nicht nur eigene Thesen illustrieren, veranschaulichen, sondern er hat durch diese Analyse Hypothesen, vorläufige V e r m u t u n g e n , zu beweisen versucht. Er untersuchte folgende historische V o r g ä n g e : W ä h r e n d der ersten sechs J a h r z e h n t e der Besiedlung der Bostoner Meeresbucht ereigneten sich drei schwere kriminelle Wellen, die die junge Kolonie massiv erschütterten. Es handelte sich einmal um die Antinomie-Kontroverse, die zwischen 1636 und 1638 ausbrach und die als ein Versuch angesehen werden kann, eine ältere, nicht mehr länger bedeutungsvolle Lehre des Puritanismus durch die Mehrheit der Bevölkerung zurückzuweisen. Es ging ferner um die Q u ä k e r - V e r f o l g u n g e n in der Zeit von 1656 bis 1665, die bis zu Hinrichtungen und Massakern führten, weil die Q u ä k e r den Zentralbegriff der „orthodoxen Gemeinde" dadurch in Frage stellten, daß sie sich f ü r religiöse T o l e r a n z als eines der grundlegenden Bürgerrechte einsetzten. Schließlich begann im Dorf Salem im Jahre 1692 die H e x e n Hysterie, die das Ende des puritanischen Siedlungsexperiments in Massachusetts anzeigte. D e r Missionsgeist, der dieses Experiment von Anbeginn an aufrechterhalten hatte, war in keiner erkennbaren Form mehr vorhanden. D e r Geist der Brüderlichkeit, auf den man so stark gebaut hatte, war untergegangen in einem sozialen Klima des kaufmännischen Wettbewerbs, des politischen Streits und der persönlichen Verunglimpfung. Die Puritaner der Boston Bai hatten ihre Identität verloren. Sie waren nicht länger mehr Teilhaber an dem großen religiösen Abenteuer, keine Bewohner mehr der „Stadt auf dem Berge", keine Mitglieder mehr einer besonderen revolutionären Elite nach dem Willen Gottes. Man konnte den Teufel spüren, der all dies bewirkt hatte. Zunächst erkannten ihn die Puritaner nicht. D a n n aber fanden sie ihn in ihrer eigenen Mitte in Gestalt der Hexen. D e r H e x e n w a h n begann und mit ihm das Ende der puritanischen Kolonie an der Massachusetts Bai. Erikson kam aufgrund seiner historischen Studien zu folgenden Ergebnissen:

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I. Einleitung

— Sozialabweichung ist keine Eigenschaft, die einer bestimmten Art menschlichen Verhaltens innewohnt, sondern eine Definition, die von den Menschen an ein bestimmtes Verhalten herangetragen wird, die mit solchem Verhalten unmittelbar oder mittelbar in Kontakt kommen. Der Unterschied zwischen denen, die den Titel „sozialabweichend" „verdienen", und denen, die in Frieden ihre eigenen Wege gehen können, hängt im wesentlichen davon ab, in welcher Weise die Gesellschaft die vielen Einzelheiten des Verhaltens, das ihr zur Kenntnis kommt, herausfiltert und chiffriert, in welcher Weise sie auf Menschen und ihr Verhalten reagiert. — Am wirksamsten werden die äußeren Ränder des Gesellschaftsverhaltens durch Begegnungen festgelegt und bekanntgemacht, die zwischen sozialabweichenden Personen und den Repräsentanten der Gesellschaft (z. B. Polizisten, Richtern) zum Zwecke der Sozialkontrolle stattfinden. Wesen und L a g e der Grenzen werden bestimmt. Es wird kundgetan, wieviel Veränderbarkeit und Verschiedenheit des Verhaltens innerhalb der Gesellschaft geduldet werden kann, bevor sie ihre kennzeichnende Gestalt und ihre einzigartige Identität aufgibt (Grenzziehungs- und Kontrastfunktion der Strafe). Konfrontationen zwischen Straftätern und Repräsentanten der Sozialkontrolle (z. B. Strafrichtern) haben stets ein gutes Stück öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein beträchtlicher Anteil dessen, was man „Nachrichten" nennt, entfällt auf Berichte über sozialabweichendes Verhalten. Die Grenzzeichen sozialabweichenden Verhaltens sind niemals ein für allemal in einer Gesellschaft festgesetzt. Sie ändern sich im Sozialprozeß. Sie sind nur so lange bedeutungsvoll, wie sie ständig von Personen am Rande der Gesellschaft auf die Probe gestellt und von Repräsentanten der Gesellschaft (z. B. durch die Gerichte) verteidigt werden. Die N a c h richten über solche Interaktionen machen für alle Mitglieder der Gesellschaft die Scheidelinien konformen Verhaltens, die ständig in örtlichem und zeitlichem Wandel begriffen sind, immer wieder erneut sozial sichtbar. — Die „Sozialabweichler", die einmal außerhalb der Schranken konformen Verhaltens geraten sind, verfremden sich der Gesellschaft immer mehr; sie isolieren sich und werden sozial isoliert. J e d e Gesellschaft hat — historisch und örtlich gesehen — ihre charakteristischen Marksteine zur Bestimmung sozialabweichenden Verhaltens, ihre g a n z einzigartige Identität. Deshalb hat auch jede Gesellschaft ihre g a n z besonderen Arten sozialabweichenden Verhaltens und ihre ihr eigene Kriminalitätsstruktur. Sozialabweichler und Konformisten sind Wesen derselben Kultur, Erfindungen (Konstrukte) derselben schöpferischen Einbildung. Erforschung der Wirtschafts- und Betriebskriminalität Verbrechen ist nicht nur eine Einzelerscheinung, an der ein individueller T ä t e r und ein individuelles O p f e r beteiligt sind; Kriminalität ist nicht nur eine Massenerscheinung innerhalb einer Gesellschaft, sondern Verbrechen und Kriminalität

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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werden auch in der Gegenwart in vermehrtem U m f a n g durch, gegen und in O r ganisationen, z. B. Wirtschaftsunternehmen, begangen und durch Organisationen (z. B. Polizei, Gericht, Strafvollzug) kontrolliert. Organisationen sind U n ternehmungen, die das Verhalten einer bestimmten Anzahl von Menschen rational planen und abstimmen, um gemeinsame, ausdrücklich definierte Ziele und Zwecke zu erreichen. Arbeits- und Aufgabenteilung und eine Hierarchie der Autorität und V e r a n t w o r t u n g dienen der Zielerreichung. Organisationen sind soziale Einheiten, soziale Systeme mit einer bestimmbaren Anzahl von Mitgliedern, mit einer definierbaren G r e n z e zwischen Innen- und Außenstruktur und einer arbeitsteiligen Rollengliederung nach einer zielorientierten O r d n u n g ( e h e ster I. Barnard 1961; Arthur L. Stinchcombe 1965). Die Kriminalität von Wirtschaftsunternehmen ist außerordentlich schwer zu erforschen. D e n n naturgemäß sind vor allem die U n t e r n e h m e n kooperativ, bei denen keine nennenswerte Wirtschaftskriminalität zu finden ist. U n t e r n e h m e n , die Wirtschaftsstraftaten begangen haben, entziehen sich indessen allen N a c h f o r s c h u n g e n . In das Bewußtsein der Gesellschaft hat vor allem der nordamerikanische Kriminologe Edwin H. Sutherland (1940, 1945) die „Weiße-Kragen-Kriminalität" gehoben, die er als Verbrechen definierte, das von einer ehrbaren Person mit hohem sozialem Ansehen, im R a h m e n ihres Berufs und unter Verletzung des V e r trauens begangen wird, das man ihr entgegenbringt. D e r Wirtschaftskriminelle entwickelt kein kriminelles Selbstbild; er paßt nicht in das gesellschaftliche Stereotyp des Rechtsbrechers. Die O p f e r von Wirtschaftskriminalität sind meist a n o n y m ; sie wirken nicht selten an ihrem eigenen O p f e r w e r d e n mit. In der neueren kriminologischen Literatur verwendet man immer häufiger anstelle des Begriffs „Weiße-Kragen-Kriminalität" die Bezeichnungen Berufsstraftaten und Körperschaftskriminalität. U n t e r Berufskriminalität versteht man alle Delikte, die in Ausübung eines Berufs verübt w e r d e n : ungerechtfertigte Kommerzialisierung der medizinischen Behandlung (z. B. unnötige O p e r a t i o n e n aufgrund vorsätzlich falscher Diagnosen, überflüssige A n w e n d u n g medizinischer Instrumente und Apparate, V e r o r d n u n g entbehrlicher Medikamente), D u r c h f ü h r u n g nicht notwendiger Arbeiten bei der Autoreparatur, Berechnung nicht ausgeführter Arbeiten, Verkauf älterer W a r e n (Obst, Fleisch, Eier) als „frisch" oder von älteren, verdorbenen Konserven, U m w e g f a h r t e n von Taxichauffeuren. D e r Ausdruck „Berufskriminalität" hat allerdings noch eine zweite Bedeutung. Er bezeichnet nämlich auch die Kriminalität von Berufskriminellen, also von Straftätern, die aus dem Verbrechen einen Beruf machen. Wirtschaftskriminalität richtet sich entweder gegen Wirtschaftsunternehmen (z. B. V e r u n t r e u u n g e n , Sabotage) oder gegen Konsumenten (z. B. Produktion mangelhafter W a r e n ) oder Angestellte (Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften). Sie wird von Wirtschaftsunternehmen gegen W e t t b e w e r b e r (z. B. Wettbewerbsverstöße, Industriespionage) oder von Wirtschaftsunternehmen allein (z. B. Subventionserschleichung) o d e r mit anderen Wirtschaftsunternehmen zusammen (z. B. Wettbewerbsabsprachen) gegen die W i r t s c h a f t s o r d n u n g oder gegen

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I. E i n l e i t u n g

die Gesellschaft (z. B. Luft- und Wasserverschmutzung) begangen. Es ist kennzeichnend f ü r die Wirtschaftskriminalität in der sozialen Marktwirtschaft, daß der Wirtschaftskriminelle versucht, den freien Wettbewerb durch illegale Manipulationen auszunutzen und sich damit vor seinen Wettbewerbern einen unverdienten finanziellen Vorteil zu verschaffen. Diese verbotenen undurchsichtigen Machenschaften können eine Beschränkung oder gar einen Ausschluß des freien Wettbewerbs in einzelnen Marktsektoren zum Ziele haben. G a n z anders sieht die Wirtschaftskriminalität in den sozialistischen Staaten aus. Wirtschaftskriminelle sind dort Straftäter, die versuchen, mit den ökonomischen Aktivitäten des monopolistischen Staates zu k o n k u r r i e r e n : schwarze Märkte, „Untergrundkapitalismus", ausgedehnte Spekulationen mit W ä h r u n g und Wirtschaftsgütern, illegaler H a n d e l und illegale P r o d u k t i o n , Bestechung und großangelegte U n t e r schlagungen von Staatseigentum (Funktionärskriminalität). Die Formen der Wirtschaftskriminalität sind also stets von der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur abhängig. Wirtschaftskriminalität verursacht nicht nur größere materielle Schäden als die traditionelle Kriminalität (z. B. Raub, Einbruch, Diebstahl). In Teilbereichen (Lebensmittelverfälschung, Verstöße gegen Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen) können sogar erhebliche gesundheitliche G e f ä h r dungen und Schädigungen entstehen. Die finanziellen Schäden werden durch immaterielle Nachteile noch ü b e r t r o f f e n : die Verbreitung allgemeinen Mißtrauens und das Herabsinken öffentlicher Moral. Man spricht darüber hinaus von einer Ansteckungs- und Sogwirkung (Kettenreaktion) auf Mitbewerber und von einer Fern- und Spiralwirkung auf das Verhalten Dritter. D e r Wettbewerbsdruck zwingt die K o n k u r r e n t e n zur N a c h a h m u n g . Zusätzlich löst die Wirtschaftskriminalität eine Begleit- und Folgekriminalität (z. B. U r k u n d e n f ä l schung, Korruption) aus. Den Schwarzmarkt in den U S A w ä h r e n d des 2. Weltkriegs hat Marshall B. Clinard (1952) untersucht. Er war von 1942 bis 1945 im Bundesamt zur Ü b e r w a chung der Preisvorschriften in Washington D. C. beschäftigt. D e r 2. Weltkrieg w a r nicht zuletzt ein Wirtschaftskrieg. Das gesamte industrielle System mußte mobilisiert werden. Materialüberlegenheit und wirtschaftliche Stabilität waren kriegsentscheidend. Es w u r d e n Preis- und Rationierungsvorschriften erlassen, um knappe W a r e n angemessen zu verteilen und um die Inflation zu bekämpfen. Clinard sammelte Material über die Verstöße gegen die Preis- und Rationierungsbestimmungen. Er u n t e r n a h m Reisen zu den im ganzen Land verteilten Amtern zur Ü b e r w a c h u n g der Preisvorschriften. Er zog Akten, Berichte, Zeitungs- und Magazinartikel heran, wertete Meinungsbefragungen und Parlamentsanhörungen aus und interviewte Geschäftsleute. Im Vergleich zu der V o r kriegszeit in den USA (1939—1941) gingen die traditionellen Straftaten (z. B. Raub, Einbruch, Diebstahl) während des 2. Weltkriegs zurück, weil die jüngeren Jahrgänge der männlichen Bevölkerung, die hoch mit solchen Delikten belastet zu sein pflegen, zum Kriegseinsatz eingezogen waren. Die Schwarzmarktdelikte, die von älteren J a h r g ä n g e n der Bevölkerung verübt w u r d e n , nahmen dem-

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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gegenüber ein erhebliches Ausmaß an. Im J a h r e 1944 begingen 57 °/o der Unternehmen, die untersucht worden waren, Verletzungen der Bewirtschaftungsvorschriften, hochgerechnet 1 7 1 0 0 0 0 Gesetzesverstöße. Für Konsumenten und Steuerzahler entstanden finanzielle Verluste, die um ein Vielfaches höher als die Schäden durch traditionelle Straftaten waren. Clinard führte diese hohe W i r t schaftskriminalität auf folgende Ursachen zurück: — Es dauerte drei J a h r e , bis sich die Regierung einen Uberblick über das Ausmaß und die Erscheinungsformen der Verstöße gegen Kriegswirtschaftsgesetze verschafft hatte. Während dieser Zeit wurden Tausende neuer Techniken zur Übertretung der Bewirtschaftungsgesetze entwickelt. — Weniger als 25 Prozent aller bekanntgewordenen Übertretungen von Bewirtschaftungsvorschriften führten zur Bestrafung. Alle übrigen Verletzungen hatten nur Verwarnungen oder Einstellungen zur Folge. Die Bewirtschaftungsvorschriften wurden nicht wirksam genug kontrolliert. Es stand zu wenig und zu schlecht ausgebildetes Personal zur Verfügung, das zudem zur Arbeit nicht motiviert werden konnte. V o n 1942 bis 1947 gab es in den U S A im Durchschnitt weniger als dreitausend Kontrollbeamte, die für die Einhaltung der Bewirtschaftungsbestimmungen zu sorgen hatten. Es wurden zu wenig Kontrollmaßnahmen getroffen. Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, waren nicht wirksam und nicht kräftig genug. — Die Öffentlichkeit, die Parlamentsabgeordneten und die Richter hatten eine ambivalente, zwiespältige Einstellung gegenüber den Rationierungs- und Preisvorschriften. Die Öffentlichkeit unterstützte diese Bestimmungen zwar stark. Wahrscheinlich hat sich nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Konsumenten mit voller Absicht am Schwarzmarkt beteiligt. Aber viele Geschäftsleute ließen sich auf Schwarzmarktgeschäfte ein, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Parlamentsabgeordnete stimmten zwar eindeutig der Rationierung knapper W a r e n und einem V e r b o t der Preiserhöhung zu. Sie waren jedoch gegen eine wirksame Kontrolle, weil sie nicht wollten, daß Geschäftsleute, die sie kannten, wegen der Verletzung von Bewirtschaftungsvorschriften verurteilt wurden. Die Richter sprachen während der Gerichtsverhandlung davon, sie möchten nicht gerne „aus geachteten Geschäftsleuten Kriminelle" machen. Clinard beurteilte den Schwarzmarkt abschließend folgendermaßen: E r ist ein Symptom für die soziale Desorganisation, die sich darin äußert, daß die Gesellschaft in Grundwerten nicht mehr übereinstimmt: Menschliche Beziehungen werden unpersönlicher. Lebensziele konzentrieren sich auf finanzielle Objekte. Man rechtfertigt Schwarzmarktdelikte und beurteilt sie nicht als Kriminalität. In den Jahren 1949 bis 1951 hat Donald R. Cressey {1953, 1980) 133 Strafgefangene in drei Strafanstalten interviewt. Alle diese Rechtsbrecher hatten V e r u n treuungen in leitenden Wirtschaftspositionen begangen. E r stellte fest, daß solche Veruntreuungen in folgendem psychisch-sozialen P r o z e ß mit drei Stufen verursacht werden:

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I. Einleitung

— Eine Person, der man im Geschäftsleben Vertrauen entgegenbringt, sieht sich in einer Situation, in der sie ein nicht mitteilbares finanzielles Problem zu haben meint. Das Problem erscheint ihr aufgrund ihrer Mittelschicht-Wertvorstellungen deshalb als nicht mitteilbar, weil sie glaubt, sich zu seiner Lösung nicht an ihre Familienmitglieder, ihren Arbeitgeber, ihre V e r w a n d t e n , N a c h b a r n oder Freunde wenden zu können. — Die Person nimmt w a h r , daß ihr Problem in verborgener Weise durch die Verletzung ihrer Vertrauensposition gelöst werden kann. — Sie ist in der Lage, auf ihr eigenes Verhalten in dieser Situation Verbalisierungen, Ausdrücke anzuwenden, die es ihr erlauben, ihr Selbstbild als V e r trauensperson mit dem Bild eines „Auswerters" anvertrauten Geldes oder Gutes in Einklang zu bringen. Zwei sich widersprechende Rollen, die des Ehrenmanns und die des Gauners, werden hier zur D e c k u n g gebracht. Die Person sieht sich z. B. in einer schwierigen Situation, weil sie wegen Glücksspiels, wegen Alkoholkonsums, wegen einer Beziehung zu einer Geliebten (einem Geliebten) Geldsorgen hat. Ihr finanzielles Problem erscheint ihr nicht mitteilbar zu sein, weil sie sich schämt oder weil sie viel „falschen Stolz" besitzt, andere an ihrem Problem teilhaben zu lassen. In dieser Situation definiert sie die Beziehung zwischen ihrem nicht mitteilbaren Problem und seiner rechtswidrigen, verbotenen Lösung in einer Sprache, die es ihr erlaubt, ihre Vertrauensverletzung als nichtkriminell, als gerechtfertigt anzusehen. Es handelt sich um keine nachträgliche Rechtfertigung (keine Ex-post-facto-Rationalisation), sondern um eine Motivation zur Tat. D e r potentielle V e r u n t r e u e r sagt sich z. B. vor der T a t folgendes: „Ehrlich währt am längsten, aber Geschäft ist Geschäft. Einige unserer geachtetsten Mitbürger haben die Chance f ü r ihren Erfolg im Leben dadurch b e k o m m e n , d a ß sie „das Geld anderer Leute" benutzten. Es ist lediglich meine Absicht, das mir anvertraute, f r e m d e Geld eine Zeitlang f ü r mich zu „gebrauchen". Ich borge es nur." Diese Rechtfertigung erlaubt es dem V e r u n t r e u e r , seine Vertrauensposition zu mißbrauchen, ohne sein Ideal der Ehrlichkeit aufgeben zu müssen. Eine Persönlichkeit ist Teil ihrer sozialen Beziehungen, in denen sie lebt. Ein Geschäftsmann ist Teil seiner „Geschäftskultur", eines Wertsystems der Geschäftswelt. Kriminelles Verhalten ist G r u p p e n e i g e n t u m ; es „gehört" Gruppen. Kulturen und Subkulturen bestehen aus Sammlungen von W o r t w e n dungen und Formulierungen, die in vorgeschriebener Weise angewandt werden. W ö r t e r leben als Gruppendefinitionen; sie geben an, was man in der G r u p p e f ü r „angemessen" hält. Die W ö r t e r und die dazugehörigen Einstellungen werden gelernt. In einer „Geschäftskultur" kann es zwar als verboten gelten, Raub und Einbruch zu begehen. Gelernte Einstellungen und Verhaltensmuster können aber gleichwohl vorherrschen, die die Verletzung von Wirtschaftsstrafgesetzen als gerechtfertigt erscheinen lassen. Die Kriminalität innerhalb von Organisationen, von Betrieben, haben Günther Kaiser und Gerhard Metzger-Pregizer (1976) untersucht. Es w u r d e n eine

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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schriftliche U m f r a g e bei den Leitungen von 540 Industriebetrieben, Interviews mit Vertretern und Betriebsräten von 68 Industrieunternehmen, eine Befragung von 2 6 0 Arbeitnehmern in 13 Betrieben, sechs Gruppendiskussionen und 36 Einzelinterviews in fünf Betrieben in Baden-Württemberg durchgeführt. Kaiser und Metzger-Pregizer kamen zu folgenden Ergebnissen: — Bei den strafrechtlich relevanten Verstößen innerhalb der Betriebe entfielen 84 % auf Eigentumsdelikte, 10 % auf Beleidigungen, 5 °/o auf Körperverletzungen und ein Prozent auf Sexualdelikte. D e n Strafverfolgungsbehörden wurde jede 6. Straftat angezeigt. — V o n 270 Befragten wurden für ein J a h r 121 Kollegendiebstähle angegeben, die sie selbst beobachtet oder erlitten hatten. Aus dieser Befragung ergab sich durch H o c h r e c h n u n g , daß auf einen bekanntgewordenen Kollegendiebstahl 74 verborgen gebliebene Kollegendiebstähle entfielen. — Kollegendiebstahl wird als verhältnismäßig schweres Delikt angesehen. Diebstähle zum Nachteil des Betriebs werden demgegenüber relativ nachsichtig beurteilt. — Als Sanktionsmaßnahmen wurden vom Betrieb verhängt: mündliche oder schriftliche Verwarnung, Geldbuße, Versetzung und Ausschluß von betrieblichen Sozialleistungen. Aufgrund von Akten und Berichten von 25 Bundesbehörden der U S A zur W i r t -

schaftsaufsicht haben Marsball B. Clinard und Peter C. Yeager (1980) die Wirtschaftskriminalität von 582 Großunternehmen der Wirtschaft in den J a h r e n 1975 und 1976 untersucht: 477 Großunternehmen der Industrie und 105 G r o ß - , Einzelhandels- und Dienstleistungsunternehmen. Viele dieser Firmen haben ein M o nopol; sie beherrschen den M a r k t auf den Gebieten der von ihnen produzierten W a r e n . Sie setzen die Preise ohne Wettbewerb fest. O p f e r der Kriminalität solcher Körperschaften nehmen häufig ihr Opferwerden nicht w a h r : finanzielle Verluste, Körper- und Gesundheitsgefahren, Umweltschäden. Wirtschaftskriminalität zerstört das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Geschäftswelt und in die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Es werden mehr Menschen durch kriminelle Aktivitäten von Wirtschaftsbetrieben getötet als durch Mord und Totschlag von Einzeltätern ( C l i n a r d j Yeager 1980, 9). D i e Wirtschaftsunternehmen beauftragen Experten — Arzte und Forscher — , die vorsätzlich Krankheiten, die durch die Industrie verursacht werden, zu normalen Lebensrisiken erklären, die falsche Gutachten erstatten und die die Forschung von lebenswichtigen Fragen ablenken (Rachel Scott 1974, 2 9 3 ) . D i e Öffentlichkeit hat weniger Angst, eines langsamen T o d e s durch Luftverschmutzung zu sterben, als beraubt zu werden. K ö r p e r schaftskriminalität verursacht keine intensive Furcht in der Bevölkerung. D i e wirtschaftlich bedeutsamsten V e r b r e c h e n werden am wenigsten veröffentlicht, am geringsten verfolgt und am seltensten bestraft. Großunternehmen sind Z e n tralinstitutionen unserer Gesellschaft. Sie bestimmen die Verhaltensweisen von

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I. E i n l e i t u n g

Ein-Blick



Fenster 3 : C o m p u t e r k r i m i n a l i t ä t U n t e r C o m p u t e r k r i m i n a l i t ä t v e r s t e h t m a n S t r a f t a t e n , bei d e n e n e l e k t r o n i s c h e D a t e n v e r a r b e i t u n g s a n l a g e n als T a t w e r k z e u g e g e n u t z t w e r d e n o d e r bei d e n e n s o l c h e A n l a g e n T a t o b j e k t e sind. S i e u m f a ß t vier E r s c h e i n u n g s f o r m e n : —

V e r f ä l s c h u n g e n bei der E i n g a b e o d e r bei der V e r ä n d e r u n g von

Daten

u n d / o d e r von D a t e n p r o g r a m m e n , —

Computerspionage,

— C o m p u t e r s a b o t a g e und — Gebrauchs- oder Zeitdiebstahl. E i n g a b e f ä l s c h u n g e n ( I n p u t m a n i p u l a t i o n e n ) sind die b e d e u t s a m s t e n

Compu-

terdelikte. F ä l s c h u n g e n w e r d e n an L o c h k a r t e n , M a g n e t b ä n d e r n , L o c h s t r e i f e n o d e r M a g n e t p l a t t e n v o r g e n o m m e n , um den C o m p u t e r zu V e r f ü g u n g e n v e r a n l a s s e n , die den F ä l s c h e r b e g ü n s t i g e n . S o l c h e E i n g r i f f e w e r d e n

zu

wegen

des a u t o m a t i s c h e n A r b e i t s a b l a u f s im C o m p u t e r über l ä n g e r e Z e i t w i e d e r h o l t und v e r u r s a c h e n d e s h a l b h o h e S c h ä d e n . Ein S a c h b e a r b e i t e r in der K i n d e r g e l d a b t e i l u n g eines s ü d d e u t s c h e n A r b e i t s a m t e s fälschte z. B. das H a n d z e i c h e n eines a n d e r e n S a c h b e a r b e i t e r s a u f m e h r e r e n , z u r E i n g a b e in den C o m puter v o r g e s e h e n e n L o c h k a r t e n . D i e g e f ä l s c h t e n L o c h k a r t e n w u r d e n — unter U m g e h u n g seines K o l l e g e n — an die B u n d e s a n s t a l t f ü r A r b e i t versandt. In N ü r n b e r g w u r d e n die L o c h k a r t e n in den C o m p u t e r e i n g e l e s e n und v o n ihm verarbeitet. D a s K i n d e r g e l d w u r d e den K o n t e n d e r S c h e i n b e r e c h t i g t e n ü b e r w i e s e n . I n n e r h a l b von z e h n M o n a t e n w u r d e n dem T ä t e r , s e i n e r E h e f r a u , deren

Eltern

250 0 0 0 , -

und

DM

Großeltern

Kindergeldbeträge

gutgeschrieben

(Ulrich Sieber

in

Höhe

von

1977, 4 7 - 4 9 ) .

s c h u n g e n k ö n n e n nicht nur von B e h ö r d e n - o d e r

mehr

Solche

als Fäl-

Unternehmensangestellten

(z. B. B a n k a n g e s t e l l t e n ) b e g a n g e n w e r d e n . S i e sind a u c h bei der g e m e i n s a men B e n u t z u n g eines C o m p u t e r s o d e r bei der D a t e n f e r n v e r a r b e i t u n g durch D r i t t e m ö g l i c h . C o m p u t e r s p i o n a g e ist eine n e u e F o r m der W i r t s c h a f t s s p i o nage. W ä h r e n d f r ü h e r die A u s k u n d s c h a f t u n g w i r t s c h a f t l i c h e r D a t e n l a n g w i e rig und nur in T e i l b e r e i c h e n

m ö g l i c h w a r , ist die k r i m i n e l l e

Gefährdung

durch den E i n s a t z v o n C o m p u t e r n um ein V i e l f a c h e s g e s t i e g e n . D e n n in den e l e k t r o n i s c h e n D a t e n v e r a r b e i t u n g s a n l a g e n d e r H a n d e l s - und I n d u s t r i e u n t e r n e h m e n sind B e t r i e b s g e h e i m n i s s e , K a l k u l a t i o n e n , B i l a n z e n , K u n d e n a d r e s s e n , Entwicklungs-

und

Forschungsdaten

in k o n z e n t r i e r t e r

Form

gespeichert.

M a n b r a u c h t nicht m e h r Z e i c h n u n g e n und K a r t e i e n m ü h s a m und l a n g w i e r i g zu f o t o g r a f i e r e n . M a n überspielt die D a t e n v i e l m e h r k u r z e r h a n d a u f B a n d o d e r M a g n e t p l a t t e n . D i e h o h e V e r d i c h t u n g der I n f o r m a t i o n e n im C o m p u t e r führt d a z u , daß die W i r t s c h a f t s s p i o n a g e g a n z neue A u s m a ß e a n n i m m t .

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

Die Computersabotage ist ein besonders wichtiger Unterfall der Wirtschaftssabotage. Brand- oder Bombenanschläge werden auf C o m p u t e r verübt; große Datenmengen können durch „Crash"-Programme in kürzester Zeit gelöscht werden. Solche Sabotagehandlungen können nicht nur von verärgerten, rachsüchtigen Angestellten, sondern auch von Mitbewerbern auf dem M a r k t und von Terroristen begangen werden. Da der Computer im innerbetrieblichen Einsatz als Steuerungs- und Datenspeicherungsinstrument dient, kann ein gegen ihn gerichteter Sabotageakt zur völligen innerbetrieblichen Lähmung und zum Ausscheiden des Unternehmens aus dem Markt führen. D e r Gebrauchs- oder Zeitdiebstahl umfaßt die Fälle, in denen Angestellte den firmeneigenen C o m p u t e r und teilweise auch die firmeneigenen Programme für private Zwecke und Nebentätigkeiten nutzen. Einen unerlaubten Gebrauch von Arbeitsmitteln hat es zwar immer schon gegeben. Hierdurch sind dem Arbeitgeber indessen keine meßbaren Schäden entstanden. Anders verhält es sich beim C o m p u t e r , da hier durch die N u t z u n g hohe Kosten entstehen, die bei Mißbrauch einen Vermögensnachteil des Arbeitgebers zur Folge haben. Daten sind in der modernen Industriegesellschaft so viel wert wie bares Geld. Computerkriminalität besitzt deshalb eine große Bedeutung, die viele Wirtschaftsunternehmen noch nicht voll erkannt haben. Denn sie lassen es allenthalben an geeigneten Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen fehlen. T ä t e r sind häufig junge, energische, hoch motivierte und intelligente Gelegenheitstäter (Stein Schjolberg, Donn B. Parker 1983). Sie nutzen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten und ihren Z u g a n g zum Computer (ihre Vertrauensstellung) aus. O f t spielt das Motiv eine Rolle, die „Maschine schlagen" zu wollen. Sie versuchen, ihre Straftaten vor deren Begehung dadurch psychisch unwirksam zu machen (zu neutralisieren), daß sie sich vorstellen, die O p f e r seien anonym, ein eventueller Schaden verteile sich auf viele und dem Unternehmen entstehe kein großer Nachteil. Strafrechtlich sind die Computerdelikte teilweise schwer faßbar, weil ihre Ausführungsarten technisch neu sind. So ist beim Computerbetrug die T ä u s c h u n g einer Maschine rechtstechnisch nicht möglich. Deshalb ist z. B. ein neuer Straftatbestand (§ 263 a) ins Strafgesetzbuch eingefügt worden. Eine wirksame Aufklärung der Computerkriminalität setzt speziell ausgebildete und geschulte Kriminalpolizisten und Staatsanwälte voraus. Die meisten bekanntgewordenen Fälle sind bisher durch bloßen Zufall entdeckt worden. Das Dunkelfeld der Computerkriminalität ist wahrscheinlich ziemlich hoch. Die öffentliche Meinung betrachtet sie nicht als „wirkliche, alltägliche, gewöhnliche" Kriminalität. Das erschwert ihre Aufklärung und die Ü b e r f ü h r u n g der Täter, die im übrigen — allzu früh gewarnt — durch ihre Kenntnisse und Fähigkeiten Beweise, die sie belasten, in Sekundenschnelle vernichten oder beiseite schaffen können. Spezielle Straftatbestände gegen Computerkriminalität haben eine größere Abschreckungswirkung als die Subsumtion der Computerdelikte un-

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I. Einleitung

ter allgemeine Straftatbestände (Betrug, Diebstahl, Untreue, Unterschlagung). Solche speziellen Straftatbestände dienen nicht nur der klaren und eindeutigen Strafrechtsanwendung. Sie können auch die Grundlage für die Entwicklung einer Berufsethik innerhalb der Computerberufe bilden. Da der internationale Informationsaustausch mittels Satelliten immer reger wird, muß die Computerkriminalität auch in zunehmendem Maße international bekämpft werden.

Millionen von Konsumenten und von Hunderttausenden von Angestellten wesentlich mit. Die innere Organisation von Wirtschaftsbetrieben ist autoritär, hierarchisch und bürokratisch. Das Spitzen-Management (die Geschäftsleitung) wählt sich selbst aus. Die jährlichen Einnahmen multinationaler Unternehmen sind größer als die Steuereinnahmen mittelgroßer Staaten. Die Großbetriebe und die Regierungen beeinflussen sich dadurch gegenseitig, daß sie ihr Führungspersonal austauschen: Führende Unternehmensmanager werden hohe Regierungsbeamte und umgekehrt. Die Bundesbehörden der USA zur Wirtschaftsaufsicht sind mit Geld und geschultem Personal nur unzulänglich ausgestattet, so daß sie ihre Kontrollaufgabe nicht wirksam erfüllen können (Clinard, Yeager 1980, 95/96). Sechs Hauptformen der Körperschaftskriminalität haben Clinard und Yeager ermittelt: — Verletzung von Verwaltungsauflagen, z. B. Nichtbeachtung von Verwaltungsanordnungen, mit Fabrikationsfehlern behaftete Waren zurückzurufen oder Anlagen zur Luft- und Wasserreinhaltung einzubauen, — Verstöße gegen Umweltschutzvorschriften, z. B. Luft- und Wasserverschmutzung, Verunreinigungen durch Ol oder chemische Substanzen, — finanzielle Übertretungen, z. B. Zahlung rechtswidriger Spenden an politische Organisationen, Bestechung in- und ausländischer Politiker, Verletzung von Währungsvorschriften, — Mißachtung von Arbeitsschutzbestimmungen, z. B. Diskriminierung von Arbeitnehmern wegen ihrer Rasse, wegen ihres Geschlechts oder ihrer Religion, Zuwiderhandlung gegen Lohn- und Arbeitszeitregelungen und gegen Berufssicherheitsbestimmungen, — Produktionsverstöße, z. B. Herstellung und Verkauf gefährlicher Autos, Flugzeuge, Autoreifen und Geräte, gesundheitsschädlicher Nahrungs- und Arzneimittel, Vorratshaltung von Lebensmitteln unter unhygienischen Bedingungen, — unfaire Handelspraktiken, z. B. Wettbewerbsverstöße, Preisabsprachen und illegale Marktaufteilungen. Clinard und Yeager stellten fest, daß die Großunternehmen die meisten Straftaten begingen und daß die pharmazeutische, die Ol- und Autoindustrie am mei-

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sten mit Wirtschaftskriminalität belastet sind. Als Reaktionen gegen solche Kriminalität wurden meist Verwarnungen mit Auflagen, z. B. defekte Waren zurückzurufen, Geldstrafen oder Anordnungen (mit und ohne Zustimmung) erlassen. Geldstrafen wurden meist wie Produktionskosten behandelt, d. h. über die Preisgestaltung von den Konsumenten wieder hereingeholt. Kurzzeitige Freiheitsstrafen gegen Manager der Geschäftsleitung, deren Vollstreckung man meist mit allen Mitteln zu umgehen versuchte, wurden in den Jahren 1975 und 1976 tatsächlich von 16 Managern der untersuchten 582 Gesellschaften in H ö h e von insgesamt 594 Tagen Freiheitsentziehung verbüßt.

Untersuchung des organisierten Verbrechens Organisationen (Wirtschaftsunternehmen) mit legalen Zielen begehen Wirtschafts- und Umweltdelikte. Kriminelle schließen sich zu Organisationen mit kriminellen Zielen zusammen, um der organisierten Verbrechensbekämpfung besser widerstehen zu können. Das organisierte Verbrechen verübt u. a. folgende kriminelle Aktivitäten: Kunstgegenstände werden aus Kirchen und Museen gestohlen. Ganze Lastkraftwagenladungen wertvoller Waren verschwinden auf deutschen Straßen. Zwei Drittel aller in der Bundesrepublik entwendeten, aber nicht wieder herbeigeschafften Kraftfahrzeuge sind in den letzten Jahren vom organisierten Verbrechen verschoben worden. Der mitteleuropäische Rauschgiftmarkt wird vom organisierten Verbrechen hauptsächlich aus N a h und Fernost beliefert. Als Umschlagplatz für Heroin spielen vor allem die Niederlande eine Rolle. Der organisierte Handel mit fernöstlichem Heroin befindet sich in den Händen von Chinesen, die überwiegend von Amsterdam aus operieren und ein Verteilernetz über ganz Westeuropa aufgebaut haben. Das organisierte Verbrechen in der Bundesrepublik und in Europa befaßt sich mit dem organisierten Diebstahl wertvoller Waren, z. B. von Pelzen, Schmuck, Teppichen, Lederwaren, optischen und elektrischen Geräten, mit der Falschgeldherstellung, dem Falschgeldvertrieb und mit dem Waffenhandel. Es besitzt sieben kennzeichnende Merkmale: — Es befriedigt die Bedürfnisse der Bevölkerung nach illegalen Gütern (z. B. Rauschgift) und Diensten (z. B. Prostitution). — Es geht rational und planvoll vor. Es sucht sich seine kriminellen Aktivitäten nach den Gesichtspunkten des niedrigen Risikos und des hohen Gewinns aus. — Zum Zwecke der Herstellung, des Transports und der Verteilung illegaler Waren und des Angebots illegaler Dienste hat es sich in Gruppen zusammengeschlossen. Innerhalb solcher krimineller Gruppen herrscht eine Rollenverteilung vor. Jeder hat sich auf eine bestimmte Planungs- und Ausführungshandlung spezialisiert. — Alle organisierten Kriminellen sind Berufsverbrecher, also Personen, die aus ihrer kriminellen Tätigkeit auf Dauer ihren Lebensunterhalt bestreiten, die kri-

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minelle T e c h n i k e n , mitunter Spezialtechniken, meisterhaft beherrschen, die ausgeprägte kriminelle Karrieren hinter sich haben, die kriminelle Selbst- und Wertbilder und die Fähigkeit entwickelt haben, die Entdeckung ihrer Straftat zu vermeiden und so dem Zugriff der Instanzen der formellen Sozialkontrolle, z. B. der Kriminalpolizei, zu entgehen. — Jede kriminelle Gruppe, jedes Syndikat, wird straff und zentral von einer kleinen Planungsgruppe geleitet, die die Möglichkeit für kriminelle Aktivitäten auskundschaftet, die Risiken, Kosten und Gewinne gegeneinander abwägt und die Ausführung ihrer kriminellen Projekte im einzelnen überwacht. Diese Führungs- und Planungsgruppe besitzt mannigfaltige internationale Beziehungen zu anderen Syndikaten, zu legalen Unternehmungen und zu Behörden. W e g e n der durch das organisierte V e r b r e c h e n erzielten hohen Gewinne kann sich die Planungsgruppe Zeit nehmen. Sie braucht nur zuzuschlagen, wenn sich die kriminelle Aktivität bei geringem Risiko wirklich lohnt. — Neben dieser hierarchischen Struktur besitzt das organisierte V e r b r e c h e n kriminelle Leitbilder. Ein ungeschriebenes Gesetzbuch verlangt z. B. von jedem Mitglied des Syndikats unbedingte Loyalität. Es darf keine Straftaten begehen, ohne vorher von der Spitze der Organisation Befehle dazu erhalten zu haben. — Die Neutralisierung der staatlichen Strafverfolgung, ihre Ausschaltung, wird duch Isolation der Führungs- und Planungsgruppe, durch strenge Disziplin innerhalb des Syndikats und durch systematische Bestechung erreicht. Zum Zwecke der Abschirmung vor Strafverfolgungsmaßnahmen ist die Leitung des Syndikats von der kriminellen Ausführung ihrer geplanten Projekte isoliert. Die Führer des Syndikats meiden jeden unmittelbaren K o n t a k t mit den Mitgliedern ihrer kriminellen Gruppe, die die unmittelbaren kriminellen Handlungen begehen. Um die exakte Durchführung ihrer kriminellen Pläne genau überwachen zu können, sind Kommunikationswege über wichtige Pufferzonen gebahnt. Zwischen die planende Obergruppe und die ausführende Untergruppe ist gleichsam eine „Isolierschicht" gelegt, die von Personen gebildet wird, die legale Berufe ausüben, die lediglich Befehle von der Planungs- an die Ausführungsgruppe und Rückmeldungen von der Ausführungs- an die Planungsgruppe weitergeben und die im Falle ihrer V e r n e h m u n g durch Strafverfolgungsbehörden von nichts wissen. Bis zu diesen Kommunikationspersonen dringen die Strafverfolgungsbehörden bestenfalls vor. Es gelingt ihnen indessen meist nicht, den K o p f (die Hintermänner) der kriminellen Tätigkeit des organisierten Verbrechens ausfindig zu machen. W e n n eine so straff organisierte Gruppe von Berufskriminellen entschlossen ist, ihre kriminellen Planungen und ihre innere Struktur um jeden Preis, auch um den Preis eines Mordes oder sonstiger Gewalttaten, geheimzuhalten, ist es außerordentlich schwierig, das organisierte Verbrechen zu erforschen. M a n kann jedenfalls auch hier nicht behaupten, Kriminologie sei die bloße Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden auf Kriminelle. D e r kriminologische Forscher

Einige P r o b l e m e kriminologischer F o r s c h u n g

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muß sich den gesellschaftlich gegebenen Möglichkeiten seines Forschungsobjekts anpassen und die Informationen sammeln, die ihm erreichbar sind. John A. Mack (1975) und Hans-Jürgen Kerner (1973 b) haben Kriminalbeamte befragt, die mit konkreten Ermittlungsvorgängen gegen das organisierte Verbrechen befaßt waren. Sie haben darüber hinaus Kriminalpolizeibehörden in Westeuropa um schriftliche Stellungnahmen gebeten. Donald R. Cressey (1969 a) stützt sich für seine Erkenntnisse über das organisierte Verbrechen auf Informationen, die er von Polizeibeamten bekommen hat, die in Spezialeinheiten das organisierte Verbrechen in den USA bekämpfen. Die sizilianische Mafia hat Henner Hess (1970) untersucht, indem er archivierte Polizeiberichte und Prozeßakten aus der Zeit von 1880 bis 1890 in sizilianischen Archiven auswertete. Anton Blok (1974) hat zweieinhalb Jahre in dem westsizilianischen Dorf Genuardo gelebt, um die Mafia in dieser dörflichen Gemeinschaft als Sozialprozeß zu studieren, der in den letzten hundert Jahren abgelaufen ist und noch heute abläuft. Mit Interviews hat er die sozialen Beziehungen innerhalb des Dorfes zu klären versucht. Anhand archivierter Dokumente hat er diese Sozialbeziehungen dann über die letzten einhundert Jahre zurückverfolgt. Mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung hat Francis A. J. Ianni (1972) vier Jahre lang ein Syndikat, eine kriminelle Familie, in New York City studiert. Ianni, der italienischer H e r k u n f t ist, lernte zufällig ein Mitglied einer kriminellen Familie italienischer H e r k u n f t kennen. Daß es sich um einen organisierten Berufsverbrecher handelte, erkannte er freilich erst, nachdem sie verhältnismäßig enge Freunde geworden waren. Ianni faßte dann den Entschluß zu einer Studie der Organisation der kriminellen Familie mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Er weihte seinen Freund ein, der ihn in seine Familie einführte und der ihm den Rat gab, jedes Familienmitglied nur so viel über seine Forschung wissen zu lassen, wie unbedingt nötig war. Da Ianni sich vor allem für die innere Struktur und Dynamik der Familie und nur in zweiter Linie für deren kriminelle Aktivitäten interessierte und da er seinem Freund unbedingte Verschwiegenheit und Anonymität zugesichert hatte, konnte er sein Forschungsvorhaben durchführen, ohne in ernsthafte Gefahr zu geraten. Freilich hing der Erfolg seiner Forschung ganz vom Vertrauen zwischen beiden Freunden ab. Ianni gehörte zwar nicht zur Familie, aber zu deren engen Freunden. Er konnte einzelne Familienmitglieder und deren Freunde befragen. Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) seiner Informationen sah er dadurch gewährleistet, daß er die Familie über eine lange Zeit unmittelbar beobachtete und daß er zahlreiche Familienmitglieder und deren Freunde über dieselben Vorgänge befragte. Aufgrund der empirischen Forschungen sind über die Entstehung des organisierten Verbrechens verschiedene Theorien entwickelt worden: — Nach dem marxistischen Ansatz entfaltet sich das organisierte Verbrechen in logischer Konsequenz aus dem kapitalistischen System (William J. Chambliss 1978).

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I. E i n l e i t u n g

— Nach dem funktionstheoretischen Ansatz gibt es kein organisiertes Verbrechen als „soziale Organisation". Es ist vielmehr lediglich eine Methode, kriminelle Unternehmen zu führen und kriminelle Herrschaftspositionen aufzubauen und zu festigen. Das organisierte Verbrechen ist eine Lebenshaltung und -philosophie, eine Seinsweise, eine Gefühls- und Verhaltensweise (Joseph L. Albini 1971). — Nach dem Benennungsansatz ist der ein organisierter Verbrecher, der von den Personen seines sozialen Nahraums und von den Mitgliedern des organisierten Verbrechens so definiert wird (Henner Hess 1970). Mafioso ist nicht vor allem der, der sich als solcher fühlt (Selbstdefinition), sondern der, der von anderen für einen solchen gehalten wird (Fremddefinition). Es muß dem Mafioso möglich sein, Furcht einzuflößen. Ein Freispruch mangels Beweises läßt einerseits seine Fähigkeit offenkundig werden, Zeugen zum Schweigen zu bringen, und zeigt andererseits, daß er einflußreiche Freunde und Beschützer besitzt. — Nach dem strukturtheoretischen Ansatz lassen Strukturmängel in der Gesellschaft alternative illegale Organisationen entstehen, die vorhandene Bedürfnisse in der Bevölkerung befriedigen (John Landesco 1929). Für die Entstehung der Mafia auf Sizilien waren folgende Gründe maßgebend: die Schwäche und die weite Entfernung des zentralen staatlichen Herrschaftsapparates, die traditionell feindliche Haltung der durch wechselnde Fremdherrschaften unterdrückten Bevölkerung allen staatlichen Organen gegenüber, die Handlungsunfähigkeit der Bürokratie, die Langwierigkeit ihrer Maßnahmen und die Unwirksamkeit der Polizei und der Gerichte, die ihre Entscheidungen nicht zu fällen und durchzusetzen vermochten. — Nach dem systemtheoretischen Ansatz ist das organisierte Verbrechen ein soziales System. Darüber, wie dieses soziale System im einzelnen aussieht, gibt es drei unterschiedliche Auffassungen: — Es ist ein traditionelles, informelles Familiensystem, das durch Verhalten und kulturelle Werte entsteht. Diesem Verwandtschaftsmodell liegt das süditalienische Konzept der Familie zugrunde, die nicht nur eine Verwandtschafts-, sondern auch eine Geschäftseinheit bildet (Francis A. J. Ianni 1972). — Es ist ein lockeres, informelles System einer Unterweltberufsgemeinschaft (John A. Mack 1975; Hans-Jürgen Kerner 1973). Vom Berufskriminellen, der — unmittelbar handelnd — Straftaten begeht, unterscheiden sich Berufskriminelle, die im Hintergrund diesen unmittelbar Handelnden eine Fülle von Diensten gegen Beteiligung am kriminellen Gewinn zur Verfügung stellen. Organisierte Verbrecher sind Hintergrundunternehmer, die das Risiko der kriminalpolizeilichen Entdeckung berechenbar machen. Die Rechtsbrecher benötigen Berater, Beschützer, Planer, die ihnen ihre Verbrechen erleichtern. Dieser systemtheoretische Ansatz wird durch folgendes Beispiel verdeutlicht: Ein Einbrecher dringt nicht nur so einfach in ein Gebäude ein, um Eigentum zu stehlen. Einbruch wird unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft

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vielmehr auch wie ein Handwerk zur Routine. Der „Beruf" des Einbrechers erfordert Ausbildung, Fortbildung über neue Einbruchstechniken und über die Ausschaltung moderner Sicherheitsanlagen, Zusammenstellung einer Einbrechergruppe, Informationen über lohnende Einbrecherziele, Kauf von Einbruchswerkzeugen, Stehlen eines Autos zum Wegtransport der Einbruchsbeute, Verkauf der erlangten Beute und schließlich Schutz gegenüber Entdeckung. Alle diese Aufgaben erfüllen die kriminellen Hintergrundunternehmer. — Es ist ein rationales, formelles Sozialsystem, ein lebendiger sozialer Organismus mit festem bürokratischem Aufbau ( D o n a l d R. Cressey 1969 a). Es besitzt eine hierarchische und autoritäre Organisation, die rational geplant und durchkonstruiert ist, um die Verbrechensgewinne zu erhöhen und die Risiken durch „ K a u f " der Justiz zu vermindern. Es kann sich z. B. die jahrelange Planung und Vorbereitung eines einzigen Verbrechens leisten, durch das ein beträchtlicher Gewinn bei geringem Risiko erzielt wird. Mit hoher Flexibilität und Mobilität ist es in der Lage, Schwachstellen nachlassender Wirksamkeit der Strafverfolgung ausfindig zu machen. Die modernen Kommunikationsmittel, Telefon, Telegraf, Fernschreiber und Funk, setzt es mit großer Virtuosität für seine Zwecke ein. Die internationale Organisation des Verbrechens ist eine Folge der Organisation der industriellen Produktion und der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung. Der marxistische Ansatz ist viel zu allgemein und nichtssagend; er ist empirisch unbewiesen. Der funktionstheoretische Ansatz löst das organisierte Verbrechen als soziale Organisation auf. Es überzeugt nicht, in ihm lediglich eine Methode zu erblicken. Der Benennungsansatz greift einen wichtigen Aspekt aus der prozeßhaften Entstehung organisierter Kriminalität heraus. Er vermag die Verursachung des organisierten Verbrechens jedoch nicht voll zu erfassen. Der strukturtheoretische Ansatz zeigt demgegenüber die soziale Verursachung organisierter Kriminalität überzeugend auf. Er wird sinnvoll ergänzt und vervollständigt durch den systemtheoretischen Ansatz. Es ist freilich zu eng, das organisierte Verbrechen als traditionelles System süditalienischer Prägung aufzufassen. Eine solche Betrachtungsweise trägt der Vielfalt organisierter Kriminalität nicht ausreichend Rechnung. Das lockere, informelle System der Unterweltberufsgemeinschaft paßt eher zu den westeuropäischen Formen organisierter Kriminalität, während das organisierte Verbrechen der U S A ein rationales, formelles Sozialsystem, einen lebendigen sozialen Organismus mit festem bürokratischen Aufbau bildet. Kontrollforschung Die Aufmerksamkeit kriminologischer Forschung war zunächst auf die T a t und sodann auf den Täter gerichtet. Indem man beide aufgrund der Akten der Polizisten, der Richter und der Strafvollzugsbeamten studierte, sah man T a t und T ä -

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ter aus der Sicht der Praktiker der Strafrechtspflege. Die Reaktion auf die Tat und den Täter war kein Thema kriminologischer Forschung. Das änderte sich, nachdem Frank Tannenbaum (1938) die Dramatisierung des Bösen und Edwin M. Lemert (1951) die Bedeutung der sozialen Reaktion für die Entstehung sozialabweichenden Verhaltens entdeckt hatten: — Einmal sah man in zunehmendem Maße davon ab, Tat und Täter auf der Grundlage der Erkenntnisse der Instanzen formeller Sozialkontrolle, z. B. der Polizei, zu erforschen, weil man erkannt hatte, daß man sich die (möglicherweise verfälschende) Sichtweise der Instanzen formeller Sozialkontrolle von Tat und Täter zu eigen machte. Man wandte sich der Erforschung des Täters unmittelbar zu. — Zum anderen machte man die Reaktionsseite auf Verbrechen und Kriminalität: die Strafgesetzgebung und die Strafgesetzanwendung (die Polizei, die Gerichte, den Strafvollzug) selbst zum Forschungsgegenstand. Man untersuchte nunmehr nicht nur die sozialen Voraussetzungen und Wirkungen der Strafgesetzgebung und -anwendung, sondern man thematisierte auch die Frage, ob Strafgesetzgebung und -anwendung zur Entstehung oder Verfestigung der Kriminalität beitragen. Man kann verstehen, daß sich aus dieser letzten Fragestellung Konflikte zwischen Strafgesetzgebung und -anwendung und kriminologischer Forschung ergaben. Die Strafgesetzgebung und -anwendung waren geneigt, den kriminologischen Forschern den Zugang zu ihren Daten zu verweigern oder zu beschränken {Günther Kaiser 1983a, 6; Hans-Heiner Kühne 1983, 1985, 127—130). Die kriminologischen Forscher entwickelten mitunter eine feindselige Haltung gegenüber Polizei, Gericht und Strafvollzug. Wenn sie Zugang zu Daten bekamen, meinten sie, alles und jedes, was sie bei der Polizei, den Gerichten und dem Strafvollzug fanden, radikal kritisieren zu müssen. Man sprach sogar offen davon, man müsse sich bei der Polizei und in den Strafvollzug einschleichen, um Material zu fotokopieren und an die Öffentlichkeit zu bringen, das die Polizei und den Strafvollzug belasten und in Verruf bringen sollte. Man verfolgte also ein „Spionagemodell" der kriminologischen Forschung und wollte die Instanzen der formellen Sozialkontrolle in ihrer Kontrollfunktion verunsichern. Man erkannte nicht, daß eine solche Verunsicherung der formellen Sozialkontrolle nur zum Nachteil der Gesellschaft und der Verbrechensopfer gereichte. Fragestellung und Methode der Kontroll- und Sanktionsforschung, die sich auf die Strafgesetzgebung und die gesamte Strafgesetzanwendung beziehen, sollen am Beispiel der Polizei- und Strafvollzugsforschung veranschaulicht werden. Als einer der ersten machte August Vollmer {1936), selbst ein ehemaliger hoher Polizeibeamter, die Polizei zum Forschungsgegenstand. Die Polizeiforschung setzte freilich erst Mitte der sechziger, Anfang der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts ein. Jerome H. Skolnick (1966) untersuchte die Polizei mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung in Westville, einer Großstadt mit annähernd

Einige P r o b l e m e kriminologischer Forschung

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400 000 Einwohnern im Westen der USA. Er bemühte sich, unparteiisch und objektiv zu sein, bildete sich aber nicht ein, eine „wertfreie" Studie geschrieben zu haben. Er sammelte zunächst Hintergrundmaterial bei der Staatsanwaltschaft, bei Gericht und bei der Strafverteidigung. Die Polizei beobachtete er im Jahre 1962; er f ü h r t e Interviews mit Polizeibeamten und eine Fragebogenaktion durch. Er stellte sich die forschungsethische Frage, ob seine Teilnahme als Forscher an der Polizeiarbeit die Verfassungsrechte des Verdächtigen (Eindringen in seine Privatsphäre!) oder die Wirksamkeit der Polizeiarbeit selbst beeinträchtige. Er sah seine Rolle als teilnehmender Beobachter und Berater der Polizei. Er ließ das Polizeiprestige von 282 Polizeibeamten selbst einschätzen: 70 °/o beurteilten es als „durchschnittlich" oder „schlecht", 29 % als „gut" und weniger als 2 % als „sehr gut". D a die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit mit der Polizeiarbeit zufrieden ist, haben die Polizeibeamten ein schlechteres Selbstbild, als es durch die Wirklichkeit gerechtfertigt wäre. D a die Polizisten der Auffassung sind, die Öffentlichkeit stehe ihrer Arbeit gleichgültig gegenüber, sie helfe ihnen nicht, und da sie weiterhin meinen, ihre Aufgaben seien gefährlich, sie würden zu schlecht bezahlt, besäßen ein zu niedriges Sozialprestige und der Strafgesetzgeber und die Gerichte unterstützten sie nicht, verhalten sie sich solidarisch und autoritär. Sie wollen als fachkundige Experten angesehen werden. Im Gegensatz zum strafrechtlichen Prinzip, daß jedermann unschuldig ist, bis ihm das Gegenteil nachgewiesen wird, hält die Polizei jeden, den sie verhaftet, f ü r schuldig. Die Polizisten glauben, als Spezialisten f ü r Kriminalität die Fähigkeit zu besitzen, zwischen Schuld und Unschuld unterscheiden zu können. Sie halten die meisten Gerichtsverfahren f ü r herausgeworfenes Geld und verschwendete Zeit. W e n n ein höheres Gericht entscheidet, daß bestimmte Polizeiaktivitäten verfassungswidrig sind, so hat der Polizeibeamte kein Scham- oder Schuldgefühl. Er ist vielmehr entrüstet und unwillig, weil ein Obergericht es gewagt hat, in seine fachmännische Praxis einzugreifen, und weil hierdurch seine „Arbeitsbedingungen" erschwert w o r d e n sind. Im Jahre 1964 hat Skolnick eine Fragebogenaktion bei Polizisten d u r c h g e f ü h r t : 66 % zählten sich zur Mittelschicht, 32 % zur „Arbeiterklasse" und 2 % zur O b e r - und Unterschicht. 61 °/o mochten ihren Beruf „sehr gern", 31 % „ziemlich gern", 4 % lehnten ihn ab und 5 % äußerten keine Meinung. Skolnick kam zu dem Ergebnis, durch seine Untersuchung zur I n f o r mation über die „Arbeitspersönlichkeit" und den Lebensstil von Polizisten beigetragen zu haben, die er mit den Stichworten G e f a h r , Autorität, Mißtrauen, Isolation und Solidarität charakterisierte. Im Jahre 1969 haben Johannes Feest und Erhard Blankenburg (1972) in einer deutschen Großstadt mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung eine U n tersuchung d u r c h g e f ü h r t , die das Ziel verfolgte, die soziale Wirklichkeit polizeilicher Tätigkeit zu erforschen. Feest nahm zunächst einen M o n a t lang an einer kommunalen Polizeischule am Unterricht des Einstellungslehrgangs f ü r den mittleren Dienst teil. Anschließend beobachtete er sechs Monate lang die Tätigkeit verschiedener Polizeibehörden, indem er sich an Streifen der Schutzpolizei

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I. Einleitung

(300 Stunden) beteiligte und in einer Revierwache (130 Stunden) aufhielt. 160 Stunden verbrachte er bei der Kriminalpolizei. Feest und Blankenburg kamen zu folgenden Ergebnissen: — Die meisten Polizeibeamten stammen aus bäuerlichen oder Arbeiterfamilien, verfügen über Volksschulbildung und haben handwerkliche Berufe erlernt. Ihre Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei und auf der Polizeischule ist weitgehend durch Praxisferne gekennzeichnet. Die Strategien und Verhaltensweisen, die der Polizist für die Bewältigung alltäglicher Situationen benötigt, lernt er erst in der Praxis. — Eine herausragende Bedeutung für das Erlernen bestimmter Handlungsmuster hat die „polizeiliche Subkultur", deren informelle Normen die Solidarität der Beamten untereinander gegenüber einer potentiell gefährlichen Außenwelt und gegenüber ihren Vorgesetzten betonen. — Für die Polizei liegt eine „Situation des Verdachts" dann vor, wenn sie auf mögliche Rechtsbrecher aufmerksam wird. Das Täterbild der Polizisten ist verhältnismäßig vage. Routinestreifen schreiten aufgrund äußerlicher Kriterien ein: „verdächtige" Gegend, „verdächtiges" Aussehen, „verdächtiges" Benehmen. Zu den beargwöhnten Gegenden gehören beispielsweise Vergnügungs- und Arbeiterwohnviertel. Für verdächtiges Aussehen ist vor allem die Kleidung maßgebend. Die Definition des mit Argwohn betrachteten Benehmens als kriminell wird besonders von der Reaktion auf das Erscheinen der Polizei abhängig gemacht. Sind die Ergebnisse dieser empirischen Studie schon überinterpretiert, so haben Rüdiger Lautmann (1971) und Manfred Brüsten (1971, 1975) in der Diskussion zur Polizeiforschung Positionen vertreten, die empirisch nicht nachweisbar waren: — Die Polizei vertritt bei der Aufrechterhaltung der „Sicherheit und Ordnung" die Interessen der Mächtigen und Privilegierten. Sie tut die „schmutzige Arbeit" im Namen und im Auftrag der „herrschenden Minderheit". — Für die Polizeiarbeit ist die „schichtspezifische selektive Sanktionierung" charakteristisch. Die Polizei wählt nämlich Unterschichtsangehörige aus, um ihnen kriminelle Rollen zuzuweisen. In der Zeit von 1964 bis 1967 hat James Q. Wilson (1972) acht Polizeipräsidien im Staat New Y o r k und in den Staaten Illinois und Kalifornien (USA) untersucht. Er kam zu folgenden Ergebnissen: — Die Polizei betrachtet ihre Umgebung mit Mißtrauen. Nach ihrer Meinung ist sie ihr feindlich gesonnen und nicht zur Zusammenarbeit bereit: D e r Bürger arbeitet mit der Polizei nicht zusammen. E r achtet sie nicht. E r kritisiert sie ständig. Er erkennt das Gesetz nur an, weil er fürchtet, bei Gesetzesübertretungen

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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gefaßt zu werden. Die Feindseligkeit der Bevölkerung ist in der Auffassung der Polizei stark übertrieben. Denn Meinungsbefragungen zeigen, daß die Mehrheit der Bürger der Polizei gegenüber freundlich gesonnen ist. Das Heterostereotyp, das Vorurteil, das die Polizei von den Bürgern besitzt, rührt wahrscheinlich daher, daß sie mit einem speziellen Bevölkerungsteil zusammentrifft. Die öffentliche Meinung über die Polizei sagt deshalb nichts über die alltäglichen Kontakte der Polizei aus, die Krisensituationen zu lösen hat. Die Polizeibeamten bilden sich ihre Meinung über die Einstellungen der Bürger aus dem Verhalten der Personen, die Verdächtige, Opfer und Zuschauer in Krisen- und Konfliktsituationen sind. — Das Gesetz ist dem Polizisten nicht hilfreich. Es sagt ihm nur, was er nicht tun soll. Es gibt ihm keine konkreten Handlungsanweisungen, wie er sich in einer bestimmten Situation verhalten soll. Der Polizist muß Krisen- und Konfliktsituationen unter Kontrolle bringen. Er darf nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig tun. Viele Situationen kontrolliert er zwar durch seine bloße Anwesenheit oder durch die Anweisungen, die er gibt und die befolgt werden. In vielen Situationen muß er indessen eingreifen. Er trägt das Risiko der Entscheidung, ob er etwas tut und was er tut. — Polizisten kritisieren häufig Mittelschichtsfamilien, daß sie ihre Kinder übermäßig beschützen und daß sie ihnen gegenüber überaus nachsichtig sind. Mittelschichtseltern benutzen ihren Einfluß, um polizeiliche Entscheidungen zu bestimmen. Das ist die eine Seite. Bei Begegnungen mit der Polizei arbeiten Mittelschichtsfamilien andererseits in der Regel gut mit der Polizei zusammen; sie sind höflich und der Autorität gegenüber ehrerbietig und fügsam, was man von Unterschichtsfamilien nicht behaupten kann. — Der Konflikt, der zwischen Polizisten und Richtern häufig besteht, ist nicht auf die Strafeinstellung der Polizisten und die Behandlungsorientierung der Richter zurückzuführen. Vielmehr beruht er auf dem Umstand, daß beide Berufsgruppen ihr Recht behaupten wollen, selbständige Entscheidungen zu fällen. Der Polizist, der mit weniger Informationen und größerer Schnelligkeit entscheiden muß, sieht sich oft vom Richter im Stich gelassen. Wenn der Richter anders urteilt, als er entschieden hat, fühlt er sich selbst angeklagt. Der Richter hat indessen mehr Informationen; er kann in größerer Ruhe und nach reiflicherer Überlegung entscheiden. Er muß in seinem Urteil zudem auf die Plädoyers des Staatsanwalts und des Verteidigers Rücksicht nehmen. In den Jahren 1962 bis 1966 hat Albert J. Reiss (1967, 1971) Polizei-Patrouillen (mobile und Fußstreifen) in den Städten Detroit, Chikago, Boston und Washington D. C. begleitet und beobachtet. Er hat bis zu 36 Assistenten und fortgeschrittene Studenten als Beobachter eingesetzt. Es wurden mehr als 200 verschiedene Streifen, 5 360 Polizeieinsätze und 11 255 Polizei-Bürger-Begegnungen untersucht. Reiss kam zu folgenden Forschungsergebnissen:

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I. E i n l e i t u n g

— In der Öffentlichkeit überwiegt die Meinung, die Polizei sei proaktiv in ihrer Arbeit. Sie spielt eine proaktive Rolle, wenn sie auf eigene Initiative tätig wird: Sie hält Personen an, sie durchsucht und befragt sie. Sie ist jedoch in Wirklichkeit eine reaktive Organisation: Bürger bringen ihr Straftaten zur Kenntnis. Sie sprechen Polizeistreifen an, kommen zum Polizeirevier und telefonieren mit der Polizei. Die proaktive Tätigkeit der Polizei ist wesentlich geringer als ihre reaktive. Bürger sind die „Türhüter" zum Kriminaljustizsystem. Sie fällen die Entscheidung, ob sie die Polizei rufen wollen oder nicht. Deshalb trifft die H y p o these nicht zu, die Polizei wähle im Interesse einer mächtigen Minderheit von Kapitalisten Unterschichtsangehörige aus und weise ihnen kriminelle Rollen zu. Vielmehr tragen Bürger wesentlich dazu bei, daß die Polizei gegen andere Bürger vorgeht. Ohne die Mitarbeit der Bürger sind Verbrechen nicht zu klären. Selbst wenn die meisten Verbrechen ohne ihre Mitarbeit aufgeklärt werden könnten (was nicht der Fall ist), würden die entstehenden durchschnittlichen Kosten die Möglichkeiten des Staates bei weitem übersteigen. Zur Wirksamkeit der Polizeiarbeit ist es deshalb unerläßlich, daß die formelle Sozialkontrolle durch die Polizei gut in die informelle Sozialkontrolle durch Familie, Nachbarschaft, Schule, Berufs- und Freizeitgruppe eingeordnet ist. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte brauchen die Mitarbeit des Opfers und des potentiellen O p fers. Eine Fülle von Entscheidungen der Sozialkontrolle werden ohne Gerichtsverfahren durch die Bürger, durch die Polizei und durch die Staatsanwaltschaft gefällt. — Die Mehrheit der Polizeibeamten meint, daß die Entscheidungen der G e richte zu milde seien. Der Konflikt zwischen Polizisten und Richtern beruht auf folgendem U m s t a n d : Ungebührliches Bürgerverhalten, das von der Polizei — nach Ansicht der Richter — ertragen werden muß, wird vom Gericht nicht geduldet. Viele Richter, die der Ansicht sind, die Polizei müsse die Mißachtung ihrer Autorität durch den Bürger hinnehmen, weil es nun mal zum Beruf des Polizisten dazugehöre, vom Bürger herabgesetzt zu werden, bestrafen Angeklagte wegen wesentlich geringerer Ungebühr vor Gericht, als sie sie der Polizei zumuten. N o c h empfindlicher reagieren Polizeibeamte, wenn sie erleben müssen, daß Verdächtige während ihrer Verhaftung und während der Gerichtsverhandlung ein völlig anderes Verhalten an den T a g legen. Während sie sich ihrer Verhaftung widersetzen, bringen sie dem Gericht gegenüber Reue und Zerknirschung zum Ausdruck. — Die Polizei besitzt das Gewaltmonopol. Sie darf allein Gewalt in gerechtfertigter Weise einsetzen. Beim Mißlingen jeder friedlichen Konfliktlösung kann sie gerufen werden. Hinter der Polizei steht niemand mehr; sie kann niemanden mehr rufen, wenn sie mit der Situation nicht fertig wird. V o n den Polizisten erwartet die Öffentlichkeit, daß sie die Gesetze und ihre Pflichten nicht verletzen, während sie im Dienst sind. Die Öffentlichkeit hält sich nicht daran. Sie beschimpft die Polizisten als „Bullen". Polizeibeamte deuten jede Verweigerung

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v o n E h r e r b i e t u n g , G e f ü g i g k e i t , N a c h g i e b i g k e i t als H e r a u s f o r d e r u n g i h r e r A u t o rität; sie b e m ü h e n sich, ihr A n s e h e n z u w a h r e n . W e n n d e r B ü r g e r sich f ü g t , besteht kein A n l a ß , M a c h t u n d A n s e h e n z u b e h a u p t e n . D i e Polizei w e n d e t in S i t u a t i o n e n G e w a l t a n , in d e n e n u n k l a r w i r d , w e r z u b e s t i m m e n h a t , w e r die „ D e f i n i t i o n s m a c h t " besitzt. D i e „ P o l i z e i s u b k u l t u r " (Reiss 1971, 150) w i r d in Sit u a t i o n e n w i r k s a m , in d e n e n die Polizei g l a u b t klarstellen z u m ü s s e n , w e r die D e f i n i t i o n s m a c h t besitzt. Sie v e r f ü g t ü b e r s t a r k e s u b k u l t u r e l l e A n n a h m e n , d a ß d e r Polizist, d e r H e r a u s f o r d e r u n g e n seiner A u t o r i t ä t d u l d e t , j e d e n R e s p e k t beim B ü r g e r verliert u n d d a ß e r die polizeiliche A r b e i t d a m i t u n m ö g l i c h m a c h t . K e i n e H e r a u s f o r d e r u n g d e r P o l i z e i a u t o r i t ä t d a r f u n b e a n t w o r t e t bleiben, es sei d e n n , d e r B ü r g e r f ü g t sich. V i e l e P o l i z e i b e a m t e g l a u b e n gleichzeitig, d a ß z a h l r e i c h e B ü r g e r , i n s b e s o n d e r e U n t e r s c h i c h t s a n g e h ö r i g e , n u r die A u t o r i t ä t v e r s t e h e n , die man ihnen aufzwingt. M ä n n e r der Mittelschicht beantworten G e w a l t a n w e n d u n g e n mit f e i n e r e n F o r m e n s y m b o l i s c h e r A g g r e s s i o n ; sie n e i g e n d a z u , die L ö s u n g v o n K o n f l i k t e n z u v e r t a g e n . U n t e r s c h i c h t s a n g e h ö r i g e r e a g i e r e n auf k ö r p e r l i c h e F o r m e n d e r G e w a l t s o f o r t mit k ö r p e r l i c h e r A g g r e s s i o n . D i e P o l i z e i f ü r c h t e t Bes c h w e r d e n v o n M i t t e l s c h i c h t s a n g e h ö r i g e n m e h r als v o n M i t g l i e d e r n d e r U n t e r schicht. W e n n M ä n n e r d e r M i t t e l s c h i c h t die P o l i z e i a u t o r i t ä t in F r a g e stellen, hält sich die Polizei z u r ü c k . A u f die M i ß a c h t u n g i h r e r A u t o r i t ä t d u r c h M ä n n e r d e r U n t e r s c h i c h t a n t w o r t e t die Polizei indessen h ä u f i g mit G e g e n a g g r e s s i o n . — Einige Polizeibeamte begehen Diebstahl, Unterschlagung, Einbruch, E r p r e s s u n g ; sie lassen sich bestechen, sie sagen falsch aus; sie unterstützen das organisierte V e r brechen. Etwa einer von fünf Polizeibeamten verübt Gesetzesverletzungen im Dienst (Reiss 1971, 156). D e r H a u p t g e s e t z e s v e r s t o ß b e s t e h t d a r i n , G e l d , W a r e n u n d D i e n s t l e i s t u n g e n illegal z u e r l a n g e n . Polizisten sehen m i t u n t e r v o n A n z e i g e n ab, w e n n sie Geld d a f ü r b e k o m m e n . Es h a n d e l t sich f ü r sie u m leicht v e r dientes G e l d , u m eine E i n k o m m e n s v e r b e s s e r u n g , u m einen N e b e n v e r d i e n s t mit g e r i n g e m Risiko d e r S a n k t i o n i e r u n g . Es gibt P o l i z i s t e n , die s a g e n , sie k ö n n t e n auf diese W e i s e genausoviel v e r d i e n e n w i e ihr G e h a l t . W e n n ein Polizist bei ein e r V e r k e h r s ü b e r t r e t u n g v o n e i n e r A n z e i g e absieht, h a t d e r B ü r g e r in d e r Regel ein G e s c h ä f t g e m a c h t , w e n n er d e m Polizisten d a f ü r e i n e n G e l d b e t r a g z a h l t . D e n n er s p a r t die G e r i c h t s k o s t e n u n d die S t r a f e . Es gibt eine G r a u z o n e d e v i a n ten V e r h a l t e n s v o n Polizisten. G e s c h ä f t s l e u t e servieren i h n e n k o s t e n l o s e G e t r ä n k e u n d Speisen, m a c h e n i h n e n G e s c h e n k e z u G e b u r t s - u n d F e i e r t a g e n , geb e n ihnen e r h e b l i c h e P r e i s n a c h l ä s s e b e i m W a r e n k a u f . E t w a ein D r i t t e l aller G e s c h ä f t s l e u t e v e r h ä l t sich so. Es spricht sich u n t e r Polizisten h e r u m , w e r N a c h lässe g e w ä h r t . D e r E i n w a n d , G e s c h ä f t s l e u t e w ü r d e n sich d e r P o l i z e i g e g e n ü b e r d a f ü r d a n k b a r z e i g e n , d a ß sie v o n ihr b e s c h ü t z t w ü r d e n , ü b e r z e u g t nicht. D e n n die „ p e r s ö n l i c h e n B e z i e h u n g e n " z w i s c h e n G e s c h ä f t s l e u t e n u n d P o l i z i s t e n e r w i e sen sich bei d e r V e r b r e c h e n s v o r b e u g u n g u n d - b e k ä m p f u n g als a b s o l u t u n w i r k sam. D i e P o l i z i s t e n sollen v i e l m e h r d u r c h die i h n e n g e w ä h r t e n G e f a l l e n d a z u v e r a n l a ß t w e r d e n , ihre D i e n s t p f l i c h t e n z u v e r l e t z e n , w e n n G e s c h ä f t s l e u t e bei S t r a f t a t e n a u f f a l l e n sollten. Polizisten s c h l a f e n u n d t r i n k e n A l k o h o l im D i e n s t .

