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German Pages 479 [484] Year 2004
Kriegsniederlagen Erfahrungen und Erinnerungen
Horst Carl / Hans-Henning Kortüm / Dieter Langewiesche / Friedrich Lenger (Hg.)
Kriegsniederlagen Erfahrungen und Erinnerungen
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Abbildung auf dem Einband: Trichterfeld in Flandern (Luftbild)
ISBN 3-05-004015-7
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2004 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.
Einbandgestaltung: milchhof : atelier, Hans Baltzer, Berlin Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Gedruckt in Deutschland
Inhalt
VORWORT
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HORST CARL/HANS-HENNING KORTÜM/DIETER LANGEWIESCHE/FRIEDRICH LENGER
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
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I. Historiographische und literarische Verarbeitungen EDITH FEISTNER UND MICHAEL NEECKE
Vom .Überlesen' der Niederlage: Das Rolandslied und seine Rezeption im Deutschen Orden 15 MATHIAS HERWEG
Ronceval und Montauban: Literarische Muster von Niederlagen und ihre Erinnerungsftmktion in deutschsprachigen Romanen des 15./16. Jahrhunderts
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FRIEDRICH LENGER
Eine Wurzel fachlicher Innovation? Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Volksgeschichte in Deutschland Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte
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DIETER LANGEWIESCHE
Der „deutsche Sonderweg" Defizitgeschichte als geschichtspolitische Zukunftskonstruktion nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg 57
vi
Inhalt
II. Lernprozesse und politische Instrumentalisierungen STEFFEN KRIEB
Vom Totengedenken zum politischen Argument: Die Schlacht bei Sempach (1386) im Gedächtnis des Hauses Habsburg und des südwestdeutschen Adels im 15. Jahrhundert
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HANS-HENNING KORTÜM
Azincourt 1415: Militärische Delegitimierung als Mittel sozialer Disziplinierung .... 89
JULIA MURKEN
Von „Thränen und Wehmut" zur Geburt des „deutschen Nationalbewußtseins" Die Niederlage des Russlandfeldzugs von 1812 und ihre Umdeutung in einen nationalen Sieg
107
NIKOLAUS BUSCHMANN
Niederlage als retrospektiver Sieg? Die Entscheidung von 1866 aus Sicht der historischen Verlierer
123
SONJA LEVSEN
„Heilig wird uns Euer Vermächtnis sein!" - Tübinger und Cambridger Studenten gedenken ihrer Toten des Ersten Weltkrieges
145
VANESSA CONZE
Die Grenzen der Niederlage: Kriegsniederlagen und territoriale Verluste im GrenzDiskurs in Deutschland (1918-1970) 163 OLGA NIKONOVA
„Der Kult des Heldenmutes ist für den Sieg notwendig" - Sowjetisches Militär und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges 185 BERNHARD CHIARI
Sieg in der Niederlage? Anmerkungen zu Geschichte und Mythos der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa)
201
Inhalt
VII
III. Religiöse Deutungsmuster HANNES MÖHRING
Der Traum von der „Großen Revanche" in populären Weissagungen des mittelalterlichen Orients und Okzidents
213
ANDREAS HOLZEM
Religiöse Semantik und Kirchenkrise im „konfessionellen Bürgerkrieg" Die Reichsstadt Rottweil im Dreißigjährigen Krieg
233
ANTON SCHINDLING
War ,1648' eine katholische Niederlage?
257
HORST CARL
„Strafe Gottes" - Krise und Beharrung religiöser Deutungsmuster in der Niederlage gegen die Französische Revolution 279
IV. Diskurse um Geschlecht und Ehre BIRTE FÖRSTER
Das Leiden der Königin als Überwindung der Niederlage Zur Darstellung von Flucht und Exil Luise von Preußens von 1870/71 bis 1933
299
MICHAEL HOCHGESCHWENDER
Ehre und Geschlecht: Strategien bei der Konstruktion nationaler Einheit nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg
313
SABINE KIENITZ
Der verwundete Körper als Emblem der Niederlage? Zur Symbolik der Figur des Kriegsinvaliden in der Weimarer Republik
329
Vili
Inhalt
V. Mediale Bearbeitungen GABRIELE HAUG-MORITZ
Zur Konstruktion von Kriegsniederlagen in den frühneuzeitlichen Massenmedien - das Beispiel des Schmalkaldischen Krieges (1547-1552) 345 ROLF REICHARDT
Zwischen Satire und Heroisierung: Bildpublizistische Verarbeitung von Revolutionsniederlagen in Frankreich 1793-1871
375
SUSANNE PARTH
Kriegsniederlagen in der deutschen Militärmalerei des 19. Jahrhunderts
401
ANNEGRET JÜRGENS-KIRCHHOFF
Niedergeschlagene Soldaten Die .Helden' des Ersten Weltkriegs in der bildenden Kunst
427
CLAUS LEGGEWIE
11. September 2001 - welche Niederlage? Notizen zur Entstehung eines globalen Erinnerungsortes
447
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN
465
AUTORINNEN UND AUTOREN
467
Vorwort
Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus zwei gemeinsamen Tagungen der Regensburger Forschergruppe Krieg im Mittelalter, des Tübinger Sonderforschungsbereiches Kriegserfahrungen und des Giessener Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen, die im Oktober 2002 und April 2003 in Regensburg und Tübingen stattgefunden haben. Alle drei Forschungsverbünde werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, die dadurch diese Tagungen erst möglich gemacht hat. Ihr gilt deshalb unser Dank ebenso wie den zahlreichen Helfern in Regensburg und Tübingen, die für einen äußerst angenehmen Rahmen sorgten. Für das inhaltliche Gelingen des Gemeinschaftsunternehmens schlechthin entscheidend aber waren einige auswärtige Kollegen, die sich freundlicherweise bereit erklärt hatten, die zu den beiden Tagungen schriftlich vorliegenden Beiträge, deren Zahl die der hier abgedruckten Aufsätze noch erheblich übertraf, referierend, kommentierend und kritisierend in die Diskussion einzubringen. Dafür gilt unser herzlicher Dank Johannes Burkhardt (Augsburg), Ute Frevert (Bielefeld/Yale), Friedrich Wilhelm Graf (München), Wolfgang Hardtwig (Berlin), Gerhard Hirschfeld (Stuttgart), Gert Melville (Dresden), Edgar Wolfrum (Heidelberg) und Peter Klein (Tübingen). In Regensburg hat zudem Trutz von Trotha (Siegen) unsere Diskussionen mit seinem Abendvortrag („Kriege der Niederlagen") stimuliert. Die Tagungsbeiträge in einen Sammelband zu verwandeln, war eine arbeitsintensive Aufgabe, der sich neben den Autorinnen und Autoren Florian Schnürer und Daniel Stange (Gießen) engagiert und zuverlässig angenommen haben. Ihnen gilt unser ganz besonderer Dank! Glessen, Regensburg, Tübingen im Februar 2004
Horst Carl Hans-Henning Kortüm Dieter Langewiesche Friedrich Lenger
HORST CARL/HANS-HENNING KORTÜM/DIETER LANGEWIESCHE/FRIEDRICH LENGER
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
1. Niederlagen - Erklärungsnot und Erkenntnisgewinn Krieg und Niederlage sind zwar in der Sprache des Alltags und der Wissenschaft gängige Worte, doch was sie bedeuten, hat sich im Laufe der Zeiten verändert und wird auch unter Menschen, die zur gleichen Zeit leben, höchst unterschiedlich ausgelegt. Nicht einmal auf den staatlich-militärischen Entscheidungs- und Kommandohöhen kann stets eindeutig bestimmt werden, wann ein Krieg begonnen und beendet wurde, welche Folgen er für Sieger und Besiegte hatte. Noch stärker variieren die Antworten, wenn man Menschen befragt, die ihn aktiv oder passiv, als Soldaten oder als Zivilisten ausführen und erleiden mussten. Wie sie den Krieg und die Niederlage wahrnehmen, muss mit den Wertungen derer, die für Kriegführung und -beendigung verantwortlich sind, nicht übereinstimmen. Und nicht zuletzt pflegen sich in der zeitlichen Distanz zum Ereignis Wahrnehmung und Bewertung erneut zu verändern. In der Erinnerung kann das Bild des vergangenen Krieges gänzlich neu gezeichnet werden, eine militärische Niederlage sich in einen politischen Sieg verwandeln. Beispiele dafür finden sich in diesem Buch. Im Kontext der Geschichtsschreibung ist es Reinhart Koselleck gewesen, der die These, dass die weiterreichenden Einsichten in die Geschichte nicht von den Siegern, sondern den Besiegten stammen, in seinem mittlerweile schon klassischen Essay über „Erfahrungswandel und Methoden Wechsel" formuliert hat.1 Die Unterlegenen geraten in größere Beweisnot, um die Niederlage zu erklären, und aus den ihnen aufgenötigten Erfahrungsgewinnen können „Einsichten entspringen, die von länger währender Dauer und damit größerer Erklärungskraft zeugen. Mag die Geschichte kurzfristig von Siegern 1
Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methoden Wechsel, Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten, Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, 27-77 (zuerst 1988).
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gemacht werden, die historischen Erfahrungsgewinne stammen - langfristig - von den Besiegten." 2 Für Koselleck ist das Feld dieser Erfahrungsgewinne vor allem die Historiographie, deren produktive Reflexionen bis hin zum Bruch mit der überkommenen Erfahrungsstruktur reichen können. 3 Ein solches „Umschreiben" stellt für ihn die innovativste Form, Geschichte zu schreiben, dar. Eine erste systematische Annäherung an die Möglichkeiten, Niederlagen eine narrative Struktur zu verleihen, wie dies die Literaturwissenschaft in Gestalt der zugrunde liegenden „plots" historiographischer Geschichtserzählungen analysiert, weist indessen auf eine noch sehr viel größere Bandbreite, Niederlagen zu reflektieren und zu verarbeiten, hin.4 Das Spektrum reicht dabei vom uneingeschränkten Eingeständnis der Niederlage bis hin zur konzessionslosen Bestreitung: „Es liegt keine Niederlage vor!", ja bis zum „Vergessen" der Niederlage, die überhaupt nicht mehr als solche erkannt, sondern nur noch als Sieg erinnert wird. Zwischen diesen beiden Polen des Erinnerns existiert ein weites Feld von Möglichkeiten, Niederlagen in eingeschränkter Form einzugestehen bzw. sie in eingeschränkter Form zu bestreiten. Im ersteren Falle, den man als Versuche, die Niederlage zu „überschreiben" deuten kann, handelt es sich beispielsweise um Argumentationsweisen, die den Nutzen der Niederlage für zukünftige Siege betonen, die Niederlage bagatellisieren, den Sieger unlauterer Mittel bezichtigen oder der Niederlage nur einen vorübergehenden Charakter zubilligen, der durch den rächenden Sieg korrigiert wird. Im letzteren Fall kann eine Niederlage mit Hinweis darauf bestritten werden, dass eine Schlachtenniederlage noch lange nicht bedeutet, den Krieg verloren zu haben, oder dass die hohen Verluste des Siegers den Sieg als Pyrrhussieg zweifelhaft machen. Ein solcher erster systematischer Aufriss eines Umgangs mit Niederlagen lässt die konstitutive Verschränkung der Zeitebenen für eine entsprechende Deutung von militärischen Ereignissen erkennen: Ohne die Perspektive auf eine wie auch immer geartete Zukunft macht eine Niederlage keinen Sinn und offeriert keine Handlungsorientierung. Gerade die Erfahrung der Unterlegenen, dass es anders gekommen ist als intendiert, erweitert tendenziell ihren Erwartungshorizont, 5 weil in ihrer Zukunftsperspektive sich die Notwendigkeit von Veränderung drängender geltend macht als auf Seiten der Sieger. Determiniert ist diese Lernrichtung allerdings nicht, wie im vorliegenden Buch Sonja Levsen am exemplarischen Vergleich deutscher und englischer Korpsstudenten nach dem Ersten Weltkrieg vorführt: In der Erinnerungskultur der englischen Studenten entwickelte sich eine sehr viel breitere Palette an Ausdrucksmöglichkeiten und Deutun-
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3 4 5
Ebd., 68; vgl. auch Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Der amerikanische Süden 1865 - Frankreich 1871 - Deutschland 1918, Berlin 2001, 15. Koselleck, Erfahrungswandel, 35. Vgl. den Beitrag von Feistner/Neecke im vorliegenden Band. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum" und „Erwartungshorizont" - zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, 349-375 (zuerst 1976).
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
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gen des Krieges als bei ihren deutschen Schicksalsgenossen, die in der Rhetorik der Erinnerungsrituale gleichsam Geiseln ihrer im Krieg gefallenen Kommilitonen blieben, die durch einen erneuten, dann siegreichen Krieg erlöst bzw. gerächt werden mussten.6 Die Deutung von Niederlagen und Versuche einer Sinnstiftung werden gleichermaßen diffus, wenn die noch einigermaßen eindeutige Perspektive des Feldherrnhügels verlassen wird. In der Perspektive derjenigen, die unter den Auswirkungen von Krieg zu leiden haben, kann die Frage nach Siegern und Besiegten und damit nach der konkreten Kriegsniederlage ihren Sinn verlieren, weil sich weder Sieger noch Besiegte identifizieren lassen. In der Lebenswelt frühneuzeitlicher „Zivilbevölkerung" konnten Kriegserfahrungen in einem solchen Maße von den Erfahrungen der Schutzlosigkeit und des Leidens geprägt sein, dass die Grenzen zwischen Niederlage und Katastrophe verschwammen. Folglich entsprachen aus dieser Opferperspektive die Deutungen von Kriegserfahrungen und Naturkatastrophen einander, und es waren religiöse Deutungsmuster wie das der Strafe Gottes, die hier noch Sinn stiften konnten.7
2. Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte Angesichts der vielfältigen heuristischen Chancen, die eine Beschäftigung mit dem historischen Phänomen „Niederlage" verspricht, überrascht es, dass bislang kaum der Versuch unternommen worden ist, diesem Phänomen eine über den Einzelfall hinausgehende Zusammenschau zu widmen oder gar den diachronen oder synchronen Vergleich zu wagen. Im Grunde genommen hat hier erst das jüngst erschienene Werk von Wolfgang Schivelbusch zur Verarbeitung der Kriegsniederlagen in den Nachkriegsgesellschaften der Vereinigten Staaten nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, Frankreichs nach dem verlorenen Krieg von 1871 und Deutschlands nach dem Ersten Welto krieg eine Bresche geschlagen. Vorher hat offenbar die immer noch starke 6
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Siehe dazu den Beitrag von Sonja Levsen im vorliegenden Band. Auch Koselleck hat für die Historiographie nachdrücklich betont, dass es keinen Automatismus gebe, wonach zwangsläufig jede von Besiegten geschriebene Geschichte die weiterreichenden Einsichten vermittele. Siehe Koselleck, Erfahrungswandel, 68. Benigna von Krusenstjern/Hans Medick (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe, Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1998; Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes, Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Münster 2001; Hartmut Lehmann/Manfred JakubowskiTiessen (Hg.), Um Himmels Willen, Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003. Vgl. dazu im vorliegenden Band die Beiträge zur Rolle religiöser Deutungsmuster für die Verarbeitung von Kriegsniederlagen von Hannes Möhring, Andreas Holzem, Anton Schindling und Horst Carl. Schivelbusch, Kultur der Niederlage; in eine vergleichbare Richtung zielen zwei jüngere Sammelbände, die gleichfalls ein wachsendes, grenzüberschreitendes Interesse an dieser Thematik dokumentieren: Otto Kraus (Hg.), „Vae Victis", Über den Umgang mit Besiegten, Göttingen 1998; Patrick Cabanel (ed.), Penser la défaite, Toulouse 2002.
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Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger
Verankerung der Geschichtswissenschaften in nationalgeschichtlichen Diskursen dazu geführt, dass sich Historiker zwar intensiv mit den jeweils eigenen, bisweilen traumatischen Niederlagen der nationalen Geschichte intensiv auseinandergesetzt, 9 aber kaum die Notwendigkeit gesehen haben, diese Thematik einer synchronen oder diachronen Vergleichsperspektive zu öffnen. Die Militärgeschichte wiederum hat sich Kriegsniederlagen vor allem gewidmet, um deren jeweilige Ursachen zu ergründen, wobei unausgesprochen stets die Intention mitgeschwungen hat, Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen - ohne dass die Autoren sich immer darüber im Klaren gewesen sind, dass dies schon Teil eines umfassenden Diskurses über die jeweiligen Niederlagen war. Offenbar hat es erst der Diskussion um Selbstverständnis und Praxis der Geschichtswissenschaft als historischer Kulturwissenschaft bedurft, um die Frage, wie Nachkriegsgesellschaften mit Kriegsniederlagen umgehen, auf die Agenda zu setzen, und die Einsicht, dass mit dem Ende der Kampfhandlungen ein Krieg noch längst nicht vorbei ist, in konkrete Fragestellungen und Forschungsprojekte umzusetzen. Das Programm einer „Kulturgeschichte des Krieges", wie dies jüngst von Anne Lipp skizziert worden ist, umfasst sowohl das Veränderungspotential von Kriegen für kulturelle Strukturen - beispielsweise die Auswirkungen auf gesellschaftliche oder nationale Selbst- und Fremdbilder - , wie auch den „gesamten Komplex der Kommunikation über den Krieg, den aktuell stattfindenden wie den gedachten oder den erinnerten." 10 Die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Kriegsniederlagen ist folglich genuines Terrain einer kulturgeschichtlichen Erweiterung der Militärgeschichte, und es ist kein Zufall, dass es Wolfgang Schivelbusch in seiner einschlägigen Monographie explizit um die „Kultur der Niederlage" geht. Der Umgang mit Kriegsniederlagen als Thema des vorliegenden Bandes erweist sich in ganz besonderem Maße als Probe aufs Exempel für die Tragfähigkeit, aber auch Innovativität einer solchen kulturhistorischen Erweiterung der Militär- und Kriegsgeschichte. Zugleich ist dies eine Thematik, die den langen Atem einer historischen Anthropologie geschichtlicher Zeiterfahrungen im Sinne Kosellecks und damit eine diachrone Perspektive geradezu fordert. Die Frage nach individuellen und kollektiven Deutungen von Kriegsniederlagen richtet sich ja nicht nur an die neuere Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern gleichermaßen an die älteren Epochen, in denen diese Thematik gleichermaßen noch nicht in angemessenem Maß behandelt ist. Im vorliegenden Sammelband ist der zeitliche Rahmen der Beiträge vom Frühen Mittelalter bis zum 11. September 2002 gespannt. Die hier versammelten Studien sind hervorgegangen aus Forschungsverbünden, denen verschiedene Kulturwissenschaften angehören, und die entweder in ihrer Gesamt9
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Programmatisch etwa bei Paul Lendvai, Die Ungarn, ein Jahrtausend Sieger in Niederlagen, München 1999. Anne Lipp, Diskurs und Praxis, Militärgeschichte als Kulturgeschichte, in: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn u. a. 2000, 212-227, hier: 214.
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
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heit oder in Teilbereichen einen kulturgeschichtlichen Zugang zum Thema Krieg erproben. In deren theoretischen Konzeptionen bilden die Kategorien Erfahrung und Erinnerung die zwei wesentlichen Pfeiler.11 Es geht jedoch nicht um eine stabile Statik, wie dieses Sprachbild vermuten lassen könnte, keine Pfeiler, die Vergangenheit in eindeutigen, allgemein geteilten Geschichtsbildern unverrückbar zementieren. Erfahrung und Erinnerung verflüssigen vielmehr das historische Beobachtungsfeld, indem sie es in perspektivischer Vielfalt ordnen. Wenn Ereignisse zu Erfahrung verarbeitet werden, wird das Geschehen, an dem man teilhat, individuell und kollektiv gedeutet. Doch was eine Gesellschaft gemeinsam erlebt und öffentlich verhandelt, wird nicht von allen in gleicher Weise erfahren. Das gilt auch für Krieg und Kriegsniederlage. Unterschiedliche Prägungen aus der Vorkriegszeit beeinflussen die Wahrnehmung des Krieges und seiner Ergebnisse ebenso wie die Position, in welcher der Einzelne dem Krieg ausgesetzt ist. Die Erinnerung verlängert diesen Prozess der Realitätsaneignung, die stets ein gestaltender Akt ist. Erinnerung verändert das Bild des vergangenen Krieges, indem es auf die eigene Gegenwart und die erwartete Zukunft ausgerichtet wird - ein offener Prozess, geprägt durch die Kriegsfolgen, die erneut nicht für alle gleich sind, so dass, wie Reinhard Koselleck mit Blick auf die beiden Weltkriege pointiert formuliert hat, kaum „minimale Gemeinsamkeiten kollektiver Bewußtseinsräume" zu erkennen sind und kein „durchgängiges und gemeinsames Kriegsbewußtsein der europäischen Nationen" entstehen kann.12 Das gilt jedoch nicht nur im Vergleich zwischen Nationen, sondern auch innerhalb ihrer „Bewusstseinsräume", die diachron und synchron kollektiv und individuell so verschiedenartig ausgestaltet blieben, dass Krieg und Kriegsfolgen, obwohl man sie als Glieder eines Staates gemeinsam erlebt und zu verantworten hat, höchst unterschiedlich erfahren und erinnert werden. Wer fragt, wie historische Ereignisse individuell und kollektiv wahrgenommen und diese Realitätsbilder dann in komplexen Prozessen der Aneignung und Umdeutung zu 11
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Zum Gießener SFB Erinnerungskulturen siehe insbes. die beiden Bände seiner Schriftenreihe Formen der Erinnerung Günther Oesterle, Erinnerungskulturen und ihre Theorie, Göttingen 2004 sowie Helmut Berding/KIaus Heller/Winfried Speitkamp (Hg.), Krieg und Erinnerung, Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; zur Regensburger DFG-Forschergruppe Krieg im Mittelalter siehe Hans-Henning Kortiim, Der Krieg im Mittelalter als Gegenstand der Historischen Kulturwissenschaften, Versuch einer Annäherung, in: ders. (Hg.), Krieg im Mittelalter, Berlin 2001, 13-43. Zum theoretischen Ansatz des Tübinger SFB Kriegserfahrungen siehe Nikolaus Buschmann/Horst Carl, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges, in: dies. (Hg.), Die Erfahrung des Krieges, Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2001, 11-26. In der Person von Mathias Herweg ist schließlich auch die von 1994 bis 2000 tätige Würzburger Forschergruppe Das Bild des Krieges im Wandel vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit im vorliegenden Sammelband präsent. Zu deren Programm und Forschungsertrag vgl. Horst Brunner u. a., Dulce bellum inexpertis, Bilder des Krieges in der deutschen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 2002. Reinhart Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein (1992), in: ders., Zeitschichten, 265-284, hier: 274.
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konkurrierendem Erfahrungswissen verarbeitet und in umkämpfte Erinnerung überführt werden, trägt dazu bei, der Vergangenheit ihre Offenheit zurückzugeben. Die Vielfalt, die dieser Blick in die Geschichte sichtbar macht, sperrt sich gegen die Nötigung zur Einigkeit im Denken und Handeln, die in Zeiten des Krieges besonders massiv auf der Gesellschaft lastet und im Angesicht der Niederlage noch verstärkt werden kann. Eine Geschichtsschreibung, die auch für die Zeit existentieller Bedrohung die Vielstimmigkeit in der Wahrnehmung des Geschehens und der daraus abgeleiteten Handlungsanleitungen auslotet, verweigert sich einlinigen Deutungen des Krieges und seiner Folgen. Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte rücken nicht ein bestimmtes Bild vom Krieg in den Mittelpunkt, sondern die Auseinandersetzungen, in denen es entsteht und sich verändert. Geschichtsbilder sind stets Ergebnisse gesellschaftlicher Machtkämpfe. Für Bilder vom Krieg gilt dies in gesteigertem Maße, weil im Krieg die Existenz von Staaten, von Kollektiven und von Individuen auf dem Spiel steht und der Ausgang des Krieges zur Debatte stellt, ob die Vergangenheit künftig neu gedeutet werden soll, um andere Wege in die Zukunft freizugeben.
3. Welche Niederlagen - welche Kriege? Menschen nehmen den Krieg unterschiedlich wahr, doch ihre individuellen Erfahrungsräume sind begrenzt durch die Arten von Kriegen, die sie kennen - sei es aus eigenem Erleben, aus Berichten anderer oder aus der Geschichte, wie auch immer sie vermittelt wird. Dieses Wissen steckt den Rahmen ab, in dem sich Kriegserfahrungen entwickeln können. Er ist historisch bedingt, also offen für Veränderungen. Wahrnehmung und Deutungen von Kriegsniederlagen sind folglich Bestandteil jener Kriegserfahrungen, die zugleich etwas über die Arten und Weisen von Kriegen aussagen, denn der diskursive Umgang mit Kriegsniederlagen enthält stets Aussagen über die jeweilige Form von Krieg. Diese Aussage ist weniger trivial, als es zunächst erscheint, weil ihr gerade in aktuellen Kontexten besondere Bedeutung zukommt. Derjenige Beitrag, der sich im vorliegenden Sammelband mit dem aktuellsten Thema, den Deutungen des 11. Septembers 2001, befasst, kommt jedenfalls zu einem recht irritierenden Fazit: 13 Der Terroranschlag werde zwar als Krieg gedeutet, die verheerenden Effekte jedoch nicht als Niederlage eingestanden. Ein neuer Typ kriegerischer Auseinandersetzung so die These - habe auch Konsequenzen für die Perzeption von Niederlagen. In dieser Perspektive aber gewinnt gerade der historische Zugriff auf vormoderne Kriegserfahrungen und Erinnerungskulturen selbst an Aktualität. Ein Rekurs auf das Mittelalter erlaubt hier ein tieferes historisches Verständnis. Die sogenannten „Neuen Kriege" zeigen dann in typologischer Perspektive das aus den „alten Kriegen" vertraute. 13
Siehe dazu den Beitrag von Claus Leggewie, 11. September 2001 - welche Niederlage? Notizen zur Entstehung eines globalen Erinnerungsortes.
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
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Der Staat als Monopolherr des Krieges ist - mit Vorläufern im Spätmittelalter und auch in der Antike - eine neuzeitliche Erscheinung, völlig durchgesetzt hatte sie sich nie, doch das, was in der Frühen Neuzeit erreicht worden war, verfällt nun wieder 14 - ein dramatischer Wandel, der Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzte. Die Zahlen sind eindeutig.15 Gegenwärtig lassen sich diese gleitenden Übergänge und die Versuche von Staaten, sie aufzuhalten, in den Medien täglich beobachten. Die Ereignisse des 11. September 2001 sind zum dramatischen Symbol dieser Situation geworden, in der Krieg nicht mehr das sein muss, was er dort, wo das staatliche Gewaltmonopol in einem Jahrhunderte währenden Prozess durchgesetzt werden konnte, gewesen ist. Wenn der Präsident der USA den Terrorangriff des 11. September 2001 auf New York und Washington den „Krieg des 21. Jahrhunderts" nennt und für die Gegenwehr, die er damals ankündigte, Kooperationsangebote vieler Regierungen, einschließlich der russischen, erhielt, so darf diese alle ideologischen und machtpolitischen Gegensätze übergreifende Gemeinsamkeit als ein Versuch verstanden werden, das staatliche Kriegsmonopol zurückzugewinnen, zumindest aber zu erzwingen, dass die neue Form des Krieges innerstaatlich begrenzt bleibt auf den gewaltsamen Konflikt zwischen der Staatsgewalt und einem inneren Feind. Denn das ist das Neue an den Ereignissen vom 11. September 2001: Eine nichtstaatliche Gruppe überzieht nicht den eigenen, sondern einen fremden und dazu noch 14
15
Überblicke über die Ausbildung moderner Staatlichkeit und die damit einhergehende Verstaatlichung des Krieges, aber auch Hinweise zu der neuen Entwicklungstendenz, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts diesen Prozess der Monopolisierung von Kriegsgewalt beim Staat rückgängig macht, bieten u. a.: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 2000; Martin van Creveld, The Rise and Decline of the State, Cambridge 1999. Außerordentlich anregend dazu: Trutz von Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika, Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der ParaStaatlichkeit, in: Leviathan 28 (2000), 253-279. Ebenfalls mit Rückgriff auf die „alten Kriege" - hier auf den Dreißigjährigen - , um die „neuen" zu verstehen: Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002. Scharfe Kritik gegenüber denen, die die Kleinkriege der Gegenwart als neue Kriege verstehen (auch an Münkler u. von Trotha): Klaus Jürgen Gantzel, Neue Kriege? Neue Kämpfer? Universität Hamburg, Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Arbeitspapier 2/2002 (per Internet zugänglich bei der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung: siehe Anm. 15). Vgl. zum Folgenden auch Dieter Langewiesche, Zum Wandel von Krieg und Kriegslegitimation in der Neuzeit, in: JMEH 2 (2004) (im Druck). Vgl. mit dem Datenmaterial und der Fachliteratur insbes. Klaus Jürgen Gantzel/Torsten Schwinghammer, Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992, Daten und Tendenzen (Kriege u. militante Konflikte, Bd. 1), Münster 1995; Klaus Jürgen Gantzel: Tolstoi statt Clausewitz!? Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Krieg seit 1816 mittels statistischer Beobachtungen, in: Reiner Steinweg (Red.), Kriegsursachen (Friedensanalysen 21), Frankfurt a. M. 1987, 25-97. Fortlaufende Informationen geben die jährlichen „Konfliktbarometer" des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung e.V. (http://www.hiik.de), sowie die Bände der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/ Ipw/Akuf/index.htm); siehe zuletzt: Wolfgang Schreiber (Hg.), Das Kriegsgeschehen 2002, Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte, Opladen 2003.
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Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich
Lenger
räumlich weit entfernten Staat mit Gewalthandlungen, die beide Seiten als Krieg verstehen, und sie droht damit, dies auch künftig global zu tun, wo immer sie Feinde erkennt. Der asymmetrische Krieg zwischen einer staatlichen und einer nichtstaatlichen Macht, der nach 1945 weltweit zur Normalform des Krieges geworden ist - dieser kriegerische Haupttypus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts droht nun vom innerstaatlichen Krieg zum globalisierten Krieg auszugreifen. Deshalb sind Staaten ganz unterschiedlicher Herrschafts- und Werteordnungen bereit, den militärischen Einsatz der USA zu akzeptieren oder zumindest hinzunehmen. Die Fähigkeit einer nichtstaatlichen Macht, global Krieg gegen Staaten zu führen, soll verhindert werden. Die Globalisierung des Krieges und der Kriegsgefahr stellt die Fähigkeit der Menschen, das Kriegsgeschehen zu erinnern und in Erfahrung zu verwandeln, vor neue Herausforderungen. Von daher scheint eine Bestandsaufnahme, die weitgehend auf die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges konzentriert ist, sinnvoll. Seither werden Erfahrung und Erinnerung zunehmend globalisiert, aber keineswegs vereinheitlicht. 16 Auch dazu bietet dieses Buch Analysen. Doch nicht nur der Krieg gewinnt eine neue Gestalt im Vergleich zu den Kriegen, an denen zumindest die Menschen, die in institutionell voll ausgebauten Staaten leben, seit vielen Generationen ihre Vorstellungen geschult hatten. Auch Sieg und Niederlage verändern ihre frühere Bedeutung. Sieg und Niederlage erkennen und in ihren Wirkungen einschätzen zu können, ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dazu gehört, die räumliche und zeitliche Begrenzung von Kriegen identifizieren zu können. Wenn Kriege um Territorien geführt werden, sind der Gegner und die Kriegsziele bekannt und jeder kann beurteilen, was erreicht wurde und von wem, sofern Beginn und Ende des Krieges zu erkennen sind. Wenn aber Kriegshandlungen geographisch nicht zu verorten sind, weil die nichtstaatliche Gruppe, die sie ausübt, territorial ungebunden ist, nicht um ein Territorium kämpft und auch ihre Feinde nicht genau benennt, dann bleibt der potentielle Kriegsraum grundsätzlich unbestimmt. Unbestimmt sind in einem Krieg, in dem die eine Seite geographisch unverortet bleibt und nur sporadisch Gewalt ausübt, auch Kriegsdauer und Kriegsende. Niemand weiß, ob dieser Feind, den man nicht exakt lokalisieren kann, weiterhin zur Gewalt fähig ist, und wann und gegen wen er sie ausüben wird. Ein Krieg, von dem nicht bekannt ist, ob er zu Ende ist oder nicht, hat auch keine Sieger und Besiegte, denn die Entscheidung über Sieg und Niederlage bleibt für alle Seiten offen. Weder auf den Kommandohöhen noch in den Niederungen der Befehlsempfänger, wo die Haut zu Markte getragen werden muss, weiß man, ob weitere Gewaltakte verübt werden können, und wo und gegen wen. Die Möglichkeit eines globalen „Kriegstheaters", in dem grundsätzlich jeder zum Beteiligten werden kann, ist historisch neu, nicht jedoch der Krieg ohne Staatsmonopol. Ebenfalls nicht neu sind Kriege, in denen die Menschen, die ihn erlitten, Feind und Freund, Kombattanten und Nichtkombattanten nicht präzise unterscheidea In dieser 16
Vgl. dazu zuletzt Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker Erinnerungskulturen, Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt a. M. 2003.
(Hg.),
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
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Sicht können auch Sieg und Niederlage ihre zentrale Bedeutung verlieren. Der Krieg an sich erscheint dann als Katastrophe, nicht die Niederlage. Es ist schon darauf verwiesen worden, dass für diese Art von Kriegserfahrungen gerade diejenigen Beiträge des vorliegenden Bandes, in denen religiöse Deutungen von Niederlagen in Mittelalter und Früher Neuzeit thematisiert werden, Beispiele bieten.
4. Zur Gliederung des Bandes Die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschungsverbünde, deren Kooperation den vorliegenden Band ermöglicht hat, bringt es mit sich, dass die Autoren unterschiedliche Fächer repräsentieren - Historiker, deren zeitliche Ausrichtung vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte und deren spezielle Kompetenz von Kirchengeschichte bis zu osteuropäischer und zu nordamerikanischer Geschichte reicht, Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker sowie Politologen. Dass dies einen durchaus experimentellen Zuschnitt besitzt, lässt sich daran ersehen, dass selbst ein Neurowissenschaftler an der Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist, beteiligt war - was wiederum zeigt, welch unterschiedliche disziplinäre Zugangsweisen die Frage nach der Verarbeitung von Kriegsniederlagen zulässt oder sogar herausfordert. Die Beiträge resultieren jeweils aus sehr spezifischen, kulturhistorisch orientierten Forschungen der Autoren, in denen Krieg thematisiert wird, Kriegsniederlagen jedoch kein spezielles Thema sind. Die Autoren haben deshalb für diesen Band jeweils ihr empirisches Material auf die Bedeutung von Kriegsniederlagen befragt. Daraus resultiert keine systematische Behandlung des Gegenstandes, und eine solche Systematik ist - weil verfrüht - auch keine Vorgabe für eine solche Kooperation gewesen. Vielmehr sollten unterschiedliche Aspekte bzw. Zugänge präsentiert und diskutiert werden, die das thematische Spektrum und den Erkenntnisgewinn der Frage nach der Deutung und Bedeutung von Kriegsniederlagen ausmessen können. Dies betrifft auch die Offenheit des Umgangs mit Niederlagen, die keineswegs automatisch konstruktives Lernen provozierten, indem die Erfahrung von Krieg und Niederlage in einen langfristig wirksamen Einstellungswandel umgesetzt wurden, der neue Wege beschreiten ließ. Eine solch tröstliche Botschaft halten die Studien, die in diesem Band zu lesen sind, jedenfalls nicht durchweg bereit. Es gab auch Niederlagen, welche die Überlebenden gewissermaßen in Geiselhaft nahmen als Unterpfand für die Bereitschaft zum Revanchekrieg. Nicht die Niederlage an sich erzeugt Erfahrungsgewinn, sondern die Art, wie die Nachkriegsgesellschaft mit ihr umgeht. Was dafür bedeutsam sein kann, untersuchen die Aufsätze dieses Bandes für einen weiten Zeitraum in fünf ausgewählten Aspekten, denen die Gliederung des Bandes folgt. Im ersten Teil (Historiographische und literarische Verarbeitungen) werden jeweils literarische und historiographische Diskurse präsentiert, in denen es um die Frage geht, welche narrativen Strategien und Erinnerungsmuster bei der Darstellung prominenter
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Horst Carl/Hans-Henning Kortiim/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger
Niederlagen gewählt werden bzw. welche Rolle Niederlagen für die von Koselleck behaupteten historiographischen Innovationen besitzen. Der Befund gerade für letzteres unterstreicht, dass es keineswegs einen Automatismus gab, wenn etwa nur eine Minderheit der deutschen Historiker nach 1918 einen - wie auch immer bewerteten Paradigmenwechsel vollzog und die Kategorie „Volk" an die des „Staates" setzte.17 Der zweite Teil {Lernprozesse und politische Instrumentalisierung) widmet sich einer nahe verwandten Themenstellungen, lässt sich die Analyse historiographischer und literarischer Verarbeitungen von Kriegsniederlagen doch systematisch kaum sauber von der generellen Frage nach den im Gefolge von Kriegsniederlagen zu beobachtenden Lernprozessen und politischen Instrumentalisierungen trennen. Die hier versammelten Beiträge setzen allerdings den Akzent stärker auf den Aspekt der Handlungsorientierung, den Deutungen und Umdeutungen von Niederlagen im politischen Diskurs beinhalteten. Dass derartige Instrumentalisierungen seit dem 19. Jahrhundert immer stärker im Namen der Nation vorgenommen wurden - wenngleich dies schon dem Spätmittelalter nicht gänzlich fremd gewesen ist -, 1 8 überrascht nicht, ohne dass deshalb „kollektive Erinnerung" grundsätzlich als „genealogisch mit der Codierung nationaler Identität verbunden" angesehen werden müsste.19 Vielmehr zeigen gerade die Beiträge zur Umbruchszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert die Grenzen des neuen Deutungsmusters, während sich umgekehrt ältere, religiöse Interpretamente noch lange behaupten konnten.20 Die Analyse religiöser Deutungsmuster steht deshalb im Mittelpunkt des dritten Teils. Für eine lebensweltliche Bewältigung der Folgen von Krieg und Kriegsniederlage blieben sie unverzichtbar, und ihre Eigenständigkeit und Tragfähigkeit barg ein Potential, das sich politischen Parteinahmen und Eindeutigkeiten immer wieder verwei21
gerte. Die Auswahl des Themenfeldes religiöse Deutungsmuster folgt dabei weniger systematischen Gründen, als vielmehr der Tatsache, dass dies ein Gegenstand ist, der in jüngster Zeit in besonderem Maße das Interesse kulturhistorischer Forschungen zum Krieg gefunden hat. Ähnliches gilt für die beiden abschließenden Teile Diskurse um Geschlecht und Ehre sowie Mediale Verarbeitungen. Auch hier handelt es sich jeweils um Themenfelder und Kategorien, die Schwerpunkte neuerer Forschungsansätze sind. Welches heuristische Potential die Kategorie „gender" bereit hält, dürften die Beiträge, die die geschlechtergeschichtlichen Dimensionen der Erinnerungsstrategien im Umgang mit Kriegsniederlagen offen legen, auch Skeptikern deutlich machen. Die Frage nach dem Wandel der medialen Be- oder Verarbeitung von Niederlagen, der sich der letzte 17 18 19
20 21
Vgl. dazu die Beiträge von Friedrich Lenger und Dieter Langewiesche. Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Henning Kortiim. So Andreas Langenohl, Erinnerung und Modernisierung, Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Russland, Göttingen 2000, 21; vgl. auch ebd., 31. Vgl. dazu den Beitrag von Horst Carl. Vgl. dazu jeweils die Beiträge von Andreas Holzem und Anton Schindling zum Dreißigjährigen Krieg.
Krieg und Kriegsniederlage - historische Erfahrung und Erinnerung
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Teil widmet, bedarf einer solchen petitio indessen nicht, denn gerade das im kollektiven Gedächtnis überaus präsente Bild des 11. Septembers 2001 lenkt den Blick auf die mediale Vermittlung und speziell die ikonisierten Formen von Kriegsniederlagen. Diese Gliederung erhebt folglich ebenso wenig einen systematischen Anspruch wie der vom Mittelalter bis in die Gegenwart reichende Band versucht, die behandelten Epochen umfassend abzudecken. Die Herausgeber hoffen jedoch, dass die hier versammelten Beiträge zum Nachdenken darüber anregen, wie sich der Wandel der Erinnerungsweisen von Kriegsniederlagen zum Wandel des Krieges verhält, welchem Wandel die verschiedenen Deutungsmuster im zeitlichen Verlauf unterworfen waren und wie sich diese zum Wandel ihrer medialen Verbreitung und Bearbeitung verhalten. In einer Zeit, in der sich sowohl die Form des Krieges und die Bedeutung der Niederlage als auch - durch die seit den späten 1980er Jahren zu beobachtende fortschreitende Globalisierung des Holocaust-Gedenkens - die Erinnerungskulturen rapide verändern, scheint ein solches Nachdenken sinnvoll.22
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Vgl. nur Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001.
I.
Historiographische und literarische Verarbeitungen
EDITH FEISTNER/MICHAEL NEECKE • ·
Vom ,Uberlesen' der Niederlage: Das Rolandslied und seine Rezeption im Deutschen Orden
1. Problemstellung und Vorgehensweise Im Jahr 778 erlitt die Nachhut des Heeres Karls des Großen bei der Rückkehr vom zunächst erfolgreichen Spanienfeldzug eine Niederlage.1 Diese Niederlage ist, so empfindlich sie gewesen sein mag, aus historischer Sicht alles andere als ein zentrales oder gar typisches Ereignis in der Regierungszeit des Kaisers. Genau dieser Eindruck wird aber in der französischen Rolandslied-Tradition und, bei allen Unterschieden, auch in den deutschen Rolandslied-Bearbeitungen erweckt. Mittelalterliche Dichtung und mittelalterliche Geschichtsschreibung stehen jedoch, was den Umgang mit der Niederlage von 778 angeht, nicht einfach neben- bzw. gegeneinander, zumal seit im Zuge der Kreuzzugsbewegung die Kontextualisierung von Karls Spanienfeldzug als reconquista eine aktuelle Schnittstelle zwischen beiden Bereichen produziert hat. So wirkte die in der französischen bzw. deutschen Rolandslied-Tradition .vergrößerte' und gleichzeitig .verarbeitete' Niederlage ab der Mitte des 12. Jahrhunderts auf die Chronistik und die Karlsbiographik ein und rief nicht nur in der spanischen Epik und Geschichtsschreibung des 12./13. Jahrhunderts die entsprechenden Gegenreaktionen der .Sieger' hervor, sondern konnte, wie der Fall der Rolandslied-Rezeption im Deutschen Orden zeigt, als tertium comparationis auch auf ganz andere, von der Karlsgeschichte unabhängige chronikalische Kontexte bezogen werden.
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Zum historischen Ereignis vgl. Kurt Kloocke, Joseph Bédiers Theorie über den Ursprung der Chansons de geste und die daran anschließende Diskussion zwischen 1908 und 1968 (Göppinger Akademische Beiträge 33/34), Göppingen 1972, 301-307. Hans Wilhelm Klein (Hg.), La chanson de Roland (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 3), München 1963; Dieter Kartschoke (Hg.), Rolandslied des Pfaffen Konrad (Reclams UniversalBibliothek 2745), Stuttgart 1993.
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Edith Feistner/Michael Neecke
Die Perspektiven auf die Niederlage von Roncesvalles sind einer genaueren Betrachtung wert, und zwar nicht nur in gattungsimmanentem, sondern ebenfalls in Gattungsgrenzen überschreitendem Sinn. Dann lässt sich auch die Reichweite des kollektivpsychologisch-archetypischen Musters präziser fassen, mit dem vor allem in der romanistischen chanson de gesie-Forschung die Entfernung der légende épique vom historischen Ereignis erklärt wird:3 Dieses Erklärungsmuster kann zwar - und insofern ist es durchaus auch in unserem Zusammenhang von Interesse - den kleinsten gemeinsamen Nenner abdecken, von dem aus eine Heroisierung der Niederlage offenbar überhaupt erst verhandelbar war. Das darauf aufbauende Spektrum kontextspezifischer Varianten des interessegeleiteten Überschreibens und Umschreibens der Niederlage wird durch ein archetypisch fundiertes Erklärungsmuster hingegen naturgemäß nicht erfasst. Im Zusammenhang mit unserer Frage nach den Spielräumen im Umgang mit der Niederlage sind aber gerade derartige Zeugnisse der Rolandslied-Rezeption wichtig, weil sie die Weiterverarbeitung eines ihnen gemeinsam zugrundeliegenden Bewältigungsmodells dokumentieren. In der Folge stellen wir zunächst das vom konkreten Fall abstrahierende Modell einer Skalierung vom Eingeständnis über die Bestreitung bis hin zum .Vergessen' der Niederlage vor. Auf der Skala sollen dann die Oxforder Fassung der Chanson de Roland und das Rolandslied des Pfaffen Konrad (bzw. des Strickers) als Repräsentanten der Rolandslied-Tradition verortet werden, bevor schließlich die Verschiebungen auszuloten sind, die im Zuge der Rolandslied-Rezeption mit dem Export des epischen Textes in andere Kontexte einhergehen. Dabei wird nach einem Seitenblick auf die RolandsliedRezeption in mittelalterlichen Karlskompilationen die Rolandslied-Rezeption im Deutschen Orden, insbesondere in Jeroschins Kronike von Pruzinlant, im Vordergrund stehen. Während die Texte der Rolandslied-Tradition die Niederlage in je unterschiedlicher Weise .überschreiben', löst Jeroschin das Erzählmuster des Rolandslieds aus der ursprünglichen historischen bzw. heldenepischen Einbettung (cycle du roi) heraus und überträgt dieses Muster in die eigene, von der Geschichte des Deutschen Ordens erzählende Chronik. Um diesen literarischen Transfer von dem oben genannten .Überschreiben' der Niederlage unterscheiden zu können, bezeichnen wir diese Applikation des rolandinischen Erzählmusters als .Überlesen' der Niederlage.
3
Vgl. Ilse Nolting-Hauff, Zur Psychoanalyse der Heldendichtung, Das Rolandslied und die einfache Form „Sage", in: Poetica 10 (1978), 429-468.
Vom, Überlesen ' der
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Niederlage
2. Skalierungsmodell Die auf eine Niederlage bezogene Erinnerungsarbeit beginnt mit der (auch im überindividuellen und deshalb scheinbar .objektiv' bilanzierbaren Kriegsfall) durchaus nicht selbstverständlichen Wahrnehmung der Niederlage als solcher und endet mit dem Vergessen dieser Niederlage. Die zwischen Wahrnehmung und Vergessen eingespannte Erinnerungsarbeit lässt sich mit Blick auf die Akzeptanz der Niederlage und die damit zusammenhängenden Interpretationsstrategien folgendermaßen idealtypisch skalieren. (Die den einzelnen Stufen zugeordnete Subskalierung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.)
WAHRNEHMUNG DER NIEDERLAGE
Φ
Uneingeschränktes Eingeständnis: Ja, es liegt eine Niederlage vor: Die Überlegenheit des Gegners wird ebenso klar beschrieben wie die eigene Unterlegenheit. Überschreibung
Φ
Eingeschränktes Eingeständnis: Ja, es liegt eine Niederlage vor, aber... • wir haben aus ihr gelernt und sind in Zukunft desto besser gewappnet (Nützlichkeitsargument) ; • sie betrifft nur einen Nebenschauplatz (Bagatellisierung); • sie hat sich unverschuldet eingestellt (Argument der .höheren Gewalt'); • sie konnte uns nur mit unlauteren Mitteln zugefügt werden, ist also eher Dokument unserer Stärke als der des Gegners („Dolchstoßlegende"); • wir haben sie nachträglich wieder wettgemacht (Argument des RacheErfolgs). Umschreibung
Φ
Eingeschränkte Bestreitung: Nein, es liegt keine Niederlage vor, aber... • der Sieg ist noch nicht erreicht (Hängepartie); • der Sieg hat uns einen hohen Preis gekostet (Pyrrhus-Sieg). Uneingeschränkte Bestreitung: Nein, es liegt keine Niederlage vor: Die Niederlage wird als ungerechtfertigte Behauptung explizit .widerlegt' und statt dessen als Sieg beschrieben.
Φ
VERGESSEN DER NIEDERLAGE
Die Niederlage wird - wenn überhaupt - nur noch als Sieg erinnert.
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Edith Feistner/ Michael Neecke
Bei der Übertragung auf den konkreten Fall ist zu zeigen, welche Stufen aktualisiert bzw. übersprungen werden.
3. Der Spielraum des Epos (Chanson de Roland, Rolandslied) Das Heldenepos vom Typ der chanson de geste hat eine ambivalente Affinität zur Niederlage. Es braucht, ja liebt die Niederlage (weit mehr als den spannungsarmen triumphalen Sieg) und kann sie doch als solche nicht gelten lassen: Die Niederlage stellt hier den Rohstoff für eine heroisierende Überschreibung dar. Gattungslogisch situiert sich also das Heldenepos im obigen Modell auf der Stufe des eingeschränkten Eingeständnisses, genauer gesagt: auf der Stufe einer deutlich kompensatorischen Distanzierung von der Niederlage. Schwächer distanzierende Einschränkungen, die sich weniger auf die Niederlage selbst und auf den eigenen Anteil an ihr beziehen als auf die Relevanz der Niederlage (vgl. die im obigen Modell erstgenannten Punkte: das Argument vom nützlichen Lerneffekt der Niederlage und die Bagatellisierung), gehören nicht ins Muster heldenepischen Erzählens. Anders verhält es sich jedoch mit den in der Skala folgenden Überschreibungsverfahren, durch die die Niederlage 1.) als nicht selbstverschuldet hingestellt wird, 2.) zu einem auf .normalem' Weg überhaupt nicht erzielbaren Resultat unlauterer Machenschaften erklärt wird und 3.) schließlich noch als nachträglich gerächt, d. h. wieder wettgemacht, erscheint. Dieser spezielle Teilbereich einer kompensatorischen Distanzierung von der Niederlage ist, wie Chanson de Roland und Rolandslied zeigen, das klassische Feld der epischen Arbeit an der Niederlage, und bezeichnenderweise wird gerade hier durchweg mit unhistorischen .Daten' operiert: Die angeblich 20-fache Überzahl der Gegner nimmt von der geschlagenen Nachhut des Heeres jede Schuld und heroisiert im Gegenteil den langen, hartnäckigen Widerstand. Die teuflische Hinterhältigkeit der Gegner macht aus den Geschlagenen moralische Sieger, zumal sie der (unhistorische) Verrat von Karls Vasall Ganelon zusätzlich aus der Kollektivverantwortung entlässt. Und der (unhistorische) Rachefeldzug des Heeres unter Karls Führung rückt am Ende die Verhältnisse wieder zurecht. Diese Überschreibungsverfahren waren aufgrund ihrer kompensatorischen Leistungsfähigkeit offenbar attraktiv genug, dass man in Kauf nahm, wenn dadurch aus einer faktisch randständigen Niederlage eine .große Geschichte' wurde - und diese .große Geschichte' dann auch ein entsprechend großes Siegesbewusstsein auf der Gegenseite produzieren konnte. Letzteres zeigt die Reaktion auf die epische Legendenbildung in der Primera Crònica General de España (s. u.).
Vom, Überlesen ' der Niederlage
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4. Verschiebungen des Spielraums bei der Rezeption des Epos in anderen Gattungskontexten
4.1 Rolandslied-Rezeption in Karls-Kompilationen Bei der Rezeption des französischen und deutschen Rolandslieds in Gattungen mit chronikalischem bzw. .biographischem' Anspruch wurde das heldenepische Überschreibungsmuster nicht nur verschoben, sondern reflektiert, und zwar sowohl auf spanischer Seite als auch auf französischer und deutscher. Auf spanischer Seite ist die Explizitheit dieser Reflexion allerdings besonders scharf, weil die epische Legendenbildung ja den eigenen, spanischen Herrschaftsraum quasi kolonisiert hat und der unhistorische Charakter der heroisierenden Überschreibung hier ganz klar gesehen werden konnte. Die Primera Crónica General de España (bis 1289) hält aber nicht nur mit beißendem Spott dagegen, indem sie die bei Franzosen und Deutschen kursierenden fablas de gesta als völlig unglaubwürdig brandmarkt und in Karls spanischer Niederlage geradezu schwelgt. 4 Sie reflektiert auch beachtlich souverän die Schwierigkeiten der Gegenseite im Umgang mit der Niederlage: Diese wird im Blick auf das kollektive Gedächtnis als Leerstelle beschrieben, die an dem mit Bildern aller Siege verzierten Sarg Karls des Großen auf der Spanien zugewandten Seite ausgespart sei, weil man die Schande zwar nicht vergessen, aber auch nicht zugeben könne. Deshalb halte man die Vorstellung hoch, durch die nachträgliche vengança könne die Niederlage wenigstens als ausgelöscht gelten. 5 Eine derartig schonungslose .Dekonstruktion' des epischen Überschreibungsmusters liefert Girart d'Amiens in seinem Philippe le Bel gewidmeten Charlemagne (vor 1308) begreiflicherweise nicht. Doch er relativiert, ja bagatellisiert die .großen Geschichten' der Karlsepik vom Typ der Chanson de Roland, indem er sie im Gegensatz zu den in den Grandes Chroniques de France (Chroniques de Saint-Denis) beschriebenen Taten des Kaisers ausdrücklich nicht zu den wirklich bedeutenden rechnet. 6 Die heroisierende Überschreibung ist ihm buchstäblich ,zu dick aufgetragen'; sie verleiht dem betreffenden Ereignis ein unangemessenes Gewicht. Er will das dort Erzählte nur erwähnen, um seinem Anspruch zu genügen, alles, was die Ära Karls des Großen betrifft, möglichst vollständig zu erfassen. Konsequenterweise entscheidet er sich gegen die Chanson de Roland und für die Grandes Chroniques als Vorlage, um Karls Spanienfeldzug zu resümieren. Auszüge aus anderen Epen, die geeignet sind, Karls Sieger-Image gerade 4
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Vgl. Herbert Kolb, Der weiße Reiter, Zu einem Thema der spätmittelalterlichen Karlsepik, in: IASL 12 (1987), 26-56. Ramón Menéndez-Pidal (Hg.), Primera Crónica General de España, Con un estudio actualisador de Diego Catalán, Bd. 2, Madrid 1955 (3. Nachdruck Madrid 1977), 355. Bibl. Nat. Fonds français 778. fol. 127v.
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Edith Feistner/Michael Neecke
nach der Spanienepisode aufzupolieren, verschmäht der sich so nüchtern Gebende allerdings keineswegs. In der Aachener Karlmeinet-Kompilation (zwischen 1320 und 1350) wird das auf Karls Niederlage bezogene epische Überschreibungsmuster sogar in zwei Richtungen verschoben, weil hier sowohl das Rolandslied des Pfaffen Konrad als auch die zusätzlichen chronikalischen Rahmenteile (u. a. dem Speculum Historíale bzw. dem dort vermittelten Pseudo-Turpin entstammend) in einem fast schon modern anmutenden biographischen Sinn umgestaltet sind:7 Mit Hilfe der chronikalischen Berichte über Karls militärische Erfolge (nicht nur) in Spanien und seine souveräne Herrschaft nach der Rückkehr wird einerseits - ähnlich wie bei Girart - Karls unantastbare Herrschergewalt stabilisiert, die den Kaiser ungeachtet der Niederlage seiner Nachhut als Sieger zu präsentieren erlaubt. Auf dieser Grundlage wird andererseits jedoch eine auch in den Rolandslied-Text selbst eingearbeitete .empfindsame' Innenperspektive entfaltet,8 die den Erzähler im Gegensatz zur epischen und zur chronikalischen Tradition .wissen' lässt, dass Karl aus jahrelang pflichtbewusst verborgenem, aber desto tieferem Leid über die verlustreiche Niederlage in Spanien gestorben sei.9 Die Identifikation mit dem .persönlichen' Leid des Verlierers, der hinter dem offiziellen' Sieger steht, macht hier aus dem unermüdlichen Heros einen Sympathieträger, den man eben deshalb liebt, weil er angeschlagen ist. So kann sich das auf eine kompensatorische Distanzierung der Niederlage zielende epische Überschreibungsmuster regelrecht ins Gegenteil einer Glorifizierung erlittener Wunden verkehren. Insgesamt weisen diese Beispiele darauf hin, dass gerade durch die Reflexion der Differenz zwischen Heldendichtung und chronikalischem Bericht ein Bewusstsein für das epische Verfahren einer Überschreibung der Niederlage produziert worden ist. Die Rezeption des Rolandslieds in der Deutschordens-Chronistik zeigt, wie dieses Verfahren deshalb auch von den Taten Karls des Großen abgelöst und auf die Vermittlung der eigenen Taten übertragen werden konnte.
4.2 Überlesen der Niederlage in der Deutschordens-Chronistik Ein Vergleich der zwischen 1331 und 1341 entstandenen Kronike von Pruzinlant des Nikolaus von Jeroschin mit der Chronica Slavorum des Helmold von Bosau macht deutlich, dass die literarische Rezeption des Rolandslieds für ganz unterschiedliche 7
8
9
Karl Bartsch (Hg.), Karl der Große von dem Stricker (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 1,35), Quedlinburg 1857 (Nachdruck Berlin 1965). Vgl. Edith Feistner, Karl und Karls Tod, Das Rolandslied im Kontext des sog. .Karlmeinet', in: Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe (Hg.), Wolfram-Studien 11, Chansons de geste in Deutschland (Schweinfurter Kolloquium 1988), Berlin 1989, 166-184. Adalbert von Keller (Hg.), Karl Meinet (Bibliothek des Litterarischen Vereins 45), Stuttgart 1858 (Nachdruck Amsterdam 1971), A 534, vv. 45ff.
Vom, Überlesen ' der Niederlage
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Zwecke verwendet werden konnte.10 Zwar findet in beiden Chroniken ein .Überlesen' der Niederlage statt, welches das Erzählmuster des Rolandslieds auf Niederlagen appliziert, die räumlich und zeitlich weit vom Spanien Karls des Großen entfernt sind, doch ist das Überlesen in den beiden Texten auf gänzlich unterschiedliche Weise motiviert: Ermöglicht der Import des rolandinischen Erzählmusters bei Helmold eine theoretische Reflexion über die narrative Differenz von heldenepischer Dichtung und historischer Chronik, so affirmiert das Überlesen in Jeroschins Chronik die ideologische Ausrichtung des Deutschen Ordens, indem sie das Heldenepos zum Modell der historischen Chronik macht. Karl Bertau hat 1968 im Rahmen seines Vorhabens, das deutsche Rolandslied als integralen Bestandteil der „Repräsentationskunst" Heinrichs des Löwen zu erweisen, auf Ähnlichkeiten zwischen dem Epos und der „weifischen Chronistik" Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck hingewiesen.11 Beschränkte sich Bertau dabei auf bestimmte Formen der Panegyrik, so konnte Jeffrey Ashcroft 1986 zeigen, dass die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Epos und den beiden Chroniken weitaus umfangreicher sind. In unserem Zusammenhang ist die Beobachtung Ashcrofts von Interesse, dass die Kapitel 100-102 des zweiten Buches von Helmolds Chronica Slavorum, die von einem Überfall der Slaven auf einen Voraustrupp Heinrichs des Löwen erzählen, in ihrer narrativen Struktur weitgehend dem Handlungsschema des Rolandslieds entsprechen.12 Das Ende 1172 entstandene zweite Buch von Helmolds Chronik kann damit als wohl erste literarische .Reaktion' auf das nur kurz zuvor abgefasste Rolandslied des Pfaffen Konrad gelten. Die signifikanten Abweichungen der Chronica vom heldenepischen Handlungsmuster interpretiert Ashcroft als methodische Selbstreflexion des Chronisten Helmold, der die Chronik als eine auf das Darstellen historischer .Wahrheit' ausgerichtete Gattung von der diesbezüglich unglaubwürdigen Dichtung abzuheben sucht. Die Integration des epischen Handlungsschemas („the simplistic hyperbole of the Rolandslied") in das chronikalische Erzählen ist für Helmolds Chronica kein Mittel zum Verdecken von .wirklichen' Zusammenhängen, sondern markiert, geleitet von einem methodischen Objektivitätsideal („the objectivity incumbent on the truthful historian"), die Grenze zwischen historischer Wirklichkeit und heldenepischer Überschreibung.13 Die spezifische Realitätsform des chronikalischen Gegenstandes
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Ernst Strehlke (Hg.), Nikolaus von Jeroschin, Di Kronike von Pruzinlant, in: Theodor Hirsch/Max Töppen/Ernst Strehlke (Hg.), Scriptores Rerum Prussicarum, Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft, Bd. 1, Leipzig 1861 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1965), 291-648; Helmold von Bosau, Slawenchronik, Neu übertragen und erläutert von Heinz Stoob (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 19), Darmstadt 1963. Karl Bertau, Das deutsche Rolandslied und die Repräsentationskunst Heinrichs des Löwen, in: Der Deutschunterricht 20 (1968), 4-30, hier: 9. Jeffrey Ashcroft, Konrad's Rolandslied, Henry the Lion, and the Northern Crusade, in: Forum of Modern Language Studies 22 (1986), 184-208, hier: 187. Ebd., 189.
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wird auf diese Weise von der Realitätsform des heldenepischen Gegenstandes unterschieden. Das tendenziell .moderne' Geschichtsbewusstsein, das Helmolds Chronik eignet, lässt sich in Jeroschins Kronike von Pruzinlant nun gerade nicht auffinden. Wo Helmold die für den Chronisten (den .Historiker') adäquate Form des Erzählens als eine vom heldenepischen Überschreiben unterschiedene Form der Darstellung ausweist und die historische Wirklichkeit in ihrer Abweichung vom heldenepischen Erzählmuster zu fassen sucht, bestimmt Jeroschin den Realitätsgehalt seiner Chronik gerade in ihrer Annäherung an das rolandinische Muster: Dieses steht für ihn nicht u n t e r der Erzählform der Chronik, sondern ü b e r ihr. Durch die Nähe zum Muster gewinnt das Berichtete an Bedeutsamkeit. Das Überlesen ist also auch bei Jeroschin kein Mittel zum Verdecken von .wirklichen' Zusammenhängen, sondern soll die wahre Bedeutung des chronikalischen Berichts aufdecken. Diese Bedeutung aber kommt von außen in die Erzählung hinein: Ebenso wie die sacra scriptum stellt das Rolandslied dem Chronisten Erzählformen zur Verfügung, die seiner Erzählung eine höhere Dignität verleihen. Das Überlesen der chronikalischen Erzählung durch die bedeutungstragenden Erzählmuster der heiligen Schrift und des Rolandslieds dient unzweifelhaft einer ideologischen Ausrichtung der historischen Erinnerung. Der quasi typologische Bezug von Jeroschins Chronik zum Rolandslied gibt sich zu erkennen, wenn der Chronist die in den Fluten der Weichsel ertrinkenden Truppen des Pomerellenherzogs Swantopolk ausdrücklich mit den im Ebro ertrinkenden Kämpfern des Königs Paligan vergleicht (vv. 7496-7501). Der Sieg der Kulmer Ordensbrüder über Swantopolk erscheint so als .Postfiguration' des Sieges Kaiser Karls über das Oberhaupt der Heiden: Dass es in der Tradition des Rolandslieds eigentlich die Soldaten des Königs Marsilie sind, die auf solche Weise ihr Leben verlieren, spielt für Jeroschins Erzählung hier keine Rolle. Was zählt, ist allein die Bedeutung der Paligan/Baligant-Episode als Abschluss des Heidenkampfes im Rolandslied, schließt doch der Vergleich bei Jeroschin eine Episode der Chronik ab, die anfangs ebenfalls von einer Niederlage (hier: der Ordensritter) handelt. Die generelle Ausrichtung der narrativen Konstitution dieser Episode am Vorbild des Rolandslieds wird durch materiale Entsprechungen und verfahrensanaloge Darstellungsweisen dokumentiert. Die verschiedenen Parallelen/Bezüge zum Rolandslied wollen wir hier, dem Erzählverlauf Jeroschins folgend, kurz auflisten: 1.) Der schwarz-weiß gezeichnete Konflikt von Jeroschins Episode erinnert an die dualistische Grundposition im deutschen Rolandslied. Swantopolk ist „der vil unreine" (v. 7005), die Prussen sind „des tûvils gesinde" (v. 7028). Auch die Sarazenen des Rolandslieds leben .unrein' (v. 33) und werden als .Kinder des Teufels' (v. 60) bezeichnet. 2.) Als die Ordensritter einen Angriff auf die Prussen planen, kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem alten und dem neuen Marschall von Kulm. Strittig ist, ob man die Nachhut oder die Vorhut attackieren solle.
Vom, Überlesen ' der Niederlage
3.)
4.)
5.)
6.)
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Schließlich setzen sich die jüngeren Ordensritter durch und man greift den Feind von vorne an (vv. 7040-7081). - Die Auseinandersetzung der Ordensbrüder erinnert an den Konflikt Roland-Olivier: Heldenmut und Todesverachtung siegen über Sicherheitsstreben und Festhalten an der Immanenz. Die schließlich von den Ordensbrüdern gewählte Taktik weist das von den Sarazenen im Rolandslied demonstrierte Verhalten (Überfall auf die Nachhut) als unheroisch zurück. Im Verlauf des Kampfes tauchen überraschend noch 2 000 weitere prussische Kämpfer auf. Gegen diese Übermacht haben die 400 Ordensritter aus Kulm keine Chance (vv. 7087-7112). Die zum vereinbarten Zeitpunkt und am richtigen Ort erscheinenden Ordensritter aus Thorn können ihren Brüdern nicht mehr helfen. Sie erblicken die Niederlage und müssen vor der Übermacht der Feinde fliehen (vv. 7113-7130). - Fehlverhalten innerhalb des Ordens wird als Ursache der Niederlage ausgeschlossen: Diese Überschreibungsstrategie folgt dem vom Rolandslied vorgegebenen Argument der .höheren Gewalt'. Über eines der von den Prussen gefangenen Kinder berichtet Jeroschin, dass die Untaten der Heiden in dem Knaben solchen Hass entstehen ließen, dass er später — wie der Chronist in einem Vorverweis verrät - zu einem ausgezeichneten Kämpfer gegen die Prussen wurde und seinen Beitrag zu deren Besiegung leistete (vv. 7131-7168). Der Verweis auf zukünftige Siege des Ordens ähnelt dem im Rolandslied exemplifizierten Argument des Rache-Erfolgs. Als die Brüder nach Abzug der Feinde das Ausmaß ihrer Niederlage erkennen, trauern sie in den Worten von I Mcc 2,6-14 (vv. 7169-7218). - Das narrative Verfahren der typologischen Überhöhung erinnert an das Rolandslied des Pfaffen Konrad: Präsentiert dieser die Niederlage Rolands als passio-analoges Geschehen (vv. 6924-6949), so gestaltet Jeroschin die Niederlage der Ordensritter als Abbild der Schändung des Tempels durch Antiochus IV. Epiphanes. Diese Präsentation von Ordensgeschichte als Heilsgeschichte affirmiert die ideologische Selbstbeschreibung der Ordensritter als , neuer Makkabäer'. Ein schwer verwundeter Ordenskrieger sieht die Jungfrau Maria mit einem Rauchfass über das Schlachtfeld schreiten, die Gefallenen aussegnend. Sie teilt ihm mit, dass er bald sterben und seinen .himmlischen Lohn' erhalten werde. Drei Tage darauf stirbt der Mann tatsächlich (vv. 7219-7292). - Am Ende der Chanson de Roland wird der Krieg Karls des Großen durch das Erscheinen eines Engels rückwirkend als gottgewollt legitimiert. Jenes aus der Kreuzzugspropaganda stammende Argument, welches demjenigen, der sein Leben im Kampf für Gott hingibt, das Paradies als gerechten Lohn zuspricht, wird im Rolandslied zur theologischen Überschreibung der Niederlage verwendet (vor allem in der Fassung des Pfaffen Konrad).
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7.) Swantopolk versucht die Untertanen des Ordens durch Bestechung abzuwerben, was ihm aber nicht gelingt (vv. 7363-7390). - Im Rolandslied erhält Ganelon/Genelun vor seinem Verrat materielle Güter von König Marsilie. 8.) Dank der Hilfe Gottes besiegen die wenigen am Leben gebliebenen Ordensbrüder von Kulm zusammen mit den treuen Bürgern der Stadt die vielen Kämpfer Swantopolks (vv. 7391-7518). - Der Kampf wird von der Chronik mit dem Abschlusskampf von Karl und Baligant verglichen: Auch für den Orden geht es um Alles oder Nichts. Lässt sich am Ende der entsprechenden Episode von Jeroschins lateinischer Vorlage, der Chronica terre Prussie des Peter von Dusburg (1326), noch ein narrati ver Bruch konstatieren,14 so geht die Erzählung bei Jeroschin nahtlos in den weiteren chronikalischen Bericht über: Die erstrebte Annäherung des chronikalischen Erzählens an das heldenepische Erzählmuster ist gelungen. Die Verknüpfung von Chronik und Heldenepos ist für Jeroschins Text aufgrund der verwendeten Volkssprache ohnehin leichter möglich. Jeroschins Rekonstruktion der Chronik als Heldenepos schafft „eine über die bloße .Ubersetzung' hinausgehende Transformation seiner Vorlage ins neue Medium."15 Während sich die Forschung bislang auf die Frage konzentrierte, ob sich hinter dem in den Inventarverzeichnissen der Ordenshäuser bezeugten buch Rulant das Rolandslied des Pfaffen Konrad oder Strickers Karl verberge,16 wenden wir uns der ideologischen Rezeption des Rolandslieds in der Deutschordens-Chronistik zu. Statt eine besondere Fassung des Epos zu suchen, die bei Tischlesungen des Ordens tatsächlich Verwendung fand, interessiert uns die Bedeutung, die das allen diesen Fassungen zugrundeliegende Erzählmuster für den Deutschen Orden als kriegerische Gesellschaft besaß. Die produktive Rezeption des Rolandslieds in den Chroniken Dusburgs und Jeroschins sehen wir in der besonderen Anwendbarkeit seines ,heldenepischen' Erzählmusters begründet. Das Ereignis der Niederlage spielt (als Zeichen ständiger Bedrohung) für die Identität des Deutschen Ordens eine ganz ähnliche Rolle wie die literarische Repräsentation der Niederlage für die narrative Struktur der Heldenepik: Genauso wie ein .endgültiger' Sieg handlungslogisch die Selbstauflösung des Ordens befördern müsste - schreiben doch die Statuten die (im Sieg negierte) Existenz mächtiger Feinde 14
Max Toppen (Hg.), Peter von Dusburg, Chronicon Terrae Prussiae, in: Hirsch u. a. (Hg.), Scriptores Rerum Prussicarum, 3-269. Was wir als ,narrativen Bruch' benennen, wird von Max Toppen als Konstruktionsfehler der Chronik beschrieben (ebd. 75, Anm. 2).
15
Gisela Vollmann-Profe, Ein Glücksfall in der Geschichte der preußischen Ordenschronistik, Nikolaus von Jeroschin übersetzt Peter von Dusburg, in: Horst Brunner/Werner Williams-Krapp (Hg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters, Festschrift für Johannes Janota, Tübingen 2003, 125-140, hier: 133f. Vgl. Herbert Kolb, Rolandslied-Lesung im Deutschen Orden, in: IASL 15 (1990), H. 2, 1-12; Franz-Josef Holznagel, Barlaam unde der Stricker in eyme buche, Kleinere Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts in den inventarisierten Handschriften des Deutschen Ordens, in: ZfdPh 121 (2002), 121-127.
16
Vom, Überlesen ' der Niederlage
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als notwendige Bedingung für die Existenz des Ordens vor - , so würde ein spannungsarmer triumphaler Sieg erzähllogisch das Ende des Heldenepos qua Heldenepos bedeuten. Die Ordens-Statuten geben die mediale Präsentierung einer permanenten Bedrohung als ideologische Legitimationsstrategie vor. Von Abrahams Kampf um die Befreiung Loths (Gn 14,14-20) bis hin zur Johannes-Vision vom Neuen Jerusalem (Ape 3,12), die wie selbstverständlich mit dem Konzept der ecclesia militans gleichgesetzt wird, suggerieren die Statuten die Allgegenwart des (Glaubens-) Kriegs in der Heilsgeschichte. 17 Die Chroniken von Dusburg/Jeroschin schließen an diese basale Legitimationsstrategie an. Die im Rolandslied exemplifizierte Verknüpfung von Niederlage und Sieg affirmiert nicht nur die narrative Struktur der Heldendichtung, sondern in ihrer chronikalischen Applikation auch die korporative Identität des Ordens. Als Baustein einer Programmatik des permanenten Kampfes entfaltet das Rolandslied in den Chroniken 18
Dusburgs und Jeroschins ideologische Wirksamkeit. Es lässt sich also sagen, der Deutsche Orden habe die Niederlage ebenso .gebraucht', wie dies in der Heldenepik der Fall ist. Freilich strebte der Orden nicht absichtlich militärische Niederlagen an oder wünschte gar den eigenen Untergang herbei, vielmehr bot sich ihm das literarische Unternehmen einer am rolandinischen Erzählmuster orientierten Medialisierung der Niederlage als eine Erfolg versprechende Legitimationsstrategie für das osteuropäische Kolonisationsprojekt an: Die Rekonstruktion der Chronik als Heldenepos zielt auf eine fundamentale .Verstärkung der Macht'. 19 Mit der chronikalischen Applikation des heldenepischen Erzählens wird freilich kein konstituitives Gattungsmerkmal der Ordens-Chronistik beschrieben. Das machtintensivierende .Überlesen' der Niederlage markiert vielmehr einen historisch bestimmten Abschnitt innerhalb der Chronik-Produktion des Ordens. Die besondere politische Motivation von Jeroschins narrativer Gestaltung der Niederlage zeigt ein Blick auf die Altere Hochmeisterchronik (zwischen 1433 und 1440). Diese wohl erfolgreichste Chronik des Deutschen Ordens greift in ihrer Erzählung massiv auf Jeroschins Kronike als Vorlage zurück und gibt dabei auch jener Episode eine neue narrative Gestalt, die bei Jeroschin in heroisierender Absicht auf das Rolandslied verweist. Die von Jeroschin berichteten Ereignisse einer Niederlage der Ordensritter werden - zwar verkürzt, aber 17
Max Perlbach, Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften, Halle a. S. 1890 (Nachdruck Hildesheim/New York 1975), 23f.
18
In seiner Archäologie der Historiographie des Krieges bestimmt Michel Foucault das Abzielen auf eine fundamentale .Verstärkung der Macht' als teleologische Gerichtetheit des historischen Diskurses im Mittelalter schlechthin (Michel Foucault, V o m Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, hg. von Walter Seitter, Berlin 1986, 29-33). Jedenfalls für die Chroniken Dusburgs und Jeroschins macht diese Formulierung Sinn, geht es doch diesen Chroniken um eine machtvolle Präsentation der geistlich-ritterlichen Korporation, d. h. um eine Identitätsbehauptung im doppelten Sinn.
19
Vgl. Edith Feistner, Selbstbild, Feindbild, Metabild, Spiegelungen von Identität in präskriptiven und narrativen Deutschordenstexten des Mittelalters, in: Brunner/Williams-Krapp (Hg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters, 141-158, hier: 145f.
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nicht wesentlich verändert - von der ,Hochmeisterchronik' übernommen. Der für Jeroschins literarische Strategie der Heroisierung fundamentale Verweis auf die bedeutungstragende Narration des Rolandslieds fällt jedoch weg. Auf das .Überschreiben' und .Überlesen' der Niederlage folgt hier also das .Vergessen' oder .Verschweigen' des Rolandslieds. Da zusammen mit der heroischen Überhöhung der Niederlage auch die umfassende Verteufelung der Feinde aus der chronikalischen Erzählung verschwindet, zeigt sich ex post die politische Motivation von Jeroschins Strategie des .Überlesens'. Unter veränderten historischen Bedingungen scheint diese Strategie der Identitätsbehauptung nicht mehr funktional und wird aufgegeben. Der Übergang vom Kolonisationsprojekt zur Landesherrschaft korreliert mit einem Wechsel der narrativen Präsentationsform. Was als Spur einer chronikalischen Rezeption des Heldenepos in der .Älteren Hochmeisterchronik' verbleibt, ist eine rhythmisierte Prosa, die nicht nur Reimwörter aus Jeroschins Text übernimmt, sondern selbst Reimanklänge konstruiert: 20 „ee yene komen durch den mot, so mögen dese seyn tod."
5. Fazit Von allen anderen hier untersuchten Texten unterscheidet die frühen Chroniken des Deutschen Ordens jene affirmative Rezeptionshaltung, in der diese Chroniken das heldenepische Erzählmuster des Rolandslieds vollständig in ihre eigene Erzählung zu integrieren suchen und dieses als narratives Vor-Bild für das chronikalische Erzählen ausweisen. Die anderen Texte positionieren sich eher in reflektierender, wenn nicht gar kritischer Distanz zu den Erzählungen von Roland. Diese Haltung .historischer' Skepsis zeigt bei allen Unterschieden in Ausprägung und Stoßrichtung, dass bereits im Mittelalter eine Wahrnehmung der Differenz von chronikalischem Bericht und Heldendichtung möglich war. Die Chroniken Jeroschins und Dusburgs allerdings sind Beispiel dafür, dass diese Differenz aus ideologischen Gründen nicht nur unterschlagen, sondern insgesamt geleugnet werden konnte. Der von Boockmann konstatierte auffällige narrative Charakter der im Deutschen Orden entstandenen Literatur, der ihn sogar zögern ließ, auf Jeroschins Kronike das Prädikat .Geschichtsschreibung' anzuwenden,21 lässt sich anhand unseres Fallbeispiels der Rolandslied-Rezeption im Deutschen Orden sowohl näher beschreiben als auch funktional begründen.
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21
Max Toppen (Hg.), Die Ältere Hochmeisterchronik, in: Hirsch u. a. (Hg.), Scriptores Rerum Prussicarum, 519-709, hier: 549. Hartmut Boockmann, Die Geschichtsschreibung des Deutschen Ordens, Gattungsfragen und „Gebrauchssituationen", in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, 447-469, hier: 454.
MATHIAS HERWEG
Ronceval und Montauban: Literarische Muster von Niederlagen und ihre Erinnerungsfunktion in deutschsprachigen Romanen des 15./16. Jahrhunderts
1. Thematische Prämissen - Zur Evaluationsmethode Kriegerische Ereignisse, Siege und Niederlagen sowie deren narrative und memoriale Bewältigung spielen eine zentrale, wenn nicht gar konstitutive Rolle in spätmittelalterlicher Romanliteratur. Wendet man sich unter dem Leitthema .Erfahrung und Erinnerung von Niederlagen' derartigen, auf den ersten Blick höchst ahistorisch-schematisch, ja trivial anmutenden Texten zu, so erfordert dies im Vorfeld eine Verständigung über allgemeine und theoretische Prämissen, über die Legitimität und die zu erwartenden Erträge des Unternehmens. 1. Die im folgenden anzitierten Texte und ihre Gattung präsentieren sich dem zeitgenössischen Leser als histori/Historia, und „vor allem für die Anfänge erzählender Prosa bedeutet .historia' Tatsachenbericht." 1 Vom Primärrezipienten aus ist die heute selbstverständliche Scheidung zwischen .echten' historischen und sagenhaft-literarischen Niederlagen somit irrelevant - beides konnte auch leicht ineinander übergehen, in der Literatur wie in der Historiographie, die ja stets perspektivisch verfährt und sich zumal im Mittelalter dem von der ,causa scribendi' geforderten Einbau tendenziösverfälschender oder gar fiktiver Nachrichten keineswegs verschloss. 2 Dem primären
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Jan-Dirk Müller, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt a. M. 1990, 993-999, Zitat 993. Vgl. auch Joachim Knape, „Historie" in Mittelalter und früher Neuzeit, Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984, 346-348. Hierzu sei verwiesen auf die (aus früh- und hochmittelalterlichen Quellen gewonnenen) Befunde Gerd Althoffs, Causa scribendi und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibung der Königin Mathilde und andere Beispiele, in: Michael Borgholte/Herrad Spilling (Hg.), Litterae Medii Aevi, Sigmaringen 1988, 117-133, sowie ders., Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher
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Leser und Hörer galten die Kriege um Troja und Theben, um Montauban, Ronceval etc. so gut wie die in weniger ferner Vergangenheit liegenden Schlachten bei Crecy oder Azincourt als res gestae und resfactae, aus denen man Orientierung und exemplarischdidaktischen Nutzwert, aber auch Identität und Legitimität beziehen konnte. Vorreden, aktualisierende Kommentare, Quellenhinweise und Auftraggeberbefunde unterstreichen dies ebenso wie die Rezeptionszeugnisse, etwa die Übernahme ganzer Romanteile in zumeist volkssprachige Weltchroniken (so in die Kompilation des Heinrich von München, 14. Jahrhundert), der selbstverständliche Rückgriff auf episches Personal zur geistlichen und aristokratischen Traditionssicherung und nicht zuletzt der starke Einfluss der Epik auf ein standes- und gruppenidentifikatorisches Geschichtsbewusstsein im spätmittelalterlichen Adel.3 Unsere Texte sind zwar alles andere als unbefangen verwertbare Geschichtsquellen, doch man wird nach ihrem spezifischen ,Sitz im Leben' forschen dürfen und müssen, zumal noch zu Beginn der Neuzeit gilt: „For all but an exiguous clerical and aristocratic minority, the epic was, along with exempla incorporated into sermons, the only historical narrative available."4 2. Mit diesen Beobachtungen korrespondiert, dass auch reale Niederlagen der Zeitgeschichte in hohem Maß nach literarischen Mustern und Modellen stilisiert und kodiert wurden, wie u. a. die adligen Autobiographien eines Georg von Ehingen oder Götz von Berlichingen sowie in verschärfter Weise das ,gedechtnus'-Werk Kaiser Maximilians I. erweisen.5 Selbst Geschichtsschreiber kleiden die wenig ritterliche Kriegswirklichkeit ihrer Zeit - Huizinga wies mit Blick auf Froissart und andere früh darauf hin6 - in eine Aura heroisch-ritterlichen Glanzes, die selbst dort gewahrt bleibt, wo Täuschung, Verrat, Grausamkeit und schlaue Vorteilnahme, das krasse Gegenteil des Ideals also, das Feld beherrschen. Die Darstellungs- und Urteilsstandpunkte sind häufig literarisch vermittelt und konnotiert. Daher können auch Romane grundsätzlich relevante Einblicke in Historiographie, in: Fälschungen im Mittelalter Teil 1 : Kongreßdaten und Festvorträge, Literatur und Fälschung, Hannover 1988, 417-441. 3
So treten Roland und Turpin aus der Rolandsage als Zeugen in klösterlichen Urkundenfälschungen auf; andererseits bedient sich adlige Haus- und Familiengeschichtsschreibung bedenkenlos epischer Quellen, um historische Überlieferungslücken zu füllen, wie die (landes-) historische und literaturgeschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte (Klaus Graf, Peter Johanek, Jean-Marie Moeglin, Birgit Studt, Gerhard Wolf u. a. m.) eindrucksvoll herausgearbeitet hat.
4
Joseph J. Duggan, Medieval Epic as Popular Historiography: Appropriation of Historical Knowledge in the Vernacular Epic, in: Hans Robert Jauss u. a. (Hg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters XI/1, Teilbd. 1, Heidelberg 1987, 285-311, hier: 311. Hierzu Jan-Dirk Müller, Gedechtnus, Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982 (besonders Kap. VI); Horst Wenzel, Höfische Geschichte, Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern u. a. 1980 (besonders Kap. 6.2.2).
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Johan Huizinga, Die politische und militärische Bedeutung des Rittergedankens am Ausgang des Mittelalters, in: Arno Borst (Hg.), Das Rittertum im Mittelalter, 2. Aufl., Darmstadt 1989, 17-30, hier besonders 19f. (Zuvor erschienen u. d. T. : La valeur politique et militaire des idées de chevalerie à la fin du moyen âge, in: Revue d'Histoire Diplomatique 35 [1921], 126-138.)
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die Möglichkeiten und Modalitäten der Rezeption, Erklärung und Erinnerung historischer Niederlagen bieten, die freilich in der Regel nicht zeitgeschichtlich sind, sondern in einer teils fernen, teils mythischen Vorzeit liegen. Durch ihre Literarisierung gewinnen diese Niederlagen eine übergreifende Symbolizität - die literarischen Texte liefern eine Wahrheit, die die Wirklichkeit der Geschichte ex post sinnstiftend korrigiert (s. u. zum Rolandstoff). Leitendes Erkenntnisziel bei solchem Zugang sind demnach weniger die Implikationen erinnernder Bewältigung akut-kollektiver Katastrophen, sondern allgemeiner die Mechanismen literarisch gelenkter und gefilterter memoria, darüber hinaus deren causae, das heißt die konstanten und stets aktualisierbaren Motive, aus denen heraus vergangene oder prototypische Präzedenzfälle immer wieder literarisch reproduziert und gedeutet werden. Konkret lautet hier die Frage: Warum nimmt sich gerade die höfisch-repräsentative Erzählliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts so intensiv des tristen Themas kriegerischer Gewalt und ihrer Folgen (und zwar durchaus mit dem Gestus des nostra res agitur) an? Welche aktuellen Implikationen lassen sich dahinter erkennen oder vermuten? 3. .Literatur' in vormodernen Zeiten, zumal in irgendeiner Weise historisch verstandene oder inszenierte, diente nie allein, meist nicht einmal primär, der Unterhaltung; schon der materielle Wert von Geschriebenem und Gedrucktem, dazu Layout- und Gebrauchsbefunde legen nahe, dass diese Funktion von vielschichtigen Zwecken der Repräsentation und Selbstdarstellung, der ständisch-ethnisch-dynastischen Integration/Exklusion, der Orientierungsstiftung, der Belehrung durch (am Modell vollzogene) ,erfarung\ der mentalen Verarbeitung oder Kompensation sozialhistorischer Wandelprozesse, 7 der Verortung von Gegenwartserfahrungen etc. ergänzt und überlagert wurde. Dies alles gilt natürlich auch für die hier zu betrachtenden Romane. Die nähere Identifizierung der memorialen Funktionen wirft freilich mehrere Probleme auf: Einerseits sind die wenigsten Romane und Erzählungen des 15. und 16. Jahrhunderts autochthone Hervorbringungen ihrer Zeit, vielmehr (zumeist recht konservative) Bearbeitungen tradierter Stoffe und Vorlagen. Damit bleibt nicht selten offen, welchen Anteil an bestimmten Aussagen bzw. Erzählvarianten der frühneuzeitliche Vermittler hat. Überdies sind nur wenige Romane exakt datierbar sowie sozial und politisch kontextualisierbar, oft bleiben selbst Verfasser oder Bearbeiter anonym. Aussagen zum konkreten Anlass der memoria sind in solchen Fällen natürlich besonders schwierig und fehlbar. Freilich legt schon die Tatsache des späten Wiederauflebens eines bestimmten Stoffes bzw. Stoffgenres (wie etwa der Kreuzzugsepik) dessen spezifisches Aktualitätspotential und dessen Instrumentalisierbarkeit für Belange der Gegenwart nahe (s. u.) die längst vergangenen res gestae wurden, auch wenn dies im Einzelfall schwer spezifizierbar ist, als Modelle der Gegenwartsdeutung und -bewältigung erinnert und rezipiert.
7
Vgl. Jan-Dirk Müller, Held und Gemeinschaftserfahrung, Aspekte der Gattungstransformation im frühen deutschen Prosaroman am Beispiel des ,Hug Schapler', in: Daphnis 9 (1980), 393-426, hier besonders 412.
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2. Stoffe und Texte Siege und Niederlagen sind ähnlich selbstverständliches und konstitutives Handlungselement spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Erzählliteratur wie abenteuerliche Reisen, Liebeshändel, Freundschaft und Verwandtschaft sowie Akte höfischer Repräsentation (Fest, Turnier und dergleichen). Sie stehen im Zentrum von Stoffen unterschiedlichster Machart und Herkunft, deren kleinster gemeinsamer Nenner der bereits erwähnte Anspruch historischer Faktizität ist - ein Anspruch, der durch Titelphrasen (,warhafftig\ ,so vorzeiten beschehen' o. ä.), Quellen- und Augenzeugenberufungen, genealogische Ansippungen an die eigene Gegenwart, Hinweise auf noch sichtbare Relikte und anderes mehr stets wachgehalten wird. Zentrale Bezugspunkte boten die französische Kreuzzugs-, Karls- und Empörerepik (Chanson de geste) und der hochmittelalterliche Antikenroman; erstere gelangt nach einer früheren Rezeptionswelle im 12./13. Jahrhundert an der Schwelle zur Neuzeit über häufig niederländische Zwischenstufen von neuem nach Deutschland, letzterer bildet als Erzählstoff eine fast ununtero
brochene Kontinuität im volkssprachigen Mittelalter. Quantitativ von geringerer Bedeutung sind historische und pseudohistorische Kriegsstoffe heimischer Provenienz wie .Herzog Ernst' oder .Wilhelm von Österreich'. Drei perspektivische Determinanten prägen die Wahrnehmung und Tradierung von Niederlagen in den meisten dieser Texte: (1) Im Visier steht fast durchwegs ein meist titelgebender heroischer Protagonist, dies selbst dort, wo Massenschlachten thematisiert sind (im Troj astoff etwa wird der Krieg vornehmlich als schier endlose Folge von Heroenzweikämpfen fassbar). Das Schicksal des Kollektivs tritt ganz hinter dessen Geschick und Verhalten zurück. (2) Niederlagen des Protagonisten und der Gemeinschaft, die er vertritt, der Ordnung, für die er steht, sind erstens in der Regel unverschuldet, zweitens transitorisch. Das heißt, sie werden als Konsequenz unlauter-verräterischen, intriganten oder eidbrüchigen Handelns inszeniert, die Stoffe, soweit historisch vorfixiert, entsprechend ergänzt oder umgeformt. Der eigentlich unschlagbare Idealheld kann nur durch Niedertracht um die Entfaltung seiner überlegenen Kampfkraft gebracht werden. Da dies so ist, ist freilich auch jeder Sieg über ihn (soweit er nicht tödlich endet) nur ein Augenblicks- und Pyrrhussieg, der oft in einer zweiten, gesteigerten Endschlacht durch völlige Vernichtung der Gegenseite wettgemacht wird. (3) Die einseitige poetische Gerechtigkeit sorgt schließlich dafür, dass Niederlagen der .richtigen' (eigenen, sympathietragenden) Seite nicht allein im Zeichen des Temporären, Revidierbaren stehen, sondern auf höherer Ebene die (moralische) Überlegenheit des Besiegten offenbaren: Selbst in der tiefsten Bedrängnis hält er fest an Treu und Glauben, an den Normen von Religion und Ritterehre, die die Gegeng Der Antikenroman bleibt im folgenden Resümee, das auf streng pragmatischer Auswahl beruht, ausgespart. Vgl. hierzu Horst Brunner/Joachim Hamm/Mathias Herweg u. a., Dulce bellum inexpertis, Bilder des Krieges in der deutschen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 2002, hier besonders 289-292 (und insgesamt Kap. 5).
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seite natürlich - nur so erschleicht sie sich den Sieg - in jeder Hinsicht verrät und pervertiert. Diese sehr allgemeinen, aufs äußerste schematisierten Befunde seien im folgenden an zwei Beispieltexten unterschiedlichen Anspruchs und Charakters veranschaulicht und dem Versuch einer rezeptions- und funktionsgeschichtlichen Deutung im Hinblick auf mögliche .Zwecke' und Tendenzen der literarischen Niederlagenmemoria unterworfen.
2.1 Ronceval Bearbeitungen des (zur französischen Heldenepik zählenden) Rolandstoffes ziehen sich seit seiner ersten Literarisierung um 1100 (Chanson de Roland) durch die französische, seit 1170 auch durch die deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 9 Die Forschung bemüht sich seit jeher um die Prozesse des Stoffwandels im Kontext der jeweiligen politischen, rechtlichen und sozialen Bedingungen der Entstehungszeiten. Historischer Anknüpfungspunkt ist eine in Einhards Karlsvita (c. 9) kurz erwähnte Episode aus dem Spanienzug Karls des Großen 778: Beim Rückzug über die Pyrenäen kommt es zu einem Überfall der Basken auf die Nachhut des fränkischen Heeres, bei dem der bretonische Markgraf Hruodland den Tod findet. Schon Einhard spricht in diesem Zusammenhang von Verschwörung und Verrat, von einem Angriff aus dem Hinterhalt und von zunächst ausgebliebener Rache - Erklärungs- und Sinngebungsansätze, die die spätere Sagenbildung aufgreift. Die Erinnerung des Ereignisses lebte offensichtlich fort und wandelte sich allmählich; ein erstes Zeugnis für die Metamorphose zur Sage und deren mündliche Existenz gibt die in diesem Zusammenhang vielzitierte Nota Emilianense (in einem Kodex aus San Millán, um 1070): Karl steht mit 12 Neffen (darunter neben Roland schon Wilhelm, Olivier, Turpin, die anderen Hauptgestalten der späteren Rolandsgeste) und je 300 Panzerreitern vor Saragossa, entschließt sich auf den Rat ,der Seinen' zum Rückzug gegen Pfand- und Tributleistungen des Gegners. Dabei kommt es im Pyrenäental Ronceval zum Überfall nun nicht mehr baskischer, sondern sarazenischer Haufen auf Rolands Nachhut. Das religiöse Motiv ist neu, zur vollausgebildeten Rolandssage fehlen nurmehr der Intrigant und Sündenbock Ganelon und die zweite, gesteigerte Racheschlacht. Schon hier also hatte das historische Ereignis, die schwere und vor allem wegen der ausgebliebenen Rache als demütigend empfundene Niederlage, eine weitreichende Transformation erfahren; sie setzt sich fort im Übergang zur vollends literarischen memoria im Lauf des 12. Jahrhunderts, das die Episierung des Stoffes zum Abschluss bringt und ihm durch schriftliche Fixierung seine auf Jahrhunderte gültige Gestalt verleiht. Auf diesem Weg wird aus dem bereits meh-
9
Zumindest die Grund- und Ausgangstexte liegen in modernen Editionen vor: Hans Wilhelm Klein (Hg.), La chanson de Roland (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 3), München 1963; Dieter Kartschoke (Hg.), Das Rolandslied des Pfaffen Konrad (Reclams Universal-Bibliothek 2745), Stuttgart 1993.
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rere Jahrhunderte zurückliegenden historischen Scharmützel bei ungeschmälertem Wahrheitsanspruch (denn verbürgte Historie blieb auch das literarisch Transformierte) eine .Sage' im modernen Sinn: Das verstörend-komplexe Basisgeschehen wird auf polare zwischenmenschliche Konstanten wie Treue und Verrat, Heldenmut und Feigheit, Integrität und Verführbarkeit zurückgeführt, Personen und Ereignisse mischen und überlagern sich - der Karl des Jahres 778 ist in der Rolandssage schon ein altersgrauer Kaiser, der Reimser Bischof Turpin ist als Teilnehmer des Spanienzugs nirgends bezeugt, in Oiger von Dänemark scheint der fränkische Adlige Autchar fortzuleben, welcher 771 die Witwe und die Kinder Karlmanns ins Langobardenreich begleitet hatte, im Verräter Ganelon wiederum der zwei Generationen jüngere Bischof Wenilo von Sens, der Mitte des 9. Jahrhunderts von Karl dem Kahlen abfiel und sich dafür in einem Kirchenprozess verantworten musste. Da die Stoffgenese bis 1100 weithin im überlieferungslosen Dunkel verläuft, fallen Aussagen zu den konkreten Anlässen und Motiven dieser Umformung schwer. Schon wie die historische Episode durch die vorliterarischen Jahrhunderte erinnert und schließlich aufs Pergament gebracht wurde, ist ein altes Forschungsproblem. Ging die ,traditionalistische' Deutungsrichtung von volkstümlich-mündlicher Tradierung und Transformation aus, so sah die .individualistische' in der Rolandsgeste letztlich ein Gelehrtenwerk mit klaren funktionalen Prämissen im Hinblick auf lokale Kultwerbung im Umkreis der großen Pilgerstraßen sowie, seit der Wende zum 11. Jahrhundert hochaktuell, handfeste Kreuzzugspropaganda. Wahrscheinlich kam beides zusammen: eine unfeste, ereignisnah einsetzende Sagentradition, aufgegriffen und zur festen literarischen Größe geformt durch einen geistlichen Dichter. Im Zuge dieser Literarisierung weitete sich das historische Ereignisgerüst auf vier Handlungsschwerpunkte aus: den alles verschuldenden Verrat Ganelons, die vernichtende Niederlage zu Ronceval, Karls Vergeltungskrieg und die Aburteilung des Verräters. Das Kerngeschehen erfuhr damit eine Doppelung, die verstörende historische Schlappe eine plausible menschlich-psychologische Erklärung (Verräterfigur Ganelon). Die Folgen reichen weit: Ein ephemeres Ereignis am Rande eines vergleichsweise ebenso ephemeren militärischen Unternehmens Karls des Großen wird zum .heiligen Krieg' und zum Zentralereignis der Karlsvita, der Titelheld Roland zur zeitgemäßen Identifikationsfigur des miles Christianus, Ganelon dagegen zum zweiten Judas Ischariot gesteigert - „den armen ludas er gebildôt". Als Ziel dieser .Klitterung' darf man, von Einhards diesbezüglicher Klage ausgehend, anfänglich die sinnstiftende Bewältigung einer peinlichen Niederlage durch doppelte .Aufhebung' (im gesuchten Martyrium als moralischem Sieg, im literarischen Nachvollzug der Rache) ansehen. Doch schon dem ersten buchepischen Endprodukt, der um 1100 niedergeschriebenen Chanson de Roland, können mit Blick auf Zielpublikum und Zeitumstände weitere Erinnerungsanlässe unterstellt werden: Selbstlegitimation und Glorifizierung christlicher Ritterschaft im Kontext des Ersten Kreuzzugs und der beginnenden iberischen Reconquista, Appell an innerchristliche Eintracht im Sinne
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des Clermonter Fehdeverbots Papst Urbans (1095), Beschwörung einer konsensorientierten Machtbalance im Verhältnis zwischen französischer Krone und Kronvasallen. Schon die Chanson, sodann alle ihre mittelalterlich-frühneuzeitlichen Bearbeitungen trugen damit stets aktualisierbare Exempel der Gefährdung von Reich und Religion durch innere Zwietracht und ihrer unüberwindlichen Stärke im Falle des Zusammenhalts in sich. Diese Exempla konnten gerade in Zeiten einer existenziellen Bedrohung des christlichen Europa durch die Türken, wie sie seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bestand, wieder interessant werden, und bezeichnenderweise tritt gerade in diesen Jahrzehnten die Chanson de geste-Rezeption in Deutschland in eine fast hundertjährige Blütephase. Auch der kreuzzugsepische Rolandstoff fand im beginnenden 16. Jahrhundert eine anonyme Neubearbeitung, und zwar im Roman Morgant der Riese (zwei Handschriften, Aarau 1530/Zürich 1551, nach einer französischen Bearbeitung des italienischen Morgante Maggiore, 1483).10 Dessen Schlussteil erzählt in groben Zügen die Ronceval-Handlung nach, wohingegen im ersten Teil in aller Breite von den Kämpfen und amourösen Abenteuern Rolands und anderer, nach einer Intrige Ganelons exilierter Karlsvasallen im Orient berichtet wird. Das Gesamtwerk zerfällt dadurch in zwei merkwürdig disparate Blöcke, wobei der erste durch eine geradezu (avant la lettre) dekonstruktivistische „Entheroisierung und Sexualisierung" 11 der späteren Märtyrer die dem Stoff immanente transzendente Sinngebung und Stringenz schroff zu konterkarieren scheint. Stoffhunger, die Faszination durch das Exotisch-Wunderbare und durch Handlungsweisen, die in Zeiten fortschreitender ,Sozialdisziplinierung' und Einhegung des Adels (Fehdeverbot etc.) zunehmend der gesellschaftlichen Ächtung und juridischen Ahndung verfielen, das Gefallen an schicksalhaften und melodramatischen Fügungen - all dies wirkt zusammen und überschattet das Anliegen historischer Orientierung und Didaxe, das freilich auch hier seine Geltung wahrt: Selbst wenn die Histori stellenweise zur abenteuerlichen Burleske gerät, bleibt sie ,wahr', wird wiederholt sogar durch Quellenberufungen (Turpin) und exakte Zeitangaben verifiziert. So datiert Rolands Tod „uff dem achten tag des manotz Meyen inn dem jar nach der gepurt Krysty acht hundert und im funffzechenden jare, als das der bischof Turpin uff schreib" (324). Dieses (aus heutiger Sicht) merkwürdige Missverhältnis zwischen ernstem Thema und Anspruch und teilweise burlesk-bizarrer Inszenierung ist kein Einzelfall, sondern geradezu konstitutiv für die Machart der späten Chanson de geste und ihrer Neubearbeitungen. Die ,Trivialisierung' der memoria deutet sich schon darin an, dass der RoncevalKomplex im Riesen Morgant seine Zentralstellung verliert; er bildet nur noch die Schlusssequenz, ein knappes Drittel des Gesamtwerks, während sich die Handlungs10
11
Ausgabe und Zitiergrundlage: Albert Bachmann (Hg.), Morgant der Riese in deutscher Übersetzung des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1890. Heike Sievert, Von Helden, Heiden und Herrschern, Überlegungen zur Typologie des Prosaromans am Beispiel der Rezeption der chanson de geste im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 39 (1997), H. 2, 124-146, hier: 133.
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Schwerpunkte auf die abenteuerliche Orienthandlung des ersten Teils verlagert haben. Stoffliche Zusätze sorgen zudem für eine (schon in der Sterbeszene der Chanson de Roland angelegte) dezidierte Sentimentalisierung selbst des eigentlichen Schlachtgeschehens - so kämpft ein Polimites als Christ aus Treue und Dankbarkeit auf sarazenischer Seite und steht zu dieser Entscheidung auch in der direkten Konfrontation mit Roland; so sagt sich Ganelons Sohn Baldowin in radikaler Betroffenheit von seinem Vater los, nachdem er mitten in der Schlacht von dessen verräterischen Umtrieben erfahren musste, und fällt. Die Sentimentalität bleibt freilich eine oberflächliche, vom Erzähler inszenierte. Die tragischen inneren Konflikte, die in beiden ebengenannten Beispielfällen angelegt gewesen wären, wurden nicht genutzt bzw. zielbewusst umgangen. Dafür legt der Autor Roland einen ausführlichen Klagemonolog um sein getötetes Pferd in den Mund, was sich vor dem Hintergrund eines leichenübersäten Schlachtfeldes doch reichlich merkwürdig ausnimmt, und selbst der tränenreiche Abschied des sterbenden Roland von seinen letzten überlebenden Freunden ist nicht mehr, wie in der Geste, von trotzigem Pathos und Heilswissen getragen, sondern manieriertmelodramatisch übersteigert, zumal in Verbindung mit einer exaltierten Litanei aus Selbstanklagen und Vergebungen: „Do sy daz hortten, do wurdend sy so leidig, das sy all inn trehern zerschmultzend" (322f.). Charakteristisch für die gewandelten Erinnerungs- und Rezeptionsakzente ist der Versuch des Neubearbeiters, die stoffgegebene Polarisierung durch eine konsequente Harmonisierung innerhalb des Christenlagers auf die Spitze zu treiben - möglicherweise impliziert dies eine auf die Entstehungszeit, kurz nach der spektakulären Belagerung Wiens durch die Türken unter Süleman II. (1529), abgestimmte Utopie mit Appellfunktion (da über Autor und Adressaten nichts bekannt ist, bleibt dies freilich hypothetisch). Der leidenschaftliche Streit zwischen Olivier und Roland um den Hornstoß, mit dem durch rechtzeitigen Rückruf der Vorhut Karls die vernichtende Niederlage hätte verhindert werden können, fällt dieser Tendenz ebenso zum Opfer wie die üblichen (im ersten, exotisch-abenteuerlichen Romanteil übrigens durchaus präsenten) Eifersüchteleien unter den kaiserlichen Paladinen. In dieser Bearbeitung des RoncevalGeschehens gibt es nur noch eine Bruchlinie, und die verläuft zwischen Christen auf der einen, Heiden und Verrätern auf der anderen Seite. Für die einen ist und bleibt, wie in der ganzen Stofftradition, das Märtyrerethos bestimmend, 12 sie finden noch im aussichtslosesten Kampf Tröstung im Vertrauen auf die „kronn der sälligkeyt" (308) und fechten ihn aus mit dem Willen, dem Gegner den Sieg so teuer als möglich zu machen „darumm ich wol erkenn, das wir nut enttrunnen mögend; aber es müessend vor hin 12
Auch hierfür ist Rolands Hornstoßweigerung ein eindeutiges Indiz, vgl. die Begründung: „Etlich lut möchtend sagen, Ruolland were wol übermüettig, so er sich in so grossen gfaren gsach, und nut desterminder nut ratt volgen, nach hilff beschicken, nach ouch sin hom blasen wott. Der bischof Turpin spricht daruf (der was gegenwyrttig), er hett kein zwyffel, Ruolland hett etwaz offenbarrungen gehept, darumm er wol wußt, das er des tags die kronn der martter empfachen sott, und er wott nut darwider sin wider den willen gottes" (307).
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eine grosse zal heyden ummkommen" (312). Die anderen sind und bleiben verstockte Gottesfeinde, Anhänger einer obskuren Religion, von der der Neubearbeiter des 16. Jahrhunderts noch immer nicht mehr weiß (wissen will?) als seine jahrhundertealten Gewährsleute. Damit sind Rolands Mannen noch im Tod die echten Sieger, deren natürliche Überlegenheit nur Ganelons Verräterei, die eklatante numerische Unterlegenheit und der Wille zum Märtyrertod verpuffen lassen. Der Gegner wird animalisiert (bezeichnend hierbei auch, dass er sich von einem Christenpferd reihenweise hinschlachten lässt, 319), steht mit dem Teufel im Bund und fällt diesem denn auch noch auf dem Schlachtfeld anheim. 13 Selbst religiöser Ernst und Glaubenseifer wird ihm aberkannt - er kämpft zwar vordergründig für seine Götzen, fällt aber bereits beim ersten Misserfolg von ihnen ab und schmäht sie. Zieht man hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema Niederlage in diesem Roman, der ja eine zwar weit zurückliegende und stofflich vermittelte, aber als historisches Faktum verstandene und die eigene Religions- und Wertegemeinschaft betreffende Vernichtungsschlacht thematisiert, ein kurzes Resümee, so kann dieses nur zwiespältig und in vieler Hinsicht hypothetisch ausfallen. Einerseits ist eine deutliche Interessenverlagerung weg vom Kriegerisch-Historischen und Individuell-Heroischen zum Abenteuerlich-Burlesken, aus heutiger Sicht Fabulösen zu konstatieren; andererseits gilt das (freilich vielfach sentimentalisiert wirkende) tradierte Kreuzzugsethos ungebrochen fort. Zeichnet sich hier ein eskapistisches Kompensationsmodell ab angesichts einer zunehmend von Fern- und Feuerwaffen und von großen Söldnerheeren bestimmten kriegerischen Gegenwart, der die Rückzugsräume des wort- und waffengewaltigen ritterlichen Abenteurers, die Chancen individualheroischer Bewährung, über die die Romanhelden noch so unumschränkt-selbstherrlich verfügen, längst abhanden gekommen sind? Wird der programmierte, heilsgeschichtlich verbürgte Endsieg Karls über die Heiden zur historischen Rückversicherung angesichts der neuerlichen, im Ausgang völlig unwägbaren Türkengefahr? Möglich ist beides, doch nicht nur die Anonymität und kontextlose Überlieferung, auch die zutiefst ambivalenten, teils widersprüchlichen Textsignale bedingen, dass sich Anlass und Anliegen der memoria hier stärker verwischen und verflüchtigen als in den heroisch-strengen mittelalterlichen Vorlagen.
„Der luft was voll tufflen, die fuortend grosse fröud und gschrey umm der heyden seilen; dardurch der rontzefalisch wald sich baß einer hell glichet dann einem fäld" (317).
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2.2 Montauban Aus dem Zyklus der Empörergesten stammt der Haimonskinder- (Renaut de Montauban-) Stoff. Die Bearbeitung des Pfalzgrafen Johann II. von Simmern, eines Wittelsbachers, 14 1535 bei Rodler in Simmern gedruckt, 15 folgt einem frühen Druck der Quatre filz Aymon (15. Jahrhundert) 16 und greift auf einen im Spätmittelalter auch in Deutschland ungemein populären Erzählstoff zurück, in dessen Zentrum die unversöhnliche Fehde Reynhardts/Rengnolds von Montauban/Montalbane und seiner drei Brüder gegen Kaiser Karl und dessen intrigante Umgebung steht (ich konzentriere mich auf diese und ignoriere die genealogische Vorgeschichte). Ein unhöfischer Gewaltakt des Protagonisten Reynhardt an einem verleumderischen Höfling und Neffen Karls setzt eine Racheorgie des Kaisers in Gang, die bald jedes Maß und Ziel verliert. Die auf Mäßigung bedachten Kronvasallen und vor allem der Vater Haimon geraten dadurch in schwerste Loyalitätskonflikte. Das jahrelange ergebnislose Ringen, in dessen Verlauf Reynhardts Zufluchtsorte sukzessive belagert und zerstört werden, gipfelt in verlustreichen Sturmangriffen des Karlsheers auf Montauban, wohin sich die Gegner zurückgezogen hatten (vgl. Abb.). Bezeichnenderweise aber endet der Krieg nicht durch eine klare militärische Entscheidung, sondern durch die drohende Dienstaufkündigung der wichtigsten Kronvasallen, die in den absolutistisch-affektbestimmten Allüren ihres obersten Lehensherren eine zunehmende Belastung sehen. Karl muss auf seine Forderung bedingungsloser Vernichtung des Gegners verzichten, Reynhardt, formal unterlegen, geht ins Exil, befreit das Heilige Land, stirbt als Büßer, Märtyrer und Heiliger beim Bau der Kirche St. Peter in Köln. Soweit die Fassung Johanns; die fast zeitgleiche,
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Der Autor, fast fünf Jahrzehnte Landesfürst von Simmern und Sponheim (1509-57), mütterlicherseits ein Urenkel jener Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, die bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts mehrere Chansonepen ins Deutsche übertragen hatte, nahm als Teilnehmer mehrerer Reichstage, Regimentsvisitator und Präsident des Speyerer Reichskammergerichts regen Anteil an der Reichspolitik. Der kleine linksrheinische Hof entwickelte sich unter ihm zu einem Zentrum höfischer Traditionspflege und humanistischer Gelehrtenkultur, der Regent selbst betrieb historisch-dynastische Studien, verfasste eine diesen Zielsetzungen verpflichtete bayerische Reimchronik (Successio, 1569/70) und brachte seinen Repräsentations- und Verewigungsdrang überdies in einer Reihe aufwendiger Druckwerke zum Ausdruck, die er als Mäzen betreute, darunter Georg Rüxners Turnierbuch (1532). Ausgabe und Zitiergrundlage: Werner Wunderlich (Hg.), Johann II. von Simmern: Die Haymonskinder, Tübingen 1997. Die Stoffvermittlung ins Deutsche läuft sonst meist über niederländische Zwischenstufen; nur Johann von Simmem und der fast zeitgleiche oberdeutsche Redaktor der Aarauer Handschrift (1531) beziehen sich direkt auf französische Quellen. Vgl. Wunderlich im Anhang der Ausgabe, besonders 482-540, neuerdings und umfassend auch Beate Weifenbach, Die .Haimonskinder' in der Fassung der Aarauer Handschrift von 1531 und des Simmemer Drucks von 1535, Ein Beitrag zur Überlieferung französischer Erzählstoffe in der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Teil 1, Frankfurt a. M. 1999.