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I. Einleitung

Sie entfernen sich aus dem Dienst zu privaten Zwecken. Sie fälschen Polizeiinformationen. Der Umfang ihrer Gesetzes- und Pflichtverletzungen hängt von ihrer Beaufsichtigung und Kontrolle ab. In die Slum-(Elends-)bezirke der Großstädte werden die Polizisten (und übrigens auch Lehrer) mit der nachlässigsten Dienstauffassung (straf-)versetzt. Dort müßten aber gerade wegen der hohen Kriminalitäts- und Delinquenzbelastung die besten Beamten arbeiten. — Durch das Polizeiverhalten fühlt sich der Bürger in einer Demokratie häufig in seiner Menschenwürde verletzt. Die Polizei blickt auf ihn herab; sie behandelt ihn als „Nichtperson"; sie benutzt dem Bürger gegenüber eine herablassende, grobe Sprache. Sie degradiert ihn damit. Reiss (1968) hat alle Einzelheiten über Situationen ausgewertet, in denen die Polizei körperliche Gewalt angewandt hat. Manche Polizeibeamte tragen zusätzliche Pistolen und Messer mit sich herum, um notfalls Selbstverteidigung vortäuschen zu können, wenn sie einen Bürger körperlich verletzt oder gar getötet haben. Polizisten wandten ungerechtfertigte Gewalt in Gegenwart der teilnehmenden Beobachter an, die allerdings als Wissenschaftler der Polizeileitung darüber keine Auskunft gaben. Daß Polizisten brutale Handlungen begingen, obgleich Beobachter zugegen waren, erklärt Reiss aus folgendem Umstand: Menschen können ihr Verhalten in Gegenwart anderer nicht so leicht ändern, wie man gemeinhin annimmt. Wenn ein Polizist in einen Streit mit einem Bürger verwickelt wird, vergißt er leicht, daß ein Beobachter anwesend ist. Von 4 604 Bürgern, deren Zusammentreffen mit der Polizei Reiss beobachtete, wurden 27 mißhandelt: 5,9 auf 1 000 Bürger. Alle mißhandelten Personen waren Verdächtige. Einer von zehn Polizisten wendet in Gebieten, die hoch mit Kriminalität belastet sind, manchmal Gewalt in unnötiger Art und Weise an. Polizisten fürchten andere Polizisten als Zeugen ihrer Brutalität nicht. Denn die subkulturellen Normen verbieten es, gegen einen anderen Polizeibeamten auszusagen und Informationen bei Untersuchungen zu liefern. W e r diese Norm verletzt, wird aus dem informellen Leben der Polizei ausgeschlossen. Niemand will mit ihm mehr zusammenarbeiten. Polizeifehlverhalten wird auf diese Weise nur in den seltensten Fällen bestraft. Nach Reiss' Ansicht entartet ein System, das weder Bürger noch Polizisten für ihr gegenseitiges Fehlverhalten zur Verantwortung zieht, zur Polizeiwillkür und zur Polizeibrutalität. Die Polizei im Bezirk Amsterdam-Innenstadt hat der Engländer Maurice Punch (1979) in den Jahren 1974 bis 1976 beobachtet. Er hatte vom „Home Office", das in England die Aufgaben eines Innenministeriums erfüllt, auf seine Bitte, ein englisches Polizeirevier beobachten zu dürfen, einen ablehnenden Bescheid bekommen. Da Punch fließend Holländisch spricht, führte er seine Untersuchung im Polizeibezirk Warmoesstraat im Herzen Amsterdams durch. Es handelte sich um den schwierigsten Polizeibezirk in den Niederlanden, den man als „Rotlichtbezirk" bezeichnen kann und in dem sich viele enge Straßen, Bars, Cafés, Spielkasinos, Hausboote, Bordelle, Sexkinos, Hotels, Pornographieläden, Wohngemeinschaften und Privatklubs befinden. Punch ließ sich sechs Monate lang einer

Einige Probleme kriminologischer Forschung

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Gruppe von Polizeibeamten zuteilen, die in einer Schicht arbeitete und mit denen er zusammen Polizeistreifen durchführte. Er versuchte, sich in die Normen, Werte und in das Verhalten der Beamten „einzufühlen". Denn zu viel Distanz des Beobachters zerstört die soziale Situation, die er beobachten will. Puncb arbeitete also ständig mit einer bestimmten Gruppe von Polizisten zusammen und unterwarf sich genau denselben Pflichten, wie sie die Polizeibeamten zu erfüllen hatten, denen er zugeteilt war. Daß er dieselben Dienststunden einhielt, erleichterte seine „Annahme" durch die Beamten, die ihn fast wie einen Kollegen und Freund behandelten. Punch interviewte Polizeibeamte aller Ränge, beobachtete Polizei-Bürger-Begegnungen auf der Straße und füllte anschließend einen Erhebungsbogen aus. Die Arbeit in einer fremden Sprache und in einer fremden Zivilisation erleichterte ihm den Vergleich. Er hütete sich davor, durch Überidentifikation mit der Polizei seine Forscherrolle zu zerstören. Korruption, Mißhandlung von Verdächtigen, Rassenvorurteile, Mißachtung von Verfassungsrechten der Bürger beobachtete Punch in Amsterdam so gut wie überhaupt nicht. Der größte Teil der Polizeiarbeit war Routine, friedlich, unproblematisch, ja sogar langweilig. Manchmal „explodierte" die Routine in unvorhergesehene, gefährliche Situationen. Trotz eines hohen Lebensstandards und trotz eines Wohlfahrtsstaats gibt es hohe Kriminalität und Jugenddelinquenz in Amsterdam. Trotz Toleranz gegenüber Sozialabweichung (Rauschmittelmißbrauch, Prostitution) und trotz antiautoritärer, liberaler Einstellung der Polizei wird sie zum Sündenbock für angebliches autoritäres Verhalten gemacht, da sie sozial sichtbar ist. Punch erkannte die große Bedeutung einer funktionierenden informellen Sozialkontrolle f ü r die Wirksamkeit der Polizeiarbeit. Wenn die Polizei die Rolle einer „Besatzungsarmee" zugewiesen bekommt, mit der niemand zusammenarbeiten will, wird die Polizeiarbeit erfolglos. Punchs ausschlaggebender Eindruck war die Verunsicherung der holländischen Polizei, in der er eine Antwort auf ein Autoritätsvakuum erkannte. Radikale, „kritische" Kriminologen reden der Demoralisierung der „Kontrollagenten" das Wort. Das ist — nach Punchs Meinung — in Amsterdam nicht mehr nötig. Der Polizeibeamte erfüllt seine Pflicht als Fremder unter Fremden. Er ist isoliert und spielt eine reaktive Rolle. Seine Wertvorstellungen sind verwirrt. In der Strafanstalt ereignen sich bisweilen Gewalthandlungen. Strafgefangene werden degradiert, zu Objekten gemacht und unmenschlich behandelt. Die psychopathologische Hypothese behauptet, daß solche Brutalität auf die „Bewachermentalität" zurückzuführen ist, auf ein einzigartiges Syndrom negativer Persönlichkeitszüge, die die Aufsichtsbeamten mit in den Strafvollzug bringen. Abnorm aggressive Menschen wählen diesen Beruf, um an den Strafgefangenen ihre Aggressivität auslassen zu können. Die Hypothese vom sozialen Lernen geht demgegenüber davon aus, daß üble Handlungen nicht notwendigerweise Handlungen böser Menschen sind, sondern daß sie mächtigen sozialen Kräften zugeordnet werden müssen, daß sich antisoziales Verhalten also auf die pathologischen Merkmale der Strafanstaltssituation selbst gründet. Die Psychologen Craig Ha-

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I. E i n l e i t u n g

ney, Curtis Banks und Philip Zimbardo (1973) waren der Ansicht, beide H y p o thesen nur durch ein Strafvollzugsexperiment überprüfen zu können. Sie gaben eine Zeitungsanzeige auf, in der sie nach Freiwilligen f ü r das Leben in einem künstlichen Gefängnis suchten. 75 Interessenten meldeten sich. Sie wurden sorgfältig interviewt und psychodiagnostisch untersucht. N u r die 21 körperlich und seelisch stabilsten, lediglich die sozial reifsten mit dem geringsten antisozialen Vorverhalten wurden ausgewählt. Zehn wurden nach Zufall dazu bestimmt, die Rolle der „Strafgefangenen" zu spielen. Elf Versuchspersonen wurde — ebenfalls nach dem Zufallsverfahren — die Rolle der „Aufsichtsbeamten" zugewiesen. Im Psychologischen Institut der Stanford Universität (Kalifornien) w u r d e eine „Strafanstalt" möglichst naturgetreu eingerichtet. Die 21 Versuchspersonen erhielten eine Bezahlung von je 15 U S - D o l l a r p r o T a g und Person. Das Experiment sollte zwei W o c h e n dauern. Die Versuchspersonen waren gewarnt worden. Man hatte sie darauf hingewiesen, daß ihre Freiheiten und ihre Verfassungsrechte eingeschränkt werden würden. Keine der Versuchspersonen erhielt irgendeine Ausbildung. Den „Aufsichtsbeamten" sagte man nur, sie möchten ein „vernünftiges M a ß an O r d n u n g " aufrechterhalten. Die Versuchsleiter hatten ihnen allerdings ausdrücklich und unbedingt verboten, körperliche Strafen anzuwenden. Die „Aufsichtsbeamten" glaubten, die Versuchsleiter seien vor allem am Verhalten der „Strafgefangenen" interessiert. In Wirklichkeit ging es in dem Experiment um den Einfluß des simulierten, wirklichkeitsgetreu nachgeahmten Gefängnisses auf die Interaktionen zwischen „Aufsichtsbeamten" und „Strafgefangenen". Die „Aufsichtsbeamten" wurden in U n i f o r m e n eingekleidet; sie mußten acht Stunden pro T a g arbeiten. Die „Strafgefangenen" erhielten G e f a n g e n e n kleidung und G e f a n g e n e n k o s t ; sie blieben 24 Stunden in ihren Zellen, konnten jedoch zeitlich begrenzte Besuche von Freunden und V e r w a n d t e n empfangen. Verborgene Kameras und M i k r o p h o n e zeichneten die Interaktionen zwischen „Aufsichtsbeamten" und „Strafgefangenen" auf. Die Versuchsleiter arbeiteten mit der Polizei eng zusammen. Wirkliche Polizeibeamte holten die „Straftäter" von zu H a u s e ab; sie verhafteten sie. Die „Straftäter" w u r d e n durchsucht und in einem Polizeiauto in Handschellen zum Polizeirevier gebracht. D o r t wurden ihnen die Fingerabdrücke genommen. V o r Einweisung in die Strafanstalt wurden sie entlaust und über ihre Rechte nach dem Strafvollzugsgesetz und nach der H a u s o r d n u n g belehrt. Sie mußten ihre persönliche H a b e abgeben. Als Gefangenenkleidung erhielten sie Kittel, die ihre Entmännlichung symbolisieren und sie in den Augen der „Aufsichtsbeamten" und in ihrer eigenen Sicht lächerlich machen sollten. Die „Aufsichtsbeamten" mußten sie mit „ H e r r Aufseher" anreden. Sie selbst wurden nur mit N u m m e r n bezeichnet. Das Experiment gelangte zu folgenden Ergebnissen: — Fünf von zehn „Strafgefangenen" mußten am zweiten T a g ihres „Strafanstaltsaufenthaltes" vorzeitig entlassen werden. Sie litten an W e i n k r ä m p f e n , W u t anfällen, Angst, Depressionen und psychosomatischen Symptomen.

Einige P r o b l e m e k r i m i n o l o g i s c h e r F o r s c h u n g

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— Die „Strafgefangenen" hatten ihre „Hilflosigkeit" schnell gelernt. Sie verhielten sich unterwürfig und passiv. Sie verloren ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Sie lehnten sich selbst ab und verfielen in Depression, in Niedergeschlagenheit. — Obgleich man „Aufsichtsbeamten" und „Strafgefangenen" die Wahl gelassen hatte, jede Form der Interaktion anzuwenden (negative oder positive, hilfreiche oder ablehnende Interaktionen), w a r negatives, feindliches und unpersönliches Verhalten f ü r ihre Begegnungen charakteristisch. Ihre Gespräche waren ohne persönliche N o t e und menschliche W ä r m e . Die häufigste Form ihres verbalen Verhaltens waren Befehle, die die „Aufsichtsbeamten" gaben. — Das Strafvollzugsexperiment mußte nach sechs T a g e n vorzeitig abgebrochen werden. Die ständigen Belästigungen und Quälereien der „Strafgefangenen" durch die „Aufsichtsbeamten" hatten so z u g e n o m m e n , daß sie f ü r die „Strafgefangenen" unerträglich geworden waren. Die Entscheidungen der „Aufsichtsbeamten" waren willkürlich. Sie beschimpften, bedrohten und demütigten die „Strafgefangenen". Die „Aufsichtsbeamten" bedauerten den Abbruch des Experiments; sie hatten Gefallen an ihrer Rolle gefunden. Ein Verhalten, das nicht hart und anmaßend war, w u r d e von ihnen als Zeichen der Schwäche beurteilt. Wenigstens ein Drittel aller „Aufsichtsbeamten" legte ein so aggressives und unmenschliches Verhalten den „Strafgefangenen" gegenüber an den T a g , daß die Versuchsleiter glaubten, die Fortsetzung des Experiments nicht mehr rechtfertigen zu können. Haney, Banks und Zimbaräo zeigten sich überrascht, in wie kurzer Zeit sich psychisch normale Menschen in zwei Gruppen teilen ließen, deren eine Gefallen an Quälereien, Beschimpfungen und Bedrohungen anderer Menschen fand und deren andere in Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Selbstablehnung verfiel. „Sehr dramatisch und quälend w a r f ü r uns die Beobachtung der Leichtigkeit, mit der sadistisches Verhalten bei Personen hervorgerufen werden konnte, die keine „sadistischen T y p e n " waren, und der Häufigkeit, mit der sich Gefühlszusammenbrüche bei Männern ereigneten, die eben wegen ihrer emotionalen Stabilität ausgewählt worden w a r e n " (1973, 89). Sie fanden die Abnormität in der Soziodynamik der Strafanstaltssituation und nicht in der Psychopathologie derjenigen, die diese Situation durchlaufen. Die Aggressivität der „Aufsichtsbeamten" w a r die erlernte Folge der Rolle, die man den Versuchspersonen zugewiesen hatte, und der Macht, die mit dieser Rolle verbunden war. Haney, Banks und Zimbardo sind kritisiert worden, weil sie ihre Versuchspersonen täuschten und sie kurzzeitigen psychischen Leiden unterwarfen. Sie ließen nämlich die „Aufsichtsbeamten" glauben, sie seien vor allem an dem Verhalten der „Strafgefangenen" interessiert. Sie erzeugten bei den „Aufsichtsbeamten" möglicherweise Schuldgefühle, weil sie sich w ä h r e n d des Experiments zu so unangenehmen Menschen entwickelten. Die Versuchspersonen nahmen an dem Experiment zwar freiwillig teil; sie wußten aber nicht, auf was sie sich einließen (Arnold Binder, Gilbert Geis 1983, 3 1 - 3 4 ) .

II. Die Kriminologie als Humanund Sozialwissenschaft

1. Der Verbrechensbegriff in der Kriminologie Der Begriff „Verbrechen" (lateinisch: Crimen), mit dem man eine einzelne kriminelle Handlung oder Unterlassung bezeichnet, und der Ausdruck „Kriminalität", unter dem man eine Gesamtheit vieler Verbrechen innerhalb einer bestimmten Zeit und eines begrenzten Raumes versteht, sind unerträgliche Abstraktionen, obwohl sie im wissenschaftlichen wie im alltäglichen Sprachgebrauch ziemlich unbekümmert und unkritisch ständig verwandt werden. Die Dimensionen des „Verbrechens" reichen von relativ unbedeutenden Ladendiebstählen und Straßenverkehrsdelikten bis hin zu Straftaten wie Raub, Vergewaltigung und Mord, die in der Bevölkerung als schwere Rechtsbrüche empfunden werden und auf die die Öffentlichkeit empfindlich reagiert. Bedenkt man weiterhin, daß der Begriff „Kriminalität" so unterschiedliche Phänomene wie Straßenkriminalität, politische Kriminalität, organisierte Kriminalität, Wirtschaftskriminalität, Verkehrskriminalität und Berufskriminalität decken soll, so wird die große Schwierigkeit erkennbar, den Kriminalitätsbegriff zu definieren. Auf jeden Fall empfiehlt es sich, bei theoretisch- und empirisch-kriminologischen Untersuchungen und Diskussionen, die wissenschaftliches Niveau beanspruchen und für die der Verbrechensbegriff eine wesentliche Grundlage bildet, den jeweils gemeinten Verbrechens- oder Kriminalitätsbegriff vorher klar zu umreißen. Selbst wenn unterschiedliche Richtungen innerhalb der Kriminologie zu verschiedenen Definitionen gelangen sollten, wären damit verschiedene Ausgangslagen klar abgesteckt, was zur Vermeidung von Mißverständnissen und zur Versachlichung der Diskussion beitragen kann. Die Feststellung genügt nicht, daß es einen allgemein verbindlichen und überall geltenden, inhaltlich identischen Verbrechensbegriff nicht gibt (Hans Göppinger 1980, 5). Die Kriminologie muß selbst eine Richtschnur dafür entwickeln, was sie unter Verbrechen verstehen will. N u r auf diese Weise können Kriminologen ein Mindestmaß an Einigung darüber erzielen, „wo sie nach möglichen Problemen Ausschau halten müssen". Sonst fehlt ihnen ein Bezugssystem und ein Kompaß, um sich in einem Meer fragwürdiger Fakten zurechtzufinden (Hermann Mannheim 1974, 40). Da es wenig Spezialisierung auf ein Delikt oder eine Deliktsgruppe gibt, muß das Gemeinsame aller Kriminalitätsformen herausgearbeitet werden. Verbrechen ist nicht nur eine Art der Definition und Reaktion auf bestimmte Ereignisse (Louk Hulsman 1985). Die Definition und die Reaktion erlangen auch innerhalb und außerhalb des Kriminaljustizsystems Realität.

Verbrechensbegriff in der Kriminologie

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Die naturrechtlich-ethische Definition Sie geht davon aus, daß es eine von Zeit und Raum unabhängige Kriminalität gibt. Diese Kriminalitätsdefinition stimmt mit einer apriorischen Werterkenntnis überein. Der italienische Kriminologe Raffaele Garofalo, der im Jahre 1885 erstmals ein Buch unter dem Titel „Kriminologie" veröffentlichte und der damit den modernen Sprachgebrauch für die Benennung der Tatsachenwissenschaft vom Verbrechen maßgeblich beeinflußte, setzte sich im ersten Kapitel seines Buches für das Konzept des „natürlichen Verbrechens" ein, unter dem er alle Handlungen verstanden wissen wollte, die jede zivilisierte Gesellschaft als kriminell beurteilen muß. Das Wort „natürlich" sollte also im Sinne „sozialer Natur" aufgefaßt werden. Er beabsichtigte damit, den Verbrechensbegriff losgelöst von den besonderen Bedingungen und Erfordernissen einer bestimmten Epoche und von den speziellen Gesichtspunkten eines konkreten Gesetzgebers erläutern zu können. In der Verletzung des durchschnittlichen Maßes an Mitleid und Redlichkeit erblickte er das Wesen des „natürlichen Verbrechens". Einen ähnlich absoluten Verbrechensbegriff entwickelte der niederländische Kriminologe Hermannus Bianchi im Jahre 1956. Er versteht unter Verbrechen eine sündhafte, ethisch tadelnswerte, herausfordernde und irrige Handlung, die möglicherweise durch Strafgesetz verboten ist und die es unbedingt erfordert, daß man auf sie bewußt von Seiten der Gesellschaft reagiert. Bianchi vermischt hier mit dem Verbrechensbegriff nicht nur den Ausdruck der Sünde, sondern er versucht auch, diesen Begriff aus einer ansichseienden Werteordnung zu begründen. Sünde ist ein moralisches und religiöses Konzept, das den Ungehorsam gegen das Sittengesetz oder göttliches Gebot bezeichnet. Verbrechen ist ein weltlicher Verstoß, der Sünde sein kann, es aber nicht unbedingt zu sein braucht. Beide Konzepte sollten auseinandergehalten werden. Eine „vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte", ein Wertobjektivismus (Nicolai Hartmann 1949; Max Scheler 1954) ist heute nicht mehr allgemein anerkannt. Werte (Idealvorstellungen) und Normen (gebilligtes und mißbilligtes Verhalten) unterscheiden sich von Zeit zu Zeit und von Land zu Land. Jedes Verbrechen fügt sich in eine bestimmte Gesellschaft mit ihren Besonderheiten zeitlich und örtlich ein. Es gibt — wenn überhaupt — nur ganz wenige Handlungen oder Unterlassungen, die in jeder Gesellschaft ohne Unterschied als Verbrechen bewertet werden. Was Verbrechen ist, bestimmt sich nach der jeweiligen Struktur eines Gesellschaftssystems und nach der jeweiligen Lage, in dem sich der Gesellschaftsprozeß befindet. Ein „natürliches Verbrechen" gibt es nicht.

D i e strafgesetzliche Definition Für sie ist die Verletzung von Strafrechtsnormen bedeutsam. Schon im Jahre 1933 definierten die nordamerikanischen Kriminologen Jerome Michael und Mortimer J. Adler. Verbrechen ist ein Verhalten, das durch Strafgesetz verboten ist.

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft

Nach Edmund Mezger (1951) bestimmt die Strafrechtswissenschaft den kriminologischen Verbrechensbegriff. Kriminologie wird so zur strafrechtlichen Hilfswissenschaft. Auch für Paul W. Tappan (1960) ist der Bruch des Strafgesetzes für den kriminologischen Verbrechensbegriff kennzeichnend. Der dänische Kriminologe Karl Otto Christiansen versteht (1977 c, 196) schließlich Verhalten als Kriminalität, dessen Inhalt durch die Verbots- und Gebotsnormen der Strafgesetzgebung beschrieben worden ist und das die im Strafgesetzbuch niedergelegten Sanktionen nach sich zieht, weil es die strafgesetzlichen Verbots- und Gebotsnormen übertritt. Die strafgesetzliche Verbrechensdefinition hat den Vorteil größtmöglicher Bestimmtheit, obgleich die Strafrechtsnormen vom Gesetzgeber mitunter unklar formuliert werden. Sie verweist auf das Strafgesetzbuch, die strafrechtlichen Nebengesetze, die Strafrechtsnormen neben dem Strafgesetzbuch enthalten, und die höchstrichterliche Rechtsprechung (Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte), die die Normen der Strafgesetze auslegt. Strafgesetze und höchstrichterliche Rechtsprechung definieren, was Kriminalität ist. Es gibt kein Verbrechen ohne den Staat und ohne ein Gesetz (nullum crimen sine lege). Dieser Umstand gibt den Bürgern eine rechtsstaatliche Garantie, die von großer Bedeutung und von hohem Wert ist. Gleichwohl kann die strafgesetzliche Verbrechensdefinition für die Kriminologie nicht allein bestimmend sein. Denn sie besitzt den Nachteil, daß sie zeitlich wie örtlich an eine bestimmte Rechtsordnung gebunden ist, so daß kriminologische Vergleichsuntersuchungen mit Ländern unmöglich werden, in denen eine andere Strafrechtsordnung herrscht. Schwerwiegender ist der Mangel noch, daß die Kriminologie als „strafrechtliche Hilfswissenschaft" das Zustandekommen, die Anwendung und die Wirkung von Strafgesetzen nicht zu untersuchen vermag. Sie muß als „Magd" des Strafrechts von gesetzten Strafrechtsnormen ausgehen. Sie empfängt ihren Gegenstand aus den Händen der Strafrechtswissenschaft. Damit wird sie nicht in die Lage versetzt, die Strafgesetzgebung und -anwendung in einem Unrechtssystem (z. B. im Nationalsozialismus) kritisch zu analysieren oder im demokratischen Rechtsstaat die Wirksamkeit der Strafgesetzgebung und -anwendung für die Kriminalitätskontrolle zu untersuchen. D i e soziale Definition Sie will Strafrechtsnormen durch Verhaltensnormen ersetzen. Für eine soziale Definition des Verbrechens hat sich vor allem Thorsten Sellin (1938) eingesetzt: Soziale Gruppen, z. B. Familie, Spiel- und Arbeitsgruppen, politische und religiöse Gruppen, unterwerfen das Verhalten ihrer Mitglieder bestimmten Beschränkungen, die den Schutz sozialer Werte zum Ziele haben. Eine Verhaltensnorm ist eine Vorschrift, die einer bestimmten Person, deren Status innerhalb einer normgebenden Gruppe festgelegt ist, eine bestimmte Art des Verhaltens unter bestimmten Lebensumständen gebietet oder verbietet. Persönliche Reaktionen

V e r b r e c h e n s b e g r i f f in der K r i m i n o l o g i e

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werden durch Verhaltensnormen bestimmt. Es gibt eine normale (richtige) und eine abnorme (falsche) Art der Reaktion. Verhaltensnormen beherrschen und steuern Lebenssituationen. Verhaltensnormen findet man überall, wo man soziale Gruppen findet. Sie werden durch keine politischen Grenzen beschränkt. Informelle Sanktionen richten Schranken, Sperren, Hindernisse gegen die Verletzung von Verhaltensnormen auf. Ihre Stärke wird durch den Gruppenwiderstand gegenüber dem abgelehnten Verhalten bestimmt. Hohn und Spott können bereits wirksame Sanktionen sein. Durch sie bekommt der Sozialabweichler Rechte, Vorrechte und Vorteile entzogen, die ihm seine Gruppe gewährt. Verhaltensnormen erreichen Gültigkeit in dem Maße, in dem sie von den Persönlichkeiten der Gruppenmitglieder verinnerlicht werden. Sie werden zu Persönlichkeitselementen, die nicht nur in die rationalen, sondern bis in die emotionalen Schichten der Persönlichkeit eingehen. Verhaltensnormen kennt man nicht nur, man fühlt sie auch. Stephan Hurwitz (1952), Hermann Mannheim (1974) und Armand Mergen (1978) wollen den kriminologischen Verbrechensbegriff an der Antisozialität des Verhaltens, an seiner Sozialgefährlichkeit und seiner Sozialschädlichkeit festmachen. Karl-Dieter Opp (1968 a) definiert das sozialabweichende Verhalten als die Verletzung von Erwartungen der zahlenmäßig größten Zahl der Mitglieder der Gesellschaft. Die Flexibilität, Variabilität und Unbestimmtheit des sozialen Verbrechensbegriffs ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche. In sozialen Gruppen können in unendlich mannigfaltiger Weise Verhaltensnormen entstehen. Solche Normen können sich nicht nur ergänzen, sondern auch widersprechen. Was in einer Gesellschaft als sozialabweichendes Verhalten gilt, hängt letztlich von der öffentlichen Meinung ab, d. h. von der Meinung, die man öffentlich äußern kann, ohne sich damit von seinen Mitmenschen zu isolieren (Elisabeth Noelle-Neumann 1979). In einer pluralistischen Gesellschaft schwankt die öffentliche Meinung über sozialabweichendes Verhalten hin und her. Was als sozialschädlich oder -gefährlich, was als antisozial, als gemeinschaftsverletzend oder -gefährdend angesehen wird, ist im Sozialprozeß zeitlich und örtlich verschieden. Deshalb ist die Sozialabweichung zur Bestimmung des Verbrechensbegriffs weniger geeignet. Als Sozialabweichung, die mannigfaltige Formen umschließen kann: z. B. Alkoholismus, Prostitution, Selbstmord, behält die Devianz indessen ihren Wert und ihre Bedeutung innerhalb der Kriminologie. D i e strafgesetzlich-soziale Definition Sie versucht, den Verbrechensbegriff in doppelter Weise festzulegen: durch die Antisozialität des Verhaltens und durch das Strafgesetz. Nach Willem Adriaan Bonger (1936) ist das Verbrechen eine schwerwiegende antisoziale Handlung, auf die der Staat dadurch reagiert, daß er sie mit Leiden (Strafen oder Maßregeln) belegt. Thomas Würtenberger meint (1957, 39), die Kriminologie könne nicht selbstherrlich bestimmen, was ein Verbrechen sei. Nach seiner Meinung

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft

leitet es sich vielmehr aus den „herrschenden sozialethischen Anschauungen innerhalb eines Volkes, mehr noch aus den Normen des staatlichen Strafgesetzes" ab, „die Umkreis und Gehalt des strafbaren Unrechts abschließend bestimmen". Für Erich Buchholz, Richard Hartmann, John Lekschas und Gerhard Stiller (1971, 54) ist Kriminalität eine gesellschaftliche Erscheinung und ein rechtliches Phänomen. „Das Recht ist keine irgendwo und irgendwie existierende abstrakte Norm, sondern Instrument zur Gestaltung gesellschaftlicher Lebensprozesse und damit ein notwendiger Bestandteil und eine notwendige Seite dieser gesellschaftlichen Prozesse und Erscheinungen selbst." Marshall B. Clinard (1974, 258) definiert das Verbrechen als ein Verhalten, das als sozialschädlich angesehen wird und das der Staat bestraft. Es ist zwar zutreffend, daß das Verbrechen als Einzeltat und die Kriminalität als Massenerscheinung nicht nur rechtliche Phänomene, sondern auch gesellschaftliche Erscheinungen sind. Dennoch empfiehlt es sich nicht, die Begriffe der Sozialabweichung und der Kriminalität miteinander zu vermischen. Es wird dadurch nichts gewonnen. Denn es entsteht ein in sich inhaltlich gespaltener Verbrechensbegriff, der einerseits zu starr, andererseits zu unbestimmt ist. Beide auseinanderfallenden Teile des Begriffs können sich gegenseitig nicht ausgleichen und ergänzen. Sozialabweichung kann eine einzelne Handlung (oder Unterlassung) oder auch eine Massenerscheinung sein. Kennzeichnend für die Sozialabweichung sind die Verletzung von Verhaltensnormen und die informelle Reaktion auf solche Verletzung, also die Reaktion durch solche Gruppen, die nicht offiziell mit der Verbrechenskontrolle beauftragt sind. Sozialabweichung und Kriminalität existieren in einer Gesellschaft nebeneinander. Zwischen ihnen bestehen zwar mannigfaltige Wechselwirkungen. Sie fallen aber keineswegs stets zusammen. Bisweilen sind nur bestimmte Arten sozialabweichenden Verhaltens unter Strafe gestellt. So ist Prostitution in der Bundesrepublik nur dann strafbar, wenn sie beharrlich an verbotenen Orten (in Sperrbezirken) oder zu verbotenen Zeiten ausgeübt wird (vgl. § 184 a StGB). Bestimmte Formen der Förderung der Prostitution (5 180 a StGB), des Menschenhandels (§181 StGB) und der Zuhälterei (§ 181 a StGB) stehen zwar unter Strafe. Durch solche Strafrechtsnormen soll die Prostitution auch eingedämmt werden. Dennoch wird aufgrund solcher Teilkriminalisierung keineswegs jedes prostitutive Verhalten kriminell, wenn auch zwischen strafloser Prostitution und ihrer strafbaren Förderung die mannigfaltigsten Beziehungen bestehen. Eben wegen dieser Verbindungen zwischen Kriminalität und Sozialabweichung müssen beide gesellschaftlichen Phänomene auseinandergehalten und getrennt voneinander kriminologisch analysiert werden. Hinzu kommt noch, daß Verhalten, das in der Bundesrepublik Deutschland als sozialabweichend angesehen wird, im Ausland als kriminell beurteilt werden kann. So sind in zahlreichen Bundesstaaten der USA alle Formen der Prostitution und alle Beteiligungsarten an ihr (also z. B. auch die Inanspruchnahme der Prostitution durch Kunden) strafbar. Schließlich wird im Sozialprozeß aus kriminellem Verhalten Sozialabweichung und aus sozialabweichendem Verhalten

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V e r b r e c h e n s b e g r i f f in der K r i m i n o l o g i e

Kriminalität. Solche sozialen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse laufen ständig ab: — Durch Artikel 1 Nr. 53 des „Ersten Gesetzes zur R e f o r m des Strafrechts" vom 25. Juni 1969 wurde die V o r s c h r i f t des § 175 b S t G B ( U n z u c h t mit T i e r e n ) aufgehoben ( B G B l . I 6 5 4 ) . In einem Agrarstaat mag die „Unzucht mit T i e r e n " eine große Bedeutung gehabt haben und noch haben. In einer hochindustrialisierten Gesellschaft verfällt sie wegen der hohen Technisierung der Tierhaltung zur Bedeutungslosigkeit. Sie steht als Strafrechtsnorm nur noch auf dem Papier. Sie wird kriminalstatistisch kaum noch ausgewiesen, weil sie von der Bevölkerung nicht mehr für strafwürdig gehalten und nicht mehr angezeigt wird. Gleichwohl bleibt die „Unzucht mit T i e r e n " nach ihrer Entkriminalisierung nach

wie vor sozialabweichendes Verhalten ( R o l a n d Graßberger

Hentig 1962 b).

1968b; Hans

von

— Durch das 18. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. M ä r z 1980 ( B G B l . I 3 7 3 ) wurde der „Achtundzwanzigste Abschnitt: Straftaten gegen die U m w e l t " in das Strafgesetzbuch eingefügt. In diesem Abschnitt sind z. B. die Verunreinigung eines Gewässers, die Luftverschmutzung und die Lärmverursachung, die umweltgefährdende Abfallbeseitigung und der unerlaubte U m g a n g mit Kernbrennstoffen unter Strafe gestellt. S o l c h e umweltgefährdenden Verhaltensweisen wurden bereits seit langem von der Bevölkerung als Sozialabweichung bewertet. Erst mit der Schärfung des Umweltbewußtseins nahm der D r u c k der Öffentlichkeit auf den Strafgesetzgeber zu. W ä h r e n d die „Unzucht mit T i e r e n " 1969 durch den Strafgesetzgeber zur Sozialabweichung „herabgestuft" worden ist, wurden die „Verstöße gegen die U m w e l t " 1980 vom Strafgesetzgeber zur Kriminalität „heraufgestuft". V e r b r e c h e n bedeutet nicht V e r s t o ß gegen Verhaltens- und Strafrechtsnormen. Sozialabweichung existiert vielmehr neben, vor und nach der Kriminalität, die in Sozialprozessen durch Strafgesetzgebung entsteht und vergeht. Sozialabweichung und Kriminalität, die in mannigfaltigen Verbindungen zueinander stehen, dürfen deshalb nicht miteinander vermengt werden.

Die konfliktorientierte Definition Die V e r t r e t e r dieser Definition des Verbrechens bringen in ihrer Begriffsbestimmung zum Ausdruck, daß sie der Meinung sind, daß Verbrechen und Strafen aus sozialen Konflikten erwachsen. N a c h Frank Tannenbaum ( 1 9 3 8 , 8) ist V e r b r e chen eine Nichtanpassung, die aus einem Konflikt zwischen einer Gruppe und der Gemeinschaft entsteht. John Lewis Gillin ( 1 9 4 5 , 9) definiert das V e r b r e c h e n als eine Handlung, die sich als sozialschädlich erwiesen hat oder von der diejenigen annehmen, daß sie sozialschädlich ist, die die M a c h t dazu haben, ihre Ü b e r zeugungen durchzusetzen, und die solches Verhalten unter strafgesetzliche Achtung stellen. H i e r nun setzt die marxistische Definition ein, indem sie konkret

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und Sozialwissenschaft

diejenigen benennt, die definieren, was sie f ü r ein Verbrechen halten: die herrschende Klasse der Kapitalisten. Für den nordamerikanischen Kriminologen Richard Quinney (1975, 37—39) wird das Verbrechen als gesetzliche Definition menschlichen Verhaltens durch die Agenten der herrschenden Klasse in einer politisch organisierten Gesellschaft geschaffen. Definitionen des Verbrechens setzen sich zusammen aus Verhalten, das mit den Interessen der herrschenden Klasse in Konflikt steht. Verbrechensdefinitionen werden von der Klasse angewandt, die die Macht hat, das Strafgesetz zu erfinden und anzuwenden. Eine Ideologie des Verbrechens wird von der herrschenden Klasse entwickelt und verbreitet, um ihre V o r h e r r s c h a f t zu sichern. D e r ungarische Kriminologe Miklös Vennes äußert (1978, 42/43) die Auffassung: Z u r Lösung von Konflikten hat die wirtschaftlich mächtigste Klasse — um ihre beherrschende Stellung zu bewahren — den Staat geschaffen, der durch seine Machtzentren seinen Bürgern seinen Willen aufzwingt. Durch die M a c h t a n w e n d u n g des Staates hat die herrschende Klasse ihre eigenen Interessen auf die Ebene der Interessen der Gesellschaft gehoben, die durch die A n w e n d u n g des Strafgesetzes verteidigt werden. Dieses Konfliktmodell trägt der Kompliziertheit der Strafgesetzgebungs- und -anwendungsprozesse nicht Rechnung. Es läßt den Menschen keine Wahl. Jeder handelt nach seinen Klasseninteressen. Macht verkommt zur bloßen Eigenschaft; sie ist kein Sozialprozeß m e h r ; sie ist nur mehr eine Fähigkeit, sozioökonomische Ansprüche einer G r u p p e , einer Schicht durchzusetzen. Die D y n a m i k der sozialen Reaktion auf Verbrechen kommt nicht mehr z u m Tragen. Die Auffassung, daß sich Strafrechtsnormen aus Meinungsverschiedenheiten unterschiedlicher mehr oder weniger organisierter Interessengruppen innerhalb der Gesellschaft, aus Mehrheits- und Minderheitsmeinungen entwickeln, ist nicht umstritten. Der Konflikt herrscht indessen nur kurzfristig vor; langfristig entwickelt sich durch Gruppeninteraktion Ubereinstimmung (Konsens). In einer D e m o k r a tie werden Strafgesetze erst nach langwierigen Debatten in Ausschüssen und nach A n h ö r u n g verschiedener betroffener Interessengruppen („Hearings") im Parlament verabschiedet. Jeder gibt ein wenig und b e k o m m t ein wenig. G r u p pennormen werden aufgegeben, um mit dem geringstmöglichen O p f e r andere Gruppen in ihren Normvorstellungen zu befriedigen. In der pluralistischen Gesellschaft westlicher Demokratien gibt es zahlreiche „herrschende" Gesellschaftsgruppen, deren Interessen in Widerstreit miteinander stehen und die sich im sozialen System gegenseitig kontrollieren. Nicht nur Arbeitgeberverbände, sondern auch Gewerkschaften üben beispielsweise Macht aus. Man trifft sich in einer „Koalition des höchstmöglichen Gewinns" f ü r jede Gruppe. N a c h zeitraubenden, zähen Verhandlungen überwiegt der K o m p r o m i ß , der jeden einigermaßen zufriedenstellen kann. Strafgesetze spiegeln oft die Interessen und Leitbilder keiner gesellschaftlichen G r u p p e wider, sondern die finanziellen und wirtschaftlichen Zwangslagen vieler G r u p p e n (Edwin M. Lemert 1974; Daniel Glaser 1978, 1 5 / 1 6 ; James T. Carey 1978, 2—10). A u f g r u n d der Beilegung sozialer Konflikte

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durch die Strafgesetzgebung werden freilich — was die Konflikttheorie und der Marxismus verkennen — neue soziale Konflikte hervorgerufen. Die Durchsetzung der geschaffenen Strafrechtsnormen erweist sich als schwierig, weil das kriminalisierte Verhalten bisweilen praktisch nicht kontrollierbar ist. Die Strafrechtsnormen werden mitunter von der öffentlichen Meinung nicht akzeptiert und von den Repräsentanten der formellen Sozialkontrolle, von Polizisten und Strafrichtern, nicht angewandt, die offiziell mit der Verbrechensbekämpfung beauftragt sind. Die Strafrechtsnormen werden manchmal nicht lebendig; sie stehen lediglich auf dem Papier. Polizisten und Strafrichter kommen in Konflikte, weil sie aus der Fülle der Strafrechtsnormen die richtigen auswählen und auf den praktischen Fall angemessen anwenden müssen. Uber das, was sozialabweichend und kriminell ist, besteht weitgehend Ubereinstimmung in der Gesellschaft. Solcher Konsens ist sogar in Gesellschaften mit unterschiedlichen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen und mit verschiedenem Entwicklungsstand vorhanden. Graetne Newman hat (1976) die Beziehungen zwischen Strafgesetz, öffentlicher Meinung und Rechtsbewußtsein (Rechtskenntnis, -gefühl und Vertrauen in die informelle oder formelle Sozialkontrolle) in der Bevölkerung empirisch untersucht. Er hat 512 Versuchspersonen in Indien, 500 in Indonesien, 479 im Iran, 200 in Italien (Sardinien), 169 in den USA (New York) und 500 in Jugoslawien danach gefragt, ob sie Blutschande (Inzest), Raub, Unterschlagung öffentlicher Gelder, Homosexualität zwischen übereinstimmenden verantwortlichen Erwachsenen, Abtreibung innerhalb der ersten beiden Schwangerschaftsmonate, Rauschmittelmißbrauch, Umweltverschmutzung, unterlassene Hilfeleistung und öffentlichen Protest gegen die eigene Regierung als sozialabweichend oder kriminell beurteilen. Uber alle Zivilisationen hinweg bestand Einigkeit darin, daß Raub und Blutschande durch Strafgesetz verboten werden sollten. Inzest erwies sich allerdings als kein so tiefsitzendes, religiöses und kulturelles Tabu, wie man es immer angenommen haue. Eine Minderheit der Befragten in Sardinien, New York und Indien würde das Delikt lieber nicht anzeigen, sondern innerfamiliär kontrollieren. Auch auf den Raub möchte die Hälfte der Befragten in Sardinien lieber informell reagieren. Da sie die Polizisten als Außenseiter betrachteten, zogen es diese Versuchspersonen vor, auf Raub mit Vendetta (Blutrache) zu antworten. Sie wollten das Recht in ihre eigene H a n d nehmen. Daß ein Teil der Befragten Raub und Inzest der Polizei nicht anzeigen wollte, zeigt freilich keineswegs, daß diese Versuchspersonen Raub und Inzest im Sinne der Konflikttheorie für rechtmäßig hielten. Bei der Veruntreuung öffentlicher Gelder fand Newman gleichfalls eine universelle, kulturunabhängige Ubereinstimmung in der Mißbilligung des Delikts durch seine Versuchspersonen. Saß die gefühlsmäßige Ablehnung beim Raub und beim Inzest sehr tief, so waren Stärke und Grad des gefühlsmäßigen Mißfallens bei der Veruntreuung öffentlicher Gelder schwächer, weicher. Beim öffentlichen Protest, bei der Homosexualität, der Abtreibung und bei der Rauschgiftsucht zeigten sich unterschiedliche Beurteilungen: Ein Teil der Befragten sah sie

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als überhaupt nicht sozialabweichend, ein Teil als kriminell an. Die unterschiedlichen Bewertungen wurden indessen nicht durch die Schichtzugehörigkeit der Befragten bestimmt, sondern durch Faktoren wie religiöse Uberzeugung, großstädtischer oder ländlicher W o h n o r t und niedrigere oder höhere Ausbildung. Bei der unterlassenen Hilfeleistung herrschte in den untersuchten Gesellschaften weder Ubereinstimmung noch Konflikt, sondern Normlosigkeit vor. Man war verhaltensunsicher und wußte nicht, wie man dieses Delikt beurteilen sollte. In den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Ländern entdeckte Newtnan die liberalsten öffentlichen Meinungen über Sozialabweichung und Kriminalität. In diesen Gesellschaften war die informelle Sozialkontrolle durch Familie, Schule, Religion weitestgehend geschwächt. In primitiveren Gesellschaften wie in Indonesien werden Homosexualität, Abtreibung, Rauschgiftsucht und unterlassene Hilfeleistung noch durch den Dorfältesten kontrolliert. Ein großer Teil der Befragten in den USA und Jugoslawien sprach sich dafür aus, Inzest, Rauschgiftsucht und Homosexualität nicht durch die Polizei und die Strafgerichte, sondern durch die Gesundheitssysteme beider Länder zu überwachen.

Die psycho- und soziodynamische, realistische Definition Ihr kommt es darauf an, daß „kriminell" eine Benennung ist, die an ein menschliches Verhalten von außen herangetragen wird, und daß diese Benennung in einer Demokratie letztlich von der Mehrheit der Bevölkerung und in einer Diktatur vom Willen der Machthaber abhängt. Nach Hans von Hentig (1947, 6) richtet sich das, was kriminell ist, nach der Billigung der Mehrheit in einer Gesellschaft: Ob eine Handlung ein Verbrechen ist oder nicht, bestimmt sich nach den zahlenmäßigen Verhältnissen zwischen denen, die sich des Strafgesetzes zum Schutz der Gesellschaft bedienen, und denen, die es brechen. Richard R. Korn und Lloyd W. McCorkle (1967, 46) definieren: Verbrechen ist eine H a n d lung oder Unterlassung, deren Qualität „kriminell" einer Person von staatlichen Institutionen zugeschrieben wird, die politische Kontrolle über das Gebiet ausüben, in dem sich die Person befindet. Für Hugh D. Barlow (1978, 10) ist Verbrechen schließlich eine Benennung, mit der menschliches Verhalten durch die bezeichnet wird, die das Strafgesetz schaffen und anwenden. Kriminalität wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungsund Entkriminalisierungsprozeß. In diesem Sozialprozeß kommt es nicht nur auf den Erlaß oder die Streichung von Strafrechtsnormen an, sondern auch auf die Verankerung dieser Normen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung und die Durchsetzung dieser Normen durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle (z. B. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Strafvollzug). Das Verbrechen entsteht und vergeht in individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozessen, zu denen die Interaktion zwischen Täter und Opfer, die im Rechtsbruch endet, die informelle Reaktion auf diesen Rechtsbruch, die zur Strafanzeige und damit zur Auslösung der formellen Kontrolle führen kann, die for-

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melle Reaktion durch Polizisten, Staatsanwälte, Sachverständige, Strafrichter und Strafvollzugsbeamte und die Wiedereingliederung des aus der Strafanstalt Entlassenen gehören. Menschliches Verhalten ist als solches nicht wertneutral. Es besitzt aber für sich allein noch nicht ohne weiteres die Qualitäten „kriminell" oder „nichtkriminell". Kriminelles Verhalten entwickelt sich vielmehr aus dem Verhalten des Straftäters, aus der informellen sozialen Reaktion (z. B. in Familie und Nachbarschaft), aus der formellen sozialen Reaktion (z. B. durch die Kriminalpolizei) und aus der Rückwirkung dieser Reaktionen auf das Verhalten des Rechtsbrechers, also aus der Interaktion. Die Reaktionsseite auf Kriminalität macht Etikettierungsversuche, wenn es ihr naheliegend erscheint, daß sich jemand „kriminell" verhalten hat. H a t sie darin Erfolg, jemanden als „kriminell" zu definieren, so ist er kriminell. Gelingt es dem versuchsweise von der Reaktionsseite als „kriminell" Definierten, sich endgültig erfolgreich gegen die Etikettierungsversuche zu wehren (z. B. Einstellung des Verfahrens, Freispruch), so ist er nicht kriminell. Die Definition „kriminell" hat stets sozialen Bezug. Sie erwächst in sozialen und individuellen Kriminalisierungsprozessen zur Gültigkeit. Verbrechen ist das Verhalten, T u n oder Unterlassen, das in gesellschaftlichen und individuellen Kriminalisierungsprozessen durch Interaktion erfolgreich als kriminell benannt wird. Der individuelle Kriminaliserungsprozeß teilt sich in einen Verursachungsprozeß im engeren Sinne und in einen Benennungsprozeß. Der Verursachungsprozeß ist im wesentlichen ein Interaktionsprozeß zwischen T ä t e r und Opfer. Der Benennungsprozeß setzt nach der Strafanzeige ein. Es handelt sich in den Industriegesellschaften um einen hochformalisierten Prozeß, an dem u. a. Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, Sachverständige, Verteidigung, Gericht, Strafvollzug teilnehmen (vgl. hierzu das Fenster 18: Reaktionsprozeß auf eine Vergewaltigung). In Afrika kommt es nicht selten vor, daß auf eine Vergewaltigung informell reagiert wird. Wenn der T ä t e r insbesondere aus dem sozialen N a h raum des Opfers stammt (z. B. Nachbar, Berufskollege), übernimmt ein Dritter (z. B. ein älterer Nachbar oder Kollege) die Schlichtung. D e r Täter entschuldigt sich beim Opfer. Wenn es als Folge der Vergewaltigung verletzt sein sollte, kümmert er sich um seine Behandlung beim Arzt oder im Krankenhaus. Eine beträchtliche Zahl von Vergewaltigungsopfern zieht eine solche informelle Schlichtung einem formellen Strafverfahren vor, weil sie ein solches Verfahren für das O p f e r als entwürdigend und für den Täter als brandmarkend empfinden (Olufunmilayo Oloruntimehin 1982, 4 3 3 / 4 3 4 ) . Die hochzivilisierte Industriegesellschaft neigt dazu, auf solche schweren Gewalttaten wie Vergewaltigungen mit formellen Strafverfahren zu reagieren, weil sie durch solche Gewalttaten viel verletzbarer als primitive Agrargesellschaften ist, die eine robuste Widerstandsfähigkeit und Plastizität gegenüber Verbrechen besitzen. In dem hochformalisierten Reaktionsprozeß auf Verbrechen kann das, was als „kriminell" benannt wird, höchst unsicher und bestritten sein. Z w a r ist die Vergewaltigung klar strafgesetzlich als Verbrechen definiert (§§ 177, 12 S t G B ) . O b in Wirklichkeit aber

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eine Vergewaltigung verübt worden ist, kann im Einzelfall schwer feststellbar sein. Der Maßstab „kriminell" wird von außen an ein Verhalten einer Person angelegt. Die Person wehrt sich gegen eine solche Etikettierung ihres Verhaltens und ihrer Person. Sie begegnet ihrer Benennung mit einer Gegenbenennung. So versucht der Täter das Verhalten des Opfers als prostitutives Benehmen zu charakterisieren. Gelingt ihm dies, so ist er nicht kriminell. Mißlingt ihm dies, so ist er — mindestens „nach außen" — kriminell. Er kann gleichwohl ohne Schuld sein. Strafgerichtlich Verurteilte haben schon jahrelang in einer Strafanstalt gesessen, ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Hingerichtete sind bereits häufig nach ihrem Tode rehabilitiert worden, weil man sie mit dem T o d e bestrafte, obgleich sie schuldlos waren. Die offizielle Benennung einer Person als „kriminell" hat für sie erhebliche Folgen. Es ist das Wesen der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition des Verbrechens, daß sie die Reaktion auf Kriminalität berücksichtigt, daß sie sich an der kriminellen Wirklichkeit orientiert und daß sie die Kriminalität nicht nur als Endprodukt beurteilt, sondern sich ihre prozeßhafte Entwicklung, ihr Werden angelegen sein läßt. Der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition kommt es nicht so sehr wie der strafgesetzlichen Definition auf eine statische, formale Begriffsbestimmung an, sondern darauf, daß Kriminalität im weiteren Sinne als Endprodukt eines Strafgesetzgebungsprozesses und Kriminalität im engeren Sinne als Resultat eines konkreten informellen oder formellen Benennungsprozesses verstanden werden. Um einer realitätsnahen, prozeßhaften Entwicklung Rechnung zu tragen, ist eine solche Differenzierung des Kriminalitätsbegriffes notwendig. Denn einerseits will man die volle Variationsbreite der Kriminalität erfassen, andererseits ihr Bedeutungsfeld so eingrenzen, daß der Kriminalitätsbegriff praktisch und theoretisch gehandhabt werden kann. Die Differenzierung des Kriminalitätsbegriffs ist ferner erforderlich, weil die Kriminalität durch die Art der Reaktion ihre Qualität ändert. Es müssen also Schnitte in die sozialen und individuellen Kriminalisierungsprozesse gelegt werden: Kriminalität im weiteren Sinne ist das Verhalten, das strafgesetzlich als Kriminalität definiert, auf das vorweg durch Strafgesetzgebung reagiert wird. O h n e eine solche Reaktion gibt es keine Kriminalität im kriminologischen Sinne. Rassische, ökonomische, sexuelle Ungleichbehandlung ist keine Kriminalität, solange sie sich nicht in konkreten strafgesetzlichen Normen niedergeschlagen hat (a. A. Marie-Andrée Bertrand bei Virginia Engquist Grabiner 1973; Herman und Julia Schwendinger 1970). Auch Imperialismus ist ein zu vager Begriff. Das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges ist demgegenüber konkret genug, um strafgesetzlich normiert zu werden (Art. 26 Abs. 1 GG, §§ 80, 80 a StGB). Die Strafgesetzgebung formt insofern die kriminelle Realität. Sie muß dies indessen tun, weil die Bezeichnung eines Verhaltens als kriminell so einschneidende soziale und psychische Bedeutungen besitzt, daß man seine Definition keinem individuellen Maßstab und keiner Subjektivität eines einzelnen überlassen darf. Es bedarf eines formellen rechtsstaatlichen Strafgesetzgebungsverfahrens, um das allge-

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meingültig in einem modernen Staat zu formulieren, was Kriminalität im weiteren Sinne ist. Hier kann sich freilich die Frage erheben, auf welcher Seite die Kriminologen stehen. Sind sie Ordnungshüter oder Menschenrechtsverteidiger? Werfen sie nur Probleme auf oder lösen sie sie auch? Während die ältere Kriminologie dazu neigte, auf der Seite der Strafgesetzgeber und -anwender zu stehen, spricht sich die moderne Kriminologie dafür aus, die sozial Schwachen zu unterstützen, weil sie nur wenige Verteidiger haben (Howard S. Becker 1967; Nils Christie 1971 a, 140—145). Das Problem löst sich indessen nicht so einfach. Es ist Aufgabe des Kriminologen als Wissenschaftler, kriminelle Probleme zu analysieren und möglichst objektiv zu lösen. Denn weder die politisch und sozial Mächtigen noch die politisch und sozial Schwachen haben immer recht. Der Kriminologe ist zur Unparteilichkeit verpflichtet. Denn er ist Wissenschaftler, der die Gesellschaft kriminalitätsärmer machen soll, ob seine gutachtlichen Stellungnahmen nun den Mächtigen, den weniger Mächtigen oder den Machtlosen nützen. Eine solche „unparteiische Schiedsrichterposition" macht seine Stellung freilich sehr verletzbar, weil er letztlich von niemandem unterstützt wird und weil er sich nur auf seine wissenschaftliche Leistung berufen kann.