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leider anonyme oberdeutsche Aarauer Fassung (Handschrift 1531)17 umgeht den harmonistisch-legendenhaften Schluss und radikalisiert so die dem Stoff inhärente Sinnfrage: Der Tod des Helden „birgt hier keinen Trost, er ist nur das natürliche Ende eines Le18
bens, das in glücklosem Kampf vorbeiging." Das zentrale Spannungsmoment des Stoffes, dessen völlig überformte geschichtliche Basis in die Zeit Karl Martells (714-41) fällt, 19 bildet die Fehde zwischen einem unbeherrschten, seinen Lehens- und Amtspflichten nicht gewachsenen Herrscher und einem im Prinzip loyalen, durch fremdes Verschulden in den Widerstand gezwungenen Vasallen. Hinzu kommen, hier freilich nachrangig, Heidenkampfmotive. Beide Momente die Bedrohung des Abendlandes und seiner politisch-ideellen Ordnung durch die Muslime einerseits, der Machtkampf zwischen einer zu absolutistischer Willkür neigenden Zentralgewalt und Mitgliedern des betroffenen Hochadels andererseits - thematisieren in historischer Verfremdung zwei im 15./16. Jahrhundert brandaktuelle Konfliktpotentiale, und es ist durchaus interessant, wie der hohe Reichsfürst Johann die Ambivalenzen und Leerstellen des Stoffes und seiner Vorlage konkretisiert und wie er mit dem vordergründigen Scheitern des Protagonisten umgeht. Schon die Wahl eines Stoffes, der wenige Jahrzehnte nach dem formellen (und nur zögerlich sich durchsetzenden) Fehdeverbot des Wormser Reichslandfriedens (1495) die Frage nach der Legitimität von Fehde aufwirft und erörtert, ist Programm. Vor diesem Horizont mochte es Johann und seinem höfischen Publikum nicht nur literarisch reizvoll erschienen sein, im Dilemma Reynhardts, des Rebellen wider Willen, ein verfremdetes Exempel möglicher Gegenwartskonflikte zu beschreiben. Am Ende des langen und verlustreichen Krieges steht für Reynhardt die förmliche Unterwerfung, insofern eine klare Niederlage, deren Konsequenzen Exil und Bußfahrt sind (ein Handlungsmuster, das in dieser Form stoffunabhängig und fast topisch begegnet; so geht auch der geschlagene Herzog Ernst von Baiern im gleichnamigen deutschen Epos und .Volksbuch' nach dem Fall seiner Hauptstadt Regensburg auf Pilgerreise ins Heilige Land). Doch die moralische Frage nach Sieg und Niederlage ist verzwickter und mit der Evidenz des Exils nicht gelöst: Reynhardt handelt aus Sicht der meisten Romanfiguren und des Erzählers, vermutlich auch des Autors, rechtschaffen er ist der Gekränkte, zu Unrecht Gestürzte; auch sucht er wiederholt den Ausgleich, bietet seine (konditionierte) Unterwerfung an. Der Herrscher aber zeigt sich unfähig, Politisches von Privatem zu trennen, ist von minderwertigen Räten umringt, lässt sich von niederen Affekten und Racheinstinkten leiten und stellt damit den Bestand der auf consilium et auxilium beruhenden Reichsordnung in Frage. Der Sieg ist kein verdienter und kein wirklicher, denn die drohende Treuaufkündigung seiner Vasallen erst hat ihn 17
Ausgabe: Albert Bachmann (Hg.), Die Haimonskinder in deutscher Übersetzung des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1895.
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Sievert, Von Helden, Heiden und Herrschern, 137; detaillierter Fassungsvergleich bei Weifenbach, Die .Haimonskinder', 149-162. Hierzu vgl. Wunderlich, Ausgabe, 470-472.
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gegen die kaiserliche Maximalforderung in konditionierter, gemäßigter Form erzwungen; militärisch war die Haimonsippe, die im Gegensatz zum Karlslager unverbrüchliche Einheit und Solidarität demonstriert, letztlich nicht zu schlagen. Vorbildlicher Lehensherr, rex iustus et pacificus, vicarius Dei gar - Karl ist von allem das Gegenteil. Nur noch seine edle Abkunft, der Titel und Nachhall früherer Leistungen bewahren ihm Spuren von Autorität. Der Schutz der Christenheit, die erste kaiserliche Verpflichtung, verkommt bei diesem Herrscher zur Marginalie. Zu Recht hält ihm Herzog Naymas vor: „Habent auch acht gnedigster Herr/ wie wir das Veldt verwuesten/ vnd jr ewer gelt verzerent/ vil besser wer/ das jr diesen verlust vber die Heyden anwendten/ dann das jr darmit die vier suen Aymonts bekriegent/ vnd die Heyden treibent iubel vnd freud/ so sie sich ruwig jr Landt besitzen sehen/ vnd nit vnbillich/ wann jnen wirdt keyn schad zugefuegt/ wir verkleynem vnd verschmelern vnns selberst" (311).
Dies ist bei allen Ambivalenzen im Detail nicht mehr das Bild des heiligen Kaisers Karl, das noch das Rolandslied und die frühen Kreuzzugsepen, ja selbst der Riese Morgant propagierten. Nicht erst die legendenhafte Stilisierung Reynhardts zum Heiligen, mit der Johanns Fassung schließt, revidiert die faktische Demütigung der Unterwerfung und Exilierung - schon die tendenziöse Erzählperspektive weckt Sympathie und Bewunderung für den Rebellen wider Willen und seine wenigen, aber unerschrocken um ihr Recht (oder das, was sie dafür halten) kämpfenden Mitstreiter und gesteht dem zwischen Vaterbindung und Vasallentreue ausweglos hin- und hergerissenen Haimon sogar eine dezidierte tragisch-heroische Größe zu. Etwas weniger hypothetisch als im Falle des anonymen Riesen Morgant (denn hier kennen wir immerhin den Autor und sein spezifisches Umfeld) lässt sich abschließend noch einmal auf die eingangs angeschnittene Frage zurückkommen, welcher mögliche Zeitbezug der spezifischen (Um-)Deutung der pseudohistorischen Niederlage in diesem Text innewohnt. Auch Johann übernahm ja den Verlauf der Fabel und die grundsätzlichen Werturteile weitgehend der Stofftradition und speziell seiner französischen Quelle. Trotzdem aber zeigt sein Text, der die heikle, immer wieder gewaltsam eskalierende Austarierung der Macht im feudalen Staatswesen (oder, wie Johanns zweiter Roman Fierrabras, die konzertiert-solidarische Abwehr von Glaubensfeinden) anhand historischer Präzedenzfälle vergegenwärtigt und problematisiert, eine deutliche und konkrete Affinität zu den politisch-sozialen Belangen und zur Interessenlage eines adlig-territorialhöfischen Publikums im 16. Jahrhundert, was sich auch in der kaum überraschenden Tatsache ausdrückt, dass sich Johanns Romane bruchlos in die geistig-kulturellen und politisch-territorialen Interessen und Ambitionen des Simmerner Hofes während seiner Regentschaft einfügen. Die Auswahl exakt dieser Chansonstoffe als Vorlage stützt auch hier eine spezifische Wechselwirkung zwischen Dichtung und Wahrheit, die die erstere weit über reine Unterhaltungs- und Geselligkeitsansprüche erhebt: Niederlagen und Kriege, so lässt sich resümieren, werden erinnert als historische Präzedenzfälle, zur Mahnung, Warnung und Belehrung, zur gegenbildlichen Artikulation politischer und sozialer Ansprüche und Frustrationen, im Fall der Heidenkriege auch zur Erbauung mit
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konsolatorischem Potential für eigene Bedrohungslagen - was dem stofflichen Reiz, den die unterhaltsame Mischung aus Kampf und Krieg, Hofkultur, sentimentaler Liebe sowie Märchen- und Legendenepisoden unabhängig davon ausüben konnte, natürlich keinen Abbruch tut, aber eben zeigt, dass die Texte sich darin nicht erschöpften.
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Eine Wurzel fachlicher Innovation? Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die „Volksgeschichte" in Deutschland Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte
Von Reinhart Koselleck stammt bekanntlich die „Hypothese, daß von den Besiegten die weiterreichenden Einsichten in die Geschichte stammen". 1 Nun hat Koselleck selbst ihre Anwendbarkeit auf die deutsche Historiographie nach 1918 zumindest relativiert, und seither haben etwa Fritz Stern und Ernst Schulin dergleichen Zweifel noch verstärkt. 2 Was sie vermissen, ist indessen weniger eine produktive Auseinandersetzung mit der Kriegsniederlage als vielmehr die Erweiterung der historischen Methodik aufgrund des erfahrenen Kriegsgeschehens, wie dies etwa Ulrich Raulff am Beispiel Marc Blochs demonstriert hat. 3 Insofern erledigen solche Hinweise noch nicht die Frage nach möglichen innovatorischen Impulsen, die unmittelbar aus der Erfahrung der Niederlage hervorgehen. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, so ließe sich ein in den letzten fünfzehn Jahren viel diskutierter Zusammenhang stark verkürzt zusammenfassen, habe ein Volksbegriff an Überzeugungskraft gewonnen, der Volk als vor- und außerstaatliche Wesenheit bestimmte und so die Möglichkeit bot, im Namen des Volkes gegen die neu gezogenen staatlichen Grenzen zu argumentieren. Die Aufnahme dieses Impulses durch Teile der Geschichtswissenschaft stellte erstens die herkömmliche Fixierung auf den Staat als Gegenstand historischen Interesses infrage. Daneben habe das politisch motivierte Interesse an der historischen Volkstumsforschung zweitens auch auf dem Gebiet der interdisziplinären 1
Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel, Eine historisch-anthropologische Skizze, wieder in: ders., Zeitschichten, Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, 27-77, hier: 68.
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Vgl. Fritz Stern, Der Historiker und der Erste Weltkrieg, Eigenes Erleben und öffentliche Deutung, wieder in: ders., Verspielte Größe, Essays zur deutschen Geschichte, München 1996, 37-68, 297ff. und Ernst Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion, in: Wolfgang Rüttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 18801945, Frankfurt a. M. 1997, 165-188 sowie zuletzt Christoph Cornelißen, Die Frontgeneration deutscher Historiker und der Erste Weltkrieg, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden, Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, 311-337. Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995.
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Zusammenarbeit zu zukunftsweisenden Neuerungen geführt, da sich Sprache, Siedlungs- und Lebensformen bestimmter Volksgruppen nur in enger Kooperation mit Geographie und Sprachwissenschaft, mit Soziologie und Volkskunde erforschen ließen. Dadurch sei es drittens zu einer Öffnung von Teilen der Geschichtswissenschaft gegenüber den theoretischen und systematischen Zugriffen der Nachbardisziplinen gekommen. 4 „Die Gegenwart stellt neue Aufgaben. Der Aufbau der Geschichtswissenschaft muß ihnen entsprechen." 5 Mit diesen Worten hat Erich Keyser in einer Programmschrift der Volkshistorie der Zwischenkriegszeit ihren Entstehungszusammenhang umrissen. Bei ihrer seit den 1990er Jahren intensivierten Erforschung stand zunächst die Frage nach dem Verhältnis von völkischer Ideologisierung und methodischer Innovation ganz im Vordergrund. 6 In der Folgezeit ist das Thema indessen von zwei anderen Diskussionssträngen überlagert und verdrängt worden. Zum einen ist die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Volksgeschichte und bundesrepublikanischer Sozialgeschichtsschreibung in den Vordergrund gerückt worden, zum anderen hat die Frage nach dem Stellenwert volkshistorischer Forschung in der Siedlungs- und Vernichtungspolitik der nationalsozialistischen Diktatur große Aufmerksamkeit gefunden. Auf beides muss wegen der Implikationen dieser Debatten für das hier interessierende Thema knapp eingegangen werden. So hat die These einer Kontinuität zwischen der Volksgeschichte der 1920er, 30er und 40er Jahre und der Sozialgeschichte der Bundesrepublik heftige Abwehrreaktionen hervorgerufen. Vor allem Hans-Ulrich Wehler hat jedwede Kontinuität bestritten, „weil der stärkste Einfluß auf die westdeutsche Sozialgeschichte - wie das der Rückblick auf die vergangenen vierzig Jahre deutlich macht - von Hans Rosenberg und den von ihm beeinflussten Historikern ausgegangen ist." 7 Die Vehemenz seines Dementis ist wohl nur zu verstehen, wenn man in Rechnung stellt, dass er die Aufarbeitung einer volkshistorischen Traditionslinie als Versuch missversteht, die Sozialgeschichte (auch Biele-
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Hier sei nur stellvertretend die grundlegende Arbeit von Willi Oberkrome, Volksgeschichte, Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993 genannt. Erich Keyser, Die Geschichtswissenschaft, Aufbau und Aufgaben, München 1931, IV. Vgl. etwa Winfried Schulze, Der Wandel zum Allgemeinen: Der Weg der deutschen Historiker nach 1945 zur Kategorie des Sozialen, in: Karl Acham/Winfried Schulze (Hg.), Teil und Ganzes, Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichte und Sozialwissenschaft (Beiträge zur Historik, Bd. 6), München 1990, 193-216, Jürgen Kocka, Ideological Regression and Methodological Innovation: Historiography and the Social Sciences in the 1930s and 1940s, in: History and Memory 2 (1990), 130-138 sowie Willi Oberkrome, Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, 216-238. Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: ders. (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, 918, hier: 13.
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felder Provenienz) zu diskreditieren. 8 Statt dessen dürfte es primär um ihre Historisierung durch eine jüngere Historikergeneration gehen. 9 Die Verzerrungen, zu denen die Leugnung jedweder Kontinuität führt, hat denn auch einen amerikanischen Historiker zu der spöttischen Formulierung von der „self-constructed genealogy of the Bielefeld school" provoziert. 10 Und in der Tat sollte nicht aus dem Blick geraten, dass Rosenberg, nahezu der einzige akzeptierte Ahnherr in dieser Genealogie, als er 1968 die wichtigsten deutschsprachigen Sozialhistoriker aufzulisten suchte, selbst neben dem gleichfalls der volksgeschichtlichen Tradition zuzuordnenden Erich Maschke vor allem Werner Conze und Otto Brunner sowie deren Schüler Wolfgang Köllmann und Reinhart Koselleck nannte. 11 Die fachpolitische Bedeutung einer Abgrenzung von etwaigen volkshistorischen Vorläufern macht auch der zweite hier kurz anzusprechende Diskussionsstrang deutlich, der die volkshistorischen Untersuchungsverfahren in den Kontext ihrer Verwendbarkeit durch die verschiedenen Stellen des NS-Regimes stellt. Hier haben sich zwar frühe Zuspitzungen wie die Einordnung Werner Conzes in den Kreis der „Vordenker der Vernichtung" oder die Charakterisierung einer von Theodor Schieder (mit -) verfassten Denkschrift als „Vorläufer des .Generalplans Ost'" als wirkungsgeschichtlich überzogen erwiesen. 12 Und dennoch haben erst hieran anknüpfende Arbeiten genauer herausgearbeitet, in welchem Umfang die etwa 1 000 Mitarbeiter der außeruniversitären Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften der NS-Bevölkerungspolitik zugearbeitet haben. 13 Dieser mörderische Verwendungszusammenhang volkshistorischer Untersuchungstechniken gibt der Frage nach dem Verhältnis von völkisch-revisionistischer 8
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Vgl. auch ders., Nationalsozialismus und Historiker, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, 306-339, bes. 307. Besonders augenfällig bei Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001. James van Horn Melton, Introduction, in: Hartmut Lehmann/James van Horn Melton (Hg.), Paths of continuity: central European historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1984, 1-18, hier: 3. Vgl. Hans Rosenberg, Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1969, 81-148, bes. 141 f. Vgl. Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a. M. 1993, bes. 102ff. und Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplans Ost", Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999 7 (1992), H. 1, 62-94. Vgl. v. a. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931-1945, Baden-Baden 1999; zusammenfassend ders., Die „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft", Politische Beratung und NSVolkstumspolitik, in: Schulze/Oexle (Hg.), Deutsche Historiker, 241-264 (mit weiterer Literatur) sowie Hans Mommsen, Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime, Anmerkungen zur Historikerdebatte, in: ebd., 265-273 (mit überzeugenden Wertungen); grundlegend: Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000.
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Motivation und etwaiger methodischer Innovation ihre besondere Schärfe. Ihr soll im folgenden anhand einiger prominenter Beispiele weiter nachgegangen werden. Dabei müssen zunächst die wichtigsten Einflüsse auf und die zentralen Charakteristika von volkshistorischen Ansätzen der Zwischenkriegszeit vorgestellt werden. Erst dann können die Kriterien diskutiert werden, anhand derer Innovation identifizierbar scheint, wobei der Versuch unternommen wird, die spezifische Innovationsleistung mancher Volkshistoriker durch den Vergleich mit einigen ihrer zeitgenössischen Kollegen weiter zu profilieren. „So hat der Weltkrieg die Entfaltung der deutschen Geschichtswissenschaft [...] nachhaltig befruchtet". Diese zeitgenössische Feststellung Erich Keysers wird nicht zuletzt durch die massive Hinwendung der historischen Forschung zu Fragen des Grenz- und Auslanddeutschtums belegt, die den auch rassekundlichen Ansätzen offen gegenüberstehenden Keyser apodiktisch erklären ließ: „Die Geschichte Deutschlands wird die Geschichte des deutschen Volks- und Kulturbodens sein." 14 Und doch folgte diese Neuorientierung von Teilen der Geschichtswissenschaft nicht unmittelbar auf das Kriegsende oder die Unterzeichnung der Pariser Vorortverträge. Selbst ein so vehementer Förderer der Volksgeschichte wie der Kriegsteilnehmer Hans Rothfels (1891— 1976) wandte sich erst nach seiner Berufung nach Königsberg im Jahre 1926 verstärkt Volkstumsfragen zu. 15 „Überall", so erklärte er nun, „geht es gegenüber den Ideologien von 1919, gegenüber der abstrakten Nationalstaatsidee, die schon Bismarck bekämpfte, um neue Formen des Zusammenlebens der miteinander verzahnten Völker." Wie diese neuen Formen konkret aussehen sollten, machte Rothfels nicht deutlich, doch scheint klar, dass „die Einheit der Front von Reval bis Bukarest" nicht nur aufgrund „der durchgehenden deutschen Beteiligung" bestand, sondern auch zukünftig durch deutsche Dominanz untermauert werden sollte. 16 So klar aber der durch die Kriegsniederlage ausgelöste volkstumspolitische Impuls bei Rothfels hervortritt, so wenig hat dieser seine ideen- und politikgeschichtliche Methodik beeinflusst. Dies dürfte die Akzeptanz seiner
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Keyser, Geschichtswissenschaft, 126 und 108; vgl. exemplarisch nur das während der Weimarer Republik in Angriff genommene Projekt eines Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums sowie dazu Willi Oberkrome, Geschichte, Volk und Theorie, Das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums", in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a. M. 1997, 104-127. Zu Rothfels vgl. Hans Mommsen, Hans Rothfels, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 9, Göttingen 1982, 127-147; Klemens von Klemperer, Hans Rothfels (1891-1976), in: Lehmann/Melton (Hg.), Paths, 119-135 mit dem Kommentar von Douglas A. Unfug; Lothar Machthan, Hans Rothfels und die sozialpolitische Geschichtsschreibung in der Weimarer Republik, in: ders. (Hg.), Bismarcks Sozialstaat, Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1994, 310-384 sowie Ingo Haar, „Revisionistische" Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung, 52-103, besonders 70-81. Hans Rothfels, Vorwort, in: ders., Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke, Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935, V-X, hier: IXf.
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volkstumspolitischen Positionen im Fach erleichtert haben, zumal er ja seine Absage an den Nationalstaat ausgerechnet Bismarck unterschob.17 Zog also der durch die Gebietsabtretungen im Gefolge der Kriegsniederlage ausgelöste Revisionismus nicht notwendig eine Revision der historischen Methodologie nach sich, so reichten umgekehrt Ansätze zur Erweiterung des historischen Methodenkanons im Sinne einer Volksgeschichte weit in die Vorkriegszeit zurück. Für Deutschösterreicher wie Otto Brunner (1898-1982) war Königgrätz und nicht Versailles der Geburtsort zentraler Volkstumsfragen. Er dachte an 1866, als er 1938 über seine Landsleute schrieb: „Die Idee des Volkstums rückte völlig in den Mittelpunkt ihres Denkens, nicht 18
der Staat, das Volk wird zur primären, leitenden Idee ihres Denkens und Handelns." Dennoch bedeutete auch für Brunner das Ende des Ersten Weltkriegs einen tiefen Einschnitt, der, wie er 1939 formulierte, „uns von dem Druck einer längst brüchig gewordenen Weit befreit [hat]. Die geschichtliche Bedingtheit des liberalen Rechtsstaates liegt klar zutage, sein Anspruch, eine endgültige Form politischer Ordnung zu sein, aus der allgemeingültige Maßstäbe und Begriffe zum Verständnis der Vergangenheit gewonnen werden können, ist erloschen. Damit ist der Historie der Weg zu einem neuen Verständnis der Vergangenheit und zugleich zum Dienst an der Gegenwart eröffnet." 19
Mit dieser Formulierung aus einem 1939 erschienenen Aufsatz, der die Ergebnisse seines wichtigsten Buches Land und Herrschaft zusammenfasste, unterstrich Brunner selbst, wie sehr seine Kritik am liberalen und bürgerlichen Rechtsstaat des langen 19. Jahrhunderts vom Glauben an dessen Überwindung in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft motiviert war.20
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Ein guter Überblick über Rothfels' politisches Wirken innerhalb des Faches bei Haar, Historiker, 97-105, der aber die quellenkritischen Einwände von Heinrich August Winkler, Hans Rothfels Ein Lobredner Hitlers? Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus, in: VfZG 49 (2001), 643-652 nicht hat ausräumen können: vgl. Ingo Haar, Quellenkritik oder Kritik der Quellen? Replik auf Heinrich August Winkler, in: VfZG 50 (2002), 497-505 und Heinrich August Winkler, Geschichtswissenschaft oder Geschichtsklitterung? Ingo Haar und Hans Rothfels: Eine Erwiderung, in: VfZG 50 (2002), 635-652. Otto Brunner, Österreichs Weg zum Großdeutschen Reich, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 2 (1938), 519-528, hier: 526; vgl. hierzu neben Fahlbusch, „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft" und Oberkrome, Geschichte auch Reinhard Joehler, Geschichte und Landeskunde: Innsbruck, in: Wolfgang Jacobeit/Hannjost Lixfeld/Olaf Bockhorn (Hg.), Völkische Wissenschaft, Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Köln 1994, 449-462. Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: MIÖG, XIV. Ergänzungsband (1939), 513-528, hier: 528. Vgl. zu Brunner v. a. Robert Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus, Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 13 (1984), 237-262; Otto Gerhard Oexle, Sozialgeschichte - Begriffsgeschichte - Wissenschaftsgeschichte, Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: VSWG 71 (1984), 305-341 sowie James Van Horn
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Für Brunner ging also die Forderung nach einer politischen Volksgeschichte nicht direkt aus der Ablehnung der Pariser Vorortverträge hervor, sondern mindestens ebenso sehr aus der Ablehnung des verachteten liberalen Rechtsstaats. Wissenschaftlich zog er aus seiner Kritik am liberalen Trennungsdenken, die sich auf prominente Rechtskonservative wie Hans Freyer und Carl Schmitt berufen konnte, eine doppelte Konsequenz. 21 Zunächst nutzte er die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit von Einrichtungen wie Staat, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft zu einem bis heute eindrucksvollen Angriff 22
gegen den „Schlendrian scheinbar allgemeingültiger Begriffe". In Land und Herrschaft zeigte er am Beispiel der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, dass man dieser nicht gerecht werde, wenn man sie in den Begriffen des modernen Staatsrechts zu fassen versuche. 23 Wenn sich aber zeigen ließ, dass der Begriff der Gesellschaft als der vom Staat abgehobenen Wirtschaftsgesellschaft ein Produkt des Umbruchs zur Moderne war, dann galt dies in entsprechender Weise für das Auseinandertreten von politischer Geschichte und Sozialgeschichte. Auch hier war das verhasste liberale Trennungsdenken zu überwinden: „Nicht politische Geschichte als bloße Machtgeschichte, nicht Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte usf., die in einem antipolitischen, liberalen Sinn im Sammelbegriff der Kulturgeschichte äußerlich zusammengefasst werden, sondern Volksgeschichte heißt das Gebot der Stunde."24
Wenngleich Brunners begriffsgeschichtliche Akzentuierung der Volksgeschichte nicht für die Volksgeschichtsschreibung insgesamt typisch gewesen ist, so verweisen doch die in seiner Begründung des Integrationsanspruches der Volksgeschichte enthaltene Gegenüberstellung von Volk und Gesellschaft und seine Präferenz für das vormoderne Alteuropa auf breiter wirksame Einflüsse der völkischen Soziologie Hans Freyers (1887-1969) und Gunther Ipsens (1899-1984). 25 Das „Volk ist der Gegenspieler der in-
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Melton, From Folk History to Structural History: Otto Brunner (1898-1982) and the Radical-Conservative Roots of German Social History, in: Lehmann/Melton (Hg.), Paths, 263-292. Zum Einfluß Carl Schmitts vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1981 (Beihefte zu „Der Staat", Bd. 6), Berlin 1983, 7-21 und 22-46 (Aussprache) sowie Gadi Algazi, Otto Brunner - „Konkrete Ordnung" und Sprache der Zeit, in: Schüttler (Hg.), Geschichtsschreibung, 166-203, bes. 171f. und 182f. Otto Brunner, Land und Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (Veröffentlichungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Bd. I), Baden bei Wien 1939, 155. Dieses Verdienst wird von der Kritik Algazis nicht berührt; vgl. auch Thomas A. Brady Jr., Whose Land? Whose Lordship? The New Translation of Otto Brunner, in: Central European History 29 (1996), 227-233. Brunner, Land, 194. Zu Freyer und der auch für Ipsen prägenden Leipziger Soziologie vgl. vor allem Jerry Z. Müller, The Other God that Failed, Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton, N. J. 1987; Elfriede Üner, Soziologie als "geistige Bewegung", Hans Freyers System der
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dustriellen Gesellschaft" hatte Freyer 1931 in seiner Schrift Revolution von rechts formuliert, und Aufgabe des Volkes war nicht zuletzt, „dauernd den Raum des Reichs mit Leben zu erfüllen". 26 Damit näherte sich Freyer zunehmend seinem Freund und Kollegen Ipsen an, dessen demographische und soziologische Arbeiten sich ganz auf das Landvolk konzentrierten. Den Kern des Ipsenschen Landvolks - und zugleich die geborene Führungsschicht der ländlichen Gesellschaft - aber bildeten die Hofbauern, deren Beharrungskraft auch „der Zersetzung durch das 19. Jh." widerstanden hätte. Neben seiner Beharrungskraft war es seine Bodenständigkeit, die das Bauerntum den überzeitlichen Bestand des Volkes und insbesondere des Volksbodens garantieren ließ, „auch dann noch, wenn die staatliche Macht für Zeiten versagt". 27 Zu dieser Stabilität trat aber für Ipsen eine ganz besondere, sich aus dem Zusammenspiel von ländlichem Bevölkerungswachstum und Anerbenrecht ergebende Dynamik, ein Drang zu räumlicher Expansion. Ihr Ort konnte nur der Osten sein, wo sich die letztlich ständisch-hierarchische Ordnung des germanischen Hofbauerntums und die „Beliebigkeit des Einzelbesitzes" 28
und die „Strukturarmut u. Spannungslosigkeit" des Ostens gegenüberstanden. Den engen Zusammenhang zwischen der angesprochenen völkischen Soziologie als wichtigem konzeptionellen Einfluss auf die Volkshistorie und dem politisch virulenten Grenzkampf macht schon die Beobachtung deutlich, dass die soeben zitierten Artikel Ipsens den theoretischen Rahmen für die zahlreichen Einzelartikel des Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums bilden sollten, die für die einzelnen Grenzgebiete systematisch Raum, Bevölkerung und Volkstum einschließlich der Siedlungsund Sprachgeschichte behandeln sollten. Dies erforderte neue Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit, die allerdings teilweise an die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Siedlungs- und Landesgeschichte anknüpfen konnten. 29 Gleichwohl ergaben sich auch hier aus der unmittelbaren Nachkriegssituation Impulse, die sich in der weitgehenden Konzentration auf Grenzräume und dem verstärkten
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Soziologie und die "Leipziger Schule", Weinheim 1992; Gerhard Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens, Hans Freyer und die Soziologie in Leipzig 1925-1945, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990, 121-175 sowie - autobiographisch - Hans Linde, Soziologie in Leipzig 19251945, in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 23), Opladen 1981, 102-130. Hans Freyer, Revolution von rechts, Jena 1931, 44 und ders., Der Staat, Leipzig 1925, 111. Gunther Ipsen, Art. Agrarverfassung: III. Das Landvolk, Soziale Struktur, in: Carl Petersen u. a. (Hg.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Bd. 1, Breslau 1933, 37-52, hier: 39. Ebd., 49; vgl. auch Gunther Ipsen, Art. Bevölkerung: I. Bevölkerungslehre, ebd. 425-463. Vgl. gleichsam als Bestandsaufnahme des Methodenarsenals Hermann Aubin, Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde, wieder in: ders., Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie, Bonn 1965, 17-26 (zuerst 1925); vgl. auch Luise Schom-Schütte, Territorialgeschichte - Provinzialgeschichte - Landesgeschichte - Regionalgeschichte, Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Landesgeschichtsschreibung, in: Helmut Jäger/Franz Petri/Heinz Quirin (Hg.), Civitatum Communitas, Studien zum europäischen Städtewesen, Festschrift für Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, Teil 1, Köln 1984, 390-416.
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Gebrauch der Kartographie niederschlugen. Die 1920 vor dem Hintergrund französischer Forderungen nach der Annexion linksrheinischer Gebiete erfolgte Gründung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn macht diesen Zusammenhang sinnfällig.30 Zentrales Thema war die Erforschung der Siedlungs- und Sprachgrenze im Westen. Wenn Franz Steinbach (1895-1964), der als Nachfolger Hermann Aubins (1885-1969) das Institut leitete, feststellte, „daß der Verlauf der Sprachgrenze [...] nicht als erstarrte Frontlinie des germanischen Vormarsches, sondern nur als Rückzugslinie des Germanischen begriffen werden könne", hatte das also unmittelbare politische Brisanz.31 Aber auch wer wie Aubin 1930 im Westen die eigentliche Aufgabe darin sah, „Wege zu suchen, wie beim Auseinanderfallen von Staat und Nationalität auch die nationale Minderheit zur Geltung kommen kann", musste sich zur Bestimmung solcher Mischungsverhältnisse der Ortsnamensanalyse, der Untersuchung von Dorfformen, der Verbreitung von Mundart und Brauchtum oder etwa der Bevölke32
rungsrekonstruktion anhand von Kirchenbüchern zuwenden. Die empirische Erforschung der Grenzen des deutschen „Volks- und Kulturbodens" - einem von Geographen wie Albrecht Penck und Wilhelm Volz durchaus kontrovers diskutierten Konzept - war keineswegs auf den Westen beschränkt.33 Vielmehr gab es in den frühen 1930er Jahren nicht weniger als sechs „Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften", deren Mitarbeiterzahl und deren Etats in der Folgezeit rasch stiegen.34 Zu den Zentren einer solchen grenzbezogenen Forschung zählte nicht zuletzt Königsberg, wo Hans Rothfels und seine Schüler - genannt seien nur Werner Conze, Rudolf 30
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Vgl. Oberkrome, Volksgeschichte, 32ff.; Peter Schöttler, Der Rhein als Konfliktthema zwischen deutschen und französischen Historikern in der Zwischenkriegszeit, in: 1999 9 (1994), H. 2, 46-67 sowie ders., Die historische „Westforschung" zwischen „Abwehrkampf" und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung, 204-261; zuletzt zur Westforschung und mit der neuesten Literatur Burkhard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hg.), Griff nach dem Westen, Die „Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (19191960), 2 Teilbde. Münster 2003. Franz Steinbach, Die westdeutsche Volksgrenze als Frage und Forschungsaufgabe der politischen Geschichte, wieder in: Franz Petri/Georg Droege (Hg.), Collectanea Franz Steinbach, Aufsätze und Abhandlungen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, geschichtlichen Landeskunde und Kulturraumforschung, Bonn 1967, 180-189, hier: 182 (zuerst 1937). Hermann Aubin, Staat und Nation an der deutschen Westgrenze, in: ders., Von Raum und Grenzen des deutschen Volkes, Studien zur Volksgeschichte, Breslau 1938, 57-79, hier: 79 (zuerst 1930); vgl. zur zeitlichen Entwicklung bis hin zur „Einmarschhistorie" Schöttler, „Westforschung" sowie Karl Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik, Das Beispiel Franz Petri (1903-1993), in: Westfälische Forschungen 46 (1996), 73-176. Vgl. Mechthild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum", Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus, Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Hamburg 1990; Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards, A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, bes. 25ff. sowie knapp Haar, Historiker, 45ff. Vgl. schon Oberkrome, Volksgeschichte; jetzt umfassend: Fahlbusch, Wissenschaft sowie zur Einordnung Hans-Dietrich Schultz, Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit, in: GG 28 (2002), 343-377.
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Craemer, Erich Maschke und Theodor Schieder - sich schon länger in der sogenannten Ostforschung engagiert hatten. Ingo Haar hat sehr anschaulich die völkisch-bündische Sozialisation beschrieben, die diese Angehörigen der Kriegsjugendgeneration dort durchlebten. 35 Ihre Aktivitäten in der Deutsch-Akademischen Gildenschaft oder der Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland waren indessen eng mit wissenschaftlicher Arbeit verbunden. Die deutsche Sprachinsel Hirschenhof war so 1932 nicht allein Ziel einer der Baltikumsfahrten dieser Gruppe und Ort eines Arbeitslagers, sondern zugleich Untersuchungsgegenstand der bereits 1934 publizierten Dissertation Werner Conzes. 36 Diese Arbeit kann nicht allein wegen des späteren Einflusses ihres Verfassers geradezu als ein Musterbeispiel volkshistorischer Forschung gelten, das zudem das bislang angesprochene Interesse an Volkstumsfragen, volkssoziologische und gesellschaftstheoretische Interessen und einen - auch methodisch - interdisziplinären Ansatz zusammenführte. 37 Selbstbewusst plädierte Conze für die „Verbindung von historischer, soziologischer, volkskundlicher und statistischer Methode" und forderte: „Die historische Behandlung" müsse „oft in eine Darstellung des Zuständlichen übergehen, in dem das vergängliche kleine Einzelgeschehen auf das Gesetz- und Wesensmäßige hinweist." 38 Schon in seinem ersten Buch setzte er also der Ereignisgeschichte ein später als Strukturgeschichte bezeichnetes Konzept entgegen, das zugleich auf die notwendige Verbindung historischer Forschung mit theoretischen Ansätzen verwies. Konkret bediente er sich dabei der Vorgaben der Sprachinselforschung Walter Kuhns, die ihm nicht nur einen wichtigen Vergleichspunkt sondern zugleich ein Modell für die gleichsam „naturgesetzlichen Vorgänge" der Entwicklung einer solchen Sprachinsel lieferte. 39 Sein Ziel war es nachzuzeichnen, „wie inmitten lettischer Bauernbevölkerung eine junge deutsche Sprachinsel durch Not und Entbehrungen hindurch zu einem Stück gesicherten deutschen Volksbodens wurde." 40 Aus dieser Perspektive heraus betrachtete er das anhand von Sprache, Brauchtum und Heiratsverhalten nachgewiesene Getrenntbleiben der deutschstämmigen Siedler und ihrer Nachkommen mit Wohlwollen, doch leugnete er deshalb weder negative Effekte dieser Isolation wie das Festhalten an überkommenen Arbeitstechniken, noch ließ er sich dazu 35 36
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Vgl. Haar, Historiker, besonders 73 auch zum folgenden. Werner Conze, Hirschenhof, Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland (Neue Deutsche Forschungen, Abteilung Volkslehre und Gesellschaftskunde, Bd. 2), Berlin 1934 (2. Aufl. Hannover 1963). Vgl. zu Conze neben Etzemiiller, Sozialgeschichte, der allerdings auf eine eingehendere Analyse der Schriften Conzes meint verzichten zu können, Reinhart Koselleck, Werner Conze, Tradition und Innovation, in: HZ 255 (1987), 529-543 und Wolfgang Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, Das wissenschaftliche Lebenswerk Werner Conzes, in: GG 13 (1987), 244-266. Conze, Hirschenhof, 14 und 13. Ebd. (2. Aufl.), 47. Ebd. (2. Aufl.), 28.
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verführen, ihnen „ein nationales Bewußtsein der Zusammengehörigkeit des ganzen deutschen Volkes" zu unterstellen. Ein solches habe sich vielmehr erst in jüngster Zeit herausgebildet, nachdem zuvor das „Überlegenheitsgefühl des Kolonistenstandes" vorherrschend gewesen sei. 41 Besonders bemerkenswert sind die ungemein präzise quantifizierenden agrar- und bevölkerungsgeschichtlichen Kapitel der Untersuchung, die die Zeit von der Gründung der Siedlung in den 1760er Jahren bis in seine unmittelbare Gegenwart hinein abdeckt. Conze orientierte sich hier an der Agrarsoziologie und der Bevölkerungslehre seines Lehrers Gunther Ipsen, dessen Vorliebe für Bauerntum und Anerbenrecht er teilte. Das hinderte ihn aber nicht, die in der Verzögerung intensiverer Bewirtschaftung deutlich werdenden Schattenseiten des Anerbenrechtes und die angesichts eines enormen Bevölkerungswachstums segensreichen Wirkungen seiner Umgehung zu dokumentieren, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in der verstärkten Schaffung von halben Stellen und von Handwerkern bestellten Kleinlandwirtschaften ihren Ausdruck fand. Selbst die Abwanderung etwa in das städtische Handwerk Rigas erscheint in hellem Licht, solange sie nicht „die wirkliche innere Verstädterung" nach sich zieht, das heißt den Abbruch der „Verbindung mit Hirschenhof". 42 Hier wie in den geistigen Anleihen bei Walter Kuhn und Gunther Ipsen wird das volkstumspolitische Erkenntnisinteresse Conzes deutlich, doch unterzieht er eben die dort entlehnten Konzepte einer kritischen und nüchternen Überprüfung, deren Wissenschaftlichkeit bis heute außer Frage steht. 43 Während Gunther Ipsen mit Blick auf deutsche Realteilungsgebiete von „Kümmerformen" und von „rassischer Entartung" sprach, zeichnete sein Schüler Conze mit Blick auf die überwiegend aus der Pfalz nach Hirschenhof wandernden Menschen nüchtern deren Lage nach: „Daß großenteils gerade Landlose und Angehörige dieser ländlich städtischen Zwischenschicht die Heimat verließen und nicht wirkliche Bauern, die noch genügend Land hatten, ist erklärlich." 44 Noch mehr Aufmerksamkeit hat in jüngster Zeit Conzes Habilitationsschrift aus dem Jahre 1940 gefunden, die in Anlehnung an die Bevölkerungslehre Ipsens versuchte, das „Wirkungsverhältnis eines Lebensraumes mit bestimmter Verfassung und seiner Bevölkerung [...] an einem großen Beispiel, der ländlichen Bevölkerung des ehemaligen Großfürstentums Litauen" darzustellen. Hierzu verband er erneut demographische, agrarsoziologische, volkskundliche und sprachgeschichtliche Methoden. Seine die frühe Neuzeit abdeckende Untersuchung schilderte - ganz in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Ipsen - die Durchsetzung der anerbenrechtlichen Hufenordnung deutscher Herkunft als Voraussetzung „gesunder" Entwicklung, die das litauische vom weißrussischen Gebiet unterschied. Auf letzterem hätte die „kleinbäuerliche Lebenshaltung der
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So sieht etwa Gustav Gangnus, Hirschenhof in Livland in seiner Gründungsphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Ostforschung 4 3 (1994), 496-515 keinen Grund für eine Distanzierung. Ipsen, Agrarverfassung, 5 0 und Conze, Hirschenhof, 2. Aufl., 32.
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slawischen Bauern" schon im späten 18. Jahrhundert die „spätere Übervölkerung des Dorfes in Weißrußland [...] spürbar vorbereitet." 45 Diese Übervölkerung, so meinte Conze an anderer Stelle, werde „zu einem Herd dauernder Spannung und revolutionärer Unruhe", ein Zusammenhang, den gleichfalls Ipsen schon behauptet hatte, und dem Conze in der Fortführung seiner Untersuchungen bis ins 20. Jahrhundert nachzugehen beabsichtigte. 46 Als mögliche Lösungen betrachtete er „Parzellierung, Separation, Intensivierung der Wirtschaft, Industrialisierung, Entjudung der Städte und Marktflecken zur Aufnahme bäuerlichen Nachwuchses in Handel und Handwerk [...] Die drei erstgenannten sind in Verbindung mit der polnischen Agrarreform durchgeführt" worden. 47 Daraus hat Götz Aly schließen wollen, „unter den Bedingungen deutscher Besatzungsherrschaft [sei allein] die .Entjudung'" übrig geblieben, zu Unrecht, wie mir scheint, zumal Conzes Aufsatz mit der klaren Aussage schließt: „Die ländliche Übervölkerung ist eine Frage der ländlichen Verfassung." 48 Ungeachtet solcher interpretatorischer Differenzen im Einzelfall liegt auf der Hand, dass die methodisch innovativen Arbeiten Conzes und anderer Volkshistoriker von unmittelbarer Relevanz für die Umsiedlungs- und Deportationspolitik des NS-Regimes waren und dass ihre Autoren durch den Gebrauch der Kategorie einer überflüssigen oder umzusiedelnden Bevölkerung der Akzeptanz der NS-Politik Vorschub leisteten. Als Experten wurden viele von ihnen zu Mittätern, ohne dass die Bereitstellung von Informationen zur ethnischen Komposition der Bevölkerung in Teilen der besetzten Gebiete automatischer Ausfluss ihrer volkshistorischen Arbeiten gewesen wäre. Theodor Schieder etwa, Rothfels-Schüler wie Conze und vehementer Verfechter völkischer Positionen, blieb in seinen größeren historischen Arbeiten der 1930er und frühen 1940er Jahren politik- und ideengeschichtlichen Zugängen verpflichtet. 49 Er scheint 45
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Wemer Conze, Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland, Teil 1: Die Hufenverfassung im ehemaligen Großfürstentum Litauen (Deutschland und der Osten, Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen, Bd. 15), Leipzig 1940, 2 und 211; zur Bewertung dieses Werkes vgl. Wolfgang Zorn, Werner Conze und Henryk Lowmianski, Ein Dokument zur Sozial- und Wirtschaftshistoriographie der 1940er Jahre, in: VSWG 74 (1987), 242-248. Werner Conze, Die ländliche Übervölkerung in Polen, Arbeiten des XIV. Internationalen Soziologen-Kongresses, Abteilung B: Das Dorf, Bd. 1, Bukarest 1940, 40-48, hier: 44; für die Überlassung einer Kopie dieses Textes danke ich Peter Schöttler (Berlin); vgl. auch Werner Conze, Die weissrussische Frage in Polen (Schulungsbrief des Bundes deutscher Osten), Berlin o. J. (1938), unpag. Conze, Übervölkerung, 48. Götz Aly, Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Schulze/Oexle (Hg.), Historiker, 163-182, hier: 173; vgl. ders., Macht - Geist - Wahn, Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, bes. 157-169; Conze, Übervölkerung, 48. Vgl. nur Theodor Schieder, Landständische Verfassung, Volkstumspolitik und Volksbewußtsein, Eine Studie zur Verfassungsgeschichte ostdeutscher Volksgruppen, in: Hermann Aubin u. a. (Hg.), Deutsche Ostforschung, Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 2, Leipzig 1943, 257-288 sowie aus der reichen Sekundärliteratur Jörn Rüsen, Kontinuität, Innovation und Reflexion im späten Historismus: Theodor Schieder, in: ders., Konfigurationen des Historismus, Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a. M. 1993, 357-397.
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vielmehr erst durch die unmittelbare Zuarbeit für verschiedene NS-Stellen den potentiellen Nutzen von Kirchenbüchern, Volkszählungslisten und Befragungen erkannt zu haben, was ihm wohlmöglich später bei der Leitung der „Dokumentation der Vertreibung aus Ost-Mitteleuropa" zu Gute gekommen ist.50 Der zuletzt angesprochene Zusammenhang zwischen der massenhaft betriebenen Volkstumsforschung und der NS-Bevölkerungspolitik in den besetzten Gebieten hat Historiker wie Karl-Heinz Roth, Peter Schöttler oder Ingo Haar jedweden innovativen Gehalt der Volksgeschichte rigoros bestreiten lassen. Sie argumentieren, Innovation sei als Beitrag „zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation" zu verstehen und überdies eine Trennung verwerflicher politischer Ziele und wissenschaftlicher Methodenentwicklung unmöglich. 51 So anziehend diese Position moralisch scheint, so ist sie doch letztlich wenig überzeugend. Über die Geltung wissenschaftlicher Aussagen kann nicht durch den Verweis auf ihre Genese entschieden werden, und die Wissenschaftsgeschichtsschreibung am Kriterium des Fortschritts auszurichten, wäre mit der erreichten Reflexionshöhe dieser Teildisziplin nur schwer zu vereinbaren. Überlegenswert scheint es indessen, in der Diskussion um die Volkshistorie den Begriff der Innovation durch den des Paradigmenwechsels zu ersetzen. Denn zum einen ist der Begriff der Innovation in der Tat wenig präzise gefasst und wertbeladen. 52 Zum anderen passt der Kuhnsche Begriff des Paradigmenwechsels sehr gut zu der hier diskutierten Konstellation, hatte Kuhn doch selbst eingeräumt, dass die „traditionszerstörenden Ergänzungen" des normalen Wissenschaftsbetriebs auch „außerhalb der Wissenschaften" ihren Ursprung haben können. 53 Es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass das Volkstumsparadigma — wenngleich nicht unmittelbar ausgelöst, so doch ungemein verstärkt durch Kriegsniederlage und Friedensverträge - „für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen" geliefert hat. 54 Und schließlich scheint es aus der Perspektive eines solchen Paradigmenwechsels auch 50
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Vgl. ausführlich zu der angesprochenen Zuarbeit Schieders als Leiter der Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte Haar, Historiker, 339-348 sowie zur späteren „Dokumentation" Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte, Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: VfZG 46 (1998), 345-389; ders., Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in: GWU 50 (1999), 99117 sowie ders., Der „Neuanfang" der Zeitgeschichte nach 1945, Zum Verhältnis von nationalsozialistischer Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik und der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, in: Schulze/Oexle (Hg.), Historiker, 274-301. Haar, Historiker, 372; vgl. auch Peter Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung, 7-30 und KarlHeinz Roth, Heydrichs Professor, Historiographie des „Volkstums" und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: ebd., 262-342, besonders 316. Hierin ist Axel Flügel, Ambivalente Innovation, Anmerkungen zur Volksgeschichte, in: GG 26 (2000), 653-671, besonders 657 zuzustimmen. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1976, 20 und 12. Ebd., 10.
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nicht überraschend, dass die neue Problemstellung ihre eigenen Einseitigkeiten und Grenzen besaß, etwa die weitgehende Vernachlässigung von Konfliktlinien innerhalb des „Landvolks", wie sie in den Arbeiten Werner Conzes oder auch Hans Lindes feststellbar ist. Dass rückblickend solche Grenzen und Einseitigkeiten des volkshistorischen Paradigmas klar erkennbar sind, teilt dieses Paradigma mit allen anderen. Festzuhalten bleibt aber, dass seine empirische Einlösung in den Arbeiten Werner Conzes u. a. ergebnisoffen und somit wissenschaftlich blieb. „Wie die aus der geschichtlichen Anschauung gewonnenen Begriffe der Vertiefung durch das theoretische Denken bedürfen, so müssen andererseits die theoretischen Systembildungen ständig an der Wirklichkeit geprüft werden, wenn sie nicht vor der Mannigfaltigkeit des Lebens versagen sollen."55
Ob und inwieweit dieser Anspruch eingelöst wurde, kann nur anhand der Analyse einzelner Schriften entschieden werden. Für prominente Einzelfälle wie den Werner Conzes ist jedenfalls überzeugend gezeigt worden, dass das „anfangs politisch motivierte erkenntnisleitende Interesse am Volk als Nation [...] zu methodischen Verfahren geführt [hatte], die unabhängig von weltanschaulichen Ausgangsposition überprüfbar und korrigierbar sind." 56 Carsten Klingemann hat gar argumentiert, dass die volkstumspolitische - und letztlich mörderische - Verwendbarkeit der volkshistorischen Analysen gerade davon abhing, dass es sich eben nicht um mythische Volkstumsbeschwörungen, sondern um gesellschaftswissenschaftliche Untersuchungen gehandelt habe. 57 Damit sind indessen die Einwände derer noch nicht beantwortet, die in der Volkshistorie kaum nennenswerte Neuerungen erkennen wollen. Bevor auf sie eingegangen werden kann, gilt es aber zunächst, den Kembestand der volkshistorischen Methodik zu definieren. Denn der Begriff der Volksgeschichte findet sich in der Historiographie der 1920er und 1930er Jahre nahezu überall: bei einem dem „Volkstumskampf" fernbleibenden Historiker wie Gerhard Ritter ebenso wie bei dem Propagandisten eines großco
deutschen Reiches Heinrich Ritter von Srbik. „Das weltgeschichtliche Erleben seit 1914", so bekannte letzterer, „ließ mir vollends das Volk, nicht die deutsche Staatlichkeit als das eigentliche Objekt deutscher Geschichte erscheinen und ließ mich im Bismarckschen Reich eine bedeutsame Wegstrecke, doch nicht die Lösung des ewigen
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Carl Petersen u. a., Vorwort, in: dies. (Hg.), Handwörterbuch, VII. Koselleck, Conze, 536. Vgl. Carsten Klingemann, Symbiotische Verschmelzung: Volksgeschichte - Soziologie - Sozialgeschichte und ihre empirische Wende zum Sozialen unter nationalsozialistischen Vorzeichen, in: Comparativ 12 (2002), 34-62, besonders 46ff.; vgl. ders., Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996. Zum Ritterschen Gebrauch des Begriffs vgl. die einschlägigen Kapitel von Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter, Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001.
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deutschen Problems erkennen." 59 Dennoch schiene es irreführend, letzteren als Volkshistoriker zu bezeichnen, war ihm das Volk doch letztlich weniger soziale Realität als vielmehr bloße Idee. Entsprechend konventionell blieb die Methodik des Srbikschen Werkes. Zu der Verschiebung des Gegenstands vom Staat zum Volk musste also eine soziologisch-ethnographische Operationalisierung des Volksbegriffes treten, um eine Zurechnung zur Volksgeschichte im engeren Sinne zu rechtfertigen. Kennzeichnend waren überdies die mehrfach angesprochene Interdisziplinarität der angewandten Untersuchungsmethoden, der bewusste Gebrauch von Theorie sowie schließlich die Erweiterung der Analyse- und Darstellungsverfahren, etwa in Richtung Bevölkerungsstatistik und Kartographie. All das aber, so der Einwand einiger Kritiker, sei nicht wirklich innovativ, ja nicht einmal neu. Die Begründung dieser Einwände erfolgt meist vergleichend. So hat Peter Schöttler in einer Reihe von Aufsätzen zu zeigen versucht, dass das gleichzeitig mit der Volksgeschichte entwickelte „Annales-Paradigma" mit ersterem nicht nur unvereinbar, sondern diesem auch weit überlegen gewesen sei. 60 Ungeachtet der Tatsache, dass andere Autoren bei ähnlichen Vergleichen zu anderen, etwa die volksgeschichtliche Kulturraumforschung Aubins sehr viel positiver einschätzenden Ergebnissen gekommen sind, ist die Wahl der Annales als über etwaige „Innovation" entscheidendem Referenzpunkt nicht zwingend. 61 Ausreichend erscheint vielmehr der Nachweis eines einschneidenden Wandels von Thematik und Methodik innerhalb des disziplinären Zusammenhangs der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1918. Von daher verfangen auch die unlängst von Axel Flügel vorgetragenen Einwände nicht, die Volksgeschichte der Zwischenkriegszeit sei insbesondere im Bereich der Agrar- und Bevölkerungsgeschichte deutlich hinter einschlägigen, im Kontext der historischen Schule der Nationalökonomie entwickelten Forschungsansätzen und nicht zuletzt hinter den Einsichten Max Webers zurückgeblieben. 62 Das trifft zu, widerspricht aber, so sehr man sich eine frühere Rezeption entsprechender Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft rückblickend wünschen mag, nicht deshalb schon dem hier behaupteten Paradigmenwechsel. Dieser tritt vielmehr gerade dann deutlich hervor, wenn man einen Blick auf zeitgenössische Historiker wirft, die von dem Volkstums59
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Heinrich Ritter von Srbik, Deutsche Einheit, Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, Bd. 1, 3. Aufl., München 1940 (zuerst 1935), 8. Vgl. z. B. Peter Schöttler, II „paradigma delle Annales" e la storiografia tedesca (1929-1939), Un trasferimento di scienza tra Germania e Francia? in: Rivista di storia della storiographia moderna 14 (1993), 43-65. Vgl. etwa Marc Raeff, Some Observations on the Work of Hermann Aubin (1885-1969), in: Lehmann/Melton (Hg.), Paths, 239-249 und - sehr viel differenzierter - Franz Irsigler, Zu den gemeinsamen Wurzeln von „histoire régionale comparative" und „vergleichender Landesgeschichte", in: Hartmut Atsma/André Burguière (Hg.), Marc Bloch aujourd'hui, Historie comparée et sciences sociales, Paris 1990, 73-85. Vgl. Flügel, Innovation, bes. 664ff.
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diskurs der Zwischenkriegszeit beeinflusst waren, ohne daraus die Konsequenz einer methodischen Neuorientierung zu ziehen. Hans Rothfels und Heinrich Ritter von Srbik wurden bereits als Beispiele genannt. Aufschlussreicher noch ist ein Blick auf Franz Schnabel (1887-1966), der als Katholik und (zeitweiliger) Befürworter der Weimarer Republik eine Außenseiterstellung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft einnahm. 63 Mit den bereits angeführten Verfechtern einer Volksgeschichte teilte er gleichwohl die Vorliebe für Alteuropa und die Bewunderung für einen Autor wie Wilhelm Heinrich Riehl. 64 Und seit den späten 1920er Jahren identifizierte er sich nicht nur immer stärker mit den großdeutschen Auffassungen des von ihm bewunderten Heinrich Ritter von Srbik, sondern er wandte sich auch zunehmend „deutschkundlichen" und volksgeschichtlichen Themen zu. Fassbar war für ihn das Wesen von Volk und Volkstum aber allein auf der Ebene der Ideen, im „Volksgeist". Hierin Srbik vergleichbar, fiel Schnabels Abkehr vom Staat als primärem Gegenstand der Geschichtswissenschaft in seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert dennoch ungleich entschiedener aus, allerdings eben nicht in Richtung einer soziologisch-ethnographischen Beschäftigung mit der Bevölkerung sondern zugunsten einer ideen- und kulturgeschichtlichen Betrachtung von Wissenschaft, Technik und Religion als zentralen Ausdrucksformen des „Volksgeistes". 65 Diese Erweiterung der thematischen Gegenstände erforderte indessen - anders als das volksgeschichtliche Paradigma - keine Erweiterung des herkömmlichen Methodenkanons. Insofern ist der Vergleich geeignet, das volksgeschichtliche Paradigma als eigenständige Leistung hervortreten zu lassen, die eben keineswegs automatisch aus dem politischen Kontext von Kriegsniederlage und Friedensvertrag hervor wuchs. 66
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Zu Schnabel jetzt erschöpfend Thomas Hertfelder, Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft, Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (19101945), 2 Teilbde., Göttingen 1998. Vgl. ebd., 27, 172 und 717; Ipsen gab 1935 Riehls Naturgeschichte des deutschen Volkes neu heraus, Freyer stellte ihn als ,,dritte[] Gestalt der deutschen Soziologie" gleichberechtigt neben Karl Marx und Lorenz von Stein, und Brunner entlehnte hier das Konzept des „ganzen Hauses"; Hans Freyer, Einleitung in die Soziologie, Leipzig 1931, 80; vgl. Otto Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", wieder in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3. Aufl., Göttingen 1980, 103-127 sowie die bei Andrea Zinnecker, Romantik, Rock und Kamisol, Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich - die Riehl-Rezeption, Münster 1996, 352ff. nachgewiesenen Riehl-Ausgaben. Vgl. vor allem Hertfelder, Schnabel, besonders 690-729. Die von Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003 angekündigten vergleichenden Analysen konnten hier leider nicht mehr einbezogen werden.
DIETER LANGEWIESCHE
Der „deutsche Sonderweg" Defizitgeschichte als geschichtspolitische Zukunftskonstruktion nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg
1. Zur Aktualität eines historischen SonderwegBewusstseins im gegenwärtigen Deutschland Als Bundeskanzler Gerhard Schröder im Vorfeld des Bundestagswahl 2002 vom „deutschen Weg" sprach, war die Erregung in den Medien groß. Seine nachträgliche Interpretation, die den „deutschen Weg" auf eine spezifisch deutsche Tradition des Sozialstaates begrenzte, die von den damals geplanten Arbeitsmarktreformen nicht angetastet und keinesfalls „amerikanisiert" werden sollte, vermochte die Kritiker nicht recht zu überzeugen. Man wähnte mehr dahinter als eine missglückte Wortwahl in der Hektik des Wahlkampfes seitens eines Politikers, dessen Ämter in der Partei und im Staat Programmatisches erwarten lassen, wenn er zu einem solch verminten Begriff greift, um seine Politik zu begründen. Des Kanzlers Äußerung hatte offensichtlich sofort das gesamte negativ besetzte Begriffsfeld „deutscher Sonderweg" aufgerufen. Heinrich August Winkler hat es jüngst für seine zweibändige deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts - in der Öffentlichkeit vielbeachtet und auch von Historikern hochgelobt - als Leitlinie genutzt, um die deutsche Katastrophengeschichte in das glückliche Ende der Verwestlichung münden zu lassen. Die neue Normalität der deutschen Gegenwart verheißt in Winklers Werk, das als die Nationalgeschichte der neuen Bundesrepublik gepriesen wurde, eine helle Zukunft, scharf abgehoben von den Vergangenheiten - der Plural ist wichtig. Denn Winkler kennt einen dreifachen Sonderweg, von denen der ältere „antiwestliche [...] des Deutschen Reiches" 1945 im „deutschen Menschheitsverbrechen" während des Zweiten Weltkrieges ausbrannte, während die beiden jüngeren, die nach dieser Katastrophe einsetzten, mit dem Zusammenbruch der
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D D R und ihrem Beitritt zur B R D 1990 friedlich ausliefen: der „postnationale Sonderw e g der alten Bundesrepublik und der internationalistische Sonderweg der DDR". 1 Dieses Geschichtsbild bündelt in wenigen Linien alle Elemente einer Sonderwegsdeutung, in der Defizitgeschichte und zeitlich gestufte Befreiung aus ihr zusammenlaufen. 2 Die beiden Weltkriege stehen im Zentrum dieses Bildes, in dem deutsche Geschichtserfahrungen aus zwei Jahrhunderten vergangenheitspolitisch komprimiert sichtbar werden. 3 D i e Konsequenzen, die jeweils aus den Niederlagen gezogen wurden, mit denen beide Kriege für Deutschland geendet hatten, fielen jedoch gegensätzlich aus. Während die Niederlage von 1918 von der deutschen Gesellschaft in einer Weise verarbeitet wurde, welche die Lebensfähigkeit der ersten deutschen Demokratie schwächte, wirkten sich die Erfahrungen, die sich in der deutschen Gesellschaft mit dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg verbanden, entgegengesetzt aus. Sie stärkten in beiden deutschen Nachfolgestaaten die Bereitschaft, mit historischen Traditionen zu brechen, wenn auch in höchst unterschiedlicher Weise, und stabilisierten das Neue, das nun auf beiden Seiten in scharfer Konkurrenz gegeneinander begann. Doch nicht nur im Vergleich beider Weltkriege waren die geschichtspolitischen Konsequenzen gänzlich unterschiedlich, die aus den Erfahrungen von Krieg und Niederlage hervorgingen. Auch wenn man jeden der beiden Weltkriege getrennt betrachtet, ist nicht zu übersehen, dass sie geschichtspolitisch konträr gedeutet werden konnten. 4 1
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Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 2, Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, 655, 653. Die Sonderwegsdebatte bis 1945 bilanziert Helga Grebing, Der „deutsche Sonderweg" in Europa 1806-1945, Eine Kritik, Stuttgart u. a. 1986; als Rückblick aus der Zeit nach der Vereinigung siehe Hans-Ulrich Wehler, Das Ende des deutschen „Sonderwegs", in: ders., Umbruch und Kontinuität, Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, 84-89; mit Blick auf das Alte Reich Charles W. Ingrao, A Pre-Revolutionary Sonderweg, in: German History 20 (2002), 279-286. Von Preußen her blickend und auch die neueste Literatur einbeziehend: Hartwin Spenkuch, Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des „deutschen Sonderwegs", in: GG 29 (2003), 262-293. Die Zusammenbrüche historischer Traditionen beginnen in Deutschland im 19. Jahrhundert mit dem Ende des Alten Reiches und setzen sich fort mit dem Ende staatlicher Vielfalt durch die Gründung des deutschen Nationalstaates. Diese Ereignisse sind im heutigen Geschichtsbild nicht mehr präsent, waren aber damals tiefe Einschnitte, die ich in die Linie der deutschen Zusammenbruchsgeschichte des 20. Jahrhunderts - 1918/19, 1933, 1945/49, 1990 - einordne. Als Versuch, daraus eine spezifisch deutsche Traditionsschwäche abzuleiten und deren Folgen einzuschätzen für das Problem, über die Generationen hinweg an demokratische Strukturen in der staatlichen Ordnung und vor allem in den menschlichen Verhaltensmustern zu gewöhnen, siehe Dieter Langewiesche, Vom Wert historischer Erfahrung in einer Zusammenbruchsgesellschaft: Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), 303-311. Siehe insbesondere Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe, Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001; ders., Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999; für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg siehe vor allem Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996 u. ö.; zur Erinnerungsgeschichte des Zweiten Weltkrie-
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Wie mit diesen geschichtspolitischen Deutungen dem Krieg und der Niederlage ein Sinn abgewonnen wurde, der zukunftsfähig machen sollte und deshalb Handlungsoptionen in die Zukunft hinein anbieten musste, soll nun im Vergleich zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg für Deutschland thesenhaft verkürzt skizziert werden.
2. Die Rolle von Kriegsniederlagen für geschichtspolitische Zukunftskonstruktionen mittels Sonderwegsdeutungen Kriegsniederlagen stellen überlieferte Geschichtsbilder auf den Prüfstand, fällen jedoch keine eindeutigen Urteile über sie. Da Geschichtsbilder darauf angelegt sind, der Vergangenheit Handlungsanweisungen für die Zukunft („Lehren der Geschichte") abzugewinnen, 5 müssen sie zwangsläufig politisch umkämpft sein. „Vergangenheitspolitik" (Norbert Frei) ist ein Teil der allgemeinen Politik und deshalb wie sie umstritten. Die Sonderwegsdeutungen bilden darin keine Ausnahme. Historiker, die meinen, die Angemessenheit von Sonderwegsdeutungen historiographisch eindeutig - objektiv - beurteilen zu können, verkennen die prinzipielle Offenheit von Geschichtsbildern, die sich ändern, wenn sich gesellschaftliche und politische Wertordnungen ändern oder sich aus anderen Gründen der „Sehepunckt" (Johann Martin Chladenius, 1752), von dem aus die Geschichte befragt wird, verlagert. Historiographische Urteile über deutsche Sonderwege nehmen teil an einer politischen Debatte, die aus der „vergangenen Zukunft" (Reinhart Koselleck) künftige Zukunft liest. Sonderwegsdeutungen sind mithin Teil einer Vergangenheitspolitik, die notwendigerweise stets politisch umstritten ist, da sie als Handlungsempfehlung für die Gegenwart auftreten muss, um politisch in die Zukunft wirken zu können.
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ges und des Holocaust in einer Vielzahl von Staaten siehe nun vor allem Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002. Einen Versuch, dies im Vergleich zwischen dem amerikanischen Bürgerkrieg aus der Sicht des Südens, Frankreich 1871 und Deutschland 1918 zu analysieren, bietet Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin
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3. Zur Uneindeutigkeit der Wirkungen von Sieg und Niederlage auf die Sonderwegsdeutungen Siegreich beendete Kriege können vergangenheitspolitisch nicht weniger umstritten sein als Kriegsniederlagen. Ein Sieg scheint jedoch das historiographische Deutungsspektrum, das sich in der Gesellschaft durchsetzen lässt, zu verengen, während eine Niederlage es weitet. Insofern kann der Ausgang der Krieges - Sieg oder Niederlage darüber entscheiden, wie groß der Spielraum für konkurrierende Geschichtsbilder ist bzw. welche Geschichtsbilder sich durchsetzen können und welche marginalisiert oder auch tabuisiert werden. Die Kriegsniederlage bietet vergangenheitspolitisch die Chance zum Sieg oder zumindest zum Positionsgewinn für diejenigen, deren Geschichtsbild zuvor politisch bedingt wenig Beachtung gefunden hatte oder gar geächtet gewesen war. Der Sieg hingegen prämiert das Geschichtsbild des Siegers. Dies war zumindest in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts so. Die Sonderwegsdeutungen bieten dafür Anschauungsmaterial. Dazu einige Hinweise: Die politischen Wirkungen der preußisch-deutschen Siege in den Einigungskriegen von 1866 und 1870 bilden in der westdeutschen Sonderwegshistoriographie den Startpunkt für den besonderen Weg der Deutschen in die Moderne.6 Damals, so fasst Winkler diese Sicht pointiert zusammen, bedeutete die Gründung des deutschen Nationalstaates zwar „ein Stück Verwestlichung oder Normalisierung", doch zugleich grenzte sich das neue Deutschland vom Westen ab, weil es nur die „Einheitsfrage", nicht aber die „Freiheitsfrage" im Sinne westlicher Modernität - hier gleichgesetzt mit parlamentarischer Demokratie - gelöst hatte.7 Dass beides nicht zugleich gelang, war eine Folge der Kriegsgeburt des deutschen Nationalstaates. Wer die siegreichen Waffen geführt hatte, bestimmte nun die Gestalt des neuen Staates, den der Sieg ermöglicht hatte. Eine parlamentarische Monarchie hätte den Sieger innenpolitisch dauerhaft entmachtet und war deshalb nicht zu erreichen - das Grundübel der jüngeren deutschen Geschichte in der Sicht der Sonderwegshistorie, da diese Entscheidung es verhindert habe, die Modernisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat durch eine umfassende Demokratisierung und Parlamentarisierung zu synchronisieren. Q
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Die Sonderwegshistoriographie wertet retrospektiv. Wie die Gründungsmythen der Zeitgenossen der deutschen Einigungskriege aussahen, untersucht Nikolaus Buschmann: „Im Kanonenfeuer müssen die Stämme Deutschlands zusammen geschmolzen werden", Zur Konstruktion nationaler Einheit in den Kriegen der Reichsgründungsphase, in: ders./Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt a. M. 2003, 99-119; Buschmann, Einkreisung und Waffenbruderschaft, Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003. Winkler, Der lange Weg, Zitate 640f. Die Einschätzung des Kaiserreichs ist für die Sonderwegsdeutung zentral. In den gegenwärtigen Forschungsstand führt kompetent ein: Thomas Kühne, Das Deutsche Kaiserreich und seine politische Kultur: Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: Neue Politische Literatur 43
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Diese Deutung ist im wesentlichen eine Frucht der Kriegsniederlagen von 1918 und 1945, die jenen Geschichtsbildern politische Wirkungsmöglichkeiten eröffneten, die zuvor aus dem Kanon der als legitim anerkannten Geschichtsdeutungen verbannt geblieben waren. Das sei kurz an der Rede erläutert, mit der Wilhelm Keil in einer großen geschichtspolitischen Debatte der Weimarer Nationalversammlung 1919 ein sozialdemokratisches Geschichtsbild entwickelte, das ein Gegenmodell zu den bis dahin gesellschaftlich vorherrschenden Geschichtsvorstellungen entwarf. Diese Rede ist deshalb so aufschlussreich für die Frage, wie Kriegsniederlagen vergangenheitspolitisch wirken können, weil hier ein Geschichtsbild formuliert wird, das bis 1914 sozialdemokratischoppositionell ausgeflaggt war und deshalb als national unzuverlässig galt, dann aber in zwei Stufen aufgrund der Erfahrung von Krieg und Kriegsniederlage an Überzeugungskraft gewinnt. Zunächst verschaffte die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg dem oppositionellen Geschichtsbild politisches Gewicht innerhalb der Gesellschaft der Weimarer Republik, denn mit dem Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Republik, verbunden mit dem Aufstieg der Sozialdemokratie zur Regierungspartei, gewann das Geschichtsbild des sozialdemokratischen Außenseiters an Überzeugungskraft - allerdings nicht für diejenigen, die dem monarchischen Nationalstaat nachtrauerten und aus der als Entehrung empfundenen Niederlage die Pflicht ableiteten, sich auf einen neuen Krieg vorzubereiten, um die erlittene „Schmach" zu tilgen. 9 Erst dreißig Jahre später, nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg, schuf die erneute Niederlage die Möglichkeit, dass sich dieser Außenseiterblick, der in der ersten deutschen Republik zwar in den Kreis der als politisch legitim geltenden Geschichtsbilder rückte, gleichwohl aber den vielen Gegnern des neuen Staates weiterhin als Verfälschung der Vergangenheit galt, in ein Mehrheitsmodell zur Erklärung der jüngeren deutschen Geschichte verwandeln konnte: Vom „deutschen Weg" 10 zum „deutschen Sonderweg", von der positiven zur negativen Wertung der Besonderheiten in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese fundamentale
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(1998), 206-263. Meine Deutung des Kaiserreichs in einer langfristigen Perspektive habe ich skizziert in: Dieter Langewiesche, „Postmoderne" als Ende der „Moderne"? Überlegungen eines Historikers in einem interdisziplinären Gespräch, in: Wolfram Pyta/Ludwig Richter (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen, Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, 331-347; Dieter Langewiesche, Politikstile im Kaiserreich, Zum Wandel von Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter des .politischen Massenmarktes', Friedrichsruh 2002. Eine solche Gruppe untersucht Sonja Levsen in diesem Band. Hier fielen die Zusammenhänge von Sieg bzw. Niederlage und den Deutungsspielräumen der Nachkriegsgesellschaft ganz anders aus. Die deutsche Niederlage 1918, so ihre Interpretation, machte die deutschen Studenten in der Nachkriegszeit zu „Geiseln" ihrer gefallenen Kommilitonen, deren nationales „Vermächtnis" die Studenten in der Notwendigkeit zu einem neuen Krieg sahen, während der britische Sieg den englischen Studenten es erleichterte, sich vom Krieg als politischem Handlungsinstrument zu distanzieren. Grundlegend dazu Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.
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Umwertung der Geschichte bzw. die gesellschaftliche Akzeptanz, die diese Umwertung erfuhr, waren durch zwei Kriegsniederlagen ermöglicht worden. Wilhelm Keil hat diese Urteilswende in seiner Rede vorweggenommen und in einer Weise begründet, wie sie später von der professionellen Sonderwegshistorie nicht grundsätzlich überholt worden ist. Diese beglaubigte mit der Autorität wissenschaftlichen Expertenwissens ein Geschichtsbild, das zuvor schon in der Gesellschaft entwickelt und propagiert worden war. Keil zog damals, im Februar 1919, eine direkte Linie von 1848 zu 1918. Erst jetzt sei die gescheiterte „Revolution des Bürgertums" vollendet worden und Deutschland damit verspätet in die westeuropäische Geschichte eingereiht worden. In den Worten Keils: „Mit einem Schlage ward das alte konservative Deutschland zu einem freien demokratischen Staatswesen. Die Arbeiterklasse holte damit nach, was das deutsche Bürgertum versäumt hatte. War es England schon vor 300 Jahren gelungen, die Feudalherrschaft zu zertrümmern, war Frankreich vor 130 Jahren mit ihr fertig geworden, so hatte das deutsche Bürgertum nach der mißlungenen Märzrevolution sich mit dem Fortbestehen der Junkerherrschaft abgefunden. Erst die Arbeiterschaft hat der Junkerherrschaft in Deutschland in der Novemberrevolution für immer ein Ende bereitet."11
Keil zweifelte nicht: 1918 geschah, was das Telos der Geschichte verlangte: den „wirtschaftlichen Fortschritt" durch den „politischen Fortschritt", die demokratische parlamentarische Republik, zu ergänzen. Hier nahm er mit seinem durch und durch auf Modernisierung gestimmten sozialdemokratischen Geschichtsbild ein zentrales Wertungskriterium der westdeutschen Geschichtsschreibung der sechziger Jahre, soweit sie der Sonderwegsdeutung folgte, vorweg. Es fordert als Normalweg ir. die Industriegesellschaft den Entwicklungsgleichschritt von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Und es wertet die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als Modernisierungskraft historisch auf und spricht ihr damit einen vergangenheitspolitisch begründeten Führungsanspruch bei der politischen Gestaltung der Zukunft zu. 12 Die beiden Weltkriege und ihr Ausgang verliehen also einem Geschichtsbild, das zunächst eine nationalpolitisch geächtete Außenseiterposition markierte, politische Plausibilität und machten es gesellschaftlich respektabel. Wer in Opposition zu einer Vergangenheit stand, die nun als verhängnisvoller Sonderweg in die Inhumanität demaskiert schien, wurde zum historischen Repräsentanten eines besseren Deutschland, dem erst Kriegsniederlagen den Zugang zur politischen Macht geöffnet hatten. Gleichwohl schockierte es viele Deutsche, als Bundespräsident Gustav Heinemann die deut-
" Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, Berlin 1920, am 14. Februar 1919, 72-76. Keils Rede wird ausführlicher untersucht und in einen Vergleich der Revolutionen 1848 und 1918 eingeordnet bei: Dieter Langewiesche, 1848 und 1918 - zwei deutsche Revolutionen, Bonn 1998. 12 Noch Helga Grebing schließt ihre Bilanz der Sonderwegsdebatte 1986 damit, die Arbeiterbewegung der „weißen Linie" in der deutschen Nationalgeschichte - den Gegnern des deutschen Sonderweges - zuzuordnen. Siehe Grebing, „Sonderweg", 199f.
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sehe Reichsgründung von 1871 in seiner Gedächtnisrede zu ihrem 100. Jahrestag der Erblast deutscher Geschichte zuschlug, erinnerungswürdig nur, um aus ihren Fehlern zu lernen: „Hundert Jahre Deutsches Reich - das heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945." 13 In diesem Zitat aus einer Rede, mit welcher der oberste Repräsentant der Bundesrepublik 1971 die Sonderwegsdeutung gewissermaßen staatspolitisch nobilitierte, wird präzise benannt, warum die deutschen Kriegsniederlagen 1918 und 1945 unterschiedlich radikal etablierte Geschichtsbilder umdeuten konnten. Gustav Heinemann - ein Sozialdemokrat, der mit der Autorität des Bundespräsidenten ein Geschichtsbild verkündet, das sozialdemokratischer Herkunft ist - zieht zwar eine direkte Verbindungslinie von 1871 über 1919 nach 1945, doch das letzte Datum trägt eine ungleich höhere Geschichtslast, die der Bundespräsident mit den Chiffren Auschwitz und Stalingrad und mit deren unmittelbarer Konsequenz - bedingungslose Kapitulation - umschreibt. Dass Auschwitz und Stalingrad als Erfahrung einer neuen Dimension von Vernichtungskrieg keineswegs ausreichten, die überkommenen deutschen Geschichtsbilder im Sinne der Sonderwegsdeutung radikal umzuformen, ist inzwischen gut erforscht. Erst die bedingungslose Kapitulation schuf die politische Voraussetzung dazu. Denn im Unterschied zur Niederlage von 1918 begrenzte die bedingungslose Kapitulation das Spektrum politisch erlaubter Vergangenheitsdeutungen in Deutschland. Die Umerziehungsprogramme der Siegerstaaten in West- und Ostdeutschland - welche Folgen das Fehlen solcher Programme haben konnte, lehrt die vergangenheitspolitische Entwicklung in Österreich, die völlig anders als die deutsche verlief 14 - beruhten zwar auf gänzlich konträren Geschichtsdeutungen, doch auf beiden Seiten wandten sie sich gegen Geschichtsbilder, die einen spezifisch „deutschen Weg" in die Moderne positiv bewerteten. Dieser von außen gesetzte vergangenheitspolitische Imperativ, der früheren innerdeutschen Minderheitenpositionen zum Durchbruch verhalf, war geeignet, der deutschen Katastrophengeschichte einen Sinn zu geben, indem sie deren Ursachen erklärte und den Ausstieg aus ihr zwingend begründete. Die bundesrepublikanische Gesellschaft nahm dieses zukunftsoffene Angebot zum Verständnis ihrer Vorgeschichte an und verwendete es als eine Art historischer Entschuldung, indem sie das „Recht auf den politischen Irrtum" (Eugen Kogon, 1947) zum „vergangenheitspolitischen Grundgesetz" machte. 15 Dessen historiographisches Funda-
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Reden der deutschen Bundespräsidenten Heuss, Liibke, Heinemann, Scheel, Eingeleitet von Dolf Stemberger, München/Wien 1979, 155. Zur Einordnung dieser Rede in die damalige Situation und in die Reden-Tradition der Bundespräsidenten siehe Dieter Langewiesche, Geschichte als politisches Argument: Vergangenheitsbilder als Gegenwartskritik und Zukunftsprognose - die Reden der deutschen Bundespräsidenten, in: Saeculum 43 (1992), 36-53. Vgl. Bertrand Perz, Österreich, in: Knigge/Frei (Hg.), Verbrechen erinnern, 150-162; Karl Stuhlpfarrer, Österreich, ebd. 233-252. Frei, Vergangenheitspolitik, 405.
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ment wurde die Sonderwegsdeutung. Sie erklärte die deutsche Geschichte zwischen 1871 und 1945 zu einem antiwestlichen Irrweg, der in die Katastrophe führte oder - als radikalisierte Deutungsvariante - führen musste. Ihr stärkstes Plausibilitätsargument sind die beiden Weltkriege und deren Folgen. Weil sie die Vernichtungsdimension des Zweiten Weltkrieges als Kulminationspunkt in der „'schwarzen Linie' der historischen Kontinuität" ausweist, die Helga Grebing „von bestimmten Denkstilen der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus" auszieht, 16 bietet sie ein Geschichtsmodell, das aus der Niederlage heraus den Bruch mit der bisherigen deutschen Geschichte politisch und auch moralisch begründet und zugleich eine bessere Zukunft auf den Bahnen westlicher Normalität verspricht.
4. Warum die Sonderwegsdeutungen Erfolg hatten Historiker legitimierten die Sonderwegsdeutung wissenschaftlich, doch sie haben sie nicht geschaffen, und ihren Schriften und Reden ist auch nicht die hohe gesellschaftliche Akzeptanz dieses Geschichtsbildes zu verdanken. Es sind nämlich nicht die Historiker, welche die Geschichtsbilder bestimmen, mit denen eine Gesellschaft Sieg oder Niederlage historisch deutet. Darüber entscheiden vielmehr die vergangenheitspolitischen Diskurse, die darüber in der Gesellschaft geführt werden, und das machtpolitische Umfeld, in dem sie stattfinden. Historiker sind an ihnen beteiligt. Doch wirkungsmächtig werden Beiträge der Experten nur, wenn sie Geschichtsbilder entwerfen, die ohnehin in der Gesellschaft virulent sind - sei es, dass sie breite Zustimmung finden oder eine Minderheitenposition vertreten. Die Geschichte des Deutungsmodells „deutscher Sonderweg" bietet dafür ein Beispiel. Es zeigt, dass Kriege und deren Folgen zur Revision bisheriger Geschichtsbilder zwingen können. Aus der Niederlage heraus Geschichtsbilder zu entwerfen, die erklären wollen, warum es dazu gekommen ist und womit man brechen muss, damit die Zukunft nicht an eine dunkle Geschichte gekettet bleibt, leistet einen vergangenheitspolitischen Beitrag, um den verlorenen Krieg politisch und moralisch zu verarbeiten. Diese Funktion der Sonderwegsdeutung, die deutsche Katastrophengeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine historisch folgerichtige Entwicklung verstehen zu können und daraus einen Ausgangspunkt für eine Zukunft zu gewinnen, die sich von der Geschichtslast befreit, indem sie die westliche Wertorientierung akzeptiert, begründete ihren Erfolg in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.
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Grebing, „Sonderweg", 199. Anregend zu den widersprüchlichen Potentialen der Moderne: Geoff Eley, Die deutsche Geschichte und die Widersprüche der Moderne, Das Beispiel des Kaiserreichs, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hg.), Zivilisation und Barbarei, Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, 17-65.
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Darin liegt zugleich der Grund für die starke moralische Aufladung des Sonderwegsmodells zur Erklärung der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Es zieht eine strikte Moralgrenze zwischen der Zeit vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Deshalb war - und ist es immer noch - heikel, abseits des „deutschen Sonderweges" nach Kontinuitätslinien über diese Moralgrenze hinweg zu fragen. Das zeigte drastisch die Goldhagen-Debatte, die - ungeachtet der fachlichen Fehler in der Art, wie der Autor eine lange Tradition des antisemitischen Vernichtungsdenkens in der deutschen Geschichte konstruierte - den vergangenheitspolitischen Grundkonsens der deutschen Gesellschaft zu erschüttern schien. 17 Die Sonderwegsdeutung gehört zu diesem gesellschaftlichen Grundkonsens, den die Historiker als Experten untermauert haben - mehr nicht, wenngleich diese wissenschaftliche Beglaubigung für die Wirkungsfähigkeit nicht unwichtig ist. Die Sonderwegsdeutung bietet ein sicheres Leitseil, das Kontinuitäten erschließt, ohne das „vergangenheitspolitische Grundgesetz" (Norbert Frei) der alten und der neuen Bundesrepublik zu gefährden. Heinrich August Winkler hat dieses Leitseil von 1945 bis 1990 verlängert. Deshalb konnte sein Werk als die neue Nationalgeschichte des vereinten Deutschland aufgenommen werden. 18 Es offeriert die Sicherheit, mit einer nationalen Defizitgeschichte, die in Niederlagen und Katastrophen geführt hat, zu brechen, ohne sie zu verleugnen.
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Ein Teil der Debatte ist dokumentiert in: Julius Schoeps (Hg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996. Als Blick von außen: Norman G. Finkelstein/Ruth Bettina Birn, Eine Nation auf dem Prüfstand, Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit, Mit einer Einleitung von Hans Momrasen, Hildesheim 1998 (Original: New York 1998). Es sei betont, dass es stets noch andere Deutungsmuster der deutschen Geschichte gegeben hat, die Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erklären wollen, ohne der Sonderwegsdeutung zu folgen. Doch sie gewannen nicht deren breite gesellschaftliche Akzeptanz - und sie sind nicht das Thema dieses Beitrags.
II. Lernprozesse und politische Instrumentalisierungen
STEFFEN KRIEB
Vom Totengedenken zum politischen Argument: Die Schlacht bei Sempach (1386) im Gedächtnis des Hauses Habsburg und des südwestdeutschen Adels im 15. Jahrhundert
Im historischen Selbstbild der Schweizer hatten und haben die Siege eidgenössischer Heere in den großen Schlachten des Spätmittelalters - genannt seien nur Morgarten 1315, Laupen 1339, Sempach 1386, Näfels 1388 und die Siege in den Burgunderkriegen bei Grandson und Murten 1477 - einen großen Stellenwert. Bis in unsere Tage wird der Gefallenen in so genannten Schlachtjahrzeiten gedacht,1 werden die Jubiläen mit großem Aufwand gefeiert.2 Dies gilt in besonderem Maße für die Schlacht bei Sempach, deren fünfhundertster Jahrestag im Jahr 1986 mit zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, Ausstellungen und Gedenkfeiern begangen wurde.3 In der modernen
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Zu den Gedenkfeiern vgl. Rudolf Henggeier (Hg.), Das Schlachtenjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern (Quellen zur Schweizergeschichte, N. F., II. Abt., Bd. 3) Basel 1940; Georg Kreis, Schlachtjahrzeiten, in: Historisches Lexikon der Schweiz [elektronische Publikation HLS], Version vom 11. 11. 2003. Zum Schlachtengedenken in spätem Mittelalter und früher Neuzeit vgl. Renate Neumüllers-Klauser, Schlachten und ihre .memoria' in Wort und Bild, in: Konrad Krimm/Herwig John (Hg.), Bild und Geschichte, Studien zur politischen Ikonographie, Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1997, 181-196; Klaus Graf, Schlachtengedenken im Spätmittelalter, Riten und Medien der Präsentation kollektiver Identität, in: Detlef Altenburg/Jörg Jarnut/Hans-Hugo Steinhoff (Hg.), Feste und Feiern im Mittelalter, Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1991, 63-70. Das Echo in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung dokumentiert Theodor Liebenau, Die Schlacht bei Sempach, Gedenkbuch zur fünften Säcularfeier, Luzern 1886. Jubiläumsstiftung 600 Jahre Schlacht bei Sempach und 600 Jahre Stadt und Land Luzern (Hg.), Die Schlacht von Sempach im Bild der Nachwelt: Ausstellung im Stadthaus und Ochsentor in Sempach, 21. Juni bis 12. Oktober 1986; aus Anlaß des Jubiläums 600 Jahre Schlacht bei Sempach, 600 Jahre Stadt und Land Luzern, bearbeitet von Heinrich Thommen, Luzern 1986; Guy Paul Marchai, Sempach 1386, Von den Anfängen des Territorialstaates Luzem. Beiträge zur Frühgeschichte des Kantons Luzern, Mit einer Studie von Waltraud Hörsch: Adel im Bannkreis Österreichs, Basel/Frankfurt a. M., 1986; Beiträge zur Sempacher Jahrhundertfeier 1386-1986, Vier historische Referate, organisiert von „Aktuelles Sempach", Sempach 1986; Frantisek Graus, Europa zur Zeit der Schlacht bei Sempach, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 4, 1986,
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Geschichtsschreibung hingegen gilt die Schlacht von Sempach zwar als ein wichtiges Ereignis im Konflikt zwischen den eidgenössischen Orten und dem Haus Habsburg, doch wird sie nicht als der entscheidende Wendepunkt in der Auseinandersetzung angesehen. Die Niederlage leitete zwar das Ende der österreichischen Herrschaft in der Innerschweiz ein und ermunterte die eidgenössischen Orte zu weiterer territorialer Expansion, doch schwächte etwa die Eroberung des Aargaus im Jahr 1415 die habsburgische Herrschaft in erheblich stärkerem Maße. 4 Ungleich bedeutender als die unmittelbaren Folgen der Schlacht war jedoch ihre Wirkung auf die Entstehung und Festigung der wechselseitigen Feindbilder von Eidgenossen auf der einen Seite und dem Haus Habsburg sowie dem Adel der Vorlande auf der anderen Seite. Während bei den Nachfahren der Sieger die Erinnerung an die Schlacht bei Sempach erst Ende des 15. Jahrhunderts intensiviert wurde,5 setzte die Herausbildung einer Sempachtradition auf Seiten der Unterlegenen bereits unmittelbar nach dem Ereignis ein, lebte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts erneut auf und brach nach dem Ende des - je nach Standpunkt - Schwaben- oder Schweizerkrieges von 1499, der die Grenzen zwischen habsburgischen und eidgenössischen Territorien endgültig fixierte, weit gehend ab.6 Neben den politischen Konflikten des 15. Jahrhunderts waren der Tod Herzog Leopolds III. und einer großen Zahl von Rittern seines adeligen Gefolges weitere Ursachen für die Intensität der Erinnerung an das Ereignis.7 Denn
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3-15; Peter Moraw, Reich, König und Eidgenossen im späten Mittelalter, in: ebd., 15-33; Heinrich Koller, Die Schlacht bei Sempach im Bewußtsein Österreichs, in: ebd., 48-60. Walter Schaufelberger, Spätmittelalter, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1972, 243ff.; Nicolas Morard, Auf der Höhe der Macht (1394-1536), in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd. 1, 2. Aufl., Basel u. a. 1983, 202ff.; Zur Rekonstruktion des Ereignisses vgl. Guy Marchai, Zum Verlauf der Schlacht bei Sempach, Ein quellenkritischer Nachtrag, in: SZG 37 (1987), 428-436; Alois Niederstätter, Die Herrschaft Österreich, Fürst und Land im Spätmittelalter (Österreichische Geschichte, 1278-1411), Wien 2001, 184ff.; Ders., Das Jahrhundert der Mitte, An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Österreichische Geschichte, 1400-1522), Wien 1996, 318ff. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Entstehung des Winkelried-Mythos. Vgl. dazu Paul Aebischer, Arnold de Winkelried, le héros de Sempach et Roland, le vainqueur de Roncevaux, Observations sur la technique du montage, du lancement et de la mise en orbite de quelques mythes dans le cosmos historico-littéraire, in: SZG 19 (1969), 1-33; Beat Suter, Arnold von Winkelried, der Heros von Sempach, Die Ruhmesgeschichte eines Nationalhelden, Stans 1977; Barbara Helbling, Der Held von Sempach, Österreichische und eidgenössische Versionen, in: SZG 31 (1981), 60-66; Guy P. Marchai, Leopold und Winkelried - Die Helden von Sempach, oder: Wie ein Geschichtsbild entstand, in: Historischer Verein Nidwaiden (Hg.), Arnold von Winkelried - Mythos und Wirklichkeit, Nidwaldner Beiträge zum Winkelriedjahr 1986, 71-111. Koller, Schlacht, 57. Zur Zahl der Gefallenen aus dem vorländischen und tirolischen Adel vgl. Gottfried Boesch, Die Gefallenen der Schlacht bei Sempach aus dem Adel des deutschen Südwestens, in: Alemannisches Jahrbuch, 1958, 233-278; Oswald Graf Trapp, Tiroler Erinnerungsstücke an die Schlacht bei Sempach, in: Beiträge zur Landeskunde Tirols, Klebelsberg-Festschrift (Schlern-Schriften, 150), Inns-
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anders als bei kriegerischen Auseinandersetzungen von Kämpfern gleichen Standes wurden in der Schlacht keinerlei Gefangene gemacht, die man üblicherweise gegen die Zahlung eines Lösegelds unversehrt wieder freiließ, sondern bis zum Tod des Gegners gekämpft. 8 Da jedes kollektive Gedächtnis eine „zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger" hat,9 werden beim folgenden Versuch der Skizzierung einer Gedächtnisgeschichte der Schlacht jene Zeugnisse untersucht, die dem Haus Habsburg und den Nachkommen der bei Sempach gefallenen Adeligen zugeordnet werden können. Daher gilt das Interesse im ersten Abschnitt dem liturgischen Totengedenken für die Gefallenen als Ausgangspunkt der Erinnerungskultur des mittelalterlichen Adels. 10 Anschließend werden die in der Historiographie und der politischen Ereignisdichtung vorgebrachten Deutungen der Niederlage analysiert. Abschließend soll schließlich ein Blick auf die Funktion der Erinnerung an die Schlacht von Sempach in den Auseinandersetzungen des Hauses Habsburg und seinen adeligen Gefolgsleuten mit der Eidgenossenschaft vom „Alten Zürichkrieg" (1440-1446) bis zum Schwaben- oder Schweizerkrieg von 1499 geworfen werden.
1. Das Totengedenken in Kloster Königsfelden Da in der Schlacht bei Sempach nicht nur eine ungewöhnlich große Zahl adeliger Herren, Ritter und Edelknechte zu Tode kam, sondern auch ein regierender Fürst, war der wichtigste Träger der Erinnerung an das Ereignis zunächst das liturgische Totengedenken. Zentrum der Memoria für die Gefallenen war das Kloster Königsfelden, wohin Herzog Leopold und weitere gefallene Adelige gebracht und in der Klosterkirche bestattet wurden. Nach Angaben der Chronik des Jakob Twinger von Königshofen wurden 40 gefallene Adelige zusammen mit Herzog Leopold in Königsfelden begra-
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bruck 1956, 215-228; Karl Schadelbauer, Tiroler, die bei Sempach kämpften, in: Der Schiern 45 (1971), 93-94. Jan-Frans Verbruggen, The art of warfare in Westem Europe during the Middle Ages, from the eighth century to 1340, Amsterdam 1977, 157f.; Volker Schmidtchen, Kriegswesen im Spätmittelalter, Technik, Taktik, Theorie, Weinheim 1990, 69ff. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1957, 72. Zum Gruppenbezug von Erinnerung vgl. auch James Fentress/Chris Wickham, Social Memory, Oxford 1992, 25ff. Obgleich in jüngster Zeit Memoria als Kultur bzw. als „totales soziales Phänomen" ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt ist, steht das liturgische Gebetsgedenken nicht nur forschungsgeschichtlich am Anfang der Erinnerungskultur des mittelalterlichen Adels, deren früheste Zeugnisse die Eintragungen in die Verbrüderungsbücher von Mönchsgemeinschaften sind. Erst seit dem Hochmittelalter lässt sich im Adel eine weit über die religiöse Sphäre hinaus reichende Memorialkultur beobachten. Vgl. hierzu Otto Gerhard Oexle, Memoria als Kultur, in: Ders., Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, 9-78, hier: 37ff.
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ben. 11 Bei Restaurierungsarbeiten 1891/93 fand man allerdings nur noch die Überreste von sieben Leichnamen in drei Gräbern. 12 Das Kloster Königsfelden war für die Dynastie der Habsburger ein Memorialort von besonderer Bedeutung, da es an der Stätte des am 1. Mai 1308 geschehenen Mordes an König Albrecht durch seinen Neffen Johann von Schwaben auf offenem Feld zwischen Windisch und Brugg errichtet worden war. Die Witwe Albrechts, Elisabeth von GörzTirol, leitete bereits 1309 die Stiftung des Klosters zur Sorge für das Seelenheil ihres Gatten und aller Vorfahren ein, nachdem sich bereits unmittelbar nach der Bluttat zwei Minoriten dort niedergelassen hatten, um für das Seelenheil König Albrechts zu beten. 13 Der Grundstein für das Kloster wurde im Herbst 1310 gelegt und im darauf folgenden Jahr wurde Königsfelden von den ersten Franziskanern bezogen. 1312 kamen die ersten Klarissinnen nach Königsfelden, die aus dem Kloster Söflingen bei Ulm berufen worden waren. Im 14. Jahrhundert entwickelte sich Königsfelden zur Familiengrablege der Habsburger, obwohl König Albrecht zunächst im Kloster Weltingen im Aargau bestattet und später in den Dom von Speyer überfuhrt wurde. Neben der Stifterin Elisabeth von Görz-Tirol wurden in Königsfelden zehn weitere Angehörige der Dynastie dort bestattet. 14 Während des 14. Jahrhunderts war Königsfelden ein bedeutender „Anknüpfungspunkt habsburgischer Schenkungs- und Stiftungspraxis" und zugleich ein Ort fürstlicher Präsenz in den Vorlanden, diente es doch der Königin Agnes, Tochter des ermordeten Königs Albrecht und Witwe des Königs Andreas von Ungarn, als ständiger Aufenthaltsort, von dem aus sie beträchtlichen politischen Einfluss ausübte. Auch unter Herzog Albrecht II. war Königsfelden ein bedeutender Ort habsburgischer Herrschaftsausübung, wie eine Reihe von Urkunden bezeugt, die dort im Jahr 1351 ausgestellt wurden. 15 Daher konnte die Wahl des Klosters Königsfelden als Begräbnisstätte für Herzog 11
Carl Hegel (Hg.), Die Chroniken der oberdeutschen Städte, Straßburg (Die Chroniken der deutschen Städte 9), Leipzig 1871, 830. Der Chronik zufolge starben in der Schlacht 200 Schweizer und 400 auf der herzoglichen Seite.
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Emil Maurer, Kloster Königsfelden, Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Bd. 32, Basel 1954, 62ff. Zudem sind noch erhalten ein Tischgrab Friedrichs von Greifenstein, eine Grabplatte für Friedrich von Tarent, Peter von Schiandersberg und Wilhelm von Enn sowie Grabplatten für Götz Mülner von Zürich, Heinrich von Schellenberg und Albert von Hohenrechberg, die alle in der Schlacht bei Sempach ums Leben kamen.
13
Zur Geschichte Königsfeldens vgl. Georg Boner, Barfüsserkloster Königsfelden, in: Klemens Arnold/Hugo Volanthen (Hg.), Die Minimen der Schweiz (Helvetia Sacra 5; Der Franziskusorden 1), B e m 1978, 206-211; ders., Klarissenkloster Königsfelden, in: ebd., 562-576. Johannes Gut, Memorialorte der Habsburger im Südwesten des Alten Reiches - Politische Hintergründe und Aspekte, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.), Vorderösterreich, nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten, Stuttgart 1999, 95113, hier: 105f.
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Thomas Zotz, Fürstliche Präsenz und fürstliche Memoria an der Peripherie der Herrschaft: Die Habsburger in den vorderen Landen im Spätmittelalter, in: Cordula Nolte/Karl-Heinz Spieß/RalfGunnar Werlich (Hg.), Principes, Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, 349-370, hier: 362f.
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Leopold III. auch als politisches Signal an die eidgenössischen Orte verstanden werden, dass man die erlittenen territorialen Verluste nicht hinnehmen werde. 16 Zur Sicherstellung des Gebetsgedenkens für seinen Vater stiftete Herzog Leopold IV. am 23. Januar 1392 eine Jahrzeit für seinen Vater. Aus den Einkünften des Zolls von Feldkirch wies er dem Barfüßerkonvent eine „jährlich Gült" von fünfzig Gulden zu, mit Hilfe derer zwei zusätzliche Priester unterhalten werden sollten. 17 Die Praxis des Gebetsgedenkens für Leopold III. und die Gefallenen von Sempach findet ihre Bestätigung im Jahrzeitbuch des Klosters Königsfelden, das einen umfangreichen Eintrag zum 9. Juli enthält, in dem der Grundton der Erinnerung an die Niederlage bereits festgelegt ist. Der Eintrag betont, dass Herzog Leopold in seinem eigenen Land, beim Kampf um seinen Besitz von seinen eigenen Leuten getötet wurde: „Anno Domini 1386 nona die mensis Julii occisus est illustrissimus princeps et Dominus Leopoldus dux Austriae in terra propria, pro re propria genteque de propria a Lucemensibus et Suitensibus in campo prope oppidum Sempach versus Luceriam. Hic ille sepultus est cum Dominis infra scriptis qui ex loco occisionis cum eo ad locum Campiregis fuerunt adducti." 18
Die Erinnerung an die Toten der Schlacht von Sempach wurde zudem durch Wandmalereien wachgehalten, die bereits Ende des 14. Jahrhunderts im Archiv- und Schatzgewölbe des Frauenklosters angelegt wurden. Die Gemälde zeigen in recht schematischer Weise 27 Ritter in Gebetshaltung und voller Rüstung. Die Malereien waren allerdings häufigen Beschädigungen und Übermalungen ausgesetzt, so dass Ende des 19. Jahrhunderts nur noch Spuren zu erkennen waren, die bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 1952 wieder freigelegt wurden. 19 Die Memoria für die Gefallenen in Königsfelden konnte für die Erinnerung an die Schlacht von Sempach im Haus Habsburg und dem habsburgischen Adel allerdings keine großen Wirkungen entfalten, da die Eidgenossen bereits 1415 den Aargau eroberten, wodurch Landeshoheit und Kastvogtei an die Stadt 16
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Heinrich Koller, Die Habsburgergräber als Kennzeichen politischer Leitmotive in der österreichischen Historiographie, in: Historiographia mediaevalis, Festschrift für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, Darmstadt 1988, 256-269; Franz Quarthai, Residenz, Verwaltung und Territorialbildung in den westlichen Herrschaftsgebieten der Habsburger während des Spätmittelalters, in: Peter Rück/Heinrich Koller (Hg.), Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, Marburg 1999, 61-85, hier: 73. Boner, Barfüsserkloster, 207. Zur Jahrzeit vgl. Peter-Johannes Schuler, Das Anniversar, Zu Mentalität und Familienbewußtsein im Spätmittelalter, in: Ders. (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Untersuchungen zum Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, 67-117. Liebenau, Schlacht, 339. Das Jahrzeitbuch ist nur als Fragment erhalten. Eine Abschrift aus dem 16. Jahrhundert belegt jedoch, dass auf den Eintrag die Namen der Gefallenen folgten. Auch im Jahrzeitbuch von Kirchdorf bei Baden (Liebenau, Schlacht, 332) klingt der gleiche Tenor an: „8. Juli. Luppoli dux Austrie occisus est cum plus quam ducenti septuaginta Baronibus, militibus, armigeris ante opidum Sempach in terra propria a suis propriis cum suis famulis et pro suis rebus Anno ab incarnatione christi MCCClxxxvj, isto die." Maurer, Königsfelden, 38ff; 62ff. Bei den Wandmalerein im ehemaligen Archiv- und Schatzgewölbe handelte es sich demnach um Ableger der ursprünglichen Bilder in der Klosterkirche.
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Bern übergingen. Somit entfiel auch die unmittelbare Präsenz von Angehörigen der habsburgischen Dynastie. Erst im Jahr 1442 machte König Friedrich III. auf der Reise nach seiner Aachener Krönung in Königsfelden Station. Auch die Funktion als Memorialort der Habsburger ging an St. Stephan in Wien verloren, das seit dem Ende des 20 14. Jahrhunderts zur habsburgischen Familiengrablege wurde.
2. Historiographie und Dichtung im Umkreis der Habsburger Am Wiener Hof Herzog Albrechts III. stand man nach der Schlacht von Sempach vor dem Problem, die katastrophale Niederlage des adeligen Ritterheeres gegen die als „Bauern" verachteten Eidgenossen zu erklären. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Schlacht entstanden drei Texte, die das außergewöhnliche Ereignis zu bewältigen versuchten: ein Gedicht Peter Suchenwirts, die Österreichische Chronik der 95 Herrschaften und ein Traktat mit dem Titel „Ain 1er von den streitten". 21 Obwohl Leopold III. nicht zu den Gönnern Peter Suchenwirts gehörte, gedachte der am Wiener Hof tätige Dichter des Schlachtentods des Herzogs dennoch in einer noch 22
unter dem Eindruck der Schlacht entstandenen Reimrede. Die Klage Suchenwirts ist zwar nicht ausdrücklich Leopold III. gewidmet, doch bildete sein Tod bei Sempach offenbar den Anlass für das Gedicht über die Unbeständigkeit der Zeiten, die er anhand des Schicksal fünfer durch Verrat und Mord bedrohter Fürsten illustriert. So verstarb Bernabò Visconti, Signor von Mailand, der „von seinem aigen plût", namentlich seinem Neffen Gian Galeazzo Visconti, am 6. Mai 1385 gefangen genommen wurde, noch im 23 gleichen Jahr. Auf Siegmund, Sohn Kaiser Karls IV., sei im Jahr 1386 in Ungarn ein Mordanschlag geplant worden, der jedoch scheiterte. Der Anschlag auf das Leben Karls III. von Anjou-Durazzo, der am 31. Dezember 1385 in Buda zum König von 20 21
Koller, Habsburgergräber, 258. Eine Zusammenstellung der Motive in den frühen Quellen zur Schlacht bietet Martin Schilling, Das Ereignis von Sempach im Spiegel der frühen Quellen 1 3 9 4 - 1 5 7 7 , in: Jubiläumsstiftung, Nachwelt, 13-19.
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Zu Peter Suchenwirt vgl. Claudia Brinker, Von manigen helden gute tat, Geschichte und Exempel bei Peter Suchenwirt, Bern 1987; Claudia Brinker-von der Heyde, Art. „Suchenwirt", in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, begr. v. Wolfgang Stammler, 2. völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh, Berlin/New York 1995, 9, Sp. 481-488. Vgl. den Text des Spruches in Alois Primisser (Hg.), Peter Suchenwirts Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte, Ein Beytrag zur Zeit- und Sittengeschichte, Wien 1827 ( N D Wien 1961), 65-68. Zum Klagelied vgl. Bertrand Michael Buchmann, Daz jemant singet oder sait..., das volkstümliche Lied als Quelle zur Mentalitätengeschichte des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1995, 122f.
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Primisser, Suchenwirt, 65; zu den Ereignissen vgl. Francesca Maria Vaglienti, Art. „Visconti, Bernabò", in: LMA, Bd. 8, Sp. 1719f.
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Ungarn gekrönt worden war, verlief dagegen erfolgreich. 24 Von Verrat sah Suchenwirt schließlich Herzog Wilhelm, den ältesten Sohn Leopolds III., betroffen, der seit 1380 mit Hedwig, der Tochter König Ludwigs von Ungarn aus dem Hause Anjou, verlobt war. Bei einem Aufenthalt im Winter 1385/86 in Krakau, wo Hedwig 1384 zur Königin von Polen gekrönt worden war, musste Wilhelm zunächst warten, bis man ihn zu seiner Verlobten vorließ. Obwohl die Königin an der Verlobung festhielt und die Ehe bereits vollzogen war, wurde Wilhelm verjagt und Hedwig gezwungen, Wtadistaw Jagietto zu heiraten.25 Schließlich wendet sich Suchenwirt dem Tod Herzog Leopolds III. in der Schlacht bei Sempach zu. Da er nur mit einem kleinen Heer gegen die zahlenmäßig überlegenen Schweizer gestanden habe, hätten ihm seine Ratgeber empfohlen, nicht am Kampf teilzunehmen. Doch lehnt Leopold dies unter Verweis auf die Wahrung seiner Ehre ab: „Pezzer ist mit eren tot, / Den schentlich sten vor frewen." 26 Dennoch macht Suchenwirt nicht allein Leopolds ritterliche Gesinnung für dessen Tod und die Niederlage in der Schlacht verantwortlich. Vielmehr sieht er im Tod des Herzogs einen Mord, der auf den feigen Verrat einiger Adeliger zurückgeführt wird: „Ir hielten vil zu rossen still, / Und sachen zu mit schänden, / Ir hertz und auch ir eigen will / Het tzeglich mut bestanden. / Hieten all die recht getan, / Die mit dem fursten riten, / Den veinden wär gesiget an". 27 Auch der Augustiner-Eremit und Hofkaplan Herzog Albrechts III., Leopold von Wien, stand bei der Niederschrift seiner Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften noch unter dem Eindruck der Niederlage von Sempach. Die Chronik Leopolds, die in mehr als fünfzig Handschriften überliefert ist und daher die Erinnerung an die Schlacht nachhaltig prägte, entstand wohl in den Jahren 1386 bis 1394 im Auftrag von 28
Herzog Albrecht III. Da die Schilderung der Niederlage gegen die Eidgenossen in der ältesten Handschrift der Chronik einen prominenten Platz am Schluss des Textes einnimmt, könnte diese durchaus zu den causae scribendi des Textes gehören. 29 24
Vgl. Salvatore Fodale, Art. „Karl III. von Anjou-Durazzo, König von Neapel", in: LMA, Bd. 5, Sp. 985f.
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Vgl. Brigitte Hamann (Hg.), Die Habsburger, Ein biographisches Lexikon, München 1988, 238430. Liebenau, Schlacht, 351.
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Ebd., 352. Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hg. v. Joseph Seemüller (MGH Deutsche Chroniken 6), Hannover 1909. Vgl. Jean-Marie Moeglin, Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung, Zum Selbstverständnis der Wittelsbacher, Habsburger und Hohenzollern im Spätmittelalter, in: HZ 156 (1993), 593-635, insbesondere 619: „Dieser Chronik sollte ein wirklich erstaunlicher Erfolg beschieden sein, fast einzigartig im ganzen mittelalterlichen Abendland." Zum Verfasser vgl. Paul Uiblein, Art. „Leopold von Wien", in: Verfasserlexikon, Bd. 4, (2. Aufl., 1983), Sp. 716-723. Seemüller, Österreichische Chronik, 214f. Auch die Abfassungszeit der Chronik, die Ende der 80er Jahre des 14. Jahrhunderts begonnen und im Hauptteil 1394 fertiggestellt wurde, legt die Vermutung nahe, dass die Niederlage bei Sempach und der Tod Herzog Leopolds III. die Niederschrift
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Wegen der großen Nachwirkung des Textes sei die Darstellung der Schlacht bei Sempach in der Österreichischen Chronik Leopolds von Wien im Folgenden in geraffter Form wiedergegeben. 30 Grund für den Krieg gegen die Eidgenossen - „ein grobes bawern volck, die Sweinczer gehaissen, daz mit rechte die von Oesterreich angehörtt" war nach Leopold von Wien, dass „die selben törisch pawren" dem Herzog etliche Städte in Schwaben abgenommen hatten, weshalb Herzog Leopold III. sein „vetterleich Erb" zurückerobern wollte. Deshalb zog er mit „herren ritteren und knechten" aus Tirol und Schwaben nach Sempach. Dort traf der Herzog auf das Heer der Schweizer, dem er einen kleinen Trupp entgegenschickte. Diese Ritter waren jedoch „zu vraidig", zu übermütig, und eilten „an Ordnung auf die veind", weshalb die Schweizer schnell die Überhand gewannen. Die in Bedrängnis geratenen Ritter riefen mit dem Schrei „O retta, Österreich! retta!" um Hilfe. Herzog Leopold forderte seine Mitstreiter deshalb auf, von den Pferden zu steigen, um den Bedrängten zur Hilfe zu eilen. Doch diesem Kommando kamen viele Ritter und Edelknechte nicht nach: „An demselben dienst waren etleich gar treg." Obwohl Leopold „gar ritterlich" und „vraidigleich alz ein Leo" gekämpft habe, kam eine weitere Gruppe von Rittern, die dem Kampf aus sicherer Entfernung beobachteten, ihm nicht zu Hilfe, sondern ergriff die Flucht. Dennoch wollte Herzog Leopold sein Leben nicht durch eine Flucht retten: Lieber wolle er in Ehren sterben als ohne Ehre leben. Im anschließenden Kampf erschlugen der Herzog und die ihm verbliebenen Getreuen noch zahlreiche Feinde, bevor sie von diesen überbewältigt und getötet wurden. Von den mehr als 120 „herren, ritter und chnecht", die in diesem Kampf erschlagen worden sein sollen, nennt der Chronist nur die Namen der vornehmsten Herren: „Der anderen piderb ritter und chnecht namen waiz got von himelreich allerpest." Der Bericht endet mit dem Hinweis, dass Herzog Leopold in der Kirche des Klosters Königsfelden bestattet wurde. Der Traktat mit dem Titel „Ein 1er von den streitten", als dessen Verfasser sich Johann Seffner, Dekan der Wiener Universität, zu erkennen gibt, entstand ebenfalls nur wenige Jahre nach der Schlacht bei Sempach. 31 Doch während bei Leopold von Wien und Peter Suchenwirt das ehrenhafte Verhalten des Herzogs und die unehrenhafte Flucht einiger Ritter kontrastiert werden, fehlen in Seffners Kriegstraktat Anklänge an die Ideale des Rittertums. Seffners Traktat, der als Exkurs zur Darstellung der Schlacht in einer Handschrift der Österreichischen Chronik Leopolds von Wien überliefert ist, will vielmehr praktische, wenngleich auch keine kriegstechnisch-taktischen Lehren aus
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der Chronik mitveranlasst haben könnten. Zum Begriff der causa scribendi vgl. Gerd Althoff, Causa scribendi und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde und andere Beispiele, in: Michael Borgolte/Herrad Spilling (Hg.), Litterae medii aevi, Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, 117-133. Zum Folgenden Seemüller, Österreichische Chronik, 214f. Zu Johann Seffner vgl. Alphons Lhotsky, Quellenkunde zur Mittelalterlichen Geschichte Österreichs (MIÖG Ergänzungsband 19), Wien 1963, 321; Volker Schmidtchen, Art. „Seffner, Johann", in: Verfasserlexikon, Bd. 8 (2. Aufl., 1992), Sp. 1040ff.; Christian Lackner, Hof und Herrschaft, Rat, Kanzlei und Regierung der östereichischen Herzoge (1365-1406), München 2002, 331f.