Kriminalität im weiteren Sinne Sie wird durch ein formelles, rechtsstaatliches Strafgesetzgebungsverfahren eingegrenzt. Deshalb werden kriminelle Sitten und Gebräuche nicht als Normen anerkannt, selbst wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet befolgt werden. Bei einigen Stämmen in abgelegenen ländlichen Gebieten Nigerias werden die Steißgeburt und das Gebären von Zwillingen als abnorm und als „kriminell" in dem Sinne angesehen, daß informelle Sanktionen ausgelöst werden. Es herrscht dort der Aberglaube vor, die Steißgeburt und das Gebären von Zwillingen offenbarten verborgen gebliebene Verbrechen oder den geheim gehaltenen sexuellen Umgang der Frau mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann oder mit einem männlichen Geist. Die Steißgeburt und das Gebären von Zwillingen werden als „tierisch" und als Herabwürdigung der menschlichen Gemeinschaft beurteilt. Die Neugeborenen werden in einen irdenen Topf gesteckt und in den „bösen Busch" geworfen. Die Frauen werden aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen und haben keinen Anspruch auf Achtung und Würde mehr (Nwokocha K. U. Nkpa 1982). Solche Sitten und Gebräuche sind nach der Strafgesetzgebung Nigerias verboten. Sie sind deshalb eindeutig kriminell. Zur Kriminalität im weiteren Sinne, die zwar von der Strafgesetzgebung vorweg so benannt worden ist, die man auch tatsächlich begangen hat, auf die die Instanzen der formellen Sozialkontrolle aber überhaupt nicht oder nicht erfolgreich reagiert haben, gehört die Kriminalität im Dunkel- und Graufeld, also die

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und Sozialwissenschaft

nicht bekanntgewordene, verborgen gebliebene Kriminalität. So kann das Verbrechensopfer eine Strafanzeige unterlassen. Die Kriminalpolizei kann keinen Erfolg bei der Verbrechensaufklärung haben. D e r Staatsanwaltschaft kann der Beweis der Begehung einer Straftat mißlingen, so daß das Strafverfahren eingestellt oder so daß der Angeklagte vom Gericht mangels Beweises freigesprochen werden muß. D e r Zusammenbruch jeder Sozialkontrolle im Bürgerkrieg kann schließlich z. B. dazu f ü h r e n , daß auf kriminelle H a n d l u n g e n nicht mehr konkret reagiert werden kann. D e r Kriminologe (und nicht nur er) beurteilt von seinem rechtsstaatlichen Standpunkt aus, ob das durch gesellschaftliche und individuelle Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse als „kriminell" oder „nichtkriminell" definierte Verhalten mit Recht so benannt w o r d e n ist. Insofern besitzt die Kriminologie seit Cesare Beccaria (1738—1794) eine grundlegende rechtsstaatliche Komponente. Nicht nur der Machtinhaber bestimmt darüber, was „kriminell" und was „nichtkriminell" ist. D e n n Mächtige streben einerseits danach, ihre Gegner, mit denen sie in ihren Auffassungen nicht übereinstimmen (z. B. Dissidenten), als „kriminell" zu definieren und auf diese Weise aus dem politischen Machtkampf auszuschalten. Mächtige neigen ferner dazu, ihren eigenen kriminellen Machtmißbrauch nicht als kriminell definieren zu lassen (vgl. hierzu das Fenster 27: Die Watergate-Affäre). Andererseits gibt es auch Versuche, Politiker und Wirtschaftsmanager dadurch um ihre Positionen zu bringen, daß man ihr Verhalten als kriminell, z. B. als Korruption, bezeichnet. Kriminelle Pressekampagnen gegen Politiker haben nicht selten zu deren Selbstmord geführt. Es wäre vermessen, annehmen zu wollen, der Kriminologe könne in diesem Machtkampf eine „unparteiische Schiedsrichterrolle" einnehmen. Er ist indessen als Wissenschaftler — mehr noch als jeder andere Bürger — dazu verpflichtet, seine Meinung zu sagen, um der Gerechtigkeit im politischen Machtkampf zum Siege zu verhelfen. Ein abschreckendes Beispiel d a f ü r , wie man sozial Schwache als kriminell brandmarken kann, um seine eigene Machtposition zu erhalten, bilden die H e xenprozesse des Mittelalters (Gilbert Geis, Ivan Bunn 1982): Über hunderttausend unschuldige O p f e r w u r d e n in Europa und N o r d a m e r i k a bis ins 17. und 18. J a h r h u n d e r t hinein zu T o d e gebracht. N o c h im Jahre 1976 w u r d e in L a g o s / N i geria eine Frau als H e x e gelyncht (Nwokocha K. U. Nkpa 1982, 227). Die H e xenprozesse begannen mit dem „ H e x e n h a m m e r " (1487), einem „Ausrottungsbuch von gediegener Gründlichkeit" (Gerhard Schormann 1981, 31). In Artikel 109 der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 w a r Hexerei als Straftatbestand normiert. M a n warf den H e x e n immer wieder dasselbe vor: T e u felspakt, Teufelsbuhlschaft, Schadenzauber: Schädigung und Vernichtung von Mensch und T i e r und Teilnahme am Hexensabbat (Teufelstanz). Die H e x e n lehre w u r d e durch Hexenpredigten von der Kanzel verbreitet. Unerläßliche Voraussetzung f ü r die Hexenprozesse w a r die Folter, die „peinliche Frage" zur Erzwingung eines Geständnisses durch Zerren, Quetschen, Sengen und Schla-

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gen der kriminell Verdächtigen (vgl. hierzu das Fenster 2 5 : Folter). Einsamen älteren oder jüngeren Frauen, den sozial Schwächsten, wurde die Verursachung des T o d e s von Kleinkindern, der Erkrankung des Viehs, der Zeugungsunfähigkeit von Ehemännern, der Unfruchtbarkeit von Ehefrauen, der Pestepidemie und der Mißernte zur Last gelegt. Man hat den H e x e n w a h n auf die Ungewißheit der menschlichen Existenz, auf die Unerklärlichkeit von Katastrophen und auf die kollektive Armut zurückzuführen versucht. W ä r e n dies alleine die Ursachen gewesen, so hätten die Bauern unter sich gewiß einige unschuldige Menschen gelyncht. Es hätte indessen niemals zu einer so systematischen Ausrottung von Menschen kommen können. D e r H e x e n w a h n wurde durch die H e t z e r und Eiferer so gefährlich. Es bildete sich eine unheilige Allianz, eine symbiotische Beziehung zwischen Geistlichen, Ärzten und Juristen, die ihre unsicher gewordenen Machtpositionen stabilisieren wollten. Sie waren die Initiatoren der H e x e n j a g den. Die übernatürliche Struktur des Glaubens war leicht zu erschüttern. D e r Klerus sah seinen Besitzstand gefährdet. D i e Geistlichen fürchteten sich vor H ä resie (Ketzerei) und Apostasie (Abfall vom Glauben, Kirchenaustritt). Sie erzwangen O r t h o d o x i e (Rechtgläubigkeit) durch Folter gegen H e t e r o d o x i e (Irrlehre). Z u r Abschreckung statuierten sie an den Schwächsten (den H e x e n ) ein Exempel. D i e Geistlichen besaßen hierbei die Definitionsmacht. D e n n sie sprachen im N a m e n Gottes. D i e Arzte unterstützten diesen Standpunkt. D e n n sie sahen ihre Position ebenfalls bedroht. Ihre eigene Unfähigkeit, Krankheiten zu erkennen und zu heilen, versuchten sie, durch die Benennung „Besessenheit vom T e u f e l " zu überdecken und zu verbergen. D i e Juristen stellten ihre Fähigkeit zum logischen D e n k e n und ihre weltliche Definitionsmacht in den Dienst der Starken und Mächtigen auf Kosten der Schwachen. Sie hätten argumentieren k ö n n e n : W e n n H e x e n im Dienst des Teufels stehen, so kann er sie durch seine schwarze Kunst vor Folter, Scheiterhaufen und Galgen bewahren. Solchen Nachweis führten sie freilich nicht. Sie folgerten vielmehr: W e n n die H e x e mit dem T e u f e l im Bunde steht, kann sie durch Beweise nicht überführt werden. D e r H e x e ist ihre Kriminalität wegen ihres Paktes mit dem T e u f e l nicht nachweisbar. W e r der H e x e hilft, ist selbst der Hexerei schuldig. D u r c h gelehrte theoretische Abhandlungen förderten die Juristen die soziale Isolation der als „ H e x e n " benannten einsamen Frauen. Die Richter verurteilten die H e x e n , um ihre eigene Position nicht zu verlieren. Sie hatten keinen Mut, gegen die öffentliche Meinung aufzutreten und die Positionen der Geistlichen und der Arzte in Frage zu stellen. D e r einflußreiche Staatsrechtslehrer Jean Bodin ( 1 5 2 9 — 1 5 9 6 ) lieferte die Begründung: W i r dürfen hier nicht an den üblichen Regeln der Strafverfolgung festhalten. D e n n der Beweis für ein solches Übel ist so unklar und schwer zu erbringen, daß nicht eine H e x e unter einer Million angeklagt und verurteilt würde, wenn das reguläre V e r f a h r e n eingehalten würde. Solche W o r t e waren Grund genug, Menschen ihre primitivsten Menschenrechte vorzuenthalten.

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und S o z i a l w i s s e n s c h a f t

Kriminalität im engeren Sinne Von der Kriminalität im weiteren Sinne unterscheidet sich die Kriminalität im engeren Sinne, die sich als Verhalten versteht, das strafgesetzlich als Kriminalität definiert und auf das mindestens informell, aber freilich auch erfolgreich formell reagiert worden ist. Eine Unterscheidung der Kriminalität im engeren Sinne von der Kriminalität im weiteren Sinne ist nötig, weil sich durch die informelle und erst recht durch die formelle Reaktion (Sanktionen!) die Bedeutung des Verhaltens als Kriminalität ändert. Die Täter der Kriminalität im weiteren Sinne können unbehelligt ihrer Wege gehen, weil ihr kriminelles Verhalten ohne konkrete Reaktion geblieben ist. Informelle und erst recht formelle Sanktionen haben erhebliche Konsequenzen für den Täter der Kriminalität im engeren Sinne. Sie verändern sein Leben. Informelle Sanktionen können hierbei mitunter wirksamer, aber auch einschneidender und härter sein als formelle. Wenn ein Rechtsbrecher aus der Gemeinschaft einer Familie, einer Nachbarschaft oder eines Dorfes ausgeschlossen wird, so kann ihn das mehr treffen als eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird. In Gebieten, in denen eine formelle Sozialkontrolle wirksam ausgeübt werden kann, ist Selbstjustiz verboten. Ihr Wesen liegt darin, daß eine Person oder Personengruppe das Recht in ihre eigene Hand nimmt, daß sie sich ohne gesellschaftliche und staatliche Rechtfertigung die Positionen eines Kriminalpolizisten („Tataufklärers"), eines Richters und eines Strafvollstreckers („Henker") anmaßt. Von Selbstjustiz ist Selbsthilfe zu unterscheiden, ohne die eine wirksame Verbrechensbekämpfung in den unwegsamen und dünn besiedelten Gebieten der Wildnis und des Busches nicht möglich wäre. Die informelle Sozialkontrolle, hinter der überhaupt keine oder keine wirksame formelle Sozialkontrolle steht, wird in solchen Gebieten zur wichtigsten, wenn nicht zur alleinigen Reaktionsmöglichkeit auf Verbrechen. Oft muß man in den Entwicklungsländern das formelle Strafrechtssystem der Stadt oder der Siedlung von der informellen Regelung der abgelegenen ländlichen Gebiete unterscheiden. Die Normen des Strafgesetzes lassen sich nur dort durchsetzen, wo Polizeistationen und Gerichte in der Nähe sind. Viele Verbrechensopfer ziehen zudem aus folgenden Gründen eine informelle Schlichtung einem formellen Strafverfahren vor: Die traditionellen informellen sozialen Normen zur Verbrechenskontrolle in Afrika, Asien und Südamerika legen großen Wert auf die Linderung der Not des Opfers und seiner Familie durch Schadenswiedergutmachung. Das formelle Gesetz bemüht sich eher um die Bestrafung des Verbrechers. Das Strafverfahren ist langwierig und zeitraubend. Es bringt dem Verbrechensopfer und seiner Familie, die — mitunter zu Recht — der Polizei und den Gerichten (Korruption!) mißtrauen, nicht viel ein. In afrikanischen Stämmen glaubt man, daß Menschen nie wieder miteinander befreundet sein können, wenn sie sich einmal im Strafverfahren als Zeugen der Anklage und als Angeklagte gegenübergestanden haben. Langfristige Freundschaft, auf die man im unwegsamen Busch angewiesen ist, hält man für wichtiger als den kurz-

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fristigen Triumph einer Bestrafung eines Rechtsbrechers. Mag sich die informelle Sozialkontrolle mehr f ü r einfachere Agrargesellschaften und die formelle Sozialkontrolle eher für moderne Industriegesellschaften eignen, beide sind in allen Gesellschaften miteinander verzahnt, und beide geben dem kriminellen Verhalten den Charakter der Kriminalität im engeren Sinne, weil sie erhebliche, wenn auch unterschiedliche Folgerungen für den Täter haben. Von einem Kriminellen (einer Kriminellen) spricht man, wenn er (sie) von den Instanzen der formellen Sozialkontrolle (z. B. von den Gerichten) erfolgreich als „kriminell" benannt worden ist. Während bei der Kriminalität im weiteren Sinne auf das menschliche Verhalten durch Strafgesetzgebung vorweg und bei der Kriminalität im engeren Sinne durch Strafgesetzanwendung (oder doch wenigstens informell) im nachhinein reagiert wird, stellt man sich beim Kriminellen auf die Person selbst ein. Von Kriminellen kann man nicht schon bei kriminell (z. B. vor der Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft) Verdächtigen sprechen. Das ist allein aus rechtsstaatlichen Gründen (Unschuldvermutung!) unzulässig: Solange eine Person nicht von einem Gericht in rechtsstaatlich einwandfreier Weise wegen krimineller Delikte verurteilt worden ist, gilt sie als schuldlos. Im Anschluß an Etienne de Greeff (1946) hat zwar Jean Pinatel (1963) das Konzept der kriminellen Persönlichkeit entwickelt. Er versteht darunter eine Persönlichkeit, die in ihrem Kern die Merkmale übertriebene Ichbezogenheit, Aggressivität, Anpassungs- und Kontaktunfähigkeit und affektive und emotionale Gleichgültigkeit aufweist. Eine solche kriminelle Persönlichkeit gibt es — allein schon wegen der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen der Kriminalität (Gewaltverbrecher, Sexualstraftäter, Wirtschaftsstraftäter usw.) — nicht. Man kann allenfalls von einer dynamischen Grundgestalt der Persönlichkeit ausgehen, die sich allerdings in unterschiedlichen kriminellen Karrieren verschieden auswirkt. Die Etikettierung einer Person als „kriminell" durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle ist nicht unbedenklich. Denn eine Person neigt nach ihrer formellen Benennung als „kriminell" dazu, im individuellen Kriminalisierungsprozeß (im Prozeß des Kriminellwerdens und -machens) ein kriminelles Selbstbild anzunehmen, so daß sie sich aus der Gesellschaft ausgliedert. Deshalb setzt man sich dafür ein, nur den „sekundären Kriminellen", den Rückfalltäter, der durch formelle Reaktion auf sein kriminelles Verhalten bereits schon einmal oder sogar mehrmals als „kriminell" benannt worden ist, der sein Gesamtverhalten also um Kriminalität herum organisiert hat und dessen Leben und Identität von der Realität der Kriminalität bestimmt wird (Edwin M. Lemert 1975), als Kriminellen zu bezeichnen. Für eine solche Einschränkung spricht zwar sehr viel. Sie erscheint gleichwohl für eine Verwendung in der Kriminologie als ungeeignet. Denn sie setzt zu viel voraus. Vielmehr muß man einen mittleren Weg gehen. Es kann für die Definition „Krimineller" zum einen nicht allein genügen, daß ein Verhalten einer Person als sozialschädlich beschrieben wird und daß man eine Strafe für solches Verhalten gesetzlich angedroht hat (a. A. Edwin H. Sutherland 1945). Zum anderen ist es nicht erforderlich, daß ein Straftäter be-

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft

reits mehrfach verurteilt worden ist. Vielmehr kann man denjenigen als „Kriminellen" bezeichnen, der in einem rechtsstaatlichen Verfahren von einem Gericht wegen eines kriminellen Delikts verurteilt worden ist, der also erfolgreich von einem Gericht als „kriminell" benannt worden ist (Paul W. Tappan 1947). Hierbei kann es freilich durchaus vorkommen, daß man vor allem die dumme, ungeschickte, unerfahrene Minderheit derjenigen erfaßt, die Straftaten begehen, und daß die wirklich bedeutsamen Kriminellen, die intelligenten und finanziell mächtigen Straftäter und die Rechtsbrecher mit politischen Verbindungen, der Justizmaschinerie entgehen (Harry Elmer Barnes, Negley K. Teeters 1959). Begriffsbestimmungen Die wichtigsten Begriffsbestimmungen werden im folgenden zusammengefaßt: — Verbrechen ist eine einzelne kriminelle Handlung oder Unterlassung (Einzelerscheinung). — Kriminaliät ist die Gesamtheit vieler Verbrechen innerhalb einer bestimmten Zeit und eines begrenzten Raumes (Massenerscheinung). Im folgenden werden zwar die Begriffe Kriminalität und Verbrechen synonym benutzt, um im Ausdruck abwechseln zu können und so die Lebendigkeit der Darstellung zu bewahren. Zur Begriffsklärung kommt es hier aber darauf an, daß man sich klarmacht, daß das Verbrechen als Einzel- und die Kriminalität als Massenerscheinung vorkommen. — Kriminalität im weiteren Sinne sind die Endprodukte von Strafgesetzgebungsprozessen, von sozialen Kriminalisierungen (strafgesetzlichen Reaktionen). — Kriminalität im engeren Sinne sind die Ergebnisse konkreter informeller oder formeller Benennungsprozesse menschlichen Verhaltens, Tuns oder Unterlassens, individueller Kriminalisierungen (Reaktionen sozialer Gruppen oder des Systems der Strafrechtspflege). — Primäre Kriminalität beruht auf verschiedenen sozialen und psychischen Ursachen. Sekundäre Kriminalität kann durch die informelle oder formelle Reaktion auf primäre Kriminalität entstehen oder verstärkt werden. Sekundäre Kriminalität ist Rückfallkriminalität, die von Rückfalltätern verübt wird, die ein kriminelles Selbstbild angenommen haben und die ihr Gesamtverhalten um Kriminalität herum organisiert haben. — Unter sozialer Kriminalisierung versteht man den Strafgesetzgebungsprozeß, unter individueller Kriminalisierung den Prozeß des Kriminellwerdens und -machens einzelner Personen. Viktimisierung (victima, lateinisch: das Opfer) ist der Prozeß des Opferwerdens und -machens. Viktimität ist die Summe der Ereignisse kriminellen Opferwerdens und -machens innerhalb einer bestimmten Zeit und eines begrenzten Raumes.

Verbrechensbegriff in der Kriminologie

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— Sozialabweichung (Devianz) ist der Bruch einer sozialen Verhaltensnorm, auf den informell (z. B. durch soziale Gruppen) reagiert wird. Primäre Sozialabweichung beruht auf verschiedenen sozialen und psychischen Ursachen. Sekundäre Devianz wird von Sozialabweichlern begangen, deren Leben und Identität von der Realität der Devianz bestimmt sind (Edwin M. Lemert 1975). Sozialpathologie u m f a ß t die gesamte Variationsbreite der Erscheinungsformen der Sozialabweichung, ihrer Ursachen, V e r h ü t u n g und Behandlung. — Unter Delinquenz im engeren Sinne begreift man in den USA das Verhalten, T u n oder Unterlassen, eines Kindes oder Jugendlichen im Alter zwischen 7 und 18 Jahren, das als Kriminalität bezeichnet werden müßte, wenn es von Erwachsenen begangen w o r d e n w ä r e (Sheldon und Eleanor Glueck 1950, 13). Es muß sich also stets um die Verletzung von Strafgesetzen handeln. Das „kriminelle" Verhalten von 7- bis 18jährigen Kindern und Jugendlichen wird als Delinquenz bezeichnet, weil man damit die kriminelle Stigmatisierung (Brandmarkung) der Kinder und Jugendlichen vermeiden will. Z u d e m will man zum Ausdruck bringen, daß Kriminalität und Delinquenz in ihrem Wesen etwas Verschiedenes sind, weil Kinder und Jugendliche noch keine oder keine volle V e r a n t w o r t u n g s reife besitzen und weil ihre Delinquenz vorwiegend auf Entwicklungsschwierigkeiten beruht, die darauf z u r ü c k z u f ü h r e n sind, daß sich Kinder und Jugendliche in der Erwachsenenwelt nicht zurechtfinden und sich nicht in sie einordnen können. Jugenddelinquenz bildet sich zudem häufig spontan zurück. In der Bundesrepublik u m f a ß t der Begriff der Jugenddelinquenz die Strafgesetzverstöße der bis zu 21jährigen Kinder, Jugendlichen und H e r a n w a c h s e n d e n . — Unter Delinquenz im weiteren Sinne versteht man Erziehungsschwierigkeiten und Bagatellstraftaten, die mit der Delinquenz im engeren Sinne verbunden sind: Unkontrollierbarkeit der Kinder und Jugendlichen durch ihre Eltern, gewohnheitsmäßiger U n g e h o r s a m , Schulschwänzen, Fortlaufen von zu H a u se oder aus der Schule, Streunen, Vagabundieren, kleine Ladendiebstähle, Leistungserschieichungen (Schwarzfahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln, Schwarzsehen oder - h ö r e n in Kinos oder Konzerten) (Thorsten Sellin, Marvin E. Wolfgang 1970). Diese Erziehungsschwierigkeiten und Bagatelldelikte bezeichnet man deshalb als Delinquenz im weiteren Sinne, weil es sich um Verhalten handelt, das im Kindes- und Jugendalter häufig aufzutreten pflegt, weil Kinder und Jugendliche wegen ihres Alters und wegen ihres Reifungsprozesses zu Erwachsenen in Abhängigkeit stehen und weil es jugendtypisch ist, daß sie durch gelegentliche Anpassungsstörungen gegen solche Abhängigkeit rebellieren. D e r Ausdruck „Prädelinquenz", mit dem man jugendliche Verwahrlosung und Vernachlässigung zu bezeichnen pflegt, sollte aufgegeben werden, weil „nach außen" kein delinquentes Verhalten vorliegt, weil man Kinder und Jugendliche mit einem solchen Begriff unnötigerweise b r a n d m a r k t und somit allzu leicht in die Delinquenz hineintreibt.

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II. Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft

— Ordnungswidrigkeit ist ein gesetzwidriges, unrechtmäßiges, vorwerfbares Verhalten, das nicht mit dem sozialen Unwerturteil der Kriminalität belegt ist, weil es lediglich gegen Vorschriften verstößt, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung erlassen worden sind. — Krimineller ist eine Person, die vom Gericht in einem rechtsstaatlichen Verfahren als kriminell benannt worden ist. — Verbrechensopfer ist eine Person, eine Organisation, die moralische oder die Rechtsordnung, die durch die Straftat gefährdet, geschädigt oder zerstört worden sind. Es gibt kein Verbrechen ohne ein Verbrechensopfer (Stephen Schafer 1977, 95). — Informelle Sozialkontrolle (informelle Reaktion) besteht in einem System von Maßnahmen, z. B. Beratung, Spott, Kritik, Überredung, durch die die Gesellschaft ihre Mitglieder zur Konformität mit allgemein gebilligten Verhaltensnormen veranlaßt. Im Sozialisationsprozeß belohnen Eltern das konforme Verhalten und bestrafen das sozialabweichende Verhalten ihrer Kinder. Konformität wird auf diese Weise zur Gewohnheit, die das Verhalten und die Verhaltensnormen sozialer Gruppen bestimmt. Verhaltensnormen leiten menschliches Verhalten und helfen den Menschen, das Verhalten ihrer Mitmenschen vorherzusagen (Verhaltenserwartungen!) (Martin R. Haskeil, Lewis Yablonsky 1974b, 7). — Formelle Sozialkontrolle (formelle Reaktion) ist gekennzeichnet durch strafgesetzliche Formalisierung und Ausdrücklichkeit der Verhaltensnormen, durch im Strafgesetz vorgesehene Sanktionen zur Unterstützung dieser Verhaltensnormen und durch die Bestimmung von offiziellen Kontrollorganen (Instanzen), die die strafgesetzlichen Verhaltensnormen schaffen, auslegen und anwenden (Hugh D. Barlow 1978, 10).

2. Begriff, Aufgaben und Abgrenzung der Kriminologie Begriff und Aufgaben der Kriminologie werden in der Kriminologie der Gegenwart sehr unterschiedlich definiert, weil sie verschiedene Richtungen besitzt. Für Heinz Leferenz (1967, 22) ist die Kriminologie „die Seinswissenschaft im Felde der Strafrechtspflege". Nach dem polnischen Kriminologen Leszek Lerneil (1973, 10) ist sie „die Wissenschaft von den genetischen Faktoren des Verbrechens (Kriminalätiologie), von den verschiedenen Merkmalen krimineller Handlungen (Kriminalphänomenologie) und von der Kriminalitätsstruktur und -dynamik". Beide Definitionen sind zu eng. Leferenz beschränkt die Kriminologie von der Praxis der Strafrechtspflege her, Lernell führt sie auf das Verbrechen, seine Erscheinungsformen, Strukturen und Verursachungen zurück. Beide Begriffsumschreibungen sind eindimensional, weil sie nur die Kriminalität berücksichtigen,

B e g r i f f , Aufgaben und A b g r e n z u n g der K r i m i n o l o g i e

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wobei Leferenz diesen Begriff der Kriminalität allein aus der Sicht der Praxis der Strafrechtspflege definieren will. Hans von Hentigs (1947) Kriminologiebegriff ist zweidimensional, weil er sich auf die Tatsachen beschränkt, die über Verbrechen und Kriminalitätskontrolle bekanntgeworden sind. Als Studium von Verbrechen, Rechtsbrechern und Opfern beschreibt Stephen Schafer (1976, 3) die Kriminologie, die einen langen und ereignisreichen „Weg" analysiert: von den Faktoren, die der Straftat vorausgehen, über den aktuellen Rechtsbruch bis zur Behandlung des Täters und zur Wiedergutmachung des Opferschadens. Diese Begriffsbildung ist dreidimensional. Sie nimmt Bedacht auf Kriminalität, Straftäter und Verbrechensopfer. Ebenfalls dreidimensional ist die Begriffsbestimmung sowjetischer Kriminologen (Allunionsinstitut 1976, 5/6): „Die sowjetische Kriminologie ist die marxistische Wissenschaft von der Kriminalität, ihrem Zustand, ihrer Struktur und Dynamik, von den Ursachen der Kriminalität und den Bedingungen, die sie begünstigen, von der Persönlichkeit des Delinquenten und von den Methoden der Vorbeugung von Verbrechen in der sozialistischen Gesellschaft". Diese Begriffsbildung berücksichtigt Kriminalität, Rechtsbrecher und soziale Kontrolle. Günther Kaiser (1980 a, 3) betont diese drei Dimensionen gleichfalls. Ebenso wie der polnische Kriminologe Brunon Holyst (1986, 21) fügt er indessen noch eine vierte Dimension, nämlich die „negativ soziale Auffälligkeit" hinzu, die Holyst „Sozialpathologie" nennt. In Hans Göppingen (1980, 1) Begriffsbestimmung sind die vier Dimensionen Holysts und Kaisers enthalten. Er erweitert seine Definition allerdings noch um eine fünfte Dimension: das Zustandekommen und die Auswirkungen von Sanktionen. Alle Definitionen sind bisher Summationsdefinitionen. Denn sie stellen die verschiedenen Sektoren der Kriminologie mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Das ändert sich bei der Begriffsbestimmung von Edwin H. Sutherland und Donald R. Cressey (1978, 3): „Kriminologie ist die Gesamtheit des Wissens über die Delinquenz und die Kriminalität als soziale Phänomene. Ihr Bereich umfaßt die Prozesse der Gesetzgebung, der Gesetzesverletzung und der Reaktionen auf Gesetzesverletzungen. Diese Prozesse bilden drei Aspekte einer irgendwie vereinigten Abfolge von Interaktionen. Bestimmte Handlungen, die als unerwünscht gelten, werden durch die politische Gesellschaft als Delikte definiert. Trotz dieser Definitionen fahren einige Leute in diesem Verhalten fort und begehen auf diese Weise Verbrechen. Die Gesellschaft reagiert mit Strafe, Behandlung oder Vorbeugung. Diese Abfolge von Interaktionen ist Gegenstand der Kriminologie...".Sutherland und Cressey sehen ihre drei wesentlichen Faktoren: Gesetzgebung, Gesetzesverletzung und Reaktion auf die Gesetzesverletzung in einem Interaktionsprozeß, also dynamisch verbunden. Das ist ein Vorteil. In ihrer Begriffsbestimmung kommt indessen der Rechtsbrecher zu kurz. Bei der Reaktion auf die Gesetzesverletzung ist weiterhin nicht klargestellt, daß es sich nicht nur um soziale Kontrolle im positiven Sinne, sondern auch um Sozialverhalten handeln kann, das im Sinne der sekundären Kriminalität (Edwin M. Lemert 1975) kriminalitätsverursachend und -erhaltend zu wirken vermag.

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II. Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft

Gegenstand und Aufgabe der Kriminologie ist die Analyse von Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozessen. Das Verbrechen wird bestimmt durch den gesellschaftlichen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß, zu dem neben der Strafgesetzgebung im engeren Sinne die gesellschaftliche Wirklichkeitsgrundlage und die tatsächlichen gesellschaftlichen Auswirkungen der Strafgesetzgebung gehören. In diesem Zusammenhang hat das „sozialabweichende Verhalten" einen bedeutsamen Stellenwert, das im Vorfeld oder in der Nachhut der Strafgesetzgebung liegt. Sozialabweichendes Verhalten, das dem zeitlichen und örtlichen Wandel unterliegt und von der Ertragungsfähigkeit einer Gesellschaft abhängt, ist zu einem wesentlichen Teil „funktional" für eine Gesellschaft, weil es zu ihrem Zusammenhalt beiträgt (z. B. Kontrastfunktion). Es handelt sich um Verhalten, das von der Mehrheit der Gesellschaft als Verstoß gegen Verhaltensnormen beurteilt wird und das im Sozialprozeß entsteht und vergeht. Sozialabweichendes Verhalten besitzt keine Qualität allein aus sich selbst heraus, es ist vielmehr wesentlich von der informellen sozialen Reaktion und deren Rückwirkung mit abhängig. Die soziale Definition von sozialabweichendem Verhalten ist auch ein Mittel der Sozialkontrolle. Die Kriminologie interessiert sich besonders für die Wechselwirkungen zwischen Kriminalität und sozialabweichendem Verhalten. Aus sozialabweichendem Verhalten entsteht im Wege der Kriminalisierung (durch Strafgesetzgebung) Kriminalität, die wiederum durch den Gesetzgeber (Entkriminalisierung) zu sozialabweichendem Verhalten herabgestuft werden kann. Das Verbrechen entsteht und vergeht im individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß. Kern dieses Prozesses ist die Tat, die Art, der Ort und die Zeit ihrer Begehung. Mit der Verbrechensaufklärung, der Uberführung des Rechtsbrechers und der Beschaffung und Sicherung zuverlässiger Beweismittel für ein ordnungsgemäßes Strafverfahren befaßt sich die Kriminalistik, ein Teilgebiet der Kriminologie. Sie führt z. B. Untersuchungen mit Hilfe der Toxikologie (Wissenschaft von den Vergiftungen), Fotografie, Daktyloskopie (Lehre von den Fingerabdrücken) und Schriftvergleichung durch (Hans Groß, Friedrich Geerds 1977, 1978; Geerds 1980, 1981a). Die kriminelle Persönlichkeit ist ein Prozeß, die kriminelle Karriere eingebettet in größere soziale Zusammenhänge. Zum individuellen Kriminalisierungsprozeß gehören der bewußte oder unbewußte Motivationsprozeß des Täters, die praktische Anwendung der Strafgesetze und die Sozio- und Psychodynamik des Strafverfahrens, bei der es der Kriminologie z. B. darum geht, welche Beziehungen sich im Laufe des Strafverfahrens zwischen den Verfahrensbeteiligten bilden, welche Einstellungen sie zur Kriminalität allgemein entwickeln und wie sie emotional zum Angeklagten stehen (Geerds 1981b). In diesem auf das Individuum bezogenen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozeß kommt es nicht nur auf die formale Reaktion der Instanzen der Sozialkontrolle (z. B. Behandlung in einer Strafvollzugsanstalt), sondern auch auf informelle Reaktionen im sozialen Nahraum des Individuums (z. B. Vorbeugung gegen Kriminalität in

Begriff, Aufgaben und Abgrenzung der Kriminologie

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der Familie) an. T a t s ä c h l i c h e R e a k t i o n e n k ö n n e n im Fall der nicht a n g e z e i g t e n , u n e n t d e c k t und v e r b o r g e n gebliebenen Kriminalität g a n z entfallen. D i e sich auf diese K r i m i n a l i t ä t b e z i e h e n d e D u n k e l f e l d f o r s c h u n g g e h ö r t als w e s e n t l i c h e r B e standteil z u r K r i m i n o l o g i e . D i e E r f o r s c h u n g der T ä t e r - O p f e r - B e z i e h u n g und der M i t w i r k u n g des O p f e r s an Kriminalitätsentstehung und - k o n t r o l l e ist ein wesentliches A u f g a b e n g e b i e t der V i k t i m o l o g i e , eines T e i l b e r e i c h s der K r i m i n o logie. D i e R i c h t e r p s y c h o l o g i e w i d m e t sich beispielsweise dem P r o b l e m , o b bei der B e w e i s w ü r d i g u n g , der Auswahl der R e a k t i o n s m i t t e l auf das V e r b r e c h e n und der S t r a f z u m e s s u n g Persönlichkeitseinflüsse des S t r a f r i c h t e r s , also s a c h f r e m d e E r w ä g u n g e n , in die E n t s c h e i d u n g mit eingehen. N a c h der V e r u r t e i l u n g des R e c h t s b r e c h e r s w e n d e t sich die Strafvollzugswissenschaft, ein Bestandteil der K r i m i n o l o g i e , dem S t r a f g e f a n g e n e n zu, a b e r nicht nur ihm. D i e Strafvollzugswissenschaft untersucht z. B . , wie sich die Freiheitsstrafe auf den S t r a f g e f a n g e nen auswirkt, o b durch B e h a n d l u n g s m e t h o d e n sein R ü c k f a l l vermieden w e r d e n kann und wie sich die Einstellungen der Strafvollzugsbediensteten z u r K r i m i n a lität und zu ihrer V e r b r e c h e n s b e k ä m p f u n g s a u f g a b e allgemein und zu den S t r a f g e f a n g e n e n k o n k r e t auf die weitere V e r b r e c h e n s e n t s t e h u n g , also auf die R ü c k fallneigung der S t r a f g e f a n g e n e n , auswirken. D i e K r i m i n a l p o l i t i k (Rudolf Sieverts 1 9 7 7 ; Heinz Zipf 1 9 8 0 ) verfolgt das Ziel, die auf der empirischen F o r schung b e r u h e n d e n neuen E r k e n n t n i s s e der K r i m i n o l o g i e an den G e s e t z g e b e r und an den G e s e t z a n w e n d e r , die I n s t a n z e n der S o z i a l k o n t r o l l e , w e i t e r z u g e b e n , damit sie G e b r a u c h von diesen E r k e n n t n i s s e n m a c h e n k ö n n e n . Sie ist also V e r mittler und Bindeglied zwischen K r i m i n o l o g i e und G e s e t z g e b e r und - a n w e n d e r . S i e ist in dieser F u n k t i o n Bestandteil der K r i m i n o l o g i e . K r i m i n o l o g i e ist die H u m a n - und S o z i a l w i s s e n s c h a f t , die individuelle und g e sellschaftliche Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse empirisch e r f o r s c h t und die ihre E r k e n n t n i s s e als E m p f e h l u n g e n an G e s e t z g e b e r und - a n w e n d e r weitergibt. I h r G e g e n s t a n d u m f a ß t die P r o z e s s e der S t r a f g e s e t z g e b u n g , des E n t s t e h e n s und V e r g e h e n s s o z i a l a b w e i c h e n d e n V e r h a l t e n s , der E n t w i c k l u n g und B e k ä m p f u n g von K r i m i n a l i t ä t und V e r b r e c h e n , der P e r s ö n l i c h k e i t des R e c h t s b r e c h e r s und seiner kriminellen K a r r i e r e , der P e r s ö n l i c h k e i t des O p f e r s und seiner viktimellen K a r r i e r e , der f o r m e l l e n R e a k t i o n auf Kriminalität (z. B. durch die Praxis der S t r a f r e c h t s p f l e g e ) , der i n f o r m e l l e n S o z i a l k o n t r o l l e (z. B . durch Familie und S c h u l e ) und der sekundären S o z i a l a b w e i c h u n g und K r i m i n a lität. D i e s e P r o z e s s e beeinflussen sich gegenseitig und bilden als individuelle und gesellschaftliche Kriminalisierungs- und E n t k r i m i n a l i s i e r u n g s p r o z e s s e bestimmte A b f o l g e n von I n t e r a k t i o n e n . N a c h dieser D e f i n i t i o n k a n n der K r i m i n o l o g e S t r a f g e s e t z g e b u n g und - a n w e n d u n g in kritischer D i s t a n z analysieren. S o z i a l a b weichendes und kriminelles V e r h a l t e n , die w e g e n ihrer reaktiven V e r s c h i e d e n a r tigkeit zwei unterschiedliche D i m e n s i o n e n bilden, stehen mit i n f o r m e l l e r und f o r m e l l e r K o n t r o l l e in I n t e r a k t i o n und sind dynamisch b e s t i m m b a r . D i e P e r s ö n lichkeiten der T ä t e r und O p f e r w e r d e n nicht ausgespart, allerdings als P r o z e s s e verstanden, die gleichwohl e r m ö g l i c h e n , daß alle P e r s ö n l i c h k e i t s z ü g e b e r ü c k -

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und Sozialwissenschaft

sichtigt werden. T ä t e r und O p f e r entwickeln und ergänzen sich in Interaktionsprozessen. Die Ambivalenz informeller und formeller Reaktion auf sozialabweichendes und kriminelles Verhalten ist beachtet: Informelle und formelle R e a k tion wirken sich häufig, aber keineswegs immer im Sinne sozialer Kontrolle aus. Durch sie kann vielmehr sozialabweichendes und kriminelles Verhalten gefördert und verschärft werden. Sekundäre Sozialabweichung und Kriminalität bilden deshalb ebenso wie das Verbrechensopfer selbständige Dimensionen des Kriminologie-Begriffs. D e n n das Verbrechensopfer kann nicht nur bei der V e r brechensverursachung und -kontrolle mitwirken, sondern es bedarf der Behandlung, der „Resozialisierung". Die Kriminologie hat die Aufgabe, die Interaktionsprozesse zwischen T ä t e r , O p f e r und Gesellschaft zu analysieren. Es ist ihr T h e m a , die Systeme des V e r brechens, der Kriminalität, der Delinquenz, der Sozialabweichung, des Rechtsbrechers, des Verbrechensopfers, der informellen und formellen Sozialkontrolle und der sekundären Sozialabweichung und Kriminalität „auseinanderzukoppeln" und wieder „zusammenzukoppeln". Aufgrund ihrer theoretischen und empirischen Forschungen arbeitet die Kriminologie ihre Erkenntnisse in kriminalpolitische Empfehlungen um, die sie an Gesetzgeber und -anwender zur praktischen Verarbeitung weitergibt. Gegenstand der Kriminologie ist die theoretische und empirische schung folgender Prozesse und Systeme:

Erfor-

— des sozialen und individuellen Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesses, der Wechselwirkungen zwischen Konformität, Sozialabweichung und Kriminalität, — des Verbrechens als Einzelerscheinung und der Kriminalität als Massenerscheinung, der Kriminalität im engeren und weiteren Sinne (Umfang, Struktur, Erscheinungsformen, Ursachen, Entwicklung und Dunkelfeld), — der Delinquenz im engeren und weiteren Sinne ( U m f a n g , Struktur, Erscheinungsformen, Ursachen, Entwicklung und Dunkelfeld), — der Sozialabweichung (Umfang, Erscheinungsformen, Ursachen und E n t wicklung), — des Rechtsbrechers (seiner psychischen und sozialen Persönlichkeitsdynamik, seiner kriminellen Karriere und seiner Behandlung), — des Verbrechensopfers (seiner psychischen und sozialen Persönlichkeitsdynamik, seiner viktimellen Karriere und seiner Behandlung), — der Reaktion auf V e r b r e c h e n , Kriminalität, Delinquenz und Sozialabweichung, — der informellen Sozialkontrolle, — der formellen Sozialkontrolle (der Strafgesetzgebung und -anwendung), — der sekundären Devianz, — der sekundären Kriminalität und Delinquenz.

Begriff, A u f g a b e n und A b g r e n z u n g der K r i m i n o l o g i e

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Rechtsmedizin, forensische (von Forum, lat.: Versammlungsplatz, Gericht) Psychiatrie, Rechtspsychologie und Rechtssoziologie sind der Kriminologie verwandte Wissenschaften. Die Rechtsmedizin wendet zur Klärung von Rechtsfragen, die für die Strafrechtsanwendung, insbesondere die Urteilsfindung, bedeutsam sind, medizinische Methoden an. Sie befaßt sich beispielsweise mit der T o des-, Todesursachen- und Todeszeitfeststellung, mit Spermen- und Blutalkoholuntersuchungen (Georg Eisen 1973, 1974, 1977). Der forensischen Psychiatrie geht es um die tatsächlichen und möglichen Auswirkungen psychischer Krankheiten und Abnormitäten in den verschiedenen Bereichen der Rechtsordnung. Sie widmet sich vor allem der Persönlichkeitserforschung des psychisch kranken oder abnormen Rechtsbrechers, insbesondere im Rahmen der Begutachtung seiner Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB), und seiner Behandlung (Wilfried Rasch 1986; Hans Göppinger, Hermann Witter 1972). Die Rechtspsychologie behandelt alle psychologischen Fragen, die mit der gesamten Gerichtspraxis einschließlich dem Zivilrecht zusammenhängen. So ist es beispielsweise ihre Aufgabe, die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen und die Verantwortungsreife (§§ 3, 105 JGG) des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten zu begutachten (Harry Dettenbom, Hans-H. Fröhlich, Hans Szewczyk 1984; Szewczyk 1981 a; Elisabeth Müller-Luckmann 1981; Karl Peters 1967). Die Rechtssoziologie bearbeitet Fragen der Rechtstatsachenforschung, der sozialen Wirklichkeit des Rechts: Aufgabe des Rechts innerhalb der Gesellschaft, Analyse von Verhaltensund Rechtsnormen, Einfluß sozialer Prozesse auf das Recht und Wirkung von Rechtsnormen auf soziale Prozesse (Werner Krawietz 1984; Niklas Luhmann 1983). Als Kriminalwissenschaften sind die Kriminologie, eine Seinswissenschaft, und das Strafrecht, eine Sollenswissenschaft, historisch eng miteinander verbunden (vgl. zur Aufgabe des Strafrechts: Johannes Wessels 1985a, 1—4). Denn viele Kriminologen waren und sind auch Strafrechtler. Der Strafrechtler ist Dogmatiker, Systemdenker, der Kriminologe Zetetiker, Problemdenker (Detlef Krauß 1971, 26). Die Kriminologie ist eine empirische H u m a n - und Sozialwissenschaft (Jean Pinatel 1971, 11). Die Strafrechtswissenschaft verfolgt die Aufgabe, „die Strafrechtsnormen in ihrem inneren Zusammenhang, also systematisch zu entwickeln und zu deuten" (Hans Göppinger 1980, 14). Sie grenzt die Strafrechtsnormen voneinander ab, sie legt sie aus und sie wendet sie an, indem sie Lebenssachverhalte unter die Strafrechtsnormen subsumiert, unterordnet. Bei der Strafrechtsauslegung achtet sie darauf, daß die Prinzipien des Rechtsstaates eingehalten werden. Denn das Strafrecht erfüllt eine Garantiefunktion gegenüber dem Rechtsbrecher: Er darf nur für ein Verhalten bestraft werden, dessen Strafbarkeit durch das Strafgesetz vor der Begehung der Straftat angedroht worden ist (Magna Charta des Verbrechers; nullum crimen, nulla poena sine lege). Herrscht im Strafrecht Meinungsdenken vor, so zielt die Kriminologie auf eine möglichst wertfreie Analyse, auf wissenschaftliche Objektivität (Günther Kaiser 1980 a, 55/56). Sorgt das materielle Strafrecht dafür, daß die Reaktion des Staa-

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II. Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft

tes auf Kriminalität überhaupt und in rechtsstaatlicher Weise durchgesetzt wird, so ist es Aufgabe des formellen Strafrechts oder des Strafverfahrensrechts, daß dies in einer geordneten und rechtsstaatlichen Form geschieht (Claus Roxin 1985). Daß im Strafverfahren der „wahre" Sachverhalt ermittelt wird, ist auch Sache der Kriminologie, die die Sozio- und Psychodynamik, also die sachlichen Grundlagen des Strafverfahrens erforscht und die den tatsächlichen Prozeß der richterlichen Beweiswürdigung und Urteilsfindung — einschließlich der richterlichen Strafzumessung — kritisch analysiert. Fehlurteile kommen nämlich vor allem aufgrund falscher Tatsachenbewertung und nicht so sehr aufgrund verfehlter Strafrechtsauslegung zustande. Das Strafverfahrensrecht legt das Eingriffsrecht der Strafverfolgungsbehörden und die Grenzen dieses Eingriffsrechts zum Schutze der Freiheit des einzelnen fest.

3. Geschichte der Kriminologie Uberblick In der primitiven Gesellschaft diente die Strafe der Besänftigung des Zornes der Götter, wenn ein Tabu (Unverletzliches, Unberührbares) verletzt worden war. Für die Frage nach den Gründen der Übertretung von Tabus war kein Raum. Das Altertum konnte über Verbrechen und Strafen philosophieren. Es standen ihm jedoch keine natur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden zur Verfügung, die geeignet gewesen wären, den Ursachen des Verbrechens als Einzel- und der Kriminalität als Massenerscheinung nachzugehen. Immerhin machten sich die griechischen Philosophen Gedanken über die Entstehung der Kriminalität, und Pluto (428 — 348 v. Chr.) hielt z. B. mangelhafte Erziehung für einen maßgeblichen Grund (Israel Drapkin 1983). Im christlichen Mittelalter herrschte die Strafauffassung vor, die der Jurist Benedict Carpzow (1595 —1666) — als einer unter vielen — so eindrucksvoll vertreten hat: Das Verbrechen hat nicht nur rechtliche Bedeutung als Verletzung staatlicher Normen, sondern es bedeutet stets auch Sünde wider Gott, Verfehlung geistlichen Lebens. Die staatliche Strafe ist notwendig, weil Gott sie will. Für diese theokratische Strafauffassung trat Thomas von Aquin (1225—1274) in ähnlicher Weise ein wie Martin Luther (1483—1546). Es war ein wesentliches Prinzip der christlichen Gedankenwelt des Mittelalters, daß durch die Strafe Gottes Zorn über die Missetat vom Land abgewendet, daß das Land also „entsühnt" werden könne. Für das ewige Seelenheil des Verbrechers war entscheidend, daß er selbst durch das Strafleid mit Gott ausgesöhnt wurde. Solange der Rechtsbruch als Verfehlung gegen Gott und als Besessenheit vom Teufel aufgefaßt wurde, vermochte sich keine Kriminologie zu entwickeln, die über die Entstehung und Verhütung von Verbrechen nachdachte. Zwar vertrat Thomas Morus (1478 —1535), dem aufgefallen war, daß

G e s c h i c h t e der K r i m i n o l o g i e

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trotz der harten Strafpraxis seiner Zeit die Kriminalität zunahm, bereits in seinem Buch „Utopia" ( 1 5 1 6 ) die Auffassung, die Ursachen der Kriminalität lägen in der Gesellschaft. Diese Meinung blieb aber vereinzelt. Denn die theokratische Strafauffassung des Mittelalters gründete sich auf eine außerweltliche Erklärung des V e r b r e c h e n s , die nicht an örtliche und zeitliche Beschränkungen gebunden und die vom menschlichen Verstand unabhängig war. Erst der Rationalismus des 18. Jahrhunderts eröffnete dem Menschen den geistigen und sozialen Freiraum, der notwendig war, sich mit seiner Konformität, Sozialabweichung und Kriminalität in realer und kritischer Weise auseinanderzusetzen. In der Geschichte der Kriminologie kann man drei E p o c h e n unterscheiden: die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts, die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts und die neuzeitliche Kriminologie der Mitte des 20. J a h r hunderts. Neben diesen E p o c h e n und um sie herum haben sich zwar kriminalpsychologische und kriminalsoziologische Strömungen innerhalb der Kriminologie darum bemüht, die kriminelle Persönlichkeit zu erforschen und die Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft zu erkunden. Sie haben aber nicht so maßgeblichen Einfluß auf die heutige Gestalt der Kriminologie auszuüben vermocht wie gerade die drei genannten Epochen. N a c h der Klassischen Schule sind Intelligenz und V e r n u n f t die grundlegenden Kennzeichen des Menschen; sie sind die Basis der Erklärung seines individuellen und sozialen Verhaltens. D e r Mensch kontrolliert sein eigenes Schicksal; er hat einen freien Willen. D i e vernunftbestimmte Antwort der Gesellschaft auf das V e r b r e c h e n besteht in der Erhöhung der Kosten für seine Begehung und in der Verminderung seines Nutzens. Das so vor die W a h l gestellte Individuum wird sich in vernünftiger Weise k o n f o r m verhalten. D i e Positivistische Schule teilt diesen Optimismus nicht: Menschliches Verhalten wird von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren bestimmt, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Es ist die Aufgabe der Kriminologie, die physischen, psychischen und sozialen Merkmale des Rechtsbrechers empirisch zu untersuchen. D i e Positivisten wollten Menschen wohlwollend zur T u g e n d , zu beruflichen Fähigkeiten und zur sozialen Disziplin zwingen. Blickt die Klassische Schule auf die T a t , in die V e r g a n genheit und auf die Schuld, so richtet die Positivistische Schule ihre Aufmerksamkeit auf den T ä t e r , seine Zukunft und seine Gefährlichkeit. Ist die Klassische Schule rechtsstaatsorientiert, so ist die Positivistische Schule behandlungsorientiert. Die moderne Schule der Kriminologie hat mit der Reaktion auf Sozialabweichung und Kriminalität neue Dimensionen erschlossen: das Verbrechensopfer und die Sozialkontrolle. Es wird nicht mehr nur in statischer Weise nach den Ursachen des Verbrechens gefragt. D i e Kriminalitätsverursachung wird vielmehr als Sozialprozeß verstanden, an dem T ä t e r , O p f e r und Gesellschaft beteiligt sind. Gleichzeitig werden auch die Sozialprozesse untersucht, durch die V e r h a l ten und Personen als kriminell definiert werden. Insofern interessiert sich die moderne Kriminologie nicht nur für das Verhalten von Personen, die von anderen als kriminell definiert werden, sondern auch für das Verhalten von Perso-

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nen, die andere als kriminell definieren (z. B. Polizei, Gericht und Strafvollzug). Die moderne Kriminologie hat das Verbrechensopfer und die informelle und formelle Sozialkontrolle entdeckt, die nicht nur in ihrer kriminalitätsverhütenden Aufgabe gesehen, sondern auch in ihrer verbrechenserhaltenden und -fördernden Funktion kritisch beurteilt werden. Moderne Kriminologen verstehen „Kriminalität" und „Krimineller" als Benennungen, die auf Verhalten und Personen angewandt werden. Sie sehen auch ihre Zielsetzung darin, die Sozialprozesse zu analysieren, durch die von solchen Etikettierungen Gebrauch gemacht wird.

Die Klassische Schule im 18. Jahrhundert Im Jahre 1764 veröffentlichte der damals noch nicht 26jährige italienische Jurist Cesare Beccaria (1738—1794) ein schmales Bändchen unter dem Titel „Dei delitti e delle pene" (Uber Verbrechen und Strafe), das ihn über Nacht weltbekannt machte, das in kürzester Zeit ins Französische, Englische, Deutsche, Holländische, Polnische, Spanische, Russische und Griechische übersetzt wurde und das mehr als 60 Auflagen erlebte. Beccaria stand unter dem geistigen Einfluß der Aufklärung. Jean-Jacques Rousseau (1712—1778), Charles de Montesquieu (1689—1755) und François-Marie Arouet (Voltaire) (1694—1778) waren seine philosophischen Vorbilder. Er war selbst überrascht von seinem frühen Bucherfolg, den er nicht mehr zu wiederholen vermochte. Denn er hatte eigentlich nichts Neues und nichts grundlegend Originelles gesagt, nichts, was nicht schon bekannt gewesen wäre. Will man die außerordentliche Wirkung verstehen, die Beccarias Buch in Europa und Nordamerika hatte, so ist es erforderlich, sich die Strafgerichtspraxis des 18. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen: Die Strafgesetze und ihre Anwendung waren grausam und unbestimmt. Korruption und Folter waren weit verbreitet. Todesstrafe und Körperstrafen wurden allenthalben angewandt. Gleichheit vor dem Gesetz war nicht verwirklicht. Zwischen Angeklagtem und Veruteiltem wurde kein Unterschied gemacht. In einigen Ländern Europas wurden immer noch Hexen gefoltert, verurteilt und verbrannt. Beccarias Buch war kurz, verständlich geschrieben und enthielt alle wesentlichen Gedanken zur Strafrechtsreform. Er verwandte klare Begriffe, begründete seine Empfehlungen mit logischen Argumenten und berichtete mit anspruchsloser Einfachheit und Genauigkeit. Gleichwohl erklären diese Vorzüge seines Buches seinen Erfolg noch nicht vollständig. Beccarias Buch traf auf eine Welt, die für seine Gedanken reif war. Er strebte das größte Glück einer möglichst großen Zahl von Menschen an. Er setzte sich für klare, einfache und genaue Strafgesetze ein. Er wandte sich gegen geheime Strafverfahren und gegen die Grausamkeit der Strafen. Er sprach den Menschen das Recht ab, mittels der Todesstrafe anderen Menschen das Leben zu nehmen. Die Abschaffung der barbarischen, grausamen Strafen wird dazu beitragen, daß die Menschen humaner und feinfühliger wer-

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den und daß sie weniger Verbrechen begehen. So argumentierte er. Nicht die Schwere der Strafandrohung, sondern die Bestimmtheit und Schnelligkeit, mit der die Strafe der Tat auf dem Fuße folgt, ist für ihre Wirksamkeit maßgebend. Ein Mensch ist so lange schuldlos, bis er vom Gericht verurteilt worden ist. Beccaria setzte sich dafür ein, daß Strafen notwendig, vom Strafgesetz angeordnet und zur Straftat in einem vernünftigen Verhältnis standen und angemessen waren (Marcello Maestro 1973). Friedrich II. von Preußen, der 1740 die Folter abgeschafft hatte und den Beccaria „einen der weisesten Monarchen, einen Philosophen auf dem T h r o n " nannte, schrieb 1777 in einem Brief an Voltaire: „Beccaria hat uns nichts zur Klärung übriggelassen. Wir haben nur dem zu folgen, was er geschrieben hat." Einen typisch britisch-pragmatischen Beitrag zur Klassischen Schule der Kriminologie leistete John Howard (1726—1790), als er im Jahre 1777 im Alter von 51 Jahren sein Buch „The State of Prisons" (Der Zustand der Strafanstalten) auf eigene Kosten veröffentlichte und an die Abgeordneten des britischen Unterhauses verteilte. Er hatte in fünf Reisen durch ganz Europa mehr als 300 Strafanstalten besucht. In seinem Buch „Der Zustand der Strafanstalten" gibt er einen nüchternen, schonungslos aufrichtigen Reisebericht, in dem er Zahl an Zahl, Tatsache an Tatsache, Strafanstaltsskizze an Strafanstaltsskizze reiht und der keinerlei Übertreibungen oder gar Unwahrheiten enthielt. Howard, der kein aufgeregter Eiferer war, überzeugte dadurch, daß er alle Vorgänge und Zustände, über die er berichtete, selbst erlebt und gesehen hatte. Er hatte nämlich seine Forschungsreisen stets mit seinem Notizbuch in der H a n d unternommen und auf diese Weise die erste größere empirisch-kriminologische Untersuchung fertiggestellt. Er hatte ferner seine Reisen selbst finanziert und dadurch seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Er lieferte dem britischen Parlament empirisches Material für seine Gesetzgebung und gab zugleich Anstöße zu Strafvollzugsgesetzen, die 1778 und 1782 erlassen wurden. Howard setzte sich für die Menschenrechte und für die Gesunderhaltung der Strafgefangenen ein, deren Lebensbedingungen er zu verbessern suchte. Schuldner, Rechtsbrecher, Arme, Arbeitslose, Prostituierte, Geisteskranke und Kriegsgefangene wurden zu Howards Zeiten noch unterschiedslos gemeinsam in den Strafanstalten eingesperrt. Howard sprach sich für eine Trennung der Strafgefangenen nach Altersstufen und Geschlecht aus. Er empfahl luftige und lichterfüllte Hafträume und gute Arbeitsbedingungen f ü r Strafgefangene. Sein Buch, das kurz hintereinander in vier englischen Auflagen erschien, wurde 1780 ins Deutsche und 1788 ins Französische übersetzt. Als Weltbürger versuchte Howard nicht nur, die Strafanstalten seines Heimatlandes zu verbessern, sondern er unternahm es auch, durch persönliche Besuche bei europäischen Monarchen Strafvollzugssysteme des Kontinents zu reformieren. So sprach er 1778 persönlich bei Kaiserin Maria Theresia und 1786 bei Kaiser Joseph II. vor, um sich für bessere Lebensbedingungen der Strafgefangenen in den österreichischen Ländern einzusetzen (Albert Krebs 1978a, 1978b, 1978c).

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Kriminalpsychologie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Das phantastische Bild der kriminellen Persönlichkeit, das in der Volksmeinung unsicher zwischen Bewunderung und totaler Ablehnung hin und her schwankt, wurde noch durch Veröffentlichungen bestärkt, die sich als „kriminalpsychologisch" verstanden, die sich also einen wissenschaftlichen Anschein gaben. François Gayot de Pitaval (1673—1743) gab in den Jahren 1734 bis 1743 erstmalig in Paris „merkwürdige Kriminalfälle" in 20 Bänden heraus, die anschaulich und spannend geschildert waren, in denen Pitaval aber die Verbrechensmotive nicht psychologisch zu ergründen vermochte. Mit kühler Distanz blieb er kriminalpsychologisch an der Oberfläche, was zum großen Erfolg, zur weiten Verbreitung und zur mannigfaltigen Nachahmung (Der „Deutsche Pitaval", der „Wiener Pitaval", der „Prager Pitaval") seiner Veröffentlichungen beitrug. Denn die Bevölkerung zieht es vor, über Verbrechen aus der Ferne zu phantasieren. Vom Geist der Aufklärung war die Veranschaulichung der Rechtsfälle beeinflußt, die Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775—1833) in seinen Büchern „Merkwürdige Kriminalrechtsfälle" (zwei Bände, erschienen 1808 und 1811) und „Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen" (zwei Bände, erschienen 1828 und 1829) zusammengestellt hat. Er betonte das Außergewöhnliche und Dramatische seiner Kriminalfälle, die er regelmäßig auf einen Grund, auf ein rational erfaßbares Motiv seiner Rechtsbrecher zurückführte: der Raubmörder aus Eitelkeit, aus selbstverschuldeter Not, aus Jugendbosheit oder Greiseneinfalt, die Brandstifterin aus Leichtsinn, der Mädchenschlächter aus Rachsucht. Er gab seinen Kriminalfällen etwas Lebensfremdes, Unwirkliches, das er aber gleichwohl rational zu erklären wußte. Gefühl war für ihn nur eine getrübte Abart des Denkens. Unbewußte Motive gab es nicht. Weder Pitaval noch Feuerbach haben ihre Rechtsbrecher persönlich untersucht. Eben diese Fernperspektive sicherte ihren Büchern und ihren zahllosen Nachahmern ihren Erfolg, trug aber auch zur mangelnden Bewältigung der Probleme der Kriminalität und der Sozialabweichung bei. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Erich Wulffen (o. J.) und Albert Hellwig (1929) die Beziehung des Verbrechers zum Okkultismus (Lehre von der Wahrnehmung übersinnlicher Kräfte), zur Telepathie (Fernfühlen, Wahrnehmen seelischer Vorgänge eines anderen Menschen ohne Vermittlung der Sinnesorgane), zum Spuk und zum Aberglauben betont. Zum Verstehen und zur Verhütung der Kriminalität haben diese Bemühungen wenig beigetragen. Die Kriminalpsychologie diente indessen nicht nur der Unterhaltung, sondern sie setzte sich auch praktische Ziele. Sie wollte den Straftäter im Strafverfahren erkennen und überführen. Dazu bediente man sich im 19. Jahrhundert anspruchsloser Methoden. Mit Hilfe von Gebärdenprotokollen (/. B. Friedreich 1842) wollte man aus dem Benehmen, aus dem Ausdruck, aus der Haltung einer vor Gericht vernommenen Person auf ihre innere Gemütsverfassung, auf die Gefühle schließen, die der Verhörte bei einzelnen Fragen und Antworten durch seine Gebärden an den Tag legte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts übertrug der

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Grazer Kriminologe Hans Groß, der 1898 das „Archiv für Kriminologie" gründete, das heute hauptsächlich zur kriminalistischen Zeitschrift geworden ist, die bedeutsamen Fortschritte, die die physiologische und experimentelle Psychologie inzwischen gemacht hatten, auf die Vernehmungs- und Aussagepsychologie. In seiner „Kriminalpsychologie" (1905), die 1911 in englischer Übersetzung in den USA erschien, machte er mit den damals neuesten Forschungsergebnissen der physiologischen und experimentellen Psychologie — z. B. anknüpfend an die Lehren Gustav Theodor Fechners (1801 — 1887) — bekannt: mit Reflexbewegungen, mit Sinneswahrnehmungen, mit Denkvermögen, mit Assoziationen, mit psychischen Phänomenen wie Erinnerung, Gedächtnis, Wille, Gefühl und mit Sinnestäuschungen. Eine Aussagepsychologie entwickelte sich {KarlMarbe 1926; Otto Mönkemöller 1939; William Stern 1926), die sich als Hauptteil der forensischen Psychologie von der Kriminalpsychologie abspaltete. Albert Hellwig baute (1927) eine Psychologie des Vernehmenden, des Polizeibeamten, des Richters, des Sachverständigen, eine Psychologie des Vernommenen, des Beschuldigten, des Zeugen und eine Vernehmungstechnik auf. In seiner „Psychologie des Strafverfahrens" stellte Roland Graßberger (1968 a) die Charakteristik der am Strafverfahren Beteiligten und ihrer Tätigkeit, der Phasen und Situationen des Verfahrens dar. Diese Seite der Kriminalpsychologie ist seitdem stark vernachlässigt worden. Von ihren Anfängen bis zum Aufkommen der Tiefenpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Kriminalpsychologie auf die herabsetzende Kennzeichnung des Kriminellen durch einfache Aufzählung von negativen Persönlichkeitseigenschaften und Merkmalen seines sozialen Nahraums beschränkt. Sie verstand sich allzu lange als beschreibende Oberflächenpsychologie, die in statischer Weise bei der Beschreibung der rationalen Schichten der Persönlichkeit verharrte. Sie schilderte die kriminelle Persönlichkeit einfach mit Wörtern wie Faulheit, Leichtsinn, Unbeständigkeit, Eitelkeit, Sorglosigkeit, Rachsucht, Grausamkeit, brutale Genußsucht, Gewissenlosigkeit, Mangel an Reue, Verlogenheit, Verschlagenheit und Hinterlist. Sie brandmarkte den Rechtsbrecher auf diese Weise, und sie blieb allzu lange nur „Verbrecherpsychologie", weil sie sich zum Forschungsziel setzte, bestimmte Verbrechertypen herauszuarbeiten, und weil sie die Wechselwirkungen zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft unberücksichtigt ließ. In der Forschung wandte sie schlichte Methoden an: Strafgefangenen wurden Schreibhefte überlassen, damit sie — ohne Anleitung und Kontrolle — ihre Gedanken und Gefühle niederschreiben konnten (Johannes Jäger 1906). Die Notizen, Lebensläufe, Aufsätze, Selbstbekenntnisse und Gedichte der Gefangenen wurden einfach interpretiert. Man stellte Strafgefangenen Aufsatzthemen (Walter Luz 1928), um alle Fragen, mit denen sich die Kriminalpsychologie befaßte, auch „vom Verbrecher selbst" beantworten zu lassen. Der Kriminelle sollte die Ursachen des Verbrechens und die Wirkungen der Verbrechensbekämpfung selbst beurteilen. Man glaubte, er müsse es selbst doch am besten wissen. Man bedachte nicht, daß der Verbrecher die tieferen Ursachen

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seiner Tat nicht kennt und daß er allzu leicht geneigt sein kann, Rechtfertigungen für sein kriminelles Verhalten zu erfinden und Behauptungen aufzustellen, die ihn vor jeder tieferen Einsicht „schützen". Einer der ersten Kriminalpsychologen, der Deutsche Carl von Eckartsbausen, beklagte sich (1791, 19) über den Strafrichter seiner Zeit: „Wie widersinnig und grausam ist das Verfahren desjenigen, der nichts anderes tut, als daß er der begangenen Tat ihren Namen gibt, im Gesetzbuch das Urteil aufsucht, das über sie unter diesem „Namen" gesprochen wird, und ohne weitere Überlegung den schrecklichsten Ausspruch wagt, den ein Mensch gegen einen Menschen wagen kann, den Ausspruch: Er soll sterben!" (vgl. auch Josef Kürzinger 1986). Sein deutscher Kollege Johann Christian Gottlieb Schaumann pflichtete ihm (1792, 63) bei, indem er betonte, daß der Strafrichter nicht nur Rechtskenntnisse besitzen, sondern sich auch Einblick in die Persönlichkeit des Rechtsbrechers verschaffen müsse. Er hielt die Kriminalpsychologie bereits für eine empirische Wissenschaft mit den Methoden: Verhaltensbeobachtung, Ausdruckskunde und Biographie. Nach Johann Christoph Hoffbauer (1808) soll der Kriminalpsychologe dem Gericht ein Gutachten über den „Gemütszustand" des Täters vorlegen, in dem er sich während seiner Tat befand. Aus dem Prinzip des Bösen wollte Johann Christian August Heinroth (1833) das Verbrechen herleiten. Er führte es auf bloße menschliche Schwäche zurück. Genußsucht und Arbeitsscheu waren die beiden vorherrschenden Persönlichkeitszüge des Rechtsbrechers, die A. Krauss (1884) in seiner Kriminalpsychologie hervorhebt. Als weitere „vorherrschende Triebfedern" nannte er: Eigennutz, Lügenhaftigkeit, hohe Verstellungskunst und Selbstsucht. Obgleich Max Kauffmann das Verbrechen (1912) mit Schwäche und Leere der Persönlichkeit des Rechtsbrechers, mit seinem Mangel an Überlegung und an Voraussicht in Zusammenhang brachte, findet sich bei ihm doch bereits der Hinweis auf den Umstand, daß auch die Reaktion auf Verbrechen und Rechtsbrecher Kriminalität verursachen kann: „Die Strafe bricht sehr häufig den Trotz, aber sie bricht auch den Stolz und die Selbstachtung" (1912, 250). Kauffmann warnt deshalb vor allzu strengen Strafen. Paul Pollitz arbeitet (1916) gleichfalls psychische Eigenschaften des Verbrechers heraus: Fehlen des Mitgefühls, herabgesetztes Schmerzgefühl, Gleichgültigkeit gegen Bestrafung, Unempfindlichkeit, Eitelkeit, Neigung zu Spiel, T r u n k und sexuellem Verkehr. Andreas Bjerre, der eingehende Gespräche mit Strafgefangenen im Zentralgefängnis von Langholmen bei Stockholm führte und der (1925) Verbrechermonographien aufgrund dieser Gespräche veröffentlichte, erkannte in der Schwäche der Persönlichkeit des Rechtsbrechers, in seiner allgemeinen Lebensuntauglichkeit, in seiner Unfähigkeit, den Anforderungen zu genügen, die das Dasein an jeden Menschen stellt, das Wesen des Verbrechens. Der Rechtsbrecher flieht vor der Wirklichkeit, mit der er nicht fertigwerden kann. Er führt ein Scheinleben, betrügt sich selbst und hat sich selbst aufgegeben. Er besitzt kein Vertrauen mehr zum Dasein. Radikaler Mangel an Selbstvertrauen und lebensfeindlicher Egoismus sind für ihn charakteristisch.

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Bewegten sich alle diese Versuche im bloßen Beschreiben der verbrecherischen Persönlichkeit, so versuchten Kriminalpsychologen unter dem Einfluß Sigmund Freuds (1915) genetisch-dynamisch bis in das Instinkt- und Triebleben des Vebrechers, bis in die unbewußten gefühlsmäßigen Tiefenschichten seiner Persönlichkeit vorzudringen. Der Engländer M. Hamblin Smith wandte als einer der ersten (1922) psychodiagnostische Tests auf Kriminelle an und untersuchte ihr Unbewußtes mit Hilfe der Traumanalyse. Nach dem Amerikaner David Abrahamsen (1944) ist der normale Mensch in der Lage, seine latenten, verborgen gebliebenen kriminellen Tendenzen zu kontrollieren und sie in sozial anerkannte Kanäle zu lenken. Das unterscheidet ihn vom Kriminellen, der kein „Uber-Ich", keine innere Kontrollinstanz, entwickelt hat. Ihm fehlen die seelischen Hemmungen, seine kriminellen Tendenzen nach außen hin zum Ausdruck zu bringen. Emotionaler Entzug und gefühlsmäßige Zurückweisung beeinflussen — nach Walter Bromberg (1948) — die Entwicklung des „Ich", der psychischen Ausgleichs- und Steuerungsinstanz. Verbrechen ist der Fehlschlag der Bemühung des Ich, Aggression, Haß und Frustration (Zurücksetzung, Versagung) unter Kontrolle zu halten. In den Straftaten des Rechtsbrechers kommen seine unbewußten Konflikte zum Ausdruck.

Kriminalsoziologie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Während sich die Kriminalpsychologie mit der Frage befaßt, warum der Mensch als einzelner zum Verbrecher wird, beschäftigt sich die Kriminalsoziologie mit dem Problem, inwieweit Häufigkeit und Art der Kriminalität von sozialen Faktoren (z. B. von der Wirtschaftslage) abhängen. Ist die Methode der Kriminalpsychologie die Persönlichkeitserforschung, so konzentriert sich die Kriminalsoziologie auf die Methode der statistischen Massenbeobachtung, um soziale Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. Der Mensch wird durch Massenbeobachtung zwar seiner Individualität entkleidet. Er nimmt aber die Gestalt eines Durchschnittsmenschen, einer rechnerischen Größe an, mit deren Hilfe man soziale Gesetzmäßigkeiten herausarbeiten kann. Die sozialen Ursachen der Kriminalität werden erkennbar (Ferdinand Tönnies 1895). In Frankreich begann die erste systematische Sammlung gerichtlicher Kriminalstatistiken. Der erste kriminalstatistische Jahresbericht — bezogen auf das Jahr 1825 — wurde 1827 veröffentlicht. André-Michel Guerry (1802 — 1866) stützte sich bei seinen kriminalstatistischen Forschungen auf das Zahlenmaterial der Jahrgänge 1825 bis 1830. Er erkannte (1833) als erster die Grundzüge der Altersverteilung der Kriminalität: Sie erreicht ihren Gipfel zwischen dem 25. und dem 30. Lebensjahr. Er entdeckte auch die untergeordnete Bedeutung der Armut für die Entstehung der Kriminalität: Gerade in den ärmsten Departements (Verwaltungsbezirken) Frankreichs kamen Betrug und Diebstahl am seltensten vor. Vermögensverbrechen sind allerdings von der Entwicklung des Handels und der

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Industrie abhängig. Die wichtigste Ursache der Kriminalität sah Guerty in der Demoralisierung der Bevölkerung, der man nicht durch bloß intellektuellen Unterricht, sondern nur durch die moralisch wichtigere Erziehung im Sinne der Charakterbildung begegnen könne. Einen noch bedeutenderen Beitrag als Guerry zur Entwicklung der Kriminalstatistik leistete der Belgier Adolphe Jacques Quetelet (1796—1874). Er verstand die Kriminalität (1835) als eine gesellschaftliche Erscheinung: Der Mensch ist das Produkt seiner physischen und sozialen Umwelt und seiner individuellen Eigenart. Die Gesellschaft bereitet die Verbrechen vor. Der Täter ist lediglich ihr Werkzeug. Jeder gesellschaftliche Verband bringt mit Notwendigkeit eine bestimmte Zahl und gewisse Arten von Verbrechen hervor, die fast wie eine notwendige Folge aus seiner Organisation erwachsen. „Es gibt ein Budget, das mit einer schauerlichen Regelmäßigkeit bezahlt wird, nämlich das der Gefängnisse, der Galeeren und der Schafotte." Quetelet wollte damit sagen, daß sich die kriminelle Wirklichkeit in einer Gesellschaft nach der kriminalstatistisch vorausgesagten Wahrscheinlichkeit gestaltet. Er arbeitete den „Hang zum Verbrechen" in seiner Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Beruf, Erziehung, Klima und Jahreszeit heraus. Unter „Hang zum Verbrechen" verstand er einen Wahrscheinlichkeitswert für einen Durchschnittsmenschen, der nur ein Zahlenausdruck, eine rechnerische Größe ist, die Vergleiche erlaubt: Der „Hang zum Verbrechen" erreicht nach raschem Anstieg seinen Gipfel zwischen dem 20. und dem 25. Lebensjahr, weil die physische Kraft und die Leidenschaften dann am größten sind und durch Vernunft nicht ausreichend gezügelt werden. Bei Männern ist der „Hang zum Verbrechen" viermal häufiger als bei Frauen, weil sie mehr unter dem moralischen Einfluß von Gefühlen, von Scham und Bescheidenheit stehen, weil sie wegen ihrer Abhängigkeit und Zurückgezogenheit keine Gelegenheit zur Kriminalitätsbegehung haben und weil ihnen wegen ihrer physischen Schwäche die Ausnutzung von Gelegenheiten zum Verbrechen nicht möglich ist. In Frankreich macht die Zahl der Verbrechen gegen die Person ungefähr ein Drittel des Umfangs der Vermögensdelikte aus. Die Rolle der Armut als Verbrechenursache wird oft überschätzt. Quetelet unterstreicht: Es ist der brüske Wechsel zwischen Wohlstand und Elend, der das Verbrechen hervorbringt. Der Verarmte ist überall von Versuchung umgeben. Er wird durch den ständigen Anblick von Luxus und Ungleichheit des Besitzes aufgereizt und entmutigt. Eine große Zahl von Verbrechen bleibt unbekannt, weil sie vom Opfer nicht wahrgenommen oder nicht angezeigt werden. Drei Bedingungen sind — nach Quetelet — für die Kriminalitätsverursachung wesentlich: der Wille zum Verbrechen, der auf dem Ausmaß an Moralität der Person beruht, die Gelegenheit zum Verbrechen und die Möglichkeit, diese gegebene Gelegenheit auszunutzen. Die Grundlagen zur kriminalsoziologischen Theorie legten die beiden Franzosen Gabriel Tarde (1843—1904) und Emile Dürkheim (1858 — 1917). Tarde entwickelte (1886, 1890) die Theorie vom kriminellen Berufstyp und von der kriminellen Nachahmung: Das Verbrechen ist ein Handwerk, ein Beruf. Der

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Berufskriminelle ist in speziellen Techniken geschult. Er macht eine lange Lehrzeit durch. Er besitzt eine eigene Fachsprache. Gegenüber seinen Mitkriminellen verhält er sich nach einem bestimmten Verhaltenskodex. Die mächtige, unbewußte und geheimnisvolle Triebkraft, die alle Phänomene der Gesellschaft einschließlich des Verbrechens erklärt, ist — nach Tarde — die Nachahmung, jene im eigentlichsten Sinne soziale „Bewegungsform, kraft deren der Gedanke sich von einem Gehirn zum anderen überträgt". Je engeren Kontakt die Menschen haben, desto mehr ahmen sie sich nach. Dürkheim sah das sozialabweichende Verhalten (1893, 1895, 1897) als normal an; er legte den Grundstein zur Anomietheorie: Sozialabweichendes Verhalten ist unvermeidbar, weil die Gesellschaft eine Mannigfaltigkeit des Verhaltens hervorbringt. Es ist in dem Sinne normal, daß eine Gesellschaft ohne Verbrechen krankhaft überkontrolliert sein würde. Wenn das Verbrechen in einer Gesellschaft beseitigt wäre, gäbe es in einer solchen Gesellschaft auch keinen Fortschritt und keinen sozialen Wandel. Die Grundbedingungen sozialer Organisation schließen das Verbrechen in logischer Weise ein. Hat der Kriminelle keine Möglichkeit zur Verbrechensbegehung, so kann sich das Genie auch nicht selbst entfalten. Unter Anomie verstand Dürkheim Normlosigkeit: In einer Gesellschaft mit menschlicher Solidarität und sozialem Zusammenhalt ist das Kriminalitätsvorkommen gering. Durch den Prozeß des sozialen Wandels, der auf Arbeitsteilung und technischem Fortschritt beruht, werden die einigenden Kräfte der Gesellschaft geschwächt. Leitbilder und Normen, die die Gesellschaft ordnen, veralten und werden bedeutungslos. Die Schranken der Leidenschaften fallen. Unordnung und soziales Chaos entstehen. Die Gesellschaft zerteilt und zersplittert sich. Der einzelne wird isoliert. Er nimmt am Leben und an den Erfahrungen anderer nicht mehr teil. Er empfindet anderen gegenüber keinerlei Verpflichtungen. Ohne einen Freund, ohne persönliche Eigenart und ohne die Hilfe der Gruppe endet das Leben in einem bedeutungslosen Nichts. Die Städte werden zu Zitadellen der Einsamkeit. Wenn der soziale Zusammenhalt zerbricht und die Isolation des einzelnen wächst, steigt das sozialabweichende Verhalten (Achim Mechler 1970). Ubernahmen die nordamerikanischen Kriminologen hauptsächlich die Weiterentwicklung der kriminalsoziologischen Theorie, so wurde die Kriminalstatistik von den beiden Deutschen Alexander von Oeningen (1827—1905) und Georg von Mayr (1841 — 1925) weiter vorangetrieben. Für die Erhebung kriminalstatistischer Daten erschienen von Oeningen (1882, 452—455) folgende Gesichtspunkte wesentlich: Feststellung nicht nur der abgeurteilten, sondern auch der angezeigten Fälle, Bestimmung des Verhältnisses der angezeigten Fälle zu den angeklagten Personen, Gruppierung der Fälle nach Verbrechensarten und Hauptmotiven, Unterscheidung von Verbrechen gegen die Person und Vermögensdelikten, Übersicht über die verhängten Strafen, Registrierung der Rückfälligen, Einführung einer kriminalstatistischen Zählkarte, auf der notorische Vagabunden und Bettler, Gewohnheitsdiebe und -Säufer, Prostituierte und Gewohnheitsverbrecher besonders ausgewiesen werden sollten. Von Oellingen

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warnte davor, absolute Zahlen miteinander zu vergleichen und aus zu kleinen Mengen zu weitreichende Schlüsse zu ziehen: „ V o r allem ist die rohe Vergleichung der offiziellen Zahlen in den durch ganz verschiedene Justizpflege charakterisierten Ländern durchaus unersprießlich, ja irreführend." Er empfahl eine Unterscheidung zwischen Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrechertum. Aufgrund der kriminalstatistischen Daten wollte er die Verbrechensursachen analysieren, um „neben der juristisch feststellbaren Personalschuld der einzelnen Verbrecher die moralische Kollektivschuld der Gesellschaft aufzudecken." Georg von Mayr sprach sich dafür aus ( 1 9 0 4 / 1 9 0 5 ) , die wirtschaftlichen Schädigungen durch Straftaten, insbesondere durch Vermögensdelikte, in der Kriminalstatistik festzuhalten und für schwere Verbrechen eine genaue dokumentarische Zusammenstellung der einzelnen Fälle zu veröffentlichen. Er unterschied (1911) bereits zwischen Primär- und Sekundärstatistik. Die Aufstellung einer Primärstatistik durch Befragung potentieller T ä t e r und Opfer, z. B. nach der Haushaltsbefragungsmethode, hielt er für undurchführbar: „Nicht einmal die durch Verfehlungen Geschädigten wird man über diese Verfehlungen primärstatistisch befragen können noch weniger selbstverständlich die Verfehler selbst über ihre antisozialen T a t e n . " Allein die Sekundärstatistik, die „infolge des Waltens der staatlichen Repression", aufgrund staatlicher Reaktion auf Verbrechen, aufgestellt wird, sah er als realistisch an. N a c h von Mayr {1911/1912) liefert die Kriminalstatistik Erkenntnisse über „die im Untergrund der Willensentscheidungen waltenden allgemeinen Dispositionen zum Verbrechen... ." Er setzte sich für eine „Motivenstatistik" ein, die die unmittelbaren Tatmotive angeben sollte. V o n jedem Strafrichter verlangte er ein präzises V o t u m über seinen Eindruck von den persönlichen Motiven zur T a t im Strafurteil. Die Reichskriminalstatistik, die seit 1882 auf der Zählung gerichtlicher Strafverfolgungen aufbaute, sollte durch eine Motivenstatistik aufgrund der Gerichtsurteile ergänzt werden, die niemals erstellt worden ist und die wegen der Vielschichtigkeit und schweren Feststellbarkeit der Tatmotive wohl auch nicht wünschbar ist. Ferner sollte eine polizeiliche Kriminalstatistik aufgebaut werden (1913), die sich auf polizeiliche Reaktion auf Verbrechen stützen sollte. Eine solche Statistik gibt es in den U S A erst seit 1929 und in der Bundesrepublik Deutschland erst seit 1953. Von Mayr erkannte bereits, daß man einen Wertmaßstab für die Schwere der Kriminalität entwickeln müsse und daß die staatliche Strafverfolgungsintensität die kriminalstatistischen Daten beeinflußt. Er maß dem unmittelbaren Einfluß der „Nahrungserschwerung und -erleichterung auf die Zu- und Abnahme von Verbrechen" eine zu große Bedeutung bei. Er hat (1917, 950) die parallele Entwicklung der Roggenpreise und der Vermögenskriminalität in ihrer Gesamtheit für die bayerischen Verhältnisse der J a h r e 1835 bis 1861 herausgearbeitet und die These aufgestellt: J e d e r Sechser, um den das Getreide in dieser Zeit im Preise gestiegen ist, hat einen Diebstahl mehr auf je 100 000 Einwohner verursacht. D a s Fallen des Getreidepreises um einen Sechser hat je einen Diebstahl verhütet. Die These von der Parallelität der Getreidepreiskurve und der Dieb-

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stahlskurve ließ sich in der Folgezeit nicht aufrechterhalten. Der Brotpreis bestimmte in den Jahren 1835 bis 1861 in Bayern die Lebenshaltung des Arbeiters wesentlich. Das änderte sich indessen um die Jahrhundertwende. In den Jahren 1897 bis 1913 beobachtete man eine Ablösung der Diebstahlskurve von der Getreidepreiskurve. Die allgemeinen Einkommensverhältnisse in dem wirtschaftlich aufblühenden Deutschen Reich hatten sich — ganz ähnlich wie in England und Frankreich — allmählich so weit zum Günstigen verändert, daß nicht jede Erhöhung des Getreidepreises, nicht jede kleine Verteuerung des Brotes, Not und Diebstahl zur Folge hatte (Franz Exner 1949, 70). Man erkannte damals vielmehr bereits, daß Armut Diebstahl kaum wesentlich verursacht. Der Engländer William Douglas Morrison (1908) arbeitete nämlich heraus, daß England am Ende des 19. Jahrhunderts sechsmal wohlhabender als Italien war und dennoch zwischen 1880 und 1884 eine höhere Diebstahlshäufigkeit hatte. Dasselbe traf — nach Morrison — für Frankreich im Verhältnis zu Irland zu. Hier wurde zum erstenmal so etwas wie Wohlstandskriminalität deutlich.

D e r Positivismus, seine Vorläufer und seine Auswirkungen Die „Scuola Positiva" Lombrosos, Garofalos und Ferris betrachtete den Verbrecher als eine in der Natur begründete pathologische Erscheinung. Der Kriminelle ist äußerlich durch körperliche Merkmale erkennbar; er ist meßbar und vorhersagbar. Man richtete die volle Aufmerksamkeit auf die Erforschung von Tatsachen und insbesondere auf die Untersuchung der kriminellen Persönlichkeit. Man wollte den Ursachen des Verbrechens auf die Spur kommen. Die Gefährlichkeit des Verbrechers sollte Maßstab für seine Behandlung sein. Bei der Kennzeichnung des Kriminellen gelangte man zu ähnlich verschwommenen Begriffen, wie sie heute noch in der Psychopathologie üblich sind (Marvin Wolfgang i960, 223). Lombroso hatte eine ganze Reihe von Vorgängern, auf deren Gedanken er sich stützte. Die Phrenologie, die Schädellehre, hatte der deutsche Arzt Franz Joseph Gall (1758—1828) entwickelt, der neuerdings als erster Kriminologe angesehen wird (Leonard Savitz, Stanley H. Turner, Toby Dickman 1977). Aus der Schädelgestaltung schloß er auf den Umfang des unterhalb einer Hervorwölbung gelegenen Gehirnorgans; aus diesem Umfang folgerte er auf die Entwicklung der Geistestätigkeit und auf die psychische Anlage. Er studierte die Verschiedenartigkeiten der Hirn- und Schädelbildung. Das Verbrechen hat — nach Gall — seine Ursache in einer organisierten Anlage des Gehirns. Er lokalisierte im Gehirn einen Raufsinn, einen Mord- und Würgesinn. In den Strafanstalten tastete er an den Köpfen der einzelnen Gefangenen die Verbrechen heraus, derentwegen sie eingesperrt waren. Der englische Psychiater James Cowles Prichard (1786—1848) unterschied zwischen intellektueller und gefühlsmäßiger Seite des menschlichen Seelenlebens. Von der geistigen Erkrankung trennte er die Störun-

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und Sozialwissenschaft

Ein-Btick Fenster 4: Verbrechersprache Die V e r b r e c h e r s p r a c h e ist eine Geheimsprache, die von gewohnheitsmäßigen Kriminellen o d e r Sozialabweichlern gesprochen wird und die d e r E r h a l t u n g und F ö r d e r u n g ihres gegenseitigen Verständnisses dienen soll. Sie ist als R o t welsch o d e r Jenisch auf den Straßen des Mittelalters entstanden und bis ins 14. J a h r h u n d e r t nachweisbar. Diese V e r b r e c h e r s p r a c h e (Kochemerloschen), die von Bettlern, V a g a n t e n , N i c h t s e ß h a f t e n , G a n g s t e r b a n d e n verwandt w o r den ist und die heute nur noch kriminalhistorische Bedeutung hat, ist durch die heutige Fixer- und Dealersprache im D r o g e n m i l i e u , d u r c h die R o c k e r sprache, die Gefängnissprache, durch die Prostituierten- und Z u h ä l t e r s p r a che und die Spezialsprachen der T e r r o r i s t e n , organisierten V e r b r e c h e r , gewohnheits- und berufsmäßigen Diebe, H e h l e r und Falschspieler ersetzt w o r den. Diese m o d e r n e n Spezialsprachen enthalten freilich noch R ü c k s t ä n d e der traditionellen Gaunersprache. Die V e r b r e c h e r s p r a c h e hat folgende Funktionen : — Sie stärkt das „ W i r - G e f ü h l " unter den Kriminellen. Sie vermittelt ihnen Selbstvertrauen und ein G e f ü h l der Geborgenheit. Die V e r b r e c h e r s p r a c h e ist A u s d r u c k krimineller L e b e n s f o r m e n und Einstellungen. Sie o f f e n b a r t die kriminelle Mentalität und Lebensphilosophie. Sie lenkt das D e n k e n und Fühlen in kriminelle Bahnen. — Verbrechersprache ist Geheimsprache. Sie dient der T a r n u n g und sprachlichen Maskierung verbotener Aktivitäten gegenüber Spitzeln, Polizisten, zufälligen Lauschern. — V e r b r e c h e r s p r a c h e ist kriminelle Berufs- und Fachsprache zum Z w e c k e der schnellen und sicheren V e r s t ä n d i g u n g über kriminelle Planungen und Abläufe. — Die Sprache der Kriminellen hat Signalwirkung. Sie ist schwer erlernbar, weil es nicht nur auf die Kenntnis von W ö r t e r n a n k o m m t , sondern auch auf die Art ihrer Aussprache. Die V e r w e n d u n g der V e r b r e c h e r s p r a c h e setzt einen genauen F'inblick in kriminelle Lebensformen und eine intime V e r t r a u t h e i t mit kriminellem D e n k e n und Fühlen voraus. Ihr Z w e c k ist u. a. auch die Entt a r n u n g von U n t e r g r u n d f a h n d e r n der Polizei. W ö r t e r d e r V e r b r e c h e r s p r a c h e sind E r k e n n u n g s z e i c h e n . Ein Berufsverbrecher ist nach wenigen Minuten der U n t e r h a l t u n g mit einem ihm f r e m d e n Kriminellen in der Lage, am Sprachgebrauch des Fremden zu e r k e n n e n , welche soziale Stellung er in der U n t e r w e l t einnimmt, mit welchen kriminellen G r u p p e n er bekannt ist u n d welche Intensität der kriminellen E r f a h r u n g er besitzt. V e r b r e c h e r a u s d r ü c k e haben Sym-

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b o l w i r k u n g . O r g a n i s i e r t e V e r b r e c h e r g e b r a u c h e n in b e s t i m m t e n s o z i a l e n Sit u a t i o n e n , z. B. bei d e r V o r s t e l l u n g eines ihnen u n b e k a n n t e n o r g a n i s i e r t e n V e r b r e c h e r s , g a n z b e s t i m m t e rituelle s p r a c h l i c h e F o r m e n , die f ü r ihre G e s p r ä c h s p a r t n e r C h i f f r e n d e r V e r s t ä n d i g u n g sind u n d die E n t s c h e i d u n g e n , A n n a h m e o d e r A b l e h n u n g d e s U n b e k a n n t e n , v o r b e r e i t e n . S p i t z n a m e n , die in d e r U n t e r w e l t eine g r ö ß e r e B e d e u t u n g h a b e n als die w i r k l i c h e n N a m e n d e r V e r b r e c h e r , dienen d e r P r e s t i g e e r h ö h u n g und sind nicht selten S t a t u s s y m bole. — V e r b r e c h e r s p r a c h e v e r f o l g t schließlich den Z w e c k , kriminelles V e r h a l t e n v o r sich selbst u n d a n d e r e n zu r e c h t f e r t i g e n . D u r c h „verbale V i k t i m i s i e r u n g " w e r d e n O p f e r s c h ä d e n v e r h a r m l o s t ; dem V e r b r e c h e n s o p f e r wird die S c h u l d zugeschoben. V e r b r e c h e r s p r a c h e ist nichts R o m a n t i s c h e s ; sie ist so u n s y m p a t h i s c h und g r a u s a m wie das V e r b r e c h e n selbst. D e r K r i m i n o l o g e k a n n aus d e m v e r w e n d e t e n W o r t s c h a t z und d e r A u s d r u c k s w e i s e eines V e r n o m m e n e n aul das Milieu schließen, aus d e m d e r V e r n o m m e n e k o m m t . A n d e r Intensität des G e b r a u c h s d e r kriminellen S p r a c h e k a n n d e r K r i m i n o l o g e e r k e n n e n , wie s e h r sich d e r Kriminelle mit d e r U n t e r w e l t i d e n t i f i z i e r t und wie weit seine kriminelle K a r r i e r e f o r t g e s c h r i t t e n ist. D i e S p r a c h e des Kriminellen h a t d e s h a l b einen b e d e u t s a m e n S t e l l e n w e r t in d e r k o n k r e t e n B e s t i m m u n g seiner K r i m i n a l prognose. Literaturhinweise: Hans Groß, Friedrich Geerds: Handbuch der Kriminalistik. 10. Auf läge, 1. Band. Berlin 1977, S. 8 4 - 8 8 . Hans von Heutig: Das Verbrechen. 3. Band. Berlin, Güttingen, Heidelberg 1963, S. 3 6 3 - 3 7 1 .

g e n des G e f ü h l s l e b e n s , die er „ m o r a l i s c h e s I r r e s e i n " n a n n t e . S p ä t e r v e r e n g t e er diese B e z e i c h n u n g auf die B e e i n t r ä c h t i g u n g m o r a l i s c h e r G e f ü h l e bei e i n e m im ü b r i g e n i n t a k t g e b l i e b e n e n S e e l e n l e b e n . D e r F r a n z o s e Benedict Augustin Morel (1809—1873), der Schöpfer der Degenerationslehre, verstand unter Entartung eine „ k r a n k h a f t e A b w e i c h u n g v o m n o r m a l e n m e n s c h l i c h e n T y p , die erblich ü b e r t r a g b a r ist u n d sich p r o g r e s s i v bis z u m U n t e r g a n g e n t w i c k e l t . " F ü r die A n h ä n g e r d e r D e g e n e r a t i o n s l e h r e w a r e n K r i m i n e l l e e b e n s o wie I r r s i n n i g e e n t a r t e t ; bei b e i d e n w a r dieselbe erbliche A n l a g e v o r h a n d e n . N a c h Richard von KrafftEbing ( 1 8 4 0 — 1 9 0 2 ) ist das m o r a l i s c h e Irresein (1876) keine e i g e n e F o r m d e r G e i s t e s k r a n k h e i t , s o n d e r n ein e i g e n t ü m l i c h e r E n t a r t u n g s v o r g a n g auf psychis c h e m G e b i e t , d e r d e n i n n e r s t e n K e r n d e r Individualität, ihre g e f ü h l s m ä ß i g e n , ethischen u n d m o r a l i s c h e n B e z i e h u n g e n t r i f f t . D e r f r a n z ö s i s c h e P s y c h i a t e r Prosper Despine ( 1 8 2 2 — 1 8 9 2 ) ä u ß e r t e die M e i n u n g , d a ß d e n m o r a l i s c h I r r e n d e r Sittlichkeitssinn, eine a n g e b o r e n e instinktive E i g e n s c h a f t , fehle. D e n instinktiven

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft

Verbrecher, der durch charakteristische Merkmale wie gedankenlose Unvorsichtigkeit und absoluten Mangel an Reue gekennzeichnet sei, nannte er psychisch anomal, von Geburt an „moralisch irrsinnig". Für den englischen Psychiater Henry Maudsley (1835 — 1918) ist (1872) die Verbrecherklasse eine degenerierte oder krankhafte Abart der menschlichen Gattung. Sie setzt sich aus Charakteren mit ererbter körperlicher und geistiger Minderwertigkeit zusammen. Das mangelnde moralische Gefühl, ein angeborener Fehler in der Organisation des Geistes, ist eine Störung, die ohne Wahnvorstellungen oder Halluzinationen (Trugwahrnehmungen) auftritt und die nur aus einer Verkehrung moralischer Gefühle und Neigungen besteht (Karl-Heinz Hering 1966). Auf allen diesen Gedanken hat der italienische Gerichtsmediziner Cesare Lombroso (1835—1909) aufgebaut. Er verdichtete die Ideen seiner Vorläufer und durchsetzte sie geschickt mit eigenen empirischen Forschungsergebnissen. Als Gefängnisarzt in Turin untersuchte er Tausende von Gefangenen klinisch und anthropometrisch, indem er die Maßverhältnisse am menschlichen Körper exakt zu bestimmen versuchte; er nahm viele Leichenöffnungen vor. Sein zentrales Werk „L'Uomo delinquente" (Der kriminelle Mensch) erschien 1876 erstmalig. In unermüdlichem Fleiß arbeitete er an fünf Auflagen dieses Werkes. W ä h rend die erste Auflage nur 252 Seiten besaß, erschien die 5. Auflage 1896 und 1897 in drei Bänden mit insgesamt 1903 Seiten. Er verbreitete seine Gedanken meisterhaft in Kontinentaleuropa und darüber hinaus im angloamerikanischen Raum. Französische und deutsche Ausgaben seines Werkes „Der kriminelle Mensch" wurden 1887 und 1890 veröffentlicht. Der dritte Band der 5. Auflage seines Hauptwerkes kam unter dem Titel: „Die Ursachen und die Bekämpfung des Verbrechens" 1899 in französischer, 1902 in deutscher und 1912 in englischer Sprache in den USA heraus. In diesem Buch hatte er mehr die sozioökonomischen Ursachen der Kriminalität herausgearbeitet. Seine Tochter Gina Lombroso-Ferrero schrieb eine Zusammenfassung seines Hauptwerkes in englischer Sprache und veröffentlichte sie 1911 in den Vereinigten Staaten. Er verstand es genial, Schüler und Anhänger auf internationaler Ebene um sich zu scharen, indem er stets das alle Einigende betonte. Mit seinem Schwiegersohn, dem Historiker Guglielmo Ferrero, zusammen schrieb er das Buch „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte", das 1894 in deutscher Sprache erschien. Drei Jahre zuvor war 1891 bereits sein Buch „Der politische Verbrecher", das er zusammen mit R. Laschi verfaßte, in deutscher Sprache herausgekommen. T r o t z seines großen internationalen Einflusses kann Lombroso nicht als der Begründer der modernen Kriminologie angesehen werden. Sein eigenständiger bedeutsamer Beitrag zur Kriminologie ist zwar nicht zu leugnen. Mannigfaltige andere kriminalsoziologische und -psychologische Ansätze in Europa und Nordamerika waren zur Entwicklung der modernen Kriminologie aber mindestens ebenso wichtig ( A l f r e d Lindesmith, Yale Levin 1937). Sein Konzept vom „geborenen Verbrecher" ermöglichte es der Gesellschaft, ihre kriminellen Tendenzen auf die Verbrecher zu übertragen und in sie hineinzusehen (psychischer Vorgang der Projektion) und

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jede Mitverantwortung f ü r die Entstehung der Kriminalität abzulehnen. Insofern hat seine Theorie vom geborenen Verbrecher für die Gesellschaft eine Entlastungsfunktion. Freilich muß auch berücksichtigt werden, daß er heftig kritisiert (oft mißverstanden und angefeindet) wurde und daß er selbst — unter dem Eindruck dieser Kritik — seine Lehre vom geborenen Verbrecher immer wieder verändert und abgewandelt hat. Ganz gleich, ob man nun seinen Beitrag zur Kriminologie als bahnbrechend (Leon Radzinowicz 1966, 48/49) oder als eine Sackgasse ( E d w i n H. Sutherland 1924, 54) betrachtet, man wird sein unermüdliches Bemühen um eine Erklärung der Verursachung des Verbrechens nicht bestreiten können. Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher stützt sich auf vier Hauptaussagen: — Der Kriminelle unterscheidet sich vom Nichtkriminellen durch zahlreiche physische und psychische Anomalien. — Der Verbrecher ist eine Spielart der menschlichen Gattung, ein anthropologischer Typ, eine Entartungserscheinung. — Der Verbrecher ist ein Atavismus, eine „Rückartung" auf einen primitiven, untermenschlichen Typ eines Menschen. Verbrecher sind moderne „Wilde", körperliche und seelische Rückschläge in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte, in phylogenetische Vergangenheit. Im Verbrecher treten physische und psychische Merkmale auf, die man entwicklungsgeschichtlich für überwunden glaubte. — Verbrechen vererbt sich; es entsteht aus einer kriminellen Anlage. Aus diesen Hauptaussagen wird der Einfluß deutlich, den Charles Robert Darwin (1809—1882) auf Lombroso ausgeübt hat. Darwin hat aufgrund sorgfältiger Beobachtungen 1859 einen Forschungsbericht über die „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung begünstigter Rassen im Kampf ums Dasein" veröffentlicht. Er hat in diesem Werk seine Lehre von der ständigen Wandlung und Höherentwicklung der Arten dargelegt. Bereits Darwin stellte die Hypothese auf, daß es Menschen gäbe, die ihren primitiven Ahnen näherstünden als andere. Seine geborenen Verbrecher charakterisierte Lombroso mit folgenden Merkmalen (1894, 229—231): „Die Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und H ä n d e ; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das H a a r seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkeiförmig abstehend... Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die H a a r e gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß... Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirn-

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Ein-Blick Fenster 5: Verbrecherhandschrift Die Graphologie hat sich bemüht, bestimmte Schriftmerkmale oder -merkmalssyndrome zu entdecken, um Kriminalität in einer bestimmten Ausprägung zu diagnostizieren oder sogar entsprechende Kriminalprognosen stellen zu können. Bereits Cesare Lombroso (1835—1909) versuchte, einzelne isolierte Schriftzeichen zu deuten („Säbelstriche", „Mordschlingen") und in einem Katalog zusammenzustellen. Für Max Pulver (1934) war der Schreibdruck der graphische Spontanniederschlag der Triebenergie des Schreibers. Er wollte aus der Raumsymbolik der Handschrift und aus den Störungen des Schreibrhythmus auf eine asoziale oder gar antisoziale Haltung des Schreibers schließen. Im Anschluß an Ludwig Klages (1872—1956) entwickelte Roda Wieser (1936, 1952) ihre Grundrhythmustheorie. Schwäche des Grundrhythmus der Handschrift bedeutet ihr seelische Armut, biologisch begründeter Seelenmangel und ist für sie Ausdruck krimineller Veranlagung. Der Grundrhythmus der Handschrift gibt Aufschluß über Stärke und Schwäche des seelischen Kerns der Persönlichkeit. Er ist Maßstab psychischer Volloder Minderwertigkeit. Grundrhythmusstärke ist stets Zeichen tiefer Erlebnisfähigkeit, Grundrhythmusschwäche dagegen Ausdruck flachen Erlebens. In den Schriften von Kapitalverbrechern (z. B. Mördern, Räubern, Vergewaltigungstätern) tritt Grundrhvthmusschwäche in besonders hohem Maße auf. Sie bekundet die stärkste Ausgeprägtheit von Seelenverarmung und Lebensarmut, von Flachheit des Erlebens, von innerer Leere und seelischer Verödung. Diese Menschen sind „gemütsarm" und „psychisch degeneriert"; sie sind für Gewaltverbrechen „prädisponiert". Formungsunvermögen ist nach Hugo Steindamm und Elsbeth Ackermann (1958) das Schriftmerkmal, das die kriminelle Anlage offenbart. Die Schreibbewegung kann nicht immer ausreichend gesteuert werden. Zum Formungsunvermögen kommen Schriftstörungen in den Unterlängen der Buchstaben und Bewegungsschlaffheit und -starre der Handschrift hinzu. Im Formungsunvermögen zeigt sich ein plötzliches Versagen der geistigen Steuerung der Persönlichkeit und eine erhöhte Ansprechbarkeit ihrer Triebhaftigkeit. Die Merkmale der Raumsymbolik, der Grundrhythmusschwäche und des Formungsunvermögens der Handschrift sind nur höchst subjektiv und in ihrer Ausgeprägtheit schwer feststellbar. Im übrigen gibt es weder die kriminelle Persönlichkeit noch die kriminelle Anlage. Kriminalität ist eine Bewertung, die an ein Verhalten oder an einen Menschen von außen angelegt wird und die in einer Wechselwirkung zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft entsteht. Kriminelle Karrieren, Verläufe entwickeln sich unter mannigfaltigen Einflüssen über viele Jahre hinweg.

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„Kriminelle Persönlichkeiten" sind allenfalls Zwischenergebnisse krimineller Verläufe. Sie unterscheiden sich nicht so grundsätzlich vom Durchschnittsmenschen, daß sich ihre charakterlichen Besonderheiten in ihrer Handschrift niederschlagen. O b sich Persönlichkeitszüge überhaupt in der H a n d s c h r i f t ausdrücken, ist höchst zweifelhaft.

höhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder vorragend, die Backenknochen breit, — k u r z ein mongolischer und bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden." Diesen körperlichen Merkmalen sollten bei geborenen Verbrechern folgende Persönlichkeitszüge entsprechen (1902, 326—327): herabgesetzte Berührungs- und Schmerzempfindung, Gleichgültigkeit gegen Verletzungen, Gefühlsabstumpfung, Frühzeitigkeit sexueller Regungen, Faulheit, Fehlen von Gewissensvorwürfen, Haltlosigkeit, große Eitelkeit, Spielleidenschaft, Neigung z u m Alkoholismus, Gewalttätigkeit, Flüchtigkeit von Leidenschaften, Aberglaube und außergewöhnliche Empfindlichkeit in bezug auf ihre eigene Person. Obgleich sich Lombroso bei diesen Angaben auf eigene empirische Studien stützte, teilte er f ü r die Häufigkeit von körperlichen Merkmalen und Persönlichkeitszügen keine genaueren Zahlen mit. Das V o r k o m m e n seines kriminellen Typs schätzte er lediglich. N e b e n seinem geborenen Verbrecher erkannte er noch kriminelle Epileptiker, moralisch Irre, Gelegenheits- und Leidenschaftsverbrecher an. Den Anteil der geborenen Kriminellen an allen Straftätern veranschlagte er in der letzten Auflage seines Werkes „Der kriminelle Mensch" mit etwa 40 % . In seinem W e r k „Die Ursachen und die B e k ä m p f u n g des Verbrechens" (1902) spricht er nur noch von 33 % f ü r den kriminellen Typ. Die Verbrecherin ist nach Lombroso und Ferrero (1894, 446) folgendermaßen gekennzeichnet: durch ihren starken Geschlechtstrieb, ihr geringes Muttergefühl und ihre Freude an einem herumschweifenden, zerfahrenen Dasein. Zu diesen Eigenschaften kommen unersättliche Rachsucht, Schlauheit, Grausamkeit, Putzsucht und Verlogenheit hinzu. Die geringere Belastung der Frauen und Mädchen mit Kriminalität erklären Lombroso und Ferrero aus ihrer „Prostitutionshypothese" (1894, 576): „Die Prostitution ist nur die weibliche Erscheinungsform der Kriminalität, beide sind analoge, parallele P h ä n o m e n e , die miteinander verschmelzen...". Lombroso, seine Mitarbeiter und Anhänger bedienten sich z w a r empirischer Methoden. Sie maßen, w o g e n und beschrieben aber lediglich Kriminelle. Die so mit Hilfe der Anthropometrie, der Wissenschaft von den Maßverhältnissen am menschlichen Körper, gewonnenen D a t e n interpretierten sie ungeniert, ohne sich um die Repräsentativität ihrer untersuchten Stichprobe und ohne sich um eine nichtkriminelle Kontrollgruppe zu kümmern. Lombroso konnte deshalb nicht wissen, wie häufig die von ihm gefundenen verbrecherischen Merkmale in der Bevölkerung vorkamen.Verbrechen äußert sich im Ausdruck: in der H a n d -

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schrift, in der Tätowierung, in der Gaunersprache (vgl. hierzu die Fenster 4, 5 und 7: Verbrechersprache, Verbrecherhandschrift und Tätowierungen unter Kriminellen). Diese schlichten Beschreibungen erlauben lediglich statische eindimensionale Analysen der individuellen Straftäter. Die Persönlichkeit ist indessen ein Prozeß. Eine dynamische mehrdimensionale Analyse der Persönlichkeit des Straftäters gelang Lombroso niemals. Den Beweis, daß es eine kriminelle Anlage gibt und daß Verbrechen sich vererbt, ist er schuldig geblieben. Hauptvertreter der italienischen „Positiven Schule" waren neben Lombroso die Juristen Raffaele Garofalo ( 1 8 5 2 - 1 9 3 4 ) und Enrico Ferri (1856—1929). Garofalo veröffentlichte 1885 zum ersten Mal ein Buch unter dem Titel „Kriminologie". Er beeinflußte damit die Namensgebung für die Tatsachenwissenschaft vom Verbrechen maßgeblich. Dieses Werk kam 1891 in französischer und 1914 in englischer Ubersetzung heraus. Er entwickelte das Konzept des „natürlichen Verbrechens". Das W o r t „natürlich" wollte er in diesem Zusammenhang nicht im konventionellen Sinne, sondern im Sinne „sozialer Natur" verstanden wissen. Er beabsichtigte damit, den Verbrechensbegriff unabhängig von den Bedingungen und Erfordernissen einer bestimmten Epoche und den speziellen Gesichtspunkten eines konkreten Gesetzgebers definieren zu können. In der Verletzung des durchschnittlichen Maßes an Mitleid und Redlichkeit erblickte er das Wesen des „natürlichen Verbrechens". Der „natürliche Kriminelle", ein bestimmter anthropologischer Typ, ist ein Mensch, der keiner altruistischen (selbstlosen, uneigennützigen) Empfindungen fähig ist und der sich in einem mangelhaften Entwicklungszustand befindet. Dieser Mangel beruht nicht einfach auf sozialen und psychischen Faktoren, sondern er ist auf eine organische Grundlage zurückzuführen. Der echte Kriminelle, der Gewaltverbrecher, der Gewohnheitsverbrecher und Berufsdieb, der unter einer moralischen Anomalie leidet und der deshalb unfähig ist, sich seiner Umgebung anzupassen, muß durch die Todesstrafe vernichtet oder durch die lebenslange oder durch die Freiheitsstrafe von absolut unbestimmter Dauer unschädlich gemacht werden. Die unechten Verbrecher, bei denen die moralische Anomalie mangelnder altruistischer Gefühle nicht so ausgeprägt ist, sollen zur Wiedergutmachung des von ihnen angerichteten Schadens herangezogen werden. Die kriminalpolitische Konzeption Garofalos, die soziale Interessen der Verbrechensbekämpfung überbewertet, führt zu einer inhumanen Entwertung von Individualrechten. Die kriminalpolitischen Vorstellungen Zerns, der auch ein eifriger Anhänger und Verfechter der Lehre vom geborenen Verbrecher war, sind demgegenüber humaner ( Thorsten Sellin 1960). Er erweiterte und ergänzte Lombrosos ursprünglich engen kriminalanthropologischen Standpunkt in der Kriminogenese, in der Frage der Verbrechensverursachung, um die psychischen und sozialen Faktoren. In seinem Buch über „Kriminalsoziologie", das 1896 in deutscher und 1912 in englischer Ausgabe in den USA erschien, unterschied er zwischen organischen, psychischen und sozialen Einflüssen auf die Kriminalität, die er durch zahlreiche Faktoren (Mehrfaktorenansatz) verursacht sah (1896, 125/126). Ferri, der stark

G e s c h i c h t e der Kriminologie

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durch die französischen Kriminalstatistiker beeinflußt war, lehnte gleichwohl die rein soziologischen T h e o r i e n , die den Ursprung des Verbrechens nur aus wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnissen ableiten, als einseitig ab. E r entwickelte das Gesetz der „kriminellen Sättigung" ( 1 8 9 6 , 149): „Wie sich in einem V o l u m e n Wasser bei einer bestimmten T e m p e r a t u r eine bestimmte Menge einer Substanz auflöst und nicht ein Atom mehr, so k o m m t es auch in einem bestimmten sozialen Milieu, unter bestimmten individuellen und sozialen Bedingungen zur Begehung einer fast bestimmten Zahl von V e r b r e c h e n , und es wird weder eines mehr noch eines weniger begangen." Erscheint es uns heute auch verfehlt, ein physikalisches Gesetz in der Kriminologie anzuwenden, so ist Ferris Grundgedanke gleichwohl zutreffend, daß sich U m f a n g und Art der Kriminalität nach den sozialen Bedingungen richten, die in einem bestimmten Raum maßgeblich sind. Ferri war indes nicht nur Kriminologe, sondern vor allem Kriminalpolitiker. E r leugnete den freien W i l l e n ; Gesellschaftsschutz sollte das Ziel der Kriminaljustiz sein. D i e strafrechtlichen Maßregeln sollten von der Gefährlichkeit des Straftäters abhängen und ein Verteidigungsmittel der Gesellschaft gegen das Verbrechen bilden. Ferri trat für eine Abschaffung der Strafe und für eine individuelle Behandlung des Rechtsbrechers ein. E r befürwortete Strafersatzmittel ökonomischer, politischer und kultureller Art. Durch Maßnahmen sozialer V e r teidigung sollte das V e r b r e c h e n nicht nur unmittelbar, sondern durch Sozialund Wirtschaftsgesetzgebung auch mittelbar bekämpft werden ( 1 8 9 6 , 1 8 1 / 1 8 2 ) : „ D e r Gedanke an Strafersatzmittel bedeutet, daß der Gesetzgeber durch die E r forschung des Ursprungs, der Bedingungen und W i r k u n g der individuellen und kollektiven Tätigkeit zur Kenntnis der psychischen und sozialen Gesetze gelangt, durch die er einen großen Teil der Faktoren, besonders der sozialen F a k toren des Verbrechens, beherrschen und so die Bewegung der Kriminalität indirekt, aber um so sicherer beeinflussen k a n n . " Die Gedanken Lombrosos, Garofalos und Ferris lösten in Europa, insbesondere im deutschsprachigen R a u m , aber auch im angloamerikanischen Bereich ein lebhaftes E c h o aus. Besonders Lombrosos Lehre vom kriminellen T y p fand viele Anhänger, aber auch zahlreiche Kritiker. D e r österreichische Psychiater Moriz Benedikt ( 1 8 3 5 — 1 9 2 0 ) führte ( 1 8 8 1 ) die Kriminalität auf eine defekte Gehirnorganisation der Rechtsbrecher zurück, die man an den Abnormitäten ihrer S c h ä del erkennen könne. Charakteristisch für die Kriminellen ist — nach Benedikt ( 1 8 8 7 ) — eine physische und eine moralische „Neurasthenie", die angeboren ist oder in der Kindheit erworben wird. U n t e r physischer Neurasthenie verstand er die baldige Erschöpfung der Körperkraft, unter moralischer Neurasthenie das schnelle Versagen der sittlichen K r a f t , eine abnorme Widerstandsschwäche gegen sinnliche Triebe. Hans Kurella ( 1 8 5 8 — 1 9 1 6 ) , der die Lehre Lombrosos in Deutschland bekanntmachte, beobachtete ( 1 8 9 3 ) vermehrt bei Rechtsbrechern Veränderungen in den Windungen und Furchen ihrer Gehirne, unregelmäßige Zahnstellungen und angewachsene Ohrläppchen. Giftmischer haben „einen süßlichen Zug um den M u n d . " D i e eigentümlichen Blicke der V e r b r e c h e r erlauben

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft Ein-Blick

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Fenster 6: Aberglaube und Kriminalität U n t e r A b e r g l a u b e n versteht m a n den V o l k s g l a u b e n , den die h e r r s c h e n d e wiss e n s c h a f t l i c h e M e i n u n g f ü r irrig e r a c h t e t . M a n k a n n A b e r g l a u b e a u c h als F ü r w a h r h a l t e n von etwas naturgesetzlich nicht Beweisbarem definieren. Z w i s c h e n A b e r g l a u b e u n d K r i m i n a l i t ä t g i b t es d i e m a n n i g f a l t i g s t e n V e r b i n d u n g e n . D e r V e r b r e c h e r ist o f t a b e r g l ä u b i s c h . D i e U n s i c h e r h e i t d e s U n r e d l i c h e n , das W a g n i s des V e r b r e c h e n s und das Glücksspiel des U n e n t d e c k t b l e i b e n s sind ü b e r r e i c h e r A n l a ß z u m A b e r g l a u b e n . D e r e i g e n e A b e r g l a u b e h a t o f t k r i minogene, kriminalitätsverursachende Wirkungen. Magische Heiler, Kurp f u s c h e r u n d G e s u n d b e t e r v e r h i n d e r n b i s w e i l e n d i e n o t w e n d i g e ä r z t l i c h e Behandlung. G r ä b e r werden geöffnet, um Talismane zur Verhinderung der W i e d e r k e h r von V a m p i r e n (blutsaugenden Gespenstern) zu b e k o m m e n . Krim i n o l o g i s c h n o c h b e d e u t s a m e r ist d e r M i ß b r a u c h f r e m d e n A b e r g l a u b e n s . D e n n a b e r g l ä u b i s c h e M e n s c h e n sind o p f e r a n f ä l l i g , weil i h r A b e r g l a u b e von Kriminellen betrügerisch ausgebeutet wird. Erdentstrahler, H e x e n b a n ner, W a h r s a g e r , Handlinienleser, Kartenleger, Horoskopsteller, Hellseher, T r a u m d e u t e r und W u n d e r h e i l e r v e r f o l g e n m i t u n t e r relativ m ü h e l o s e i g e n n ü t z i g e k r i m i n e l l e Z w e c k e . F ü r d i e f o r m e l l e S o z i a l k o n t r o l l e , z. B. d i e K r i m i n a l p o l i z e i , ist l e d i g l i c h d e r A b e r g l a u b e d e r T ä t e r u n d O p f e r v o n B e d e u t u n g . D e n n a b e r g l ä u b i s c h e M i t t e l d e r V e r b r e c h e n s a u f k l ä r u n g , z. B. H e i l s e h e n , h a b e n sich als M i ß e r f o l g e r w i e s e n . A u s A b e r g l a u b e l a s s e n T ä t e r z u w e i l e n a m T a t o r t G e g e n s t ä n d e z u r ü c k . Sie wollen auf diese W e i s e d e r E n t d e c k u n g entg e h e n , s o r g e n a b e r in W i r k l i c h k e i t u n b e w u ß t u n d u n g e w o l l t f ü r S p u r e n , d i e sich k r i m i n a l t e c h n i s c h g u t a u s w e r t e n l a s s e n . Literaturhinweis: Hans Groß, Friedrich Geerds: H a n d b u c h der Kriminalistik. 10. AufInge. I. Band. Berlin 1977, S. 9 9 - 1 4 8 .

— n a c h Kurella (1910, 37) — wertvolle kriminalpsychologische Aufschlüsse: „ D e r kalte , wilde Blick des M ö r d e r s , d e r u n r u h i g e Blick d e r D i e b e sind u n v e r k e n n b a r , B e t r ü g e r u n d I n d u s t r i e r i t t e r ü b e r r a s c h e n m i t t e n in d e m V e r s u c h , d e n B i e d e r m a n n o d e r die loyale Seele z u spielen, d u r c h s t e c h e n d e Blicke. E i n e g r o ß e , a n s P a t h o l o g i s c h e s t r e i f e n d e U n r u h e d e s B l i c k s f i n d e t m a n o f t bei M ö r dern, m a n c h m a l wechselnd mit kaltem, glasigem, unbeweglichem Fixieren." In d e r P s y c h o p a t h i e , in e i n e r k r a n k h a f t e n , a n g e b o r e n e n o d e r e r w o r b e n e n s i t t l i c h e n S c h w ä c h e , s i e h t Julius L. A. Koch ( 1 8 4 1 — 1 9 0 8 ) d i e w e s e n t l i c h s t e U r s a c h e f ü r d a s G e w o h n h e i t s v e r b r e c h e r t u m ( 1 8 9 4 ) . Z w a r e r b l i c k t d e r d e u t s c h e P s y c h i a t e r Emil Kraepelin ( 1 8 5 6 — 1 9 2 6 ) in d e m V e r b r e c h e n e i n e K r a n k h e i t d e s G e s e l l s c h a f t s k ö r p e r s , die die V e r w i r k l i c h u n g einer f r u c h t b r i n g e n d e n geselligen L e b e n s g e -

G e s c h i c h t e der K r i m i n o l o g i e

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meinschaft hindert (1906/1907, 258). Dennoch führt er das Verbrechen ganz wesentlich auf eine angeborene Minderwertigkeit der Veranlagung zurück. Bei den Rechtsbrechern, die mit Entartungszeichen behaftet sind, handelt es sich um Menschen, die aus inneren Gründen, eben wegen ihrer geistigen und sittlichen Minderwertigkeit, dauernd und grundsätzlich gesellschaftsfeindlich sind. Schon der Psychiater Eugen Bleuler (libi—1939) hatte (1896) eine ähnliche Meinung vertreten. Als bleibender Gewinn der Lombrososchen Forschungsarbeiten fällt für den Psychiater Robert Gaupp (1904/1905) ins Gewicht, „daß der geborene Verbrecher meistens auch durch seine körperliche Beschaffenheit verrät, daß er anders ist als der gesunde ehrliche Mensch und diese Andersartigkeit in seiner inneren Anlage tiefbegründet ist." Der Gießener Psychiater Robert Sommer wagt (1904, 309) eine zusammenfassende Beurteilung: „Jedenfalls gibt es . . . Menschen, bei denen sich Krankheitsprozesse und pathologische Zustände bekannter Art in keiner Weise nachweisen lassen, während sie einen Hang zu verbrecherischen Handlungen haben. Dies ist der unbestreitbare Kern der Lehre vom geborenen Verbrecher, die — von der Hülle des psychiatrischen Dogmas befreit — sich immer deutlicher als eine kriminalpsychologische Tatsache herausstellen wird." Sommer sieht als einer der ersten auch die Gefahren der Lombrososchen Thesen: „Die Lehre vom geborenen Verbrecher kann in der Hand von dogmatischen Vertretern der staatlichen Ordnung zu einer furchtbaren Waffe gegen die persönliche Freiheit der Individuen werden." Unter den Kritikern Lombrosos verdient Adolf Baer (1893) hervorgehoben zu werden. Mit den Erfahrungen eines Arztes der Strafanstalt Berlin-Plötzensee leugnete er jeden Verbrechertypus im anthropologischen Sinne und jeden physischen und psychischen Atavismus. Er bestritt das Vorkommen einer Verbrecher-Physiognomie. Entartungserscheinungen sind für Kriminelle nicht charakteristisch. „Es gibt keine einzige dieser Anomalien, die nicht auch bei vollkommen unbescholtenen, ehrlichen Menschen angetroffen wird. Manche Anomalie kommt so häufig vor, daß sie als normal gelten kann. ... Wenn es unter den Verbrechern viele gibt, die schwere Mißbildungen, mehrfache Erscheinungen und Zeichen anomaler Formation am Schädel und am Gesicht zur Schau tragen, so liegt der Grund nicht am wenigsten darin, daß die Verbrecher zum allergrößten Teil den ärmsten und niedrigsten Bevölkerungsklassen entstammen, aus Klassen, in denen der kindliche Organismus gerade im frühesten Alter am schlechtesten und ungenügendsten ernährt wird." Nach Baer (1893, 410) wird das verbrecherische Leben der Nachkommenschaft anerzogen. Für ihn ist das Verbrechen mit dem belgischen Kriminologen Adolphe Prins (1886, 13) kein individuelles, sondern ein soziales Phänomen: „Es gibt soziale Verhältnisse, die der sittlichen Gesundheit günstig sind. Hier gibt es keine Neigung, keinen Hang zum Verbrechen. Es gibt ein soziales Milieu, in dem die Atmosphäre verdorben ist, in dem ungesunde Elemente sich anhäufen, in dem das Verbrechen sich wie der Ruß auf dem Rauchfang niederschlägt, in dem der Hang zum Verbrechen fruchtbar wird."

112

II. Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft

_ _ Ein-BIick

Fenster 7: Tätowierungen unter Kriminellen Tätowierungen sind Hautbilder oder -Zeichnungen, die dadurch entstehen, daß man mit Nadeln oder anderen Instrumenten die O b e r h a u t durchsticht und Farbstoff in die tieferen Zellagen einführt (Rüdiger Henen 1979, 70). Hierdurch entsteht ein praktisch unveränderliches Erkennungszeichen f ü r den kriminalpolizeilichen Erkennungsdienst. Bei Naturvölkern haben T ä t o wierungen folgende Bedeutung: Ein eingeschnittenes, eingebranntes oder eingeätztes Körperamulett soll vor Krankheit, bösen Mächten, Feinden und Unheil schützen (Kriegsbemalung). Als Stammeszeichen machen Tätowierungen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stammesgemeinschaft erkennbar. Innerhalb der Stammesgemeinschaft zeigen sie soziale Rangunterschiede an: Häuptling, Zauberer. Sie dienen schließlich als Körperschmuck. Im Mittelalter wurden Verbrecher „zwangstätowiert", um ihnen die Flucht zu erschweren oder um sie als Verbrecher zu brandmarken. Die Handwerksburschen trugen Tätowierungen als Berufszeichen. Auch heute noch lassen sich Matrosen oder Soldaten gern tätowieren. Mehr als 20 % der Kriminellen sind tätowiert: Zuhälter, Strichjungen, Einbrecher, Rocker. Die Tätowierungen unter Kriminellen haben iolgende Funktionen ( A d o l f Lenz 1927, 86-96): — Sie sind Statussymbole der Unterwelt. Ihr T r ä g e r signalisiert seiner U m welt: „Ich gehöre zur Unterwelt; ich gehöre zu einer Rockerbande." Der T ä towierte hat sich selbst gebrandmarkt. Er bekennt sich zu seinem Kriminellsein. Tätowierungen sind Auszeichnungen und „Klubabzeichen" der Unterwelt. — Sie sind Erkennungs- und Geheimzeichen der Unterwelt. N u r der Eingeweihte erkennt ihre Bedeutung. — Sie sollen Feinde einschüchtern: „Ich bin mächtig, hart, mutig, verwegen und gefährlich." Sie sind Protest gegen die Gesellschaftsordnung; sie machen H a ß und Aggression gegen die Gesellschaft deutlich. Literaiurhinweis: Hans von Hentig: Das Verbrechen. 3, Band. Berlin, Güttingen, Heidelberg 1963, S. 371 — 378.

Im angloamerikanischen Bereich fand Lombroso zwar auch N a c h a h m e r , sein Einfluß w a r dort indessen nicht so nachhaltig wie in E u r o p a und machte bald einer kritischen H a l t u n g Platz. D e r Engländer Havelock Ellis vertrat (1890)

Geschichte d e r K r i m i n o l o g i e

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hauptsächlich Lombrososche Ideen. Die Zahl der moralisch defekten, geborenen Verbrecher veranschlagte er indessen nur auf 10 bis 20 % . Er setzte sich sehr stark für eine Behandlung des Rechtsbrechers und für eine Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer ein. Zu den frühen nordamerikanischen kriminologischen Büchern von Arthur MacDonald (1893) und August Drähms (1900) schrieb Lombroso das Vorwort. Die „natürlichen" Kriminellen, wie MacDonald (1893) Lombrosos „geborene Verbrecher" nannte, bilden — nach seiner Meinung — nur einen sehr kleinen Teil der Verbrecher, weniger als 10 % . Drähms, der als Pfarrer in der Strafanstalt San Quentin in Kalifornien tätig war, berichtete (1900) anthropometrische Daten über zweitausend Strafgefangene. Von den Gewohnheits- und Gelegenheitskriminellen unterschied er die „instinktiven" Verbrecher, deren kriminelle Neigung er für angeboren hielt. Eine systematische kriminalstatistische Uberprüfung der Lombrososcheri Forschungsergebnisse unternahmen der englische Psychiater Charles Buckman Goring (1870 —1919) und der nordamerikanische Anthropologe Earnest Albert Hooton (1939a, 1939b). Goring, Arzt am englischen Parkhurst Gefängnis, untersuchte 12 Jahre lang 3 000 Strafgefangene anthropometrisch und verglich sie mit 1 000 Studenten der Universitäten Cambridge und Oxford und mit Soldaten der britischen Armee (Kontrollgruppenuntersuchung). Sein Forschungsbericht erschien 1913. Im Gegensatz zu Lombroso fand er keinen physischen, kriminellen Typ, auch keine besonderen körperlichen Kennzeichen, die den Verbrecher charakterisieren. Er verglich 37 physische und sechs psychische Faktoren bei seiner Experimental- und bei seiner Kontrollgruppe und fand heraus, daß Kriminelle etwas kleinere Köpfe haben, daß sie etwas kleiner sind und daß sie nicht so viel wiegen wie nichtkriminelle Personen. Er ermittelte ferner eine niedrigere Intelligenz der Kriminellen. Aus seinen Forschungsergebnissen entwickelte er (1913) seine Theorie der angeborenen physischen und psychischen Minderwertigkeit der Verbrecher. Ging er auch von einer Interaktion, einer Wechselwirkung von sozialen und anlagemäßigen Faktoren bei der Entstehung der Kriminalität aus, so betrachtete er die konstitutionellen Faktoren doch als überwiegend bei der Verbrechensverursachung. Seine Forschungen erstreckten sich nicht auf den emotionalen, gefühlsmäßigen Bereich seiner Strafgefangenen. Sie berücksichtigten nicht, daß die von ihm gefundenen konstitutionellen Unterschiede — Intelligenz war für ihn auch ein Erbfaktor — auf sozialen Verschiedenheiten beruhen können. So stammten seine Strafgefangenen meist aus der Unterschicht, die wegen unzureichender Ernährung und schlechter Wohnung ungünstigere Entwicklungsbedingungen in ihrer Kindheit als die Personen seiner Kontrollgruppe hatten. Der Anthropologe der Harvard Universität Hooton verglich (1939a, 1939b) etwa 14 000 weiße Strafgefangene mit etwa 3 000 freien nordamerikanischen Bürgern anthropometrisch. Bei 19 von 33 überprüften Faktoren fand er zwischen krimineller Experimental- und nichtkrimineller Kontrollgruppe statistisch bedeutsame Unterschiede. Die Kriminellen waren physisch minderwertiger in nahezu allen ihren Körpermaßen. Physische Untauglichkeit war von geistiger Minderwertigkeit be-

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft

Ein-Blick

F e n s t e r 8: „ G a u n e r z i n k e n " U n t e r „ G a u n e r z i n k e n " v e r s t e h t m a n e i n f a c h e g r a p h i s c h e Z e i c h e n , die v o n L a n d s t r e i c h e r n und B e t t l e r n als M i t t e i l u n g s - u n d N a c h r i c h t e n m i t t e l u n a u f f ä l lig an H ä u s e r w ä n d e n , S c h e u n e n t o r e n

und D o r f e i n g ä n g e n a n g e b r a c h t

wer-

d e n . D i e s e G e h e i m z e i c h e n , die i m m e r s e l t e n e r w e r d e n u n d n u r n o c h k r i m i n a l h i s t o r i s c h e B e d e u t u n g h a b e n , g a b e n ü b e r die G e b e f r e u d i g k e i t v o n

Haus-

b e w o h n e r n u n d ü b e r die S t r e n g e d e r P o l i z e i in e i n e m D o r f A u s k u n f t . M o r d brennerbanden verwandten „ G a u n e r z i n k e n " zur Markierung ihrer V e r b r e chensobjekte.

Geheimschriften

(Funkverbindungen)

und a n d e r e g e h e i m e

sind in S t r a f a n s t a l t e n

nerzinken" getreten. Ventilationsschächte

heute

Nachrichtentechniken

an die S t e l l e v o n

und H e i z u n g s r ö h r e n

„Gau-

werden

„ S c h a l l t r ä g e r " b e n u t z t . M a n v e r s t ä n d i g t s i c h mit d e r K l o p f s p r a c h e ,

als

indem

m a n B u c h s t a b e n in K l o p f z e i c h e n u m w a n d e l t . P f i f f e u n d „ G e s ä n g e mit T a r n i n h a l t " d i e n e n d e r g e g e n s e i t i g e n V e r s t ä n d i g u n g . I n o f f e n e n und c h i f f r i e r t e n Inschriften

werden

an Z e l l e n w ä n d e n

A u s Z e l l e n i n s c h r i f t e n , d i e Cesare

und - t ü r e n

Lombroso

Nachrichten

übermittelt.

( 1 8 3 5 — 1 9 0 9 ) auch Kerkerpalim-

p s e s t e n a n n t e , w i r d f r e i l i c h a u c h a u f die p s y c h i s c h e W i r k u n g d e r F r e i h e i t s s t r a f e g e s c h l o s s e n , w e i l die H ä f t l i n g e sie d a z u v e r w e n d e n , i h r e A g g r e s s i o n e n a b z u r e a g i e r e n und ihre seelische V e r e i n s a m u n g zu d u r c h b r e c h e n .

Kassiber,

illegale schriftliche M i t t e i l u n g e n zwischen H ä f t l i n g e n o d e r z w i s c h e n H ä f t l i n g e n und d e r A u ß e n w e l t , w e r d e n in r a f f i n i e r t e r W e i s e g e s c h m u g g e l t , u m Z e u gen

zu

beeinflussen,

Aussagen

abzusprechen,

neue

Straftaten

zu

planen,

F l u c h t o d e r A u s b r u c h aus d e r S t r a f a n s t a l t v o r z u b e r e i t e n .

Literaturhinweis: Rüdiger 1979, S. 6 0 - 6 9 .

Herren.

Lehrbuch der Kriminologie. Band I. Freiburg i. Br.

gleitet. D i e H a u p t u r s a c h e dieser körperlichen und geistigen

Minderwertigkeit

s a h e r in d e r V e r e r b u n g : K r i m i n a l i t ä t ist das E r g e b n i s d e s E i n f l u s s e s d e r U m g e b u n g a u f m i n d e r w e r t i g e M e n s c h e n , die f ü r d e n L e b e n s k a m p f u n g e e i g n e t sind u n d den U m w e l t d r u c k n i c h t a u s h a l t e n . D a s V e r b r e c h e n k a n n — n a c h

Hootons

A n s i c h t — a l l e i n b e s e i t i g t w e r d e n d u r c h die A u s r o t t u n g d e r p h y s i s c h , g e i s t i g u n d m o r a l i s c h U n g e e i g n e t e n o d e r d u r c h i h r e v ö l l i g e A b s o n d e r u n g in „ s o z i a l

keim-

freier" Umgebung. Zu welchen inhumanen kriminalpolitischen Folgerungen

kriminalbiologische

F o r s c h u n g s e r g e b n i s s e f ü h r e n k ö n n e n , z e i g t d i e s e A n s i c h t Hootons.

Ein gefährli-

c h e r i n h u m a n e r Z u g w u r d e b e r e i t s in d e n k r i m i n a l p o l i t i s c h e n Ä u ß e r u n g e n

Garo-

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G e s c h i c h t e der Kriminologie

falos deutlich. Trotz ihres großen Aufwandes (Untersuchungszeit, Zahl der Versuchspersonen) sind die kriminalbiologischen Forschungsergebnisse Gorings und Hootons nicht haltbar. Die Anthropometrie, die Wissenschft von den Maßverhältnissen am menschlichen Körper, hat für die Beantwortung der Frage nach den Ursachen des Verbrechens nur einen geringen Wert. Daß Körpermaße minderwertig sind, ist eine Behauptung, die durch nichts gerechtfertigt ist. Wer wollte behaupten, daß kleine Menschen von geringem Gewicht in der Regel leistungsschwache, unmoralische Menschen sind? Es gibt keine physisch und psychisch „minderwertigen" Körpermaße. Der Schluß von solcher Minderwertigkeit auf Kriminalität ist durch nichts begründet. Die von Hooton festgestellten psychischen und physischen Unterschiede unter den Kriminellen waren zudem zahlreicher und schwerwiegender als die Verschiedenartigkeiten zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen. Schließlich brauchen diese physischen und psychischen Unterschiede nicht auf Vererbung zu beruhen. Es ist sehr wohl möglich, daß soziale Faktoren, z. B. Unterschichtszugehörigkeit, eine maßgebliche Rolle bei der mangelnden, unzureichenden körperlichen und seelischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen spielen. Der italienische Positivismus hat manche fruchtbare Anregung gebracht. Er hat die kriminologische Forschung auf die Empirie, die systematisch erarbeitete Erfahrung, gerichtet. Das ist sein Hauptverdienst. Er hat allerdings auch die empirische Forschung zu sehr auf den Rechtsbrecher eingeengt. Die kriminologische Erforschung des Verbrechensopfers und der Gesellschaft kamen viel zu kurz. Das hatte nachteilige kriminalpolitische Konsequenzen. Die Behandlung des Rechtsbrechers wurde zur Ideologie, die sich heute noch in ihrer absoluten Betonung negativ auswirkt. Für die öffentliche Meinung über Verbrechen und Rechtsbrecher hatte der Positivismus die schädlichsten Folgen. Es bildete sich ein populärwissenschaftlich begründetes Vorurteil, dessen Reste heute noch wissenschaftlich bekämpft werden müssen: Der Verbrecher ist äußerlich erkennbar. Er gehört einer sozialen Außengruppe an, die der Gesellschaft die Kriminalität „antut". Der Verbrecher ist ein minderwertiger Untermensch, der unschädlich gemacht, ja vernichtet werden muß. Dieses Bild vom Verbrechen und vom Rechtsbrecher in der Öffentlichkeit, für das der Positivismus nicht allein verantwortlich gemacht werden kann, das er aber gleichwohl objektiv begünstigt hat, ist für kriminelle Ausschreitungen gegenüber Rechtsbrechern, ja gegenüber rassisch und politisch Verfolgten ursächlich geworden, die wir heute nur bedauern können.