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der N i e d e r l a g e z i e h e n , w o b e i er sich nach e i g e n e n A n g a b e n n e b e n d e n Schriften der Kirchenväter u n d der lateinischen Klassiker i n s b e s o n d e r e auf das i m Mittelalter w e i t verbreitete W e r k „ E p i t o m a rei militaris" des P. Flavius V e g e t i u s R e n a t u s stützt. 3 2 Allerd i n g s rezipiert er d e s s e n Schrift nicht wirklich als k r i e g s t e c h n i s c h e s , sondern eher als staatstheoretisches W e r k , w o b e i er in der Tradition der Fürstenspiegel steht. 3 3 Zu den w e n i g e n praktischen E r w ä g u n g e n S e f f n e r s gehört - ähnlich w i e in der Chronik L e o p o l d s v o n W i e n - d i e N o t w e n d i g k e i t einer guten S c h l a c h t o r d n u n g . 3 4 Z u d e m betont S e f f n e r unter B e r u f u n g auf V e g e t i u s die G e l ä n d e k e n n t n i s , w e s h a l b er verlangt, dass der Heerführer Späher a u s s e n d e n solle. B e i der S c h l a c h t v o n S e m p a c h hätten d i e S c h w e i z e r e i n e n g r o ß e n Vorteil gehabt, da sie das S c h l a c h t f e l d i m G e g e n s a t z zu den h e r z o g l i c h e n K ä m p f e r n gut kannten. 3 5 A n d e r s als L e o p o l d v o n W i e n und Peter S u c h e n w i r t heroisiert S e f f n e r den S c h l a c h tentod d e s H e r z o g s nicht als das E r g e b n i s e i n e s an der B e w a h r u n g der Ehre orientierten Verhaltens. V i e l m e h r kritisiert er das Verhalten L e o p o l d s u n d fordert, d a s s der Fürst sich aus d e m K a m p f heraushalten und v o n den S e i n e n beschützt w e r d e n s o l l e . 3 6 D i e s habe in b e s o n d e r e m M a ß e für H e r z o g L e o p o l d g e g o l t e n , der - w i e auch L e o p o l d v o n 32
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Johann Seffners Lehre vom Krieg, in: Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hg. v. Joseph Seemüller (MGH Deutsche Chroniken, 6) Hannover 1909, Anhang I: 224-230, hier 224: „Des hochgeporen durchleuchtigisten furstens herczog Leopolds von Osterreich ungeordneter streitt ist mir Johanni dem Seffner, dy zeitt techantt der schulen ze Wyenn in geistleichen rechten, als ser zu herczen gangen, daz ich ain sunder 1er der streitt hab gezogen aus den pucheren der weisen und besunderlich aus dem puch Vagecii, der von der ritterschafft hat geschriben." Zur Überlieferung des Traktats vgl. die Einleitung Seemüllers, CCCI. Maßgebliche Edition der „Epitoma": Alf Önnerfors (Hg.), P. Flavii Vegeti Renati Epitoma rei militaris (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Stuttgart/Leipzig 1995. Dies hat ihm die Kritik der modernen Historiker eingetragen. Vgl. Lhotsky, Quellenkunde, 321 : „Seffners eigene Schrift war bloß eine akademische Lukubration, denn vom wirklichen Kriege verstand er nichts." Zu Vegetius und seiner Rezeption im Spätmittelalter vgl. Schmidtchen, Kriegswesen, 105-128; Frank Fürbeth, Zur deutschsprachigen Rezeption der .Epitoma rei militaris' des Vegetius im Mittelalter, in: Horst Brunner (Hg.), Die Wahrnehmung und Darstellung von Kriegen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2000, 141-165; Rainer Leng, Ars Belli: Deutsche taktische und kriegstechnische Bilderhandschriften im 15. und 16. Jahrhundert, Wiesbaden 2002. Fürbeth weist darauf hin, dass am Wiener Hof um 1400 außer der Übersetzung des Fürstenspiegels des Aegidius Romanus durch Leopold von Wien auch die erste vollständige deutsche Übersetzung des Vegetius angefertigt wurde. Seffner, Lehre, 226: „Zu des streits anvankch ist ain notdurfft, das alle ding ordenleich und weysleich werden betracht, das nichts freilich oder unfursichtichlich do beschech, das yeder mann wiss, in welher rott er sey und welhem haubtman oder weyser er sol wesen gehorsam." Ebd.: „Als ich gehört hab, so habent wider den edlen fursten herczog Leopolden dy Sweinczer gehabt grossen vortaill, wann sy der walstatt all gelegenhait gar wol westen. Ich hör auch sagen, das er ab ayner hochen ze tal zu in gelauffen sei. Es sprcht Vagecius, von der ritterschafft: ,Dy veindt sol man raiczen auff woll gelegne stett, daz sy dester leichter werden uberwunden, und den nach volgunden widertaill sol man füren in haymlich gmus und inseien'." Ebd., 228: „Das annder ding, das da gehört zu dem anegang, ist des fursten behuttung, wan davon das gmütt der sein ritterlichen wirt gesterkt."
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Wien berichtet - vor der Schlacht von einer Krankheit befallen worden war, durch die 37
er die Kraft in Händen und Füßen verloren hatte : „O wer des hett den edelen fursten herczog Leopolden underweiset, wan er doch onchrefftig was vor Siechtum in hennden 38 vnd fuessen." Auch bewertet er die Flucht vom Schlachtfeld nicht ausschließlich negativ. Zwar sei es unehrenhaft, aus Angst vor dem Gegner zu fliehen, doch ist es nach Seffners Auffassung erlaubt, den Rückzug anzutreten, wenn es dafür taktische Gründe gibt. 39 Die 1452/53 entstandene „Chronica Austriae" des Thomas Ebendorfer fügt den noch unmittelbar unter dem Eindruck der Niederlage entstandenen Erklärungen nur wenig hinzu. Für Ebendorfer sind die Schweizer „rustici et populares", die sich gegen die „Domus Austrie" auflehnen. Während Leopold von Wien nur unbestimmt vom väterlichen Erbe Leopolds III. spricht, benennt Ebendorfer die von den Schweizer eroberten Orte, die den Grund für die Auseinandersetzung darstellten. Die fehlende Ordnung des Heeres und die Flucht einer Gruppe von Rittern, die nicht in die Schlacht eingriffen, sieht auch Thomas Ebendorfer als die entscheidenden Ursachen der Niederlage gegen die Eidgenossen an. Hinzu kommt jedoch das Motiv der zahlenmäßigen Unterlegenheit des österreichischen Heeres. Nicht thematisiert wird das bei Leopold von Wien und bei Suchenwirt so dominante Motiv des heldenhaften Kampfes des Herzogs, der sich zu fliehen weigert, weil er lieber sein Leben als seine Ehre verlieren möchte.40 Die so genannte Klingenberger Chronik betont hingegen wieder das Festhalten Herzog Leopolds am ritterlichen Ethos und verknüpft dies mit der engen Bindung des Hauses Habsburg an den Adel der Vorlande. Bei der Chronik, die um 1450 im Thurgau entstand und deren Verfasser bisher nicht identifiziert werden konnte, handelt es sich in weiten Teilen um eine Bearbeitung der um 1415 verfassten Chronik der Stadt Zürich. Ägidius Tschudi und andere Historiker des 16. Jahrhunderts schrieben das Werk irrtümlich mehreren Mitgliedern des Thurgauer Adelsgeschlechts Klingenberg zu. Anders als ihre Vorlage weist die Chronik vor allem in ihren selbständigen Teilen, die um 1400 einsetzen, eine deutliche Nähe zu habsburgischen Standpunkten auf.41 Dem Chronisten 37
Seemüller, Österreichische Chronik, 2 1 4 : „Herzog Leupolt rait darnach gen Ungeren, und am wider reiten ward er mit grosser chrancheit begriffen, also daz er ze Grecz lang lag in grosser chranchait und verloz die krefte an henden und füzzen." Die Reise nach Ungarn fand im Juli 1 3 8 5 statt. Im Zusammenhang der Chronik wird sie jedoch ins unmittelbare Vorfeld der Schlacht gelegt. Bei der Krankheit könnte es sich um einen schweren Gichtanfall gehandelt haben.
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Seffner, Lehre, 2 2 8 .
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Ebd., 2 2 9 : „Dy dritt flucht ist, wen ainer ursach hat ze flihen, und dy ist derleublich."
40
Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae, hg. v. Alphons Lhotsky (MGH SsrerG N.S. 13), Berlin 1 9 6 7 , 304ff.; zur quellenkritischen Einordnung vgl. Alphons Lhotsky, Thomas Ebendorfer: ein österreichischer Geschichtsschreiber, Theologe und Diplomat des 15. Jahrhunderts (Schriften der MGH, 15), Stuttgart 1 9 5 7 ; ders., Quellenkunde, 3 7 5 - 3 9 2 ; Paul Uiblein, Art. „Thomas Ebendorfer", in: Verfasserlexikon, Bd. 2 (2. Aufl.), Sp. 2 5 3 - 2 6 6 ; ders., Die Quellen des Spätmittelalters, in: Erich Zöllner (Hg.), Die Quellen der Geschichte Österreichs, Wien 1 9 8 2 , 5 5 - 1 1 3 , hier: 105f.
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Anton Henne von Sargans (Hg.), Die Klingenberger Chronik, Gotha 1 8 6 1 . Eine heutigen Ansprüchen genügende kritische Edition der Klingenberger Chronik liegt nicht vor. Zur Überliefe-
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zufolge hatten die Eidgenossen mutwillig den Frieden gebrochen, weshalb sich Adel und Städte mit Klagen an Herzog Leopold wandten. Zur Strafe für den Friedensbruch sei Leopold mit seinem Heer deshalb in die Gegend von Sempach gezogen, um diese zu verwüsten. 42 Als er dabei auf das eidgenössische Aufgebot getroffen sei, hätten ihm einige Ritter aus seinem Gefolge geraten, nicht zu kämpfen. Leopold soll diesen Rat jedoch ausgeschlagen und gesagt haben: „Das weli got nit, sölti ich üch hiit lassen sterben vnd sölt ich genesen? ich wil hüt Übels vnd guots, wol vnd wee mit üch han, ich wil bi minen rittern vnd knechtn hüt sterben vnd genesen vmb das min vnd vff dem minen vnd vmb min väterlich erb."43
Nach dem Zeugnis der Chronik verlief der erste Angriff erfolgreich, da viele Eidgenossen erschlagen werden konnten, die große Hitze habe den Rittern in ihren Rüstungen jedoch zu Schaffen gemacht. Als dann schließlich der „swarz graf von zolre und her hanns von oberkilch" vom Schlachtfeld flohen, fassten die Schweizer neuen Mut und errangen den Sieg.44 In einer 1479 von Clemens Specker von Sulgen, Sakristan im Kloster Königsfelden, angefertigten Abschrift der Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften wird das Motiv des ritterlichen Ethos hingegen wieder stärker herausgestellt und mit dem Diktum, dass Leopold bei seinem Kampf um sein rechtmäßiges Erbe „von den Seinen auf dem Seinen" umgebracht worden sei, verbunden. Der Schreiber legt dem Herzog Worte in den Mund, die eigentlich erst nach seinem Tod in der Schlacht sinnvoll waren: „Do sprach er: daz verbitt vns gott; es ist so menig gutt trutt frum byderman, fräven, fryen, Edell gutt Ritter vnd knecht durch vnser willen mit vns in den tod gangen vmm vnser eygen vetterlich erb, vm daz vnser vnd von den vnsern vnd uff dem vnsem, so sterben wir hüt hie."45
In der historiographischen Verarbeitung der Niederlage von Sempach verschieben sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand die Akzente der Darstellung nur wenig. Bereits die „Österreichische Chronik der 95 Herrschaften" des Leopold von Wien enthält die wesentlichen Elemente des habsburgischen und adeligen Feindbilds von den Schweizern. Ursache des Konflikts ist demnach die Auflehnung der Schweizer gegen die
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rungslage vgl. Erich Kleinschmidt, Art. „Klingenberger Chronik", in: Verfasserlexikon, Bd. 4 (2. Aufl., 1983), Sp. 1218f. Tatsächlich war Herzog Leopold III. wohl nicht für eine größere Schlacht gerüstet, sondern hatte es auf einen „Schädigungskrieg, [...] eine imposante, aber risikolose Machtdemonstration" angelegt. Vgl. Marchai, Verlauf 434. Henne, Klingeberger Chronik, 120. Ebd.; Vgl. dazu auch die Wiener Annalen, in: Seemüller, Österreichische Chronik 234: „[...] und der grössisten haubtmann zwen flüchen ab dem velld. Ich tör ir nicht genennen: der ain furt ain chrumpen weissen strich durch ein plobs velld, der ander ain schillt, der ist gevirtalit gruen und gell." Nach Helbling, Held, 62, handelte es sich dabei um Angehörige der Familien von Wähingen und von Ellerbach. Liebenau, Schlacht, 115; Zur Entstehung der Handschrift im Kloster Königsfelden vgl. Seemüller, Österreichische Chronik, XXXVIIf., CLVIIf.
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rechtmäßige und gottgegebene Herrschaft der Habsburger. Leopold III. habe nur um sein väterliches Erbe gekämpft, weshalb es sich bei dem Feldzug eindeutig um einen gerechten Krieg gehandelt habe. Dass die Schlacht bei Sempach dennoch in einer katastrophalen Niederlage endete, erklären die Chronisten vor allem mit der fehlenden Ordnung des österreichischen Heeres, aus dem einige adelige Herren und Ritter allzu übermütig auf die - offensichtlich besser geordneten - Schweizer losstürmten. Entscheidend für die Niederlage soll aber letztlich die Flucht jener Ritter gewesen sein, die zunächst den Kampf beobachteten und schließlich flohen. Dagegen wird der Tod des Herzogs als Ergebnis seines Festhaltens an einem ritterlichen Ehrenkodex stilisiert, weigert er sich doch, zur Rettung seines Lebens ebenfalls die Flucht zu ergreifen, weil ihm dies unehrenhaft erscheint. 46 Doch während der Tod Leopolds in den ersten Jahren nach der Niederlage als großes Unglück beklagt wird, entwickelt er sich im Verlaufe des 15. Jahrhunderts zunehmend zum Symbol für die Treue des Fürsten gegenüber dem Adel seines Landes.
3. Sempach in der politischen Ereignisdichtung des 15. Jahrhunderts Obwohl die Österreichische Chronik der 95 Herrschaft zu den am weitesten verbreiteten Geschichtswerken des Spätmittelalters gehörte und von ihrer Intention her auf ein größeres Publikum zielte,47 blieb ihre Wirkung auf die relativ überschaubare Gruppe der Handschriftenbesitzer und ihres Umkreises beschränkt. Ein erheblich größeres Publikum wurde durch Sprüche und Lieder von Dichtern erreicht, die aktuelle politische Ereignisse behandelten. 48 Diese Form politischer Ereignisdichtung ist im Zusammenhang der Auseinandersetzungen zwischen Eidgenossen und Habsburgern im 15. Jahrhundert, vor allem aus der Zeit des Alten Zürichkriegs (1440-1446) und aus der Zeit des Schwabenkriegs (1499) überliefert. Der Großteil der überlieferten Dichtungen nimmt einen pro-eidgenössischen Standpunkt ein, doch erlauben die wenigen Texte mit explizit habsburg- bzw. adelsfreundlichem Tenor Einblicke in die Rolle der Erinnerung
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Marchai, Verlauf, 433, weist mit Recht darauf hin, dass der Kampf zwar die standesgemäße Beschäftigung des Ritters war, jedoch der selbstlose Einsatz des eigenen Lebens nicht zu dessen Mentalität gehörte. Der Chronist Leopold von Wien begründet die Wahl der Volkssprache für sein Werk mit der Absicht, möglichst viele Leser und Hörer zu erreichen. Österreichische Chronik, 3: „Ich hab underweilen die wort über seczet in diser kroniken, darumb daz si dester pazz werd gelesen fleizzichleich und gehöret." Zum Begriff der politschen Ereignisdichtung vgl. Sonja Kerth, „Der landsfrid ist zerbrochen", Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts (Imagines Medii Aevi 1), Wiesbaden 1997, 3ff.
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an die Schlacht bei Sempach bei der Konstruktion des Feindbildes vom aufständischen Eidgenossen. 49 Die Grundstrukturen des Feindbilds in den einen adeligen Standpunkt vertretenden Dichtungen ähneln dabei jenen, die auch bei Konflikten zwischen Adeligen und Städten zu beobachten sind. Die Schweizer gelten ebenso wie die Städter als Bauern, welche die von Gott gegebene Ordnung umstürzen wollen. Die Konflikte, ob mit selbstbewussten Städten oder den Eidgenossen, werden auf den einfachen Gegensatz von Adel und Bauern reduziert. Die Diffamierungen der Schweizer steigern sich dabei bis zu dem Vorwurf, diese wollten den Adelsstand gänzlich vernichten. In den politischen Ereignisdichtungen, die sich aus adeliger Sicht mit den Eidgenossen beschäftigen, treten jedoch einige spezifische Merkmale hervor, darunter der Vorwurf der Brutalität, Gnadenlosigkeit und Unritterlichkeit der Schweizer im Kampf. Als Beweis für diese Behauptung führen die Dichter den Tod Herzog Leopolds III. und einer außergewöhnlich großen Zahl adeliger Herren in der Schlacht bei Sempach an. Ein von Isenhofer von Waldshut verfasstes Schmachlied der Österreicher gegen die Eidgenossen, das wahrscheinlich während des Alten Zürichkrieges im Jahr 1443 entstand, enthält die aus der Neidhart-Tradition entnommenen, üblichen Stereotypen über die Schweizer und fordert Friedrich III. auf, etwas gegen diese zu unternehmen. 50 Bevor sich der Dichter in den beiden letzten Strophen zu erkennen gibt, gipfelt das Lied in Strophe 30 in einer Erinnerung an die Schlacht bei Sempach: „Man hat inen lang vertragen Gewalt und ubermut Ein fürsten hand si erschlagen, Darzu meng edel blut, Vertriben sind die frommen Als vor der puren spott, Das ihm hand si ingenommen Nun helffs uns rächen Gott."51
Auch im Schweizer- bzw. Schwabenkrieg von 1499 kursierten anti-eidgenössische Lieder, die sich der Erinnerung an Sempach bedienten, um die Eidgenossen als mordlüsterne Rebellen wider die göttliche Ordnung zu diffamieren. Das in Esslingen von Mathes Schanz gedichtete Lied rechtfertigt den Zug des Schwäbischen Bundes gegen die Eidgenossen unter anderem mit dem Verweis auf die ,Morde' der Schweizer an
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Zu den Dichtungen im Zusammenhang mit den eidgenössischen Kriegen vgl. Kerth, Bild ,44-97. Ulrich Müller, Art. „Isenhofer", in Verfasserlexikon, Bd. 4 (2. Aufl., 1983), Sp. 424f. Das Lied ist in der sogenannten Klingenberger Chronik und bei Aegidius Tschudi überliefert. Claudius Sieber-Lehmann/Thomas Wilhelmi (Hg.), In Helvetios - Wider die Kuhschweizer, Fremd- und Feindbilder in antieidgenössischen Texten von 1386 bis 1532, Bern 1998, 46.
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Kaiser Maximilans Schwiegervater Karl dem Kühnen, der bei Nancy von Schweizer Söldnern erschlagen wurde, und an Herzog Leopold: 52 „Der romisch kunig Maximilian der manet alle sen Untertan, es tut in auch verdrießen, daß sie im sein schweher han erschlagen, er meint er woll es inen nit vertragen, sie sollen sein nit genießen! Sie haben ein herzog von Ostterreich erschlagen, ist war auch sicherlich, das kumpt inn iez nit eben! Mit irer wehrhaftigen hand haben sie gewonnen bürge, stet und land, des mußen sie iezt wider geben." 5 3
Der Verfasser des Liedes verknüpft diese Erinnerung an die in Kämpfen mit den Eidgenossen getötete Fürsten mit einer eindringlichen Warnung an den Adel, den er zudem auffordert, die Schweizer zu bekämpfen: „...tun uns die Swizer ietz ein widerstand, so werden sie zwingen alle land, den adel gar vertringen. Nu wer dich adel, wann es ist zeit, daß wir behalten das feld und streit, und helf uns got zum rechten! will es dann got mit uns han, den Schweizern wollen wir wol widerstan mit unsern guten knechten." 5 4
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Frieder Schanze, Art. „Schanz, Mathes", in: Verfasserlexikon, Bd. 8 (2. Aufl., 1992), Sp. 603f. Zum Verhältnis von Schwäbischem Bund und Eidgenossenschaft vgl. Horst Carl, Eidgenossen und Schwäbischer Bund - feindliche Nachbarn? in: Rück/Koller (Hg.), Eidgenossen, 215-265. Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen, Bd. 1, Leipzig 1865, 385. Ebd., 385f.
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Wie schon im Lied Isenhofers von Waldshut aus der Zeit des Alten Zürichkrieges werden die Interessen des Hauses Österreich und des Adels in eins gesetzt. Dabei wird die Erinnerung an den Tod Herzog Leopolds und vieler Ritter aus den Adelsgeschlechtern der österreichischen Vorlande beschworen, um den Adel zum Kampf gegen die Schweizer zu motivieren.
4. Die Schlacht bei Sempach in den habsburgischeidgenössischen Konflikten des 15. Jahrhunderts Die in Historiographie und politischer Ereignisdichtung geformte Erinnerung an die Schlacht bei Sempach entfaltete vor allem in den österreichisch-eidgenössischen Konflikten des 15. Jahrhunderts politische Wirkung. So besuchte Friedrich III. auf seiner Reise nach seiner Krönung in Aachen, von der eine anonyme Quelle berichtet, 55 die Gräber seiner königlichen Vorfahren Rudolf und Albrecht im Speyrer Dom, demonstrativ aber auch das Kloster Königsfelden, in dem Herzog Leopold III. bestattet war. Heinrich Koller hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Besuch Friedrichs ΠΙ. „eine neue Epoche des Gedenkens" im Kloster Königsfelden begann. 56 Zudem verband er diese dem Totengedenken gewidmeten Besuche mit einem Aufenthalt in Gebieten, die in den vergangenen Jahrzehnten an die Eidgenossen verloren gegangen waren. Auf dieser Reise begleiteten Friedrich zahlreiche südwestdeutsche Adelige, unter deren Vorfahren sich Gefallene der Schlacht bei Sempach befanden. Die Reise stand also nicht nur für ein politisches Programm, das die Rekuperation verlorener Gebiete beinhaltete, sondern diente zugleich auch zur Stärkung der Bindung des vorländischen Adels an das Haus Österreich durch das gemeinsame Gedenken an die Toten von Sempach. 57 55
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Joseph Seemüller, Friedrich III. Aachener Krönungsreise, in: MIÖG 17 (1896), 585-665. Vgl. hierzu Koller, Schlacht, 52f. Koller, Schlacht, 50. Als ein weiteres Zeugnis der persönlichen Beschäftigung Friedrichs III. mit der Niederlage von Sempach hat Alphons Lhotsky, A E I Ο V, Die „Devise" Kaiser Friedrichs III. und sein Notizbuch, in: MIÖG 60 (1952), 155-193, hier: 179, einen Eintrag in einem zum Teil eigenhändig geführten Notizbuch Friedrichs interpretiert: „Das wanir Osterreich ist nit sigleich und mein vordem habent 3 streit darunder nidergelegen." Lhotsky zufolge sind damit die Schlachten bei Morgarten (1315), bei Mühldorf (1322) und bei Sempach (1386) gemeint. Zur politischen Bedeutung der Reise vgl. Alois Niederstätter, Der Alte Zürichkrieg: Studien zum österreichisch-eidgenössischen Konflikt sowie zur Politik König Friedrich III. in den Jahren 1440 bis 1446 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 14), Wien u.a. 1995, 145ff., 161f. „Es ist nicht auszuschließen, daß der Besuch in Königsfelden nicht bloß eine persönliche Wallfahrt Friedrichs zum Grab seines Großvaters, ein Symbol für die österreichischen Ansprüche auf dieses Gebiet und damit eine unmißverständliche Warnung an die Eidgenossen war, sondern auch der Motivation des Adels, der Verstärkung des Österreichbewußtseins bei Adel und Amtsträgern dienen sollte." Unter anderem wurde Friedrich von Markgraf Wilhelm von Hachberg,
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Doch wurde das Gedächtnis an die Gefallenen der Schlacht bei Sempach auch außerhalb des Klosters Königsfelden und somit auch außerhalb der liturgischen Memoria bewahrt. Zeugnisse dieses Gedenkens sind eine Reihe von Dokumenten, in denen die in der Schlacht getöteten Kämpfer nach Rang und regionaler Herkunft geordnet aufgezeichnet wurden. Überliefert sind diese umfangreichen Namenlisten in der Historiographie (Leopold von Wien, Klingenberger Chronik), in einer Breisgauer Sammelhandschrift, in der auf die Liste das Gedicht Suchenwirts über Sempach folgt, und in Codices aus Kanzleien der habsburgischen Fürsten, in denen die Gefallenenliste neben 58
Auflistungen der Räte und den Landtagsmatrikeln stehen. In der politischen Auseinandersetzungen des Hauses Habsburg mit den Eidgenossen seit den 1440er Jahren wurde die Erinnerung an die Toten von Sempach mit dem Motiv verbunden, dass Herzog Leopold im Sempacher Krieg sein väterliches Erbe verteidigt habe, das ihm von den Eidgenossen geraubt worden war, weshalb er „in suo, pro suo, a suis" umgebracht worden sei. 59 Einer Gesandtschaft der Eidgenossen verweigerte Friedrich III. nach dem Zeugnis der Klingenberger Chronik 1442 die Bestätigung ihrer Privilegien mit dem Hinweis, er wolle zuvor sein väterliches Erbe zurück erhalten. 60 Dieser Leitgedanke bestimmte auch in den kommenden Jahrzehnten die österreichische Politik gegenüber den Eidgenossen. Bei Verhandlungen zwischen Räten des Herzogs Sigmunds von Tirol mit Gesandten der eidgenössischen Orte im Frühsommer 1459 in Konstanz über eine endgültige Bereinigung des Konfliktes warfen die österreichischen Räte den Eidgenossen vor, Herzog Leopold sei „von den Seinen auf dem Seinen" erschlagen worden. 61 Zehn Jahre später bemühten die Räte Herzog Sigmunds das Argument, wonach „hertzog Lewpolt loblicher gedechtnuss zu Sempach vmb das sein, von den seinen vnd auf dem seinen erslagen worden" 6 2 sei, um die Verhängung der Reichsacht gegen die acht eidgenössischen Orte zu erreichen. Aus dem Sempacher Diktum, das
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Graf Hans von Tierstein, dem Graf von Sulz, dem Graf von Lupfen, Nielas von Leichtenstein, den Truchsessen Jakob und Georg von Waldburg, Wolfhard von Brandis, Wilhelm von Grünenberg, Sigmund von Schiandersberg, Puppiii von Ellerbach und Hans von Mörsberg begleitet. Vgl. die Listen in Liebenau, Schlacht, 102ff„ 130ff„ 142ff„ 164ff„ 187ff., 198ff., vgl. hierzu auch Koller, Schlacht, 54ff. Zum Diktum vgl. Bernhard Stettier, Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, 3. Teil (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, I. Abt., VII/3), Bern 1980, 37*-39*; Marchai, Leopold und Winkelried, 81 ff. Henne, Klingenberger Chronik, 292 Vgl. Bernhard Stettier, Geschichtsschreibung im Dialog, Bemerkungen zur Ausbildung der eidgenössischen Befreiungstradition, in: SZG 29 (1979), 556-574. Die österreichischen Vorwürfe waren Stettier zufolge eine wesentliche Voraussetzung für die Konstruktion des eidgenössischen Geschichtbildes ihrer Frühzeit. Liebenau, Schlacht 398. Vgl. dazu Henny Grüneisen, Herzog Sigmund von Tirol, der Kaiser und die Ächtung der Eidgenossen 1469, Kanzlei und Räte Herzog Sigmunds insbesondere nach London, Britisches Museum Add. Ms. 25437, in: Aus Reichstagen des 15. und 16. Jahrhunderts (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 5), Göttingen 1958, 154-211; Stettier, Geschichtsschreibung, 568ff.
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erstmals im Jahrzeitbuch von Königsfelden bezeugt ist, war im Kontext der habsburgischen Rekuperationspolitik gegenüber den eidgenössischen Orten ein politisches Argument in einem rechtsförmlichen Verfahren geworden. Vor allem für die Entstehung der vorderösterreichischen Landstände ist gezeigt worden, dass die Sempachtradition ein wichtiges Element der Integration des Adels in die habsburgische Landesherrschaft war. 63 So wurde auf einem Landtag am 30. Juli 1467 die Erinnerung an die Schlacht bei Sempach und insbesondere den Tod Herzog Leopolds als Instrument dafür verwendet, den Hass des Adels auf die Eidgenossen zu schüren und seine Kampfbereitschaft zu stärken: „Peter von Mörsperg sprach von [...] 'den grossen gewalt und hochmut so die Schwitzer bitz har und yetz mal mit dem husz Osterreych getriben und fumemmen, vor ab erzalte die gross grusamliche tatte, wider alle billichkeitt vor zitten begangen mit hertzog Lupoldt ein anherr keyssers Friedrich und hertzog Sigmundt der do wer umb das syn, von den synen, und uff dem synen erschlagen worden.'" 64
Da fast alle Teilnehmer des Landtags Vorfahren oder Verwandte hatten, die zu den Gefallenen von Sempach gehörten, konnte Peter von Mörsberg, dessen Familie selbst fünf Tote zu beklagen hatte, 65 erwarten, mit seinen Worten in der Versammlung auf offene Ohren zu stoßen. Denn auch bei den betroffenen Adelsgeschlechtern wurde das Gedächtnis an die in der Schlacht getöteten Vorfahren in besonderer Weise gepflegt. So werden die bei Sempach gefallenen Angehörigen der Familie von Eptingen gleich an zwei Stellen in einer als Familienbuch der Herren von Eptingen bezeichneten Sammelhandschrift erwähnt. Einmal wird angegeben, dass fünf Eptinger bei Sempach gefallen seien, an anderer Stelle werden vier Eptinger namentlich bezeichnet. Für den zweiten Eintrag, der wohl erst aus dem 16. Jahrhundert stammt, scheint dabei eine der weit verbreiteten Gefallenenlisten als Quelle gedient zu haben, entsprechen doch die vier genannten Namen genau deren Bestand. 66 Auch im familiären Gedächtnis der Herren von Geroldseck wurde das Andenken an einen bei Sempach gefallenen Vorfahren noch im 16. Jahrhundert bewahrt. In der 1532 entstandenen Familienchronik der Gerolds-
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Dieter Speck-Nagel, Die vorderösterreichischen Landstände im 15. und 16. Jahrhundert, 2 Teile, Diss. Tübingen 1989, 35-37; Quarthai, Residenz, 84: „Diese Gefallenen sollten als Orientierungspunkt für eine antieidgenössische Politik vor Augen stehen." Zit. nach Speck-Nagel, Landstände, 37 Anm. 65. Vgl. Boesch, Gefallenen, 251. Dorothea A. Christ, Das Familienbuch der Herren von Eptingen, Kommentar und Transkription, Liestal 1992, 59. Vgl. die Einträge in ebd., 197, 413: „Es ist mit Herztog Lupolt von Sempach umbkhomen Herr Peter Im Hag unnd sein Sohn auch Peter Im Hag von Eptingen, es ist auch umbkhomen herr Cüentzlin von Eptingen von Busch, Auch herr During von Eptingen von Busch Anno domini 1386". Die gleichen Namen finden sich in der Gefallenenliste der Thurgauer Chronik (Liebenau, Schlacht, 134), und in der Österreichischen Verlustliste von 1484 (Liebenau, Sempach, 188)
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ecker wird außer dem Tod Walters von Geroldseck auch der Tod Herzog Leopolds sowie vieler anderer Grafen, Herren und Adeliger erwähnt. 67 Neben den Familien des vorderösterreichischen Adels war der Hof Herzog Sigismunds des Münzreichen ein Zentrum der Pflege der Sempach-Tradition. Am Innsbrucker Hof Sigismunds wurde noch 1487 ein Codex angelegt, der neben der Liste der Gefallenen von Sempach eine Aufstellung der an die Eidgenossen verlorenen Städte und Schlösser enthält. 68 Auch mehr als zehn Jahre nach dem Abschluss der „Ewigen Richtung" - einem Friedens- und Freundschaftsvertrag mit gegenseitiger Hilfsverpflichtung - im Jahr 1474 sollten offensichtlich weder die Toten noch die verlorenen Herrschaftsrechte in Vergessenheit geraten. 69 Das zum Diktum verdichtete Motiv des Todes Herzog Leopolds beim Kampf um ererbten Besitz wurde vom Haus Habsburg auch im letzten großen Konflikt mit den Schweizern im Jahr 1499 noch einmal eingesetzt. In einem im Druck verbreiteten Manifest Maximilians I. vom 22. April 1499, das zur Mobilisierung der Reichsstände gegen die Eidgenossen dienen sollte, stellte der Kaiser das eidgenössische Gemeinwesen als Produkt begangenen Unrechts dar. Bereits Uri, Schwyz und Unterwaiden hätten sich gegen ihre rechtmäßigen und natürlichen Herrn aus den Häusern Habsburg und Kyburg aufgelehnt und sich mit unredlichen und unchristlichen Eiden miteinander verbunden. Im Zuge der Entstehung der Eidgenossenschaft seien die Adelsgeschlechter der Schweiz „uf dem iren und von den iren und uss dem iren vertriben und gaenzlich ussgetilget" 70 worden. Analog zur Argumentation in den politischen Ereignisdichtungen wird auch hier der Versuch unternommen, das sich um den Schlachtentod des Herzogs Leopold konstruierte Feindbild auf den Adel in seiner Gesamtheit zu übertragen. Diese Position Maximilians dürfte auch davon beeinflusst worden sein, dass sich seine Inns-
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Matthäus von Pappenheim, Ursprung unnd herkomen der Edelnn Hernn Vonn Geroltzeckh, 187 (Generallandesarchiv Karlsruhe, Bestand 65, Nr. 239): „Walther ain Sune obgemeltes herr Hainrichs. Ist erschlagen worden vor Sempach by seinem herrenn Hertzog Lupolt von Osterrich sampt vil andren grauen herren vnd vom Adell." Zum Codex Wernheri vgl. Koller, Schlacht 46f.; Marchai, Sempach 429. Zur „Ewigen Richtung" vgl. Niederstätter, Jahrhundert, 325f. mit weiterer Literatur. Druck in: Sieber-Lehmann/Wilhelmi, In Helvetios, 89; Regest in: Regesta Imperii XIV: Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. (1493-1519), Bd. 3/2, bearb. v. Hermann Wiesflecker, Wien/Köln/Weimar 1996, Nr. 9124. Vgl. Guy Marchai, Die Antwort der Bauern, Elemente und Schichtung des eidgenössischen Geschichtsbewußtseins am Ausgang des Mittelalters, in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 31) Sigmaringen 1987, 758-790; Stettier, Geschichtsschreibung, 572; Alois Niederstätter, Österreich wider den „Erbfeind aller Ritterschaft, allen Adels und aller Ehrbarkeit", Zur Rolle Maximilians I. und seiner Räte im Schwabenkrieg, in: Jahrbuch für solothurnische Geschichte 72 (1999), 131-173, hier: 157. Da das Manifest nur vom Berner Chronisten Anselm überliefert ist, bezweifelt Niederstätter die Echtheit des Textes.
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brucker Regierung in starkem Maße auf Niederadelige aus Schwaben, Vorderösterreich und Tirol stützte, die als Träger des Hasses auf die Eidgenossen gelten können. 71 Dieser Strategie war durchaus Erfolg beschieden, wie Zeugnisse der Furcht vor einer .Verschweizerung' im Adel des Hegaus vom Ende des 15. Jahrhunderts zeigen. In einem Brief vom 21. Februar 1499 berichtete Ritter Konrad von Schellenberg der Regierung in Innsbruck über die Sorge des Hegauer Adels, dass sie von ihren eigenen Bauern vertrieben werden und dazu gezwungen werden könnten, alle Eidgenossen zu werden. Wenn der König hier nichts zur Verteidigung des Adels gegen die Schweizer unternehme, werde er diesen selbst zum Opfer fallen. 72 Auch der Ritter Jörg von Freiberg zu Steußlingen vertrat in einem Brief an den Ulmer Pfarrer und Konstanzer Domkustos Heinrich Nithart die Auffassung, dass die Eidgenossen den gesamten Adel, insbesondere aber den im Hegau, vernichten wollten. 73
5. Fazit Da der Tod einer großen Zahl von Adeligen und gar eines Fürsten in einer Schlacht im Spätmittelalter durchaus ungewöhnlich war, kann es nicht verwundern, dass die Schlacht bei Sempach im Gedächtnis des Hauses Habsburg sowie des vorderösterreichischen und tirolischen Adels im 15. Jahrhundert einen bedeutenden Platz einnahm. Bereits die Zeugnisse des Totengedenkens aus dem Kloster Königsfelden, überschritten die Grenzen des üblichen liturgischen Gebetsgedenkens, wurde doch mit der Kommemoration des getöteten Herzogs und seiner adeligen Mitstreiter der Vorwurf an die Eidgenossen verbunden, sie hätten sich gegen die rechtmäßige Herrschaft und somit die göttliche Ordnung aufgelehnt. Dieser Vorwurf verdichtete sich in dem weit verbreiteten Diktum, Herzog Leopold sei „in suo, pro suo, a suis" getötet worden. Dieses Motiv bestimmte auch den Tenor der im Umkreis der habsburgischen Höfe entstandenen Historiographie, die jedoch auch versuchte, die Ursachen der Niederlage gegen die Eidgenossen zu erklären. Neben der fehlenden Ordnung des Heeres machten die Geschichtsschreiber einige Ritter verantwortlich, die die Flucht ergriffen. Dem Tod des Herzogs, der zunächst als Unglück beklagt wurde, schrieb die Historiographie mit 71
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Vgl. Paul-Joachim Heinig, Friedrich III., Maximilian I. und die Eidgenossen, in: Rück/Koller, Eidgenossen, 267-293. Helmut Maurer, Schweizer und Schwaben, Ihre Begegnung und ihr Auseinanderleben am Bodensee im Spätmittelalter, Konstanz 1983, 38. Zur in Süddeutschland verbreiteten Furcht vor der .Verschweizerung' vgl. Thomas Brady, Turning Swiss, Cities and Empire 1450-1550, Cambridge 1985, 28ff. Maurer, Schweizer, 39. Maurer interpretiert diese Äußerungen als Beleg für den Adelshass der Eidgenossen, der sie mit den Hegauer Bauern verbunden habe. Meines Erachtens handelt es sich hier aber primär um ein Zeugnis für Hass und Verachtung, den der Adel den als Bauern abqualifizierten Eidgenossen entgegenbrachte.
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zunehmenden zeitlichen Abstand vom Ereignis einen Sinn zu, in dem er zum Symbol der engen Verbundenheit des Fürsten mit dem Adel stilisiert wurde. Im Konflikt mit den Eidgenossen, der Mitte des 15. Jahrhunderts wieder auflebte, nutzten die Habsburger die Erinnerung an Sempach in zweifacher Hinsicht. Zum einen diente sie innerhalb des juristisch geführten Diskurses im Kontext der Rekuperationspolitik als Beleg für von den Eidgenossen begangenes Unrecht. Zum anderen diente die Erinnerung an Sempach zur Konstruktion des Feindbildes von den mordlustigen, die göttliche Ordnung umstürzenden und den ganzen Adel vernichtenden Eidgenossen, mit Hilfe dessen der vorländische Adel zur Unterstützung im Kampf gegen die Schweizer motiviert werden sollte. Dieses Feindbild bezog dabei seine Überzeugungskraft zu einem guten Teil aus der Erinnerung an die katastrophale Niederlage bei Sempach, die nicht nur Herzog Leopold sondern auch mehr als 100 Angehörige von Adelsfamilien aus Tirol und den vorderösterreichischen Territorien das Leben gekostet hatte. Gerade die Nachfahren der Gefallenen von Sempach waren offenbar empfänglich für die Argumentation, die Eidgenossen wollten nicht nur ihre „natürlichen Herren", das Haus Österreich, vertreiben, sondern gleich den Adel als Stand vernichten. Für die Verbreitung dieses Feindbildes waren vor allem die im Kontext des Alten Zürichkriegs und des Schwaben- oder Schweizerkriegs entstandenen politischen Lieder von Bedeutung, welche die in der österreichischen Historiographie sowie den politischen und juristischen Memoranden der Kanzleien formulierten Motive popularisierten.
HANS-HENNING KORTÜM
Azincourt 1415: Militärische Delegitimierung als Mittel sozialer Disziplinierung
1. Das Ereignis Die am 25. Oktober 1415 unweit des Dörfchens Azincourt (Département Pas-de-Calais) stattgefundene Schlacht zwischen englischen und französischen Truppen ist als die große Schlacht des sogenannten Hundertjährigen Krieges in das kollektive Gedächtnis zumindest der Mediävisten eingegangen. Wie ihre beiden .Schwestern', die Treffen von Crécy (1346) und Poitiers (1356), so endete auch Azincourt mit einem englischen Sieg. Obwohl numerisch aller Wahrscheinlichkeit nach stark unterlegen - plausible moderne Schätzungen gehen von 4 000 bis 6 000 Mann auf englischer und zwischen 16 000 und 20 000 auf französischer Seite aus - war der Sieg der Engländer überwältigend: Ein nicht unbedeutender Teil des an der Schlacht beteiligten französischen Adels wurde getötet, ein geringerer Teil geriet in Gefangenschaft, der große Rest floh.1 Wenig überraschend neigen Quellen, die aus der englischen Siegerperspektive geschrieben sind, zu einer gewaltigen Übertreibung der feindlichen Gegnerzahl, während genausowenig überraschend die französischen Quellen die Zahl der an der Schlacht beteiligten Engländer viel zu hoch einschätzen. 2 Auch Azincourt war nicht kriegsentscheidend - bekanntlich endete der Hundertjährige Krieg in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts mit dem Sieg Frankreichs (1453 Schlacht von Castillon). Dennoch eröffnete als unmittelbare Folgewirkung Azincourt den Engländern die Möglichkeit, in den darauf folgenden Jahren 1418-1419 die gesamte Normandie und wesentliche Teile Nordfrankreichs zu besetzen. 1420 schien der Krieg bereits zu Ende zu gehen, als der Sieger von Azincourt, Heinrich V. von England,
2
Zu den geschätzten Truppenstärken der Engländer und Franzosen bei der Schlacht von Azincourt vgl. Christopher T. Allmand, Agincourt, in: LMA, Bd. 1, München u. a. 1980, 209; ders., Henry V., London 1992 (ND New Haven 1997), 88f. Vgl. den Überblick über Chroniclers' estimates of numbers bei Anne Curry, The Battle of Agincourt, Sources and Interpetations, Woodbridge 2000, 12. Schwer zugängliche Quellen werden im Folgenden nach der Übersetzung bei Curry zitiert.
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im Vertrag von Troyes als offizieller Erbe des französischen Königs Karl VI. eingesetzt wurde. In Zukunft sollten England und Frankreich in Personalunion durch Heinrich V. als rex Angliae et Franciae regiert werden. Und sicherlich hätte sich die Geschichte sowohl Frankreichs und Englands, wie ganz Europas, völlig anders entwickelt, wäre dieser Vertrag von Troyes Wirklichkeit geworden. Es nimmt daher auch nicht Wunder, dass Azincourt mythenstiftend gewirkt hat. Was aber überrascht, ist der Umstand, dass der Azincourt-Mythos bis heute, ungebrochen wie es scheint, fortdauert. Dafür im Folgenden einige Beispiele.
2. Der Azincourt-Mythos in der Moderne 2.1 Die englische Seite Der fast schon unübersehbare Markt historischer Computerspiele bietet reiches Anschauungsmaterial für die Tatsache, dass Mittelalter und Moderne sich keineswegs auszuschließen brauchen. So offeriert beispielsweise die Firma Microsoft in der Reihe Age of Empires das Computerspiel The Conquerors, wo man unter anderem - ich zitiere aus dem Testbericht der Zeitschrift stern -„ das Feld von Azincourt mit dem Blut der Franzosen [tränken] kann". 3 Eine wesentlich unmittelbarere Erfahrung mit dem Azincourt-Mythos bot ein in London am 20. November 2003 stattgefundener Workshop mit dem Titel Inspirational Leadership (Henry V), veranstaltet von der Industrial Society unter der Federführung von Olivier Mythodrama Associates Ltd? Er verstand sich als ein Coaching-Programm für Führungspersonen aus Wirtschaft und Verwaltung. Im Mittelpunkt stand die Re-Motivierung de-motivierter „Truppen", das Führen in der Krise, „the dark night of the soul " zu überwinden und die Fähigkeit, andere zu einem unerwarteten „wunderbaren" Sieg zu führen. Der Leiter dieser regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen, Richard Olivier, hat im übrigen für alle, die an einem solchen Workshop nicht teilnehmen wollen oder können, ein Buch unter dem Titel Inspirational Leadership. Henry V. and the muse of fire geschrieben. 5 Auch dort geht es um das Erlernen von Führungsqualitäten, wie sie angeblich Heinrich V. in Azincourt gezeigt habe. Weitere jüngst erschienene Bücher ließen sich dem soeben erwähnten zur Seite
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Testbericht von Michael Dees über das Computer-Spiel Age of Empires 2: The Conquerors in der Zeitschrift stern; im Internet: http://www.stern.de/computer-netze/spielplatz/tests/artikel_3718.htm Zu den Terminen und weiteren Informationen über den Inspirational Leadership-Workshop siehe folgende Homepage: www.oliviermythodrama.com Richard Olivier, Inspirational Leadership, Henry V. and the Muse of Fire, Timeless Insights from Shakespeare's Greatest Leader, London u. a. 2001.
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stellen. 6 Ihnen gemeinsam ist der Versuch, den von Heinrich V. nicht nur in der Schlacht von Azincourt angeblich erfolgreich an den Tag gelegten Killerinstinkt auf das ja ebenfalls durch permanente Kriegssituationen geprägte Wirtschaftsleben zu übertragen. 7 Den Ausgangspunkt moderner Mythenbildung bildet ein berühmtes Theaterstück des ausgehenden 16. Jahrhunderts: William Shakespeare's Henry V. Dies wirkt sich im soeben erwähnten Workshop Inspirational Leadership dahingehend aus, dass dessen Teilnehmer prekäre Entscheidungssituationen, in denen angeblich Führungsqualitäten gefragt sind, auf der Grundlage des Dramentextes nachspielen müssen. So soll beispielsweise ein Analogon zwischen dem „Killerkönig" Heinrich V., auf dessen Befehl in der Schlacht von Azincourt französische Kriegsgefangene getötet wurden, und einem als company killer agierenden Manager bestehen, der eine existenzbedrohte Firma durch Freisetzung von Mitarbeitern „gesundschrumpfen" muss. 8 Die Wirkungsmächtigkeit des über Shakespeare vermittelten Azincourt-Mythos wird auch dadurch deutlich, dass es sich bei dem Vater des Gründers der Olivier Mythodrama Associates um den berühmten englischen Bühnen- und Filmschauspieler Sir Laurence Olivier (gest. 1982) handelt. Dieser erhielt im Kriegsjahr 1943 von englischer Regierungsseite den Auftrag, „zur Förderung britischer Moral" einen Film unter dem Titel Henry V zu drehen, mithin ein Jahr vor der Landung der Alliierten in der Normandie und 528 Jahre nach der Landung Heinrichs V. in derselben Region. 9 Genau 28 Jahre früher, im Jahr 1915 und damit exakt 500 Jahre nach der Invasion der Normandie durch Heinrich V., hatte man sich bereits auf englischer Seite des Azincourt-Mythos bedient. Von den in der Schlacht bei Azincourt zu Fuß kämpfenden Bogenschützen schien ein direkter Weg in die Schützengräben englischer Infanteristen zu führen. Die Ausgabe der Evening News vom 29. September 1914 brachte die Geschichte von englischen Soldaten, denen auf dem Schlachtfeld bei Möns die „Agincourt bowmen" erschienen waren. 10 Darüber hinaus wusste eine englische Krankenschwester zu berichten, dass
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Rolf Breitenstein, Othello, Hamlet & Co., Shakespeare für Manager, München 1998 und Kenneth L. Adelman/Norman Augustine, Folgt eurem Mut und stürmt! Shakespeare für Manager, Frankfurt a. M. 2000. Das nicht nur sprachlich bedingte Eindringen des militärischen Bereiches in das Zivilleben ist von aufmerksamen Politologen bereits registriert worden, vgl. zuletzt etwa Andreas Herberg-Rothe, Der Krieg, Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 2003, 56: „Immer mehr Begriffe und Kategorien aus dem Bereich des Militärischen und des gewaltsamen Kampfes dringen in andere gesellschaftliche Bereiche vor" und ebd., 57-58: „Eine solche Kritik an modernen Formen des Krieges fällt zusammen mit den gegenwärtigen Tendenzen zur Privatisierung der Gewalt sowie der Übertragung von Werten aus dem militärischen Bereich auf die zivile Gesellschaft". Siehe dazu Olivier, Inspirational Leadership, 170-173.
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Vgl. die Autobiographie von Laurence Olivier, Bekenntnisse eines Schauspielers, München 1985, 116f.
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Vgl. dazu Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning, The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995, 67f.
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Saint George höchstpersönlich an der Seite der Engländer gegen die „ German devils " gekämpft habe. 11 Erstaunlich oder vielmehr bezeichnend ist der Umstand, dass auch im Bereich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Azincourt bei den modernen englischen Historikern der Siegermythos weitgehend ungebrochen ist. Ein kleines, gleichwohl bezeichnendes Indiz hierfür ist etwa die Tatsache, dass Azincourt im Lexikon des Mittelalters nicht unter seinem genuin französischen Namen zitiert wird, sondern unter dem angli12
sierten Agincourt erscheint. Es nimmt nicht Wunder, dass die umfassendste moderne militärgeschichtliche Analyse von Azincourt aus der Feder des bekannten englischen Militärhistorikers John Keegan stammt. 13 Und es überrascht auch nicht, dass die kürzlich erschienene, 474 Seiten starke Quellensammlung zu den Ereignissen rund um jene Schlacht ebenfalls der Feder einer englischen Historikerin zu verdanken ist.14 Die Deutungsmacht über Azincourt liegt offenbar unbestritten in den Händen der Engländer, die sich auch heute noch als die Sieger zu fühlen scheinen.
2.2 Die französische Seite Hier bemüht man sich seit einigen Jahren nach Kräften, die eigene militärische Niederlage wenigstens noch in einen finanziellen Sieg umzumünzen. Speziell auf die Geldbeutel der zahlreichen englischen „Schlachtenbummler" zielt das Angebot des Centre historique médiévale in Azincourt. Den Besuchern wird ein halbstündiger „Walk round the Battlefield" offeriert, „where in 1415 Henry V's English army massacred a French army 5 times as numerous". 15 Hingegen spielt die Schlacht auf der Seite der französischen Fachhistoriker zumindest seit dem 20. Jahrhundert nur noch eine ausgesprochene Nebenrolle. Ganz offensichtlich findet hier ein Verdrängungsprozess statt: Dafür spricht, dass der großen, aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden und inzwischen schon klassisch gewordenen Darstellung des Hundertjährigen Krieges von Jean Favier, dem ehemaligen Generaldirektor der Archives Nationales, das Abschlachten (carnage) von Azincourt gerade einmal zwei Seiten wert ist.16 Auch in der ansonsten so viele Schlachten erwähnenden Monographie La Guerre au Moyen Age von Philippe Contamine, dem Nestor der französischen Militärgeschichte, wird Azin-
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Siehe ebd. Vgl. Anm. 1. John Keegan, The Face of Battle, A Study of Agincourt, Waterloo and the Somme, London 1976. Curry, Battle of Agincourt. Bezeichnenderweise planen angelsächsische Historiker eine groß angelegte Studie über die Schlacht von Crécy 1346, der ersten großen Niederlage der Franzosen im Hundertjährigen Krieg; vgl. http://www.hull.ac.uk/history/dept/crecy/cnews.htm Homepage des Centre historique médiévale in Azincourt: http://www.azincourt-medieval.com. Zitat aus folgender Internetseite zum Schlachtfeld von Azincourt: http://www.theotherside.co.uk/tm-heritage/visit/visit-azincourt-battle.htm Jean Favier, La Guerre de Cent Ans, Paris 1980, 441 f.
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court kaum gewürdigt. 17 Für nach wie vor stattfindende Verdrängungsprozesse aus der mémoire collective der Franzosen ist bezeichnend, dass Azincourt die Aufnahme in das von Pierre Nora verantwortete dickleibige, siebenbändige Sammelwerk Les Lieux de mémoire (1984-1992) nicht geschafft hat. Symptomatisch erscheint der Umstand, dass die Schlacht von Bouvines (1214), jener großer Erfolg der Franzosen über die Engländer, in der bekannten Darstellung Colette Beaunes über die Entstehung des französischen Nationalgefühls im Mittelalter viermal öfter auftaucht als die Niederlage von Azincourt. 18 Umgekehrt lässt sich aber keineswegs behaupten, dass der Hundertjährige Krieg als solcher nicht Gegenstand der modernen französischen Geschichtsforschung wäre. Ganz im Gegenteil beschäftigten sich und beschäftigen sich noch immer ganze Scharen französischer Mediävisten mit dem Hundertjährigen Krieg. 19 So ließe sich vereinfachend für den modernen Umgang die folgende These formulieren: ,Die Franzosen' beschäftigen sich mit dem Krieg, den sie gewonnen haben und nicht mit der Schlacht, die sie verloren haben; und ,die Engländer' beschäftigen sich mit der Schlacht, die sie gewonnen, und nicht mit dem Krieg, den sie verloren haben.
3. Der Azincourt-Mythos im Mittel alter Bereits Heinrich V. war sich der möglichen mythenstiftenden Bedeutung seines Sieges bewusst. Dazu musste freilich eine erste Grundbedingung erfüllt sein. Damit Erinnerung an ein Ereignis überhaupt gestiftet werden kann, bedarf sie einer festen Fixierung, mit anderen Worten: Sie bedarf eines Namens, an dem sie sich festmachen kann. Noch am Abend der Schlacht entschied sich der König, der Schlacht den Namen der nächstgelegenen Burg, Azincourt, zu geben, den sie bekanntlich bis heute trägt. 20 So naheliegend die mythenstiftende Instrumentalisierung einer Schlacht durch den Sieger ist, so überraschend erscheint die intensive zeitgenössische Beschäftigung mit Azincourt auf Seiten der besiegten Franzosen, die sich damit doch nachhaltig von ihren Nachfahren im 19. und 20. Jahrhundert unterscheiden, bei denen, wie oben gezeigt, ein weitgehen17
Philippe Contamine, La Guerre au Moyen Age, 5. Aufl., Paris 1999. Siehe auch: Ders., La Guerre de Cent Ans, 7. Aufl., Paris 1994, 84.
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Colette Beaune, Naissance de la nation France, Paris 1985. Zum unverkennbaren Unterschied zwischen französischer und angelsächsischer Forschungstradition in der Beschäftigung mit dem Hundertjährigen Krieg vgl. die Bemerkungen bei Hans-Henning Kortüm, Der Krieg im Mittelalter als Gegenstand der Historischen Kulturwissenschaften, Versuch einer Annäherung, in: Ders. (Hg.), Krieg im Mittelalter, Berlin 2001, 30-33.
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Enguerrand de Monstrelet: „Après, icellui roy [i. e. Heinrich V.] leur demanda le nom du chastel qu'il veoit assez près de lui. Et ilz lui respondirent qu'on le nommoit Azincourt. 'Et pour tant, dist le roy, que toutes batailles doivent porter le nom de la plus prouchaine forteresse, village ou bonne ville où elles sont faictes, cestes dès maintenant et pardurablement sera nommée la bataille d'Azincourt.'" La chronique d'Enguerran de Monstrelet en deux livres, ed. L. Douët-d'Arcq, Bd. 3, Paris 1859, 111.
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der Verdrängungsprozess stattgefunden hat. Dieser Umstand bedarf - dies dürfte unstrittig sein - dringend einer Erklärung. Ehe aber eine solche versucht werden kann, gilt es, sich in einem ersten Schritt die wichtigsten Argumente der zeitgenössischen französischen Debatte einmal näher anzuschauen, wobei unter .Zeitgenossenschaft' die Periode zwischen Azincourt 1415 und dem offiziellen Ende des Hundertjährigen Krieges durch den Vertrag von Picquigny 1475 verstanden werden soll. Die Leitfrage wird sein: Wie erklären sich ,die Franzosen' ihre Niederlage? Hierbei soll eingangs im Sinne eines aussagekräftigen Kontrastes auch kurz auf einige englische Erklärungsversuche eingegangen werden. Angesichts des vielfältigen Materials sei an dieser Stelle darauf verzichtet, alle Quellen einzeln vorzustellen. Es soll vielmehr nur darum gehen, einige Grundzüge der zeitgenössischen Debatte nachzuzeichnen. Nicht eigens differenziert werden soll in diesem Zusammenhang zwischen historisch argumentierendem Traktat 21 und Historiographie im engeren Sinn.
4. Die Ursachendiskussion oder: Worin sind die Gründe für die französische Niederlage zu suchen?
4.1 Der englische Erklärungsversuch Zunächst ist festzustellen, dass es eine große Diskrepanz in der Erklärung der Niederlage zwischen Siegern und Besiegten gibt. Bis auf wenige Ausnahmen wird auf französischer Seite die offiziöse, heilsgeschichtlich bestimmte Erklärung der englischen Sieger nicht oder nur sehr bedingt geteilt, die diese ihren unterlegenen Gegnern angeboten, ja geradezu schon nach dem abendlichen Dinner nach der Schlacht aufgedrängt hatten. 22 So war englischerseits versucht worden, die Niederlage der Franzosen höchst traditionell, d. h. vor allem unter moralisch-religiösen Aspekten zu erklären. Die mora21
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Eine gattungsmäßige Differenzierung in „ mélange hétérogène de rappels historiques, de considérations juridiques et d'analyse des différentes péripéties de la guerre, les chroniques" und „pièces de circonstance" der „Propagandaliteratur" auf französischer Seite versucht Nicole Pons, „L'Honneur de la couronne de France", Quatre libelles contre les Anglais, Paris 1990, 10. Über das abendliche Dinner berichtet die Chronique de Ruisseauville (vermutlich zwischen 1420 und 1430 entstanden): „When after dinner the king of England asked several lords of France who were prisoners how the day seemed to them, they replied that he had the victory and that the day was his. The English king then replied that he had done nothing, nor the English; it was all the work of God and of our Lady and St George and due to your sins, for they say that you went to battle in pride and bombastic fashion, violating maidens, married women and others, and also robbing the countryside and all the churches; acting like that God will never aid you. Look at my men and all who came from England with me never mounted on women, or robbed men, or the church." Zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 126.