D i e nordamerikanische Kriminologie gegen Ende des 19. und in der ersten H ä l f t e des 20. Jahrhunderts Im 19. Jahrhundert war die nordamerikanische Kriminologie von Medizinern w i e Isaac Ray

u n d Benjamin

Rush

b e e i n f l u ß t , die sich auf Galls

Phrenologie

stützten. Ende des 19. Jahrhunderts wirkten sich Lombrosos Gedanken auf Mac-

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und Sozialwissenschaft

Donalds (1893) und Drähms' (1900) Werke aus. Lombrosos Einfluß war jedoch nicht so stark und nachhaltig wie in Europa {Arthur E. Fink 1938). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kümmerten sich die nordamerikanischen „Kinderretter" um die Kinder- und Jugenddelinquenz. Charles Loring Brace (1880, 1893), der zwanzig Jahre unter den „gefährlichen Klassen" in New York City verbracht hatte, erblickte die Ursachen der Delinquenz in den gestiegenen Ehescheidungen der Eltern, in der Übervölkerung der Großstädte und im unmäßigen Alkoholkonsum der Väter. Er wollte die delinquenten Kinder und Jugendlichen in den nordamerikanischen Westen umsiedeln; sie sollten auf den Farmen unter den Einfluß des „gesunden Landlebens" kommen. Enoch Cobb Wines (1880) und Sarah B. Cooper( 1893) stellten der großstädtischen Korruption die ländliche Reinheit gegenüber: Die moralischen, glücklichen Klassen sollten die gleichgültigen, mittellosen, notleidenden, berufslosen Jugendlichen Reinlichkeit, Ordentlichkeit und Pünktlichkeit lehren. Religiöse Charakterbildung durch „noble, weitblikkende Männer und Frauen" sollte im Mittelpunkt der Reaktionen auf Delinquenz stehen. Mit kräftiger Nahrung, guter Landluft, frischer Milch und dem Spiel auf den Wiesen und Feldern sollten der durch die Großstadt verwilderten Jugend moralische und religiöse Werte nahegebracht werden. Die „Kinderretter" setzten es durch, daß im Jahre 1899 in Chikago/Illinois das erste Jugendgericht gegründet wurde. Nach diesem Vorbild nahmen auf Anregung von Berthold Freudenthal (1907), der eine Informationsreise in die USA unternommen hatte, im Jahre 1908 die ersten deutschen Jugendgerichte in Frankfurt/M., Berlin und Köln ihre Arbeit auf. Das Hamburger Modell des mit Laien besetzten Jugendwohlfahrtsausschusses, der die Reaktionen auf Kinderund Jugenddelinquenz bestimmt, wurde durch Bernhard Bertz richtungweisend für die skandinavischen Länder; es wurde 1896 durch die norwegische und später durch die schwedische Gesetzgebung übernommmen (Edwin M. Lemert 1971, 37). Das nordamerikanische Jugendgericht beschränkte unter dem Vorwand der Erziehungsbedürftigkeit der Jugend die Selbständigkeit und die Verfassungsrechte der Jugendlichen zu stark. In seiner Entscheidung vom 15. Mai 1967 (In re Gault) spricht sich der Oberste Gerichtshof der USA (President^ Commission 1967 b, 57—76) entschieden dafür aus, rechtsstaatliche Prinzipien im Jugendgerichtsverfahren zu beachten. Anthony M. Platt hat (1969) eine kritische Analyse der Bewegung der Kinderretter vorgelegt: Sie wollten die Kinder vor den körperlichen und moralischen Gefahren der industrialisierten und verstädterten Gesellschaft schützen. Durch rhetorische Dramatisierung verschlimmerten sie aber das Problem. Sie fühlten sich mit sich selbst und mit ihren guten Taten zufrieden. Sie bestätigten sich selbst durch das erhebende Gefühl ihrer Menschlichkeit. Anstatt die Kinder von sich abhängig zu machen, wäre es besser gewesen, sie nach Recht und Gesetz zu behandeln. Für die Mittelschichtsfrauen eröffnete sich ein neues Betätigungsfeld, eine berufliche Ausweitung ihrer traditionellen Hausfrauenrolle. Sie waren besser ausgebildet, hatten viel Freizeit, aber ihre Möglichkeiten für berufliche Karrieren waren begrenzt. So widmeten sie

Geschichte der Kriminologie

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sich den „unglücklichen Kindern", um sie glücklich zu machen, in Wirklichkeit aber: um sich selbst etwas glücklicher zu machen. Im Juni 1909 veranstaltete die Rechtsfakultät der „Northwestern University" in Chikago eine nationale K o n f e r e n z , auf der die G r ü n d u n g des „American Institute of Criminal Law and Criminology" (des Amerikanischen Instituts f ü r Strafrecht und Kriminologie) beschlossen wurde. D a man den Stand der n o r d amerikanischen Kriminologie als niedrig beurteilte, entschloß man sich, etwas f ü r ihre rasche Entwicklung zu tun: — Ab 1910 gab man eine Zeitschrift heraus, die — ohne U n t e r b r e c h u n g — bis heute erschienen ist und die sich gegenwärtig „Journal of Criminal Law and Criminology" (Zeitschrift f ü r Strafrecht und Kriminologie) nennt. — Ab 1911 veröffentlichte man innerhalb der „Modern Criminal Science Series" (Reihe: M o d e r n e Kriminalwissenschaft) W e r k e europäischer Kriminologen in englischen Ubersetzungen. Als erster Band dieser Reihe erschien ein Uberblick des Spaniers C. Bernaldo de Quirns über Kriminalitätstheorien (1911). Als weitere Bände kamen W e r k e von Hans Groß (1911), Cesare Lombroso (1912), Enrico Ferri (1912), Gabriel Tarde (1912), Gustav Aschaffenburg (1913), Raffaele Garofalo (1914) und Willem Adriaan Bonger (1916) heraus. Besonders das Buch des deutschen Psychiaters Aschaffenburg, das im Jahre 1903 unter dem Titel „Das Verbrechen und seine B e k ä m p f u n g " in erster Auflage in Deutschland erschienen war, übte auf die nordamerikanische Kriminologie einen bedeutsamen Einfluß aus ( W a l t e r C. Reckless 1970 a, 9). Im A u f t r a g der „ N e w Y o r k Prison Association" ( N e w Yorker Gefängnis Gesellschaft) hatte Richard L. Dugdale (1841 —1883) dreizehn Kreisgefängnisse im Staat N e w York inspiziert. A u f g r u n d dieser E r f a h r u n g schrieb er sein Buch über die „Jukes" Familie, das er 1877 veröffentlichte. Er wollte durch die Untersuchung einer kriminellen Familie herausfinden, ob die Kriminalität mehr auf Anlage- oder mehr auf U m w e l t f a k t o r e n z u r ü c k g e f ü h r t werden muß. Er kam zu dem Ergebnis, daß Erbfaktoren von U m w e l t f a k t o r e n begleitet werden, daß sie parallel laufen und miteinander in Wechselwirkung (Interaktion) stehen. Dreißig Jahre später nahm Henry H. Goddard (1912) die Familienuntersuchungen mit seiner Studie über die „Kallikak" Familie wieder auf. Er hatte aus Europa den gerade erst von dem französischen Psychologen Alfred Binet (1857—1911) entwickelten und im Jahre 1905 veröffentlichten Intelligenztest mitgebracht, den er in der Jugendstrafanstalt anwandte, in der er Leiter der psychologischen Forschungsabteilung war. In seiner Studie über die „Kallikak" Familie kam er zu dem Ergebnis, daß nicht Kriminalität, sondern Schwachsinn sich vererbt und daß Schwachsinnige durch Umwelteinflüsse kriminell werden, weil sie unfähig seien, zwischen Recht und U n r e c h t zu unterscheiden, weil sie ihre H a n d l u n g e n nicht steuern könnten und weil sie wegen ihres Schwachsinns dem Lebenskampf und dem Umweltdruck nicht gewachsen seien. In zwei weiteren Büchern über

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II. Kriminologie als Human- und Sozialwissenschaft

Schwachsinn (1914) und über kriminelle Geistesschwäche (1915) veranschlagte Goddard den Anteil der Schwachsinnigen an der delinquenten Bevölkerung auf 25 % bis 50 % . Seine These war: Jeder Schwachsinnige ist ein potentieller Krimineller, da er lebensuntüchtig ist und das Unrecht nicht erkennen kann. Diese These wurde durch die spätere kriminologische Intelligenzforschung widerlegt. Goddard hatte die Fehler gemacht, daß er seine Intelligenzuntersuchungen an Delinquenten vorgenommen hatte, die sich in einer Strafanstalt befanden, also vom Gericht ausgewählt worden waren, und daß er keine Kontrollgruppe Nichtdelinquenter gebildet hatte. Es erwies sich später bei Intelligenzuntersuchungen der Wehrpflichtigen in den USA anläßlich ihrer Musterung vor dem 1. Weltkrieg, daß der von Goddard verwandte Intelligenztest zu viel Schwachsinn diagnostizierte und daß er neu standardisiert (geeicht) werden mußte (Travis Hirschi, David Rudisiii 1976). Zur Entwicklung der klinischen Kriminologie trug der Psychiater William Healy wesentlich bei. Unter klinischer Kriminologie versteht man eine einzelfallbezogene Kriminologie, die mit psychiatrischen und psychologischen Methoden (z. B. mit psychiatrischer Exploration, mit psychodiagnostischen Testverfahren, mit Familien- und Lebenslaufanalysen, mit Aktenstudien) die Persönlichkeit des Täters zu erforschen sucht. Healy untersuchte (1915) eintausend rückfällige Delinquente im Durchschnittsalter von 15 bis 16 Jahren. Er wollte die Ursachen der Delinquenz im Einzelfall klären, um auf dieser Analyse eine Behandlung aufzubauen. Er bildete keine nichtdelinquente Kontrollgruppe. In seinem Probandengut fand er keinen Beweis dafür, daß die Delinquenz wesentlich durch Vererbung bestimmt wird. Er beurteilte es als unfair, Familienstammbäume als Beweis für die Anlagebedingtheit der Kriminalität heranzuziehen, weil sie keine Umweltanalyse liefern und die soziale Entwicklung nicht deutlich machen. Er konnte in seinem gesamten Probandengut keinen einzigen Fall von „moralischem Irresein", also keinerlei Störungen im moralischen Gefühlsleben des Täters bei einem im übrigen intakt gebliebenen Seelenleben, entdecken. Zusammen mit Augusta F. Bronner hat Healy (1926) viertausend Delinquente untersucht und nach etwa zehn Jahren nachuntersucht. Sie führten körperliche und psychologische Untersuchungen durch. Sie überprüften die Lebensläufe und die Familienverhältnisse ihrer Probanden. Sie kamen zu dem Schluß, daß die Delinquenten körperlich keine Sondergruppe bilden, daß sie vielmehr zumeist delinquente Freunde und Kameraden besitzen und daß ihnen elterlicher Rat und elterliche Aufsicht fehlen. Eine Einweisung der Delinquenten in Jugendstrafanstalten hielten sie für schädlich, weil durch solche Einweisung weder eine Besserung noch eine Abschreckung erreicht werde. Zusammen mit dem in die USA emigrierten deutschen Psychoanalytiker Franz Alexander untersuchte Healy (1935) mit den Methoden der freien Assoziation und der Traumanalyse elf Fälle krimineller Menschen. In diesen Fallstudien unterstrichen sie die irrationale, unbewußte und emotionale Motivation der Rechtsbrecher. In ihrem wohl bedeutsamsten Werk haben Healy und Bronner (1936) 105 delinquente Jugendliche mit 105 nicht-

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delinquenten a u f g r u n d klinischer D i a g n o s e m e t h o d e n (psychologischer Tests, psychiatrischer Exploration) miteinander verglichen. Sie stellten fest, d a ß 92 % ihrer delinquenten Jugendlichen an schweren emotionalen S t ö r u n g e n litten: Sie fühlten sich z. B. von ihren Eltern zurückgewiesen, ungeliebt und unverstanden. Healy und Bronner erklären (1936) a u f g r u n d ihrer E r f a h r u n g e n K i n d e r - und J u g e n d d e l i n q u e n z durch u n b e w u ß t e Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle und durch ein unbewußtes S t r a f b e d ü r f n i s . In ihrem Buch, das sie z u s a m m e n mit Edith M. H. Baylor und / . Prentice Murphy (1936) veröffentlichten, setzten sie sich d a f ü r ein, delinquente Jugendliche in Pflegefamilien zu erziehen und nicht in Jugendstrafanstalten einzuweisen. D u r c h die Arbeit des 1909 in C h i k a g o g e g r ü n d e t e n „Amerikanischen Instituts f ü r S t r a f r e c h t und Kriminologie" w u r d e die n o r d a m e r i k a n i s c h e Kriminologie kräftig angeregt. In den z w a n z i g e r J a h r e n erschienen einige zumeist von Soziologen geschriebene kriminologische Lehrbücher, denen in den dreißiger J a h r e n zahlreiche weitere folgten. Ihre Zahl m a c h t deutlich, wie sehr sich die kriminologische Lehre in den U S A entfaltete. D a s erste kriminologische Lehrbuch nach der G r ü n d u n g des C h i k a g o e r Instituts veröffentlichte der S o z i o l o g e Maurice Parmelee (1922), der auch z u r englischen U b e r s e t z u n g des Buches von Aschaffenburg (1913) das V o r w o r t geschrieben hatte. Die meisten n o r d a m e r i k a n i s c h e n kriminologischen Lehrbücher folgten d a d u r c h bis heute seinem Vorbild, daß sie nicht n u r Kapitel über U m f a n g , E r s c h e i n u n g s f o r m e n und U r s a c h e n d e r Kriminalität enthielten, s o n d e r n auch die R e a k t i o n auf Kriminalität mit Abschnitten über die Polizei, das Gericht, das J u g e n d g e r i c h t , den Strafvollzug, über V e r h ü tungs- und B e h a n d l u n g s m e t h o d e n betonten. Parmelee wies in seinem Buch (1922) nach, d a ß es keine g e b o r e n e n V e r b r e c h e r gebe und d a ß durch A r m u t Kriminalität nicht verursacht werde. Er erblickte vielmehr in dem A r m u t s g e f ü h l einen Kriminalitätsentstehungsfaktor. Die niedrige Frauenkriminalität f ü h r t e er darauf z u r ü c k , daß F r a u e n weniger Gelegenheit z u r V e r b r e c h e n s b e g e h u n g besäßen und d a ß sie nicht so stark dem Existenzkampf ausgesetzt seien wie M ä n n e r . Er sagte voraus, d a ß sich die Frauenkriminalität e r h ö h e n w e r d e , w e n n die Frauen eine stärkere wirtschaftliche U n a b h ä n g i g k e i t erlangten. Ein weiteres kriminologisches Lehrbuch, das allerdings im G e g e n s a t z zu Parmelees Buch zwei weitere Auflagen (1935, 1945) erlebte, brachte d e r Soziologe John Lewis Gillin (1926) erstmalig heraus. W e i t über die H ä l f t e seines Buches w i d m e t e er der P ö nologie (der Wissenschaft von der Strafe). Er versuchte, eine eigene soziologische Kriminalitätstheorie zu entwickeln: D a s V e r b r e c h e n ist das Ergebnis einer Interaktion zwischen Menschen. Sozialer W a n d e l zerstört die Sitten und G e bräuche und die gesellschaftlichen Institutionen. D u r c h eine solche soziale Desintegration wird die Kontrolle menschlichen Verhaltens gelockert. Es entsteht Kriminalität, weil das Wertsystem einer Gesellschaft die Persönlichkeiten der einzelnen Menschen mit f o r m t und weil die Gesellschaft durch soziale Desintegration in U n t e r g r u p p e n mit eigenen Wertsystemen (Subkulturen) zerfällt. Die Kriminalität wächst mit d e r Ungleichartigkeit einer Gesellschaft, weil die M e n -

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sehen verschiedenen Wertsystemen folgen und die Situationen unterschiedlich definieren. In den Jahren 1927 und 1928 unternahm Gillin eine Weltreise und besuchte zahlreiche Strafanstalten. Uber den Strafvollzug in der Welt berichtete er in einem Buch, das 1931 erschien. Die „gesunde Wirkung" des Landlebens auf Strafgefangene schätzte er am Beispiel der Insassen der Strafanstalt Witzwil in der Schweiz folgendermaßen ein: „Ihr Appetit bessert sich, sie schlafen gut, ihre Sorgen und Nöte lassen nach, und sie erwerben eine neue Lebensperspektive" (1931, 184). Er hatte den positiven Einfluß des Landlebens wohl doch etwas überschätzt. In der Strafanstalt des Staates Wisconsin/USA untersuchte er 486 Strafgefangene. Er überprüfte ihre Gefangenenakten und analysierte ihre Lebensläufe. Er bildete eine Kontrollgruppe aus 172 Brüdern der inhaftierten Gruppe, die durch Straftaten nicht aufgefallen waren. Seine Untersuchungen bezogen sich auf drei Tätergruppen: Mörder, Sexualstraftäter und Vermögensverbrecher. Uber die Mörder berichtete er vorab (1933) in deutscher Sprache. Uber alle drei Tätergruppen veröffentlichte er (1946) einen Forschungsbericht, in dem er die Mörder folgendermaßen kennzeichnet: Sie sind unfähig, sich normalen Lebenssituationen anzupassen. Sie haben in ihrer Frühkindheit dramatische emotionale Erlebnisse gehabt. Wegen der Instabilität ihrer Persönlichkeit konnten sie mit einer schweren Lebenskrise nicht auf normale Art und Weise fertigwerden. Gillin schrieb (1946) schließlich noch ein Buch über Sozialpathologie, in dem er alle Formen sozialabweichenden Verhaltens abhandelte. Ebenso wie Gillin fühlte sich William I. Thomas (1923) einer sozialpsychologischen interaktionistischen Erklärung der Verbrechensentstehung verpflichtet: Der Delinquente wendet andere Definitionen auf Situationen an, er nimmt andere Einstellungen Werten gegenüber ein als der Mensch, der sozialem Herkommen folgt. Mit dem sozialen Wandel wächst die soziale Desorganisation, in der die Menschen ihre Situationen und Werte höchst unterschiedlich definieren. Aus der Unterschiedlichkeit dieser Definitionen erwachsen dann delinquente Konflikte. Ein bekannter Strafverteidiger Clarence Darrow und ein Soziologe Philip Archibald Parsons veröffentlichten 1922 und 1926 Bücher, in denen sie ihre Skepsis gegenüber dem Anstaltsstrafvollzug zum Ausdruck brachten: Er brutalisiert die Menschen und bringt Bitterkeit und schiere Hoffnungslosigkeit hervor (Darrow 1922, 20). Er ist ein Mißerfolg, weil er die Gesellschaft nicht schützt und die Kriminalität nicht verringert (Parsons 1926, 324). Einen bedeutenden Einfluß auf die nordamerikanische Kriminologie übte und übt immer noch der Soziologe Edwin H. Sutherland aus, der sein kriminologisches Lehrbuch in erster Auflage 1924 herausbrachte. Sutherland besorgte noch drei weitere Auflagen seines Lehrbuchs selbst (1934, 1939, 1947). Nach seinem T o d im Jahre 1950 kümmerte sich sein Schüler Donald R. Cressey um die Neuauflagen des Buchs, das jahrzehntelang das führende kriminologische Lehrbuch in Nordamerika und in der Welt war. Der deutsche Kriminologe Franz Exner, der 1934 eine Reise in die USA unternahm, nannte es (1935, 54) das „bedeutendste und inhaltsreichste" der nordamerikanischen kriminologischen Lehrbü-

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eher. Die erste Auflage des Sutherlandschen Lehrbuchs enthielt ein Kapitel über das Verbrechensopfer (1924, 62 — 71), das jedoch in den weiteren Auflagen weggelassen wurde, weil die Erforschung des Verbrechensopfers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch kein Thema war. Von der 1. Auflage seines Buches an wandte sich Sutherland gegen eine Stigmatisierung der Kriminellen. Mit der bloßen Benennung eines Straftäters als eines Psychopathen ist nicht viel gewonnen, erklärte er. „Die neolombrosianische Theorie, die lehrt, Kriminalität sei ein Ausdruck der Psychopathie, ist nicht gerechtfertigter als die Theorie Lombrosos, Rechtsbrecher stellten einen bestimmten Menschentyp dar. . . . Psychopathische Persönlichkeit ist ein vages Konzept und seine Beziehung zur Kriminalität ist in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht unbekannt" (1934, 105). Seine Theorie der differentiellen Assoziation formulierte Sutherland erstmalig in der 3. Auflage seines Lehrbuchs. Er verbesserte die Formulierung in verschiedenen wichtigen Punkten und veröffentlichte sie dann endgültig (1947) in der 4. Auflage. Diese Theorie stellt eine Anwendung des psychologischen Systems dar, dem George Herbert Mead (1863—1931) den Weg gebahnt hat und das gemeinhin als „symbolischer Interaktionismus" bezeichnet wird (Donald R. Cressey 1981, 183). Die Theorie der differentiellen Assoziation ist eine sozialpsychologische Theorie, die das Verbrechen im Einzelfall, nicht die Kriminalität als Massenerscheinung erklärt: Kriminelles Verhalten ist erlernt. Es wird in der Interakion mit anderen Menschen in einem Kommunikationsprozeß gelernt. Der wesentlichste Teil des Lernens kriminellen Verhaltens spielt sich in Gruppen mit engen persönlichen Beziehungen ab. Das Erlernen kriminellen Verhaltens schließt das Lernen der Techniken zur Ausführung des Verbrechens und der spezifischen Richtungen von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Einstellungen ein. Seine Studie über den Berufsdieb veröffentlichte Sutherland 1937. Unter seiner Anleitung schrieb ein Berufsdieb alle kriminologisch bedeutsamen Aspekte auf, die er als Berufsdieb in zwanzigjähriger Erfahrung gesammelt hatte. Sutherland diskutierte darüber hinaus etwa sieben Stunden in der Woche zwölf Wochen lang mit dem Berufsdieb. Er fand u. a. heraus: Der Berufsdieb ist gegenüber seinen Berufskollegen loyal; er identifiziert sich mit ihnen. Die Berufsdiebe besitzen ein eigenes Wertsystem. Berufsdiebstahl ist ein Lebensstil einer Gruppe. Uber Jahrhunderte haben die Berufsdiebe Spezialwissen gesammelt, das sie durch eine praktische „Lehrlingszeit" weitergeben. Im Jahre 1940 erschien Sutherlands Vortrag über „Weiße-Kragen-Kriminalität", in dem er die Kriminologen auf Verbrechen aufmerksam machte, die von ehrbaren Personen mit hohem sozialem Ansehen, im Rahmen ihres Berufs und unter Verletzung des Vertrauens begangen werden, das man ihnen entgegenbringt. Sutherlands Bezeichnung „Weiße-Kragen-Kriminalität" stieß nicht nur auf Begeisterung (Hermann Mannheim 1974, 564); sie trug ihm auch heftige Kritik ein (Paul W. Tappan 1947; George B. Vold 1958, 243 — 261). Die 70 größten Industrie- und Handelsgesellschaften der USA hat er (1949) auf Wirtschaftsdelikte hin untersucht. Bei allen diesen Gesellschaften stellte er Übertretungen von Handelsbeschränkungen, Wettbewerbsverstöße,

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Patentverletzungen und Verstöße gegen Urheber- und Warenzeichenrechte, unfaire Arbeitspraktiken, ausgedehnte Betrügereien und ähnliche Straftaten fest. 97 % der von ihm untersuchten Gesellschaften waren rückfällig. Die kriminologische Forschung wird in den Vereinigten Staaten nicht allein den Universitäten und den amtlichen Stellen (Polizei, Ministerien) zum Zwecke der Strafgesetzgebung und -anwendung überlassen. Es hat sich auch eine Tradition herausgebildet, auf regionaler und überregionaler Ebene Kommissionen von Sachverständigen zu bilden, die einige Jahre zusammen arbeiten und in offiziellem oder halboffiziellem Auftrag folgende Aufgaben erfüllen: — Sie überprüfen kritisch die Strafgesetzanwendung durch die Polizei, die Gerichte und den Strafvollzug und machen Empfehlungen für eine Verbesserung der Praxis der Strafrechtspflege. — Sie stellen das durch kriminologische Einzelforschungen gesammelte Material zusammen und geben statistische Überblicke. — Sie erteilen einzelnen Forschern oder Forschungsteams Unteraufträge, bestimmte kriminologische Fragen zu klären. Bereits Exner( 1935, 59) fand diese Art, kriminologische Forschung voranzutreiben, sehr nützlich, und er empfahl ihre Nachahmung in Deutschland. Bahnbrechend wirkte in den U S A ein amtlicher Bericht, der 1922 über die Kriminaljustiz in der Stadt Cleveland im Staate Ohio von den beiden Harvardprofessoren Roscoe Pound und Felix Frankfurter herausgegeben wurde. In diesem Bericht wird dargelegt, wie das Kriminaljustizsystem in Cleveland tatsächlich arbeitet und welche Mängel es hat. Auswärtige Sachverständige hatte man zur Erarbeitung des Berichts herangezogen, um die Unvoreingenommenheit der Überprüfung und Darstellung zu sichern. Die Sachverständigenkommission in Cleveland hatte sich nicht das Ziel gesetzt, mit raschen sensationellen Enthüllungen Aufmerksamkeit in der Politik und in der Presse zu erregen. Sie strebte vielmehr wissenschaftliche Gründlichkeit und eine mittel- bis langfristige Reform des Kriminaljustizsystems an. In dem Bericht arbeitete M. K. Wisehart (1922) erstmalig heraus, daß Zeitungen nicht nur über Kriminalität berichten, sondern daß sie Kriminalität „erfinden", daß sie das Bild der öffentlichen Meinung über Kriminalität maßgeblich beeinflussen und daß dieses Bild, das die öffentliche Meinung dann über Kriminalität hat, die Strafgesetzanwendung erheblich mitbestimmt. Weitere Berichte über die Kriminaljustiz in den Staaten Missouri (Missouri Association 1926) und Illinois (Illinois Association 1929) wurden in den Jahren 1926 und 1929 veröffentlicht. In dem Bericht über die Kriminaljustiz im Staate Illinois behandelte John Landesco (1929) erstmalig das organisierte Verbrechen in Chikago mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. In vierzehn Bänden sammelte eine von George W. Wickersham geleitete „Nationale Kommission zur Einhaltung und Durchführung des Rechts" ( N a t i o n a l Commission on Law Observance and Enforcement 1931) das bisher erforschte kriminologische Wissen und legte es zu-

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sammen mit ihren Empfehlungen zur Strafgesetzanwendung dem Präsidenten der U S A vor. Die Kommission nahm nicht nur zur Praxis der Polizei, der Gerichte und des Strafvollzugs in den U S A Stellung, sondern sie berichtete auch über Verbrechenskosten, über Kriminalstatistik und über Ursachen der Kriminalität. In einem f ü r die Kommission erstatteten Gutachten sprach sich Sam Bass Warner (1931, 25) f ü r die polizeiliche Kriminalstatistik aus, mit deren H e r a u s gabe das Bundeskriminalamt der USA (Federal Bureau of Investigation) gerade im Jahre 1929 begonnen hatte. In den Untersuchungen zu den Ursachen der Kriminalität spielte die Arbeitslosigkeit eine verhältnismäßig große Rolle. Die Beschäftigungskarrieren von Strafgefangenen des Sing Sing Gefängnisses in N e w York City wurden mit ihren kriminellen Karrieren verglichen ( M a r y van Kleeck 1931 a). 52 % der Strafgefangenen waren z w a r zur Tatzeit ohne Arbeit. Bei ihnen handelte es sich aber um die schulisch und beruflich am schlechtesten ausgebildete Gruppe, die in der Wirtschaftsflaute zuerst entlassen und die im Wirtschaftsaufschwung zuletzt wiedereingestellt zu werden pflegt. Kriminalstatistische Untersuchungen führten zu dem Resultat, daß Arbeitslosigkeit ein bedeutsamer Faktor bei der Entstehung der Vermögenskriminalität ist {van Kleeck 1931 b, Emma A. Winslow 1931). In ihrer Studie über die sozialen Faktoren der Jugenddelinquenz, die Clifford R. Shaw und Henry D. McKay (1931) f ü r die Kommission erstellten, kamen sie zu dem Ergebnis, daß Jugenddelinquenz hauptsächlich in verwahrlosten, h e r u n t e r g e k o m m e n e n Großstadtgebieten mit einem niedrigen Gemeinschaftsbewußtsein entsteht, daß emotionale Spannungen und Konflikte innerhalb der Familie zur Verursachung der Delinquenz beitragen und daß Delinquenz aus einer Interaktion zwischen dem Individuum und der Situation erwächst, auf die es reagiert. Schließlich k o m m t die Kommission in ihrem Bericht über Strafanstalten zu dem Schluß (9. Band, 1931, 170), „daß das Strafanstaltssystem veraltet und unwirksam ist. Es bessert den Kriminellen nicht. Es schützt nicht die Gesellschaft. Es gibt allen G r u n d a n z u n e h m e n , daß es durch die V e r h ä r t u n g des Strafgefangenen zum Anwachsen der Kriminalität beiträgt." Im Jahre 1923 begann mit Beiträgen von Warner (1923) und Horneil Hart (1923) eine neue Forschungsrichtung der Kriminologie: die Prognoseforschung, die sich allerdings zunächst auf die Voraussage des kriminellen Verhaltens im Einzelfall beschränkte. In den U S A spielte seinerzeit die Verurteilung zu Freiheitsstrafe von unbestimmter D a u e r eine große Rolle. In der Strafanstalt mußte also entschieden werden, ob der Strafgefangene bedingt entlassen werden sollte oder nicht. Für eine solche Entscheidung war die Vorhersage wesentlich, ob der Strafgefangene sich in Z u k u n f t bewähren oder wieder rückfällig werden würde. Man unternahm Längsschnittuntersuchungen („Follow-Up-Studies"): Man stellte soziale und psychische Merkmale (z. B. Familienverhältnisse, Vorstrafen, Arbeitsgewohnheiten, Intelligenz) einer G r u p p e von Strafgefangenen fest und beobachtete sie dann eine Zeitlang nach ihrer Entlassung aus der Strafanstalt. Man teilte die G r u p p e nach einer solchen Beobachtung in Rückfällige und Nichtrückfällige und stellte die Unterschiede in den sozialen und psychischen

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Merkmalen beider Gruppen fest. Die Merkmale, die überdurchschnittlich häufig mit Nichtrückfälligkeit zusammengingen (korrelierten), nahm man als günstige Faktoren (Gutpunkte) in sogenannte Prognosetafeln auf. Man berechnete schließlich den Prozentsatz der Wahrscheinlichkeit der Nichtrückfälligkeit beim Vorliegen von Faktorenkombinationen. Die Prognosetafeln sollten dem Praktiker der Strafrechtspflege als Hilfsmittel für seine Entscheidung dienen, den Strafgefangenen vorläufig zu entlassen oder ihm Strafaussetzung zur Bewährung anstelle einer Freiheitsstrafe zu gewähren. Man wollte solche Entscheidungen, die rein gefühlsmäßig getroffen wurden, auf objektivere wissenschaftliche Daten gründen. Man ging dabei von der These aus, daß das, was in der Vergangenheit in einer großen Zahl von Fällen kriminogen, kriminalitätsverursachend gewirkt habe, sich auch in Zukunft kriminogen auswirken werde. Ernest W. Burgen stellte (1928) die erste Prognosetafel aus 21 Faktoren zusammen. Methodische Kritik, z. B. Überschneidungen von Prognosefaktoren, wandte George B. Vold (1931) gegenüber dieser Tafel ein. Die Zuverlässigkeit entwickelter Prognosetafeln überprüfte Clark Tibbitts (1931), der entdeckte, daß sich die häufigsten und schwersten Verletzungen der bedingten Entlassung in den ersten zwölf Monaten nach der Entlassung ereignen. Weitere Prognosetafeln entwickelten Ferris F. Laune (1936) und Sheldon und Eleanor Glueck (1930), die die umfangreichsten und gründlichsten kriminologischen Prognoseforschungen unternommen haben. Auf Anregung von Exner (1935) erarbeitete sein Schüler Robert Schiedt (1936) die erste deutsche Prognosetafel. Der grundsätzliche und stichhaltigste Einwand gegen die Kriminalprognose im Einzelfall besteht darin, daß die Vorhersage eine Eigendynamik im Sinne einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung entwickeln kann. Der klinischen Tradition Healys folgend, hatte der englische Psychologe Cyril Burt (1925) mit dem täterorientierten Mehrfaktorenansatz eine Fülle von Fakten zur Jugenddelinquenz zusammengetragen. Auf dem Mehrfaktorenansatz bauten auch der Jurist Sheldon Glueck und die Pädagogin Eleanor Glueck alle ihre sorgfältigen, aber auch aufwendigen empirischen Studien auf. In ihrer ersten Längsschnittuntersuchung beobachteten sie 510 junge Männer fünfzehn Jahre lang, nachdem sie aus dem „Reformatory" des Staates Massachusetts, einer Strafanstalt für 18- bis 30jährige Rechtsbrecher, in den Jahren 1921 und 1922 entlassen worden waren (Glueck 1930, 1937, 1943). 85 % dieser jungen Rechtsbrecher waren vorbestraft. Im Zeitraum der ersten fünf Jahre nach ihrer Entlassung wurden 21,5 % der jungen Straftäter nicht mehr rückfällig. Während der zweiten fünf Jahre nach ihrer Entlassung begingen 32 % ihrer Probandengruppe keine Straftaten mehr. Diese zunehmende Nichtrückfälligkeit begründete das Ehepaar Glueck mit der fortschreitenden Reifung ihrer Probanden. Geistige und psychische Abnormität („Psychopathie") machten sie für die Begehung der Rückfallkriminalität verantwortlich. Nach fünfzehn Beobachtungsjahren stellten sie fest: 32 % ihrer Probanden hatten weiterhin schwere Straftaten verübt, während 29 % leichtere Kriminalität begangen hatten. Im Zeitraum der 15

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Jahre hatten sich 33,5 % vollständig sozial wiedereingegliedert. 5 °/o ihrer Probandengruppe hatten ihre Kriminalität in den ersten zehn Beobachtungsjahren aufgegeben, waren aber im dritten Beobachtungszeitraum zwischen 10 und 15 Jahren w ä h r e n d einer kurzen Zeit noch einmal rückfällig geworden. In ihrer zweiten Längsschnittuntersuchung beobachteten sie etwa eintausend jugendliche Delinquente f ü n f z e h n J a h r e lang, die vom Jugendgericht in Boston verurteilt worden waren und die ein psychologisches und psychiatrisches Beobachtungsund Diagnosezentrum durchlaufen hatten (Glueck 1934 a, 1940). Sie ermittelten erneut, daß sich die Nichtrückfälligkeit ihrer Probanden von 15 % in den ersten fünf Jahren nach Abschluß ihrer Behandlung auf 27 % in den zweiten fünf Beobachtungsjahren erhöhte. Die schweren Straftaten nahmen ferner von 77 % in den ersten fünf Jahren auf 57 % in den zweiten fünf Jahren ab. N a c h f ü n f z e h n Jahren, als ihre Probanden im Durchschnitt 29 Jahre alt waren, hatte sich ein Drittel von ihnen sozial wiedereingegliedert. Die Abnahme der Delinquenz und der Delinquenzschwere f ü h r t e n sie wiederum auf die Reifung ihrer Probanden zurück. Die Behandlung der P r o b a n d e n ihrer ersten und zweiten Längsschnittuntersuchung beurteilten sie negativ, ob es nun um Behandlung innerhalb oder außerhalb der Strafanstalt ging. In beiden Längsschnittuntersuchungen entwikkelten sie Prognosetafeln, die u. a. folgende Faktoren enthielten: Arbeitsgewohnheiten, wirtschaftliche Verantwortlichkeit, Alter während der ersten Straftat, Vorstrafen, Geisteskrankheit o d e r -Störung. In ihrer dritten Längsschnittuntersuchung beobachteten sie 500 kriminelle Frauen fünf J a h r e lang, nachdem sie aus der Frauenstrafanstalt des Staates Massachusetts entlassen w o r d e n waren. W ä h r e n d dieser fünf Jahre wurden 76 °/o der Frauen rückfällig (Glueck 1934b). Unter Rückfall verstanden die Gluecks jede neue Verurteilung wegen einer Straftat. In den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelte sich in C h i k a g o eine ganz neue Richtung innerhalb der Kriminologie: die kriminalökologische Schule. Die Ökologie ist ein Teil der Biologie, der Pflanzen und Tiere in ihren Beziehungen zu ihrer U m g e b u n g studiert. Zwischen 1860 und 1910 hatte C h i k a g o alle zehn Jahre seine Bevölkerungszahl verdoppelt. D u r c h Einwanderung w a r es zu einer Großstadt mit mehr als 2 Millionen Einwohnern vor dem 1. Weltkrieg angewachsen. Dieser Bevölkerungsanstieg brachte einen enormen sozialen Wandel mit sich, der der Stadt große soziale Probleme verursachte. 1914 wurde Robert Park an die Soziologie-Abteilung der Universität C h i k a g o berufen, der sich vorgenommen hatte, zusammen mit Ernest W. Burgess die G r o ß s t a d t C h i k a g o als einen lebendigen sozialen Organismus systematisch zu erforschen. Sie stellten die Theorie der konzentrischen Kreise auf: Sie teilten C h i k a g o in Gebiete ein, die sie kreisförmig um einen gemeinsamen Mittelpunkt anordneten. Sie studierten sodann nicht nur die verschiedenen Sozialprobleme innerhalb dieser Großstadtgebiete, sondern sie versuchten auch, Beziehungen zwischen den Sozialproblemen und den Stadtgebieten zu erkennen. Frederic M. Tbrasher beobachtete sieben Jahre lang 1 3 1 3 Banden delinquenter Jugendlicher und veröffentlichte seinen

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Forschungsbericht 1927. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Jugendbande ein soziales „Zwischen"-gebilde ist, das hauptsächlich durch soziale „Zwischen"-gebiete hervorgebracht wird. Unter solchen Zwischengebieten verstand man Ubergangsgebiete, Großstadtbezirke, die sich in einem starken sozialen Wandel befanden, in denen die Bevölkerung so schnell wechselte, daß sich keine stabile Sozialstruktur zu bilden vermochte. Walter C. Reckless arbeitete (1933) heraus, daß die Prostituierten in diesen Gebieten mit der größten sozialen Desorganisation (Auflösung der Gemeinschaft) ihrem Gewerbe nachgingen. Clifford R. Shaw versuchte (1929), in solchen mit Delinquenz hochbelasteten Gebieten die Delinquenz-Ursachen systematisch zu erforschen. Er kam zusammen mit Henry D. McKay (1931, 1942) zu dem Schluß, daß sich in den Delinquenzgebieten die herkömmlichen Traditionen, die Nachbarschaftseinrichtungen, die öffentliche Meinung, durch die Nachbarschaften für gewöhnlich das Verhalten ihrer Kinder kontrollieren, in Auflösung befanden. Eltern und Nachbarn billigten delinquentes Verhalten, so daß die Kinder in einer sozialen Welt aufwuchsen, in der Delinquenz eine annehmbare, gebilligte Verhaltensform darstellte. Aufgrund der ständigen systematischen Beobachtung der verschiedenen Stadtgebiete in der Zeit von 1927 bis 1961 fand Henry D. McKay (1967 b) heraus, daß teilweise neue Delinquenzgebiete im Laufe der sozialen Entwicklung entstanden waren und daß sich alte Delinquenzgebiete in einem „Selbstheilungsprozeß" in Stadtgebiete gewandelt hatten, die nicht mehr vermehrt mit Delinquenz belastet waren. Die Erwachsenen paßten sich in solchem Selbstheilungsprozeß veränderten Verhaltensformen und -normen der Großstadtgebiete an; eine neue Gemeinschaft baute sich auf; die zerstörten Beziehungen innerhalb der Gemeinschaften (z. B. der Nachbarschaften) des Großstadtbezirks wurden wieder neu geknüpft; neue Institutionen wuchsen im Großstadtbezirk, die den gewandelten Bedürfnissen ihrer Bewohner besser gerecht wurden. Shaw hat seine Gebietsanalysen durch Lebenslaufgeschichten delinquenter Jugendlicher ergänzt und vervollständigt (1930, 1931, 1938), die er monate-, ja jahrelang befragte und interviewte. Seine Gespräche ergänzte er durch Aktenstudien und die Erhebung anderen biographischen Materials. Er kam zu dem Schluß, daß innerhalb der Delinquenzbezirke delinquente Techniken und Traditionen spielerisch von einer Generation auf die nächste übertragen werden und daß sich in Delinquenzgebieten viele Gelegenheiten für delinquentes Verhalten eröffnen. Der „Jack-Roller", ein 16jähriger Rückfalltäter, den Shaw sechs Jahre lang beobachtete (1930), hat sein gesamtes Leben erzählt, nachdem er siebzig Jahre alt geworden war (Jon Snodgrass 1982). Er führte seine gute Selbstkontrolle als Erwachsener auf seine persönliche Reifung zurück. Seine Wiedereingliederung war freilich unvollständig. Als Erwachsener beging er noch einen Raubversuch. Auf Betreiben seiner Ehefrau verbrachte er viele Jahre in psychiatrischen Anstalten. Durch die Lehrbücher der dreißiger Jahre wurde der bis dahin erreichte kriminologische Wissensstand gefestigt. Der Soziologe Fred E. Haynes (1930) und der Soziologe und Psychiater Clayton J. Ettinger (1932) vertraten in ihren Bü-

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ehern die Auffassung, daß Kriminalität durch soziale Desorganisation entstehe und durch soziales Lernen weitergegeben werde. Nathaniel F. Cantor maß (1932) den wirtschaftlichen Bedingungen f ü r die mittelbare oder unmittelbare Verursachung der Kriminalität eine gewisse Bedeutung bei. D e r Psychologe Robert H. Gault (1932), der in seinem Kriminologie-Lehrbuch auch Fragen der Kriminalistik mitbehandelte, stellte klar, daß Kriminalität als solche nicht anlagebedingt sein könne, da eine H a n d l u n g und deren strafrechtliche Bewertung sich nicht vererben ließen. Die Abnormität eines Menschen, sich nicht an die konventionellen Verhaltensweisen anderer anpassen zu k ö n n e n , hielt er demgegenüber f ü r vererbbar. Einen Psychopathen in diesem Sinne definierte er als eine unausgeglichene ichbezogene Persönlichkeit, die keine Voraussicht besitzt, charakterschwach ist und sich in ein Phantasieleben flüchtet. D e r Psychiater William A. White (1933) versuchte, von psychoanalytischer Seite aus einen Beitrag zur kriminologischen Diskussion zu leisten. D e r Soziologe Albert Morris f o r m u lierte (1935, 512) einmal mehr die Skepsis gegenüber dem Anstaltsstrafvollzug: „Man kann nicht zur selben Zeit am Straftäter Rache nehmen und ihn bessern. Man kann ihm nicht zur selben Zeit jede Verantwortlichkeit entziehen, um ihn zu lehren, V e r a n t w o r t u n g zu übernehmen. Man kann ihn nicht f ü r fünf Jahre unter Bedingungen einsperren, die völlig verschieden von denen sind, die er außerhalb der Strafanstaltsmauern vorfinden wird, und ihn zur selben Zeit befähigen wollen, ins normale Leben z u r ü c k z u k e h r e n . " In ihrer Monographie über Film, Delinquenz und Kriminalität versuchten die Chikagoer Soziologen Herbert Blumer und Philip M. Hauser (1933), die Konzepte der sozialen Desorganisation und der sozialen Lerntheorie auf ihr Problemfeld anzuwenden und empirisch zu untermauern. D e r sozialen B r a n d m a r k u n g delinquenter Jugendlicher durch das Jugendgerichtsverfahren traten Walter C. Reckless und Mapheus Smith (1932) entgegen. Wie sich der soziale und ökonomische W a n d e l auf die Kriminalpolitik auswirkte, zeigten Georg Rusche und Otto Kirchheimer (1939) in ihrer historischen Studie: Nicht nur humanitärer Eifer, sondern auch Möglichkeiten der Profiterzielung waren entscheidende Motive der Strafanstaltsreform. Die weite A n w e n d u n g der Todesstrafe im Mittelalter w u r d e zu Beginn des Kapitalismus eingeschränkt, um menschliches Leben f ü r den Arbeitseinsatz zu erhalten. Diese Problemsicht ist zwar ein wenig zu einfach. Gleichwohl berührten Rusche und Kirchheimer in ihrer Kritik Aspekte, die allzu leicht vergessen werden. D e r damals 43jährige Jurist Jerome Michael und der damals 30jährige Philosoph Mortimer f . Adler sollten dem Büro f ü r Sozialhygiene (1933) einen Überblick über den Stand der kriminologischen Forschung geben. Sie benutzten diesen Auftrag zu einer rigorosen Abrechnung mit der Kriminologie ihrer Zeit: Sie sei wegen ihres methodenlosen Vorgehens zu keiner einzigen wissenschaftlichen Erkenntnis gekommen. Eine empirische Wissenschaft der Kriminologie k ö n n e es so lange nicht geben, wie es keine empirische Soziologie und Psychologie gebe. Die Kriminologie solle nicht nach den Ursachen kriminellen Verhaltens allgemein, sondern nach den G r ü n d e n besonderer krimineller Verhaltensformen suchen.

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Besonders diese letzte Forderung hat sich in zunehmendem Maße als begründet erwiesen. Kleinere, sehr spezielle, aber gleichwohl wertvolle Beiträge hat Thorsten Sellin zur Kriminologie geleistet. Er setzte sich für die Entwicklung eines statistischen Kriminalitätsindex (1931) ein, der nicht nur aus einer Auswahl der der Polizei bekanntgewordenen Delikte bestehen sollte, sondern in den auch die Schwerebeurteilung der Delikte durch die Bevölkerung und die Strafverfolgungsintensität der Polizei mit eingehen sollten. Er analysierte die Kriminalitätsentwicklung während der Zeit der wirtschaftlichen Depression (1930—1932) sehr sorgfältig (1937) und formulierte (1938) die „Kulturkonflikt"theorie, nach der Kriminalität durch Konflikte zwischen unterschiedlichen Wertsystemen entstehen kann. Sellin ging (1944) den Gründungen der Amsterdamer Zuchthäuser im 16. und 17. Jahrhundert nach, weil diese Strafanstalten bemerkenswerte Schritte im Hinblick auf einen modernen Strafvollzug darstellten. Er untersuchte schließlich die Wirkungen der Todesstrafe (1967 a) in Staaten, die sie abgeschafft und die sie beibehalten hatten, und die Mordfälle in Strafanstalten (1967 b); er sprach sich entschieden gegen die Todesstrafe aus, weil er ihre abschreckende Wirkung nicht zu entdecken vermochte. Ende der dreißiger bis Anfang der fünfziger Jahre erschienen in den USA Veröffentlichungen, die die Kriminologie erweiterten und ihr neue Betätigungsfelder erschlossen. Walter C. Reckless versuchte (1940), die sozialen Ursachen der Kriminalität dadurch zu erkennen, daß er verschiedene Gesellschaften miteinander verglich. Er kennzeichnete die Gesellschaft mit geringer Kriminalität stichwortartig z. B. folgendermaßen: relative Isolation, äußerst geringe Mobilität ihrer Mitglieder, Homogenität der Bevölkerung in Rasse und Kultur, geringe institutionelle Desorganisation, wenig Unterschiedlichkeit in Schichten und sozialen Gruppen, ein einheitliches System gewohnheitsrechtlicher Regeln oder ein gemeinsamer Sittenkodex, ein hohes Maß informeller Sozialkontrolle unter ihren Mitgliedern. Er beschrieb einfach Gesellschaften mit geringer Kriminalität: eine Indianersiedlung der Labrador Halbinsel z. B. oder das Leben in einem deutschen Dorf. In der sozialen Stabilität erkannte er den Faktor, der die Kriminalität auf niedrigem Niveau hält. Stabilität findet man in ungestörten, isolierten, homogenen, sich nicht stark wandelnden Gesellschaften wie in primitiven Stämmen, Dorfgemeinschaften und religiösen Sekten. Der Soziologe Arthur Evans Wood und der Strafrechtler John Barker Waite erörterten in ihrem Kriminologielehrbuch (1941) die Methoden und Theorien der Kriminologie, das Strafrecht und seine Anwendung und — besonders sorgfältig — den Strafvollzug. In dem Vorbeugungskapitel zu seinem Kriminologielehrbuch entwickelte der Soziologe Donald R. Taft (1942) das Konzept der „Prädelinquenz", mit dem er das Stadium meinte, in dem sich vernachlässigte und verwahrloste Kinder und Jugendliche befinden, die zwar delinquent gefährdet sind, aber noch keine delinquente Handlung im Sinne eines Verstoßes gegen ein Strafgesetz begangen haben. Dieses Konzept ist rechtsstaatlich gefährlich, weil man auf Menschen nicht rechtlich

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reagieren darf, die nicht als Delinquente in Erscheinung getreten sind. Es ist auch sozialpsychologisch bedenklich, weil man allzu leicht durch eine verfrühte Reaktion eine Eigendynamik im Sinne einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung in Kraft setzt. Die Chikagoer Erholungskommission ließ Anfang der vierziger Jahre eine Untersuchung über Freizeit und Delinquenz durchführen (Etbel Shanas 1942). Die Freizeitaktivitäten von 15 000 Jungen und 8 000 Mädchen im Alter zwischen zehn und siebzehn Jahren wurden in fünf Chikagoer Nachbarschaften studiert. Man kam zu dem Ergebnis, daß Delinquente in viel geringerem Umfang an beaufsichtigten Freizeitaktivitäten teilnehmen als Nichtdelinquente und daß Delinquente dafür mehr ins Kino gehen. In ihrem Kriminologielehrbuch, das in vier Auflagen herauskam (1943, 1945, 1951 und 1959), legten Harry Elmer Barnes und Negley K. Teeters einen besonders sorgfältigen und umfangreichen Überblick über den Strafvollzug vor, der in der Gesellschaft der USA seit der Pionierzeit eine große Rolle spielte. Im Kriminologieteil ihres Buches befaßten sie sich besonders ausführlich mit dem organisierten Verbrechen und mit der Wirtschaftskriminalität. Zum besseren Verständnis einer juristischen und sozialen Institution untersuchte Paul W. Tappan (1947) die Prozesse der persönlichen und sozialen Interaktion, die sich vor einem Gericht abspielten, das für verwahrloste junge Mädchen zuständig war. Hier kam zum ersten Mal die Reaktionsseite auf Delinquenz mit in den Blick. Man interessierte sich nicht nur für diejenigen, die als delinquent benannt werden, sondern auch für diejenigen, die andere als delinquent definieren. Mit der Dramatisierung des „Bösen" hatte Frank Tannenbaum (1938, 19/20) erstmalig etwas Neues beschrieben: Der Prozeß des Kriminell-Machens ist ein Prozeß des Etikettierens, des Definierens, des Identifizierens, des Absonderns, des Beschreibens, des Betonens, des Bewußt- und Selbstbewußtmachens; er wird als eine Art des Anregens, Nahelegens, Betonens und Hervorrufens eben jener Züge angelegt, über die man sich beklagt. Bereits Thomas (1923), Sutherland (1924) und Gillin (1926) hatten auf Gedanken des „symbolischen Interaktionismus" aufgebaut. Die Interaktion, die Brücke zwischen Person und Gesellschaft, wurde nunmehr zu einem Zentralbegriff der modernen Kriminologie. Die Eigenart der „symbolischen Interaktion" wird hierbei darin gesehen, daß Menschen nicht nur auf die Handlungen anderer reagieren, sondern daß sie gleichzeitig die Handlungen anderer Menschen interpretieren und definieren (Herbert Blumer 1962). Zwischen Reiz und Reaktion wird im Falle menschlicher Interaktion eine Interpretation eingeschaltet, die etwas über die Bedeutung ihres jeweiligen Verhaltens für die Interaktionspartner aussagt. Hans von Hentig hatte bereits 1941 auf die Interaktion zwischen Täter und Opfer aufmerksam gemacht. Er hat seine Ansicht später (1948, 436) verdeutlicht: „Das heimliche Einverständnis zwischen Täter und Opfer ist eine grundlegende Tatsache der Kriminologie. Natürlich gibt es keine Verständigung oder gar bewußte Teilhabe, aber eine Wechselbeziehung und einen Austausch verursachender Elemente." In seinem Konzept der Sekundärabweichung besitzt die soziale Reaktion für Edwin M. Lemert (1951) eine zentrale

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Bedeutung. D i e Primärabweichung kann zahlreiche Ursachen haben. D e r sekundär Abweichende ist indessen ein Mensch, dessen Leben und Identität von der Realität der Sozialabweichung, der Devianz, bestimmt wird. Lemert hat ( 1 9 5 1 ) die Abfolge der Interaktion aufgezeigt, die zu sekundärer Sozialabweichung führt: primäre Sozialabweichung, soziales Strafen, weitere primäre S o zialabweichungen, stärkere Strafen und Zurückweisung, weitere Sozialabweichungen mit möglichen Feindseligkeiten und Ressentiments gegenüber den Strafenden, Toleranzkrise der Strafenden und Stigmatisation der Sozialabweichenden durch die Gesellschaft, verstärkte Sozialabweichung als Reaktion auf die Stigmatisation und die Bestrafung, endgültige Annahme des Status eines Sozialabweichenden und Anpassungsbemühungen auf der Grundlage der zugeordneten Rolle. Das Ende des zweiten Weltkriegs ( 1 9 4 5 ) bedeutete für die nordamerikanische Kriminologie keinen Einschnitt. Sie hatte stets allen Richtungen offengestanden, und sie hatte im wesentlichen ungestört während der Kriegsjahre weiterarbeiten können. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sie folgendes erreicht: — Sie hat den täterorientierten Positivismus aufgenommen und in der klinischen Kriminologie, im Mehrfaktorenansatz verarbeitet. V o n Lombroso, Ferri über Burt und Healy führt eine Entwicklungslinie zum Ehepaar Glueck. — Sie hat die französische Kriminalsoziologie weiterentwickelt. D i e Gedanken von Tarde und Dürkheim finden sich bei Sutherland und Shaw im wesentlichen wieder. Sie wurden von Tannenbaum und Lemert weitergedacht. — Deutsche Kriminologen (z. B. Aschaffenburg, von Hentig), denen man in Deutschland ihre Wirkung begrenzte, arbeiteten wesentlich am Aufbau der nordamerikanischen Kriminologie mit. Healy, Gillin, Sutherland, Sellin und Reckless zogen die deutsche kriminologische Forschung in ihren Arbeiten heran und veröffentlichten selbst Arbeiten in deutscher Sprache. — Die Konzentration der kriminologischen Forschung auf den T ä t e r klassischer Kriminalität (z. B. Diebe, M ö r d e r ) wurde überwunden. Sutherland erweiterte die Kriminologie um die Erforschung der W e i ß e - K r a g e n - K r i m i n a l i t ä t . D u r c h Otto Pollak ( 1 9 5 0 ) wurde man auf die Frauenkriminalität aufmerksam. Neben die J u genddelinquenz trat die Alterskriminalität ( v o n Hentig 1947, 151 — 155). Das Verbrechensopfer wurde wiederentdeckt. Nicht nur der handelnde T ä t e r wurde erforscht, auch die auf die Kriminalität Reagierenden (Polizei, Gericht, Strafvollzug) wurden zum Gegenstand kriminologischer Forschung. Durch die vergleichende Kriminologie ( R e c k l e s s 1 9 4 0 ; Sheldon Glueck 1964) wurde nicht allein die Kriminalität in der eigenen Industriegesellschaft, sondern auch die Kriminalität in den Entwicklungsländern thematisiert. Im R a h m e n der Erforschung der Strafgesetzgebung und -anwendung wurde die Notwendigkeit der Auswertung und Bewertung der Wirksamkeit der Strafgesetzgebung und -anwendung erkannt. Behandlung wurde nicht mehr einfach als notwendig und heilsam beur-

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teilt. Es stellte sich mit aller Deutlichkeit auch die Frage nach der Erforderlichkeit und nach dem Erfolg der Intervention. Die Skepsis gegenüber der Strafanstalt wuchs.

Die d e u t s c h s p r a c h i g e K r i m i n o l o g i e in der ersten H ä l f t e des 20. J a h r h u n d e r t s Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in der deutschsprachigen Kriminologie anerkannt, daß das Verbrechen ein individuelles, daß die Kriminalität aber auch ein soziales Phänomen ist. Im Laufe der Entwicklung der deutschsprachigen Kriminologie wurde diese grundlegende Erkenntnis dahingehend eingeengt, daß man nur noch den Rechtsbrecher und seine nähere soziale Umgebung betrachtete. Man versuchte, die Persönlichkeit des Rechtsbrechers zu „verstehen". Franz von Liszt, der 1881 die „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" gründete, die auch eine kriminologische Zeitschrift sein sollte, sich aber immer mehr zur Strafrechtsdogmatik hin entwickelte, unterschied zwar zwischen den sozialen und individuellen Faktoren bei der Entstehung des Verbrechens. Er unterstrich aber (1905 b, 235), „daß die gesellschaftlichen Faktoren ungleich größere Bedeutung für sich in Anspruch nehmen dürfen als der individuelle Faktor." Freilich prägte er auch schon die Formel, die die „gesellschaftlichen Faktoren" auf den sozialen Nahraum des Straftäters einschränkten (1905 c, 438): „Das Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart des Verbrechers im Augenblick der Tat einerseits und den den Verbrecher im Augenblick der Tat umgebenden äußeren, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnissen andererseits." Im übrigen war Franz von Liszt hauptsächlich Kriminalpolitiker, der der Strafe äußerst skeptisch gegenüberstand (1905 b, 241): „Unsere Strafen wirken nicht bessernd und nicht abschreckend, sie wirken überhaupt nicht präventiv, d. h. vom Verbrechen abhaltend; sie wirken vielmehr geradezu als eine Verstärkung der Antriebe zum Verbrechen." Moritz Liepmann, ein Schüler Franz von Liszts, der sich (1912) gegen die Todesstrafe wandte und in seinem Gutachten über die „Kommunistenprozesse" (1928) gegen eine Kriminalisierung bloßer politischer Meinungsäußerung auftrat, teilte nach einer Studienreise in die USA, über die er 1927 berichtete, diese Skepsis gegenüber den Wirkungen des Strafvollzugs. In seiner 1930 erschienenen Monographie „Krieg und Kriminalität in Deutschland" bemühte er sich darum, die gesamtgesellschaftlichen Folgen des ersten Weltkriegs (1914—1918) für die Kriminalitätsentwicklung in dynamischer Betrachtungsweise aufzuzeigen. Er schloß seine Kritik an der Gesetzgebung und Rechtsprechung in seine Erörterungen mit ein. Einen großen Einfluß auf die Entwicklung der deutschsprachigen und der nordamerikanischen Kriminologie hatte Gustav Aschaffenburg mit seinem im Jahre 1903 erstmalig erschienenen Buch „Das Verbrechen und seine Bekämpfung", das 1913 in englischer Sprache in den

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Vereinigten Staaten veröffentlicht wurde. Aschaffenburg, der 1904 die „Monatsschrift f ü r Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform" (heute „Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform") gründete, bekannte sich in der 3. Auflage seines Buches (1933, 6/7) zu einer kriminologischen Analyse, die die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen mit einschließt: „(Das) Verbrechertum ist ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Gesellschaft, mit der es aufs innigste verwachsen ist, und aus der es immer neue Nahrung schöpft. N u r in ihr und im Zusammenhang mit ihr kann das Verbrechen zustande kommen . . .". Aschaffenburg führte die Kriminalität auf die „soziale Untauglichkeit" des Rechtsbrechers zurück. In seinem Buch legte er die Grundlagen zur Kriminalgeographie. Er zeigte die Beziehungen zwischen Kriminalität und Tageszeit, Wochenablauf, Jahreszeit und Klima auf und machte die Bedeutung des Alkohols für die Verbrechensverursachung deutlich. Die Wurzeln des Verbrechens in der Persönlichkeit des Rechtsbrechers und ihre dynamischen Verflechtungen mit Außenweltfaktoren versuchten im Anschluß an Sigmund Freud (1915) der österreichische Erzieher August Aichhorn (1925) und die Psychoanalytiker Franz Alexander und Hugo Staub (1929) herauszuarbeiten. Die Verbrechensursachen erblickten sie hierbei in einem disharmonischen Elternhaus, in einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung und in psychischen Verletzungen in der Frühkindheit. Alfred Adler (1924, 1931) stellte die These auf, daß aus einem Minderwertigkeitsgefühl und einem fehlenden Gemeinschaftsgefühl heraus soziale Entmutigung erwachse, aus der wiederum Kriminalität entstehe. Die Psychoanalytiker und Individualpsychologen vermochten sich mit ihren Gedanken im deutschsprachigen Raum nicht durchzusetzen. Franz Alexander setzte seine Forschungsarbeit mit William Healy (1935) in den Vereinigten Staaten fort. Im angloamerikanischen Raum wurden die Ideen der deutschsprachigen psychoanalytischen Kriminologie aufgenommen und fortgeführt (vgl. z. B. Ben Karpman 1935, 1944; William Healy und Augusta F. Bronner 1936; John Bowlby 1952; Walter Bromberg 1948; Edward Glover 1960). Im deutschen Sprachraum bildete sich eine kriminalbiologische, psychopathologische Gegenströmung, die auch gegenwärtig noch nachwirkt. Im Jahre 1923 hatte Kurt Schneider erstmalig sein Buch „Die psychopathischen Persönlichkeiten" veröffentlicht, in dem er zehn Psychopathentypen aus klinischer Erfahrung beschrieb, u. a. selbstunsichere, fanatische, geltungsbedürftige, stimmungslabile, gemütlose und willenlose Psychopathen. Die Kurt Schnei¿ereche Psychopathologie hat bis heute einen sehr großen Einfluß auf die deutschsprachige Kriminologie ausgeübt (Hans Göppinger 1962 a). Als einer der ersten wandte Karl Birnbaum (1926, 1931) diese Psychopathologie in der Kriminologie an: Die psychopathische Konstitution ist erblich bedingt. Gemüts-, Gefühls-, Trieb- und Willensanomalien sind Verbrechensursachen. Der kriminelle Psychopath ist gekennzeichnet durch eine absolute Empfindungs- und Gefühllosigkeit in moralischer und ethischer Beziehung. Das Fortlaufen von Kindern aus dem Elternhaus erklärte Birnbaum (1926, 129) aus einem psychopathischen

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H a n g zum Davonlaufen und Sich-Herumtreiben, aus psychopathischer Unstetheit und aus dem D r a n g nach Abwechslung und Ungebundenheit. D i e Hauptverursachungslast liegt beim „ T ä t e r " , beim „psychopathischen" Jugendlichen; die gestörte Familiendynamik tritt in ihrer Bedeutung zurück. D e r Jugendliche wird als „Psychopath" gebrandmarkt. D a Psychopathie angeboren ist, kann man gegen sie nichts tun. Schneiders und Birnbaums Lehren fanden bei dem führenden polnischen Kriminologen Stanislaw Batawia ( 1 9 3 1 ) Zustimmung. Für die beiden G r a z e r Juristen Adolf Lenz ( 1 9 2 7 , 1928, 1936) und Ernst Seelig ( 1 9 3 6 , 1950) bedeutete die kriminalbiologische Erkenntnis die Erfassung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers in ihren Neigungen (Dispositionen) und G e fügen (Strukturen). Beide zogen sich im wesentlichen auf die Kriminalbiologie zurück. Lenz schrieb dazu ( 1 9 2 7 , 11, 20, 2 1 ) : „Die biologische Betrachtung erblickt im Verbrechen ein psycho-physisches Phänomen. Dies bedeutet, daß ihr das Seelenleben nicht wie bei der kriminalpsychologischen Betrachtung an sich, sondern nur in seiner untrennbaren Einheit mit dem körperlichen Leben zugrunde l i e g t . . . Die Kriminalbiologie ist die logisch geordnete (systematische) Lehre von der Persönlichkeit des T ä t e r s und von seinem V e r b r e c h e n als individuellem Erlebnis . . . D i e U m w e l t kommt für die Kriminalbiolog.ie nur so weit in Betracht, als sie sich im individuellen Leben widerspiegelt. . . Ermittlung des Z u sammenhanges zwischen Persönlichkeit und krimineller T a t ist das letzte Ziel der Kriminalbiologie." Seelig ( 1 9 6 3 , 21, 2 2 ) gliederte die unmittelbaren Ursachen der Verbrechensbegehung in die Umweltlage und die Persönlichkeit des T ä t e r s zur T a t z e i t : „Die Umweltlage zur T a t z e i t umfaßt Umstände, die die T a t auslösen, die die Ausführung der T a t objektiv ermöglichen, und solche, die die Tatausführung hemmen . . . D e r andere Ursachenarm, die Persönlichkeit des T ä t e r s zur Tatzeit, ist stets ein Mensch mit seinem gegenwärtigen Erleben; dieses Erleben ist wiederum durch die relativ dauernde Eigenart dieses Menschen bedingt, die wir auch als seine „Persönlichkeit" schlechthin bezeichnen." D i e Kriminalität als Massenerscheinung wird von Seelig zwar auch gesehen, aber als etwas Untergeordnetes behandelt; Kriminalitätsursachen werden in gesamtgesellschaftlichen Erscheinungen nicht erkannt. D i e Aufteilung krimineller Persönlichkeiten in Typen eröffnete für ihn vielmehr eine Methode, um den V e r b r e -

chensursachen auf die Spur zu kommen. Ernst Seelig und Karl Weindler unter-

scheiden ( 1 9 4 9 , 19) acht T y p e n von Kriminellen: Berufsverbrecher aus Arbeitsscheu, Vermögensverbrecher aus geringer Widerstandskraft, Gewalttäter, V e r brecher aus sexueller Unbeherrschtheit, Krisenverbrecher, primitiv-reaktive V e r brecher, Uberzeugungsverbrecher und V e r b r e c h e r aus Mangel an Gemeinschaftsdisziplin. N a c h Ferdinand von Neureiter ( 1 9 4 0 ) schließlich wurzelt die Kriminalbiologie vornehmlich „in der Konstitutions- und in der Erbbiologie, in der medizinischen Psychologie, der Charakterkunde und der Psychopathologie". Sie sucht „durch die typenmäßige Erfassung j e n e r Gemeinschädlinge, die ob ihrer N a c h k o m m e n s c h a f t den Bestand künftiger Geschlechter gefährden, zum Ausbau der Erb- und Rassenpflege beizutragen". Allein durch die W o r t -

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wähl („Gemeinschädlinge") wird der Einfluß der nationalsozialistischen Rassenideologie deutlich. Aufgrund der Zwillings- und der erbbiologischen Sippenforschung, aufgrund „systematischer und massenhafter Einzelbeobachtung", versuchte man in den dreißiger Jahren in Deutschland, die Erbfaktoren von den Umweltfaktoren bei der Entstehung des Verbrechens abzugrenzen und den Erbfaktoren ein weitaus größeres, ja sogar entscheidendes Gewicht bei der Verbrechensverursachung beizumessen. Johannes Lange untersuchte (1929) dreißig Zwillingspaare, 13 eineiige und 17 zweieiige. Er argumentierte: Ist die erbliche Artung ohne Bedeutung, so darf ein Vergleich keine Unterschiede zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren zeigen. Je größer jedoch das Gewicht der Anlage ist, um so häufiger muß konkordantes, übereinstimmendes Verhalten Eineiiger eintreten. Auf 18 eineiige und 19 zweieiige gleichgeschlechtliche Zwillingspaare wandte Friedrich Stumpft (1936) die Zwillingsmethode an. Heinrich Kranz verglich (1936) 32 eineiige mit 43 zweieiigen Zwillingspaaren. Lange, Stumpft und Kranz zeichneten die „Lebensschicksale" ihrer Zwillinge sehr eingehend auf und kamen zu dem Ergebnis, daß sich eineiige Zwillinge dem Verbrechen gegenüber ganz vorwiegend konkordant, übereinstimmend, zweieiige aber ganz vorwiegend diskordant, ungleichförmig verhalten. Sie interpretierten dieses Ergebnis: Die Erbanlage spielt eine ganz überragende Rolle bei der Verbrechensverursachung. Aus so kleinen Stichproben konnte man eine so weitreichende Schlußfolgerung nicht ziehen. Im übrigen beeinflussen sich Zwillinge gegenseitig. Schließlich haben nicht zwei Kinder dieselbe Umwelt, selbst wenn sie in derselben Familie aufwachsen (Albert Warren Stearns 1931, 37), weil die Interaktionen, die wechselseitigen menschlichen Beziehungen, im sozialen Nahraum sehr unterschiedlich sind. Friedrich Stumpft ging (1935) noch einen Schritt weiter. Er stellte 195 Schwerkriminelle (Rückfallverbrecher) 166 Leichtkriminellen (einmalig Bestraften) gegenüber. Er erhob die Lebensläufe und befragte 1 747 „Sippenangehörige" und 600 Auskunftspersonen (Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister). Unter den Verwandten von Rückfallverbrechern fand er mehr Kriminelle, speziell Rückfallverbrecher, als unter den Verwandten von einmalig Bestraften. Die Rückfallverbrecher unter seinen Ausgangsfällen stufte er fast ausnahmslos als Psychopathen ein. Unter seinen 166 Leichtkriminellen ermittelte er demgegenüber nur 24 (14,5 % ) Psychopathen. Im Verwandtenkreis von Schwerkriminellen stellte er wesentlich häufiger Psychopathen fest als im Verwandtenkreis von Leichtkriminellen. Er folgerte aus seinen Ergebnissen, daß Erbanlagen die Hauptursachen des Verbrechens sind, und er forderte „rassenhygienische Maßnahmen" (Kastration, Sterilisation) bei Schwerkriminellen, da die „Fortpflanzungskraft" krimineller Sippen besonders stark sei. Daß sich unter den Verwandten von Rückfallverbrechern mehr Rückfallverbrecher befinden, braucht nicht auf Vererbung zu beruhen. Rückfallkriminalität unter Verwandten kann durchaus auch auf Lernprozesse im sozialen Nahraum zurückgeführt werden. Im übrigen hat sich die Diagnose Psychopathie als sehr unsicher erwiesen. Die Art der Feststellung (erb-

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biologische Sippenforschung) ist hier mehr als methodisch zweifelhaft. Schließlich ist der Anteil der Psychopathen an der nichtkriminellen Bevölkerung bis heute unbekannt. Legten die Psychiater Lange, Stumpft und Kranz besonderen W e r t auf die Anlagebedingtheit der Kriminalität, so versuchte der Jurist Franz Exner (1926, 1927, 1935, 1936, 1939, 1944, 1949) sein kriminologisches D e n k e n um seine Zentralbegriffe Anlage, Umwelt und Persönlichkeit zu o r d n e n , unter der er etwas Individuelles, Einmaliges verstand. Erbanlagen waren f ü r ihn in den Keimzellen enthaltene spezifische Entwicklungsmöglichkeiten. Die Umwelt bestand f ü r ihn aus der auf ein bestimmtes Subjekt bezogenen Außenwelt: „Selbst zwei unter „gleichen Verhältnissen" aufwachsende Geschwister haben nicht dieselbe Umwelt, denn es gibt f ü r mehrere Personen nicht wirklich gleiche Verhältnisse" (1949, 23). Ererbtes und Erlebtes bildeten f ü r Exner die Persönlichkeit: „Die Anlage ist, die Persönlichkeit wird. Die Anlage bedeutet nicht mehr als die Entwicklungsmöglichkeit, die Persönlichkeit bedeutet das Entwickelte und sich weiter Entwickelnde" (1949, 28). Methodisch unterschied Exner (1949, 10—19) Einzel-, Reihen- und Massenuntersuchung. Unter Reihenuntersuchung begriff er die Untersuchung einer Anzahl von Einzelfällen, die in gewissen, kriminologisch bedeutsamen P u n k t e n gleichgelagert waren. U n t e r Massenuntersuchung erfaßte er die Bearbeitung aller bekanntgewordenen Fälle, wie sie in den Kriminalstatistiken der modernen Kulturstaaten gezählt und veröffentlicht werden. Den Umweltbegriff dynamisierte er als „Beziehungsbegriff", und er differenzierte ihn auch mit Recht. D e n n er unterschied (1936, 21—24) die häusliche, die berufliche, die örtliche und die staatliche Umwelt. Häusliche, berufliche und örtliche Umwelt faßt man heute unter dem Begriff „sozialer N a h r a u m " zusammen, auf den T ä t e r wie O p f e r aktiv Einfluß nehmen können. U n t e r staatlicher U m welt versteht man heute gesamtgesellschaftliche Faktoren (z. B. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Inflation), denen der einzelne mehr oder weniger „ausgesetzt" ist, auf die er also nur in sehr beschränktem Maße einwirken kann. Eine solche gesamtgesellschaftliche, kriminologische Analyse, eine Massenuntersuchung, hat Exner in seiner Monographie „Krieg und Kriminalität in Österreich" (1927) sorgfältig erarbeitet. In seinem kriminologischen Lehrbuch, das er in erster (1939) und zweiter Auflage (1944) „Kriminalbiologie" nannte, spielen gesamtgesellschaftliche Faktoren gleichwohl nicht die ausschlaggebende Rolle, wie man es nach dieser Monographie und aufgrund seiner Reise nach N o r d a m e r i k a erwartet hätte, die er 1934 u n t e r n o m m e n hatte und über die er 1935 berichtete. In seinem Lehrbuch sind zwar zahlreiche nordamerikanische kriminologische Bücher erwähnt. Nordamerikanisches kriminologisches D e n k e n hat Exner dennoch nicht entscheidend in sein kriminologisches System einbauen können. Er bekannte sich zu einer „Verbrecheranlage" (1949, 111, 125), nahm einen „Erbzusammenhang zwischen Psychopathie und Kriminalität" (1949, 119) an und zog die Psychopathielehre ganz wesentlich zur Erklärung der V e r u r s a c h u n g der Kriminalität heran (1949, 183—191). Er schrieb (1949, 131): „Unter den Ursa-

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chen des Verbrechens spielt die Qualität des Erbgutes eine hervorragende Rolle . . . Durch die neue Erbforschung ist. . . jegliche reine „Milieutheorie" . . . erledigt." Uber den Einfluß der Psychoanalyse und der nordamerikanischen Soziologie auf die Kriminologie liest man bei Exner (1939, 1944, 1949) nicht viel. Zur Frage der Vorhersage kriminellen Verhaltens beim einzelnen Rechtsbrecher nimmt er punktuell auf nordamerikanische Forschungsergebnisse Bezug (1949, 306—318), die er im übrigen jedoch in ihrer Reichhaltigkeit und in ihrem Wert noch nicht voll abzuschätzen vermochte. Einer kriminalsoziologischen Fragestellung geht auch Wilhelm 5i?«er(1933, 1950) nach. Bei ihm findet man allerdings noch weniger nordamerikanische und internationale Bezüge als bei Exner. Die Ursache der Straftat ist für Sauer der „Kriminalitätserreger", nämlich der selbstschöpferische Gestaltungswille des Verbrechers, die in der Tiefe der Persönlichkeit wurzelnde Willensfreiheit. Hinter diesen „Kriminalitätserreger" treten Anlage (Erbgut) und Umwelt bei Sauer als Verursachungsfaktoren f ü r Kriminalität zurück. „Die Umwelt jemandes kann nur von seiner Persönlichkeit, besonders von seinem Willen her, näher bestimmt werden" (1950, 61). Als Verbrechensbekämpfung empfiehlt Sauer die Ausmerzung des „Kriminalitätserregers" und seinen Ersatz durch moralisch-kulturelle Werte. Der Antipode zum „Kriminalitätserreger" ist nämlich der Kulturschöpfer, die geniale Kraftbetätigung zur Schaffung kultureller Werte für die Gesamtheit. Als Methode empfiehlt Sauer der Kriminologie die intuitive Einfühlung in das Wesen der Kriminalität: „Die reine Kriminologie erfaßt aus mehreren gegenteiligen Sätzen die wahre Einsicht; sie besitzt einen intuitiven Sinn für das Wahre wie die Rechtsphilosophie für das Gerechte (1950, 11) . . . Der reinen Kriminologie in Verbindung mit intuitiver Erkenntnis und Lebenserfahrung kommt grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu als der Statistik" (1950, 14). Theoretischer Grundansatz („Kriminalitätserreger") und methodischer Forschungsansatz („intuitive Einfühlung") verlieren sich bei Sauer ins Irrationale. Sie stehen zur Kriminologie als empirischer Tatsachenwissenschaft in Widerspruch. Wie Sauer entfernt sich auch Edmund Mezger (1944, 1951) allzusehr von der sozialen Wirklichkeit; er betont zu einseitig das Verbrechen als individuelle Erscheinung. Kriminologie ist für ihn „die Lehre vom seelisch-körperlichen Ursprung des Verbrechens" (1944, 3); sie wendet biologische und psychologische Erkenntnisse und Methoden auf den rechtsbrechenden Menschen an. Mezger bekennt sich (1944, 29) zu einer psychopathologischen Verbrechensauffassung, „die das Verbrechen von der Seite der seelischen Krankheit und der seelischen Abnormität her zu verstehen sucht." Er weiß sich der Methode des Verstehens, des „subjektiv einfühlenden Nacherlebens" (1951, 8) verpflichtet. Gesamtgesellschaftliche kriminologische Analysen sind für ihn weniger wichtig; das Verbrechensopfer findet überhaupt keine Erwähnung. „Kriminologie kommt vom Einzelfall her und zielt wieder zum Einzelfall . . . Die exakte kriminologisch-kriminalpsychologische Analyse des Einzelfalles ist daher ein unentbehrliches Hilfsmittel, ja im ganzen betrachtet, das wichtigste Ziel aller Kriminologie" (1951,

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13). Selbst wenn man die Einzelfallstudie in ihrer Bedeutung voll würdigt, sind Mezgers Aussagen zu einseitig. Keine Klarheit vermittelt auch sein Satz: „Es gibt keine „kriminelle Anlage (Verbrecheranlage)", wohl aber eine Anlage zum Verbrechen" (1951, 113). Die Entwicklung einer Tätertypologie, die sich stark an Birnbaums und Kurt Schneiders Psychopathentypen anlehnte (1951, 178—192), hat schließlich die deutschsprachige Kriminologie nicht entscheidend zu fördern vermocht. Am Ende des 2. Weltkriegs (1945) war auch die deutschsprachige Kriminologie zusammengebrochen. Ihre Entwicklung war in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts stark behindert worden: — Zwei verlorene Weltkriege (1914 — 1918, 1939—1945), die damit verbundenen Wirtschaftskrisen, Inflationen (1923, 1946), wirtschaftliche Depression (1930—1932) und Arbeitslosigkeit beeinflußten die kriminologische Forschung und Lehre außerordentlich negativ. — Der Nationalsozialismus (1933—1945) isolierte die deutschsprachige Kriminologie sehr stark. Internationale Beziehungen wurden unterbunden. Führende Kriminologen (z. B. Aschaffenburg, von Hentig) und Psychoanalytiker (z. B. Franz Alexander) wurden aus dem Land gedrängt. Das in sich kriminelle System des Nationalsozialismus duldete keine unabhängige, sozialkritische Kriminologie. — Zwar hatten Liepmann (1930) und Exner (1927) beachtliche kriminalsoziologische Analysen über Krieg und Kriminalität vorgelegt. Auch das Lehrbuch von Aschaffenburg (1933) war auf der H ö h e seiner Zeit. Gleichwohl vermochten sich keine Kriminalsoziologie und keine psychoanalytisch orientierte Kriminologie zu entwickeln. Kriminalbiologie und Psychopathologie erlangten einen übermächtigen Einfluß.

Die Kriminologie der Nachkriegszeit Für die deutschsprachige Kriminologie der Nachkriegszeit war es äußerst schwierig, internationalen Anschluß zu finden. Die nordamerikanische Kriminologie bot sich in einer verwirrenden Vielfalt dar. Mit seinen frühen Auslandsreisen leistete Wolf Middendorf} (1956, 1959) Pionierarbeit; er versuchte, die internationalen Beziehungen wieder anzuknüpfen. Die deutschsprachige Kriminologie verharrte allgemein noch in einer abwartenden Abwehrhaltung. Zwar kehrte Hans von Hentig aus den USA nach Deutschland zurück und versuchte, seine Erfahrungen für den Aufbau einer deutschsprachigen Kriminologie (1961, 1962, 1963) nutzbar zu machen. Karl S. Bader legte (1949) eine „Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität" vor, die gesamtgesellschaftliche Verursachungsfaktoren der Kriminalität wirklichkeitsnah zu berücksichtigen versuchte. Dennoch blieb das ganzheitliche „Verstehen" des einzelnen Rechtsbrechers die vor-

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herrschende Methode. Die Psychopathologie dauerte als theoretische Grundlage fort. Hinzu kam die Ganzheitsbetrachtung der philosophischen Anthropologie, mit der man Psychoanalyse (Rüdiger Herren 1973) und Kriminalsoziologie ( R i chard Lange 1970) abzuwehren versuchte. Der schweizerische Jurist Erwin Frey wertete (1951) 160 Fürsorge- und Strafakten, insbesondere psychiatrische Gutachten, aus. Es handelte sich um Fälle, die in den Jahren 1939 bis 1948 in Basel zur gerichtlichen Verhandlung standen. Zum Zwecke der Rückkontrolle befragte er einen Teil seiner Probanden. Er stellte sehr enge Beziehungen zwischen Psychopathie und Rückfallverbrechertum und eine überragende Bedeutung biologischer Faktoren für die Rückfälligkeit fest (1951, 94). Im Gegensatz zu Shaws biographischen Forschungen (1930, 1931, 1938) kam Frey zu dem Ergebnis, „daß bestimmte jugendliche Rechtsbrecher nicht im Laufe einer langsamen Entwicklung (etwa unter ungünstigen Milieueinflüssen) über das Stadium des Gelegenheitsdelinquenten zu Rückfallverbrechern werden, sondern daß sie genotypisch die Disposition zu einer solchen Entwicklung von Geburt an in sich tragen" (1951, 248). Diese — höchst bestrittene — Erkenntnis brachte ihn zu einer kriminalpolitisch (unbegründeten) pessimistischen Haltung: „Die psychopathische Charakterveranlagung als solche hat sich in sämtlichen Fällen gegenüber allen Nacherziehungsversuchen als resistent erwiesen: Nirgends wurde — weder durch rein pädagogische noch durch psychotherapeutische Beeinflussung — eine „Heilung" der psychopathischen Charakteranomalien erwirkt" (1951, 238). Nach Armand Mergen (1967, 1968) war das Psychopathenproblem eines der wichtigsten Probleme der Kriminologie: „Die Tendenz zum Verbrechen ist. . . in jedem Menschen vorgezeichnet. Der Psychopath erliegt ihr, weil ihre Kraft pathologische Übermacht bekommt" (1967, 355). Bei Mergen fand man (1968, 44) auch den „geborenen Verbrecher" wieder, der allerdings nicht notwendigerweise zum Täter werden muß. „Er bringt nur mehr kriminogene Voraussetzungen mit als die anderen Menschen . . .". Thomas Würtenberger (1957, 44, 1970, 15) faßte die Biologie, die Psychologie, die Soziologie und die Psychiatrie als „kriminologische Grundwissenschaften" auf. „Ihre sinngebende Mitte finden alle diese der kriminologischen Forschung dienenden „Grundwissenschaften" . . . in der „philosophischen Anthropologie", die die Stellung des Menschen im Ganzen der Welt zum wissenschaftlichen Hauptproblem macht." Der Strafrechtler Richard Lange (1960, 1970), der immer wieder gegen die Psychoanalyse und gegen die nordamerikanische Kriminalsoziologie Front machte, setzte sich mit Nachdruck für eine philosophisch-anthropologische Betrachtungsweise in der Kriminologie ein. Nicht ohne Genugtuung schrieb er (1970, 234): „In Deutschland ist nach wie vor das klassische Bild der zehn Psychopathentypen in der Konzeption von Kurt Schneider ungeachtet dessen unerschüttert, daß Schneider selbst gegenüber seinen ursprünglichen Thesen gewisse Einschränkungen gemacht hat." Zur Verteidigung der Psychopathologie gegenüber psychoanalytischen und kriminalsoziologischen Forschungsergebnissen wurde nicht nur die „philosophische Anthropologie" bemüht. Es wurde auch die Losung ausgegeben, nordame-

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rikanische Verhältnisse und Denkweisen seien auf deutsche Sachverhalte einfach nicht anwendbar (Lange 1981, 168). Die „Rezeption angloamerikanischer Forschungsergebnisse" wurde für beendet erklärt (Günther Kaiser 1975, 68), obgleich allenfalls eine oberflächliche Kenntnisnahme, keineswegs aber eine wechselseitige Auseinandersetzung und Durchdringung der Standpunkte stattgefunden hatte. Nach Heinz Leferenz (1978, 2) hat sich die „Rezeption soziologischer Kriminalitätstheorien des angloamerikanischen Bereichs" als unbefriedigend, als „für die deutschen Verhältnisse offensichtlich von noch geringerer Reichweite als in den USA" erwiesen. Leferenz (1978, 4) hält es für richtig, daß man sich in der deutschsprachigen Kriminologie „der psychoanalytischen Thematik weitgehend enthalten hat", weil die Psychoanalyse ein Theoriegebäude zugrunde lege, „das dem heute üblichen Standard einer empirischen Wissenschaft nicht genügen kann oder auch nicht genügen will" und weil „die Psychoanalyse sogar einen eigenen Wissenschaftsbegriff für sich in Anspruch" nehme. Der Soziologe Fritz Sack (1968, 1974) war einer der wenigen, die versuchten, nordamerikanische Kriminalsoziologie im deutschsprachigen Raum bekanntzumachen. Er unternahm freilich den etwas unglücklichen Versuch, marxistische Gedanken mit der interaktionistischen Perspektive zu verbinden. Er lieferte damit den Gegnern jeder Kriminalsoziologie den Vorwand, alle kriminalsoziologischen Theorien mit dem Marxismus zusammen einfach abzulehnen. Als einer der ersten bemühte sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs Tilmann Moser (1970 b) um die psychoanalytische Kriminologie. In den skandinavischen Ländern war der Einfluß der deutschen Psychopathologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr stark gewesen. Das änderte sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs. In dem Lehrbuch, das der dänische Kriminologe Stephan Hurwitz 1952 in englischer Sprache veröffentlichte, wurde die deutsche kriminalbiologische Forschung zwar berichtet, aber auch kritisiert; kriminalsoziologischen Konzepten wurde größerer Raum gegeben. Der dänische Kriminologe Karl Otto Christiansen (1977a) setzte zwar die Zwillingsforschung fort; er entwickelte gegenüber dem ursprünglichen kriminalbiologischen Konzept jedoch eine kritische Distanz. Ausgesprochen kriminalsoziologisch orientierten sich der Norweger Nils Christie (1965), der Schwede Knut Sveri (1981) und die finnischen Kriminologen Inkeri Anttila und Patrick Törnudd (1970). In Großbritannien wurde 1959 das kriminologische Institut an der Universität Cambridge neu gegründet, dessen Leitung Leon Radzinowicz übernahm, der 1961 nach einer Forschungsreise durch Westeuropa und Nordamerika einen kritischen Uberblick über die westeuropäische und nordamerikanische Kriminologie veröffentlichte. Hermann Mannheim, der während der nationalsozialistischen Zeit Deutschland verlassen mußte und in London kriminologisch weiter wirkte, schrieb ein Lehrbuch, das er „Vergleichende Kriminologie" nannte, in dem er hauptsächlich angloamerikanische und deutschsprachige Literatur verarbeitete und das 1965 in englischer und 1974 in deutscher Sprache erschien. Ab 1950 kommt in Großbritannien die „Britische Zeitschrift für Kriminologie" (British

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Journal of Criminology) heraus. In Frankreich wie in Italien waren zwei klinisch orientierte Kriminologen die beherrschenden Forscher der Nachkriegszeit: Jean Pinatel (1963) in Frankreich und Benigno di Tullio (1967, 1969) in Italien. Kriminalsoziologische Theorien und Methoden erlangten in beiden Ländern allerdings zunehmende Bedeutung (Jacques Vérin 1981; Franco Ferracuti, Gilda Scardaccione 1981). Die kanadische Kriminologie, die sehr stark unter dem Einfluß der Kriminalsoziologen der Vereinigten Staaten steht, wurde in der Nachkriegszeit hauptsächlich von Denis Szabo (1978a, 1981) entwickelt, der ein kriminologisches Institut und ein internationales Zentrum für vergleichende Kriminologie an der Universität Montreal aufbaute. Ab 1958 erscheint die englisch- und französischsprachige „Kanadische Zeitschrift für Kriminologie" (Canadian Journal of Criminology) und ab 1968 die französischsprachige kriminologische Zeitschrift „Kriminologie" (Criminologie). Nach dem 2. Weltkrieg blühte die Kriminologie in Israel (Shlomo Shoham 1966), in Japan (Koichi Miyazawa 1981) und in Australien ( William Clifford 1981) auf. Ab 1968 kommt eine „Australische und Neuseeländische Zeitschrift für Kriminologie" (Australian und New Zealand Journal of Criminology) heraus. Die Kriminologen in Nordamerika erwiesen sich in der Nachkriegszeit als Motor der kriminologischen Entwicklung in der Welt. Eine Reihe neuer Lehrbücher wurde veröffentlicht (Mabel A. Elliott 1952; Richard R. Korn, Lloyd W. McCorkle 1967; Ruth Shonle Cavan 1960; Paul W. Tappan 1960; Herbert A. Bloch, Gilbert Geis 1962 und Robert G. Caldwell 1965). Neben dem Lehrbuch von Sutherland und Cressey (1978) erlangte das Lehrbuch von Marshall B. Clinard (1974) große Bedeutung. Neue Forschungen zur Wirtschafts- (Clinard 1952; Cressey 1953) und zur Sexualkriminalität ( M a n f r e d S. Guttmacher 1951; Benjamin Karpman 1954) kamen heraus. George B. Vold faßte 1958 zum ersten Mal die kriminologischen Theorien zusammen. Mit dem Mehrfaktorenansatz setzte das Ehepaar Glueck (1950, 1956, 1962) seine breit angelegten, umfassenden Ursachen- und Prognoseforschungen fort. Entscheidend für den weiteren Aufbau der kriminologischen Forschung und Lehre und für die Kriminalpolitik erwiesen sich freilich die Arbeiten der drei Sachverständigenkommissionen, die ihre umfangreichen Berichte in den Jahren 1967, 1969 und 1970 veröffentlichten: — Der wichtigste Bericht war der der „Kommission des Präsidenten zur Rechtsdurchführung und Justizverwaltung" (President's Commission 1967 a—1967j), der in zehn Bänden erschien. Zum ersten Mal wurde eine Dunkelfelduntersuchung durchgeführt: 10 000 repräsentative Haushalte wurden befragt, ob sie Opfer von Kriminalität geworden waren (Philip H. Ennis 1967). Neunzehn Kommissionsmitglieder, 63 Mitarbeiter und 175 Berater trugen wiederum — wie es die Wickersham Kommission 1931 getan hatte — das gesamte kriminologische Wissen zusammen, unterbreiteten es dem Präsidenten und sprachen mehr als 200 Empfehlungen aus.

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— Der zweitwichtigste Bericht wurde in dreizehn Bänden dem Präsidenten von der „Nationalen Kommission über die Ursachen und die Verhütung der Gewalt" (National Commission 1969 a—1969 m) erstattet. Wegen der Rassen- und Studentenkrawalle und wegen der Attentate auf führende Politiker der USA hatte man diese Kommission gebildet, der es im wesentlichen um Gewaltkriminalität ging— Die dritte Kommission befaßte sich schließlich in neun Bänden mit Obszönität und Pornographie (Commission on Obscenity and Pornography 1970 a— 1970 i).

4. Organisation und Institutionalisierung der Kriminologie Kriminologische Forschung und Lehre in der Bundesrepublik Zwar wurden an deutschen Universitäten schon im 19. Jahrhundert Vorlesungen über Kriminalpsychologie gelesen. Eine geordnete kriminologische Ausbildung entwickelte sich aber erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde die Kriminologie als „Hilfswissenschaft des Strafrechts" verstanden. Ob eine kriminologische Vorlesung abgehalten wurde, blieb der Initiative eines Strafrechtslehrers überlassen, der dieses Fach gleichsam als „Liebhaberei" nebenbei mitvertrat. Die ersten kriminalwissenschaftlichen Institute, die Kriminologie in irgendeiner Form mit einschlössen, entstanden auf Initiative einzelner Strafrechtslehrer 1920 in Hamburg (Moritz Liepmann), 1923 in Köln (Gotthold Bohne), 1930 in Freiburg i. Br. und 1943 in Bonn (Hellmuth von Weber). Nach dem 2. Weltkrieg kamen Institute 1953 in Saarbrücken (Ernst Seelig), 1966 in Münster (Karl Peters) und 1957 in Kiel hinzu. Der erste kriminologische Lehrstuhl wurde 1959 in Heidelberg eingerichtet und mit Heinz Leferenz besetzt. Das erste empirisch-kriminologische Forschungsinstitut entstand 1962 in Tübingen; sein erster Direktor war Hans Göppinger. Nachdem die Justizministerkonferenz 1969 beschlossen hatte, den Prüfungsstoff für das erste juristische Staatsexamen unter sogenannten Pflichtfächern und Wahlfachgruppen aufzuteilen und nachdem Kriminologie das wesentlichste Wahlfach in der strafrechtlichen Wahlfachgruppe geworden war, entwickelte sich die kriminologische Lehre an den Universitäten der Bundesrepublik in den siebziger Jahren ungewöhnlich gut, zumal sie auf ein großes soziales Interesse und Engagement der Studierenden stieß. Viele neue kriminologische Lehrstühle wurden geschaffen. Heute wird Kriminologie an fast allen juristischen Fakultäten, darüber hinaus an sozial- und erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen der Universitäten, an Fachhochschulen verschiedener Richtungen und an der Polizeiführungsakade-

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mie in Münster gelehrt (Hans Udo Störzer 1984). Aus Anlaß der R e f o r m der juristischen Ausbildung in den J a h r e n 1984 und 1985 w u r d e zwar an der Aufteilung zwischen Pflichtfächern und W a h l f a c h g r u p p e n nichts geändert. Auch blieb Kriminologie Gegenstand der Lehre in der Juristenausbildung. Die Prüfungsrelevanz w u r d e ihr aber im Land Baden-Württemberg g e n o m m e n (Günther Kaiser 1985, 592; Heinz Giehring 1985, 308). D o r t trennt man zwischen Ausbildungsund P r ü f u n g s s t o f f ; Kriminologie ist zwar Ausbildungsfach geblieben, im R a h men der strafrechtlichen W a h l f a c h g r u p p e ist es aber kein P r ü f u n g s f a c h mehr. Diese Regelung geht an den praktischen Erfordernissen der Strafrechtspflege vorbei und wirft die Entwicklung der Kriminologie in diesem Bundesland auf den Stand vor 1969 z u r ü c k (vgl. die überzeugende Kritik von Wolfgang Heinz 1984). Die Regelungen zur Kriminologie als Lehr- und P r ü f u n g s f a c h in der Juristenausbildung sind in der Bundesrepublik von Land zu Land verschieden. Ein Land kann deshalb nur als Beispiel dienen. In Nordrhein-Westfalen gehören die G r u n d z ü g e der Kriminologie (Rechtstatsachenforschung) zu den Pflichtfächern ( § 3 Abs. 2 N r . 6 JAG). Die Kriminologie ist ferner in der W a h l f a c h g r u p p e Strafrechtspflege (§ 3 Abs. 3 N r . 2, Abs. 4 N r . 2 b JAG) enthalten, die ebenfalls im 1. juristischen Staatsexamen geprüft wird. Neben kriminologischen E i n f ü h rungs-, H a u p t - und Vertiefungsvorlesungen kann Kriminologie z u m Gegenstand einer Ü b u n g u n d / o d e r eines Seminars über die gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagen des Rechts (§ 8 Abs. 1 N r . 5 JAG) und einer W a h l f a c h ü b u n g u n d / o d e r eines Wahlfachseminars (§ 8 Abs. 1 N r . 4 c JAG) gemacht werden. In der ersten juristischen Staatsprüfung kann eine kriminologische Hausarbeit geschrieben werden. Im Mündlichen kann Kriminologie sowohl beim Pflichtfach Strafrecht als auch innerhalb der strafrechtlichen W a h l f a c h g r u p p e g e p r ü f t werden. Ein typisches Berufsbild f ü r Kriminologen gibt es zwar bislang noch nicht. Kriminologisch ausgebildete Juristen werden aber in Berufslaufbahnen benötigt, in denen kriminologische Kenntnisse und Fähigkeiten unerläßlich sind. H i e r z u zählen im Bereich der Kriminaljustiz vor allem Strafrichter, insbesondere Jugendrichter, Richter in Strafvollstreckungskammern, Staatsanwälte und Strafverteidiger. H i n z u k o m m e n Führungspositionen bei der Kriminalpolizei und im Anstaltsstrafvollzug. Das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter beschäftigen Kriminologen. In der Lehre benötigt man sie an Universitäten, Fachhochschulen, Polizeiakademien und an Aus- und Fortbildungsstätten f ü r Strafvollzugsbedienstete. In kriminologischen Forschungsinstitutionen und in kriminologischen Referaten und Abteilungen der Bundes- und Landesinnen- und -justizministerien finden Kriminologen V e r w e n d u n g . In Z u k u n f t werden sie in Hilfszentren f ü r Verbrechensopfer und in allen Einrichtungen der Straftäterbehandlung in Freiheit gebraucht werden. Schließlich nehmen internationale O r ganisationen (Vereinte N a t i o n e n , Europarat) Kriminologen in Dienst. Sind kriminologische Ausbildungsmöglichkeiten an fast allen juristischen Fakultäten der Universitäten der Bundesrepublik vorhanden, so beschränken sich interdiszipli-

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näre kriminologische Einrichtungen bisher nur auf wenige Universitäten. Als Beispiele können das Internationale Dokumentations- und Studienzentrum für Jugendkonflikte des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Gesamthochschule — Universität — Wuppertal und das kriminologische Aufbau- und Kontaktstudium an der Universität Hamburg genannt werden. Dieses Studium ist seit 1984/85 angelaufen. Es ist als Modellversuch zunächst bis 1990 geplant. Das Aufbaustudium, das über 35 Studienplätze verfügt und das mit der Prüfung zum „Diplom-Kriminologen" abschließt, soll als viersemestriges Studium für Soziologen, Pädagogen, Psychologen, Juristen und Mediziner mit Studienabschluß entwickelt werden. Das ebenfalls viersemestrige Kontaktstudium ist für berufstätige Personen vorgesehen, die mit Kriminalitäts- und Devianzproblemen befaßt sind. Während die hauptamtlich in der kriminologischen Forschung tätigen Personen in der Welt auf 1 500 geschätzt werden (Denis Szabo 1978a, 151), wird die Zahl der akademisch voll ausgebildeten und ausschließlich kriminologisch tätigen Forscher in der Bundesrepublik mit etwa 60 angegeben (Günther Kaiser 1980a, 68). Kriminologische Forschung wird hauptsächlich an den juristischen, psychologischen, soziologischen und medizinischen Fakultäten der Universitäten betrieben. Unabhängige außeruniversitäre Forschungsstätten sind z. B. die Institution der kriminologischen Forschungsgruppe des Max-Pianck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br. (Kaiser 1983 b, 260), die eine Reihe „Kriminologischer Forschungsberichte" herausbringt, und das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e . V . " in Hannover (Helmut Kury, Eva Zimmermann 1983), das seine praxisorientierte Forschung 1980 aufgenommen hat und das „Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung" herausgibt. Mehr behördeninterne Forschung betreibt die kriminalistisch-kriminologische Forschungsgruppe im Kriminalistischen Institut des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden (Kurt Schaefer, Wolfgang Bach, Heinz Büchler 1984). Auch das Bayerische Landeskriminalamt (München) und das Niedersächsische Justizministerium (Hannover) verfügen über Referatsgruppen, die sich mit kriminologischer Forschung befassen. Kriminologischer Eigenforschung im Strafvollzug widmet sich der Kriminologische Dienst, der durch das Strafvollzugsgesetz (1976) eingeführt und von den Landesjustizverwaltungen bisher sehr unterschiedlich aufgebaut worden ist (Gernot Steinhilper 1983). Allen Forschungseinrichtungen steht der Bibliotheksschwerpunkt Kriminologie an der Universität Tübingen zur Verfügung. Die größte deutschsprachige Bibliographie, die „Heidelberger Dokumentation der deutschsprachigen kriminologischen Literatur" wird vom Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg erarbeitet (Franz Terdenge 1979). Neben dem kriminologischen Referat des Bundesministeriums der Justiz (Bonn) soll die „Kriminologische Zentralstelle e. V . " in Wiesbaden die kriminologische Forschungstätigkeit in der Bundesrepublik koordinieren, fördern und leiten.

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Kriminologische Organisationen und Institute im deutschsprachigen Raum In der „Kriminalbiologischen Gesellschaft", die 1927 in Wien gegründet worden ist, schlössen sich die Kriminologen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammen. Diese Vereinigung, die sich seit 1969 „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie" (mit Sitz in Tübingen) nennt, führt in der Regel jedes zweite Jahr eine Arbeitstagung durch. Die Ergebnisse dieser Tagungen werden in der Schriftenreihe „Kriminologische Gegenwartsfragen" veröffentlicht. In den ersten Jahren ihres Bestehens standen „erb- und konstitutionsbiologische Konzeptionen" der Kriminalbiologie im Vordergrund der Diskussion; nach 1933 war die Gesellschaft beeinflußt von der „biologistischen Ideologie des Nationalsozialismus" {Heinz Leferenz 1978, 1). Mit Recht forderte Thomas Würtenberger (1968, 8) innerhalb der Gesellschaft eine stärkere Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie Nordamerikas, um den Bann einer „verhängnisvollen Isolierung seit 1933" zu brechen. Im wesentlichen blieb man allerdings bei einer täterorientierten psychopathologischen Betrachtungsweise. Nach der Meinung von Leferenz (1978, 2) erwies sich die Diskussion der nordamerikanischen kriminalsoziologischen Forschungsergebnisse als unfruchtbar, weil sie auf deutsche Verhältnisse angeblich nicht übertragbar seien (vgl. demgegenüber Hans Joachim Schneider 1972, 1973). Einer Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Kriminologie hat man sich „weitgehend enthalten" (so Leferenz 1978, 4). Wegen der einseitigen psychopathologischen Ausrichtung der „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie" gründete man im Jahre 1960 die „Deutsche Kriminologische Gesellschaft", die ihren Sitz jetzt in Bochum hat. Sie führt jährlich Arbeitstagungen durch und veröffentlicht die Referate in ihrer „Kriminologischen Schriftenreihe". Da auch sie nicht alle Kriminologen der Bundesrepublik in sich vereinigen konnte, sind derzeit Bestrebungen im Gange, beide deutschsprachige Gesellschaften in einer Vereinigung zusammenzuschließen, durch die sich alle deutschsprachigen Kriminologen repräsentiert fühlen können. Ende der sechziger Jahre bildete sich ein „Arbeitskreis Junger Kriminologen", der ein kritisches Selbstverständnis gegenüber der „alten, traditionellen" Kriminologie besitzt und der die Zeitschrift „Kriminologisches Journal" herausgibt. Die „Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V." (mit Sitz in München) befaßt sich schließlich auf Jugendgerichtstagen und auf regionalen Arbeits- und Studientagungen mit jugendkriminologischen Fragen. Die Kriminologie in der Deutschen Demokratischen Republik, die institutionell eng mit dem Strafrecht verbunden ist, vermochte sich bisher nicht angemessen zu entwickeln, da sie stark durch die kommunistische Ideologie eingeengt wird (vgl. John Lekschas, Harri Harrland, Richard Hartmann, Günter Lehmann 1983; Lehmann 1983). Die Rechtspsychologie der D D R , die viele kriminologische Probleme behandelt, hat sich demgegenüber erfreulich im Sinne eines sozialpsychologischen Ansatzes entfaltet, der sich an der sozialen Lerntheorie

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orientiert (Harry Dettenborn, Hans-H. Fröhlich, Hans Szewczyk 1984; Szewczyk 1981a) und auch viktimologische Fragestellungen erforscht (Szewczyk, HeideUlrike Jähnig 1986). Am Aufbau der deutschsprachigen Kriminologie haben das 1912 in Graz eröffnete und das 1923 in Wien errichtete kriminologische Institut, die beide traditionell die Kriminalistik mit pflegten, maßgeblichen Anteil gehabt (Leon Radzinowicz 1961, 19—38). Die österreichische Kriminologie der Gegenwart, die hauptsächlich an den juristischen Fakultäten der Universitäten gepflegt wird, hat ihre ehemals führende Position in der Welt nicht mehr zu bewahren vermocht. Das im Jahre 1972 gegründete Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriminalsoziologie, das mit dem Justizministerium in Wien in enger Verbindung steht, versucht, den Rückstand aufzuholen und wieder Weltniveau zu erringen (Jänos Feheväry 1983). Es gibt seit 1974 eine „Kriminalsoziologische Bibliografie" heraus, in der auch Aufsätze veröffentlicht werden. Da Delinquenz und Kriminalität in der Schweiz keine dringenden gesellschaftlichen Probleme sind, hat man die kriminologische Forschung und Lehre dort weniger stark gefördert. Immerhin ist seit 1974 — auf die Initiative des Züricher Psychologen Walter T. Haesler — eine „Arbeitsgruppe für Kriminologie" tätig, die Kolloquien veranstaltet und ihre Referate in einer Schriftenreihe veröffentlicht. Darüber hinaus bringt sie die Zeitschrift „Kriminologisches Bulletin" heraus. Im Jahre 1983 ist als Stiftung das „Schweizerische Institut für Kriminologie und Strafvollzugskunde" gegründet worden (Martin Killias 1983).

Internationale Organisationen und Institute Durch Empfehlungen, Resolutionen, Deklarationen, Konventionen und die Aufstellung von Mindestgrundsätzen versuchen die Vereinten Nationen, so etwas wie eine Weltkriminalpolitik zu entwickeln (Gerhard O. W. Mueller 1976, 1983). Das wichtigste Gremium ist hierfür ein Expertenkomitee, das 27 Mitglieder umfaßt, sich seit 1972 zweimal im Jahr trifft und das dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen berichtet. Die Hauptabteilung „Verbrechensverhütung und Kriminaljustiz" des Generalsekretariats der Vereinten Nationen, die seit 1951 arbeitet und seit 1982 ihren Sitz in Wien hat, stellt Erhebungen über Umfang, Formen und Entwicklung der Kriminalität in der Welt an, gibt ein Mitteilungsblatt (Newsletter) und eine Zeitschrift („International Review of Criminal Policy") heraus, bereitet Arbeitspapiere vor und organisiert Weltkongresse, die alle fünf Jahre stattfinden (Minoru Shikita 1985). Der erste Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung des Rechtsbrechers wurde 1955 in Genf, ihr 7. Kongreß 1985 in Mailand abgehalten (United Nations 1985b). Zu diesen Kongressen entsendet jeder Mitgliedsstaat eine offizielle Delegation kriminologischer Experten. Die Hauptabteilung greift zur Vorbereitung ihrer Dokumente auf kriminologische Gutachter zurück; sie hat über die Welt ein Netz nationaler Korrespondenten gespannt, die sie über

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neue kriminologisch bedeutsame Entwicklungen informieren. Den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen steht ein überregionaler Berater (Pedro David 1985) zur Verfügung. Das zentrale kriminologische Forschungsinstitut der Vereinten Nationen (UNSDRI), das 1968 gegründet worden ist, hat seinen Sitz in Rom (Ugo Leone 1985). Es führt praxisorientierte kriminologische Forschung durch und gibt das Weltverzeichnis kriminologischer Institute heraus ( UNSDRI 1982). Die Vereinten Nationen besitzen darüber hinaus regionale kriminologische Institute für Asien und den Fernen Osten (UNAFEI) in Fuchu bei Tokio (seit 1962), für Mittel- und Südamerika (ILANUD) in San José, Costa Rica (seit 1972) und für Ost- und Westeuropa (HEUNI) in Helsinki (seit 1982). Das Institut in Helsinki, das Kriminologen aus West- und Osteuropa zusammenführen soll, ist den Vereinten Nationen allerdings lediglich angegliedert. Diese drei kriminologischen Regionalinstitute haben folgende Aufgaben: Sie führen kriminologische Konferenzen und Fortbildungskurse für Strafrechtspraktiker durch. Sie unterhalten eine kriminologische Bibliothek und ein Informationszentrum. Sie beraten die Regierungen ihrer Region in kriminologischen Fragen. Im Jahre 1958 wurde das „Europäische Komitee für Verbrechensprobleme" (ECCP), ein Ausschuß kriminologischer Experten, beim Europarat in Straßburg ins Leben gerufen (Council of Europe 1977). In ihm ist jeder der 21 Mitgliedsstaaten des Europarates durch einen kriminologischen Sachverständigen vertreten. Seit 1963 wird er von einem kriminologischen Wissenschaftsrat unterstützt, der aus sieben Mitgliedern besteht. Das „Europäische Komitee für Verbrechensprobleme" arbeitet Konventionen oder kriminalpolitische Empfehlungen für den Ministerrat aus. Es setzt Expertenkommissionen von 6 bis 8 Mitgliedern zur Beratung kriminologischer Spezialprobleme und Arbeitsgruppen von drei bis vier Mitgliedern zur Sammlung kriminologischer Daten ein. Es veranlaßt Bestandsaufnahmen und führt Seminare für Spezialisten durch. Es läßt durch einzelne Experten Gutachten erstellen, vergibt kriminologische Stipendien und veröffentlicht seit 1966 Informationen über laufende kriminologische Forschungsprojekte. Die „Konferenzen der Direktoren kriminologischer Forschungsinstitute" sind von 1963 bis 1972 jährlich veranstaltet worden. Sie werden seit 1973 im Wechsel mit Kolloquien jedes 2. Jahr abgehalten. Die Konferenzen haben die Ziele, kriminologische Forschungsprojekte zu Spezialfragen anzuregen, sich einen Uberblick über den gegenwärtigen Stand der kriminologischen Forschungen zu verschaffen, Vorschläge für weitere Forschungen zu unterbreiten und die Mitgliedsstaaten des Europarats in ihrer Kriminalpolitik zu beraten. Die Kolloquien sollen es ermöglichen, methodologische Fragen kriminologischer Forschung im engeren Kreise zu diskutieren. Die Ergebnisse der Konferenzen und Kolloquien werden in englischer und französischer Sprache in einer Schriftenreihe („Collected Studies in Criminological Research") veröffentlicht. Seit 1972 veranstaltet der Europarat Konferenzen der Leiter europäischer Strafvollzugsverwaltungen. Er gibt ein Strafvollzugsbulletin heraus („Prison Information Bulletin").

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Eine verhältnismäßig enge internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen V e r b r e c h e n s b e k ä m p f u n g kam bereits im 19. J a h r h u n d e r t zustande. Internationale kriminalanthropologische Kongresse w u r d e n abgehalten, die allerdings zunächst noch nicht von einer internationalen kriminologischen Organisation getragen w u r d e n . Eine „Internationale Kriminalistische Vereinigung" (IKV) bildete sich erst 1888 unter der Leitung von Franz von Liszt (Deutschland), Adolphe Prins (Belgien) und G. A. van Hamel (Holland). Diese Vereinigung, die über zahlreiche Landesgruppen in E u r o p a und N o r d a m e r i k a verfügte, f ü h r t e vor dem 1. Weltkrieg zwölf internationale Kongresse durch. Sie gab „Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung" heraus. D e r erste Weltkrieg (1914—1918) unterbrach die internationale kriminologische Zusammenarbeit. Im Jahre 1934 gründete der italienische klinische Kriminologe Benigno di Tullio die „Internationale Gesellschaft f ü r Kriminologie", die 1938 in Rom ihren ersten internationalen K o n g r e ß (Tullio 1980) veranstaltete. D e r zweite Weltkrieg (1939—1945) machte erneut die internationale Kooperation zunichte. Die „Internationale Gesellschaft f ü r Kriminologie", die in Paris ihren Sitz hat und eine Mitgliederzeitschrift (Annales Internationales de Criminologie) herausgibt, konnte ihren 2. internationalen K o n g r e ß erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs im Jahre 1950 in Paris abhalten. Sie veranstaltet seitdem alle fünf Jahre einen internationalen kriminologischen K o n g r e ß und seit 1952 jährlich internationale kriminologische Kurse (Jean Pinatel 1983). Im Jahre 1969 errichtete die „Internationale Gesellschaft f ü r Kriminologie" in Montreal in Z u s a m m e n a r beit mit der dortigen französischsprachigen Universität ein „Internationales Z e n trum f ü r Vergleichende Kriminologie", in dem derzeit zwanzig kriminologische Forscher im interdisziplinären T e a m arbeiten und das seine Aufmerksamkeit insbesondere auf die E r f o r s c h u n g der Delinquenz und Kriminalität der Entwicklungsländer richtet (Denis Szabo 1981). Ein „Internationales Z e n t r u m f ü r klinische Kriminologie" ist im J a h r e 1975 in G e n u a in Zusammenarbeit der „Internationalen Gesellschaft f ü r Kriminologie" mit der dortigen Universität entstanden. Z w a r bemüht sich die „Internationale Gesellschaft f ü r Kriminologie" um einen Ausgleich zwischen klinisch und sozialwissenschaftlich ausgerichteter Kriminologie. Auch tut sie ihr Bestes, um die Kriminologen der sozialistischen und der kapitalistischen Länder z u s a m m e n z u f ü h r e n . In ihrer Mitgliedschaft und w ä h rend ihrer Kongresse sind aber die französischsprachigen Kriminologen überrepräsentiert. Die Belange des Verbrechensopfers kommen ferner in den Diskussionen dieser internationalen Gesellschaft zu kurz. Schließlich fühlen sich die jungen, kritischen, radikalen Kriminologen durch sie nicht ausreichend repräsentiert. Deshalb hat sich im Jahre 1973 eine „Europäische G r u p p e z u m Studium der Sozialabweichung und der Sozialkontrolle" gebildet, die in westeuropäischen Ländern jährlich T r e f f e n veranstaltet, zu denen junge, kitische, radikale Kriminologen eingeladen werden. In einer Reihe von Zeitschriften wird diese Richtung der Kriminologie vertreten: C o n t e m p o r a r y Crises (international), Crime and Social Justice (USA), Déviance et Société (Frankreich), La Questione

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Criminale (Italien) und Kriminologisches Journal (Bundesrepublik) (Robert Weiss 1983). Um die bisher völlig vernachlässigte Erforschung des Verbrechensopfers und eine Kriminalpolitik aus seiner Sicht voranzutreiben, wurde 1979 in Münster eine „Weltgesellschaft für Viktimologie" gegründet, die alle drei Jahre ein internationales Symposium (1982 in Tokio/Kyoto, 1985 in Zagreb) veranstaltet. Die Internationale Gesellschaft für Soziologie rief 1974 ein Forschungskomitee für die Soziologie der Devianz und der Sozialkontrolle ins Leben (Paul Friday 1983). Nach dem 2. Weltkrieg wurde 1947 — hauptsächlich auf italienische Initiative — die „Internationale Gesellschaft für Soziale Verteidigung" gegründet. Diese Bewegung, die in Mailand ein internationales Zentrum unterhält und die internationale Tagungen abhält, verfolgt vor allem kriminalpolitische Ziele. Sie will das System der Strafen durch ein System der bessernden und sichernden Maßnahmen ersetzen. Im Mittelpunkt ihres Programms stehen der Tätergedanke und das Prinzip der Individualisierung aller staatlichen Reaktionsmittel auf Kriminalität (Filippo Gramatica 1965; Marc Ancel 1970). Bei der 1923 in Wien gegründeten „Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission" handelt es sich um eine Vereinigung der Vertreter von Polizeibehörden, die von den Regierungen ihrer Länder in die Kommission entsandt werden. Diese Kommission arbeitete zunächst in Wien und später in Berlin bis 1945. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Bekämpfung des internationalen Verbrechertums. Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie 1946 in Brüssel neu gegründet. Im Zuge dieser Neuorganisation erhielt sie 1956 die offizielle Bezeichnung „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation". Ihr Generalsekretariat befindet sich in Saint-Cloud, Frankreich, und sie ist einem breiteren Publikum unter dem Namen „Interpol" bekannt. Ihre wesentlichen Aufgaben umfassen gegenwärtig die gegenseitige Unterstützung der Kriminalpolizeibehörden der Mitgliedsländer, insbesondere die internationale Fahndung und Festnahme von Verbrechern, und die Erarbeitung einer internationalen kriminalpolizeilichen Statistik. Die „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation" verfügt über ein eigenes Funknetz und gibt eine Zeitschrift, die „Revue Internationale de Police Criminelle", mit einer deutschen Ausgabe heraus. Ihr nationales Zentralbüro für die Bundesrepublik Deutschland ist das Bundeskriminalamt in Wiesbaden (Kurt Schaefer 1979).

Einige Beispiele k r i m i n o l o g i s c h e r O r g a n i s a t i o n e n , Institute u n d F a k u l t ä t e n des A u s l a n d e s Die Kriminologie in den Vereinigten Staaten ist traditionell mit der Soziologie verbunden; sie entfaltete sich hauptsächlich an den soziologischen Abteilungen der nordamerikanischen Universitäten. Freilich hatte auch die Sozialarbeit, die in Nordamerika eine Universitätsdisziplin ist, einen guten Anteil an der Entwicklung der Kriminologie. Da die Soziologie und die Sozialarbeit in den USA präg-

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matisch, auf ihre Anwendung hin organisiert sind und da die Kriminologie traditionell die Sozialkontrolle mitbehandelt, also ihre Aufmerksamkeit auch auf die Kriminaljustiz und den Strafvollzug richtet, spielt der Gegensatz zwischen klinischer, täterorientierter und sozialwissenschaftlicher, reaktionsorientierter Kriminologie innerhalb der liberalen Grundströmung der Kriminologie („Mainstream Criminology") keine wesentliche Rolle. Die Aufgabe der Kriminologie wird im Rahmen dieser Richtung mit dem Studium der Strafgesetze, der Verstöße gegen diese Gesetze und der Reaktionen auf diese Rechtsbrüche definiert (Robert F. Meier 1983, 272 m. w. N.). D e r Kriminologe versteht sich als „intellektuell geschulter Beobachter", der seine Gefühle über Kriminalität unter Kontrolle halten kann und der die Verbrechensverursachung auf Lernprozesse in sozialen Intimgruppen zurückführt (Meier 1983, 271). Die soziologischen und sozialpsychologischen Theorien zur Verbrechensentstehung werden vor allem unterstrichen: z. B. die Theorie der sozialen Desorganisation, die soziale Lerntheorie und die Kontrolltheorie, mit der man die Psychoanalyse sozialpsychologisch weiterentwickelt hat. Unter dem interaktionistischen Konzept der kriminellen Karriere versteht man nicht einfach die Täterentwicklung, sondern auch den Einfluß, den die Reaktionen, die man dem Täterverhalten entgegensetzt, auf den Rechtsbrecher haben. Das Studium der Strafgesetzgebung und -anwendung ist also notwendigerweise Bestandteil der Kriminologie. Marxistisch radikale, klassisch konservative und biosoziale Kriminologen, die sich mitunter von der Hauptrichtung der nordamerikanischen Kriminologie nicht angemessen gewürdigt fühlen, werden zwar wohlwollend geduldet, üben aber nur unbedeutende Einflüsse auf das kriminologische Denken aus. Kriminologische Forschung und Lehre werden heute in den Vereinigten Staaten vorwiegend an den sozialwissenschaftlichen Abteilungen der Universitäten vertreten. Sie werden durch das „Nationale Institut für Justiz" finanziell gefördert und koordiniert, das durch das umfassende Bundesgesetz über Kriminalitätskontrolle (Omnibus Crime Control Act) von 1968 geschaffen worden ist und das dem Bundesjustizministerium in Washington D . C . untersteht. Aufgrund dieses Gesetzes, das 1978 novelliert worden ist, wurden auch finanzielle Mittel bereitgestellt, mit denen man Lehr- und Forschungsprogramme der „Kriminaljustiz" entwickelte. Zwei dieser Programme sollen kurz als Beispiele vorgestellt werden: die kriminologische Fakultät der Staatsuniversität von Florida in Tallahassee (School of Criminology) und die Fakultät für Kriminaljustiz der Rutgers Universität, der Staatsuniversität von New Jersey in Newark (School o f Criminal Justice). Interdisziplinäre Teams von 15 bis 20 Soziologen, Psychologen, Juristen, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern bilden Praktiker der Strafrechtspflege und kriminologische Forscher aus. Die Verbindung von kriminologischer Forschung und Lehre ist sehr eng. Die Studierenden werden intensiv betreut. In dem Programm, das mit dem Magister in Kriminologie abschließt, sind etwa 75 Studierende eingeschrieben. Das Lehrund Forschungsprogramm, das den Erwerb des (kriminologischen) Doktors der Philosophie ( P h D . ) zum Ziele hat, wird von etwa 25 Kandidaten besucht.

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Es gibt in den U S A n u r wenig b e h ö r d e n i n t e r n e kriminologische Forschung. N u r die Bundes- und mitunter die Staatsverwaltungen f ü r Strafvollzug und f ü r J u g e n d e r z i e h u n g nennen kriminologische Forschungsabteilungen ihr eigen. Kriminalpolitisch orientiert sich die kriminologische F o r s c h u n g gegenwärtig weg vom individualistischen Behandlungsideal, vom s o g e n a n n t e n medizinischen M o dell. D a s rechtsstaatsorientierte Justiz- o d e r das gemeinschaftsorientierte soziale Wiedereingliederungsmodell (Lernen s o z i a l k o n f o r m e n V e r h a l t e n s in d e r Gesellschaft) w e r d e n verfolgt. P r a k t i k e r der Strafrechtspflege und Kriminologen haben sich in g r o ß e n V e r e i n i g u n g e n zusammengeschlossen, die jährlich Arbeitstag u n g e n abhalten, T a g u n g s b e r i c h t e und Zeitschriften herausgeben und mitunter auch I n f o r m a t i o n s - und F o r s c h u n g s z e n t r e n unterhalten. Im „ N a t i o n a l e n R a t f ü r V e r b r e c h e n s - und D e l i n q u e n z k o n t r o l l e " ( N C C D ) arbeiten B e w ä h r u n g s h e l f e r und andere S t r a f r e c h t s p r a k t i k e r mit Kriminologen z u s a m m e n . Die „Amerikanische Besserungsgesellschaft" (American Correctional Association) ist eine Vereinigung von P r a k t i k e r n des Strafvollzugs und von K r i m i n o l o g e n , die jährlich seit 1870 Arbeitstagungen veranstaltet. Die Strafvollzugspsychologen haben sich in der „American Association of C o r r e c t i o n a l Psychologists" eine O r g a n i s a t i o n geschaffen. Die g r o ß e n Gesellschaften der n o r d a m e r i k a n i s c h e n S o z i o l o g e n , die „American Sociological Association" (Zeitschrift: „American Sociological Review"), und der Sozialarbeiter, die „Society f o r the Study of Social P r o b l e m s " (Zeitschrift: „Social Problems"), haben ihre kriminologischen Sektionen. In der „Amerikanischen Gesellschaft f ü r Kriminologie" („American Society of Criminology"), einer interdisziplinären Gesellschaft, die von August Vollmer im J a h r e 1941 in Berkeley, Kalifornien, g e g r ü n d e t w o r d e n ist (Zeitschrift: „ C r i m i n o l o g y : an Interdisciplinary J o u r n a l " ) , sind vorwiegend akademisch ausgebildete Kriminologen d e r Vereinigten Staaten und K a n a d a s vereinigt (Albert Morris 1975). D a die Beeinträchtigung der n o r d a m e r i k a n i s c h e n kriminologischen F o r s c h u n g d u r c h die beiden Weltkriege ungleich geringer w a r als die kriegsbedingte Behind e r u n g der europäischen Kriminologie, hat die n o r d a m e r i k a n i s c h e Kriminologie — auch rein z a h l e n m ä ß i g — eine f ü h r e n d e Stellung e r w o r b e n . Die E n t w i c k l u n g ging insbesondere in den sechziger und siebziger J a h r e n außerordentlich stürmisch vor sich. W ä h r e n d die J a h r e s t a g u n g e n der „Amerikanischen Gesellschaft f ü r Kriminologie" noch Mitte der sechziger J a h r e von weniger als 100 Teilnehmern besucht w u r d e n , sind heute bei diesen J a h r e s t a g u n g e n m e h r als eintausend Kriminologen anwesend (zum Vergleich: T e i l n a h m e am K o n g r e ß d e r „Internationalen Gesellschaft f ü r K r i m i n o l o g i e " 1983 in W i e n : etwa 500 P e r s o n e n ) . Auf den J a h r e s t a g u n g e n der „Amerikanischen Gesellschaft f ü r Kriminologie" wird ein M e h r f a c h e s an R e f e r a t e n gehalten, was auf den K o n g r e s s e n d e r „Internationalen Gesellschaft f ü r Kriminologie" v o r g e t r a g e n wird. Die „Amerikanische G e sellschaft f ü r Kriminologie" besitzt eine internationale Abteilung. T r o t z der Fülle des Materials, das veröffentlicht wird — die kriminologische Literatur in den U S A steigt jährlich um 7 % , sie verdoppelt sich alle z e h n J a h r e —, übt n u r ein winziger Bruchteil an V e r ö f f e n t l i c h u n g e n wissenschaftliche W i r k u n g aus.

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V o n 3 6 9 0 Publikationen, die zwischen 1945 und 1972 erschienen sind, erhielten lediglich 2,2 % die Hälfte und 0,5 % ein Viertel der Zitate in der englischsprachigen kriminologischen Literatur (Marvin E. Wolfgang 1981a). Dieser U m stand legt die Vermutung nahe, daß ein g r o ß e r Teil der kriminologischen Literatur der U S A wissenschaftlich wertlos ist. Gleichwohl muß vor einer illusionären V e r k e n n u n g der nordamerikanischen Kriminologie gewarnt werden. D e r kleinere Teil der kriminologischen Produktion der U S A ist wissenschaftlich so bedeutsam, daß die Kriminologen der gesamten übrigen W e l t an ihm nicht einfach vorbeigehen können. Die Kriminologie der U S A beeinflußt nachhaltig die kriminologische Forschung und Lehre in K a n a d a , Australien, Neuseeland, Großbritannien, in Israel, in den Niederlanden, in den skandinavischen Ländern und teilweise auch in der Bundesrepublik. Obgleich sich die kanadischen Kriminologen in einer eigenen Gesellschaft („Canadian Criminal Justice Association") zusammengetan haben, die auch seit 1958 eine eigene Zeitschrift („Canadian J o u r n a l o f Criminology") in Englisch und Französisch herausgibt, arbeiten sie eng mit den Kriminologen der U S A in der „Amerikanischen Gesellschaft für Kriminologie" zusammen, die ihre Jahrestagungen auch in kanadischen Großstädten abhält. Im Gegensatz zur nordamerikanischen ist die australische Kriminologie organisatorisch fest mit den Rechtsfakultäten der Universitäten verbunden. Australien besitzt darüber hinaus ein kriminologisches Zentralinstitut in Canberra, dessen Aufgabe in der kriminologischen Forschung und Weiterbildung besteht ( W i l l i a m Clifford 1981; Duncan Chappell 1983). D i e Kriminologen Australiens und Neuseelands verfügen über eine eigene Organisation, die auch seit 1968 eine Zeitschrift („The Australian and N e w Zealand J o u r n a l o f Criminology") veröffentlicht. In G r o ß b r i tannien ist die Kriminologie hauptsächlich an den Universitäten Cambridge, O x ford und London vertreten. Eine Forschungsgruppe im englischen „ H o m e O f fice" (Innenministerium), die seit 1957 besteht, finanziert kriminologische U n tersuchungen und arbeitet selbst an eigenen kriminologischen Forschungen. Mit etwa fünfzig hauptamtlichen kriminologischen Forschern nimmt das interdisziplinäre T e a m des „ H o m e O f f i c e " eine zentrale Stellung in der kriminologischen Forschung Großbritanniens ein ( R i c h a r d F. Sparks 1983). D a s Institut für das Studium und die Behandlung der Delinquenz in London gibt seit 1950 eine kriminologische Zeitschrift („The British Journal o f Criminology") heraus. Die Kriminologie hat an den Universitäten der Niederlande eine große Tradition (Radzinowicz 1961, 9 9 — 1 0 9 ) . Dieses Land besitzt mit dem Forschungs- und Dokumentationszentrum seines Justizministeriums in D e n H a a g ein wirksames Instrument empirisch-kriminologischer Forschung. Seit 1958 gibt es in den Niederlanden eine kriminologische Zeitschrift („Nederlands Tijdschrift voor Criminologie"). D i e skandinavische Kriminologie verfügt an den Universitäten K o penhagen, Arhus ( D ä n e m a r k ) , O s l o und Stockholm über Universitätsinstitute und in Helsinki über ein Forschungsinstitut, das mit dem finnischen Justizministerium verbunden ist (Inkeri Anttila 1983b). Seit 1962 hat sie sich im „Skandi-

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navischen Forschungsrat für Kriminologie" organisatorisch ein Gremium geschaffen, das die kriminologische Forschung in den skandinavischen Ländern koordiniert (Knut Sveri 1970, 1981; Nils Christie 1971a). Die skandinavischen Kriminologen geben gemeinsam eine Zeitschrift („Nordisk Tidsskrift for Kriminalvidenskab") und eine Schriftenreihe in englischer Sprache („Scandinavian Studies in Criminology") heraus. In den osteuropäischen sozialistischen Ländern ist die Kriminologie in Polen (Brunon Holyst 1979a, 225 — 267), in der Sowjetunion (Vladimir K. Zvirbul 1983), in Ungarn (Katalin Gönczöl 1983) und in Jugoslawien (Katja Vodopivec 1981; Zvonimir Paul Separovic 1983) von herausragender Bedeutung. Sie ist empirisch (meist am Mehrfaktorenansatz) orientiert und organisatorisch an die Rechtswissenschaft gekoppelt. Sie bemüht sich um praxisnahe Forschung. Soweit die sozialistische Gesellschaft betroffen ist, mangelt es ihr an Sozialkritik. Sie ist vor allem täterorientiert und unterstreicht die Bedeutung der Täterpersönlichkeit für die Verbrechensentstehung. Dem Rechtsbrecher steht sie meist verständnislos und häufig auch feindlich und mit Verachtung gegenüber. Die täterorientierten empirischen Untersuchungen kommen zu nahezu denselben Ergebnissen wie die entsprechenden täterorientierten Forschungen in den kapitalistischen Ländern. In Polen wurde 1954 die Abteilung Kriminologie in der „Polnischen Akademie der Wissenschaften" eingerichtet. Seit 1964 veröffentlicht sie die Ergebnisse ihrer Forschungen in der Zeitschrift „Archiv für Kriminologie". Ein „Institut für Kriminalitätsprobleme" bei der polnischen Generalstaatsanwaltschaft widmet sich seit 1974 ebenfalls der kriminologischen Forschung. Es gibt eine Schriftenreihe „Kriminologische, kriminalistische und strafvollzugswissenschaftliche Studien" heraus. In der Sowjetunion wurde 1963 das „Allunionsinstitut zur Untersuchung der Ursachen und zur Ausarbeitung von Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Kriminalität" in Moskau gegründet. Es leitet und koordiniert die Forschungsarbeit von über 300 Forschungsstellen, die in der Sowjetunion auf dem Gebiet der Kriminologie arbeiten. Es hat fünfzehn Abteilungen mit über 300 Mitarbeitern. Es besitzt z. B. Abteilungen zur Erarbeitung der kriminologischen Methodologie, für die Erforschung der Jugenddelinquenz, des Vandalismus, der Wirtschaftskriminalität, f ü r Kriminalpsychologie und für Strafvollzug. In allen fünfzehn Sowjetrepubliken sind Zweigstellen des Instituts eingerichtet worden. In der Geschichte der Kriminologie hat Italien eine hervorragende Rolle gespielt (Radzinowicz 1961, 1 —18). Unter dem Einfluß des Faschismus, der keine Sozialkritik duldete, ist dort die ohnehin traditionell vorherrschende klinische, täterorientierte Richtung noch gestärkt worden; der kriminalsoziologische Ansatz wird von dem etablierten Machtsystem als bedrohlich empfunden (Franca Ferracuti, Gilda Scardaccione 1981). Die Kriminologie in Frankreich hat an ihre große kriminalsoziologische Tradition, deren sich die nordamerikanischen Kriminologen bemächtigt haben, nicht anzuknüpfen vermocht. Der einflußreiche Kriminologe Jean Pinatel (1963, 1977) hat erreicht, daß auch dort die klinische, täterorientierte Richtung überwiegt. Belgien besitzt ein „Zentrum zum Studium

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der Jugenddelinquenz" im Justzministerium in Brüssel. Es führt sowohl Fortbildungsveranstaltungen als auch empirische Forschungen auf dem Gebiet der Verursachung der Jugenddelinquenz und ihrer Kontrolle durch. Uber ein ähnliches Zentrum verfügt Frankreich in Vaucresson bei Paris seit 1951. Diese Einrichtung des französischen Justizministeriums hat eine Schulungs-, Forschungs-, Dokumentations- und Informationsaufgabe. Mit einem Mitarbeiterstab von etwa 100 Personen werden Jugendrichter und Erzieher delinquenter Jugendlicher fortgebildet. Vaucresson veranstaltet auch Kurse für ausländische Spezialisten. Die Forschungsgruppe setzt sich interdisziplinär aus etwa 20 Experten zusammen. Jugendkriminologische Forschungen, die nicht nur im nationalen Rahmen, sondern auch international unternommen worden sind, werden in einer Reihe von Monographien und in einer weiteren Reihe von Jahrbüchern (Annales de Vaucresson) veröffentlicht. Seit 1969 arbeitet im französischen Justizministerium eine weitere Forschungsgruppe für Strafvollzug und Kriminologie (Jacques Vérin 1981). Die Kriminologie in Südamerika hat sich völlig nach kontinentaleuropäischem Vorbild ausgerichtet. Sie wird in den Militärdiktaturen überhaupt nicht geduldet; in den anderen südamerikanischen Ländern ist sie an den juristischen und medizinischen Fakultäten der Universitäten mit Instituten vertreten und ganz überwiegend klinisch- und täterorientiert (Francisco Canestri 1980). Freilich ist in einem gut entwickelten Land wie Venezuela auch die sozialwissenschaftliche, reaktionsorientierte Kriminologie bekannt (Lola Aniyar de Castro 1976; Jorge Sosa Chacin 1978). In Japan mischen sich europäische und nordamerikanische Einflüsse, die eigenständig in dem Land verarbeitet werden, das kein schweres Delinquenz- und Kriminalitätsproblem hat. Im Lehr- und Forschungsinstitut des Justizministeriums in Tokio wird behördeninterne kriminologische Forschung betrieben. Die „Japanische Gesellschaft für Kriminologie" ist traditionell psychiatrisch beeinflußt; ihr mehrsprachiges Publikationsorgan ist die Zeitschrift „Acta Criminologiae et Medicinae Legalis Japonica".