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lische Verkommenheit der Franzosen, insbesondere deren Verweigerungshaltung und deren Versagen gegenüber den Forderungen christlicher Ethik, hätten die unmittelbare Intervention Gottes zugunsten der Engländer geradezu erzwungen. Die Schlacht wurde dezidiert als Gottesurteil gedeutet, und diese Perspektive bestimmte auch nachhaltig die Wahrnehmungsperspektive der Schlacht seitens der englischen Quellen. So soll laut dem Ausweis mehrerer englischer Quellen Heinrich V. sich nachhaltig entrüstet haben über den doch verständlichen Wunsch seiner Gefolgsleute, angesichts der starken numerischen Überlegenheit der französischen Seite über größere eigene Truppenmassen zu verfügen. Nur Narren könnten so reden, „weil ich von Gott im Himmel, auf dessen Gnade ich mich bisher gestützt habe und auf den ich meine sichere Hoffnung auf Sieg baue, keinen einzigen Mann mehr haben wollte, selbst wenn ich es könnte. Denn hier habe ich das Volk Gottes, das Er mir in seiner Gnade stellvertretend überlassen hat. Glaubst Du etwa nicht, sagte er, dass der Allmächtige, der sozusagen alles vermag, mit seiner kleinen demütigen Menge den Hochmut der gegenüberstehenden Franzosen überwinden könne, die sich ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit und ihrer eigenen Stärke rühmen?" 23
In dialektischer Zuspitzung wurde die englische Unterlegenheit geradezu zur notwendigen moralischen Voraussetzung des Sieges. Oder einfacher formuliert: Aus der Not machte man eine Tugend. Der nach normalen militärischen Kategorien eigentlich völlig undenkbare, aber gleichwohl eingetretene Sieg wurde als Ausdruck seiner Gottgefälligkeit gedeutet.24 Militärische Stärke wird ausdrücklich verworfen, nicht nur, weil sie nutzlos sei, sondern weil sie die eigene christliche Moralität zu untergraben drohe. Denn sie verleitet dazu, die Erklärung für den Sieg in der eigenen militärischen Stärke zu suchen, was aber doch nur Ausdruck sündhafter menschlicher Selbstüberheblichkeit Superbia) sei. 25 Die mangelnde Ernsthaftigkeit, die Sündhaftigkeit des französischen
24
25
„Cui Rex, Stulte, inquit, loqueris, quia per deum celi, cuius annixus sum cum gracie, et in quo est michi spes firma victorie, nollem habere et si possem plures per unum quam habeo. Nam hic quem habeo dei populus est, et quem me hac vice dignatur habere. An non credis, ait, omnipotentem in hac humili paucitate sua vincere posse oppositam superbiam Gallicorum, qui se in miltitudine et propriis viribus gloriantur, quasi diceret, potest ad libitum." So die von einem Anonymus um 1417 verfassten Gesta Henrici Quinti cap. 12, zit. nach Frank Taylor/John S. Roskeil, Gesta Henrici Quinti, The Deeds of Henry the Fifth (Oxford Medieval Texts), Oxford 1975, 78f. Ganz ähnlich argumentiert die Vita Henrici Quinti des sich Ende der Dreißiger Jahre in England aufhaltenden Italieners Tito Livio Frulovisi, demzufolge Heinrich V. geäußert haben soll: „Indeed, I do not wish a single man to be added to my army. We are small in number compared with the enemy. If God in his mercy favours my army with justice - which we hope - there is not one man amongst us who my attribute such a victory over so many of our enemies to our strength, but only to help of God, or which thanks would be by you given to the Almighty." Zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 60. Vgl. die in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts geschriebenen Vita et Gesta Henrici Quinti des Pseudo Elham, cap. 26, in: Curry, Battle of Agincourt, 70. Vgl. als ein Beispiel den in vorhergehender Anm. zitierten Pseudo Elmham: „Truly I would not wish that the number should be increased by one single person. For if in numbers we were equal to, or perhaps stronger than our enemies, and they were delivered over into our own hands by the
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Gegners wird dadurch betont, dass er sich angeblich dem religiösen Charakter der Schlacht als eines Gottesdienstes durch den Bruch damit einhergehender liturgischer Vorschriften entzogen hat. Denn statt zu beichten und die heilige Messe zu hören, wie es die frommen Engländer taten - an ihrer Spitze Heinrich, der gar dreimal am heiligen Officium teilnahm - , hätten die Franzosen Würfel gespielt. 26 Die mit dieser faktischen Feststellung verbundene kulturelle Konnotierung .Würfelspiel als eine zutiefst sündhafte Beschäftigung* machte jedem mittelalterlichen Hörer/Leser klar, dass die Franzo27
sen die Schlacht schon verloren hatten, ehe sie überhaupt mit ihr angefangen hatten.
4.2 Der französische Erklärungsversuch Es erscheint bemerkenswert, dass diese traditionelle heilsgeschichtliche Lesart - die Niederlage als die Bestrafung eigener Sündhaftigkeit - , fast von keinem der uns bekannten französischen Autoren, die die Niederlage diskutiert haben, zumindestens in dieser Ausschließlichkeit geteilt wird, obwohl sie doch gerade angesichts äußerer Umstände nahegelegen hätte: 28 So hatte ein englischer David über einen französischen Goliath gesiegt; die Schlacht war von bisher noch nie gekannten eigenen Verlusten geprägt. Zwar wird selbstverständlich auch auf französischer Seite die eigene Sündhaftigkeit als allgemeine Ursache der Niederlage eingeräumt, aber die Analyse geht insofern tiefer, als sie in einem zweiten Schritt auch ganz konkret diejenigen benennt, die durch ihr tatsächliches Verhalten (überstürztes Vorgehen ohne Rücksicht auf taktische und strategische Bedingungen, mangelnde Koordination der Kämpfer, Feigheit etc.) die Niederlage als solche allein und ausschließlich zu verantworten haben. Ob diese Diskrepanz in der Erklärung allein mit einer von Koselleck dem Verlierer zugeschriebenen
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chances of war, our undiscerning judgement would attribute the victory to the greatness of our strength, and so due praise would by no means be rendered." Zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 70. Würfelspiel der Franzosen: „Et, ut dicebatur, tarn securas reputabant de nobis, quod Regem nostrum et nobiles suos nocte illa sub iactu alee posuerunt." („And, it was said, they [i. e. the French] thougt themselves so sure of us that that night they cast dice for our king and his nobles") Zit. nach Taylor/Roskell, Gesta Henrici Quinti, 80f. Vgl. femer den 1437 geschriebenen Brut: „All the night before the battle the French made much revelry, crying and shouting all night, and played for Englishmen at dice, every archer for a blanc" Zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 94. Zur Sündhaftigkeit des Würfelspiels: Walter Tauber, Das Würfelspiel im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Eine kultur- und sprachgeschichtliche Darstellung (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Bd. 959), Frankfurt a. M. u. a. 1987, 49-60. Weitere Beispiele aus der Exempel-Literatur bietet Frederic C. Tubach, Index Exemplorum, A Handbook of Medieval Religious Tales, Helsinki 1969. So führt das Würfelspiel einmal zum Verlust des Augenlichts (Nr. 1949), ein anderes Mal zum Verlust des Lebens (Nr. 2240), man kann dabei die Seele verlieren (Nr. 2238) und von Dämonen heimgesucht werden (Nr. 1669). Über die enseignements de la défaite mit Blick auf die gesamte Zeit des Hundertjährigen Krieges vgl. den magistralen Überblick von Jacques Krynen, L'empire du roi, Idées et croyances politiques en France XIIIe-XVe siècles, Paris 1993, 313ff.
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höheren Analysefähigkeit zusammenhängt, darf aber füglich bezweifelt werden. 29 Denn es handelt sich, wie bereits gesagt, um die höchst offiziöse englische Interpretation in propagandistischer Absicht, die man auf französischer Seite schon deswegen nicht ohne weiteres übernehmen konnte, weil sie vom Gegner kam. Dennoch kann angesichts des völlig überraschend eingetretenen Sieges - es handelte sich mithin um einen Sieg, mit dem niemand gerechnet hatte: „a miracolous victory" - natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass die Engländer nicht nur Propaganda betrieben, sondern tatsächlich auch an eine göttliche Intervention zu ihren Gunsten glaubten. Die Erklärung auf französischer Seite - und das sind zu einem großen Teil die Intellektuellen 30 - fällt sowohl ganz einfach wie auch sehr komplex aus. Insofern einfach, weil vor allem eine gesellschaftliche Gruppe für die Niederlage verantwortlich gemacht werden kann: Das ist die militärische Klasse per definitionem, die Ritterschaft (chevalerie). Und insoweit komplex, weil die Schuldzuweisung auf ganz verschiedenen und doch - wie gleich noch zu zeigen sein wird - eng miteinander verbundenen Ebenen operiert. In ihrer Fülle müssen diese Vorwürfe erdrückend wirken. Sie lauten unter anderem: 1.
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Es gibt eine mangelnde Bereitschaft oder gar generelle Unfähigkeit der militärischen Klasse, Lernprozesse einzuleiten, genauer: aus erlittenen, schweren und höchst verlustreichen Niederlagen zu lernen. Bei Azincourt handelt es sich eben nicht nur um einen einmaligen .Betriebsunfall'. Als vierte Niederlage nach Courtrai 1302, als die Ritter „kopfüber" von den Flamen in tiefe Gräben gestürzt wurden, und nach Poitiers 1356, als sie ihren Anführer, den französischen König, in englische Gefangenschaft geraten ließen, und schließlich nach Nicopolis 1396, als sie von den Türken massakriert wurden, bedeutet Azincourt das endgültige Ende für die chevalerie.31 Als Zahl der Vollkommenheit,
Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel, Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.), Historische Methode, München 1988, 13-61, bes. 5161. Vgl. dazu auch Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001,13-15. Der wohl einfluss- und wirkungsreichste war Alain Chartier (gest. 1430), der Sekretär des Dauphin. Zu ihm vgl. unten Anm. 43. Nicht alle sind für uns heute noch namentlich greifbar. Neben diesen in aller Regel sozial besonders herausgehobenen Intellektuellen hat man es mit einer vergleichsweise breiten Gruppe von Traktatverfassern zu tun, die nach der Niederlage von Azincourt als Anonymi in den gesellschaftlichen Niederlagendiskurs eingegriffen haben; vgl. dazu unten Anm. 38. Chronique du religieux de Saint-Denys, contenant le règne de Charles VI de 1380 à 1422, ed. M. L. Bellaguet, Band 5 und 6, Paris 1842 (ND 1994), 548: „In historiis Francorum eciam reperitur, quod hoc presumptuoso sermone usi sunt milites apud Courtracum, et mox a Flandrensibus occidendi in fossas profundas, artificialiter lignis tenuis levibus coopertas, precipites ceciderunt; iterum apud Pictavium, et mox illustris Johannes rex captus fuit; iterum in Hungaria, et a Turcis christiani vieti et interempti sunt." Vgl. ferner Jean Juvenal des Ursins, Histoire de Charles VI, roy de France (zwischen 1430 und 1440): „Mais les gens de guerre les vilipendoient et mesprisoient, comme on
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der Vollendung und des Abschlusses drückt die Zahl „Drei" in diesem Zusammenhang vor allem eines aus: Es darf kein viertes Mal geben, keine vierte Niederlage. So wie es in den Märchen, die die Ritter damals hörten oder lasen, in der Regel kein viertes Mal gibt. Insofern handelte es sich bei Azincourt wider Erwarten um eine zusätzliche, allerletzte Chance, die die französischen Ritter aber nicht zu ihrer Rehabilitierung nutzten. Damit haben sie aber endgültig ihren militärischen Führungsanspruch verwirkt. Der militärischen Klasse wird der Vorwurf gemacht, sich einem .nationalen Solidarpakt' verweigert zu haben, obwohl das Volk (peuple) einen solchen angeboten habe. Dieser Solidarpakt beinhaltet sowohl einen militärischen Aspekt - ein Angebot des .Volkes', selbst Truppen zu stellen, noch am Vorabend der Schlacht, sei schnöde und überheblich von der chevalerie zurückgewiesen worden 33 - als auch einen finanziellen Aspekt: Auf Seiten der militärischen Klasse habe eine Bringschuld gelastet, da das Volk durch die Übernahme großer wirtschaftlicher Lasten seinen Anteil zu einem Sieg über den Feind bereits
fit aux batailles de Courteray, de la prise du roy Jean à Poictiers, et de Turquie, esquelles par ce, comme on disoit, les François et chrestiens furent desconfits." Jean Juvenal des Ursins, Histoire de Charles VI, zit. nach: Josephe François Michaud (Hg.), Nouvelle Collection des mémoires pour servir à l'histoire de France, depuis le XIIIe siècle jusqu'à la fin du XVIIIe, Band 1,2, Paris/Lyon 1851, 518. Zur vielfältigen Symbolik der Zahl „Drei" vgl. Heinz Meyer/Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Miinstersche Mittelalter-Schriften, 56), München 1987, 214331. Vergebliches Angebot einer militärischen Unterstützung durch den peuple, zitiert nach der Chronique du Religieux de Saint-Denys, ed. Bellaguet, 548: „Ultra numerum pugnatorum qui regiis mandatis obtemperaverant, ipsi regi burgenses Parisienses sex milia virorum optime loricatorum obtulerunt, qui in fronte ponerentur, si pugnandum foret. Quod cum dux Biturie magnipenderet coram suis militibus, unus, Johannes de Bello Monte vocatus: , Sibi virorum mechanicorum aixilium utique contempnendum, inquit, est; nam in triplo tunc Anglicorum numerum excedemus.' Sic nephas utique reputabat armis dignum plebeium, quamvis ex plebeiis multos noverint summo honore hábitos, et dum nullum antiquitus respuendum dignum duceretur genus in quo eniteret virtus, crevit regnum." - Ähnliches berichten Pierre Cochon, Chronique normande (frühe 1430er Jahre): „The French thought that they would carry the day given their great numbers, and in their arrogance had proclamed that only thow who were noble should go into battle" Zitiert nach Curry, Battle of Agincourt, 113. Die Chronique anonyme du regne de Charles VI (vermutlich Anfang der 1430er Jahre): „Most no one [i.e. die französischen Ritter] had no one with them to help them up because they had not wanted to take with them any of their lower ranks (varlets), for the gentlemen wanted to have the honour deriving from battle"zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 115. Vgl. femer die Chronique de Ruisseauville (in: Curry, Battle of Agincourt, 125). Jean Juvenal des Ursins, Histoire de Charles VI, zit. nach Michaud, Nouvelle collection des Mémoires, 518: „Or quand les François sçeurent leur partement, d'autre part ils assemblèrent tant gens de guerre, que d'autres. Et mesmement on assembla grande quantité de communes, tant de Paris que d'ailleurs, armez et embastonnez de haches, et maillets de plomb, qui avoient grande volonté de eux employer. Mais le gens de guerre les vilipendoient et mesprisoient, [...]."
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1415 erbracht habe. 3 4 Dieser hohen Verantwortung sei die chevalerie
aber nicht ge-
recht geworden. 3.
D i e chevalerie
habe sich unter moralischen Aspekten selbst disqualifiziert. Sie
habe den Maßstab sittlich-moralischer Ernsthaftigkeit verfehlt, den es an diejenigen zu legen gelte, denen aufgetragen worden sei, „Frankreich" zu verteidigen. D i e Ritter erscheinen als Vertreter einer leasure
class. Ihr konkretes Ver-
halten in der Schlacht genüge nicht den hohen Ansprüchen, die an solche gestellt werden müssten, die la patrie
verteidigen: D e n n statt fürs Vaterland zu
sterben, hätten sie sich in Gefangenschaft begeben oder seien geflohen. 3 5 4.
D a s militärische Fehlverhalten der chevalerie,
wie es in der Schlacht von Azin-
court zu Tage getreten sei, lässt sich nach der Meinung der Intellektuellen am H o f e des Dauphin auf die fehlende disciplina
zurückführea Für die Missach-
tung dieser militärischen Zentraltugend, die noch weiter unten näher zu erläutern sein wird, bringen zeitgenössische Quellen eine Fülle von Beispielen. 3 6 D i e s e scheinen vor allem eins zu beabsichtigen: Eine Ridikülisierung der fran34
35
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Vgl. die Klage des peuple im Quadrilogue invectif insbesondere über die chavaliers, die anstatt den Feind zu bekämpfen nur den dritten Stand ausplündern: „Les armes sont criees et les estendars levez contre les ennemis, mais les esploiz sont contre moy a la destruction de ma povre substance et de ma miserable vie. Les ennemis sont combatuz de parolle et je le suys de fait." zit. nach Alain Chartier, Le quadrilogue invectif, ed. E. Droz, Paris 1950, 21. Daher wird in zeitgenössischen Reformtraktaten auch die Einführung eines strikten Kriegsrechtes gefordert. So kriminalisieren die spätestens drei Jahre nach der Niederlage von Azincourt entstandenen Débats et Appointements das Verhalten derjenigen, die ihre Standarten und Banner verlassen hätten, und fordern eine strenge Bestrafung schon deshalb, um andere von der Flucht abzuschrecken; vgl. Débats et Appointements 710-713, ed. Pons, L' Honneur, 78. Zur Forderung nach Einführung eines strengen Disziplinarrechtes vgl. auch Anm. 42. - Dass feige Flucht vom Schlachtfeld ewige Schande nach sich ziehe, ist die Meinung des Religieux de Saint Denis (vgl. Chronique de Religieux de Saint-Denys, ed. Bellaguet, 566). Vorwurf fehlender disciplina der Soldaten, zumal außerhalb des Schlachtfelds, hier in Kombination mit einem Ausländer-Stereotyp, beim Religieux de St-Denis: „[...] cum plerisque tarnen alienis, nonnullis ex furtivo concubitu et obscuro sanguine procreatis, exules proscripti multi erant sub signis principum militantes, plus rapacitati inexplebili quam exercicio militari assueti, qui non modo regium parvipenderunt edictum [...]." Zit. nach Chronique de Religieux de Saint-Denys, ed. Bellaguet, 544 und 546. Vgl. ferner die Mémoires des Pierre de Fenin (frühe 1430er Jahre): „But the advance guard of the French were in great disarray and began to gather into little groups and the English fell upon them and killed them without mercy. So the battle opened up and the English entered into it. Then the French were in great disarray and began to break up into little groups. And also the centre battle and rearguard did not assemble with all men and thus all took to flight, because all of the princes had placed themselves in the vanguard and had left their men leaderless. As a result there was no control or discipline amongst their men." Zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 118. Besonders drastisch beispielsweise auch Le Héraut de Berry: „He [i.e. Heinrich V.) found the French in poor array and in small number, because some had gone off to get warm, others to walk and feed their horses, not believing that the English would be so bold as to attack them. As the English saw them in this disarray, they attacked and discomforted them." Zit. nach Curry, Battle of Agincourt, 181f.
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Hans-Henning Kortiim zösischen Kriegerkaste. Angeblich um nicht durch die morgendliche Sonne geblendet zu werden und um dem feindlichen Pfeilbeschuss zu entgehen, neigen die Franzosen ihre Köpfe so lange und so stark zu Boden, so dass sie das Näherrücken des Gegners erst dann bemerken, als die Axthiebe der Engländer auf sie niedersausen.37
5. Die gesellschaftlichen Funktionen dieser Schuldzuweisung 1.
2.
3.
Die Schuldzuweisung an eine einzige gesellschaftliche Gruppe entlastet die anderen, entlastet eine bereits als .national' gedachte Gemeinschaft. Nicht der Dauphin, nicht .Frankreich' hat verloren, sondern lediglich die alte, abgewirtschaftete militärische Klasse. Azincourt bedeutet nicht das endgültige ,Aus\ sondern ist in Zukunft korrigierbar. Dazu müssen aber folgende Voraussetzungen erfüllt sein: ,Wir\ d. h. die beiden übrigen gesellschaftlichen Gruppen (peuple und clergé) müssen dazu bereit sein, anders als die chevaliers aus der Geschichte zu lernen (1); niemand darf sich der Forderung nach nationaler Solidarität verweigern, eine Komplementierung der bisher allein für die Verteidigung des Vaterlandes zuständigen militärischen Klasse durch das Volk ist für einen Sieg über den Gegner unabdingbar (2); für einen solchen Sieg bedarf es eines hohen moralischethischen Anspruches an die Gruppe der militärischen Leistungsträger (3); Basis jeden militärischen Erfolges ist die strikte Beachtung der disciplina (4). Aus 1. und 2. folgt — fast schon logisch - der Verzicht auf die Gruppe der chevalerie als Gruppe unabhängiger militärischer Funktionsträger. Denn nicht nur ist sie in ihrer bisherigen Formierung überflüssig geworden, sie verhindert geradezu den Sieg. Ihre mangelhafte Selbstdisziplinierung zwingt die Nation dazu, in Zukunft auf die chevaliers in ihrer Eigenschaft als autonome militärische Gewaltinhaber zu verzichten, will sie noch eigene .nationale' Zukunft haben.
„Et avoient nos gens le soleil en l'oeil, lesquels puor mieux endurer et passer le traict des Anglois, ils baissèrent, et enclinerent vers terre les testes. Quand les Anglois les virent en tel estât, ils s'approchèrent d'eux, tellement que nos gens ne le sceurent oncques, jusques à tant qu'ils frappèrent sur eux de bonnes haches", aus der Histoire de Charles VI von Jean Juvenal des Ursins, zit. nach: Michaud, Nouvelle Collection des mémoires, 520.
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6. Das ideologische Umfeld: Humanismus und Militarismus Die Eindeutigkeit der Schuldzuweisung legt den Verdacht nahe, dass Zumindestens Teile des Niederlagendiskurses weitgehend gesellschaftlich monopolisiert waren. Dies mag damit zusammenhängen, dass die überwiegende Zahl französischer Intellektueller sich am Hof des Dauphin, des späteren französischen Königs Karl VII., konzentrierte. Auf den roi de Bourges, der in Azincourt nicht dabeigewesen und damit auch nicht .belastet' war, gleichwohl aber noch vor der burgundischen Besetzung von Paris (1418) die Hauptstadt hatte verlassen müssen, richtete sich die Hoffnung all derjenigen, die den spätestens seit der englischen Eroberung der Normandie (1419) einsetzenden Quietismus und Attentismus des unter burgundischem Einfluss stehenden Umfeldes des noch amtierenden französischen Königs Karl VI. bzw. die Politik der Kollaboration nach dem Vertrag von Troyes (1420) nicht mitmachen wollten. Auch wenn viele Verfasser der historisch-politischen Traktate für uns weitgehend 38
unbekannt bleiben, so stellt sich doch schon bei einer oberflächlichen Werkanalyse der Befund einer unübersehbaren Einheitlichkeit der Argumentationsweisen ein. Das drückt sich insbesondere im Modus der Beweisführung aus: Häufig mit dem historischen exemplum argumentierend bezieht er sich auf die römische Antike als der entscheidenden Referenzepoche. Eine Orientierung am ja so erfolgreichen römischen Muster sei Garant eigener Überlegenheit; umgekehrt sei das Abweichen von diesem Modell die eigentliche Ursache für die Niederlage. Als Kernstück des römischen Vorbildes wird die disciplina erachtet.39 Ihre Nichtbeachtung führe automatisch zur Niederlage. Ihr gelte es deshalb größte Aufmerksamkeit zu schenken. Nötigenfalls sei sie auch mittels drakonischer Strafen zu erzwingen; ihrer praktischen Einübung habe das ganze Bemühen militärischer Ausübung der Römer gegolten.40 Eine solche Anschauungsweise lag der französischen Beurteilung der Niederlage von Azincourt zugrunde. Sie stellt insoweit eine humanistische Sichtweise dar, als sie sich vom praktischen Nutzen antiken Wissens überzeugt gibt und an dessen konkrete Umsetzbarkeit in die Praxis glaubt. Die bisherigen traditionellen militärischen Gewaltinhaber, die chevaliers, werden delegitimiert, indem man ihnen gegenüber in aller Deutlichkeit den Vorwurf mangelnder disciplina erhebt. Schon früher in den Quellen vereinzelt festgestellte Disziplinlosigkeit wird jetzt zum Signum einer ganzen Gruppe. Dieser Vorwurf kann umso leichter erhoben werden und wirkt auch umso glaubwürdiger, als die offizielle militärische Ideologie der Ritterschaft nachwievor strikt antidisziplinär orientiert war. Statt des gemeinsamen, streng organisierten und disziplinär straff ausge38 39
40
Vgl. dazu Pons, L'Honneur, 9ff. Dazu ausführlich mit einer Skizzierung der Rolle der disciplina seit dem 12. Jahrhundert Krynen, L'empire du roi, 322. Vgl. dazu unten Anm. 42.
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richteten Zusammenhalts aller Kämpfer in der Schlacht wurde auf Seiten der Ritterschaft und ihrer Propagandisten das Bild eines heroisch agierenden Einzelkämpfertums gepflegt. So empfiehlt der auf dem Schlachtfeld von Poitiers (1356) gebliebene französische Ritter Geoffroi de Charny in seinem „livre de chevalerie" unter anderem ein rationales, durch Selbstbeherrschung und Disziplin geprägtes Verhalten auf dem Schlachtfeld, 41 doch weiß er, dass die Realität häufig anders aussieht: „Sie kümmern sich nicht um den Nutzen und den Vorteil für ihre Kameraden, noch darum, ihren Feinden einen möglichst großen Schaden zuzufügen, sondern ohne Rat anzunehmen, geben sie [i. e. die Ritter] ihren Pferden die Sporen und stürmen ungeordnet los und lassen sich mehr zu ihrem Schaden, als zu ihrem Nutzen in Handgemenge verwickeln. [...] In Bezug auf die mit Kühnheit sich verbindende Ehre kann man ihnen keinen Vorwurf machen, und diejenigen, die bei so vielen großartigen Schlachten dabeigewesen sind und ihre Hilfe durch harten körperlichen Einsatz geleistet haben, muss man zurecht tapfer nennen, obwohl, wenn sie ihre Tapferkeit richtig eingesetzt hätten, dann hätte man noch mehr erreichen können." 42
Die Delegitimierung der Ritterschaft durch den französischen Frühhumanismus agiert deshalb so erfolgreich, weil der heroische Mythos, dass es auf den einzelnen ritterlichen Kämpfer ankomme, dekonstruiert wird. Das Raffinierte dieser Polemik liegt primär darin begründet, dass sie weniger mit dem tatsächlichen Verhalten der Ritter, als vielmehr mit deren inzwischen längst antiquierten gesellschaftlichen Selbstdarstellung argumentiert und diese Differenzqualität in ihrem Sinne nutzt. So wird der Umgang der Ritterschaft mit ihren besonders kostbaren Statussymbolen und „Arbeitsmitteln", nämlich Pferd und Harnisch, ironisiert. Zeitgenössische Traktate und Romane kennen verarmte Ritter, die aus Kostengründen horse- and armour-sharing betreiben. 43 Als antike Leitautoren dienten den Humanisten unter anderem Valerius Maximus (erste Hälfte des 1. Jahrhunderts), der in seinen „exempla" auch die disciplina behandelt
42
43
„Se en y a d'aucuns lesquelz un chascun doivent tenir a saiges: ce sont ceulx qui a leurs commancemens mettent paine et diligence de cognoistre qu'est miex a faire, et le bien et le mal, et ce qui est a faire de raison, et pour ce qu'il ont cognoissance qu'est a faire au contraire de la raison, se prennent eulz a gouverner eulz mesmes sagement, loyaument et seurrement et tout droit." zitiert nach The Book of Chivalry of Geoffroi de Charny, Text, Context, and Translation (Middle Ages Series), ed. Richard W. Kaeuper/Elspeth Kennedy, Philadelphia 1996, 150, Paragraph 31. Ebd. 150, Paragraph 32: „[...] il n'y regardent profit, ne avantage pour leurs amis, ne a la grant grevance de leurs ennemis, mais sanz conseil donner ne prendre fièrent des esperons et a po d'arroy, et font d'armes assez de leur main et moult de fois plus a leur domage que a leur profit, [...]; mais contre l'onnour de hardiesce ne leur peut l'en rienz reprouver; et a ceuls qui tant de bonnes journees ont veues et esté aidant de si bon ouvrage de la main et de leurs corps comme il y ont fait, l'en les doit bien appeller preux, combien que, quant a estre preus a droit, l'en y pourroit encores miex faire." Débats et Appointements 710-713, ed. Pons, L' Honneur, 78f., Zeile 715-724. Vgl. ferner den Jouvencel des Jean de Beuil (gest. 1477), ed. C. Favre/L. Lecestre, Bd. 1, Paris 1887, 21-23. Vgl. dazu den Artikel von Sylvie Lefèvre, Jean de Beuil, in: Dictionnaire des lettres françaises, Le Moyen Age, Paris 1994, 755-757.
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hatte, und der römische Militärschriftsteller Vegetius mit seinem Fachkompendium ,£)e re militari" aus dem ausgehenden 4. Jahrhundert.44 Ihre Werke ließen sich in hervorragender Weise dazu benutzen, die soziale Disziplinierung des Adels voranzutreiben. Denn sie hatten schließlich den militärischen Erfolg vor allem von einem koordinierten Agieren aller abhängig gemacht, die sich einer gemeinsamen Disziplin zu unterwerfen hatten. Die Unterstellung aller unter ein Kommando führt aber notwendigerweise zu einer Minimierung der Bedeutung des einzelnen, der zu einem kleinen Bestandteil in einem großen Ganzen wird. Heroentum einzelner war sogar ausgesprochen kontraproduktiv, weil es den Erfolg aller aufs Spiel setzte, und musste deshalb auch .disziplinär' geahndet werden.45 Diese egalitäre und nivellierende Komponente machte die disciplina in den Augen desjenigen, der Gewalt zu monopolisieren trachtet, so attraktiv. Sie konnte als Zähmungsmittel eines Adels dienen, dessen soziale Vormachtstellung im Bewusstsein gründete, noch immer Mitinhaber autonomer militärischer Gewalt zu sein. Denn militärisch-gesellschaftliche disciplina verlangte - dies war die Botschaft der dauphintreuen Humanisten - nach strikter Hierarchisierung militärischer Gewalt. Die durch eine Pluralität von Gewaltinhabern (Rittern) bedingte alte horizontale Egalität hatte einem neuen vertikalen Machtaufbau zu weichen, der den König endgültig zum Gewaltmonopolisten machen sollte, der seine Macht von oben nach unten organisierte. Genau diese Probleme hatte der französische Frühhumanist Alain Chartier (gest. 1430) in seinem sieben Jahre nach Azincourt entstandenen und weitverbreiteten „Quadrilogue invectif thematisiert.46 Ausgehend von einem besonders rigorosen disciplina-Exemplum bei Valerius Maximus (II, VII, 6) - der römische Oberkommandierende Manlius Torquatus lässt seinen eigenen Sohn köpfen, weil dieser ohne Befehl, gleichwohl höchst erfolgreich, auf eigene Faust den Kampf begonnen und damit gegen die disciplina verstoßen hatte - , definierte Chartier als discipline de chevalerie u. a. die Einführung und Beachtung strenger Ausbildungs- und Gefechtsvorschriften, deren praktische Umsetzung notwendigerweise die strikte Befehlsgewalt eines Oberbefehls-
44
45 46
Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia, ed. John Briscoe, Stuttgart/Leipzig 1998, 2 Bde.; Flavius Renatus Vegetius, Epitoma Rei Militaris, Das gesamte Kriegswesen, übersetzt und kommentiert von Fritz Wille, Aarau u. a. 1986; zur Vegetiusrezeption im Mittelalter vgl. H. Kleinschmidt, Vegetius, in: LMA, Bd. 8, München 1997, 1444-1445; speziell zur französischen Situation im Zusammenhang der Adelsdisziplinierung Krynen, L'empire du Roi, 319ff. Vgl. dazu oben Anm. 42. Zu Alain Chartiers (gest. 1439) Leben und Werk vgl. den konzisen Überblick bei: Sylvie Lefèvre, Alain Chartier, in: Dictionnaire des lettres françaises, Le Moyen Age, Paris 1994, 29-32; siehe auch den Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Band VIII,1: La littérature française aux XIV e et XV e siècles, sous la direction de Daniel Poirion, Heidelberg 1988, passim und Band XI,1: La littérature historiographique des origines à 1500, sous la direction de Hans Ulrich Gumbrecht u. a., Teilbd. 3, Heidelberg 1987, passim. Zu seiner entschiedenen Rolle als eines nationalen Mobilisators und eines politischen Intellektuellen vgl. Krynen, L'empire du roi, 307f.
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habers (soubz le commandement du chief) voraussetzte.47 Unter Hinweis auf Manlius Torquatus und andere Beispiele aus der römischen Geschichte, die er vor allem Valerius Maximus entnommen hatte, definierte Chartier Insubordination als Kapitalverbrechen, das, wenn nicht mit dem Tode,48 so doch mit scharfen, entehrenden, „peinlichen" Strafen49 zu ahnden sei. Als Höchststrafe, die bei den Römern praktiziert worden sei, erwähnte Chartier sicherlich nicht ohne maliziösen Hintergedanken neben der Prügelstrafe die sozial-militärische Deklassierung in den Stand des unfreien Kriegsknechtes, der zu Fuß kämpfen muss50 - ein unübersehbarer Angriff auf das ritterliche Statussymbol schlechthin, das Pferd. Chartier stellte in diesem Zusammenhang auch die rhetorische Frage, welche Hoffnung denn noch für das vom englischen Feind gedemütigte Frankreich bestehen könne, wenn nicht „discipline de chevalerie et droicture justice d'armes" einzögen. Den damaligen Zustand der Disziplinlosigkeit sah er vor allem dadurch charakterisiert, dass jeder auf eigene Faust in den Krieg ziehen und sein eigener Oberkommandierender (chief a part soy) sein wollte: „Heute genügt es, zu wissen, wie man sich mit einem Schwert umgürtet und einen Harnisch anlegt, um Befehlshaber werden zu können".51 Chartiers Forderung einer klar definierten militärischen Hierarchie mit einem einzigen Oberbefehlshaber an ihrer Spitze lässt sich zwanglos als eine Reaktion auf die Tatsache verstehen, dass es in Azincourt keinen unumstrittenen militärischen Anführer gab. König und Dauphin waren aus Sicherheitsgründen auf dem Schlachtfeld nicht anwesend und mehrere gleichrangige Fürsten stritten lautstark um die geeignete Taktik, die in der anstehenden Schlacht einzuschlagen war.52 Den bisher autonom agierenden Gewaltinhabern, wollten sie noch weiterhin gesellschaftlich legitimierte Macht ausüben, verblieb als einzige Möglichkeit, sich in diese vertikal organisierte Hierarchie als ein Gewaltmonopolist „von Amts wegen", als „Offizier" mit permanenter Dienstverpflichtung einbinden zu lassen. Die große Niederlage, wie sie Azincourt 1415 darstellt, bot der französischen Monarchie und den sie stützenden Intellektuellenkreisen die Chance, diesen sich schon länger abzeichnenden schleichenden 47
48
49
50 51 52
Vgl. Chartier, Quadrilogue, 54: „Et qu'est discipline de chevalerie si non loy ordonne et gardee en l'exercice des armes et des batailles soubz le commandement du chief et pour l'utilité publique?" Vgl. ebd: „Ceste [i. e. discipline de chevalerie] ont gardee si curieusement tous ceulx qui oncques acquirent hault honneur et victoire par proesce d'armes que nulle chose ne se faisoit contre droit de chevalerie ou contre le commandement du chief dont la punición ne feust capitale ou mortelle [...]". Chartier, Quadrilogue, 55: „Diverses histoires se pourraient produire a ce propos d'autres punirions et aspres justices faictes par faulte de garder l'obbeissance et l'ordre du treshonnourable mestier d'armes, et, oultre de ceux qui pour ces causes ont esté capitalement punis, trouverait on pluseurs es rommaines escriptures qui pour menues et petites negligences ont esté batuz de verges a l'estache et rabaessiez du raeng de chevalerie jusques a Testât de servans de pié." Vgl. ebd. Chartier, Quadrilogue, 56. Vgl. den Religieux de St. Denys: „[...] cum ante omnes conflictus moris sit acies ordinare, eorum quoque singuli anteguardiam poscerent conducendam, se tanto honore reputantes, essetque inde exorta verbalis controversia [...]." Zit. nach Chronique du Religieux de Saint-Denys, ed. Bellaguet, 558.
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Prozess entscheidend zu beschleunigen. Vor allem nach Azincourt verstärkte sich die gesellschaftliche Reformdebatte, und insofern kommt dieser Niederlage eine bedeutende katalytische Wirkung zu.
7. Mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Paradigmenwechsel? Zum Problem der Epochenabgrenzung Es gehört schon fast zu den Topoi der Frühneuzeitforschung, in enger Anlehnung an die Thesen Gerhard Oestreichs die Bedeutung gesellschaftlicher Sozialdisziplinierung zu betonen. 53 Diese verbindet sich, denkt man nicht zuletzt an den militärischen Bereich, vor allem mit dem Namen des niederländischen Neostoizisten Justus Lipsius (gest. 1606) und mit den von ihm ausgehenden Reformimpulsen, ablesbar vor allem in der Oranischen Heeresreform im ausgehenden 16. Jahrhundert. Und erst vor kurzem hat Ulrich Bröckling in seiner vielbeachteten Geschichte der „Disziplin" noch einmal dieses Paradigma bekräftigt. 54 Es wäre aber zu fragen, ob im Sinne einer eindeutigen Epochenabgrenzung die Zäsur zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit tatsächlich so stark ausfällt, wie vielfach behauptet wird. Schaut man sich die ihr zugrunde liegenden historischen Annahmen einmal näher an, dann wird sehr schnell deutlich, dass sie vor allem mit dem Konzept einer military revolution operieren, die im 16. Jahrhundert stattgefunden habe. 55 Inzwischen ist von mediävistischer Seite zu Recht die Bedeutung dieser military revolution stark in Zweifel gezogen, insbesondere ihr behaupteter Umfang bestritten worden. 56 Insofern bedarf auch zumindestens aus mediävistischer Perspektive die Frage einer strikten Epochenscheidung auf dem Gebiet der Militärgeschichte einer erneuten Überprüfung. Was die Geschichte gesellschaftlich-militärischer Gehorsamkeitsproduktion im Sinne einer Sozialdisziplinierung angeht, so ist eine Wende in Hinblick auf Frankreich jedenfalls ungleich früher anzusetzen. Ohne die Wirkungsmächtigkeit der Schriften von
53
Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit", in: ZHF 14 (1987), 265-302.
54
Ulrich Bröckling, Disziplin, Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamkeitsproduktion, München 1997. Michael Roberts, The Military Revolution, 1560-1660, in: ders., Essays in Swedish History, London 1967; Geoffrey Parker, The Military Revolution, Military Innovation and the Rise of the West, 1500-1800, Cambridge 1988.
55
56
Vgl. Michael Prestwich, Armies and Warfare in the Middle Ages, The English Experience, N e w Haven u. a. 1996.
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Lipsius generell bestreiten zu wollen, sollte doch die Bedeutung des französischen Frühhumanismus und der von ihm schon lange vor Lipsius propagierten antiken Leitautoren für die Monopolisierung militärischer Gewalt und eine damit einhergehende gesellschaftliche Disziplinierung traditionaler Militäreliten nicht unterschätzt werden.
JULIA MURKEN
Von „Thränen und Wehmut" zur Geburt des „deutschen Nationalbe wußtseins " Die Niederlage des Russlandfeldzugs von 1812 und ihre Umdeutung in einen nationalen
An den napoleonischen Russlandfeldzug und seine katastrophale Niederlage erinnern in Bayern noch heute zahlreiche Denkmäler und Bauten, Gedenk- und Votivtafeln. Eines der bekanntesten davon dürfte der Obelisk auf dem Münchner Karolinenplatz sein, der „Den dreyssig tausend/ Bayern/ die im russischen/ Krieg/ den Tod fanden" gewidmet ist. Mit dem Denkmal sollte der 1812/13 in Russland gefallenen Bayern gedacht werden. Das Datum seiner Enthüllung und sein Standort, beide keineswegs zufällig gewählt, sollten freilich weniger an den Feldzug selbst, als vielmehr an die sich zeitlich daran anschließenden „Befreiungskriege" gegen Napoleon erinnern. König Ludwig I. ließ den Obelisken am 18. Oktober 1833 enthüllen, das war der 20. Jahrestag der Schlacht bei Leipzig. Femer befindet sich das Denkmal auf der Kreuzung der Briennerstraße mit der Barerstraße, parallel zu letzterer verläuft die Arcisstraße. Alle drei Straßennamen erinnern an die siegreichen Schlachten gegen Frankreich 1813/14 bei Brienne, Bar sur Aube und Arcis sur Aube, an denen bayerische Truppen mitgewirkt hatten. Der Obelisk bietet damit nur ein Beispiel für die bewusst und monumental komponierte Erinnerungsarchitektur König Ludwigs I.1 Indem dieses Denkmal durch seine gezielte Komposition zugleich für die Niederlage in Russland und für den Mythos der „Befreiungskriege" steht, kann es als eine Art Sinnbild für die Deutungs- bzw. Umdeutungsgeschichte des Russlandfeldzugs genommen werden. Dieser Spannungsbogen kommt auch in den beiden Titelzitaten zum Ausdruck: Die zeitgenössischen Soldaten empfanden ihre Kriegsteilnahme ausschließlich als Niederlage. Dementsprechend schrieb der bayerische Korporal Layrer seiner Frau schon Anfang März, also ganz zu Beginn des Feldzugs: „Thränen und Wehmut ist mein tägliches Brot und ich schäme mich der Thränen nicht mehr, denn Du und meine Kinder sind ihrer vollkommen
Vgl. dazu ausführlich Karl Borromäus Murr, „Treue bis in den Tod", Kriegsmythen in der bayerischen Geschichtspolitik im Vormärz, in: Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und den USA, Frankfurt a. M. 2003, 138174.
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wert". Im Laufe zweier Jahrhunderte kam es zu einer grundlegenden Neuinterpretation des Feldzugs: Die Niederlage in Russland wurde in einen Sieg umgedeutet. Zwar leugnete man das militärische Scheitern der Grande Armée Napoleons zu keiner Zeit. Mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Geschehen aber wurde dieses Scheitern zum Fundament eines politischen Sieges erhoben - eines Sieges, den man in der Entstehung des „deutschen Nationalbewußtseins" sah. 3 Dieses „Nationalbewusstsein", so betonte die Geschichtsschreibung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, habe die „Befreiungskriege" gegen Napoleon ermöglicht und in einem weiteren Schritt, zur Gründung des deutschen Nationalstaats geführt. Angesichts solcher Umdeutungen gerät leicht in Vergessenheit, dass Bayern 1812 mit Napoleon gegen Russland gezogen war. Zur Kriegsfolge mit Frankreich hatte sich das Königreich gemeinsam mit weiteren 15 deutschen Staaten in der Rheinbundakte vom 12. Juli 1806 verpflichtet. Der Bündnisfall trat ein, als sich das Verhältnis zwischen Russland und Frankreich zunehmend verschlechterte und es schließlich zum Bruch zwischen beiden Staaten kam.4 Bayern stellte der Grande Armée Napoleons vertragsgemäß zwei Divisionen mit insgesamt rund 35 500 Mann. Obwohl die napoleonischen Truppen während des Feldzugs gegen Russland auch einzelne Siege erringen konnten - Bayerns Infanterie war dabei an den beiden Schlachten von Polozk (16.22. August und 18.-22. Oktober 1812) beteiligt - endete das gesamte Russlandunternehmen des Kaisers als katastrophale Niederlage: Nach der für die Grande Armée extrem verlustreichen Eroberung Moskaus und dem Einbruch des Winters befahl der französische Kaiser den Rückzug der Truppen aus Russland und räumte schließlich am 3. Dezember 1812 im 29. Bulletin der Grande Armée die Kapitulation seiner Armee ein. Als eine „Niederlage" empfanden die Teilnehmer den Feldzug jedoch nicht erst von diesem Zeitpunkt an. Tagebücher und Briefe von bayerischen Soldaten beschreiben eindrücklich die existenziellen Strapazen, die der „russische Krieg" für die Mannschaften und Offiziere praktisch vom ersten Tag an bedeutet hatte.5 Die Erfahrungen in Russland bestanden für die Zeitgenossen seit Beginn des Kriegs aus einer nicht abreißenden Kette 2
3
4
5
Der bayerische Korporal Layrer an seine Frau, 01. 03. 1812, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv (im Folgenden BHStA, KA), Bestand HS 704. Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation? Deutschland 1763-1815, Berlin 1989 (2. Aufl. 1993), 636. Zu den Gründen des Kriegs zwischen Frankreich und Russland vgl. bilanzierend Claus Scharf, „Die Geschichte der Zerstörung Moskaus 1812" von Anton Wilhelm Nordhof, Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Anton Wilhelm Nordhof, Die Geschichte der Zerstörung Moskaus 1812, München 2000, 7-84, hier: 14f. Eine ausführliche Charakterisierung und Bearbeitung dieser Selbstzeugnisse, die zum großen Teil im Kriegsarchiv des Münchner Hauptstaatsarchivs überliefert sind, habe ich in meiner Dissertation vorgenommen: „Thränen und Wehmut ist mein tägliches Brot", Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812, Ihre Kriegserfahrungen und deren Umdeutung im 19. und 20. Jahrhundert, Diss. Tübingen 2003.
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von Niederlagen. Der Großteil der Feldzugsteilnehmer starb nicht auf dem Schlachtfeld, sondern wurde Opfer von Hunger, Krankheiten, Erschöpfung oder Heimweh. In dieser Weise wurde das napoleonische Russlandunternehmen gleichwohl nur in zeitgenössischen Zeugnissen dargestellt. Anhand von bayerischen Kriegstagebüchern und Memoiren sowie historiographischen Abhandlungen über Bayerns Beteiligung am Russlandfeldzug aus verschiedenen Epochen lässt sich die Umdeutungs-Genese dieses Kriegs in fünf Schritten nachvollziehen. Um spätere Interpretationen klarer heraus arbeiten zu können, werden zuerst die Deutungsmuster der zeitgenössischen Quellen betrachtet. Diese erfuhren im Laufe des 19. Jahrhunderts eine erste Veränderung, als zahlreiche Kriegsteilnehmer ihre Kriegserfahrungen in Form von Memoiren herausgaben. Während der NS-Zeit erlebte eine antifranzösische und damit nationalisierende Uminterpretation des Russlandfeldzugs einen Höhepunkt. Nach 1945 wurden solche Deutungen stark relativiert, aber noch nicht durchgängig aufgegeben. Erst in den Forschungen der jüngsten Zeit ist eine regelrechte Entmythologisierung der nationalisierenden Interpretation des Russlandfeldzugs zu beobachten. Schließlich noch eine kurze methodische Vorbemerkung: Um den Kriegserfahrungen der Bayern in Russland und ihren Umdeutungen gerecht werden zu können, wurde ein wissenssoziologischer Erfahrungsbegriff zugrunde gelegt. Dieser beruht auf einem konstruktivistischen Grundverständnis, er geht also davon aus, dass eine .authentische' Rekonstruktion der Vergangenheit unmöglich ist. Stattdessen sei jede Form von Erfahrung in kollektive Wissensbestände eingebettet, die die individuelle Wahrnehmung und Deutung prägen. Die Verschiebung bzw. neue Definition von Deutungsmustern darf daher nicht als Indiz für schwindende .Authentizität' bzw. als Verfälschung .authentischer' Erfahrungsbestände gedeutet werden. Sie erklärt sich vielmehr durch den jeweiligen historischen Hintergrund. 6 Ein nur schwer lösbares Problem für die Deutungsgeschichte des Russlandfeldzugs besteht darin, dass nicht alle überlieferten Erfahrungsberichte bayerischer Kriegsteilnehmer exakt datiert werden können. Da ihr mutmaßlicher Entstehungszeitpunkt aber bei der Frage nach Umdeutungen von zentraler Bedeutung ist, werden zu Beginn der ersten beiden Abschnitte die Quellen jeweils kurz charakterisiert.
6
Das konstruktivistische Grundverständnis ist ein wichtiges Element des hier verwendeten wissenssoziologischen Erfahrungsbegriffs. Vgl. dazu Nikolaus Buschmann/Horst Carl, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges: Forschung, Theorie, Fragestellung, in: dies. (Hg.), Die Erfahrung des Krieges, Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2001, 11-26 und Nikolaus Buschmann/Aribert Reimann, Die Konstruktion historischer Erfahrung: Neue Wege zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges, in: Buschmann/Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges, 261-271.
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1. Zeitgenössische Deutungen Nur bei wenigen Zeugnissen kann gesichert von einer Entstehung noch während des Feldzugs, also vor Ort in Russland ausgegangen werden. Dazu gehören die Akten der kurbayerischen und königlichen Armee, 7 in denen zahlreiche Berichte und Briefe der beiden obersten bayerischen Kommandeure, General Deroy und General Wrede, aber auch anderer hoher Offiziere der bayerischen Armee enthalten sind. Diese Schriftstücke spiegeln zum einen das eigene Erleben der jeweiligen Autoren, geben gleichzeitig aber auch einen Einblick in die Stimmungslage der Truppen, also der Soldaten niedrigerer Ränge. Bei den überlieferten Briefen von Kriegsteilnehmern an ihre Familien kann man ebenfalls relativ sicher davon ausgehen, dass sie noch vor Ort entstanden sind. Anhand dieser Quellen lässt sich ein Einblick in die Deutungsmuster gewinnen, die für die Zeitgenossen des Russlandfeldzugs relevant gewesen sein mögen. Es wird deutlich, dass der Kriegsalltag vor allem für die Mannschaften von Entbehrungen und Niederlagen geprägt war. So klagte der Fußsoldat Waibel im September 1812 seinen Eltern: „O könnt ich Hilfe habern von Euch zu Hause - nur die übrige Suppe täte meinem Leib gut. Aber leider nichts - nun laß ichs dem lieben Gott über, was sein Wille geschehe." 8 In den wenigsten Fällen bezogen sich solche Klagen auf militärische Niederlagen, da Schlachten die große Ausnahme auf diesem Feldzug bildeten. Doch selbst nach einer siegreichen Schlacht überwogen für die daran teilnehmenden Soldaten quer durch alle Ränge die Gefühle von Verlust, Trauer und Erschöpfung. So schrieb General Wrede dem bayerischen König nach der Schlacht von Polozk am 24. August 1812: „Es würde mir an Worten gebrechen, Euer Majestät den Schmerz über den Verlust so vieler Tapferer, den die beiden Armeekorps in diesen blutigen Tagen erlitten haben, zu schildern allein der Ruhm, den sich Allerhöchst ihre Armee erworben, die Ruhe, die sie sich gegen einen zudringlich gewordenen Feind zu verschaffen wußte, der erfolgte glänzende Ausgang dieser blutigen Schlacht, können allein die Tränen trocknen, die wir um unsere gefallenen Waffenbrüder weinen."
Viel entscheidender als der Ausgang einer Schlacht waren freilich die tagtäglichen Niederlagen, die die überwiegende Mehrheit der bayerischen Soldaten im Kampf gegen Hunger, Kälte, Krankheiten und Erschöpfung erleiden musste. Maßgeblich dabei war, welchem militärischen Rang man angehörte. Während der Nahrungsmangel für die niedrigen Chargen schnell zu einem existenziellen Problem wurde, bemängelten die höheren Ränge lediglich die Qualität der Verpflegung. So berichtete der Offizier Freiherr von Pelkofen in seinem Tagebuch:
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BHStA, KA, Bestand A: Akten der kurbayerischen und königlichen Armee, Organisation und Formation und Bestand B: Akten der kurbayerischen und königlichen Armee, Feldzüge. Josef Benediktus Waibel, Brief aus Rußland, 19. 09. 1812, in: Gebirgstruppe, Heft 1 (1983), 36f., hier: 36. BHStA, ΚΑ, Β 488.
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„In Prenn hatte ich die Wacht bei Herrn General Wrede, ich wurde folglich an seine Tafel geladen. Hier merkte ich erst, wie sehr unsere Noth zugenommen hatte, da selbst General Wrede kein anderes Brod, als feines Kommißbrod, gegen die sonst gewöhnlichen Semmeln an seiner Tafel [...] aß. [...] Die Gerichte selbst waren so einfach uij^ wenig gegen sonst, dass jeder den überhand genommenen Mangel hieraus ersehen konnte".
Den beiden obersten bayerischen Kommandeuren war die katastrophale Versorgungslage ihrer Truppen jedoch vollauf bewusst. Sie thematisierten sie laufend in ihren Berichten an den bayerischen König: „Inzwischen ist in diesen Verhältnissen die Herbeischaffung der Verpflegung, vorzüglich des brodes, eine so schwierige Sache, dass nicht vorzusehen ist, wie die Armee bei anhaltenden Märschen und im Falle eines glücklichen Forjjpnges des Krieges bei schneller Verfolgung des Feindes und raschem Vorrücken leben wird."
Wie elementar der Nahrungsmangel für die einfachen Soldaten war, geht aus dem Brief des Fußsoldaten Waibel hervor: „Wir müssen uns bald selber verpflegen mit allem, welches uns auch viel kosten tut. [...] Ganz von Kräften, alles Fleisch vom ganzen Leib ist weg, nichts als Boiner und woher sollen wir Kräfte bekommen? Oh wie oft denk ich an zu hause und könnt etwas menschliches essen^enn ich darf sagen, daß ich in 6 Monaten von keinem Mehl nichts zu essen bekommen habe."
Auch die Wettergegebenheiten während des Feldzugs - anhaltender Regen, gefolgt von extremer Hitze und schließlich schneidender Kälte - forderten zahllose Opfer unter den Soldaten. Dass die Ausrüstung und Bekleidung von vornherein unzureichend war, verschärfte die Situation der Kriegsteilnehmer. Am 11. August 1812, also noch vor jeder kriegerischen Auseinandersetzung, berichtete General Deroy dem bayerischen König nach München: „Die Montouren, vorzüglich Schuh, Hemd, Unterhosen, Kamaschen, [sind] nunmehr so zusammengerissen, dass die meisten mit ganz herunter hängend^ Lumpen, zum Theil auch baarfuß, also für den Dienst höchst despectierlich, umhergehen."
Es ist nicht verwunderlich, dass die schlecht bekleideten und durch Hunger und Strapazen entkräfteten Soldaten gegen Krankheiten kaum Widerstandskräfte mobilisieren konnten. Sie erlagen Durchfallerkrankungen wie der Ruhr, Lungenentzündungen oder dem Typhus. Die verheerenden Zustände in den materiell schlecht ausgestatteten und personell unterbesetzten Feldspitälern erlaubten in den seltensten Fällen eine angemessene medizinische Betreuung der Patienten. Aus den überlieferten Sanitätsakten des Feldzugs geht freilich auch hervor, dass eine Vielzahl von Soldaten an bloßer Erschöpfung und Auszehrung starb. Wegen der extremen Strapazen verfügten die Kriegsteilnehmer über keinerlei psychische Reserven mehr, so dass Resignation, Ver-
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Tagebuch Pelkofen, Ol. 07. 1812, BHStA, KA, HS 663. Bericht Deroys vom 22. 06. 1812, BHStA, ΚΑ, Β 492. Waibel, Brief aus Rußland, 36. BHStA, ΚΑ, Β 492.
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zweiflung und Heimweh von den Feldärzten ebenfalls als regelrechte Krankheitsbilder und häufige Todesursache eingestuft wurden: „Die Soldaten ertragen alles mit einer dumpfen Resignation, man könnte sagen mit Apathie, sie scheinen wenig bekümmert um ihre Erhaltung um Leben und Tod, und ertragen alles ohne Murren mit einer sich hingebenden Gleichgültigkeit",14 berichtete beispielsweise der bayerische „Oberstabsmedicus" Dr. Martin Köhler Anfang September nach München. Entsprechend dieser desolaten Zustände bilden Hoffnungslosigkeit und Resignation in den meisten Kriegstagebüchern das Leitmotiv. Zwar waren alle militärischen Ränge von den großen Belastungen betroffen, so dass auch von den obersten Kommandeuren Deroy und Wrede überliefert ist, wie wenig sie sich den Strapazen noch gewachsen fühlten. General Wrede schrieb dem bayerischen König Anfang September 1812: „Ma santé souffre beaucoup, tout pèse sur l'âme et le corps en même temps - il y a des choses qui sont trop fortes pour mon âge".15 Die Rangunterschiede waren dennoch entscheidend: Während die einen lediglich weniger reichhaltige und nicht so schmackhafte Mahlzeiten erhielten, gab es für die anderen praktisch gar keine Nahrungsmittel mehr. Auch die Frage, ob den ganzen Tag geritten oder aber marschiert wurde, war bedeutsam. Die unteren Chargen litten den größten Hunger, waren am schlechtesten ausgerüstet und hatten extreme körperliche Strapazen zu erleiden. Sie waren für tödliche Krankheiten besonders anfällig. Der Fußsoldat Schrafel schilderte sein Leiden eindrücklich: „Jetzt aber befiel [die Diarrhöe] mich neuerdings und bereitete mir fast unerträgliche Schmerzen. Die Krämpfe im Unterleib waren fürchterlich. Ich krümmte mich oft wie ein Wurm und schien dem Tode nahe. Man denke sich ein solches Leiden tjhne Arznei, aller Hilfsmittel beraubt, unter freiem Himmel in kalter und nasser Witterung."