D i e Kriminologie als autonome, interdisziplinäre, internationale, empirische und praxisnahe Wissenschaft Als Leon Radzinowicz, ehemaliger Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Cambridge/England, Ende der fünfziger Jahre eine kriminologische Informationsreise unternahm, stellte er in der Bundesrepublik ein geradezu erdrückendes Ubergewicht der Strafrechtsdogmatik fest (1961, 39—62). An diesem Zustand hat sich seitdem nichts geändert. Die Kriminologie ist in mannigfaltige Spannungsverhältnisse gestellt; sie bewegt sich zwischen Theorie und Empirie und zwischen Theorie und Praxis. Am schwerwiegendsten für die deutsche Kriminologie ist allerdings ihr Verhältnis zum Strafrecht. Die Strafrechtsdogmatiker machen geltend, die Kriminologie sei ideologieanfällig, die kriminologischen Richtungen seien hoffnungslos zerstritten und es gebe keinerlei gesichertes

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kriminologisches Wissen. Sie betrachten die Kriminologen als bloße Hilfswissenschaftler, die Daten sammeln. Sie beurteilen die empirischen M e t h o d e n der Kriminologie im Vergleich zu ihren eigenen normativen M e t h o d e n als geringwertig. Die Strafrechtspraktiker, insbesondere die Kriminalpolizisten, gehen darüber hinaus und vertreten die Meinung, es genüge f ü r eine wirksame Kriminalitätsbek ä m p f u n g die Verbrechensaufklärung und die U b e r f ü h r u n g des Rechtsbrechers; einer kriminologischen Forschung und Lehre bedürfe es überhaupt nicht. Sie meinen, so etwas wie ein M o n o p o l in der Kriminalitätskontrolle zu haben, und sind der Auffassung, die Kriminologie trage allein dazu bei, daß sie das Strafrecht „mit schlechtem Gewissen" anwendeten. Die Kriminologen wollen sich demgegenüber von der Strafrechtsdogmatik nicht vereinnahmen lassen. Sie wollen keine bloße „Zuliefereraufgabe" (Carola Schumann 1981) erfüllen, kein bloßes „Anhängsel" des Strafrechts (Heiner Christ 1980, 330) sein. Teilweise distanzieren sie sich von einer Mithilfe bei der Strafrechtsanwendung {Karl F. Schumann 1981). Jedenfalls wollen sie nicht nur praktisch verwertbare Handlungsanleitungen f ü r die strafrechtliche Fallentscheidung liefern. Sie wollen sich nicht ohne weiteres mit dem „positiven N o r m e n b e s t a n d der Gesellschaft" (Fritz Sack 1975, 350) identifizieren, sondern auch dem Strafrecht gegenüber eine kritische Einstellung einnehmen. Eine sozialkritische Kriminologie besitzt die Aufgabe, der Gesellschaft nicht nur die in der T ä t e r p e r s ö n lichkeit liegenden Ursachen, sondern auch die gesellschaftlichen Entstehungsgründe der Kriminalität bewußt zu machen. Sonst kann die Kriminalität nicht wirksam kontrolliert werden. Es ist durchaus verständlich, daß sich die Gesellschaft und ihre Repräsentanten im P r o z e ß der formellen Sozialkontrolle gegen diese Einsicht wehren. Zwischen Kriminologie und Strafrechtsdogmatik kann ein durchaus gegenseitig fruchtbares Spannungsverhältnis bestehen. Die wechselseitig vorgebrachten Einwände sind nicht so einfach von der H a n d zu weisen. Es ist richtig, wenn sich Strafrecht und Kriminologie — auf der Grundlage der Gleichberechtigung beider Wissenschaftsgebiete — gegenseitig kritisch befragen. Es ist falsch und dient nicht der Sozialkontrolle, wenn sie sich in Frage stellen und wenn sie sich gegenseitig ihre Existenzberechtigung absprechen. In Anbetracht der Tatsache, daß Cesare Beccaria (1764) als Begründer der Kriminologie angesehen wird, muß dem Strafrecht allein schon aus rechtsstaatlichen G r ü n den sein grundsätzlicher Bestand gesichert werden. Das bedeutet freilich keineswegs, daß die Reform des Strafrechts und seiner A n w e n d u n g als f o r t d a u e r n d e r P r o z e ß zu unterbleiben hat. Es ist vielmehr eine wesentliche Aufgabe der Kriminologen, an diesem P r o z e ß mitzuarbeiten, da sie die sozialen W a n d l u n g e n beobachten, die Strafrechtsreformen erforderlich machen. Kriminologische Forschung und Lehre werden von Vertretern verschiedener Wissenschaftsgebiete, von Gerichtsmedizinern, Psychiatern, Psychologen, Soziologen und Juristen, betrieben. Das ist gut und richtig. D e n n z u m Zwecke der Sozialkontrolle von Devianz, Delinquenz und Kriminalität kann auf die Mitarbeit keiner Disziplin verzichtet werden. D a indessen Zersplitterung droht, muß

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es so etwas wie einen Hauptfachkriminologen geben, der die Federführung hat und mit voller Kraft die Arbeit der beteiligten Wissenschaftszweige koordiniert. Es ist dabei gleichgültig, ob der Hauptfachkriminologe Jurist, Mediziner oder Sozialwissenschaftler ist. Es dürfen keine Ausschließlichkeitsansprüche erhoben werden, weder für die Soziologie (Fritz Sack 1978) noch für die Psychiatrie oder gar für eine ihrer Richtungen (Hans Göppinger 1 9 6 2 a , 1962b). Die Hauptfachkriminologen müssen allerdings in irgendeiner Fakultät „Heimatrecht" haben. Sie dürfen sich nicht zwischen alle Stühle setzen. Im europäischen System sind sie traditionell in den rechtswissenschaftlichen Fakultäten beheimatet. Diese R e gelung rechtfertigt sich aus dem Umstand, daß die Juristen in der Strafrechtspraxis alle kriminologisch bedeutsamen Entscheidungen zu fällen haben, wenn sie dabei auch von Sozialwissenschaftlern und Medizinern beratend unterstützt werden. Gegen diese Regelung spricht allerdings die Tatsache, daß den Juristen die sozialwissenschaftlichen Methoden der Kriminologie fremd sind. W e n n die juristischen Fakultäten traditionell die Betreuung der Kriminologie mit übernommen haben, müssen sie auch alles tun, diesen Wissenschaftszweig angemessen zu entwickeln. Sie dürfen nicht ständig versuchen, diesem „ungeliebten", weil für sie fremden Gebiet die Anerkennung zu verweigern. Die kriminologischen Gesellschaften müssen für Wissenschaftler aller Gebiete, die sich mit Kriminologie befassen, und aller kriminologischer Richtungen offenbleiben, die in der Kriminologie vertreten werden. Es ist nicht nur eine Unsitte, sondern es dient auch nicht der Entwicklung der Kriminologie, wenn ihre verschiedenen Richtungen voneinander keine Kenntnis nehmen. Man darf sich nicht immer im Schonraum gleichgesinnter Freunde aufhalten. Man muß sich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stellen, selbst wenn dies schwerfällt. Obgleich Kriminologie auch an anderen Fakultäten, an Fachhochschulen, in der Polizei- und Strafvollzugsausbildung gelehrt wird, spielt sie in der Juristenausbildung eine besondere Rolle. Denn die Erfahrung während der Zeit des N a tionalsozialismus hat gelehrt, daß Juristen lernen müssen, die Rechtsnormen gesellschaftskritisch anzuwenden. Sie müssen begreifen, daß sich Rechtsnormen im ständigen Wandel befinden. Sie dürfen nicht zu bloßen Rechtstechnikern erzogen werden, die lediglich gelernt haben, das geltende Recht auszulegen. Juristen müssen allgemein den Umgang mit Informationen aus den Sozial- und Erfahrungswissenschaften lernen. Denn es wird von ihnen erwartet, daß sie in der Rechtspraxis solche Informationen verstehen, kritisch würdigen und selbständig verarbeiten. Am Beispiel der Kriminologie kann also jeder Jurist die Fähigkeit zur eigenständigen Verarbeitung von Tatsacheninformationen erwerben ( H e i n z Schöch 1981, 56). Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, die Kriminologie zum juristischen Pflichtfach zu machen. Durch die kriminologische Ausbildung nimmt der junge Jurist nicht nur Kenntnisse auf. E r soll auch lernen, eine humane Grundhaltung gegenüber dem Rechtsbrecher und dem Verbrechensopfer einzunehmen. Ihm soll zum Bewußtsein kommen, daß man das Strafrecht auch affektiv-emotional anwenden kann. E r soll sich zu eigen machen, seine gefühls-

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II. K r i m i n o l o g i e als H u m a n - und Sozialwissenschaft

mäßigen Reaktionen gegenüber dem Rechtsbrecher und dem Verbrechensopfer unter Kontrolle zu bringen. Eine rationale Praktizierung des Strafrechts ist ein wesentliches Ziel kriminologischer Ausbildung an der Universität. Die Erfahrungen in den Vereinigten Staaten mit den interdisziplinären Lehr- und Forschungsprogrammen in „Kriminaljustiz" lehren, daß die Kriminologie durch solche Programme erheblich gefördert werden kann. Ein kriminologisches Graduiertenstudium ist in der Bundesrepublik erforderlich und muß auf- und ausgebaut werden. Denn speziell ausgebildete kriminologische Praktiker und Forscher werden benötigt. O h n e sie kann die Kriminologie in Zukunft nicht weiterentwickelt werden. Bei der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung der kriminologischen Lehre in der Juristenausbildung ist nicht gesichert, daß jeder Strafjurist auch ausreichend kriminologisch geschult ist. Denn eine sorgfältige kriminologische Ausbildung ist nur innerhalb der Wahlfachgruppe möglich. D a eine solche spezielle Befähigung aber in der Einstellungspraxis der Justizbehörden nicht immer angemessene Berücksichtigung findet, ist eine kriminologische Aus- und Fortbildung der Strafrechtspraktiker durch Ergänzungsstudien und Fortbildungstagungen erforderlich (Arthur Kreuzer 1979, 526). Entsprechende Bemühungen der Deutschen Richterakademie in T r i e r und des kriminologischen Kontaktstudiums an der Universität Hamburg sind hierfür erste Ansätze. Kriminologische Forschung ist als vorwiegend unabhängige Universitätsforschung oder als dominierend behördeneigene oder -nahe Forschung organisiert. Während die kriminologische Forschung in den Vereinigten Staaten hauptsächlich Aufgabe der Universitäten ist, führen in England, Japan, Finnland, der S o wjetunion oder Polen behördeninterne oder -nahe Forschungsinstitute diese Aufgabe überwiegend durch. D e r Universitätsforschung wirft man Praxisferne vor. D e r behördeneigenen Forschung legt man zur Last, sie sei nicht unabhängig und diene nur der Rechtfertigung ihrer Behörde. Bereits Hermann Mannheim (1974, 93) hat gegen das englische Modell Bedenken erhoben. D o r t wird der größte Teil der Forschung durch eine Abteilung des „ H o m e O f f i c e " finanziert und selbst ausgeführt. Mannheim befürchtete, daß eine zu große Macht in einer Dienststelle konzentriert ist und daß dadurch ein Risiko entsteht, daß schöpferische Kräfte behindert werden. Es geht hier nicht nur um die Frage der Unabhängigkeit der Forschung, sondern auch um die Probleme der Machtkonzentration und der Verbindung zwischen Forschung und Lehre. Verteilt man die finanziellen Mittel auf zu viele Institute, besteht die Gefahr der Zersplitterung der Forschung. Konzentriert man die Forschung auf ein Institut oder einige wenige Forschungsstellen, geht man das Risiko ein, daß alle übrigen Institute wissenschaftlich veröden. Die Bundesrepublik verfolgt ein gemischtes Modell: Es gibt sowohl Universitäts- wie behördeninterne Forschung. Gegen diese Art der Forschung ist der Vorwurf der polizeiabhängigen oder „Polizei"kriminologie (Manfred Brüsten 1980) erhoben worden. Man hat einen Gegensatz zwischen „Polizei"kriminologie und freier Hochschulforschung gesehen. Man hat geltend gemacht, die „Polizei"- oder „Staats"kriminologie unterwerfe sich der Praxis, sie verkürze der

O r g a n i s a t i o n und Institutionalisierung der K r i m i n o l o g i e

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Universitätsforschung die ohnehin spärlichen finanziellen Mittel und sie trage dazu bei, daß die Universitätsforscher keinen Zugang mehr zu den Kontrollinstitutionen, z. B. zu Polizei, Strafvollzug, erhielten (Brüsten 1980). Abgesehen davon, daß man keiner Behörde verbieten kann, eigene Forschung zu betreiben, ist der Gegensatz zwischen „Polizei"kriminologie und freier Hochschulforschung im Stile einer Schwarz-Weiß-Malerei konstruiert. Es ist zu begrüßen, daß Polizei und Strafvollzug eigene kriminologische Forschung betreiben. S o lange sich die behördeneigene Forschung durch Publikation ihrer Untersuchungen der Kritik stellt und solange der Universitätsforschung annähernd dieselben Möglichkeiten eingeräumt werden, wie sie die behördeneigene Forschung zugebilligt bekommt, sind die Besorgnisse übertrieben, die gegen die behördeneigene Forschung ins Feld geführt werden (Friedbelm Berckhauer 1985; Hans Udo Störzer 1983). Die Kriminologen haben ein unsicheres Selbstverständnis, weil ihr Gegenstand gefühlsbelastet ist und weil sie die Gesellschaft kritisieren müssen, deren Teil sie selbst sind. Das Interesse der Öffentlichkeit an Devianz, Delinquenz und Kriminalität ist außerordentlich groß. Die Massenmedien sprechen immer wieder die Faszination und die Rätselhaftigkeit des Verbrechensphänomens an. Zahlreiche Studierende kommen in die kriminologischen Lehrveranstaltungen, weil sie sich Sensationen erhoffen. Einige Kriminologen erschweren den wissenschaftlichen Fortschritt, weil sie die kriminologische Diskussion emotionalisieren. Sie reißen Sätze, die ihre Kollegen geschrieben haben, aus dem Zusammenhang und entrüsten sich über Einzelaussagen. Sie machen ihren Kollegen zum Vorwurf, sie seien opfer- oder gesellschaftsfeindlich eingestellt. Kriminologen müssen sich mit empfindlichen, sensiblen Fragen auseinandersetzen. Die Gesellschaft sollte ihnen und sie sollten sich selbst größtmögliche Liberalität einräumen. V o n einer Emotionalisierung ihrer Diskussion sollten Kriminologen — wenn möglich — völlig absehen. Sie sollten vor allem rational argumentieren und sich gegenseitig zugestehen, ungewöhnliche Gedanken äußern zu dürfen. T r o t z ihrer berechtigten Suche nach einem angemessenen Selbstverständnis sollten Kriminologen sich nicht zu wichtig nehmen und sich nicht zu viel mit sich selbst beschäftigen. Mitunter hat man den Eindruck, daß mehr über die Kriminologie geschrieben wird als zur Kriminologie und ihren Forschungsgegenständen. Es wird dem zu große Bedeutung beigemessen, was einzelne Kriminologen geschrieben haben („Zitatenschlachten"). Marvin E. Wolfgang (1981a) hat empirisch herausgefunden, daß fast die Hälfte der theoretischen Arbeit der Kriminologen in unfruchtbarer Polemik besteht, aus der keinerlei Hypothesen für empirische Untersuchungen abgeleitet werden können. Polemik soll theoretische Begründungen oder empirische Forschungsergebnisse ersetzen. Das Selbstverständnis der Kriminologen ist ungewiß, weil sie ihren Forschungsgegenstand und ihr -ziel verfehlen, wenn sie sich auf eine Seite, entweder auf die Seite des Täters oder die des Opfers oder die der Gesellschaft, stellen. Totalitäre Regime dulden überhaupt keine Kriminologie oder eine lediglich

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II. Kriminologie als H u m a n - und Sozialwissenschaft

täterorientierte, klinische. Das hat die E r f a h r u n g w ä h r e n d der Zeit des N a t i o nalsozialismus gelehrt, in der gerade sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologen Deutschland verlassen mußten (z. B. Gustav Aschaffenburg, Max Grünhut, Hans von Hentig und Hermann Mannheim), die dann in der Emigration wesentlich zum Aufbau der angloamerikanischen Kriminologie beigetragen haben. Die sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie ist eine demokratische Wissenschaft. Es ist ein wesentliches Kriterium des totalitären Staates, daß er es nicht duldet, „zum Studienobjekt empirisch-kritischer Analyse gemacht" zu werden {Günther Kaiser 1980a, 82). W e n n der demokratische Rechtsstaat Kritik erträgt, so sollten wir Kriminologen — trotz oder wegen aller Sozialkritik — uns unsere natürliche Sympathie f ü r unseren Staat, unsere Gesellschaft und ihre Kontrollinstitutionen, unsere Polizei, unsere Gerichte und unseren Strafvollzug gleichwohl bewahren. Eindrucksvoll hat Heiner Christ (1980, 336/7) darauf hingewiesen, daß unser unsicheres Selbstverständnis auch auf unsere „Selbsterkenntnisschwäche" z u r ü c k g e f ü h r t werden muß. D e r Kriminologe muß lernen, sich selbst zu verstehen und seine eigenen kriminellen Neigungen selbst zu verarbeiten. Unsere Berufsrolle dürfen wir nicht als Selbsthilfeaufgabe mißverstehen. Schließlich ist die Position des Kriminologen so schwierig, weil er ausländische Forschungsergebnisse berücksichtigen muß und weil er nicht genau weiß, in welchem U m f a n g und in welcher Form er dies tun darf (vgl. hierzu die Kontroverse zwischen Günther Kaiser und Hartmut Schellhoss 1966 einerseits und Hans Joachim Schneider 1966, 1969 andererseits). In der Kriminologie hat die vergleichende M e t h o d e eine zentrale Bedeutung (Hermann Mannheim 1965, 1974; Sheldon Glueck 1964). Gerade um die sozialen Ursachen der Massenkriminalität zu erschließen, ist ein zeitlicher (historischer) und ein räumlicher (geographischer) Vergleich der Kriminalität in verschiedenen Sozialsystemen erforderlich. Die deutsche Kriminologie hat in der Vergangenheit eine große Anziehungskraft im Ausland gehabt. D e r Nationalsozialismus und seine Verbrechen haben dazu geführt, daß die deutsche Kriminologie im Ausland einen Verlust an Glaubwürdigkeit erlitten hat (Knut Sveri 1981, 1034). Ansehen und V e r t r a u e n sind nur in kleinen, mühsamen Schritten wieder zurückzugewinnen. D e m Urteil eines österreichischen Kollegen vermag ich zwar nicht zuzustimmen. Es hat mich aber doch nachdenklich gemacht. Osterreichische Kriminologen und Strafrechtspraktiker — so schreibt er — „glauben, daß die Deutschen dazu neigen, extreme Positionen in wissenschaftlichen Diskussionen zu vertreten, sich in theoretische Abstraktionen zu verlieren, die sich von den Realitäten der Praxis völlig entfernen, und ihren Lehrmeinungen einen nur schlecht verhüllten nationalistischen und chauvinistischen Anstrich zu geben" (Jdnos Feherväry 1983, 45/6).

III. Kriminalität, ihre Messung, ihr Umfang, ihre Struktur, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre räumliche Verteilung 1. Probleme und Aufgaben der Kriminalitätsmessung Es gibt viele Verhaltensweisen, die unangenehm, unpassend und unerwünscht sind. Sozialabweichung entsteht erst, wenn Verhaltensnormen, wenn informelle Verhaltenserwartungen verletzt werden. Mit der strafgesetzlichen Definition, mit der formellen Strafandrohung gegenüber einem Verhalten, wird aus Sozialabweichung Kriminalität im weiteren Sinne. Ist auf solches Verhalten, das strafgesetzlich umschrieben worden ist, mindestens informell, aber freilich auch erfolgreich formell reagiert worden, so ist Kriminalität im engeren Sinne entstanden. Sie bestimmt sich also durch einen sozialen und einen individuellen Kriminalisierungsprozeß, den man wiederum in einen Verursachungs- und einen Benennungsprozeß teilen kann. Kriminalität wird dadurch gemessen, daß man alle individuellen Kriminalisierungsprozesse, die innerhalb eines bestimmten Gebietes und innerhalb einer bestimmten Zeit ablaufen, in Abschnitte teilt, bei deren Durchlaufen man den Fall oder die Person des Tatverdächtigen zählt (offizielle Kriminalstatistiken). Freilich kann man Kriminalität auch schon zu berechnen versuchen, ehe noch auf sie formell (durch ein Strafverfahren) reagiert worden ist. Es bedarf lediglich einer strafgesetzlichen Definition, einer Tatbegehung, einer Wahrnehmung dieser Tatbegehung und eventuell einer informellen Reaktion (Dunkelfeldforschung). Kriminalität besteht demnach nicht in statischen, isolierbaren Ereignissen, sondern sie existiert nur in Verläufen, die man wahrnehmen und auf die man reagieren muß. Sie ist ein Konstrukt, eine gedankliche Hilfskonstruktion, weil kriminelles Verhalten bewertet werden muß, weil es mannigfaltige Formen besitzt und weil es nur als dynamisches Geschehen erkennbar wird. Alltagswissen über Kriminalität und Kriminelle Es besteht aus einem Gemisch von Vorurteilen, Informationen und kollektiven Mythen. Der Mensch konstruiert seine Realität. Er wählt Informationen aus und interpretiert sie. Die Medien vermitteln ein Kriminalitätsbild, nach dem sich die Einstellung der Öffentlichkeit und die Kriminaljustiz weitgehend richten. Phantasie wird zur Wirklichkeit, weil man ihr glaubt und weil man sie zur Grundlage eigener Reaktionen macht (Richard Quinney 1970, 277—302). Öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung (Medienberichterstattung) über Kriminalität entsprechen sich in starkem Maße. Beide stimmen aber überhaupt nicht mit der „kriminellen Wirklichkeit" überein, wie sie sich in offiziellen Kriminalstatistiken und in kriminologischen Forschungen ausdrückt. In empirischen Untersuchun-

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III. Kriminalität

gen hat man die Wirkung einer vermehrten Kriminalberichterstattung in den Medien auf die öffentliche Meinung über Kriminalität zu erforschen versucht (M. K. Wisehart 1922; F. James Davis 1952; E. Terrence Jones 1976; Drew Humpbries 1981): Mit der Zunahme von Nachrichten über Straftaten wuchs auch das Gefühl des Bedrohtseins durch Kriminalität in der Öffentlichkeit. Da die Medien aber ihrer Kriminalberichterstattung keine Kriminalstatistiken zugrunde legen, löste sich das Bedrohtheitsgefühl der Öffentlichkeit von der objektiven Sicherheitslage. Das Phantasieren über Kapitalverbrechen ist ein überall verbreitetes, allgegenwärtiges Phänomen: in Kriminalfernsehspielen, in der Gerichtsberichterstattung, in Kriminalromanen, in Kriminalitätsnachrichten. Kriminalität wird zu Unterhaltungszwecken benutzt. Durch solche phantasievollen Kriminalitätsdarstellungen werden gleichwohl Einstellungen hervorgerufen, die gefühls-, erkenntnis- und willensmäßige Bestandteile besitzen. Ob es sich um Opfer oder Nichtopfer, um Straftäter oder Nichtstraftäter, um Richter oder die Bevölkerung, um Jugendliche, Heranwachsende oder Erwachsene, um Angehörige der Unter-, Mittel- oder Oberschicht handelt, Gewalt- und Sexualdelikte werden als schwer und bedrohlich eingestuft (Andrea Abele 1983 a; Bernhard Villmow 1977). Die Wahrscheinlichkeit, jemals Opfer eines solchen Verbrechens zu werden, ist indessen äußerst gering. Die Einstellung der Öffentlichkeit beeinflußt freilich die Resozialisierungschancen der entlassenen Strafgefangenen. N u r wenige wollen noch etwas mit einem ehemaligen Bekannten zu tun haben, der einen Strafanstaltsaufenthalt wegen eines Sexualdelikts verbüßt hat, selbst wenn diese Straftat leicht gewesen sein sollte. Einem Kriminellen werden negative Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben (Andrea Abele 1983 b). Er ist aggressiv, unkontrolliert, emotional gestört, unreif und unberechenbar. Je weiter die Kriminalität aus dem überschaubaren Lebensbereich der Menschen wegrückt, als um so umfangreicher, schwerer und bedrohlicher wird sie empfunden (Egon Stephan 1976, 127, 147, 340). In den Industriegesellschaften ist das Täter- und das Opferwerden allgemein verbreitet (ubiquitär): Fast jeder männliche Jugendliche begeht einmal einen kleinen Diebstahl (Ladendiebstahl) oder eine Sachbeschädigung (vandalistische Handlung). Fast jeder Mensch wird O p f e r einer Straftat. Er wird z. B. in einem Geschäft oder von einem Handwerksbetrieb übervorteilt. Er wird von einem T a xifahrer geprellt, oder man beschädigt sein Auto (Abknicken der Autoantennen, Abmontieren von Radzierkappen). Bei allen diesen Delikten handelt es sich indessen um leichtere Straftaten. Viele schwere Rechtsbrüche (Wirtschafts- und Umweltkriminalität) werden wegen der großen Zahl ihrer Opfer nicht als „Kriminalität" wahrgenommen. Jeder einzelne erleidet nur einen kleinen Schaden über eine längere Zeit hinweg. Außerdem entspricht diese Kriminalität nicht dem Stereotyp, dem Bild vom Verbrechen und vom Verbrecher, das man — aufgrund der Mediendarstellung — vom Straftäter in der öffentlichen Meinung besitzt. Kapitalverbrechen (meist Gewalt- und Sexualdelikte), die in den Massenmedien hauptsächlich dargestellt werden und nach denen sich das Bild bestimmt, das

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man in der Öffentlichkeit vom Verbrechen hat, ereignen sich demgegenüber recht selten. Fast niemand hat unmittelbare Erfahrung mit ihnen. Aus Mangel an Eigenerfahrung richtet man sich nach den Massenmedien, die über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung auf Strafgesetzgebung und -anwendung einwirken. Kriminalitätsangst entsteht, die in allgemeine Lebensängste eingebettet ist und die sich gegen die falschen Delikte richtet. Denn Opfer einer Gewaltoder Sexualstraftat wird man nur selten. Demgegenüber ist das Opferwerden durch Vermögens-, Wirtschafts-, Umwelt- und Straßenverkehrskriminalität schon viel weiter verbreitet. Kriminalstatistiken könnten das Bild korrigieren, das die Öffentlichkeit vom Verbrechen hat, wenn sie allgemeinverständlich an- und ausgelegt würden, wenn sie Informationen über Wirtschaftskriminalität mitenthielten und wenn sie nicht im Interessenwiderstreit stünden. In den offiziellen Kriminalstatistiken (in der Polizeilichen Kriminalstatistik oder in den Rechtspflegestatistiken) wird die Kriminalität hervorgehoben, die die Polizei und die Kriminaljustiz für bedeutsam halten. Sie beurteilen im Reaktionsprozeß Verhalten als kriminell oder nichtkriminell. Deshalb sind auch offizielle Kriminalstatistiken Konstrukte, gedankliche Hilfskonstruktionen. Sie dienen den Instanzen der formellen Sozialkontrolle gleichzeitig als Rechtfertigungs- und Beeinflussungsinstrumente für die Öffentlichkeit. Einerseits will die Polizei z. B. darlegen, wie gute Arbeit sie geleistet hat (Arbeitsnachweis). Das ist ihr gutes Recht. Andererseits muß sie der Öffentlichkeit die Botschaft vermitteln, daß das Kriminalitätsproblem keineswegs kleiner geworden ist, daß es vielmehr weiter besteht und die Gesellschaft bedroht. Denn sonst werden Abstriche an ihren Personal- und Sachmitteln vorgenommen. Durch Registrierung der Verbrechen und durch Veröffentlichung von Kriminalstatistiken wird Kriminalität zwar auch sozial sichtbar gemacht. Kriminalstatistiken vermögen aber gleichwohl das Bild nicht zu berichtigen, das die Öffentlichkeit aufgrund der Mediendarstellung von der Kriminalität und den Kriminellen besitzt. Denn aufgrund mannigfaltiger Druckphänomene von innen und außen haben die Polizei, die Kriminaljustiz und der Strafvollzug ein Interesse daran, die Öffentlichkeit „maßvoll zu alarmieren", damit sie die personelle und sachliche Ausstattung bekommen, die sie auch in Z u k u n f t f ü r die Erfüllung ihrer Kriminalitätskontrollaufgaben benötigen. Freilich gibt es auch Länder (z. B. die Sowjetunion), zu deren Selbstverständnis es gehört, überhaupt keine Kriminalstatistiken zu veröffentlichen. Sie betrachten solche Statistiken als „Berufsgeheimnis" der Instanzen formeller Sozialkontrolle, der Polizei, der Gerichte und des Strafvollzugs, die der Öffentlichkeit gegenüber keinen Arbeitsnachweis zu erbringen brauchen. Datenerhebung Das Zählen von Menschen ist schon schwierig genug. Das zeigen die Hindernisse, die sich Volkszählungen in westlichen Demokratien entgegenstellen. Um

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so problematischer ist die Ermittlung dessen, was Menschen sind und was sie tun. D a s gilt in besonderem Maße für gefühlsmäßig besetzte Gegenstände wie Verbrechen und Verbrecher. Daten über Kriminalität können nicht nur so einfach gesammelt und beschrieben werden. Mit ihrer Sammlung ist eine problematische Auswahl verbunden. Handlungen müssen bewertet werden. Nicht alle möglichen Fakten können zusammengetragen werden. Sonst entstehen „Friedh ö f e " von Daten, die niemand wissen will und deren Erhebung und Speicherung beträchtliche Kosten verursacht. Außerdem können Daten mißbraucht werden. Das trifft in besonderem Maße für alle Informationen über Umstände zu, die mit einem Verbrechen verbunden sind. Die gesammelten Daten müssen schließlich aufbereitet, analysiert und interpretiert werden.

Aufgaben der Kriminalstatistik Sie sind mannigfaltig. Vier Schwerpunkte können unterschieden werden: — Die offizielle Kriminalstatistik ist ein Tätigkeitsbericht der Instanzen der formellen Sozialkontrolle, der Polizei, der Gerichte, der Bewährungshilfe und des Strafvollzugs, zum Zwecke ihrer Selbstdarstellung. Sie gibt Auskunft über die Arbeitsbelastung der Strafverfolgungsorgane. Sie ist ein offizieller Beleg über deren Ermittlungs- und Strafverfolgungstätigkeit. Sie dient als Entscheidungsgrundlage zur Verteilung staatlicher Personal- und Sachmittel. Sie ist ein Rechtfertigungs- und Beeinflussungsinstrument der Öffentlichkeit durch die Strafrechtspflege. — Die Kriminalstatistik ist ein Forschungsinstrument. Sie gibt z. B. an, in welchem U m f a n g die Bevölkerung an der Kriminalität beteiligt ist. Sie liefert die Datengrundlage für die Entwicklung von Hypothesen und Theorien der Kriminalitätsentstehung. Aus ihr können die Einflüsse wirtschaftlicher und sozialer Faktoren, z. B. der Industrialisierung, der Motorisierung, der Verstädterung, der Inflation und der Arbeitslosigkeit, auf die Kriminalitätsentwicklung entnommen werden, wenn man ihre Zahlen mit den allgemeinen demographischen Daten vergleicht. Man kann aus ihr folgern, welche Bevölkerungsgruppen (z. B. Ausländer) und welche Gebiete eines Staates überdurchschnittlich mit Kriminalität belastet sind. Die Kriminalstatistik ermöglicht geschichtliche und geographische Vergleiche. Sie versetzt uns in die Lage, die zukünftige Entwicklung der Kriminalität in einem bestimmten Gebiet vorhersagen zu können. — Mit der Kriminalstatistik verfolgt man den Zweck, die Bevölkerung über H ö h e , Art, Entwicklung und Verteilung der Kriminalität zu informieren, um sie auf die Gefahren und Wahrscheinlichkeiten des Opferwerdens hinzuweisen und ihr die Angst vor dem Verbrechen zu nehmen ( G ü n t h e r Kaiser 1980 a, 211). Die Kriminalität vermindert die Lebensqualität und verursacht Kosten. Wie hoch solche Kosten sind und wie sie sich verteilen, kann man aus der Kriminalstatistik schließen. Hierbei unterscheidet man zwischen unmittelbaren und mittelbaren

Probleme und Aufgaben der Kriminalitätsmessung

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Kosten. D e m O p f e r und der Gesellschaft entstehen zunächst direkte Schäden. D u r c h Ladendiebstahl, Erpressungen von Geschäftsinhabern seitens des organisierten Verbrechens, durch illegale Preisabsprachen und Marktaufteilungen unter großen U n t e r n e h m e n wird eine Inflation der Preise f ü r Konsumgüter verursacht. Steuerflucht und Steuerhinterziehung machen Steuererhöhungen notwendig. Nächtliche Raubüberfälle in einer Großstadt schädigen den Verletzten körperlich, finanziell und psychisch. Sie rufen allgemeine Verbrechensangst in der Bevölkerung hervor, die sich nachts nicht mehr auf die Straße wagt (Einschränkung ihres Lebensstils). Indirekte Kosten werden ferner durch private und staatliche Reaktionen auf Kriminalität hervorgerufen. Z u m Schutz gegen W o h nungseinbrüche werden Alarmanlagen installiert. Man beauftragt eine W a c h und Schließgesellschaft oder versichert sich gegen Verbrechen. Die staatlichen Ausgaben f ü r Polizei, Gerichte und Strafvollzug belasten den Staatshaushalt. Über die Kosten der Kriminalität kann die Kriminalstatistik A u s k u n f t geben. A u f g r u n d ihrer Zahlen kann die Gesellschaft entscheiden, welches Verbrechensrisiko sie eingehen und z u r B e k ä m p f u n g welcher Kriminalität sie welche Personal- und Sachmittel einsetzen will (Philip J. Cook 1983). D a jeder Gesellschaft nur in begrenztem Maße finanzielle und personelle Mittel zur B e k ä m p f u n g des Verbrechens zur V e r f ü g u n g stehen und da die Sozialkontrolle manchmal belastender ist als die Kriminalität, ist eine solche Entscheidung über Ausmaß und Art der Kriminalitätsvorbeugung und - b e k ä m p f u n g erforderlich. — Die Kriminalstatistik hat schließlich eine Kontroll-, eine Lenkungs- und Planungsaufgabe. Mit ihr stellt man die Wirksamkeit von Strafgesetzen fest. Sie gibt A u s k u n f t über die Durchsetzbarkeit von Abschreckungs-, Vorbeugungs- und Behandlungsmaßnahmen. Sie dient der R e f o r m des Kriminaljustizsystems und der Vorbereitung neuer Strafgesetze. Sie ermöglicht die Feststellung des z u k ü n f tigen Personal- und Sachmittelbedarfs der Strafrechtspflege und ihren gezielten örtlichen und zeitlichen Einsatz (Marvin E. Wolfgang 1971).

Wechselwirkung zwischen Kriminalitätsbegehung und Sozialkontrolle Es gibt keine „kriminelle Wirklichkeit" losgelöst und unabhängig von der sozialen Reaktion auf Verbrechen. Kriminalität ist ein Element in einem sozialen System; sie kann nur in Beziehung zu diesem System, zur Gesellschaft und ihrem Kontrollsystem, verstanden werden ( N i l s Christie 1970). Kriminalstatistiken richten sich nach der jeweiligen Legalordnung. W a n d l u n g e n in der Strafgesetzgebung und - a n w e n d u n g wirken sich deshalb auf sie aus. Die Kriminalstatistik ist kein Meßinstrument der „wirklichen Kriminalität", sondern ein Zahlenwerk aufgrund des jeweiligen Standes des Zuordnungsprozesses. D e n n Kriminalität ist kein isolierbares, statisches, ohne Sozialkontrolle bestehendes P h ä n o m e n . Sie ist eine dem Verhalten z u g e o r d n e t e Bewertung. Sie entsteht in sozialen und individuellen Kriminalisierungsprozessen. A u f g r u n d der formellen S c h a f f u n g von Strafrechtsnormen, a u f g r u n d ihrer V e r a n k e r u n g im Rechtsbewußtsein der Be-

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völkerung (ihrer Sensibilisierung f ü r Kriminalität, Anregung zur Bildung von Gegenkräften) und a u f g r u n d der D u r c h s e t z u n g der Strafrechtsnormen durch die Instanzen formeller Sozialkontrolle (z. B. Polizei, Gerichte, Strafvollzug) wird kriminelles Verhalten von nichtkriminellem Verhalten formell abgegrenzt. N a c h der strafgesetzlichen Definition kann man bereits Straftaten zählen, nachdem sie vom T ä t e r und vom O p f e r als N o r m v e r s t ö ß e erkannt w o r d e n sind (Dunkelfelduntersuchungen). Z u r A u f n a h m e in die offiziellen Kriminalstatistiken wird Kriminalität in individuellen Kriminalisierungsprozessen (Definitionsund Zuordnungsprozessen) beurteilt und berechnet. Das Konstrukt „Kriminalität" baut hierbei auf der Interaktion zwischen T ä t e r und O p f e r , die im Rechtsbruch endet, und auf der informellen Reaktion auf diesen Rechtsbruch auf. Die informelle Reaktion kann z u r Strafanzeige und damit zur Auslösung der formellen Kontrolle führen. Zu den individuellen Kriminalisierungsprozessen gehört die formelle Reaktion durch Polizisten, Staatsanwälte, Sachverständige, Strafrichter und Strafvollzugsbeamte. Uberspitzt formuliert kann man diesen Kriminalisierungsprozeß als „Kriminalitätsproduktionsprozeß" bezeichnen, an dem T ä t e r , O p f e r und Kontrollinstanzen teilnehmen: D e r T ä t e r verübt eine H a n d lung, die durch eine Strafrechtsnorm als „kriminell" definiert w o r d e n ist. Bürger, die entweder O p f e r dieser Straftat oder T a t z e u g e n sind, treten als Anzeigeerstatter auf. Sie bringen den offiziellen Zuschreibungsprozeß in Gang. O r g a n e der Strafrechtspflege, die die Gesellschaft dazu verpflichtet hat, auf kriminelles Verhalten zu reagieren, versuchen, dem Menschen, der sich — nach ihrer Ansicht — kriminell verhalten hat, das Etikett „kriminell" a n z u h e f t e n . Diese Bewertung, gegen die sich derjenige in der Regel wehrt, der als „kriminell" definiert werden soll, ist stets problematisch. D e n n es k o m m t f ü r die Entscheidung nicht nur auf die näheren T a t u m s t ä n d e an, sondern auch auf das Verhalten des Täters und des Opfers nach der T a t b e g e h u n g und auf die Einstellung der Gesellschaft und ihrer Kontrollorgane zur verübten Kriminalität. Etwas verkürzt ausgedrückt ist der „Kriminalitätsproduktionsprozeß" deshalb ein Interaktionsprozeß zwischen T ä t e r , O p f e r und Kontrollorganen (Stanton Wheeler 1967). Die offizielle Kriminalstatistik ist eine Konstruktion auf realer Grundlage. D e n n sie beruht auf einer Mischung von Kriminalitätsereignissen und den A n w e n d u n g e n des Strafrechts auf diese Ereignisse (Richard Quinney 1975, 21). Je mehr sich im Strafverfahren die A n w e n d u n g des Strafrechts von der Straftat selbst entfernt, desto mehr sinkt der W e r t der Z ä h l u n g dieser A n w e n d u n g f ü r die Kriminalstatistik (Thorsten Sellin 1951). Die Z ä h l u n g durch die Polizei ist deshalb wertvoller f ü r die Kriminalstatistik als die Registrierung durch das Gericht, und diese ist wiederum vorteilhafter als die Zählung durch den Strafvollzug. D e r größte Einschnitt liegt indessen zwischen dem kriminellen Ereignis selbst und seiner Anzeige bei der Polizei. O p f e r und T a t z e u g e n sind die wirklichen „ T o r h ü t e r " zum Kriminaljustizsystem. Sie bestimmen weitgehend, wer und was als kriminell definiert wird und w e r und was nicht. Die offizielle Kriminalstatistik, die durch P o lizei, Gerichte, Strafvollzug a u f g e n o m m e n wird, ist deshalb nicht repräsentativ

P r o b l e m e und Aufgaben der Kriminalitätsmessung

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für Umfang, Struktur, Entwicklung und Verteilung der „wirklichen Kriminalität". Die Annahme ihrer Repräsentativität (Arnold Wadler 1908; Georg von Mayr 1911/1912; Kurt Meyer 1941), die lange Zeit Geltung beanspruchte, hat sich als Irrtum erwiesen (Thorsten Sellin 1951; Leonard D. Savitz 1978). Die offizielle Kriminalstatistik besitzt lediglich Indikatorfunktion; sie ist — bis zum Beweis des Gegenteils — ein Symptom, ein beweiskräftiges Anzeichen für die „wirkliche Kriminalität". Da sich die Reaktion auf Kriminalität, ihre Bewertung von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit, von Polizeiorganisation zu Polizeiorganisation, von Kriminaljustizsystem zu Kriminaljustizsystem ändern kann, ist es für die kriminologische Beurteilung der H ö h e , der Art, der Entwicklung und der Verteilung der Kriminalität bedeutsam, etwas über das Anzeigeverhalten der Bevölkerung, über die Gemeinschaft, in der das kriminelle Verhalten angezeigt wird, und etwas über die Organisation, die Motivation und die Wirksamkeit der Polizei zu erfahren, die die Anzeige aufnimmt. Denn hohe Kriminalitätsbelastung eines Gebietes kann auch bedeuten, daß seine Bevölkerung sehr anzeigefreudig ist und daß seine Polizei äußerst wirksam arbeitet. Die Anzeigefreudigkeit der Bevölkerung und die Effektivität der Polizei sind indessen gerade Anzeichen f ü r eine gute Sozialkontrolle und f ü r ein Mehr an Sicherheit, nicht hingegen für ein Weniger, wie aus der hohen zahlenmäßigen Kriminalitätsbelastung allein geschlossen werden könnte. Der „Kriminalitätsproduktionsprozeß" ist zwar ein Prozeß, in dem Kriminalität „hervorgebracht", sozial sichtbar gemacht, in dem aber auch Kriminalität aussortiert, „ausgefiltert" (Hans-Jürgen Kerner 1973 a, 1981a, 1985) wird. V o r dem Einsetzen des amtlichen Reaktionsprozesses scheiden zunächst einmal bereits die Handlungen aus der (fiktiven) Gesamtmenge der Kriminalität aus, die von Täter, Opfer oder Dritten nicht wahrgenommen oder fälschlicherweise nicht als Straftat beurteilt werden. Dem Eigentümer einer gestohlenen Sache fällt z. B. nicht auf, daß ihm der Gegenstand fehlt. Er meint vielleicht auch, er habe die Sache lediglich verlegt. Entdeckt das Opfer oder ein Dritter die Straftat, so bleiben auf dieser Vorstufe amtlicher Reaktion die Delikte unberücksichtigt, die das Opfer auf sich beruhen läßt oder bei denen es sich mit dem Täter über eine Wiedergutmachung einigt. Wird auf das Delikt im Wege der Privatjustiz (z. B. in Industriebetrieben oder Kaufhäusern) durch eine private Sanktion reagiert, so gelangt es in der Regel auch nicht zur Kenntnis der Strafverfolgungsorgane. Alle diese Straftaten sind (mit Ausnahme der weder vom Täter noch vom Opfer noch von einem Dritten wahrgenommenen oder von ihnen falsch beurteilten Delikte) mit Hilfe von Dunkelfeldforschungen erfragbar. Man muß sich allerdings klarmachen, daß ein großer Teil der Kriminalität bereits informell „erledigt" wird, bevor ein Strafverfolgungsorgan von ihr etwas erfahren hat. Nach diesen beiden Vorstufen der nichtentdeckten oder privat erledigten Kriminalität setzt nun mit der Anzeige oder der amtlichen Beobachtung der eigentliche offizielle Benennungs- und Zuschreibungsprozeß ein, in dem man folgende Schritte machen kann:

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III. Kriminalität

— Auf der ersten amtlichen Stufe nimmt die Polizei von dem Delikt Kenntnis. Sie registriert die ihr angezeigte oder von ihr selbst beobachtete Straftat nicht nur; vielmehr handelt es sich bei dem Anzeigevorgang um ein komplexes soziales Geschehen, bei dem an der Grenze amtlicher Stellungnahme viele Faktoren für die Entscheidung Berücksichtigung finden, ob die Strafanzeige aufgenommen und das Strafverfahren in Gang gesetzt werden soll oder nicht. Die der Polizei bekanntgewordenen und von ihr registrierten Verbrechen und Vergehen werden in der „Polizeilichen Kriminalstatistik" gesammelt und wiedergegeben, die für die Bundesrepublik Deutschland vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden und für die Länder der Bundesrepublik von den Landeskriminalämtern geführt wird. Zahlreiche Großstädte (z. B. München) geben Jahresberichte ihrer Polizeipräsidenten heraus, in denen man über die polizeiliche Verbrechensbekämpfung berichtet. Einige Landeskriminalämter (z. B. das LKA Baden-Württemberg) veröffentlichen in Jahresberichten Zahlen über spezielle Kriminalitätsprobleme wie Jugend- oder Rauschgiftdelinquenz. Erhebungseinheiten der „Polizeilichen Kriminalstatistik" sind Fälle und ermittelte Täter, die unter Beachtung der Unschuldvermutung korrekt als „Tatverdächtige" bezeichnet werden. Mit Hilfe der kriminalistischen Strategien und Taktiken müssen die bekanntgewordenen Taten von der Kriminalpolizei aufgeklärt werden, was ihr in nur rund 45 von 100 Fällen gelingt. Die Spannbreite der Aufklärungsquoten reicht allerdings von 5 % bei manchen Diebstahlsformen (z. B. Fahrraddiebstahl) bis zu nahezu 100 % bei vorsätzlichen Tötungen. Die Polizei zählt alle Verbrechen und Vergehen gegen Bundesgesetze ohne Straßenverkehrsdelikte und alle Tatverdächtigen im Zeitpunkt der Abgabe der Ermittlungsvorgänge an die Staatsanwaltschaft (Ausgangsstatistik). Die „Polizeiliche Kriminalstatistik" ist bislang die Statistik, die für die kriminologische Forschung am wichtigsten ist. — Auf der zweiten Stufe des offiziellen Zuschreibungs- und Ausleseprozesses hat die Staatsanwaltschaft zu entscheiden, was mit den ihr gemeldeten Tatverdächtigen zu geschehen hat. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung in der Öffentlichkeit stellt sie einen sehr großen Teil der Verfahren ein und leistet damit einen beträchtlichen Sanktionsverzicht. Läßt das Gericht die Anklage der Staatsanwaltschaft zu und eröffnet es das Hauptverfahren, so müssen auf der gerichtlichen Ebene die Freisprüche (meist infolge Mangels an Beweisen) und die gerichtlichen Einstellungen berücksichtigt werden, die allerdings nicht zahlreich sind. Dies geschieht im Rahmen der Trennung der Abgeurteilten von den Verurteilten. Die Abgeurteilten- und Verurteiltenstatistik führen das Statistische Bundesamt in Wiesbaden und die statistischen Landesämter für ihre Bereiche. — Auf der letzten Stufe des offiziellen Ausleseprozesses geht es um die Art der Sanktion. Die nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten erhalten zumeist Geldstrafe, die nach Jugendstrafrecht Verurteilten überwiegend Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel. Dem verbleibenden Rest der zu Freiheitsstrafe Verurteilten wird meist Strafaussetzung zur Bewährung zugebilligt. Begehen diese Perso-

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Probleme und Aufgaben der Kriminalitätsmessung

nen in ihrer Bewährungszeit keine Straftaten und kommen sie ihren Bewährungsauflagen nach, brauchen sie die Freiheitsstrafe nicht zu verbüßen, die gegen sie verhängt worden ist. Nur ein relativ kleiner Teil der Personen, die zu Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt worden ist, muß die Strafe in Justizvollzugsanstalten absitzen. Die Bewährungshilfe- und die Strafvollzugsstatistik werden gleichfalls vom Statistischen Bundesamt und den statistischen Landesämtern geführt.

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Vom Opfer

/ o d e r einem D r i t t e n entdeckte Straftaten jgglp^Der g ä r

Polizei

bekanntgewordene

Straftoten

Tatverdächtige

Abbildung 1: Trichtereffekt des Ausleseprozesses von den begangenen, entdeckten Straftaten bis zum Vollzug der Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten Quelle: President's Commission. Task Force Report: Science and Technology. Washington D.C. 1967, 61.

Den Trichtereffekt fortschreitender Aussortierung von Kriminalität (Abbildung 1) durch die Instanzen formeller Sozialkontrolle kann man sich anhand folgender Kriminalitätszahlen für die Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1982 vergegenwärtigen: Rund 4,3 Millionen Straftaten (ohne Verkehrs- und Staatsschutzdelikte) wurden der Polizei bekannt. Davon wurden etwa zwei Millionen aufgeklärt. Rund 1,6 Millionen Tatverdächtige wurden festgestellt. Von den 981 083 Abgeurteilten (einschließlich der Straßenverkehrsvergehen) wurden 772 194 verurteilt. 459 689 wurden wegen sogenannter klassischer oder traditioneller Kriminalität (also nicht wegen Straftaten im Straßenverkehr) bestraft. Von den nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (einschließlich der Straßenverkehrsvergehen) erhielten allein 505 194 Geldstrafe. 106 126 wurden der Bewährungsaufsicht unterstellt, und 45 394 waren am 31. März 1982 Strafgefangene.

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III. Kriminalität

Zwischen der Ausgangszahl von 4,3 Millionen Straftaten und der Endzahl der 45 394 Strafgefangenen liegt eine große Spannbreite, die das Ausmaß des vollständigen oder des teilweisen Sanktionsverzichts deutlich macht. Dabei muß freilich berücksichtigt werden, daß die Ausgangszahl die zwar begangenen und wahrgenommenen, aber der Polizei verborgen gebliebenen Delikte nicht einmal enthält.

2. Kriminalstatistiken Begriff und Geschichte Durch die Statistik werden Massenerscheinungen zahlenmäßig erfaßt. Die Primärstatistik erhebt unmittelbar Daten f ü r statistische Zwecke. Zu ihr gehört die Dunkelfeldforschung. Die Sekundärstatistik benutzt indirekt Angaben, die f ü r nichtstatistische, z. B. f ü r Zwecke der offiziellen Kriminalitätskontrolle, ermittelt worden sind, nachträglich für statistische Ziele. Sie bearbeitet das erhobene Zahlenmaterial im nachhinein, soweit es sich für statistische Zwecke eignet. Zur Sekundärstatistik gehören z. B. die Polizeiliche Kriminalstatistik, die gerichtliche Aburteilungs- und Verurteilungs-, die Bewährungshilfe- und die Strafvollzugsstatistik. Unter Kriminalstatistik versteht man die regelmäßige und systematische Sammlung, Vergleichung, Zusammenstellung und mehr oder weniger öffentliche Verbreitung eines Zahlenwerks, in dem für einen bestimmten Zeitraum und ein bestimmtes Gebiet Angaben über Straftaten, Straftäter, Verbrechensopfer und die Reaktionen des Kriminal]ustizsystems enthalten sind. Offizielle Kriminalstatistiken werden auf den verschiedenen Verwaltungsebenen (auf kommunaler, Länder- oder Bundesebene), durch die verschiedenen Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Polizei, Gerichte, Bewährungshilfe, Strafvollzug) und in den verschiedenen Stationen des Kriminaljustizprozesses (Strafanzeige, gerichtliche Aburteilung und Verurteilung, Unterstellung unter die Aufsicht der Bewährungshilfe, Strafanstaltsaufenthalt) erstellt. Sie gründen sich auf die Ermittlungen und Aufzeichnungen (Akten) der Instanzen der formellen Sozialkontrolle, die von der Gesellschaft mit der Reaktion auf Kriminalität und Kriminelle beauftragt worden sind. Inoffizielle Kriminalstatistiken werden unabhängig von den Ermittlungen der Instanzen formeller Sozialkontrolle (unabhängig von Polizei, Gerichten, Bewährungshilfe und Strafvollzug) aufgenommen. Sie stützen sich für gewöhnlich auf die Akten privater Sicherheits- oder Nachforschungsstellen, auf Beobachtungen oder Experimente von Sozialwissenschaftlern oder auf Selbstberichtuntersuchungen oder Befragungen der Bevölkerung zum O p ferwerden (Dunkelfeldforschung). Solche Befragungen können z. B. auch von offiziellen Stellen (staatlichen statistischen Amtern) vorgenommen werden. Der Unterschied zwischen offizieller und inoffizieller Krimininalstatistik besteht le-

Kriminalstatistiken

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diglich darin, daß die Daten der offiziellen Kriminalstatistik im Kriminaljustizprozeß von den Instanzen der formellen Sozialkontrolle aufgenommen werden, die auch mit der offiziellen Reaktion auf Kriminalität und Kriminelle beauftragt worden sind, während die Datensammlung der inoffiziellen Kriminalstatistik nicht auf den Ermittlungen solcher offizieller Kontrollinstanzen beruht (Joseph G. Weis 1983, 378). Die erste systematische gerichtliche Kriminalstatistik wurde im Jahre 1827 (auf kriminalstatistische Daten des Jahres 1825 bezogen) in Frankreich von Jacques Guerry de Champneuf (1788—1852) veröffentlicht, der Staatssekretär im französischen Ministerium der Justiz war. Andere Länder folgten dem französischen Beispiel: z. B. Schweden, das 1832 den ersten kriminalstatistischen Jahresbericht herausbrachte, der über das Jahr 1830 berichtete (Thorsten Sellin, Marvin E. Wolfgang 1964, 9). Der Sinn dieser frühen Sammlung kriminalstatistischer Daten bestand darin, den „moralischen Zustand" der Bevölkerung zu ermitteln (Moralstatistik). Aufgrund der deutschen Rechtszersplitterung (Kleinstaaterei) erschien eine einheitliche deutsche Kriminalstatistik erst sehr spät ab 1882. Deutsche Einzelstaaten gaben aber bereits früh so etwas wie Kriminalstatistiken heraus. So stellte Bayern im Jahre 1803 ein Verzeichnis der Kriminalprozesse auf, die vor seinen Gerichtshöfen geführt worden waren. In Baden wurden erstmals im Jahre 1809 „Kriminaltabellen" erstellt, die Zahl und Art der Verbrechen und das Verhältnis der Freisprüche zu den Verurteilungen enthielten. Dieses Land veröffentlichte 1830 eine „Ubersicht der Strafrechtspflege im Großherzogtum Baden", die sich auf das Jahr 1829 bezog und die auch Angaben über Alter und Geschlecht der Rechtsbrecher umfaßte (Helmut Graff 1975). In den USA gab der Staat N e w York als erster im Jahre 1829 eine Rechtspflegestatistik heraus (Louis Newton Robinson 1911). Die ersten bedeutenden analytischen Beiträge zur Kriminalstatistik leisteten der Franzose André-Michel Guerry (1802 — 1866) und der Belgier Adolphe Jacques Quetelet (1796—1874). Als „Geburtsjahr der wissenschaftlichen Kriminalstatistik" gibt Ernst Roesner (1936, 28) das Jahr 1835 an, in dem Quetelet sein grundlegendes Werk zur Statistik herausbrachte. Die Deutschen Alexander von (Dettingen (1827—1905) und Georg von Mayr ( 1841 — 1925) entwickelten die kriminalstatistische Forschung weiter. Strafvollzugsstatistische Angaben wurden in einigen Ländern bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt. In den USA erschien die erste Strafvollzugsstatistik im Jahre 1834 im Staat Massachusetts. Die Dunkelfeldproblematik, die Frage der nichtangezeigten, verborgen gebliebenen, nichtregistrierten Kriminalität, war den Vätern der Kriminalstatistik stets bewußt. Es war ihnen schon immer klar, daß ein Teil der begangenen Kriminalität der Polizei nicht bekannt wurde, daß nur ein Teil der Verbrechen, von denen die Polizei Kenntnis erhielt, aufgeklärt wurde, daß nicht alle ermittelten Täter von der Staatsanwaltschaft angeklagt und vom Gericht verurteilt wurden und daß nur ein Teil der verurteilten Täter in die Strafanstalt kam. Die Kriminalstatistik, die einheitlich für das „Deutsche Reich" ab 1882 erstellt wurde, war

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III. Kriminalität

eine gerichtliche Rechtspflegestatistik, in der die T ä t e r nach dem J a h r ihrer rechtskräftigen Verurteilung erfaßt wurden. Man hielt diese „Strafverfolgungsstatistik" für besonders zuverlässig, da sie nur die tatsächlich und endgültig gerichtlich festgestellte Kriminalität enthielt. Den Gesichtspunkten, daß sich diese Statistik stark von der Kriminalitätsbegehung zeitlich entfernte und daß sie diese Kriminalitätsbegehung durch die Reaktionen der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts nur verzerrt wiedergeben konnte, maß man untergeordnete Bedeutung bei. Polizeiliche Kriminalstatistiken wurden zuerst ab 1857 in G r o ß britannien veröffentlicht. Als erster stützte Georg von Mayr (1867) seine Studie über Kriminalität in Bayern auf Zahlenangaben über Delikte, die der Polizei bekanntgeworden waren. Sowohl von Mayr (1917) als auch von Oeningen (1881) setzten sich für eine Polizeiliche Kriminalstatistik als Grundlage für die kriminologische Forschung ein. Polizeistatistisches Material wurde vor dem ersten Weltkrieg für einzelne deutsche Großstädte (zuerst für Berlin 1895) gesammelt. In den U S A wurden die „Uniform Crime Reports" (die Einheitlichen Kriminalitätsberichte) ab 1929 vom „Federal Bureau of Investigation" (Bundeskriminalamt) in Washington D . C . veröffentlicht (Louis N. Robinson 1933). Sie stellen eine für die U S A einheitliche „Polizeiliche Kriminalstatistik" dar. Das Bundeskriminalamt in Washington D . C . zählt allerdings nur acht „Indexdelikte": Mord, V e r g e waltigung, Raub, schwere Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl, Autodiebstahl und Brandstiftung. Im „Deutschen Reich" begann man 1936 mit der Sammlung und Veröffentlichung einer reichseinheitlichen „Polizeilichen Kriminalstatistik". Ihr Erscheinen wurde allerdings mit Ausbruch des 2. Weltkriegs bereits wieder eingestellt. Seit 1953 gibt das Bundeskriminalamt in Wiesbaden eine „Polizeiliche Kriminalstatistik" für die Bundesrepublik Deutschland heraus. Das „Statistische Bundesamt" in Wiesbaden führt die Abgeurteilten- und Verurteiltenstatistik (Strafverfolgungsstatistik) seit 1950, die Strafvollzugsstatistik seit 1961 und die Bewährungshilfestatistik seit 1963 für das gesamte Bundesgebiet.

Formen Die offizielle Kriminalstatistik ist an der Legalordnung orientiert. Es werden stets bestimmte Delikte gezählt, und die T ä t e r werden in Deliktsgruppen eingeordnet. Die Kriminalstatistik bietet kein getreues Spiegelbild der Kriminalität, sondern eine mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität. Folgende Arten offizieller Kriminalstatistik sind kriminologisch besonders bedeutsam: — In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden die Straftaten einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche registriert, die von der Polizei bearbeitet worden sind. Das Zahlenmaterial wird dem Bundeskriminalamt von den elf Landeskriminalämtern übermittelt, die allerdings auch eigene Polizeiliche Kriminalstatistiken für ihre Bereiche veröffentlichen. Man findet in der Polizeilichen Kriminalstatistik einen Gesamtüberblick über die bekanntgewordenen Fälle. Die Häufigkeits-

Kriminalstatistiken

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zahl f ü r das Berichtsjahr wird angegeben. U n t e r Häufigkeitszahl versteht man die Zahl der bekanntgewordenen Fälle insgesamt oder innerhalb einzelner D e liktsarten, die auf 100 000 Einwohner errechnet w o r d e n ist. Sie drückt die durch die Kriminalität verursachte G e f ä h r d u n g aus. Für die Kriminologie wichtig ist ferner die Kriminalitätsstruktur, die A u s k u n f t darüber gibt, in welcher Weise sich die einzelnen Delikte, z. B. Diebstahl, Betrug, anteilsmäßig auf die Gesamtkriminalität verteilen. Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt sich weiterhin die zeitliche Entwicklung und die räumliche Verteilung des Verbrechens. Die Kriminalitätsdichtezahl ist die Zahl der bekanntgewordenen Fälle insgesamt oder innerhalb einzelner Deliktsarten, die auf einen Q u a d r a t k i l o m e t e r ausgerechnet w o r d e n ist. Die A u f k l ä r u n g s q u o t e n sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik ebenfalls verzeichnet. U n t e r A u f k l ä r u n g s q u o t e versteht man das p r o z e n tuale Verhältnis der aufgeklärten zu den bekanntgewordenen Fällen im Berichtszeitraum. Schließlich enthält die Polizeiliche Kriminalstatistik die ermittelten T ä t e r , die Tatverdächtigen nach Lebensalter und Geschlecht. U n t e r einer oder einem Tatverdächtigen versteht man eine Person, die a u f g r u n d des polizeilichen Ermittlungsergebnisses hinreichend verdächtig ist, eine rechtswidrige T a t begangen zu haben. Kriminalitätsbelastungszahl ist die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen, die auf 100 000 Einwohner des entsprechenden Bevölkerungsanteils errechnet w o r d e n ist. Einzelne Landeskriminalämter legen in ihren Polizeilichen Kriminalstatistiken besonderen W e r t auf einzelne Kriminalitätsprobleme. So veröffentlicht das Landeskriminalamt N o r d r h e i n - W e s t f a l e n eine Sonderauswertung über Stand und Entwicklung der Jugenddelinquenz. Das Bayerische Landeskriminalamt hat einen Bericht über die Kriminalitätsentwicklung in Bayern in der Zeit von 1972 bis 1981 vorgelegt. Das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein bringt Zahlen zur T ä t e r - O p f e r b e z i e h u n g . — In der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes sind die V e r u r teilten nach Hauptdeliktsgruppen, nach Altersgruppen und nach zuerkannten Strafen und Maßregeln enthalten. In ihr sind Verurteiltenzahlen angegeben, unter denen man die Zahlen der Verurteilten auf 100 000 Einwohner der Gesamtbevölkerung oder der entsprechenden Bevölkerungsanteile (z. B. der Jugendlichen, H e r a n w a c h s e n d e n , Erwachsenen) versteht. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht auch Zahlen zur Straßenverkehrskriminalität. Das Osterreichische Statistische Zentralamt in Wien gibt eine „Gerichtliche Kriminalstatistik" heraus, die eine Verurteiltenstatistik ist. Das Bundesamt f ü r Statistik der Schweiz in Bern zählt Strafurteile. Alle diese statistischen Amter bringen ihre Zahlenwerke jährlich heraus. — Aus der Bewährungshilfestatistik (Friedhelm Berckkauer 1984) kann man die Unterstellungen und die Beendigungen der Bewährungsaufsichten nach dem Alter der Unterstellten und nach Unterstellungs- und Beendigungsgründen ersehen. Die Zahl der hauptamtlichen Bewährungshelfer ist angegeben. — Die Strafvollzugsstatistik gibt A u s k u n f t über Belegungsfähigkeit, Belegung,

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III. Kriminalität

Aufnahmen und Entlassungen der Gefangenen und Verwahrten in den Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Unter der Strafgefangenenzahl versteht man die Anzahl der Strafgefangenen auf 100 000 Einwohner. Sie ermöglicht einen Vergleich darüber, wie häufig Straftäter in den verschiedenen Ländern zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, die sie in einer Strafanstalt verbüßen müssen. Uber den Strafvollzug informieren mitunter auch die Landesjustizministerien (z. B. Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen 1984). Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik der Justiz (Verurteiltenstatistik) können nicht unmittelbar miteinander verglichen werden, da ihre Erfassungszeiträume (Abgabe der Ermittlungsvorgänge an die Staatsanwaltschaft, Zeitpunkt der Verurteilung durch das Gericht) verschieden voneinander sind, da sich ihre Erfassungsgrundsätze unterscheiden und da der einzelne Fall vor Gericht eine andere strafrechtliche Beurteilung erfahren kann als vor der Kriminalpolizei. Die wichtigsten Zahlen über Straftaten, Tatverdächtige, Abgeurteilte, Verurteilte, Bewährungshilfe und Strafvollzug finden sich auch in den Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland. Verfälschungseinflüsse Die offiziellen Kriminalstatistiken haben Schwächen und Begrenzungen, die im folgenden nicht deshalb aufgeführt werden, um diese Statistiken in ihrem Wert herabzusetzen und in Verruf zu bringen, sondern um zur Vorsicht bei ihrer Benutzung zu mahnen: — Die zeitliche und räumliche Relativität des Verbrechensbegriffs zeigt die Grenzen der Verwertbarkeit der offiziellen Kriminalstatistiken mit aller Deutlichkeit auf. Die Eigenschaft „kriminell" wohnt nicht unabänderlich und ein für allemal einer Handlung oder Unterlassung inne. Das Verhalten wird vielmehr in einer zeitlich und räumlich begrenzten, konkreten Gesellschaftsordnung als „kriminell" bewertet. — Der Inhalt der offiziellen Kriminalstatistiken wird im wesentlichen durch die Verfolgungsenergie der Anzeigeerstatter bestimmt ( W o l f g a n g Heinz 1977, 1985). Dieses Verhalten wird wiederum maßgeblich durch die Ertragungsfähigkeit, die Empfindlichkeit der Bevölkerung für Verbrechen (Leonard D. Savitz 1978, 75) und durch die Strafverfolgungsintensität der Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Jan /. M. van Dijk 1982) beeinflußt. — Die Orientierung der offiziellen Kriminalstatistiken an der Legalordnung verbirgt häufig die kriminologischen Gesichtspunkte ( W o l f g a n g Heinz 1972). Ein Straftatbestand erfaßt einerseits eine Fülle von Erscheinungsformen eines Delikts (vgl. z. B. die unzähligen Diebstahls- und Betrugsformen). Juristische Unterschiede zwischen einzelnen Deliktstypen sind andererseits häufig kriminologisch bedeutungslos. Die reine Häufigkeitsbetrachtung (das bloße Zählen der

Kriminalstatistiken

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Vorgänge) läßt zudem die Abwägung, die Schwere des Delikts und der verschiedenen Erscheinungsformen innerhalb eines Delikts völlig unberücksichtigt. Aufgrund des Vorwiegens der juristischen Betrachtung kann das wirkliche Kriminalitätspotential in einem bestimmten Gebiet und in einer bestimmten Zeit durch die offiziellen Kriminalstatistiken nicht gemessen werden. Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsänderungen machen sich schließlich in ihnen voll bemerkbar. Amnestien führen zu Verfahrenseinstellungen und beeinträchtigen das kriminalstatistische Bild. — Straftaten werden zu verschiedenen Zeitpunkten entdeckt und angezeigt. Auf sie wird wiederum zu unterschiedlichen Zeitpunkten reagiert. Die Daten werden nicht nach einem einheitlichen Termin, z. B. nach der Begehungszeit der Delikte, geordnet. Die Kriminalitätsentwicklung ist deshalb nach den offiziellen Kriminalstatistiken schwer zu beurteilen. — Kriminalitätsdaten geben kein zureichendes Bild über Umfang, Struktur, Entwicklung und Verteilung des Verbrechens, solange sie nicht zu Daten über Umfang und Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung oder der Bevölkerung in bestimmten Gebieten oder Gruppen in Beziehung gesetzt werden ( W o l f g a n g Heinz 1977, 102). Häufigkeits-, Verurteilten- und Strafgefangenenzahlen machen überhaupt erst interregionale oder internationale Vergleiche möglich. Es ist allerdings zweifelhaft, ob man solche Häufigkeits-, Verurteilten- und Strafgefangenenzahlen aufgrund von Einwohnerzahlen berechnen soll, um die kriminelle Gefährdung abschätzen zu können. Das Delikt der Vergewaltigung macht deutlich, daß als mögliche Täter oder mögliche Opfer nicht alle „Einwohner" in Frage kommen, sondern daß die kriminelle Gefährdung durch dieses Delikt allein unter Zugrundelegung der männlichen oder weiblichen Wohnbevölkerung als mögliche Täter oder O p f e r berechnet werden kann. Bei Vermögensdelikten erscheint es sinnvoller, eine kriminalstatistische Verbindung der Täter mit ihren möglichen Opfern herzustellen. In diesem Zusammenhang spielen freilich „Gelegenheiten" zur Begehung von Delikten eine so große Rolle, daß man die Diebstahlszahlen zum möglichen Umfang des Diebstahlsgutes und die Zahlen f ü r Autodiebstahl zur Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge in Beziehung setzen sollte (Joseph G. Weis 1983, 382). Die Delikte gegen die Person sollte man nicht an der bloßen Einwohnerzahl messen, sondern man sollte die Häufigkeit zwischenmenschlicher Interaktionen als Maßstab dafür nehmen, wie gefährlich diese Delikte in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit für die Bevölkerung sind (Edwin H. Sutherland, Donald R. Cressey 1978, 34). Zur Polizeilichen Kriminalstatistik werden folgende kritische Argumente vorgebracht: — Eine Verbrechensanzeige setzt Entdeckung und richtige Beurteilung der Straftat durch den Anzeigeerstatter voraus. Die Anzeige kann auf einer Lüge (Falschanzeige) oder auf einem Versehen beruhen. Sie kann sich im weiteren

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III. Kriminalität

Gang des Strafverfahrens als unbegründet oder als unbeweisbar herausstellen. Alle diese „Straftaten" werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik zunächst mitgezählt. — Die Polizei beurteilt, ob eine Straftat vorliegt und gegebenenfalls welche. Sie entscheidet auch, ob die T a t aufgeklärt ist. Mit dieser Beurteilung durch die P o lizeibeamten braucht keineswegs die Bewertung durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht übereinzustimmen (Beurteilungsverlagerung). — D e r Inhalt der Polizeilichen Kriminalstatistik ist auch abhängig von der O r ganisation der Polizei, ihrer Präsenz, ihrer Wirksamkeit, ihrer Motivation, ihrer Ausbildung, ihrer Ausstattung, ihrer Verfolgungs- und Entdeckungsaktivität und ihrer zielgerichteten Einsatzlenkung (ihrer Arbeitsökonomie). — Für die Polizeiliche Kriminalstatistik müssen wegen ihrer Orientierung am Strafgesetzbuch Zählregeln aufgestellt werden, die in sich problematisch sind. An einem Ereignis, das man als Verbrechen bewertet, kann ein T ä t e r , es können an ihm aber auch mehrere Rechtsbrecher beteiligt sein. Es können durch denselben Vorfall mehrere Opfer und mehrere Straftatbestände verletzt werden. Ein T ä t e r kann hintereinander mehrere Straftaten oder eine Straftat fortgesetzt begehen; es können mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden (Möglichkeit der Mehrfachzählung). Alle diese Beispiele zeigen, wie schwierig es ist, kriminelle Vorgänge und T ä t e r zu zählen. — Die Erfassung unaufgeklärter, mehrdeutiger Sachverhalte durch die Polizei ist schließlich ein ungelöstes Problem. Es geht z. B. darum, Straftaten kriminalstatistisch aufzunehmen, die ein Tatverdächtiger gesteht, ohne aber Einzelheiten nennen zu können oder zu wollen ( W o l f g a n g Heinz 1975, 233). Gegen die Gerichtliche Kriminalstatistik richten sich noch die folgenden zwei Bedenken: — Bei der Strafverfolgungsstatistik sind der zeitliche Abstand und die V e r z e r rung durch Reaktionen im Strafverfahren zwischen kriminellem Ereignis und seinem strafrechtlichen Nachweis zu groß. — Gerichtliche und Polizeiliche Kriminalstatistik sind nicht methodisch aufeinander abgestimmt, so daß ihre Verwendung für die kriminologische Forschung erschwert wird.

Der Anzeigevorgang Verbrechensopfer und Tatzeugen bringen als Anzeigeerstatter in aller Regel das Strafverfahren in Gang. Sie sind die „Torhüter" zum Kriminaljustizsystem, die entscheidenden „Filter" für die offiziellen Reaktionen auf Kriminalität. Sie bestimmen damit auch den Inhalt der offiziellen Kriminalstatistik. Man hatte lange Zeit angenommen, die Polizei wähle aufgrund von Vorurteilen kriminelles und delinquentes Verhalten zur offiziellen Reaktion aus; sie diskriminiere die Unter-

Kriminalstatistiken

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schichten und die rassischen Minderheiten und besorge auf diese Weise die „schmutzige Arbeit" f ü r das kapitalistische System. Diese Annahme, die aufgrund der Uberrepräsentation der Unterschichten und rassischen Minderheiten in den Strafanstalten hervorgerufen worden war, hat sich im wesentlichen als Irrtum erwiesen. Der Umfang und die Struktur der offiziell bekanntgewordenen Kriminalität wird ganz entscheidend durch die Anzeigebereitschaft des Verbrechensopfers oder des Tatzeugen bestimmt, die mit der Strafverfolgungsintensität und der Praxis der Polizei zur Anzeigeaufnahme in Wechselwirkung steht (Jan J. M. van Dijk 1982). Je mehr die Staatsanwaltschaft geneigt ist, Delikte anzuklagen, desto mehr Kriminalität wird angezeigt werden. Freilich hängt die Anzeigeneigung der Bevölkerung auch mit der Einstellung der öffentlichen Meinung der Kriminalität oder einzelnen Straftatengruppen gegenüber zusammen, die dem zeitlichen Wandel unterliegt (Berl Kutschinsky 1972). Es gibt eine ganze Reihe von Gründen für die Nichtanzeige von Verbrechen (F. H. McClintock 1970): Das Verbrechensopfer hat der Straftat zugestimmt. Es ist in sie verwickelt (Mitverursachung). Es betrachtet das Delikt als unerheblich, trivial. Es ist kein großer Schaden entstanden. Das Verbrechensopfer möchte den Täter nicht in eine unangenehme Lage bringen (Delikte unter Verwandten, Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen). Der Kriminaljustizprozeß ist ihm zu zeitraubend, zu lästig, zu peinlich oder zu unerquicklich. Es gewinnt durch die Anzeige nichts (z. B. Wiedererlangung gestohlenen Gutes, Wiedergutmachung). Der mit der Anzeige verbundene persönliche, zeitliche und finanzielle Aufwand ist ihm zu groß. Es fürchtet sich vor Vergeltungsmaßnahmen des Täters. Es steht der Polizei und dem Kriminaljustizsystem feindlich gegenüber (Verbrechen unter Kriminellen). Es beurteilt dieses System als nicht wirksam. Es meint, man könne dem Täter das Delikt nicht beweisen. Nicht nur die Anzeigeneigung, sondern auch die Interaktion zwischen Polizeibeamten und Anzeigeerstattern im Anzeigevorgang selbst beeinflußt die formelle Reaktion auf Verbrechen und damit Kriminalitätsumfang und -struktur, wie sie in offiziellen Kriminalstatistiken erscheinen. Bei der Anzeigeaufnahme handelt es sich keineswegs um einen bloßen schematisch ablaufenden Registrierungsvorgang. Die Polizei nimmt vielmehr die Verbrechensanzeige in einem sozialen Erkennungsprozeß entgegen, in dem zahlreiche Faktoren ihre amtliche Reaktion beeinflussen. Die Polizei-Bürger-Begegnungen bei der Anzeigeaufnahme sind systematisch beobachtet worden (Donald J. Black, Albert J. Reiss 1972; Josef Kürzinger 1978). Die Polizei entdeckt aus eigener Initiative nur wenig Kriminalität und Delinquenz. Das hängt damit zusammen, daß Verbrechen nicht beobachtbar und nicht räumlich und zeitlich vorhersagbar sind. Die Polizei kann von sich aus nicht im Privatleben des Bürgers „herumschnüffeln". Es ist in einer Demokratie völlig normal, daß sie die Initiative des Bürgers abwartet. Im Gegensatz zum Bild der Polizei in der öffentlichen Meinung spielt sie weniger eine proaktive als eine reaktive Rolle: Ihre Aktivität wird nicht so sehr von ihr

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III. Kriminalität

selbst, sondern hauptsächlich vom Bürger angebahnt und eingeleitet (Erhard Blankenburg, Klaus Sessar, Wiebke Steffen 1978, 121; Sessar 1976). Von 281 Begegnungen der Polizei mit Jugendlichen, die Donald J. Black und Albert J. Reiss (1972) beobachten ließen, waren 72 % bürgereingeleitet (meist per Telefon). 28 % hatte die Polizei während ihrer Streifengänge selbst beobachtet. N u r 5 % der Vorfälle hatten schwere Verbrechen zum Gegenstand. Auf sehr viele Anzeigen reagiert die Polizei informell (z. B. mit Verwarnung). Ob sie sich für eine informelle oder formelle Reaktion (z. B. Anzeigeaufnahme, Verhaftung) entscheidet, hängt im wesentlichen von folgenden Faktoren ab: von der Schwere des behaupteten Delikts, vom entstandenen Schaden, von den W ü n schen und Forderungen des Anzeigeerstatters, von dem Umstand, ob das Delikt unter Fremden oder unter Verwandten, Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen im sozialen Nahraum begangen worden ist, vom Verhalten des Anzeigeerstatters und vom Benehmen des Tatverdächtigen gegenüber der Polizei. Die Höflichkeit des Anzeigeerstatters der Polizei gegenüber spielt eine gewisse Rolle. Wenn man dem Jugendlichen die delinquente Handlung, wegen der man ihn beschuldigt, nicht unmittelbar nachweisen kann, kommt es für die Entscheidung der Polizei auf das Verhalten des Jugendlichen an. Beschuldigte, die sich ungewöhnlich ehrerbietig und unterwürfig der Polizei gegenüber verhalten, machen sich verdächtig. Die empirische Studie von Black und Reiss (1972) haben Riebard J. Lundman, Richard E. Sykes und John P. Clark (1978) in einem anderen Gebiet und zu einer anderen Zeit wiederholt. Sie kamen im wesentlichen zu denselben Ergebnissen. Da die Polizei auf die Hilfe des Anzeigeerstatters angewiesen ist, hilft sie ihm bei der Strukturierung des Anzeigevorgangs. Der Bürger bestimmt als Anzeigeerstatter den Umfang und die Struktur der offiziell bekanntgewordenen Delinquenz und Kriminalität dadurch, daß er die Polizei ruft, und dadurch, daß er sie in ihrer Entscheidung zu beeinflussen versucht. Da die Polizei — wenn eben möglich — die Wünsche und Anliegen der Anzeigeerstatter (meist der Verbrechensopfer) berücksichtigt, verfügt der Bürger in doppelter Weise über Umfang und Struktur der amtlich bekanntgewordenen Kriminalität: durch seine Anzeigeerstattung und durch seinen Einfluß auf die polizeiliche Entscheidung (Donald J. Black 1978; William F. Hohenstein 1969). Für den Umstand, daß Unterschichtsangehörige und rassische Minderheiten in der offiziell bekanntgewordenen Kriminalität und Delinquenz überrepräsentiert sind, werden folgende Gründe angeführt: — Die Unterschichtsangehörigen und die rassischen Minderheiten begehen tatsächlich zahlreichere und als schwerer empfundene Straftaten (Robert M. Terry 1967). — Personen der Unterschicht bringen ihre Konflikte in bedeutend höherem Umfang vor die Polizei. Sie fühlen sich stärker durch die Kriminalität bedroht, und sie nehmen eine rigorosere Haltung gegenüber Straftaten und Straftätern ein (Josef Kürzinger 1978).

Kriminalstatistiken

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— Farbige Verbrechensopfer und Tatzeugen sind unerbittlicher in ihrer Einstellung gegenüber Delinquenz und den (meist farbigen) Delinquenten, die sie anzeigen. Weiße Verbrechensopfer verhalten sich bei ihrer Anzeige gegenüber weißen verdächtigen Jugendlichen milder als farbige Opfer gegenüber farbigen verdächtigen Jugendlichen. Da die Polizei auf die Wünsche der Anzeigeerstatter einzugehen pflegt, schlägt sich die härtere Einstellung der farbigen Anzeigeerstatter in einer höheren Anzahl von Verhaftungen farbiger Jugendlicher nieder (Black, Reiss 1972; Lundman, Sykes, Clark 1978).

Alternative Die Kriminalstatistiken zählen Taten und Täter; sie geben den verschiedenen Delikten und den mannigfaltigen Erscheinungsformen der Tatbegehung keine unterschiedliche Gewichtung. Wenn also die Kriminalität nach der Kriminalstatistik zahlenmäßig zugenommen hat, so braucht das keineswegs eine größere kriminelle Gefährdung zu bedeuten. Denn die Zusammensetzung der Delikte kann sich ebenso geändert haben wie ihre Erscheinungsformen. Die Bagatelldelikte können z. B. erheblich zugenommen, die Kapitalverbrechen demgegenüber abgenommen haben. Die leichteren Formen eines Delikts (z. B. Handtaschenraub) können die schwereren Formen (z. B. Bankraub) weitgehend verdrängt haben. Die Schwerebeurteilung der Kriminalität ist als Problem bereits erkannt worden, seit es eine wissenschaftliche Kriminalstatistik gibt. Zunächst hat man versucht, einen einheitlichen Schweremaßstab für verschiedene Straftaten zu entwickeln. Da die einzelnen Delikte wegen ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen jedoch unter Schweregesichtspunkten schwierig zu beurteilen sind, hat man danach versucht, von der strafrechtlichen Beurteilung des kriminellen Verhaltens ganz Abstand zu nehmen und auf objektive Fallmerkmale abzustellen. Thorsten Sellin und Marvin E. Wolfgang (1964) haben ihren Kriminalitätsindex nach folgenden Gesichtspunkten aufgestellt: — Es ist zu verwirrend, die gesamte Kriminalität zu zählen, zumal einige Verbrechensformen (z. B. Wirtschaftskriminalität) ohnehin schwer erfaßbar sind. Deshalb sollen nur die Rechtsbrüche für die Beurteilung der kriminellen Gefährdung herangezogen werden, die eine hohe und beständige Anzeigewahrscheinlichkeit aufweisen. — Die strafrechtliche Beurteilung der begangenen Delikte trägt eher zur Erschwerung der Ermittlung der tatsächlichen Kriminalitätsstärke bei. Deshalb soll der Kriminalitätsindex nicht auf der strafrechtlichen Bewertung der Delikte, sondern auf objektiven Fallmerkmalen (z. B. Körperschaden des Opfers, Sachwertverlust) beruhen. — Die Auswahl der verschiedenen Fallmerkmale und ihre unterschiedliche Gewichtung dürfen sich nicht nur auf Intuition, auf Eingebung stützen. Zur Konstruktion eines möglichst objektiven Kriminalitätsindex sind vielmehr empirische

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III. Kriminalität

Untersuchungen erforderlich, die die Einstellungen der öffentlichen Meinung oder wenigstens bedeutsamer Bevölkerungskreise zur Kriminalität und ihrer Schwere mit berücksichtigen. Tabelle 1 : Fallmerkmale und Gewichtungssystem des Sellin-Wolfgang-Index Fallmerkmale

Gewichtungen

Geringer Körperschaden des Opfers Ambulante ärztliche Behandlung des Opfers Krankenhausaufenthalt des Opfers T o d des Opfers Gewaltsamer Geschlechtsverkehr mit dem Opfer Opfer hierbei mit W a f f e bedroht Einschüchterung im Zusammenhang mit Diebstahl ( D r o h u n g oder Gewaltanwendung) Waffengewalt (hierbei) Gewaltsames Eindringen in fremde Räume

1 4 7 26 10 2 2 4 1

Wert eines Gegenstandes, der gestohlen, beschädigt oder zerstört wurde (in U S - D o l l a r ) Unter 10 Dollar 10 bis 250 251 bis 2 000 2 001 bis 9 000 9 001 bis 30 000 30 001 bis 80 000 über 80 000

1 2 3 4 5 6 7

Kraftfahrzeugdiebstahl (Eigentümer erhält Kraftfahrzeug unbeschädigt zurück)

2

Quelle: Thorsten Sellin, Marvin E. Wolfgang: L o n d o n — S y d n e y 1964, 298.

Measurement of Delinquency. N e w Y o r k -

Aufgrund empirischen Materials konstruierten Sellin und Wolf gang (1964) einen Index zur Gewichtung von Jugenddelinquenz f ü r die USA, in dem sie die Erhebungsmerkmale für die konkreten Fälle feststellten. Diesen Index legten sie 245 Studenten, 38 Jugendrichtern und 286 Polizeibeamten vor, um jedem Erhebungsmerkmal eine Schweregewichtung zuzuordnen. Sie ermittelten die in T a belle 1 aufgeführten Fallmerkmale und das dort dargestellte Gewichtungssystem. Um jeden konkreten Fall kriminalstatistisch beurteilen zu können, werden seine Merkmale unter die Erhebungskriterien des Index subsumiert, untergeordnet.

Kriminalstatistiken

179

Treffen für einen Fall mehrere Erhebungskriterien zu, so sind die Gewichtungen zusammenzuzählen. Aus der Summe der Gewichte folgt dann die relative Schwere des Falles. Das Meßinstrument von Sellin und Wolfgang ist in zahlreichen Ländern auf seine Zuverlässigkeit (Reliabilität) und seine Gültigkeit (Validität) überprüft worden. Die Wiederholungsstudien für die Bundesrepublik Deutschland (Malte Schindhelm 1972) und f ü r Kanada (Dogan D. Akman, André Normandeau 1968) haben zufriedenstellende Ergebnisse erbracht. Uber den Wert des Sellin-Wolfgang-Index zur Ersetzung oder Ergänzung der Kriminalstatistiken, die gegenwärtig aufgestellt und benutzt werden, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Während André Normandeau (1969) meint, der Sellin-Wolfgang-Index sei der Polizeilichen Kriminalstatistik überlegen, vertritt Alfred Blumstein (1974) die Auffassung, die er auch empirisch zu belegen versucht, beide würden dasselbe messen und vom Sellin- Wolfgang-Index seien keine zusätzlichen Informationen zu erwarten. Internationale Kriminalstatistik Zahlen der Kriminalstatistiken einzelner Länder kann man nicht einfach miteinander vergleichen. Kriminalität und Sozialkontrolle stehen in Wechselwirkung miteinander. Kriminalität ist nur im Zusammenhang mit dem Kriminaljustizsystem verständlich, in dessen Rahmen sie sich ereignet. Deshalb müssen — im Grunde genommen — Kriminaljustizsysteme miteinander verglichen werden, wenn man einen Kriminalitätsvergleich zwischen zwei oder mehreren Ländern anstellen will. Solche Vergleiche sind deshalb außerordentlich schwierig, weil sich Strafgesetzgebung und -anwendung mit der Gesellschaft, in der sie vorgenommen werden, in dauerndem Wandel befinden. Umfang, Art, Entwicklung und Verteilung der Kriminalität, die kriminelle Gefährdung in einem Land, kann man freilich nur ermessen, wenn man einen Maßstab hat, den man allein dadurch erhalten kann, daß man räumliche und zeitliche Kriminalitätsvergleiche anstellt. Solche Vergleiche werden durch folgende Umstände erschwert: Die Strafrechtsnormen der verschiedenen Länder sind keineswegs deckungsgleich. Sie werden auch in den verschiedenen Staaten von Polizei und Gerichten unterschiedlich angewandt. Die öffentliche Meinung in den verschiedenen Ländern hat eine unterschiedliche Auffassung über einzelne Verbrechensformen und ihre Schwere. Die Ertragungsfähigkeit für Kriminalität und die Anzeigeneigung der Bevölkerung ändern sich von Land zu Land. Die Reichweite und die Wirksamkeit der Kriminaljustizsysteme entsprechen sich in den verschiedenen Zeiten und Räumen nicht. Hierdurch wird die Möglichkeit der Entdeckung von Straftaten beeinflußt. Weiterhin unterscheiden sich die Methoden und die Effektivität der Datensammlung. Eine für Kriminalität empfindliche Bevölkerung mit hoher Anzeigeneigung, ein wirksames Kriminaljustizsystem und eine effektive Datensammlung in einem Land können ein hohes kriminalstatistisches Maß an Kriminalität hervorbringen. Dennoch kann die objektive Sicherheitslage in diesem

180

III. Kriminalität

Land besser sein als in einem anderen, in dem wegen einer hohen Gleichgültigkeit der Bevölkerung für Kriminalität (mit niedriger Anzeigeneigung), wegen eines unwirksamen Kriminaljustizsystems und einer ineffektiven Datensammlung die Kriminalität und Delinquenz nicht durch Kriminalitätsmessung so sozial sichtbar geworden sind. Als einer der ersten hat Nikolaus Heinrich Julius (1783—1862) im Jahre 1828 einen Vergleich zwischen der Verbrechenshäufigkeit und den Verbrechensarten einiger europäischer Länder und den Vereinigten Staaten angestellt. Auch André Michel Guerrys Vergleichsstudie über die Kriminalität in England und Frankreich (1864) ist als bedeutsame Untersuchung zur internationalen Kriminalstatistik bekannt geworden. Im 19. Jahrhundert versuchte man, über die Vereinheitlichung nationaler Kriminalstatistiken, insbesondere ihrer Erhebungsverfahren, ihrer Zähleinheiten und ihrer Begriffsbildung, eine internationale Kriminalstatistik aufzubauen. Man scheiterte jedoch an der Problematik der unterschiedlichen Strafgesetzgebungen und -anwendungen in den einzelnen Ländern. Man kam zu der Auffassung, daß eine internationale Kriminalstatistik im Sinne einer unmittelbaren zahlenmäßigen Gegenüberstellung statistisch erfaßter Delikte überhaupt nicht möglich sei. Man setzte sich bescheidenere Ziele: Man gab sich mit Vergleichen einzelner schwerer Straftaten für wenige Länder oder mit Vergleichen der Verteilung der Straftäter auf einzelne Bevölkerungsgruppen zufrieden. Die beiden Weltkriege (1914—1918; 1939—1945) störten die internationale kriminologische Zusammenarbeit erheblich. Nach dem 2. Weltkrieg bevorzugte man die Polizeiliche Kriminalstatistik vor der Gerichtlichen Kriminalstatistik als Grundlage für internationale Vergleiche. Man empfahl, die nationalen Kriminalstatistiken mit Erläuterungen zu versehen, die sich auf Besonderheiten nationaler Strafgesetze und ihrer Anwendung, auf demographische Daten und auf kriminalstatistische Erhebungsverfahren beziehen sollten. Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) begann 1954 mit der Zusammenstellung einer internationalen Kriminalstatistik, die sich auf die nationalen Polizeilichen Kriminalstatistiken stützte und Zahlen zu sechs Deliktsgruppen zusammentrug: zu vorsätzlichen Tötungen, zu Sexualstraftaten, zu Diebstählen, zu Betrugsstraftaten, zu Falschgeld- und zu Rauschgiftdelikten. Mit dem Sammeln und Auswerten der kriminalstatistischen Daten durch Interpol sind die Probleme der internationalen Kriminalstatistik noch nicht gelöst. Ob die nationalen Meldungen an Interpol zuverlässig sind, ist ebenso fraglich wie die Vergleichbarkeit der Daten (Hans-Jürgen Collmann 1973). Die Vereinten Nationen begannen 1950, sich mit dem Problem eines internationalen kriminalstatistischen Vergleichs auseinanderzusetzen. Seit 1963 beschäftigt sich der Europarat mit der Erstellung einer internationalen Kriminalstatistik. Die Vereinten Nationen haben 1977 ihre erste und 1985 ihre zweite weltweite Kriminalitätserhebung durchgeführt (United Nations 1977, 1985 a). Sie sandten bei ihrer ersten Erhebung den nationalen Regierungen einen Fragebogen, der sich auf Taten und Täter des Erhebungszeitraums 1970 bis 1975 und

Kriminalstatistiken

181

auf folgende Delikte bezog: vorsätzliche Tötungen, Körperverletzung, Sexualdelikte, Raub, Kindesentführung, Diebstahl, Betrug, Rauschgiftdelikte und Alkoholmißbrauch. Die Vereinten Nationen erfragten auch Zahlen über das Personal der verschiedenen Kriminaljustizsysteme. 62 Mitgliedsstaaten und zwei Nichtmitgliedsländer antworteten. Die internationalen Organisationen (Vereinte Nationen, Europarat, Interpol) sind bei ihren kriminalstatistischen Erhebungen bescheidener geworden. Die einzelnen Länder brauchen ihre eigenen kriminalstatistischen Systeme nicht zu ändern und einander anzupassen. Die internationale Organisation legt fest, welche Statistik herangezogen und welche Zähleinheit verwendet werden soll. Sie sendet ihren Mitgliedsländern einheitliche Meldeformulare, die sie sammelt, auswertet und analysiert, nachdem sie von den Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten ausgefüllt worden sind. Einen ganz anderen Weg wollen Thorsten Sellin (1967c), Marvin E. Wolfgang (1967) und Leihe T. Wilkins (1970d) zur Entwicklung eines internationalen kriminalstatistischen Meßinstruments gehen. Die Ausrichtung der Kriminalstatistiken am Kriminaljustizsystem eines jeden Landes soll aufgegeben werden. Statt dessen sollen die Zahl der Opfer, die Art und das Ausmaß der physischen Verletzung des Opfers, der Wert des dem Opfer gestohlenen Gutes und des ihm zugefügten Vermögensschadens zur Aufstellung einer internationalen Kriminalstatistik herangezogen werden. Es soll ferner ein System der Gewichtung eingeführt werden, das den relativen Grad der Schwere jedes konkreten Verbrechens anzeigt. Die Gewichtung soll nach einer Schwereskala vorgenommen werden, die aufgrund der empirisch festgestellten Verbrechenseinstellung einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung eines jeden Landes konstruiert werden soll. Ob sich diese neuartige kriminalstatistische Methode oder der „dynamische Kriminalitätsvergleich" durchsetzen wird, der die Verbrechenstrends, also kriminalstatistische Längsschnitt(Verlaufs-)analysen, zum internationalen Vergleich heranziehen will, erscheint fraglich. Auf jeden Fall kann man bloße Kriminalitätszahlen der verschiedenen Länder nicht miteinander vergleichen. Man muß auch die jeweiligen Kriminaljustizsysteme zum Vergleich mit heranziehen (Eduardo Vetere, Graeme Newman 1977). Darüber hinaus wird man davon ausgehen müssen, daß alleine eine qualitative Analyse den nationalen Besonderheiten im internationalen Vergleich voll gerecht wird, die allerdings auf der Grundlage aller verfügbaren nationalen kriminalstatistischen und demographischen Daten aufbauen muß: Kriminologische Kritik Die Kriminalitätsmessung gehört zu den wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der Kriminologie. Sie ist deshalb so kompliziert, weil „kriminell" eine Bewertung ist, die an ein Verhalten von außen herangetragen wird, und weil das Verbrechen deshalb stets mit seiner Reaktion unlösbar verbunden ist. Für die Bewertung des Verhaltens sind mannigfaltige Faktoren maßgebend: die Anzeige-

182

III. K r i m i n a l i t ä t

neigung der Bevölkerung, ihre Ertragungsfähigkeit für Kriminalität, die Reichweite und die Wirksamkeit des Kriminaljustizsystems eines Landes, die Methoden und die Effektivität seiner kriminalstatistischen Erhebungen. Offizielle Kriminalstatistiken haben allein schon als Tätigkeitsberichte der Instanzen formeller Sozialkontrolle ihre Berechtigung. Sie sind freilich auch wertvolle und zuverlässige Meßinstrumente für die Planung und Kontrolle des Kriminaljustizsystems und die kriminologische Forschung, wenn man ihre Begrenzungen und Schwächen kennt und wenn man sich bei ihrer Benutzung stets klar darüber ist, in welcher Weise sie zustande gekommen sind. Es ist nicht richtig, die kriminalstatistischen Daten rein quantitativ aus sich selbst heraus als objektiv gültige Zahlen für das Ausmaß, die Art, die Entwicklung und die Verteilung der „wirklichen Kriminalität" zu benutzen. Man muß sich stets klarmachen, daß es die Kriminalität unabhängig von ihrer Reaktion nicht gibt. Die offiziellen Kriminalstatistiken messen die Reichweite und die Effektivität des jeweiligen Kriminaljustizsystems mit. Deshalb können sie für sich allein kein Maßstab für Kriminalität sein. Um Umfang, Struktur, Entwicklung und Verteilung der Kriminalität in einem bestimmten Land feststellen zu können, müssen alle verfügbaren statistischen Daten (offizielle Kriminalstatistiken, Dunkelfeldforschungen, demographische Daten) herangezogen und geschichtliche und Ländervergleiche angestellt werden, um — darauf aufbauend — eine qualitative kriminologische Beurteilung zu wagen.

3. D u n k e l f e l d f o r s c h u n g Begriff und Geschichte Die der Polizei bekanntgewordene und von ihr registrierte Kriminalität ist nur die sichtbare Spitze des unsichtbaren Eisbergs der „wirklich verübten" Verbrechen. Unter Dunkelfeld versteht man die Summe der Straftaten, die zwar tatsächlich begangen, den Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Justiz) aber nicht bekanntgeworden sind und die deshalb nicht in der offiziellen Kriminalstatistik erscheinen (F. H. McClintock 1970). Zum Dunkelfeld gehört freilich auch die Delinquenz und Kriminalität, die zwar verübt, aber von niemandem als Delinquenz oder Kriminalität wahrgenommen und erkannt worden ist oder die von niemandem erinnert werden kann (absolutes Dunkelfeld). Zum (relativen) Dunkelfeld kann man eine große Zahl der Delikte rechnen, die die Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Justiz) entdeckt haben und die ihnen nicht verborgen geblieben sind: Ein großer Teil der Straftaten wird nicht aufgeklärt; die Täter bleiben also unbekannt. Ein anderer Teil der entdeckten Tatverdächtigen wird nicht abgeurteilt (Einstellung durch die Staatsanwaltschaft) oder kann nicht verurteilt werden (Freisprüche mangels Beweises durch die Gerichte). Die Delikte, deren Täter nicht ergriffen werden oder deren Täter nicht überführt werden können,

Dunkelfeldforschung

183

zählt man zum Zwecke besserer Unterscheidung zum „Graufeld der Kriminalität", weil bei ihnen niemals geklärt werden wird, ob es sich wirklich um Verbrechen gehandelt hat oder nicht. Schließlich haben viele verurteilte Rechtsbrecher weit mehr Straftaten begangen, als die Strafverfolgungsbehörden entdeckt haben oder als sie ihnen nachweisen konnten. Diese Delikte rechnet man zum „Dunkelfeld krimineller Karrieren", das für die Entdeckung von Rückfalltätern, Berufsverbrechern und gefährlichen Intensivtätern von großer kriminologischer Bedeutung ist. Das absolute Dunkelfeld und das (relative) Dunkelfeld der Straftäter (Graufeld der Kriminalität) sind von geringem kriminalstatistischem Interesse, weil beide schwerlich der Aufhellung bedürfen und wohl auch nicht aufgehellt werden können. Das „Dunkelfeld krimineller Karrieren" erfordert eine besondere kriminologische Zuwendung, weil Mehrfachtäter einerseits in der Bevölkerung selten vorkommen, weil aber andererseits ein verhältnismäßig großer Teil der Kriminalität von ihnen verursacht wird (vgl. hierzu das Fenster 11: Rückfalltäter, Berufsverbrecher und gefährliche Intensivtäter). Was hier interessiert, ist das (kriminalstatistische) Dunkelfeld der Straftaten, das also die tatsächlich begangenen und wahrgenommenen, aber den Strafverfolgungsbehörden verborgen gebliebenen und von ihnen nicht registrierten Delikte enthält. Das Dunkelfeld war von Anbeginn kriminologischer Forschung die „große Crux der Kriminalstatistik" (Franz Exner 1949, 15). Man erkannte es wohl. Man versuchte aber, es aus der kriminalstatistischen Betrachtung auszuklammern und einfach hinwegzuargumentieren. Das geschah vor allem durch Adolphe Jacques Quetelet (1835), der das „Gesetz der konstanten Verhältnisse" erfand. Er ging nämlich davon aus, daß zwischen Hellfeld (offiziell bekanntgewordener Kriminalität) und Dunkelfeld (den Strafverfolgungsbehörden verborgen gebliebener Kriminalität) ein konstantes, feststehendes Verhältnis besteht, daß also bei den Delikten, bei denen das Hellfeld groß ist, auch das Dunkelfeld genauso groß ist, und daß bei den Straftatbeständen, bei denen das Hellfeld klein ist, auch das Dunkelfeld genauso klein ist. Die offiziell statistisch erfaßte Kriminalität hat demnach für die wirkliche Kriminalität symptomatische, ja sogar repräsentative Bedeutung, wie es Arnold Wadler (1908) und Georg von Mayr (1911/1912) ausdrückten. Zwar hat bereits Emst Roesner (1936) erkannt, daß das Dunkelfeld bei den einzelnen strafrechtlichen Tatbeständen bemerkenswerte Unterschiede aufweist. Das „Gesetz der konstanten Verhältnisse" ist aber erst verhältnismäßig spät als falsch bezeichnet worden (Thorsten Sellin 1951; Inkeri Anttila 1966; Leonard D. Savitz 1978). Das Dunkelfeld ändert sich von Delikt zu Delikt und von Jahr zu Jahr. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhielt die Dunkelfeldforschung immer größere Aufmerksamkeit. In seiner deutschen Dissertation benutzte der japanische Staatsanwalt Shigema Oha (1908) den Begriff der „Dunkelziffer" erstmalig, der sich dann in der deutschsprachigen kriminologischen Forschung einbürgerte. Er hatte die englische Bezeichnung „dark number" (Dunkelzahl) mit „Dunkelziffer" falsch übersetzt. Der „dark number" (Dunkelzahl) steht der Begriff „light number" (Lichtzahl) gegenüber, den man am besten

184

III. Kriminalität

mit Hellzahl oder Hellfeld übersetzt. Die empirische Dunkelfeldforschung fing mit Dunkelfeldschätzungen an, die Kurt Meyer (1941) und Bernd Wehner (1957) unternahmen. Diese Schätzungen beruhten keineswegs nur auf Intuition, auf Eingebung, sondern man legte ihnen kriminologisches Erfahrungswissen zugrunde. Ein neues Kapitel der empirischen Dunkelfeldforschung schlug man im und nach dem 2. Weltkrieg in Nordamerika auf. Die Realisten standen den Institutionalisten gegenüber (Albert D. Biderman, Albert}. Reiss 1967). Die Realisten wollten die „wirkliche Kriminalität" erfassen, die tatsächlich verübt worden war, selbst wenn man nur informell auf sie reagiert hatte. Für die Institutionalisten war nur die Kriminalität „in der Welt", gegen die die Strafverfolgungsbehörden offizielle Maßnahmen ergriffen hatten. Die Realisten gewannen den Streit aus folgenden Gründen: — Sie hatten die puritanische Tradition auf ihrer Seite, jede auch noch so triviale Gesetzesübertretung erfassen zu wollen (F. H. McClintock 1970). — Die in den USA gut entwickelte „Bürgerbefragungsindustrie" (Biderman, Reiss 1967) bemächtigte sich gern der Aufgabe, Personen nach ihrem kriminellen Opferwerden zu befragen. — Die große Rolle, die die informelle Sozialkontrolle spielt, war erkannt worden. Die öffentliche Meinung war den Interessen der Verbrechensopfer gegenüber aufgeschlossen. Die Kriminologie hatte das Verbrechensopfer wiederentdeckt (Hans von Hentig 1941; Beniamin Mendelsohn 1956). — Sie hatte die große Bedeutung der Reaktion auf Kriminalität herausgefunden (Frank Tannenbaum 1938; Edwin M. Lemert 1951). Man interessierte sich nicht allein für das Verhalten der Personen, die von anderen als kriminell definiert werden, sondern auch für das Verhalten von Personen, die andere als kriminell definieren (z. B. Polizei, Gerichte, Strafvollzug). Man brachte den Instanzen formeller Sozialkontrolle in zunehmendem Maße Mißtrauen entgegen. Man fürchtete, daß sie bei der Zählung der Kriminalität in einen Interessenkonflikt kommen könnten. — Man wollte wissen, in welcher Weise sich die Personen, auf deren Kriminalität die Strafverfolgungsbehörden reagiert hatten, von den Menschen unterscheiden, die zwar dieselben Straftaten verübt hatten, die aber von der formellen Sozialkontrolle nicht entdeckt worden waren. Man wollte die Faktoren, die die Verursachung kriminellen Verhaltens erklären, von den Faktoren trennen, die bestimmen, warum Menschen offiziell als delinquent oder kriminell definiert werden (Roger Hood, Richard Sparks 1970). Die empirische Dunkelfeldforschung setzte in den USA mit Selbstberichtuntersuchungen („Self-Report-Surveys") ein. Im Gebiet von Fort W o r t h / T e x a s befragte Austin L. Porterfield (1943, 1949) College-Studenten und -Studentinnen und delinquente Jugendliche, die man vor ein Jugendgericht gebracht hatte. Bei-

Dunkelfeldforschung

185

den Gruppen wurden Fragen gestellt, ob sie bestimmte Delikte, die man in der Umgangssprache näher umschrieben hatte, in ihrem Leben begangen hätten. Beide Gruppen hatten zwar dieselben Straftaten verübt, die College-Studenten und -Studentinnen hatten die Rechtsbrüche allerdings weniger häufig begangen. Porterfield kam zu dem Schluß, daß die delinquenten Jugendlichen, die ohnehin durch Familien- und Nachbarschaftsdesorganisation benachteiligt waren, durch ihre Jugendgerichtserfahrung nur noch mehr benachteiligt und in delinquente Karrieren geradezu hineingetrieben würden. Im Rahmen der „Cambridge-Somerville" Jugend-Studie beobachteten Fred J. Murphy, Mary M. Shirley und Helen L. Witmer (1946) 114 Jungen im Alter zwischen 11 und 16 Jahren fünf Jahre lang. Ein Teil der Jungen war offiziell delinquent geworden; er hatte nämlich vor dem Jugendgericht gestanden. Ein anderer Teil hatte diese Erfahrung nicht machen müssen. Murphy, Shirley und Witmer zeichneten delinquente Vorgänge zu 50 verschiedenen Deliktsarten auf, selbst wenn sie den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt wurden. Nach fünf Beobachtungsjahren kamen die drei Dunkelfeldforscher zu folgenden Ergebnissen: N u r 13 Jungen hatten kein Delikt verübt, für das man sie vor das Jugendgericht hätte bringen können. Alle 114 Jungen hatten mindestens 6 416 Rechtsbrüche begangen, von denen nur 95 (1,5 %) den Strafverfolgungsbehörden bekanntgeworden waren. Von 616 schweren Straftaten hatten die Behörden 68 (11 %) entdeckt, von den 4 400 Bagatelldelikten nur 27 (0,6 %). Die häufigsten Rechtsbrüche waren Diebstahl und Hausfriedensbruch. Die Straftaten der offiziell bekanntgewordenen Delinquenten waren häufiger und schwerer als die Delikte der offiziell nichtbekanntgewordenen Delinquenten. Allerdings waren auch 5 Jungen allein wegen gelegentlicher Bagatelldelikte vor das Jugendgericht gekommen, während 13 Jungen trotz der Begehung schwerer und häufiger Delikte den Strafverfolgungsbehörden unentdeckt entkommen konnten. In New York City befragten James S. Wallerstein und Clement Wyle (1947) 1 020 unbestrafte erwachsene Männer und 678 unbestrafte erwachsene Frauen, ob sie 49 verschiedene Deliktsarten in ihrem Leben begangen hätten. 91 °/o der Stichprobe gaben zu, eine Straftat oder mehrere Rechtsbrüche verübt zu haben. Im Durchschnitt hatten sich Männer wegen 18, Frauen wegen 11 Straftaten schuldig gemacht. 89 % der Männer und 83 % der Frauen räumten Diebstahl ein. In Gymnasien (high schools) und in Jugenderziehungsanstalten (training schools) im Westen und Mittelwesten der USA ließen James F. Short und F. Ivan Nye (1958) Fragebogen mit Fragen nach 21 Deliktsarten in Klassenräumen von männlichen und weiblichen Jugendlichen ausfüllen. Sie kamen nach Auswertung der Fragebogen zu folgenden Ergebnissen: Alle Jugendlichen verhalten sich delinquent; sie begehen z. B. häufig Straßenverkehrsdelikte, schwänzen die Schule oder stehlen Dinge von geringem Wert. Die offiziell bekanntgewordenen delinquenten Jugendlichen werden allerdings häufiger delinquent, und sie verüben schwerere Straftaten. Mädchen sind in geringerem Umfang delinquent als Jungen; sie verhalten sich allerdings nicht in so geringem Maße delinquent, wie das

186

III. Kriminalität

nach offiziellen Kriminalstatistiken erscheint. Delinquenz ist über die verschiedenen sozialen Schichten verhältnismäßig gleich verteilt. 180 männliche Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren befragten Maynard L. Erickson und LaMar T. Empey (1963) in persönlichen Interviews nach 22 verschiedenen Deliktsarten: 50 Schüler eines Gymnasiums (einer high-school), 30 jugendliche Erstdelinquente, die von einem Jugendgericht verurteilt worden waren, 50 jugendliche Rückfalltäter, die unter Strafaussetzung zur Bewährung standen, und 50 jugendliche Strafgefangene. Nach einer Beschreibung der Straftatbestände in der Umgangssprache fragte man sie, ob sie gegen diese Tatbestände jemals verstoßen hätten. Bei der Beantwortung achtete man auf das Ausdrucksverhalten der Befragten (auf Erröten, lange Pausen, Nervosität), das Anlaß zu weiteren Fragen gab. W e n n der Interviewte ein Delikt zugab, wurde er um Auskunft gebeten, wie häufig er es begangen habe und ob er von der Polizei erwischt und vom Jugendgericht verurteilt worden sei. Erickson und Empey wurden mit zwei methodischen Problemen konfrontiert: Mehrfachtäter hatten sich an so viele delinquente Vorgänge zu erinnern, daß sie die einzelnen Ereignisse nicht voneinander unterscheiden konnten. Die Interviewten hatten eine gewisse Neigung, nach der „sozialen Erwünschtheit" zu antworten, die sich nach der von ihnen angenommenen gesellschaftlichen Erwartungshaltung richtete. Die Untersucher erzielten ein Hauptergebnis, das die bisherige Haltung der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung gegenüber Delinquenz und Kriminalität ernsthaft in Frage stellt: Man kann nicht unterscheiden zwischen Delinquenten und Nichtdelinquenten, zwischen jugendlichen Strafgefangenen und Nichtstrafgefangenen. Eine solche Zweiteilung (Dichotomie) ist eine Übervereinfachung. Delinquenz ist keine Eigenschaft, kein Merkmal, das man hat oder nicht hat. Sie ist vielmehr ein Kennzeichen, das man mehr oder weniger besitzt. Delinquenz ist auf einem Kontinuum, auf einer Gerade, mehr oder weniger zugeteilt. Man kann allenfalls zwischen gelegentlichen Delinquenten und beharrlichen, hartnäckigen Rückfalldelinquenten einen Unterschied, eine Zweiteilung (Dichotomie) machen. Kleinere Diebstähle und leichtere vandalistische Handlungen begeht z. B. fast jeder Jugendliche. Die hartnäckigen Rückfalltäter werden freilich von der Polizei in stärkerem Maße entdeckt als die Gelegenheitsdelinquenten. Diese nordamerikanischen Selbstberichtuntersuchungen wurden Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in den skandinavischen Ländern wiederholt. Im Jahre 1959 ließ Kerstin Elmbom (1965) 878 Schuljungen im Alter zwischen 9 und 14 Jahren in ihren Klassenräumen in Stockholmer Schulen mit einem Fragebogen nach 21 Deliktstypen befragen. 92 % von ihnen gaben verschiedene Straftaten zu (pro Kind im Durchschnitt 11,4). Die 16 schwereren Delikte hatten 53 °/o der Jungen verübt (pro Junge im Durchschnitt 5,7). N u r 34 Jungen (3,5 % ) gaben an, daß die Polizei sie gefaßt habe. Die häufigsten Delikte waren: Fahrgeld- und Eintrittsgelderschleichung, Ladendiebstahl, Diebstahl von Fahrrad- und Autoteilen, Fahrrad- und Mopeddiebstahl, Einbrüche in Keller, in Dachböden oder in Schuppen, mutwillige Zerstörung öffentlichen Eigentums

Dunkelfeldforschung

187

(von Parkbänken, Telefonzellen), Diebstahl aus Warenautomaten. Im Frühjahr 1961 erkundigten sich Nils Christie, Johannes Andenaes und Sigurd Skirbekk (1965) bei jungen Männern im Alter von 21 Jahren in drei Gebieten Norwegens (in den Städten Oslo und Bergen und im Gebiet West-Oppland) nach 25 verschiedenen Deliktsarten. Sie ließen teilweise Fragebogen bei der Musterung der jungen Männer zum Wehrdienst in Gruppen ausfüllen. Sie interviewten sie teilweise in ihrer Wohnung. Sie versandten teilweise Fragebogen, die ausgefüllt mit der Post zurückgeschickt werden mußten. Sie kamen bei ihrer Selbstberichtuntersuchung zu folgenden Ergebnissen: Es ist im statistischen Sinne normal, wenn Kinder und Jugendliche gelegentlich ein paar delinquente Handlungen begehen. Die meiste Delinquenz ereignet sich in Großstädten. Die am häufigsten verübten Delikte sind Jagd- und Fischwilderei, mutwillige Zerstörung von Straßenlaternen und Diebstahl in Restaurants. Die kleine Gruppe der offiziell registrierten Delinquenten ist für die größte Zahl delinquenter Handlungen verantwortlich. Die beste Information erhält man von den besser ausgebildeten Befragten. Im Jahre 1962 ließen Inkeri Anttila (1966) und Risto Jaakkola (1966) in Helsinki und Rovaniemi (Stadt und Land) 2 520 19jährige Rekruten bei ihrer Musterung zum Wehrdienst einen Fragebogen mit Fragen nach 20 verschiedenen Deliktsformen ausfüllen. Sie kamen im wesentlichen zu denselben Ergebnissen wie die anderen nordamerikanischen und skandinavischen Selbstberichtuntersuchungen. Die Hälfte ihrer Probanden hatte bis zu vier Delikte begangen. Aber weniger als 6 °/o von ihnen hatten mehr als 10 Delikte verübt. Anttila (1966) äußert die Auffassung, daß der ertappte Delinquent zum Sündenbock gestempelt wird. Denn die offizielle Reaktion wirkt sich als solche nicht allein negativ aus. Sie hat auch weitere schädliche Folgen: Der Delinquent verliert seinen Arbeitsplatz. Er wird gebrandmarkt, stigmatisiert. Er büßt seine Achtung und sein Ansehen in der Gesellschaft ein. Neben den Selbstberichtuntersuchungen entwickelten sich die Studien zum Opferwerden („Victimization Surveys") in den USA nur wenig später. Eine kriminologische Sachverständigenkommission, die „Kommission des Präsidenten zur Rechtsdurchführung und Justizverwaltung" (U.S. President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice) regte sie Anfang der sechziger Jahre an. Man wollte ein Meßinstrument schaffen, das die Kriminalitätsdaten — unabhängig von den Strafverfolgungsbehörden — unmittelbar und allein für statistische Zwecke erhebt (Primärstatistik) und das die Kriminalität aus der Sicht des Verbrechensopfers darstellt. Man führte zunächst drei Pilot-Projekte durch, um die Brauchbarkeit der entwickelten Fragebogen zu erkunden, um das Interviewverfahren genauer festzulegen und um überhaupt zu erfahren, ob man durch die Befragung einer Stichprobe der Bevölkerung nach ihrem kriminellen Opferwerden zu brauchbaren kriminalstatistischen Daten kommt. Man führte zwei örtliche Studien in Washington D.C. (Albert D. Biderman, Louise A. Johnson, Jennie Mclntyre, Adrianne W. Weir 1967) und in Boston und Chikago (Albert /. Reiss 1967) und eine Untersuchung auf nationaler Ebene (Philip H. Ennis

188

I I I . Kriminalität

1967) durch. Diese Pilot-Projekte hatten vor allem methodologischen Charakter. In der Studie auf nationaler Ebene ermittelte man z. B. eine Stichprobe von 9 644 Haushalten, die für die USA repräsentativ war. Man fragte einen Erwachsenen in jedem dieser Haushalte, ob der Haushalt oder eine Person innerhalb des Haushalts im letzten Jahr vor dem Interview Verbrechensopfer geworden war. Man umschrieb die einzelnen Straftatbestände in Umgangssprache. Wenn der Erwachsene die Raster-(Siebungs-)Frage bejahte, erkundigte man sich beim Verbrechensopfer nach den näheren Einzelheiten seines Opferwerdens: nach Tatort und -zeit, nach dem Täter, nach Ursachen und Folgen der Tat, nach entstandenen Schäden und Verletzungen, nach Änderungen im Lebensstil des Opfers nach der Tat. Man fragte ferner nach dem Sicherheitsgefühl des Opfers, nach seiner Verbrechensfurcht, nach seinen Einstellungen gegenüber der Kriminaljustiz und danach, ob es die Tat bei der Polizei angezeigt habe und warum es die Tatanzeige unterlassen habe, wenn es die Tat nicht gemeldet hatte. Die drei Pilot-Projekte waren „Marksteine" in der kriminologischen Forschung (Richard F. Sparks 1981 a, 4), weil sie die Gangbarkeit einer neuen Forschungsmethode aufzeigten und weil sie neue Einsichten brachten. Freilich wurden auch ungeahnte methodische Schwierigkeiten erkennbar. — Die ursprüngliche Annahme, daß kriminelles Opferwerden ein Ereignis sei, das wie Geburt, Tod und Eheschließung leicht erinnert werden könne, erwies sich als falsch. Man mußte schon nach dem Opferwerden in jüngster Zeit, in den letzten 6 bis 12 Monaten fragen, um brauchbare Antworten zu erhalten (Albert D. Biderman 1967). — Die Befragten verlegten — meist unbewußt — kriminelles Opferwerden, das sich außerhalb der Berichtszeit ereignet hatte, in die Berichtszeit hinein (sogenanntes „Telescoping"). Hierdurch wurden die Ergebnisse verfälscht (Biderman 1981). — Schließlich zeigte sich eine mangelnde Motivation vieler Befragten, für die die kriminellen Ereignisse keine große Bedeutung hatten oder die an sie nicht mehr erinnert werden wollten. Auch ein Interviewereffekt wurde deutlich. Manche Interviewer verstanden es, ihre Befragten zum Antworten zu motivieren, andere konnten das weniger gut. Die drei Pilot-Projekte brachten folgende Hauptergebnisse: — Das Dunkelfeld der verborgen gebliebenen Straftaten ist etwa doppelt so groß wie die offiziell registrierte Kriminalität. Sein Umfang ist bei den einzelnen Deliktsarten höchst unterschiedlich (vgl. Tabelle 2). — In großstädtischen Ballungsgebieten kommt die Gewaltkriminalität doppelt so häufig vor wie in Kleinstädten oder ländlichen Gebieten. — Das Mehrfachopferwerden, die Opferrückfälligkeit, ist selten. Von 3 296 Haushalten berichteten 72 % über kein Opferwerden, 19 % über einmaliges, 6 % über zweimaliges, 2 % über dreimaliges und 1 °/o über vier- und mehrmali-

189

Dunkelfeldforschung

ges Opferwerden (Ennis 1967, 40). Die Wahrscheinlichkeit des Opferwerdens wächst allerdings mit jeder erneuten Viktimisierung. — Etwa 25 % der befragten Opfer äußerten die Auffassung, daß sie selbst durch Fahrlässigkeit oder durch eigenes Verhalten zu ihrem Opferwerden beigetragen hätten (Biderman 1967, 24). Tabelle 2: Das Ausmaß des Dunkelfeldes bei ausgewählten Delikten in den USA in den Jahren 1 9 6 5 - 1 9 6 6 (N = 32 966) Deliktstypen

Studie über das Opferwerden (Vicimization Survey)

Polizeiliche Kriminalstatistik (Uniform Crime Reports = Einheitliche Kriminalitätsberichte)

Angaben auf 100 000 Einwohner Mord, Totschlag Vergewaltigung Raub Schwere Körperverletzung Einbruchsdiebstahl Diebstahl (über 50 U S - D o l l a r ) Autodiebstahl Insgesamt

3,0 42,5 94,0 218,3 949,1 606,5 206,2

5,1 11,6 61,4 106,6 605,3 393,3 251,0

2 119,6

1 434,3

Quelle: Philip H. Ennis: Criminal Victimization in the United States. Washington D . C . 1967, 8.

Vor der Einrichtung einer ständigen Befragung einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung nach ihrem Opferwerden wurden in den USA noch drei Voruntersuchungen durchgeführt, um den Fragebogen erneut zu verbessern und um herauszufinden, welcher Berichtszeitraum gewählt werden sollte (Richard W. Dodge 1981; Linda R. Murphy, Richard W. Dodge 1981; Anthony G. Turner 1981; Carol B. Kalish 1981; U.S. Department of Justice 1974). Man untersuchte ferner, ob das entwickelte Forschungsinstrument das Opferwerden auch tatsächlich erhebt (Frage der Validität). Man fragte Personen, die den Strafverfolgungsbehörden als Verbrechensopfer bekannt waren, nach ihrem Opferwerden und verglich ihre Angaben mit den bereits ermittelten Fakten. Legte man einen Berichtszeitraum von einem Jahr zugrunde, so konnte man 74 % des Opferwerdens, allerdings nur die Hälfte der Körperverletzungen und zwei Drittel der Vergewaltigungen richtig erfassen. Man experimentierte auch mit Telefoninter-

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III. Kriminalität

views und mit der V e r s e n d u n g von Fragebogen durch die Post, um die Befragungen möglichst kostengünstig zu gestalten. Im Jahre 1972 begann man dann mit einer ständigen bundesweiten D a t e n s a m m l u n g zum O p f e r w e r d e n in der Bevölkerung und mit einer weiteren davon unabhängigen Sammlung von Daten in den 26 größten Städten der USA. Eine U n t e r s u c h u n g z u m sexuellen O p f e r w e r den unternahm Berl Kutschinsky (1972) in D ä n e m a r k . Er befragte 198 M ä n n e r und 200 Frauen und kam zu folgenden Ergebnissen: Das Dunkelfeld ist bei geringfügigen Sexualdelikten äußerst hoch. Mit einer toleranteren Einstellung der Bevölkerung gegenüber Sexualverbrechen ändert sich auch ihre Anzeigebereitschaft. Sie zeigt nicht mehr so viele Sexualdelikte an, und diese Straftaten nehmen dann in der offiziellen Kriminalstatistik ab. Mit der Freigabe der P o r n o g r a phie, obszöner Darstellungen in D ä n e m a r k ging auch die Häufigkeit des sexuellen Mißbrauchs von Kindern zurück. Kutschinsky (1972, 126) erklärt sein Forschungsergebnis folgendermaßen: „Für die Mehrheit der T ä t e r war das sexuelle Vergehen an Kindern kein begehrtes Ziel, sondern ein armseliger (und schwer bedauerter) Ersatz f ü r ein bevorzugtes, aber unerreichbares normales heterosexuelles Erlebnis." Dieser Ersatz w u r d e durch einen anderen (die Pornographie) eingetauscht.

Methoden U m kriminelles Verhalten (im weiteren Sinne) zählen zu k ö n n e n , muß man es beobachten. D e n n die Beobachtung, die zielgerichtete und methodisch kontrollierte W a h r n e h m u n g von Ereignissen, ist die grundlegende Methode der D a t e n gewinnung in den Erfahrungswissenschaften. Es ist nun das Dilemma des Kriminologen, daß er Kriminalität (im weiteren Sinne) nicht unmittelbar und systematisch beobachten kann, weil sich Verbrechen meist im V e r b o r g e n e n ereignen, weil der T ä t e r meist alles daransetzt, damit sein kriminelles Verhalten verdeckt bleibt, und weil der Kriminologe zumindest moralisch verpflichtet ist, Straftaten, die sich noch ereignen sollen oder die gerade stattfinden, möglichst zu verhindern. Diese Bedenken richten sich vor allem gegen eine teilnehmende Beobachtung, bei der der Kriminologe z u m Zwecke der Beobachtung Teilnehmer an der zu beobachtenden Straftat ist. Sie gelten aber auch f ü r die nichtteilnehmende Beobachtung. So könnte ein Kriminologe z. B. hinter einer Einwegscheibe, hinter einer einseitig durchsichtigen Glaswand den U m f a n g des Ladendiebstahls in einem Kaufhaus ohne Wissen der Ladendiebe beobachten. M a n könnte auch eine versteckte K a m e r a zur A u f n a h m e delinquenten und kriminellen Verhaltens einsetzen. Gegen ein solches Vorgehen richten sich wissenschaftsethische Bedenken. Außerdem könnten auf diese Weise nur relativ häufig v o r k o m m e n d e , leichtere Delikte beobachtungsmäßig erfaßt werden. N e b e n der natürlichen Beobachtung kann man die künstliche Beobachtung (das Experiment) einsetzen, bei dem ein „kriminelles" Geschehen zum Zwecke seiner planmäßigen, geordneten Beob-

Dunkelfeldforschung

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achtung systematisch herbeigeführt wird (vgl. hierzu auch: Gwynn Nettler 1984, 5 0 — 6 5 ) . Zwei Beispiele werden für diese Vorgehensweise gegeben: — In den Selbstbedienungsläden eines großen Einzelhandelsunternehmens in Freiburg i. Br. hat Erhard Blankenburg ( 1 9 7 3 , 1 2 7 — 1 3 4 ) an Werktagen nachmittags zwischen 15 und 18 Uhr mit zwei „Dieben" und je einem Beobachter eine Serie von vierzig Ladendiebstählen durchführen lassen. Die Geschäftsleitung der Selbstbedienungsläden war unterrichtet und mit den Experimenten einverstanden. Das Personal der Selbstbedienungsläden hatte man nicht informiert. Ziel der Experimente war es, das Risiko kennenzulernen, mit dem ein Ladendieb bei „normalem" Vorgehen rechnen muß. Der „Diebstahl" wurde so ungeschickt ausgeführt, wie man es von einem ungeübten Dieb erwartet. Das Vorgehen der „Diebe" und der Beobachter war genau standardisiert. Die Waren, die eingekauft oder gestohlen werden sollten, waren vorgeschrieben. Die „Diebe" führten eine Aktentasche mit sich; sie waren „ordentlich", aber nicht elegant gekleidet. Unmittelbar anschließend an jedes Experiment füllten „Dieb" und Beobachter unabhängig voneinander ein standardisiertes Protokoll über den Vorgang aus. Von den vierzig Diebstählen wurde kein einziger entdeckt. 39 „Diebstähle" wurden erfolgreich ausgeführt. Bei einem „Diebstahl" gab der „Dieb" sein Vorhaben auf, da er sich beobachtet fühlte. Dieser „Diebstahl" wurde zwar nicht entdeckt, aber verhindert. Zwei Testdiebstähle wurden von anderen Kunden beobachtet. Keiner von beiden zeigte den „Dieb" an. — Während zweier Monate kauften fünf Kriminologen in Warschau werktäglich Lebensmittel in 272 Läden ein. Nach den Einkäufen wurden die Waren quantitäts- und qualitätsmäßig überprüft. Man verglich den wirklichen Wert der Waren mit den Preisen, die bezahlt worden waren. Von insgesamt 433 Einkäufen erwiesen sich 340 (79 °/o) für die Käufer als nachteilig. Die Quantität und die Qualität der Waren entsprachen nicht dem bezahlten Preis. Die Käufer waren übervorteilt (betrogen) worden (Jerzy Jasinski 1978 b). Für die Messung des Umfangs, der Art und der Entwicklung der Kriminalität sind solche unmittelbaren „künstlichen" Beobachtungen (Experimente) unzweckmäßig, weil sie zu aufwendig sind und zudem wissenschaftsethische Probleme aufwerfen. Das gebräuchlichste Verfahren der Kriminalitätsmessung ist — neben der offiziellen Kriminalstatistik — deshalb die indirekte, vermittelte Beobachtung, die Befragung einer möglichst repräsentativen Stichprobe von Personen nach ihrem Täterwerden (Selbstberichtuntersuchungen), nach ihrem Opferwerden (Untersuchungen zum Opferwerden) und nach ihrer Beobachtung des Täter- und Opferwerdens anderer Personen (Informantenbefragung). Es handelt sich hierbei um Primärstatistik, weil Zahlen für kriminalstatistische Zwecke unmittelbar erhoben werden. Der Dunkelfeldforscher befragt Menschen nach Straftaten, die sie entweder selbst begangen oder selbst erlitten oder selbst beobachtet oder in anderer Weise erfahren haben. Er geht also nicht von der

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