Trotz dieses Elends finden sich in keiner einzigen zeitgenössischen Quelle Reflexionen darüber, wer für die beschriebenen alltäglich durchlebten Niederlagen verantwortlich zu machen sei. Napoleon als oberster Kommandeur der Grande Armée wurde in keinem dieser Zeugnisse zum Schuldigen für das Debakel erklärt. Weder er noch „die Franzosen" stellten hier ein Feindbild dar. Hinweise auf ein aus der Abgrenzung gegen die Franzosen erwachendes „deutsches Nationalbewusstsein" tauchen in diesen Quellen nirgends auf. Die Autoren der zeitgenössischen Quellen deuteten das Russlandunternehmen ausschließlich als Niederlage. Die Idee, dass aus dieser Niederlage ein Sieg erwachsen könnte, findet sich hier nicht. Der Gedanke eines gesamtdeutschen Nationalstaats, der aus einer Erhebung gegen Frankreich erwachsen könnte, war in der Vorstellungswelt der bayerischen Soldaten noch nicht vorhanden. Wenn sie von Heimat oder 14 15 16
Bericht Köhlers an die Generallazarett-Inspektion in München, Ol. 09. 1812, BHStA, ΚΑ, Β 501. BHStA, ΚΑ, Β 492. Des Nürnberger Feldwebels Joseph Schrafel merkwürdige Schicksale im Kriege gegen Tirol 1809, im Feldzuge gegen Rußland 1812 und in der Gefangenschaft 1812-1814, Von ihm selbst beschrieben, Zum ersten Mal gedruckt 1834, Neu herausgegeben im Erinnerungsjahr 1913 vom Jugendschriften-Ausschuß Nürnberg, 35f.
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ihrem „Vaterland" sprachen, bezogen sie sich damit eindeutig auf das Königreich Bayern. Ein Quellenbeispiel soll dies abschließend demonstrieren. Der Feldapotheker Grasmann notierte bei der Schilderung seines Heimwegs das Überschreiten der polnischpreußischen Grenze vollkommen emotionslos. 17 Preußen bedeutete für ihn zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch ebenso sehr „Ausland" wie Russland oder die polnischen Gebiete. Erst mit der „bayerischen Grenzsäule" war die Heimat für Grasmann erreicht. Die Ankunft in Bayern schilderte er mit großer Euphorie: „Um Vz 11 h kommen wir an die Grenze; wir steigen alle ab, umarmten u. küßten die bayerische Grenzsäule. Meine Freude war grenzenlos." 18
2. Nationalisierende Tendenzen in Darstellungen des 19. Jahrhunderts Um die Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich dies. Zahlreiche Kriegsteilnehmer brachten um diese Zeit ihre Erfahrungen in Russland in Form von Memoiren zu Papier. Da sich das historische Umfeld inzwischen maßgeblich verändert hatte, finden sich hier andere Wertungen als in den zeitgenössischen Darstellungen. Eines der wenigen Tagebücher über den Russlandfeldzug, in dem das Entstehungsjahr genau genannt wird, stammt vom Fußsoldaten Josef Deifel. Er schrieb etwa in der Mitte seines Berichts: ,,[E]in baierischer Cheveauleger sagt uns dass heint der Heilige Christtag sein soll, ich will es nicht glauben, denn ich seh einen bollischen Bauern Holz haken beim Eintritt in den Ort--. (Heunte [sie!] ist der 37igste Jahrestag da ich diese Zeillen zum 5ten Mall nieder schreibe.)"
Man kann also davon ausgehen, dass Deifel sein Tagebuch im Jahr 1849 verfasst hat. Dass der Autor das Russlandunternehmen aus der Rückschau nationalisierte, wird bereits mit den ersten Zeilen deutlich: Die Kriege von 1805 bis 1814 hätten für Bayern den Verlust der „Ehre, uralte[n] Ehre" 20 bedeutet, erst mit den Befreiungskriegen habe diese Ehre wieder hergestellt werden können. Allein verantwortlich für die entehrende Niederlage war für Deifel eindeutig der französische Kaiser Napoleon. Polemisierungen gegen Napoleon bilden dementsprechend ein Leitmotiv des Tagebuchs. Mit seinem „prahlerten Hochmuth" 21 habe Napoleon das Fiasko verursacht und den Tod seiner Soldaten dabei gleichgültig hingenommen: „Er war der Mann, der gleichgültig hinsah, [...] wenn alles lechzt im Blut. Tod und Kummer sah er nich [sie!] an, er ritt vorüber, 22 sah auf seinen Sattelknopf mit beiden Augen". 17 18 19 20 21 22
Tagebuch Grasmann, 28. 03. 1813, S. 45, BHStA, KA, HS 693. Ebd., 1 7 . 0 4 . 1 8 1 3 , 4 6 . Tagebuch Deifel, 236f„ BHStA, KA, HS 649. Ebd., 3f. Ebd., 216 Ebd., 218.
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Ebenso wie bei Deifel findet sich auch in anderen Quellen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine klare Distanzierung von Frankreich. Der Feldzug wurde hier als ein Unternehmen beurteilt, das den bayerischen Teilnehmern von Grund auf fremd gewesen sei. Besonders deutlich kommt dies im Tagebuch des Hauptmanns Maillinger zum Ausdruck, das 1912 herausgegeben wurde, wobei der genaue Zeitpunkt der Niederschrift offen bleiben muss. Maillinger schätzte die Verdienste der bayerischen Soldaten in der Schlacht von Polozk um so höher ein, als die Truppen nicht wie früher „über die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes oder die Erhaltung des Thrones ihres angebetenen Königs entschieden", sondern sich stattdessen „für eine ihr ganz fremde, sogar widrige Sache schlugen". Aus diesem Grunde wertete der Autor den Sieg als „glän23
zendste Epoche der vaterländischen Geschichte". Diese Zeilen Maillingers offenbaren auf mehreren Ebenen eine neuartige Deutung der Ereignisse in Russland. Zum einen wertete er die Überlegenheit der bayerischen Truppen bei Polozk als großen Triumph für die Zeitgenossen dagegen, das war oben gezeigt worden, hatten nach dieser Schlacht „Schmerz, Verlust und Tränen" überwogen. Darüber hinaus suggeriert der Hauptmann, dass die bayerischen Soldaten die Hintergründe des Russlandfeldzugs genau erkannt und bayerisch-national-politisch angezweifelt hätten. Diese Einschätzung findet sich auch in zahlreichen historiografischen Abhandlungen aus der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Russlandfeldzug sei für die Bayern ein „ihnen fremder Krieg" 24 gewesen, Napoleon ein ,,fremdländische[r] Despot", 25 bzw. ein ,,fremde[r] Eroberer". 26 Eine solche angebliche Distanzierung der bayerischen Soldaten von Napoleon und seinem Feldzugs ist ein erster Schritt auf dem Weg der Umdeutung einer Niederlage in einen Sieg. Das Schlusswort der Geschichte der bayerischen Heeresabtheilung im Feldzuge gegen Rußland 1812 von Th. Krauß aus dem Jahr 1857 geht noch einen Schritt weiter und greift die eingangs beschriebene Errichtung des Obelisken in München auf:
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24 25
26
Tagebuch des Hauptmannes Joseph Maillinger im Feldzuge nach Rußland 1812, bearb. von Paul Holzhausen, in: Darstellungen aus der bayerischen Kriegs- und Heeresgeschichte 21 (1912), 57155, hier: 97f. Johann Heilmann, Die Bayern im Kriege, München 1864, 178. Johann Christian von Mannlich, Ein deutscher Maler und Hofmann, Lebenserinnerungen des Johann Christian von Mannlich 1741-1822, Nach der französischen Originalhandschrift herausgegeben von Eugen Stollreither, Berlin 1910, 543. Oskar Bezzel, Geschichte des königlich bayerischen Heeres unter König Max I. Joseph von 1806 (1804) bis 1825, München 1933, V.
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„Und in der Hauptstadt strebt ein ehernes Denkmal in den Himmel [...] zu verkünden, wie Bayerns Krieger in weiter Ferne von der Heimat mit Noth und Elend kämpfend und einem fremden Zwecke dienend ihre Waffentreue mit dem Tode besiegelten. Doch aus dem Todtenwinter des Jahres 1812 erstand der Frühling der Freiheit vom französischen Joche. Napoleon säete in Rußland den Tod ur^aus dieser Saat sproß die todesmuthige Lebenskraft der unterjochten Fürsten und Völker."
Diese pathetischen Zeilen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen explizit, wie die militärische Niederlage in Russland zur Grundlage eines Siegs erhoben werden konnte. Die Katastrophe der napoleonischen Truppen, der „Todtenwinter" wurde hier zur unbedingten Voraussetzung einer neugewonnenen „Freiheit" erklärt. Als Hauptverantwortlicher für das Scheitern des Feldzugs galt Napoleon - die Erhebung der „unterjochten Fürsten und Völker" gegen ihn musste dementsprechend einen Triumph bedeuten. Gegenüber den zeitgenössischen Zeugnissen handelt es sich hier um eine neuartige Interpretation des Debakels in Russland. Die Resignation und die Zweifel in den zeitgleich mit dem Feldzug entstandenen Quellen waren einzig aus dem außergewöhnlich harten und für die allermeisten tödlichen Kriegsalltag entsprungen. Dass das gesamte Unternehmen unter französischem Oberbefehl stand, scheint für die Mehrheit der bayerischen Soldaten keine Rolle gespielt zu haben - möglicherweise war es vielen von ihnen nicht einmal bewusst. Sie zogen in diesen Krieg, ohne nach seinen Hintergründen zu fragen. Als Konskribierte hatten sie schlicht keine andere Möglichkeit. Demgegenüber bildet die These der sich von Napoleon befreienden Völker eine Umdeutung. Trotz der zunehmenden Kritik an Frankreich überwiegt aber in den genannten Quellen noch kein „deutsches" Nationalbewusstsein. Besonders deutlich geht dies aus dem obigen Zitat des Hauptmanns Maillinger hervor. Er hatte den Sieg bei Polozk, anders als die zeitgenössischen Quellen, als Triumph interpretiert - allerdings als Triumph für die bayerischen Truppen und damit für das Königreich. Eine Erweiterung auf eine gesamtdeutsche Ebene ist bei Maillinger nicht zu beobachten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Einzelstaat offensichtlich immer noch eine größere Bedeutung als die Idee eines geeinten Nationalstaats. Dies geht aus allen Quellen, die um diese Zeit entstanden, deutlich hervor. Die Rolle der Heimat und des „Vaterlandes" konnte nach wie vor allein das Königreich Bayern spielen. Neu war allerdings, dass dieses Vaterland nun innerhalb eines größeren gesamtdeutschen Kontexts gesehen werden konnte. In diesem Sinne dokumentierte der Fußsoldat Deifel - im Gegensatz zum oben angeführten Feldapotheker Grasmann - schon das Überschreiten der polnischen Grenze nach Preußen im Juni 1813 mit großer Freude. Für ihn war das Vaterland bereits jetzt in greifbare Nähe gerückt, wenngleich auch noch nicht erreicht: „Hoch erfreit, als wir aus dem Bollen treten und in das Deutschland kommen; wir sehnen uns 28 stark nach unserem Vaterland." Preußen war für Deifel offensichtlich ein Teil 27
28
Th. Krauß, Geschichte der bayerischen Heeresabtheilung im Feldzuge gegen Rußland 1812, Augsburg 1857, 239f. Tagebuch Deifel, 347, BHStA, KA, HS 649.
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Deutschlands und wenngleich er sich mit „Vaterland" wohl auf Bayern bezog, hatte das Verhältnis zu Preußen damit gegenüber den zeitgenössischen Quellen einen neuen Stellenwert erhalten. Dies zeigt sich schon in der Verwendung des Begriffs „Deutschland", der in den um 1812 entstandenen Zeugnissen noch nicht aufgetaucht war. Die Deutung, mit dem Übertritt nach Preußen dem „Vaterland" Bayern nicht nur geografisch erheblich näher gekommen zu sein, weist darauf hin, dass Deifel das Betreten eines anderen deutschen Staates als eine Art Vorstufe zur eigentlichen Heimat Bayern begriff. Der Feldapotheker Grasmann dagegen scheint sich auch nach dem Betreten Preußens noch eben so sehr im „Ausland" gefühlt zu haben wie vor dem Grenzübertritt, als er sich noch in Polen befand. Die von Deifel verwendete Kategorie eines deutschen Heimatlands existierte in seiner Vorstellungswelt nicht. Dass es sich bei der Einordnung des bayerischen Vaterlands in einen größeren, gesamtdeutschen Kontext nicht nur um individuelle Einstellungen der angeführten Tagebuchautoren handelte, zeigt sich, wenn man in dieser Zeit entstandene historiographische Werke über den Russlandfeldzug betrachtet. Exemplarisch verdeutlicht dies die 1864 entstandene Abhandlung Johann Heilmanns in ihrem Schlusssatz: „Wir Bayern fühlen uns als Volk und doch wieder als Theil eines Größern, wir fühlen uns im warmen Herzen als Deutsche. Beides zusammen ist unser Recht und unser Stolz und beides soll man nicht antasten."29 Die Idee eines gesamtdeutschen Nationalstaats, die in den zeitgenössischen Quellen noch nicht denkbar gewesen war, ist somit in den Quellen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer real vorstellbaren Größe geworden. Dennoch wurde in keinem dieser später verfassten Tagebücher der Bezug auf Bayern völlig aufgeben und nur noch Deutschland in den Mittelpunkt gestellt. Als nationaler „Sieg" wurde das Russlandunternehmen zu dieser Zeit daher noch nicht gedeutet. Dazu kam es erst im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem Beginn der NS-Zeit.
3. Antifranzösische Polemik während der NS-Zeit Die Arbeiten über Bayerns Beteiligung am Russlandfeldzugs, die aus der aus der NSZeit stammen, betonten in erster Linie die Schuld Napoleons an der Niederlage in Russland. Der französische Kaiser wurde zum Alleinverantwortlichen für die Niederlage erklärt. In einem weiteren Schritt hätten sich die bayerischen Kriegsteilnehmer daher von ihm bzw. generell von „Frankreich" abgewandt um gemeinsam mit allen „Deutschen" für ihre Freiheit zu kämpfen. Dementsprechend bezog beispielsweise Max Leyh in seiner Abhandlung über die Feldzüge des Bayerischen Heeres unter Max I. (IV.) Joseph von 1805 bis 1815 dezidiert und stellenweise sehr polemisch Stellung gegen Napoleon. Zum einen habe sich dieser 29
Heilmann, Die Bayern im Kriege, 244.
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strategisch verkalkuliert, vor allem aber trügen seine negativen Charaktereigenschaften Schuld am Scheitern des Kriegs: „Der Petit Corporal von 1796 mit seinem Blick für das Wesentliche und seiner Fürsorge für die Truppe hätte auch den russischen Feldzug gewonnen; der KAISER aber, dem Ehrgeiz, Egoismus und Selbstüberschätzung den Blick verdunkelt Ratten, [...] dem die Menschen nichts mehr waren [ . . . ] - dieser Kaiser mußte ihn verlieren."
Noch polemischer Frankreich gegenüber ist der Grundton in Kurt Uebes Arbeit aus dem Jahr 1939 über den Stimmungsumschwung in der bayerischen Armee gegenüber den Franzosen 1806 -1812. Bereits der Titel der Arbeit macht deutlich, dass hier das negative Verhältnis zu Frankreich im Zentrum stand. Den französischen Soldaten warf der Autor fortlaufend „Unordnung, Indisziplin, Plünderungen"31 vor, während er die bayerischen Soldaten dagegen als diszipliniert schilderte. Die französischen Generäle hätten 32
„mangelnde Kriegsbegeisterung und Pflichttreue offen durchblicken" lassen. Nach Uebe führte dies Ablehnung und schließlich „Haß" der Bayern gegenüber den Franzosen herbei.33 Dass diese Interpretation mit den Deutungen der zeitgenössischen Tagebücher wenig gemein hat, ist oben im ersten Abschnitt dargelegt worden. Ein grundsätzliches Franzosenfeindbild war in den zeitgenössischen Quellen nicht nachweisbar. Uebes Schlussfolgerungen lassen sich zwar durchaus aus einigen Selbstzeugnissen herauslesen - jedoch nur aus den Tagebüchern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese zitierte der Autor korrekt. Seine Darstellung des Kriegsalltags und der schlechten materiellen Versorgung der Soldaten ist ebenfalls nicht unzutreffend. Problematisch an seiner Arbeit ist die fehlende Differenzierung der Quellen nach ihrem unterschiedlichen Entstehungszeitpunkt. Indem Uebe die Deutungen sämtlicher Kriegstagebücher unabhängig von ihrem Entstehungszeitpunkt als zeitgenössisch verstand, konnte er scheinbar empirisch untermauert den Hass der bayerischen Soldaten gegenüber sämtlichen Franzosen zur Zeit des Feldzugs nachweisen. In einem weiteren Schritt schrieb er allen Bayern diesen angeblichen Hass zu. Uebe führte diese Interpretation des „Stimmungsumschwungs gegen die Franzosen" schließlich noch weiter. Er sah darin die Voraussetzung dafür, dass „Bayern [...] befähigt [wurde], die Stimmung vom Gesichtspunkt enger Notwehr her, von der Zusammenarbeit mit den Franzosen hinweg, über das Ziel eigener Freiheit hinaus, in das gesamtdeutsche Becken einmünden zu lassen."34 Die Niederlage in Russland konnte demnach nur in den gemeinsamen Kampf gegen Napoleon münden. Diese Interpretation, so wurde im ersten Abschnitt gezeigt, traf die Haltung der bayerischen Soldaten zur Zeit des Feldzugs nicht. Ihr Heimweh zielte auf das 30
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32 33 34
Max Leyh, Die Feldzüge des königlich-bayerischen Heeres unter Max Joseph von 1805 bis 1815, München 1935, 258f. Kurt Uebe, Der Stimmungsumschwung in der bayerischen Armee gegenüber den Franzosen 18061812, München 1939, 89. Ebd., 99. Vgl. ebd., 116ff. Ebd., 130.
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„bayerische Vaterland" und nicht auf einen gesamtdeutschen Nationalstaat. Auch die aus einer anderen Perspektive deutenden Tagebücher aus der Mitte und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen nicht so weit wie es die Interpretation Uebes nahelegt. Der Fußsoldat Deifel betonte zwar, sich als „Deutscher" zu fühlen. Eine Sehnsucht nach einem gesamtdeutschen Nationalstaat, der durch eine Erhebung gegen die Franzosen zustande kommen könnte, brachte er aber nicht zum Ausdruck. Uebe hingegen sah in der „gemeinsamen Abwehr aller Deutschen"35 gegen Frankreich das entscheidende Ergebnis des Russlandfeldzugs und deutete damit die militärische Niederlage der Truppen in Russland in einen Sieg um. Aus der Erhebung „der Deutschen" gegen Frankreich sei schließlich der deutsche Nationalstaat hervorgegangen. Für diese Interpretation spielt der Entstehungszeitpunkt der Abhandlung eine maßgebliche Rolle. Im Jahr 1939 war der deutsche Nationalstaat selbstverständlich verinnerlicht und erhielt durch die nationalsozialistische Propaganda eine neue Bedeutung. Zudem stellte die Phase kurz vor Kriegsausbruch wiederum eine Indikation zur „Notwehr" gegen die Franzosen und zum Kampf für das „gesamtdeutsche Becken" dar. Der „Erbfeind Frankreich" war das Feindbild, das Uebe retrospektiv auf die Situation von 1812 übertrug.
4. Relativierungen seit 1945 Die antifranzösische Polemik der NS-Zeit findet sich in Darstellungen, die nach 1945 entstanden, nicht mehr. Statt dessen wurde nun vielfach das einzelstaatliche Interesse Bayerns am Bruch mit Frankreich hervorgehoben. Das Königreich habe sich von Frankreich loslösen müssen, nachdem die Niederlage in Russland offenkundig geworden war, so beispielsweise die Deutung des Handbuchs der bayerischen Geschichte, IV, 1 aus dem Jahr 1974.36 Denn andernfalls hätte Bayern die Gebiete, die es während des Bündnisses mit Frankreich neu hinzugewonnen hatte, bei einem Sieg der russisch-preußischen Koalition gegen die Franzosen nicht halten können. Weder eine antifranzösische Haltung, noch ein nationaldeutsches Bestreben bildeten demnach den Beweggrund des Königreichs für den Übergang zu den Alliierten. Entscheidend war vielmehr die Absieht, „seine Souveränität und seinen derzeitigen Besitzstand" sich also um eine Art „Realpolitik".
38
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zu wahren. Es handelte
Eine solche Interpretation betonte die politischen
35
Vgl. ebd., 91.
36
Emst Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825), in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV, 1, München 1974, 3-86. (2. Aufl. erscheint 2003).
37
Ebd., 36.
38
Roger Dufraisse, Napoleon und Bayern, in: Hubert Glaser (Hg.), Krone und Verfassung, König Max I. Joseph und der neue Staat, Beiträge zur bayerischen Geschichte und Kunst 1799-1825, München/Zürich 1980 (Wittelsbach und Bayern III/l), 221-229, hier: 228.
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Interessen des einzelnen Staates, anstatt eine vermeintliche Sehnsucht nach einen gesamtdeutschen Nationalstaat als Handlungsmotivation in den Vordergrund zu stellen. Gleichwohl wurde die nationalisierende Deutung des Russlandfeldzugs nach 1945 keineswegs durchgängig aufgegeben. In vielen Abhandlungen findet sich nach wie vor die Interpretation, die Kriegserfahrungen in Russland hätten das latent schon vorhandene Nationalgefühl aller Deutschen erweckt und sie auf den gemeinsamen Kampf gegen die Franzosen und für ihren gesamtdeutschen Nationalstaat eingeschworen. So kam Horst Möller 1993 zu dem Schluss: „Während sich Napoleon der Weltpolitik hingab, stärkten die Reformen die deutschen Staaten, wuchsen die Probleme Frankreichs mit anderen europäischen Staaten, die alle die französische Lektion gelernt hatten: Sie mobilisierten ihre Völker nach dem gleichen Prinzip. Die Erziehung wurde zur .Nationalerziehung', die Kulturnation politisierte sich - mit erheblichen Nachwirkungen für das deutsche Nationalbewußtsein - gegen ein anderes Volk. Und bei Spaniern oder Russen war es nicht Riders: Napoleon hatte ihren Patriotismus, ja ihren Nationalismus entfacht wie kein zweiter".
Diese These, die in den Befreiungskriegen gegen Napoleon den Ursprung der „Deutschen Nation" und des „deutschen Nationalsbewusstseins" sah, bildete bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die gängigste Interpretation der Niederlage in Russland und ihrer politischen Folgen.40 Sie führte die um die Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals zu beobachtende Umdeutung des Russlandfiaskos in einen Sieg fort und wurde erst durch die Forschungen der jüngsten Zeit relativiert.
5. Entmythologisierung in den neuesten Forschungen Die Geburtsstunde der „deutschen Nation" und des „Nationalbewusstseins" wird seit rund zehn Jahren nicht mehr automatisch mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon angesetzt.41 Ohne den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Krieg und Nationsbildung in Frage zu stellen, misst man der Französischen Revolution nun nicht mehr die Bedeutung einer einschneidenden Zäsur bei. Stattdessen hebt man Kontinuitäten und
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Möller, Fürstenstaat, 636.
40
Weitere Belege bei Wolfgang Burgdorf, „Reichsnationalismus" gegen „Territorialnationalismus", Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation, Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum 1. Weltkrieg, München 2 0 0 0 , 1 5 7 - 1 8 9 , hier: 157f„ Anm. 3.
41
Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Horst Carl, Der Mythos des Befreiungskrieges, Die „martialische Nation" im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792-1825, in Langewiesche/Schmidt (Hg.), Föderative Nation, 63-82.
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Wandel des jeweiligen Nationalbewusstseins jetzt stärker hervor. 42 Bezogen auf Deutschland wird das Spannungsverhältnis zwischen zentralisierenden und föderativen, damals monarchisch-einzelstaatlich geprägten Nationsvorstellungen stärker betont. Preußen steht nun nicht mehr allein im Zentrum der Betrachtungen. Der Begriff des „föderativen Nationalismus", 43 den Dieter Langewiesche eingeführt hat, bringt dieses Spannungsverhältnis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Punkt. Besonders deutlich wird dies im Hinblick auf Süddeutschland. Wird schon für Preußen die angeblich vorherrschende nationale Aufbruchsstimmung in letzter Zeit in Frage gestellt,44 so gilt für die süddeutschen Staaten noch stärker, dass sie aufgrund ihres Bündnisses eine ganz eigene Entwicklung durchmachten: „Die in der Nationsforschung geläufige Auffassung, dass Nationalkriege die Integration entstehender Staaten vorantreiben, trifft für den deutschen Süden nicht zu." 45 Für den hier behandelten Krieg, der den Befreiungskriegen unmittelbar vorausging, legen die untersuchten Quellen den Schluss nahe, dass er für die Beförderung eines auf Deutschland bezogenen „Nationalbewusstseins" der bayerischen Soldaten keine entscheidende Rolle spielte. In den zeitgenössischen Kriegstagebüchern und Briefen tauchen weder die auf ein Gesamtdeutschland bezogenen Begriffe „Nation", „national" oder „Nationalstaat" noch die Begriffe „Deutschland" oder „deutsch" auch nur ein einziges Mal auf. Sie bestimmten den Sprachgebrauch bayerischer Soldaten um 1812 offensichtlich noch nicht. Die zeitgenössischen Quellen bieten daher keinen Anhaltspunkt für eine Umdeutung der militärischen Niederlage in Russland in einen nationalen Sieg. Dies ist auch daraus ersichtlich, dass die wenigsten Soldaten nach dem Ende dieses Feldzuges zu einer freiwilligen Kriegsteilnahme gegen die Franzosen bereit waren. Die in allen zeitgenössischen Zeugnissen durchgängigen Klagen der bayerischen Soldaten über die schlechte Versorgung und die desolate Situation mündeten in keinem 42
Eine Zusammenfassung der Deutungsgeschichte der Kriege von 1813-1815 bietet Karen Hagemann, „Mannlicher Muth und teutsche Ehre:" Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u. a. 2002, 45ff.
43
Dieter Langewiesche, Kulturelle Nationsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, Historische Essays, München 1996, 46-64, hier: 48.
44
Vgl. Carl, Der Mythos, 80f., Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus 17701840, Frankfurt a. M. 1998, 216ff, Bernd von Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg, Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809-1812, Göttingen 1987; Hagemann, Mannlicher Muth. Selbst in älteren Abhandlungen findet sich diese Relativierung bereits: Vgl. Rudolf Ibbeken, Preußen 1807-1813, Staat und Volk als Idee und Wirklichkeit, Köln/Berlin 1970. Ute Planert, Wessen Krieg? Welche Erfahrung? Oder: Wie national war der „Nationalkrieg" gegen Napoleon, in: Dietich Beyrau (Hg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001, 111-139, hier: 132; Planert, Leben mit dem Krieg, Baden, Württemberg und Bayern zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongreß, Habil. Tübingen 2003. 4 6
45
Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichstradition: Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Ders./Schmidt (Hg.), Föderative Nation, 215-244, hier: 219.
Von „ Thränen und Wehmut " zur Geburt des „ deutschen Nationalbewußtseins "
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Fall in Schuldzuweisungen an Napoleon oder „die Franzosen" als Verantwortliche des Unternehmens. Die Reflexionen gingen in den meisten Fällen über alltägliche Belange nicht hinaus. Die Tatsache, dass die Heimat Bayern für die Soldaten mit den wichtigsten Bezugspunkt darstellte, ist als Beleg dafür zu sehen, „daß sich der Prozeß der Nationsbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert auf zwei Ebenen vollzog", 46 nämlich auf einer gesamtdeutschen und einer einzelstaatlichen. Indem sich die bayerischen Soldaten während des Russlandfeldzugs ausschließlich auf ihr Territorium Bayern bezogen, wirkten sie zwar retrospektiv betrachtet an der Ausbildung der „föderativen Nation" Deutschland mit. 1812 spielte in ihrem Bewusstsein dabei jedoch nur der Einzelstaat eine entscheidende Rolle. Die Identifikation der Kriegsteilnehmer mit ihrer Heimat Bayern erwuchs nicht aus Reflexionen, die auf eine gesamtdeutsche Ebene hätten erweitert werden können. Die Loyalität mit der Heimat Bayern wurde durch Heimweh, Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht verstärkt. Nationalstaatliche Uberlegungen und Bestrebungen fehlen jedoch nicht nur deshalb in den Kriegstagebüchern und Briefen, weil der Kriegsalltag dafür zu strapaziös gewesen wäre. Ein gesamtdeutscher Nationalstaat war in der Vorstel lungs weit der bayerischen Soldaten noch nicht vorhanden. Er stellte kein Ziel dar. Dies gilt auch für die monarchische Spitze des Königreichs. König Max I. Joseph zögerte lange, ehe er sich zum Bruch mit dem verbündeten Frankreich entschloss. Die Motivation für den Übergang Bayerns zu den mittlerweile alliierten Kräften Russland, Österreich und Preußen, der mit dem Vertrag von Ried vom 8. Oktober 1813 vollzogen wurde, war für den König nicht durch nationaldeutsches Interesse bestimmt. Der Bruch mit Frankreich rührte in erster Linie aus dem Bestreben, den neu erworbenen Besitzstand des Königreichs Bayern wahren zu können. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die Interpretation des Russlandfeldzugs von 1812 war über zwei Jahrhunderte hinweg einem Wandel unterworfen. Die zunehmende Nationalisierung, die sich in Etappen vollzog, bereitete die Umdeutung der katastrophalen Niederlage in einen Sieg vor. Diesen Sieg sah man nicht auf der militärischen Ebene - das Scheitern der Grande Armée im Kampf gegen Russland wurde zu keiner Zeit geleugnet. Das entscheidende Ergebnis des Russlandfeldzugs wurde über lange Zeit hinweg in den politischen Folgen des Debakels gesehen. Das von Napoleon verursachte Fiasko, so die zum Teil bis heute gängige These, habe zu einer Besinnung aller teilnehmenden deutschen Einzelstaaten auf ihre deutsche Identität geführt. In der Folge hätten sie sich zusammengeschlossen, so dass aus dem Kampf gegen Napoleon, den „Befreiungskriegen", schließlich der deutsche Nationalstaat erwachsen konnte. Eine militärische Niederlage habe auf diese Weise einen nationalen Sieg ermöglicht. Erst in den Forschungen der letzten Jahre erfuhr diese Interpretation des Russlandfeldzugs von 1812 eine Entmythologisierung. Der Blick auf zeitgenössische Quellen hat gezeigt, dass für die Teilnehmer dieses Kriegs eine solche nationale Deutung des Feldzugs außerhalb ihres Vorstellungshorizonts lag. Für sie bedeutete die Teilnahme am Russlandfeldzug in jeglicher Hinsicht eine Niederlage - nicht erst nach der offiziellen Kapitulation Napo-
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leons, sondern praktisch vom ersten Tag an und selbst nach einzelnen Schlachten. Ihre Hauptsorge bestand im bloßen Überleben. In den während des Feldzugs entstandenen Ego-Dokumenten findet sich keine weiter reichende Reflexion. Nationale Deutungen dieses Kriegs sind hier nicht zu beobachten. Die Strapazen, die es Tag für Tag zu überstehen galt, scheinen sich nicht selten den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten entzogen zu haben. So jedenfalls fasste der Korporal Layrer das Elend in Russland zusammen: ,,[D]enn was ich schon habe ausstehen müssen, kann ich Dir nicht genugsam beschreiben". 47 Erst später verwandelten andere diese militärische Katastrophe in die Geburtsstunde der deutschen Nation.
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Layrer an seine Frau, Ol. 03. 1812, BHStA, KA, HS 704.
NIKOLAUS BUSCHMANN
Niederlage als retrospektiver Sieg? Die Entscheidung von 1866 aus Sicht der historischen Verlierer
1. „Bruderkrieg", „Einigungskrieg", „Sezessionskrieg": Einblicke in eine geschichtspolitische Kontroverse Anders als der „Westfälische Friede" oder „Versailles" hat das Stichwort „Königgrätz" keinen Eingang in den kürzlich von Etienne Francois und Hagen Schulze zusammengestellten Kanon deutscher „Erinnerungsorte" gefunden. 1 Dass der Waffengang von 1866 dennoch als eine Wendemarke der deutschen und europäischen Geschichte einzuschätzen ist, darüber sind sich die Historiker ohne Frage einig. 2 Die „säkulare Entscheidung in Mitteleuropa" (Hans-Ulrich Wehler) löste den Machtkonflikt zwischen den beiden deutschen Vormächten zugunsten Preußens und verabschiedete Österreich aus der gemeinsamen deutschen Geschichte, und damit auch den Dualismus als einen ihrer über mehr als ein Jahrhundert hinweg strukturbestimmenden Faktoren. Mit dem Prager Frieden war Deutschland „semantisch und staatsrechtlich zu einer Sache außerhalb Österreichs geworden". 3 Der Ausgang des vier Jahre später vom Zaun gebrochenen deutsch-französischen Krieges besiegelte die Gründung des kleindeutschen Staatsgebildes, indem sich die im Prager Vertragswerk noch als völkerrechtlich unabhängig deklarierten süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund anschlossen. Dem „Deutschen Reich", wie sich der erweiterte Bund nun nannte, blieben indes nahezu zehn Millionen deutschsprachiger Österreicher fern. Die beiden ehemaligen Vormächte des Deutschen Bundes sahen sich von nun an mit völlig unterschiedlichen Zukunftsperspektiven konfrontiert: hier der nach Hegemonie in Europa strebende kleindeutsche Nationalstaat
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Etienne Francois/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., 4. Aufl., München 2002. Zum Kriegsverlauf vgl. Gordon A. Craig, Königgrätz, 2. Aufl., München 1987. Die nationalpolitische Auseinandersetzung vor 1866 analysiert Helmut Rumpier (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815-1866, Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, München 1990. Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, Deutschland 1 8 1 5 - 1 8 6 6 , Berlin 1985, 471.
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unter preußischer Führung, dort das zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie mutierte „Laboratorium der Moderne" (Helmut Rumpier), das mit einer Vielzahl verfassungspolitischer Instrumente versuchte, den inneren Nationalitätenkämpfen Herr zu werden. 4 Aufgrund ihrer kleindeutschen Prägung neigte die deutsche Geschichtsschreibung lange dazu, den Krieg zwischen Österreich und Preußen in erster Linie aus der Perspektive der nationalpolitischen .Sieger' zu betrachten. Ob nun im Sinne einer kleindeutschen Erfolgsgeschichte oder einer modernisierungszugewandten Problemschau des deutschen Sonderweges: Die Entscheidung von 1866 bildete in dieser Lesart die logische Konsequenz einer langfristig auf den kleindeutschen Nationalstaat zulaufenden Entwicklung. 5 Diese Geschichtsdeutung kleidete den Mythos vom .deutschen Beruf Preußens, den die Häupter der borussischen Schule seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit wachsendem publizistischen Erfolg propagierten, in ein wissenschaftliches Gewand. Der österreichische Anteil an der deutschen Geschichte und die darin angelegten historischen Alternativen zum Bismarckreich gerieten so aus dem Blickfeld, ebenso wie das deutsche Erbe, das in der habsburgischen Doppelmonarchie fortwirkte. Im Zuge dessen wurde die Sichtweise der historischen .Verlierer' marginalisiert und das komplexe Deutungsgefüge der zeitgenössischen Wahrnehmung holzschnittartig auf den nationalpolitischen Gegensatz zwischen .kleindeutsch' und .großdeutsch' reduziert. Insofern wundert es nicht, dass zeitgenössisch umstrittene Deutungsformeln wie .Einigungskrieg' oder .Bruderkrieg' - ein Begriff, den tschechische Publizisten, deren böhmische Heimat unter dem Krieg besonders litt, als chauvinistische Provokation deutschtiimelnder Liberaler empfanden - in wissenschaftlichen Darstellungen selten einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Andere Bezeichnungen für den Krieg von 1866, wie der zumindest formal angebrachte Begriff .Sezessionskrieg', 6 sind in der Literatur hingegen nicht gängig, obwohl der Konflikt als ,Bundesexekution' gegen preußischen .Bundesbruch' begann und mit der Teilung der deutschen Nation endete. So ausführlich über die Folgen des preußischen Sieges bei Königgrätz nachgedacht wurde, so selten geriet die Verarbeitung der österreichischen Niederlage ins Blickfeld,
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Über widerstreitende Identitätskonzepte im Habsburgerreich informiert Andreas Moritsch (Hg.), Der Austroslawismus: ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas, Wien/KölnAVeimar 1996.
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Zur Kritik vgl. Dieter Langewiesche, Deutschland und Österreich: Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in: ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, 172-189 und Jürgen Mirow, Schwierigkeit und Möglichkeit einer deutschen Nationalgeschichte, in: MIÖG 99 (1991), 475-504. Über die konzeptionellen Kontroversen innerhalb der österreichischen Geschichtswissenschaft berichten Herwig Wolfram/Walter Pohl (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991 und Helmut Rumpler, ,Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, der noch lange nicht aus ist', Bismarcks Erfolgspolitik und das deutsch-österreichische Problem, in: MIÖG 101 (1993), 37-67.
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Diesen Begriff verwendet Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850-1870, Entscheidung über die Nation, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, 161-171.
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was auch für die mit der militärischen Entscheidung längst nicht abgeschlossenen Kontroversen der Zeitgenossen über die daraus resultierenden politischen Konsequenzen gilt.7 Um den historischen Erkenntnisgewinn, den Reinhart Koselleck den Besiegten im Q
Gegensatz zu den Siegern der Geschichte zuschreibt, für das skizzierte Thema erschließen zu können, bietet sich eine Analyse des öffentlichen Diskurses im Reichsgründungsjahrzehnt an, die neben Parteigängern des großdeutschen Lagers nördlich und südlich des Mains auch das weitgefächerte Meinungsspektrum innerhalb der Habsburgermonarchie berücksichtigt. Da sich die Frage nach der politischen Deutung und Verarbeitung von Siegen und Niederlagen erst vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Erwartungshorizontes angemessen beantworten lässt, ist zunächst zu klären, wer sich überhaupt dem Lager der Verlierer zurechnen lässt, welche politischen Ziele diese Gruppen vertraten und in welchem Verhältnis diese zur deutschen Frage standen. In diesem Zusammenhang soll auch danach gefragt werden, welche Hoffnungen sich auf den Waffengang von 1866 richteten, galt doch Krieg - allen humanitären Einwänden zum Trotz - im Geschichtsverständnis der Zeit als Vehikel des historischen Wandels, ja sogar des Fortschritts. Das Hauptinteresse dieses Beitrags jedoch gilt den öffentlichen Reaktionen auf die österreichische Niederlage sowie den Verarbeitungsstrategien und Umdeutungsprozessen, die im Zusammenhang mit dem deutsch-französischen Krieg und der Reichsgründung einsetzten. Welche Zukunftserwartungen kamen in der retrospektiven Betrachtung der Niederlage zum Ausdruck? Wie schlug sich die staatliche Trennung Deutschlands und Österreichs auf das Geschichtsverständnis der Betroffenen nieder? Und wie wirkten sich die veränderten Rahmenbedingungen auf die kursierenden - seien es regionale, nationale oder dynastische - Identitätskonzepte aus? Nachdem die deutsche Frage eine kleindeutsche Antwort erhalten hatte, wurden die tradierten Geschichtsbilder einer Revision unterzogen. In manchen Fällen - ablesbar etwa an der bayerischen Geschichtspolitik - entpuppte sich die Niederlage als retrospektiver Sieg. Anderswo führte die Zäsur von 1866 hingegen zu einer Zementierung des von der Wirklichkeit konterkarierten Weltbildes, eine Haltung, die zur Radikalopposition ermunterte und nicht selten in die politische Isolation führte. Zwischen diesen beiden Polen gab es eine Fülle weiterer Reaktionsformen, die in den folgenden Ausführungen exemplarisch dargelegt werden sollen.
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Vgl. dazu die methodologischen Überlegungen von Heinrich Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, Europäische Entscheidungen 1867-1871, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979, 13-54. Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methoden Wechsel, Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten, Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, 27-77, hier: 68.
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2. Die politische Vorstellungswelt der , Verlierer' von 1866 Im Vergleich zur protestantisch und liberaldemokratisch geprägten kleindeutschen Nationalbewegung, deren politisches Gravitationszentrum nördlich des Mains angesiedelt war, vereinte das gegnerische Lager - wenn man überhaupt von einem .Lager' sprechen will - eine äußerst heterogene Bandbreite an weltanschaulichen Orientierungen. Es umfasste neben den ohnehin schon von sehr unterschiedlichen Motiven bewegten Fürsprechern der großdeutschen Lösung, deren Anhänger sich vor allem im deutschsprachigen Österreich, in Süddeutschland und in katholischen Kreisen befanden, auch Vertreter der alten Ordnung wie etwa preußische Altkonservative vom Schlage der Gebrüder Gerlach sowie die österreichischen Konservativen. Die durch die österreichische Niederlage erzwungene nationalpolitische Weichenstellung führte in all diesen Gruppen zu einer politischen Neuorientierung, deren Ausrichtung von den jeweiligen Rahmenbedingungen und den damit verbundenen Handlungsspielräumen abhing. In den mit Österreich verbündeten Staaten des Deutschen Bundes lassen sich für die Nachkriegszeit zunächst zwei Entwicklungen ausmachen: Zum einen polarisierte sich das Verhältnis zwischen Anhängern und Gegnern der kleindeutschen Lösung. Bei entsprechender konfessioneller Konstellation wurde dieser Trend zusätzlich durch den Kulturkampf verstärkt. 9 Zum anderen jedoch sickerte der Nationalstaat allmählich in den lebensweltlichen Alltag und damit auch in das politische Bewusstsein der Bevölkerung ein, so dass er langfristig auch in jenen Milieus Akzeptanz fand, aus denen ursprünglich seine Gegner stammten. So gelang es beispielsweise nicht, die breite Oppositionsbewegung, die nach der Annexion durch Preußen in Hannover entstanden war, zu einer schlagkräftigen Organisation zu formen. Die Deutschhannoversche Partei, die aus ihr hervorging, entwickelte sich mit ihrem restaurativen Programm zu einer reinen Regionalpartei, die nach 1890 im Niedergang begriffen war. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte die Mehrheit der Bevölkerung die ein halbes Jahrhundert zuvor vollzogene Annexion längst akzeptiert. Einen politisch brisanten Gegenstand stellte sie nicht mehr dar. 10 Ein ähnliches Schicksal wie die weifische Bewegung erlitt die württembergische Volkspartei, die mit ihrem demokratischen Föderalismus und einer antipreußischen Sammlungspolitik zunächst große Erfolge feierte, zumal der Widerwille gegen die drohende preußische Vereinnahmung südlich des Mains groß war und der Prager Friedens-
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Vgl. etwa Christa Stäche, Bürgerlicher Liberalismus und katholischer Konservativismus in Bayern 1867-1871, Kulturkämpferische Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund von nationaler Einigung und wirtschaftlich-sozialem Wandel, Frankfurt a. M./Bern 1981. Hans-Georg Aschoff, Weifische Bewegung und politischer Katholizismus 1866-1918, Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreichs, Düsseldorf 1987, 330.
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vertrag die Gründung eines Südbundes immerhin in Aussicht stellte.11 Als sich während des deutsch-französischen Krieges die Entstehung des kleindeutschen Nationalstaates abzeichnete, kam in den Zeilen des demokratischen Parteiorgans keine Begeisterung zum Ausdruck. Die Einheit sei zwar ein hohes Gut, „aber der Güter höchstes ist sie nicht". 12 Die Landtagswahlen vom 5. Dezember 1870, die zugleich über den Beitritt Württembergs zum Norddeutschen Bund entschieden, endeten für die Volkspartei mit einer herben Niederlage. Ihre oppositionelle Haltung gegenüber dem kleindeutschen Nationalstaat behielt sie dennoch bei. Wenngleich selbst das württembergische Königshaus aus seiner Abneigung gegen die Hohenzollern keinen Hehl machte, war die Negationsstrategie der württembergischen Demokraten nach 1871 zum Scheitern verurteilt, da die Württemberger in der Folgezeit den neuen Nationalstaat verinnerlichen konnten, ohne lokale und regionale Traditionen aufgeben zu müssen. 13 In Bayern mit seiner katholischen Bevölkerungsmehrheit wiederum prallte die Reichsgründungsemphase auf den „im Unfehlbarkeitsdogma vollendeten römischen Zentralismus", wie Werner Blessing resümiert. 14 Vor allem staatliche Instanzen trugen dort zur Integration des Reichs bei, indem sie bayerische und deutsche Identitätskonzepte aufeinander bezogen. Das geschah insbesondere über die Bildungspolitik. Die meisten Schulbücher, die nach der Reichsgründung entstanden, blendeten Österreich aus der deutschen Geschichte aus, während Preußen nicht nur zum Heilsbringer Deutschlands, sondern auch Bayerns avancierte.15 Diese Vorstellung entsprach dem Weltbild des nationalliberalen Bürgertums, dessen Vertreter - wie der seit 1852 in München lehrende Justus Liebig - mit Preußens nicht zuletzt ein Fortschrittsversprechen verbanden. „Hier in Bayern regt sich nichts von Fortschritt oder Verbesserung", schrieb er im November 1866 seinem in Göttingen weilenden Freund und Kollegen Friedrich Wöhler, „und es mag wohl sein, dass es ein Glück für Hannover, Kurhessen und Nassau ist, einem großen und mächtigen Staate anzugehören. Wenn die preußischen Elemente mit denen der annectirten Staaten zusammen vergohren sein werden, so kann ein edler Stoff daraus werden." 16
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Vgl. dazu Dieter Langewiesche, Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung, Düsseldorf 1974. Beobachter, Nr. 282, 29. 11. 1870. Alón Confino, Konzepte von Heimat, Region, Nation und Staat in Württemberg von der Reichsgründungszeit bis zum Ersten Weltkrieg, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation, Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, 345-359.
14
Werner K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft, Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1982, 204.
15
Axel Gotthard, Ausland oder nationaler Leitstern? Preußen, Dualismus, .Drittes Deutschland' in bayerischen Schulbüchern des 19. Jahrhunderts, in: ZBLG 62 (1999), 481-521.
16
Justus Liebig an Friedrich Wöhler, 01. 11. 1866, in: Wöhler und Liebig, Briefe von 1829-1873, 2. Aufl., Göttingen 1982, 221.
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Neben bürgerlichen Demokraten und Teilen der Arbeiterbewegung waren es vor allem Katholiken, die sich dem kleindeutschen Nationalgedanken preußischer Machart entgegenstemmten. Nationalpolitisch orientierten sie sich am universalistischen Leitbild des Alten Reiches. „Als Bundesvolk", hatten die Historisch-politischen Blätter im Vormärz über die Deutschen geschrieben, „ist es die europäische Völkerfamilie im Kleinen, es wiederholt sie in sich, was nichts anderes heißt, als es einigt und vermittelt in sich das vielgliedrige Europa."17 Zwar drangen die nationale Semantik und die damit verknüpften Feindbilder und Machtstaatsphantasien nach 1848 auch in die katholische Publizistik ein, doch das Programm der kleindeutschen Nationalbewegung stieß dort durchgängig auf hartnäckige Ablehnung. Wer „die Ausstoßung Oesterreichs als eine 18
vollbrachte Thatsache" betrachtete, konnte sich massiver Kritik gewiss sein. Die katholische Antwort auf die deutsche Frage zielte auf eine föderative Ordnung Mitteleuropas. Als geeignetes Mittel für die Verwirklichung dieses Ziels drängte sich eine Reform des Deutschen Bundes auf, wie sie zuletzt der prachtvoll in Szene gesetzte und ebenso grandios gescheiterte Fürstentag von 1863 angestrebt hatte. Zwar begrüßte auch die württembergische Demokratie dieses Projekt als Schritt in die richtige Richtung, doch ohne „dynastisches Oel" und „ächt parlamentarischen Essig" erschien ihr der „dynastische Kopfsalat ungenießbar", wie der Beobachter verlauten ließ.19 Mit diesem Politikverständnis hatte die Mehrheit des deutschen Katholizismus jedoch nichts gemein, so dass die Distanz zum großdeutschen Flügel des liberaldemokratischen 20 Spektrums nicht überbrückt werden konnte. Zu den österreichischen .Verlierern' von 1866 zählten neben dem zivilen und militärischen Führungspersonal in der Hofburg und den Anhängern der großdeutschen Lösung auch nationale Minderheiten wie die Tschechen, zumal Böhmen besonders unter den Auswirkungen des Krieges zu leiden hatte. Die tschechische Presse erkannte in der deutschen Frage zu Recht ein Grundproblem für die politische und kulturelle Existenz der kleineren Völker. Den Deutschliberalen warf sie vor, die cisleithanische Reichshälfte germanisieren zu wollen, anstatt das ,Österreichbewusstein' innerhalb des Habsburgerreiches zu fördern. In den öffentlichen Debatten rückten die Nationalitätenkonflikte des Habsburgerreiches dementsprechend auch in Kriegszeiten immer wieder in den Vordergrund. Eine gemeinsame publizistische Front gegen den Feind aus dem Norden konnte so nicht zustande kommen. Während die deutschliberalen Zeitungen nach der österreichischen Niederlage über die nationalpolitischen Folgen des vermeintlichen Bruderkrieges räsonierten, verurteilte die Prager Zeitung Politik - ein Organ der tschechischen Liberalen - deren mit antislawischen Vorurteilen unterfütterte Kriegsberichterstattung in Bausch und Bogen. Die „eigenen Reichsgenossen", schrieb sie im Oktober 1866, hätten sich „an den Nachbarvölkern versündigt" und „ihre Demoralisation unter 17 18 19 20
Historisch-politische Blätter 7, 1841, 155. Historisch-politische Blätter 44, 1859, 273. Beobachter, Nr. 192, 19. 08. 1863. Historisch-politische Blätter 51, 1863, 963.
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erlogener Barbarei Anderer zu verstecken getrachtet". 21 Der Krieg gegen Preußen hatte die österreichischen Nationalitäten also keineswegs zu einer Abwehrgemeinschaft zusammengeschweißt, sondern die schwelenden Konflikte nur noch weiter angefacht. Die deutsche Frage war eben nur eines unter den vielen ungelösten nationalpolitischen Problemen, mit denen die Habsburgermonarchie konfrontiert war. Doch gerade diese Grundtatsache der eigenen Geschichte ignorierten die Deutschliberalen, wenn sie den Waffengang gegen Preußen zu einem .Bruderkrieg' stilisierten, ihn also als einen nationalen Binnenkonflikt begriffen statt als einen Abwehrkampf der österreichischen Völker gegen einen auswärtigen Feind. Diese Auffassung entsprach dem mit Nachdruck vertretenen geschichtspolitischen Anspruch, dass „unsere Kinder eine unver22
fälschte deutsch-nationale Geschichte" zu lernen hätten. Der Deutungskonflikt um den symbolischen Status des Krieges war damit vorprogrammiert. Die Vertreter der tschechischen Minderheit lehnten derartige Ambitionen verständlicherweise ab und präsentierten sich ihrerseits als Repräsentanten eines wahrhaft .österreichischen' Patriotismus, den sie dem nationalistisch verengten Weltbild des großdeutschen Lagers unter der Warnung entgegenhielten, dass die Österreicher ansonsten „ihr eigenes Vaterland vergessen könnten". 23 Das politische Programm der Deutschliberalen litt unter einem eklatanten Widerspruch, da der als deutsche ,Kulturmission' bemäntelte Hegemonieanspruch im Habsburgerreich - abgesehen davon, dass er den Widerstand der Betroffenen provozierte nicht mit den nationalpolitischen Ambitionen in Deutschland vereinbar war. Eine großdeutsche Lösung, die mehr war als eine mitteleuropäische Föderation, hätte über kurz oder lang die Zerschlagung des österreichischen Vielvölkerstaates bedeutet. Zu dieser Einsicht rangen sich die Deutschliberalen jedoch nicht durch. Die österreichischen Konservativen teilten die Kritik der tschechischen Minderheit an den Deutschliberalen, wenngleich aus anderen Gründen. Sie hatten in der neoabsolutistischen Phase nach 1848 zunächst auf eine Zukunft Österreichs als katholische Großmacht gehofft. Dieser Gedanke zielte auf mehr als nur die Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse. Gemeint als Kampfansage gegen den Josephinismus, verwies er auf eine Vergangenheit, in der die Kirche keiner staatlichen Kontrolle ausgesetzt war. Der restaurative „Traum zwischen Revolution und liberaler Ära" (Gottfried Mayer) mündete in einen langwierigen Konflikt um das 1855 zwischen der Kurie und dem österreichischen Kaiserstaat geschlossene Konkordat, der sich vor dem Hintergrund der militärischen Niederlagen von 1859 und 1866 zu einer politischen Zerreißprobe zwischen Liberalen und Konservativen auswuchs. 24
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Politik, Nr. 274, 05. 10. 1866. Neue Freie Presse, Nr. 579, 11. 04. 1866 (Abendausgabe). Politik, Nr. 176, 28. 06. 1866. Gottfried Mayer, Österreich als .katholische Großmacht', Ein Traum zwischen Revolution und liberaler Ära, Wien 1989; vgl. in diesem Zusammenhang auch Karl Vocelka, Verfassung oder
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Die konservativen VerfassungsVorstellungen tendierten - ähnlich wie die der tschechischen Opposition - zu einem föderalistischen Reichsaufbau unter dem gemeinsamen Dach der Monarchie. Zwar speiste sich diese Haltung weniger aus der Akzeptanz nationaler Autonomieansprüche als vielmehr aus der politischen Frontstellung gegen das Februarpatent und die zentralistische Politik der Ära Schmerling. Doch im Gegensatz zu den Deutschliberalen hatten die Konservativen keinerlei Ambitionen, die „deutsche Aufgabe Oesterreichs" nationalpolitisch zu überformen. 25 Die Deutschlandpolitik Habsburgs sollte vielmehr dazu dienen, gemeinsam mit Preußen „conservative Interessen zu wahren", und zwar gegen die innen- und außenpolitischen Sachwalter der Revolution. 26 Die nationalpolitischen Konzepte des großdeutschen Lagers stießen dementsprechend auf harsche Kritik, liefen sie doch darauf hinaus, „daß Oesterreich aufhöre eine Großmacht, ein selbständiger Staat zu sein, daß es allenfalls in Trümmern gehe, damit in der Paulskirche auf den Grundlagen des modernen Liberalismus ein einiges, großmächtiges Deutschland geschaffen werde." 27 Aus konservativer Sicht bildete nicht Deutschland, sondern Österreich die eigentliche Gestaltungsaufgabe der habsburgischen Politik. Gegenüber den großdeutschen Sehnsüchten der Liberalen galt es, die eigenständige Rolle Österreichs als europäische Großmacht herauszustellen. Angesichts der Gefahr, die der Nationalismus für den Bestand der Donaumonarchie darstellte, schien es zudem geboten, ein Identitätskonzept zu entwickeln, das der spezifischen Charakteristik des Vielvölkerreiches entsprach. Solche Versuche waren bereits während der neoabsolutistischen Phase unternommen worden, etwa durch den Schriftsteller und Bildungsreformer Joseph Alexander von Helfert, der 1853 das Programm einer österreichischen Nationalgeschichte formuliert hatte.28 Die Erfolglosigkeit derartiger Vorstöße vor Augen warfen die Konservativen der Wiener Regierung nach der militärischen Niederlage gegen Preußen denn auch vor, sie habe es versäumt, das „österreichische Bewußtsein" unter den Völkern der Habsburgermonarchie zu pflegen. 29
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Konkordat? Der publizistische und politische Kampf der österreichischen Liberalen um die Religionsgesetze des Jahres 1868, Wien 1978. Vaterland, Nr. 188, 19. 08. 1863. Vaterland, Nr. 213, 18. 09. 1863. Vaterland, Nr. 89, 19. 04. 1866. Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte, in: Walter Pohl/Herwig Wolfram (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, 3-27, hier: 7f. Das Vaterland, Nr. 203, 25. 08. 1866.
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3. Kriegsdeutungen Dem Waffengang zwischen Preußen und Österreich war ein zweijähriges Tauziehen um den Status Schleswigs, Holsteins und Lauenburgs vorausgegangen, das sich nach dem gemeinsam geführten Krieg gegen Dänemark rasch zu einer Systemkrise ausweitete, die den Deutschen Bund zugleich lähmte und polarisierte. Die politische Tiefendimension dieses Konflikts - der Dualismus der beiden deutschen Vormächte - lag seit langem offen zu Tage und war bereits kurz nach dem Scheitern der Paulskirche erneut zum Ausdruck gekommen. Der Streit um die preußische Unionspolitik im Herbst 1850 hatte genügend Potential für eine militärische Eskalation besessen und war erst durch die Intervention der europäischen Großmächte - insbesondere Russlands - entschärft worden. Ob die Beilegung des Konflikts von Dauer sein würde, schien damaligen Beobachtern ungewiss. „Der Kampf, zu dem die Deutschen jetzt die Schwerter wetzen", schrieben die Historisch-politischen Blätter, „konnte verschoben, aber nicht für immer abgewendet werden." 30 Das Fundament, auf der das nationale Gemeinschaftsethos der nachrevolutionären Gesellschaft aufbaute, war brüchig. Die Revolution hatte gesellschaftliche Fundamentalkonflikte ins öffentliche Bewusstsein gehoben, ohne dauerhafte Lösungen hervorzubringen. Das gilt auch für die Reaktionsphase, in der diese Konflikte lediglich konserviert wurden. Der Deutsche Bund spiegelte in den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Bestehens weniger die Gestaltungsmacht seiner Mitglieder als vielmehr den Abwehrkonsens der alten Eliten gegen die Bewegungsmächte der Moderne wider. Mit dem preußisch-französischen Handelsvertrag und dem Scheitern des habsburgischen Bundesreformprojekts auf dem Frankfurter Fürstentag verengten sich die nationalpolitischen Handlungsspielräume für eine friedliche Lösung der deutschen Frage in geradezu dramatischer Weise. Der Krieg gegen Dänemark schweißte Wien und Berlin zwar noch einmal zu einer Zweckgemeinschaft zusammen, schuf aber zugleich auch den Anlass für deren endgültige Entzweiung. Anders als der kleindeutschen Nationalbewegung, die den .Bruderkrieg' als einen zwar bedauernswerten, aber doch unvermeidbaren Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit interpretierte, gelang es ihren publizistischen Gegnern nicht, sich auf eine gemeinsame Deutung des Waffengangs von 1866 einzustimmen. Zwar griff mittlerweile selbst die konservative Presse nationalkriegerische Sprachbilder auf, wenn sie an die „heilige Sache des Vaterlandes" appellierte und dazu aufforderte, „bis zum letzten Mann und letzten Groschen" zu kämpfen. 31 Doch der Dissens mit den Deutschliberalen ließ sich auf diese Weise nicht aufheben. Deren Hoffnung, dass „das römische Reich deutscher Nation 1867 wieder aus dem Grabe auferstehen werde", erteilten die österrei-
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Historisch-politische Blätter 26, 1850, 522. Oestereichischer Volksfreund, Nr. 152, 05. 07. 1866
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chischen Konservativen eine klare Absage, galt ihr Augenmerk doch der innenpolitischen Stabilität des Vielvölkerstaates, den habsburgischen Besitztümern in Oberitalien und den verbliebenen Resten des Kirchenstaates. 33 Die Argumentation der tschechischen Autonomisten fiel zwar nicht deckungsgleich aus, zielte infolge ihrer föderalistischen Grundauffassung aber doch in eine ähnliche Richtung. „Eines möchten wir nun vorweg konstatiren", schrieb die Politik im April 1866, „es ist die Macht und die Stärke des österreichischen Staatsgedankens, die eben in der Stunde Oesterreichs bei den verschiedenen Völkern zum Ausdruck gelangt." So liefere „bei heranbrechender Gefahr von Außen die Haltung der Bevölkerung ein Bild, das einen grellen Kontrast abgibt gegen jenes, welches die Gegner Oesterreichs von der Lage der Dinge in diesem Staate sich ausmalen." 34 Wenngleich Preußen als Aggressor verurteilt wurde, galten die beiden nationalpolitischen Lager, die in der deutschen Frage miteinander rivalisierten, gleichermaßen als Urheber des Krieges, so dass der Bannstrahl der Politik ebenso das „feudale Deutschthum in Berlin" wie das „centralisirende Germanenthum in Wien" traf. 35 Der Nationalkriegsrhetorik des großdeutschen Lagers setzten die tschechischen Autonomisten ein transnationales Identitätskonzept entgegen: Österreich als Vaterland der Völker. Die Begeisterung, mit der einige Wiener Zeitungen das Hissen der deutschen Fahnen auf dem Frankfurter Bundespalast kommentierten, dokumentierte in dieser Sichtweise einen Mangel an Patriotismus: „Unser österreichisches Herz empört sich über die Abgötterei, mit welcher sofort österreichische Zeitungen sich vor dieser schwarz-roth-goldenen Fahne niederwerfen." 3 6 Die habsburgische Armee hatte schließlich „unter der schwarz-gelben Fahne gekämpft und geblutet, [...] 37
um zunächst das österreichische Vaterland zu vertheidigen". Anders als den tschechischen Autonomisten bereitete es der konservativen Wiener Presse keine Probleme, sich der Bruderkriegssemantik zu bedienen. Sie war jedoch weit davon entfernt, die Einheit der deutschen Nation zu beschwören, und geißelte stattdes38 sen die „nationale Ueberhebung" der Völker. Aus ihrer Sicht bildeten Monarchie und Kirche sowie die Vorstellung, dass die Völker des Habsburgerreichs durch die Bande einer gemeinsamen Geschichte zusammengehalten wurden, die zentralen Momente des österreichischen Bewusstseins. Die Überzeugung, dass „die Völker Oesterreichs trotz jenem Gegensatze der Meinungen einig sind, wenn es gilt, dem Rufe des angestammten Monarchen zu folgen zur Vertheidigung des gemeinsamen Vaterlandes", 39 hatte mit den
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Vaterland, Nr. 118, 25. 05. 1866. Oesterreichischer Volksfreund, Nr. 165, 20. 07. 1866. Politik, Nr. 106, 18. 04. 1866.
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Politik, Nr, 92, 04. 04. 1866.
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Politik, Nr. 176, 28. 06. 1866. Ebd. Vaterland, Nr. 75, 0 1 . 0 1 . 1 8 6 6 . Vaterland, Nr. 105, 08. 05. 1866.
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nationalkriegerischen Schwärmereien der österreichischen Deutschliberalen nichts gemein. Eingefasst in ein Weltbild, das noch von der Wiener Ordnung und der Heiligen Allianz der christlichen Monarchien gegen die Revolution geprägt war, fiel das Urteil der konservativen Presse über den preußischen Kriegsgegner durchaus differenziert aus. Demnach richtete sich der bevorstehende Waffengang nicht gegen den preußischen Staat, sondern gegen das Übel, das die norddeutsche Bundesmacht vom rechten Weg abgebracht zu haben schien: das friderizianische Erbe. „Was schlecht ist in Preußen", schrieb das Vaterland im Mai 1866, „zunächst den wiedererstandenen bösen Geist Friedrichs II., haben wir zu bekämpfen, nicht die Existenz Preußens, dessen Verschwinden die trostlose Verwirrung in Deutschland und Europa nur noch vermehren würde, und wahrlich nicht zum Vortheile Oesterreichs." 40 Überdies konzentrierte sich die konservative Publizistik darauf, die antikatholischen Spitzen aus dem kleindeutschen Lager als politische Propaganda zu entlarven. Der Versuch, dem Konflikt ein konfessionelles Gepräge zu verleihen, galt als ein Verstoß gegen die politische Moral, der „ausgiebige Sühne" verdiente.41 Ähnliche Einschätzungen kursierten im großdeutschen Lager, wo das Urteil über Preußen noch härter ausfiel. „Im Gefolge des Kriegs naht die Rohheit, der Blutdurst, die Herrschsucht, der Ehrgeiz, die blinde Gier, die entmenschte Wollust", charakterisierte die Augsburger Allgemeine Zeitung den „neupreußischen" Chauvinismus der Kreuzzeitungspartei. 42 Der württembergische Beobachter, der unter dem Motto „Weder mit Oestreich, noch mit Preußen, nur mit der Freiheit" 43 zunächst eine verzweifelte Alternative zu den vorherrschenden nationalpolitischen Optionen formuliert hatte, geißelte ebenfalls die „Vergewaltigungspolitik" 44 Bismarcks und schlug sich bald darauf auf die österreichische Seite.45 Lief die Argumentation der kleindeutschen Publizistik darauf hinaus, die Zuständigkeit des habsburgischen Vielvölkerstaates für die nationalen Belange der Deutschen infrage zu stellen, bemühte sich die gegnerische Seite darum, das preußische Vorgehen als Ausdruck einer ,partikularistischen' Gesinnung zu entlarven. Schließlich war Österreich nicht auf sich allein gestellt, sondern wusste die Mehrheit der deutschen Bundesstaaten im Kampf gegen das „Großpreußenthum" hinter sich.46 Angesichts des preußisch-italienischen Angriffspakts lag es nahe, der Berliner Regierung einen „mit dem Ausland verbündeten Bundesbruch" 47 - und damit Verrat an der Nation - vorzuwerfen.
40 41 42 43 44 45 46 47
Vaterland, Nr. 104, 06. 05. 1866. Vaterland, Nr. 143, 24. 06. 1866. (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Nr. 171, 20. 06. 1866 (Beilage). Beobachter, Nr. 108, 12. 05. 1866. Beobachter, Nr. 130, 08. 06. 1866. Beobachter, Nr. 149, 30. 06. 1866. Neue Freie Presse, Nr. 652, 24. 06. 1866. (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Nr. 184, 03. 07. 1866 (Beilage).
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Dennoch hielt die großdeutsche Presse die Option für eine gemeinsame nationale Zukunft lange offen, äußerte sich in dem Konflikt doch „nichts Anderes, als der nationale Trieb nach Vereinigung der zerrissenen Theile des großen Vaterlandes, der Drang, das Oesterreicherthum und Preußenthum in einem höheren Dritten, im Deutschthum, aufgehen zu machen". 4 8
4. Reaktionen auf die militärische Niederlage und den Prager Friedensschluss Die unmittelbaren Reaktionen auf die schlechten Nachrichten vom böhmischen Kriegsschauplatz oszillierten zwischen Fassungslosigkeit und Aufbegehren. Die Niederlage der österreichischen Nordarmee kam für die Öffentlichkeit völlig unerwartet. Wenige Tage zuvor hatten Telegramme aus Pardubitz - einem Eisenbahnknotenpunkt südlich von Königgrätz - noch von österreichischen Waffenerfolgen berichtet, die sich nun als Gerüchte entpuppten. 49 Dennoch schien es zunächst nicht so, als sei der Krieg durch diese eine verlorene Schlacht bereits entschieden. Liberale Zeitungen berichteten, in weiten Bevölkerungskreisen herrsche der Wille vor, den Krieg mit äußersten Mitteln fortzusetzen. 50 Erzbischof Joseph Othmar von Rauscher rief die Wiener sogar zum Volkskrieg auf und ließ - die preußische Invasion bereits vor Augen - verkünden, nun gebe es „keine Parteien mehr, sondern nur Oesterreich". 51 Die Öffentlichkeit stellte sich auf die Verteidigung der Grenzen ein und richtete ihre Hoffnung auf die aus Oberitalien abgezogene Südarmee. Der österreichische Ministerrat sprach sich derweil zwar für die Anwerbung von 10 000 Wiener Kriegsfreiwilligen aus, doch zielte diese Maßnahme in erster Linie auf 52
die „Erhebung der ganz gedrückten Stimmung" in der Hauptstadt. Die Aussicht auf einen relativ milden Frieden hatte die Fortsetzung des Krieges aus Sicht der Regierung fragwürdig gemacht. Der mit der Aufnahme der Waffenstillstandsverhandlungen bekundete Verzicht auf einen militärischen Gegenschlag stieß in der deutschliberalen Presse dennoch auf Unverständnis. „In diesem furchtbaren Augenblicke", schrieb die Ostdeutsche Post, „wo die Bevölkerung in Stadt und Land der Ermuthigung, der Aufstachelung, des begeisternden Beispiels der Regierung bedarf, um inmitten der Gefahren, welche sie umgeben, den Kopf hoch zu halten,
48 49
50 51 52
Neue Freie Presse Nr. 575, 07. 04. 1866. Vgl. dazu Richard Georg Plaschka, Zwei Niederlagen um Königgrätz, in: MIÖG 74 (1966), 393420, hier: 405-407. Neue Freie Presse, Nr. 663, 05. 07. 1866. Oestereichischer Volksfreund, Nr. 153, 06. 07. 1866. Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, VI. Abteilung, Bd. 2, Wien 1973, 155 (04. 07.1866).
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männlich und aufopferungsvoll der Prüfung entgegen zu gehen - in diesem Moment besteht thatsächlich fast gar kein Zusammenhang zwischen der Regierung und dem Volke als der des allergewöhnlichsten amtlichen Schlendrians innerhalb des immer enger und enger werdenden Geschäftskreises."53
Selbst im konservativen Spektrum warf man der Regierung vor, die Bevölkerung nicht hinreichend in die Kriegführung eingebunden zu haben. „Mehr als vielleicht nöthig und förderlich", so der Oesterreichische Volksfreund, „hat man bisher vermieden, demselben den Charakter eines Volkskrieges zu geben, den er bei der herrschenden Stimmung bald haben würde."54 In der Tat hielten die politisch Verantwortlichen die mit einer Mobilisierung des Landsturms verbundenen Risiken für größer als den zu erwartenden Verteidigungsbeitrag. So sprach sich der Ministerrat, noch bevor die Waffenstillstandsbedingungen feststanden, gegen eine allgemeine Volksbewaffnung aus, „da ein unorganisierter Landsturm gegen reguläre Truppen unbrauchbar sei [und] eine Volksbewaffnung in Wien insbesondere die besitzenden Klassen der höchsten Gefahr aussetzen würde."55 Die Forschung hat verschiedene Gründe für den erstaunlich raschen Entschluss der Habsburger Staatsspitze angeführt, sich nach nur einer verlorenen Schlacht aus Deutschland zurückzuziehen. Die in einem Schreiben an seine Frau Elisabeth bekundete Enttäuschung Franz Josephs über seine deutschen Bundesgenossen wird dabei sicherlich weniger den Ausschlag gegeben haben als die Aussicht auf einen Frieden ohne Territorialverlust. Warum sich die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage scheinbar wie selbstverständlich gegen eine föderative Ordnung Mitteleuropas durchsetzte, lässt sich mit diesen Hinweisen jedoch nicht hinreichend erklären, zumal erst die Erosion der Wiener Ordnung die beiden deutschen Vormächte in die Lage versetzte, den Deutschen Bund aufzulösen, ohne die Bundesversammlung, die jeweiligen Alliierten oder die europäischen Mächte in diese Entscheidung einzubeziehen. Michael Derndarsky verweist in diesem Zusammenhang auf die strategischen Mängel der österreichischen Politik gegenüber dem Deutschen Bund, insbesondere auf den Schlingerkurs zwischen Preußen und dem Dritten Deutschland sowie das Fehlen eines effektiven Reformkonzepts.56 Dass Preußen den Zollverein zu einem machtpolitischen Instrument gegen den österreichischen Rivalen umfunktionieren konnte, wird man nicht ausschließlich auf die Wirtschaftsinteressen seiner Mitglieder zurückführen können, sondern ebenso auf das für die Staaten des Dritten Deutschland irritierende Streben Habsburgs nach Ausgleich mit der norddeutschen Bundesmacht. Gleiches gilt für den Deutschen Bund, der im Zuge des Krieges gegen Dänemark von den beiden deutschen 53 54 55 56
Ostdeutsche Post, Nr. 194, 17. 07. 1866. Oesterreichischer Volksfreund, Nr. 162, 17. 07. 1866. Protokolle des österreichischen Ministerrates, 162 (09. 07. 1866). Michael Derndarsky, Habsburg zwischen Preußen und Deutschland, Österreichs politisches und wirtschaftliches Interesse am Deutschen Bund, in: Rumpier (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage, 292-313.
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Vormächten faktisch gesprengt wurde. Allerdings mangelte es auch den deutschen Mittelstaaten an Geschlossenheit, um sich gegenüber Österreich und Preußen als Gestaltungsmacht zu profilieren. 57 Wenngleich die politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Nationsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts eine kleindeutsche Lösung begünstigten, handelte es sich 58
dabei keineswegs um die einzige zukunftsfähige Option. Letztlich war es Osterreich selbst, das nach 1848 auf die Verwirklichung der von Bruck und Schwarzenberg entworfenen Mitteleuropakonzepte verzichtete, da die Staatsführung befürchtete, sonst den Nationalismus der slawischen Völker zusätzlich zu entfachen. 59 Der Spagat zwischen dem zunehmenden Handlungsdruck in der deutschen Frage einerseits und den Stabilitätsanforderungen des habsburgischen Vielvölkerstaates andererseits begünstigte eine Politik des Lavierens und Abwartens. So stieß schließlich auch das österreichische Reformprogramm auf dem Frankfurter Fürstentag nicht nur auf den Widerstand Bismarcks, sondern auch jener Kräfte, die wie Österreichs Außenminister Rechberg den direkten Ausgleich mit Preußen suchten. Der Schlingerkurs der habsburgischen Deutschlandpolitik ließ sich weder den Verbündeten innerhalb des Deutschen Bundes noch der Öffentlichkeit vermitteln, doch war er letztlich Ausdruck der durch Sachzwänge, Staatskrisen und innenpolitische Antagonismen begrenzten Handlungsspielräume. Der erzwungene Rückzug aus Deutschland enthielt insofern die Chance, das Habsburgerreich nach innen zu konsolidieren, um dann auch wieder außenpolitisch als ebenbürtige Großmacht auftreten zu können. 60 Schließlich stand zu diesem Zeitpunkt keineswegs fest, dass der Norddeutsche Bund über den Beitritt der süddeutschen Staaten zu einem kleindeutschen Nationalstaat ausgebaut werden sollte. In ihrem steten Bemühen, die „kleindeutsche Lüge" anzuprangern, interpretierten die Deutschliberalen den Ausschluss Österreichs aus Deutschland denn auch als einen vorübergehenden Zustand, der schon aus Gründen der militärischen Sicherheit nicht tragbar war. 61 Die jüngste Entwicklung erscheine dem wahren Wesen der Nation fremd und sei „gegen ihren ausgesprochenen Wunsch verwirklicht" worden, wie die Neue Freie Presse festhielt. 62 Der „katholische Oesterreicher", schrieben die Kölnischen Blätter über die Situation im Habsburgerreich, befinde sich in derselben Lage wie der „deutsche Oesterreicher": Der eine müsse seine Religion, der andere seine Nationalität „leugnen, um etwas zu gelten". 63 Solche Einschätzungen bildeten freilich weniger die realen politischen Kräfteverhältnisse ab als vielmehr das erschütterte Selbstbild des 57
Peter Burg, Die Triaspolitik im Deutschen Bund, Das Problem einer partnerschaftlichen Mitwirkung und eigenständigen Entwicklung des Dritten Deutschland, in: Rumpier (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage, 136-161.
58
Vgl. dazu Langewiesche, Deutschland und Österreich. So argumentiert Rumpier, Kampf, 49. Ebd., 60f. Neue Freie Presse, Nr. 957, Ol. 05. 1867. Neue Freie Presse, Nr. 706, 17. 08. 1866. Kölnische Blätter, Nr. 1, 01. 01. 1867.
59 60 61 62 63
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großdeutschen Lagers. Denn die als Ausdruck einer politischen Fundamentalkrise gedeutete Niederlage leitete zugleich den Beginn einer konstitutionellen Ära ein, in deren Verlauf sich der Liberalismus als „regierende Partei in Cisleithanien" (Helmut Rumpier) etablierte. Ihr Selbstverständnis als Verfassungspartei war für die Deutschliberalen untrennbar mit dem Anspruch auf politische und kulturelle Vorherrschaft der Deutschen innerhalb der Habsburgermonarchie verbunden. Endlich schien das Deutschtum „befähigt, ein maßgebender Factor zu werden in unserer politischen Entwicklung", wie die Neue Freie Presse im Januar 1870 schrieb. 64 Hier artikulierte sich ein äußerst prekäres Selbstbewusstsein, das sich aus nationalen Machtphantasien ebenso wie aus antislawischen Drohbildern und Minderwertigkeitskomplexen speiste. Nachdem die politischen Bande zur deutschen Nation gekappt waren, lenkten die Deutschliberalen ihre Zukunftshoffnungen zunehmend in völkische Bahnen. Die politische Auseinandersetzung mit den übrigen Nationalitäten der Habsburgermonarchie glich aus ihrer Perspektive einem Existenzkampf, der den Lesern in einer martialisch aufgeladenen Sprache vermittelt wurde. 65 Aus tschechischer Sicht wiederum stellte die militärische Niederlage von 1866 die Weichen für eine weitere Niederlage auf dem Feld der Nationalitätenpolitik. 66 Nach dem Ausgleich mit Ungarn wurde Österreich mehr denn je Brennpunkt der mitteleuropäischen Nationalitätenkonflikte. Die Trennung des Reiches in eine ungarische und eine österreichische Hälfte löste bei den kleineren Völkern Marginalisierungsängste aus. Da die slawischen Minderheiten nicht zu Unrecht befürchteten, die Gründung der Doppelmonarchie werde die „Westländer der Monarchie dem Pangermanismus in den Rachen" führen, 67 verschärfte sich auch hier der Ton der politischen Debatte. Die Integrationsformel vom „Oesterreicherthum" 68 konnte unter diesen Umständen wenig Glaubwürdigkeit entwickeln. In Deutschland erfolgte die Verarbeitung der Niederlage unter völlig anderen Rahmenbedingungen als im österreichischen Vielvölkerstaat. Die süddeutschen Staaten waren durch militärische Beistandsverträge an Preußen gebunden, was deren politische Zukunft zwar nicht präjudizielle, aber doch in gewisse Bahnen lenkte. Zwar begegnete man dem kleindeutschen Nationalstaatsprojekt südlich des Mains, in katholischen Kreisen sowie im (sozial)demokratischen Spektrum nach wie vor mit Skepsis oder gar Ablehnung. In demokratischen Kreisen galt die Reformpolitik der Wiener Regierung zu diesem Zeitpunkt als zukunftsträchtiger als die Situation in Preußen, wo sich Bismarck endgültig gegen seine Gegner durchgesetzt hatte. Doch der von Vertretern der Arbei64
Neue Freie Presse, Nr. 1919, 01. 01. 1870 (Morgenausgabe).
65
Vgl. dazu auch Markus Erwin Haider, Politische Sprache und ,österreichische' Nation von 1866 bis 1938, Diss. Salzburg 1994, 55-58.
66
Plaschka, Zwei Niederlagen um Königgrätz, 420. Politik, Nr. 185, 04. 10. 1867. Ebd.
67 68
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terbewegung und der Volkspartei ins Auge gefasste Südbund mit Wien als Zentrum ließ sich im eigenen Lager nicht durchsetzen, geschweige denn gegen die politischen Eliten in den süddeutschen Staaten und der Habsburgermonarchie.69 Im deutschen Südwesten profilierte sich vor allem der demokratische Beobachter als Sprachrohr der Opposition gegen Preußen. Für das Organ der württembergischen Volkspartei stand fest: „Schwaben wird niemals Männer in ein deutsches Parlament senden, das außer den übrigen Deutschen nur Preußen, und nicht auch Oestreicher enthält."70 Der Blick der demokratischen Föderalisten blieb auch in der Folgezeit fest auf Österreich gerichtet. In den deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie glaubten sie den Aufstieg einer nationalen Bewegung zu erkennen, „die allmählich eine Stadt nach der anderen zu nationaler Kundgebung treibt".71 Die politische Zukunft der deutschen Nation galt auch vier Jahre nach Königgrätz keineswegs als entschieden. Die deutschnationalen Kundgebungen in Graz, Linz, Salzburg und Wien anlässlich des 100. Geburtstags von Ernst Moritz Arndt deutete der Beobachter denn auch als ein „freudiges Memento gegen den frechen Versuch der Zollerei, des Vaterlandes Grenzen setzen zu wollen nach der Möglichkeit ihrer Herrschaft! Kann sie die Ausdehnung des Vaterlandes, wie die Natur und das Nationalgefühl sie bestimmt, nicht ertragen, soll sie 72
gehen, die Zollerei - trotz 1866!" Die Deutungsmuster der geographia naturalis unterstrichen die hier zum Ausdruck kommende Vorstellung vom überzeitlichen Charakter des Nationalen. Politische oder militärische Entscheidungen, lautete die Botschaft, konnten den natürlichen Gang der nationalen Aufwärtsentwicklung nicht dauerhaft beeinflussen. Neben den kämpferischen Parolen der antipreußischen Fundamentalopposition ließen sich im großdeutschen Lager jedoch auch pessimistische Töne vernehmen, die von außenpolitischen Bedrohungsängsten zeugten und den angespannten Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten Rechnung trugen. Noch vor dem Präliminarfrieden von Nikolsburg hatte die liberale Augsburger Allgemeine Zeitung die kursierenden Ängste in eine bange Frage gefasst: „Aber werden wir mächtig seyn und dem Ausland gewachsen ohne Oesterreich, und mit dem Stachel des Zorns im Herzen gegen die erlittene Vergewaltigung?"73 In den Wochen nach Königgrätz jagte die wohl bedeutendste süddeutsche Tageszeitung noch einmal unterschiedliche großdeutsche Ordnungskonzepte durch ihre Spalten, die sich mitunter auch auf die Schweiz, Holland und Belgien bezogen.74 Nach der Auflösung des Deutschen Bundes verstummten deren 69
Vgl. dazu Hans-Thorald Michaelis, Das III. Deutsche Bundesschießen 1868 in Wien als politischhistorisches Phänomen, in: MIÖG 104 (1996), S. 58-95.
70
Beobachter, Nr. 166, 2 0 . 0 7 . 1866. Vgl. dazu auch Nikolaus Buschmann, „Für Deutschland Gut und Blut", Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in der Reichsgründungsphase - Württemberg im Vergleich, in: ZWLG 62 (2003), 345-357. Beobachter, Nr. 2, 04. 01. 1870. Ebd.
71 72 73 74
(Augsburger) Allgemeine Zeitung, Nr. 204, 23. 07. 1866 (Beilage). (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Nr. 272, 29. 09. 1866 (Beilage).
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Fürsprecher jedoch zunehmend. Mit ihm sei „aller rechtlicher Halt verschwunden, und das ganze europäische System auf die Spitze der Bajonette gestellt". Welche Ordnung aus den Kriegen der Zukunft hervorgehen werde, schien zunächst ebenso ungewiss wie die Antwort auf die Frage, „wer dabei als Sieger auf dem Platze bleiben wird". 75 Für die in München publizierten Historisch-politischen Blätter, die zu den einflussreichsten katholischen Zeitschriften zählten, stand die deutsche Nation vor der unerfreulichen Alternative, zukünftig entweder preußischer oder ausländischer Unterjochung ausgeliefert zu sein.76 Ein Blick über den Rhein schien zu bestätigen, dass der Bestand der süddeutschen Staaten an einem seidenen Faden hing. Vor allem während der Luxemburgkrise gelangten viele zeitgenössische Beobachter zu der Einsicht, dass die Grenze zu Frankreich nicht mehr sicher sei. Unter den gegebenen Umständen schien der Anschluss Süddeutschlands an den Norddeutschen Bund insofern eine naheliegende Zukunftsoption zu sein, so zumindest argumentierte der Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteier in seiner 1867 publizierten Schrift Deutschland nach dem Kriege von 1866.77 Diese von Historikern gern als Beleg für die nationale .Integrationsbereitschaft' der deutschen Katholiken herangezogene Stellungnahme darf jedoch nicht verallgemeinert werden. Im süddeutschen Katholizismus wurden die Erläuterungen Kettelers keineswegs als Plädoyer für die Gründung eines kleindeutschen Nationalstaates verstanden, wie das Deutsche Volksblatt in einer Auseinandersetzung mit einem ihrer Lieblingsgegner, dem liberalen Schwäbischen Merkur, betonte: „In seiner alten Perfidie hebt der Merk[ur] aus der Schrift des Bischofs nur die Stellen hervor, welche einen Anschluß der Südstaaten an den Nordbund befürworten. Er verschweigt in unredlicher Parteisucht, daß der Bischof zugleich eine Verständigung mit Oesterreich verlangt, wenn Deutschland sich nicht der Gefahr neuer Kriege, neuen Unheils aussetzen will." 78
Wie sich das Verhältnis zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten gestalten würde, darüber herrschte im großdeutschen Lager ebenso wenig Einigkeit wie über die zukünftige Rolle der Habsburgermonarchie. Erst der deutsch-französische Krieg löste einen Loyalitätseffekt aus, der die kleindeutsche Lösung auch für viele ihrer ehemaligen Gegner zu einem nationalen Zukunftsversprechen werden ließ.
75 76 77 78
(Augsburger) Allgemeine Zeitung, Nr. 287, 14. 10. 1866 (Beilage). Historisch-politische Blätter 59, 1867, 196-211. Wilhelm Emanuel Ketteier, Deutschland nach dem Kriege von 1866, Mainz 1867. Deutsches Volksblatt, Nr. 60, 12. 03. 1867.
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5. Vom Bruderkrieg' zum »Brudervolk' Die Einsicht, dass „Jahrhunderte lang Wien der politische Mittelpunkt Deutschlands war",79 verlor nach dem Prager Friedensschluss an nationalpolitischer Relevanz, übte aber weiterhin eine identitätsstiftende Orientierungsfunktion aus. Das zeigte sich vor allem während des deutsch-französischen Krieges. Wie die deutsche Öffentlichkeit insgesamt deutete auch die großdeutsche Presse den Waffengang als einen nationalen Gemeinschaftsakt, allerdings ohne Osterreich auszuklammern. Der Erfolg über den französischen „Erbfeind", von der Neuen Freien Presse enthusiastisch gefeiert als 80
„Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit", relativierte den „Bruderzwist" von 1866. Schon während der Luxemburgkrise hatte das deutschliberale Presseorgan betont, dass „es gerade nicht die schlechtesten Österreicher sind, welche trotz Königgrätz und Nikolsburg die Bande, die uns 81über ein Jahrtausend an Deutschland geknüpft, nicht so leichtfertig vergessen können". Dieses Bekenntnis erhielt 1870/71 neuen Auftrieb. Der populäre Topos vom „Kampf 82
zwischen Germanenthum und Romanenthum" war einem Nationsverständnis geschuldet, das die völkischen Bande der Deutschen als einer Abstammungsgemeinschaft beschwor, ohne die politischen Folgen der Niederlage von 1866 zu leugnen. Zudem diente der militärische Triumph über Frankreich den Deutschliberalen als Legitimationsgrundlage für die „deutsche Kulturmission im Osten". Unter dem „unmittelbaren Eindrucke der Tage von Saarbrücken, Wörth und Metz" kam es der Neuen Freien Presse denn auch völlig abwegig vor, „Ausgleich mit allerlei Volksstämmen zu machen, denen 83 jede Fähigkeit, ein politisches Sonderwesen zu bilden, abgeht". Während die deutsche Nation sich im Westen gegen das Romanentum verteidigte, musste sie sich im Osten gegen das Slawentum behaupten, so zumindest stellte sich die Lage der Nation für Beobachter aus dem großdeutschen Lager dar. Die zwischen Slawen und Romanen eingekeilten Germanen benötigten neben einer konsolidierten West- eben auch eine sichere Ostgrenze, „mögen auch Bruchtheile des Slawenthums im Westen dieser Grenze zertreten werden", wie ein demokratisches Blatt freimütig bekannte.84 Die tschechischen Autonomisten reagierten postwendend auf die aggressiven Vorstöße der großdeutschen Presse und verurteilten deren deutsch-österreichische „Allianzträume"85 ebenso wie den „Ruf der deutschen Kulturmission".86 Weit davon entfernt, die „Lehren des Jahres 1866 und 1867 fruchtlos an uns vorübergehen zu 79 80 81 82 83 84 85 86
Deutsches Volksblatt, Nr. 16, 20. 01. 1866. Neue Freie Presse, Nr. 2280, 01. 01. 1871 (Morgenausgabe). Neue Freie Presse, Nr. 943, 16. 04. 1867. Neue Freie Presse, Nr. 2113, 17. 07. 1870 (Morgenausgabe). Neue Freie Presse, Nr. 2148, 21. 08. 1870 (Morgenausgabe). Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 261, 20. 09. 1870 (Zweite Ausgabe). Politik, Nr. 8, 08. 01. 1871. Politik, Nr. 168, 21. 06. 1870.
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lassen", beharrten sie während des deutsch-französischen Krieges auf einer strikten Neutralitätspolitik Habsburgs. Zudem versäumten sie es nicht, die nationalen Gemeinschaftssehnsüchte der deutschliberalen Presse zu einer Verbrüderung der Verlierer mit den Siegern von 1866 zu stilisieren - und damit zu einem Loyalitätskonflikt mit dem habsburgischen Staat: „Von dem Tage, an welchem der Prager Frieden unterzeichnet worden, datirt neuerdings das österreichische Gelüste nach Rache an Preußen. Wie hängt damit der Umstand zusammen, daß auf den österreichisch-deutschen Opferherden die Flamme des preußisch-deutschen Patriotismus so gewaltig lodert, daß bereits amtliche Feuerspritzen mit der Löschung und Dämpfung derselben beschäftigt sind?"88
Das Österreichbild des ehemaligen großdeutschen Lagers wurde durch die Kontroversen zwischen Deutschliberalen und tschechischen Autonomisten nicht getrübt. Zu sehr bestimmten die eingeschliffenen nationalpolitischen Deutungsmuster die Wahrnehmung von Geschichte und Gegenwart. So richteten die katholischen Beobachter des Deutschen Volksblattes ihren Blick an der nationalen Vielfalt der Habsburgermonarchie vorbei auf jenes „Oesterreich, dessen Ausschluß aus Deutschland und damit von dem gemeinsamen Kampf gegen Deutschlands Feind wir immer und gerade heute tief bekla89
gen". Die württembergischen Demokraten gingen zunächst sogar noch einen Schritt weiter und plädierten für die „Heranziehung des Bruderlandes Oesterreichs zur Theilnahme an dieser gemeinsamen Arbeit und zur Theilnahme an dem gemeinschaftlichen Lohn solcher Arbeit". 90 Begriffe wie „Bruderland" oder „Brudervolk" entsprachen einer Sichtweise, die zwar die politische Teilung der deutschen Nation zur Kenntnis nahm, nicht aber den Umstand, dass die deutschsprachigen Österreicher selbst in der cisleithanischen Reichshälfte nur eine Minderheit stellten.91 Vor dem deutsch-französischen Krieg war die Verarbeitung der Niederlage von 1866 noch häufig mit der Suche nach politischen Alternativen zu dem in seinen Konturen allerdings bereits sichtbaren Nationalstaat unter preußischer Führung verknüpft. Als sich jedoch herauskristallisierte, dass „künftig Süddeutschland in ein directes nationales Verhältniß zum norddeutschen Bund treten wird", setzte sich eine Zukunftsperspektive durch, die auf die „Wiederanknüpfung einer neuen Verbindung der vereinigten deutschen Staaten mit Oesterreich" zielte.92 Die Enttäuschung darüber, dass „die Form, die wir wünschen, nicht mehr zu ermöglichen ist", wie ein katholisches Blatt die Reichsgründung kommentierte, wich nun der Hoffnung auf eine „Versöhnungspolitik Preu-
87 88 89 90 91
92
Politik, Nr. 196, 19. 07. 1870. Politik, Nr. 206, 29. 07. 1870. Deutsches Volksblatt, Nr. 168, 23. 07. 1870. Beobachter, Nr. 165, 19. 07. 1870. Vgl. dazu die statistischen Daten in Helmut Rumpier, Eine Chance für Mitteleuropa, Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, 557. Neue Freie Presse, Nr. 2158, 31. 08. 1870 (Morgenausgabe).
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ßens gegen Oesterreich". 93 Zwar beklagten ausgewiesene Preußengegner wie die württembergischen Demokraten nach der Reichsgründung weiterhin die „gewaltsame Herstellung der preußisch-deutschen Einheit, die vor sieben Jahren zur Vernichtung Hannover's, Kurhessen's, Nassau's und Frankfurt's geführt hat". 94 Politische Mehrheiten ließen sich auf diese Weise allerdings nicht mehr erringen. Unter den Deutschösterreichern, die mit der Entstehung des kleindeutschen Nationalstaates ihren traditionellen politischen Orientierungsrahmen endgültig verloren hatten, verbreitete sich indes der Glaube an das „Heil im deutschen Schoß" (Friedrich Heer). Zwar mag die Einschätzung übertrieben sein, der Blick aller Deutschsprachigen habe sich von nun an auf das Reich gerichtet, 95 doch übte der machtpolitische Glanz des kleindeutschen Nationalstaates zweifellos eine große Faszinationswirkung aus. Die nach der Reichsgründung einsetzende Bündnispolitik zwischen Wien und Berlin stieß denn auch nahezu überall im ehemaligen großdeutschen Lager auf positive Resonanz. „Unser Volk", schrieb die Neue Freie Presse über den Wienaufenthalt Wilhelms I. anlässlich der Unterzeichnung des Dreikaiserabkommens, „begrüßt in ihm das deutsche Volk, welches Oesterreich seine Freundschaft und Bundesgenossenschaft entgegenbringt und in veränderter Form die Reminiscenzen einer uralten Kaisergeschichte erneuert." 96 Die entspannte Atmosphäre, in der sich die Monarchenbegegnung abspielte, bestätigte den vorherrschenden Eindruck, dass „Habsburg und Hohenzollern versöhnt sind, dass zwischen ihnen kein Groll, keine Verstimmung mehr störend waltet". 97 Für die deutschliberale Tageszeitung stand fest: „Nur die Freundschaft, die innige Verbrü98
derung Deutschlands und Österreichs sichern den Weltfrieden." Der sechs Jahre später geschlossene Zweibund bildete in dieser Sichtweise den ersten Schritt zu „einer neuen europäischen Staatengruppirung". Er sollte dazu dienen, „in der Mitte Europas ein Friedensbollwerk zu bilden, festgefügt durch gemeinsame Interessen und verwandte culturelle Ziele". 99 Ähnliche Beurteilungen finden sich in der süddeutschen Presse. Sie feierte die Übereinkunft zwischen Wien und Berlin mit innigen Worten als „Beginn einer Art europäischer Friedensliga". 100 Der skeptische Einwurf des württembergischen Beobachters, dass „auch vor 15 Jahren der Frieden niemals gesicherter schien als in Gastein - zwei Jahre vor Sadowa", stellte zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Außenseiterperspektive dar. 101 In der Propaganda des Ersten Weltkrieges diente der „Treubund" von 1879 schließlich als historischer Beleg für die „unauflösli93 94 95
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Deutsches Volksblatt, Nr. 15, 19. Ol. 1871. Beobachter, Nr. 263, 09. 11. 1873. Albert F. Reiterer, Von der Schwierigkeit mit der eigenen Identität, Zur politischen Situation deutschnationaler Österreicher vor 1900, in: ÖGL 28 (1984), 345-362, hier: 348. Neue Freie Presse, Nr. 3287, 17. 10. 1873. Neue Freie Presse, Nr. 3293, 23. 10. 1873. Ebd. Neue Freie Presse, Nr. 5413, 21. 09. 1879. (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Nr. 271, 28. 09. 1879 (Beilage). Beobachter, Nr. 224, 25. 09. 1879.
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che waffenbrüderliche Gemeinschaft" zwischen Österreich und Deutschland, „Schulter an Schulter bewährt in Kampf und Sieg, feierlich bezeugt von einer Vereinigung patriotischer Männer im Reich, dauernd festgehalten vom Gesamtbewusstsein beider Völker." 102 Auf dem Weg vom Bruderkrieg zum brüderlichen Schulterschluss von 1914 entkoppelte sich die großdeutsche Treuesemantik endgültig von ihren liberaldemokratischen Ursprüngen. Der Umgang mit der Niederlage von 1866 mündete in ein Loyalitätskonzept, das die gegenseitige Wahrnehmung der beiden „ungleichen Partner" 103 Österreich und Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein beeinflusste: den Mythos der Nibelungentreue. „In uralten Tagen", hatte eine deutschliberale Zeitung bereits zu Beginn des deutsch-französischen Krieges geschrieben, „hatten wir die gleiche Poesie. Die Nibelungen spielen sich bei uns und bei euch ab. [...] Ihr und wir sind germanisch-keltische Mischlinge. Und die Mischung ist gut, denn sie ist beweglich und lustig und voll Scherz und Humor, aber sie hat sich auch die deutsche Treue bewahrt." 104 Als der Berliner Jurist Franz von Liszt am 18. November 1914 die Nibelungentreue als Sinnbild für das „Bündnisverhältnis" zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn bezeichnete, hatte er zwar nicht die Niederlage von 1866, dafür aber das Ende der Nibelungen vor Augen: „Und als am nächsten Tag der Kampf entbrennt, da führen sie, nebeneinander kämpfend, die niemals fehlenden Hiebe gegen die Schar der Gegner, bis Volker fällt und Hagen verwundet und gefangen wird." 105
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Wilhelm Kahl, Dreibund - Treubund, Deutsche Antwort auf Italiens Verrat, Berlin 1915, 28. Harm-Hinrich Brandt u. a. (Hg.), Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung, Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996.
104
Neue Freie Presse, Nr. 2134, 07. 08. 1870 (Morgenausgabe).
105
Zitiert nach Herfried Münkler/Wolfgang Storch, Siegfrieden, Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988, 75.
SONJA LEVSEN
„Heilig wird uns Euer Vermächtnis sein!"Tübinger und Cambridger Studenten gedenken ihrer Toten des Ersten Weltkrieges
Der Erste Weltkrieg brachte Tod in einem für die Zeitgenossen unbekannten und unbegreiflichen Ausmaß mit sich. Kaum eine Familie hatte nicht wenigstens einen Gefallenen zu beklagen. Schon während des Krieges, besonders aber in den Nachkriegsjahren führte das Bedürfnis, Trauer und Verlusterfahrungen zu verarbeiten, zu einem Höhepunkt des Denkmals- und Totenkultes. In den Gedenkzeremonien offenbarte sich die Suche nach einem Sinn des massenhaften Todes: Der Gedanke, dass der millionenweise Kriegstod sinnlos gewesen sein könnte, war für die beteiligten Nationen, aber auch für Individuen meist nicht tragbar. Studenten hatten zu den Bevölkerungsschichten mit den höchsten Verlustraten gezählt. 1 Deshalb war das Studentenleben der 1920er Jahre durchdrungen vom Totengedenken. Wie beantworteten die überlebenden Kommilitonen die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Geschehenen? Ein Blick auf das Totengedenken zweier Studentengemeinschaften, Tübinger Verbindungsstudenten und Cambridger Collegestudenten, gibt Aufschluss über den Einfluss von Sieg und Niederlage auf studentisches Gefallenengedenken und damit auch auf studentische Rollenvorstellungen in den 1920er Jahren. 2
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Jay M. Winter, Die Legende der ,verlorenen Generation' in Großbritannien, in: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis, Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, 115-145. Verbindungen und Colleges werden hier als studentische Gemeinschaften in den Blick genommen, die für sich in Anspruch nahmen, eine nationale Elite darzustellen. Die Konstruktion von Gruppenidentitäten unter Tübinger Verbindungsstudenten und Cambridger Collegestudenten ca. 1900-1929 ist Thema meines Dissertationsprojektes im Tübinger SFB „Kriegserfahrungen".
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1. Gedenken und Gemeinschaft in den Tübinger Verbindungen Im Januar 1920 weihte die Tübinger Verbindung „Roigel" eine Gedenktafel für ihre Gefallenen ein. Zu diesem Anlass trug der Theologiestudent Hauffer ein von ihm selbst verfasstes Gedicht vor, in dem er sich mit dem Opfertod der Kommilitonen auseinandersetzte. Er zeigte sich sicher, dass die Kommilitonen für ihr Vaterland gerne in den Tod gegangen seien, und legte ihnen die Worte in den Mund: „Dir, Vaterland - dir, Heimat - dir, Volk, zulieb/ Sind gerne wir dem Schicksal hierher gefolgt,/ Und lebst du größer, freier weiter, / „Keiner ist dann dir zuviel gefallen". Nun aber, so fährt sein Gedicht fort, kämen die Toten nicht zur Ruhe: O Freunde — schrecklich fühlen wir jetzt, wie ihr Mit hartem, unerbittlichen Blick uns sucht Und Lippe stumm auf Lippe pressend Nun uns die furchtbare Frage fraget: Wofür, wofür verließen das Leben wir? Wofür verloren Jugend und Sonne wir? Und wer hat unser heil'ges Opfer Ruchlos und kalt in den Staub getreten? O Freunde, Freunde — wendet euch nicht von uns Mit solchem Blick, mit solcher Gebärde ab! O flucht uns nicht, da alle fluchen — Weinet mit uns vom Geschick Verstoßnen! 3
Insgesamt 738 Tübinger Studenten - im Sommersemester 1914 waren rund 2 000 immatrikuliert gewesen - hatten den Krieg nicht überlebt. 4 Zahlreiche Verbindungen, in denen insgesamt gut die Hälfte der Studentenschaft organisiert war, hatten sogar mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Die Tübinger „Cheruskia" verlor ihre gesamte Aktivitas. 5 Die Korporationen umflorten ihre Bänder schwarz, setzten zu Gedenktagen die Fahnen auf Halbmast, ließen „Ehrentafeln" mit den Namen der Gefallenen erstellen und begingen in regelmäßigen Abständen Gedenkfeiern. Die vom neugegründeten AStA vertretene Studentenschaft errichtete auf Initiative vor allem der Korporationen ein „Ehrenmal" für die Gefallenen und beging dort eine jährliche Gedächtnisfeier. Es bestand offensichtlich ein großes Bedürfnis, der Trauer um gefallene Freunde Ausdruck zu geben und die Erinnerung an diese wach zu halten. Von Studenten verfasste Ge3 4 5
Roigel-Blätter, Nr. 3, April 1920, 81f. Martin Biastoch, Tübinger Studenten im Kaiserreich, Sigmaringen 1996, 229. Academia, Monatsschrift des C . V . der katholischen deutschen Studentenverbindungen, Jg. 31, Nr. 12, April 1919, 331. Als Aktivitas werden die studierenden Mitglieder einer Verbindung bezeichnet, in Abgrenzung zu den Examenskandidaten (Inaktiven) und den im Berufsleben stehenden Mitgliedern (Alten Herren).
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dichte wie das eingangs zitierte, das die Toten mit „ihr Freunde" direkt anspricht, zeugen von persönlicher Trauer und Verlusterfahrungen. Schmerz und Trauer lassen sich auch aus den Berichten herauslesen, in denen die Gedenkfeiern für die nicht teilnehmenden Verbindungsbrüder beschrieben wurden. Als „allzu schmerzlich" beklagte Wilhelm Pressel, Student in der Verbindung „Igel", die Erinnerung an „die Gestalten derer, die nicht zurückgekommen waren." 6 Ein Mitglied der „Ghibellinia" schrieb, ihn habe bei der Gedenkfeier „bittere Wehmut" erfasst. 7 Von „schmerzlicher, ergreifender Wirkung" des Liedes „Was sind die Lieben, die Braven all" sprach der Bericht über die „Roigel"-Gedenkfeier. 8 Der Chronist der „Saxonia" betrauerte einen an Spätfolgen einer Kriegsverletzung gestorbenen Kommilitonen mit den Worten: „Noch einmal von neuem ließ uns der eigene Schmerz fühlen, welche Opfer und Wunden uns und unserm Vaterland der Krieg gerissen hatte, von neuem griff es uns mächtig ans Herz." 9 Der Krieg, so machen diese Schmerzbekundungen deutlich, war für viele Studenten eine persönliche Katastrophe, da sie viele enge Freunde und Kommilitonen verloren hatten. Um trotz des Massensterbens jeden einzelnen als Individuum in Erinnerung zu halten, ließen die Verbindungen die Namen aller Gefallenen auf Gedenktafeln eingravieren.10 Ob sich im Alltag Trauer und Erinnerung auf diese einzelnen Studenten richtete, wissen wir nicht. In den Berichten über die Gedenkfeiern indes geschah dies nur selten. Wesentlich wichtiger erschien ein anderes Ziel des Gedenkens: Es sollte die Verbindungsgemeinschaft stärken, legitimieren und ihre nationalen Verdienste demonstrieren. Auch wenn die Gefallenen durch ihre Namensnennung als Individuen erinnert wurden, zielte das Gedenken doch in erster Linie auf die Gemeinschaft. Der Tod der Kommilitonen, so wurde nahezu stereotyp geäußert, sei ein inneres Band, das die Verbindungsgemeinschaft noch enger zusammenschweißen werde: „Wenn uns nichts mehr einigen würde, wäre es das Gedächtnis und heilige Vermächtnis der Toten", verkündete der Gedenkredner des „Roigel" und maß damit dem Tod eine Vorrangstellung zu in der Definition dessen, was die Verbindungsgemeinschaft ausmache. 11 Die Gedenkfeiern wurden oft mit dem wichtigsten Fest aller Verbindungen, dem Stiftungsfest, verbunden und so in den Kern des Verbindungslebens integriert. Sie inszenierten in Worten und Ritualen die Gemeinschaft von Lebenden und Toten. Das gemeinsame Singen von Lie-
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60 Jahre Verbindung Igel, 1871-1931, Tübingen 1931, 83. Mitteilungen aus der Ghibellinia, 25. Jg., Nr. 6., August 1925, 5. Die Bemerkung stammt von einem Alten Herren. Roigel-Blätter, Nr. 2, Januar 1920, 55. Chronik über das Wintersemester 1919/20 in U A T (Universitätsarchiv Tübingen) 367/47, Chronik der Verbindung Saxonia, Bd. 3., 1899-1923, handschriftlich, o. p. Zur Bedeutung des „naming" im Gefallenengedenken vgl. Thomas W. Laqueur, Memory and Naming in the Great War, in: John R. Gillis (Hg.), Commemorations, The Politics of National Identity, Princeton 1994, 3-26; sowie Alex King, Memorials of the Great War in Britain, The Symbolism and Politics of Remembrance, London 1998, 184ff. Roigel-Blätter, Nr. 2, Januar 1920, 60.
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dem wie „Ich hatt' einen Kameraden", das die meisten Gedenkfeiern abschloss, bekräftigte diese emotionale Einheit: Er ging an meiner Seite I: In gleichem Schritt und Tritt. :l Eine Kugel kam geflogen: Gilt's mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt vor meinen Füßen I: Als wär's ein Stück von mir :l 1 2
Der studentische Rekurs auf den Opfertod als gemeinschaftsstiftendes Element war keine Erfindung der Nachkriegszeit. Er knüpfte an die Selbstdefinition der Verbindungen der Vorkriegszeit an: Die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben, war im späten Kaiserreich ein zentrales verbindungsstudentisches Credo gewesen. Die wilhelminischen Korporationen hatten eine Führungsrolle in der Nation beansprucht und mit ihrer vorbildlich nationalen Gesinnung zu begründen gesucht. Sie hatten eine Identitätspolitik betrieben, die in der Öffentlichkeit das Bild des Verbindungsstudenten als eines stets abrufbereiten Soldaten im Dienste der Nation verankern sollte. Dieses studentische Selbstbild äußerte sich etwa in dem Lied „Burschen heraus", dem gängigsten Studentenlied der Vorkriegszeit. Dessen Refrain definierte das nationale Opfer als unabdingbaren Teil des Studentseins: „Burschen heraus! Wenn es gilt fürs Vaterland, auf die Klingen dann zur Hand, sei es auch zum letzten Gang". Die postulierte Bereitschaft zum Tod fürs Vaterland diente als Beweis für die Unbedingtheit und den idealen Charakter der nationalen Gesinnung. Sie verband ein Männlichkeitsideal, das Männlichkeit über soldatische Qualitäten und die Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft definierte, mit einem Nationalismus, der in der Nation einen Letztwert sah. Proklamationen dieser letzten Opferbereitschaft fanden sich demgemäss im Überfluss. Auch das Mensurfechten symbolisierte neben Mut und Kühnheit Opferbereitschaft. Seine spezifischen Regeln, vor allem das Verbot des Zurückweichens, aufgrund dessen Verletzungen unbewegt hingenommen werden mussten, machten es zu einem symbolischen Opfergang. 1 3 Die zahlreichen Verbindungsstudenten, die sich im Sommer 1914 freiwillig an die Front meldeten, wurden als Nachweis präsentiert, dass die Lieder nicht nur Lieder gewesen seien. Die hohe Anzahl der Gefallenen schließlich beweise, dass die Kriegsfreiwilligen auch das letzte Opfer nicht gescheut hatten. Ihr Tod galt als Ausdruck des „Geistes der Opferbereitschaft und Treue", der „Hingabe"; in „stolzer Trauer" pries
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UAT 367/462 Kommersbuch der Tübinger Hochschule. Mehr dazu in Sonja Levsen, Männlichkeit als Studienziel, Männlichkeitskonstruktionen englischer und deutscher Studenten vor dem Ersten Weltkrieg, in: ZfG 51 (2003), H. 2, 109-30.
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man die „männlich und selbstverständlich bewährte eiserne Pflichterfüllung". 14 Die Korporationen verstanden sich als studentische Elite; Opferbereitschaft war einer der zentralen Aspekte ihres Eliteverständnisses. Sie trugen Trauer und Gefallenengedenken in die Öffentlichkeit, um ihr nationales Opfer und damit ihren Statusanspruch im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. Gefallenenlisten wurden veröffentlicht, hohe Totenzahlen galten als ansehensfördernd. Wie viele Tote eine Korporation nachzuweisen hatte, schien sogar wichtiger als die Zahl ihrer Kriegsteilnehmer: Eine im Januar 1920 in der Deutschen Hochschulzeitung veröffentlichte Liste, die auf der Basis zweifelhafter Daten die Korporationsverbände hierarchisch nach dem Prozentsatz ihrer Gefallenen auflistete, sorgte für heftigen Streit in der Studentenschaft; besonders die jüdischen Korporationen, denen eine überdurchschnittlich niedrige Gefallenenquote unterstellt wurde, aber auch andere Verbände protestierten entrüstet. Mit Gefallenenquoten wurde in der Studentenschaft um Ansehen verhandelt. 15
2. Geiseln der Gefallenen: Sinnkrise und Nachfolgeschwur Wofür aber waren die Kommilitonen gefallen? Einhellig war vor und während des Krieges der Kriegstod mit dem „Vaterland", das „größer, freier, weiter" werden sollte, legitimiert worden. „Sieg und zukünftige Größe des Vaterlandes" galten als Motivation der Kriegsfreiwilligen, gaben ihrem Opfer einen Sinn, der in die Zukunft zielte.16 Das Vaterland aber hatte offensichtlich aus dem Krieg nicht nur keinen Gewinn davongetragen, im Gegenteil, es war gedemütigt, „von Feinden, die sich Sieger nennen, verhöhnt, gequält, geschändet" worden. 17 Der Opfertod war damit seines postulierten Sinnes beraubt, die Gefallenen, so argumentieren zahlreiche studentische Gedichte, könnten deshalb nicht zur Ruhe kommen. Wie reagierten die Studenten auf diese Verstörung, die sie im Kern ihres Selbstverständnisses als nationale Elite traf? Nicht nur die persönliche Trauer verlangte nach Trost, auch der Statusanspruch der Verbindungsgemeinschaft durch Rekurs auf das Opfer der Gefallenen konnte nur dann erfolgreich sein, wenn der Tod der Kommilitonen nicht vergeblich war. Eine nachträgliche Sinnstiftung war notwendig, wie George
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Walter Schmidt: Das Vermächtnis unserer Gefallenen, in: Festschrift des Corps Rhenania zu Tübingen: 7. Juli 1827-1927, Tübingen 1927, 45-48, hier: 46; Roigel-Blätter, Nr. 2, Januar 1920, 59.
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Vgl. Deutsche Hochschulzeitung, 2 0 . 0 1 . 1920, sowie KC-Blätter, Monatsschrift der im KartellConvent vereinigten Korporationen, April-Mai 1920, 38f.
16
Roigel-Blätter Nr. 9, Juni 1923, 243. 1914/18, Zum Gedächtnis ihrer toten Helden die Landsmannschaft Ghibellinia in Tübingen, Stuttgart 1921, 5.
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Mosse dargelegt hat, um die Nation zu rechtfertigen, in deren Namen der Krieg geführt 18
worden war, konkreter aber auch, um die eigene Gemeinschaft zu rechfertigen, die sich mit dieser Nation und dem Opferideal identifiziert hatte. Andere Sinnstiftungsangebote wie etwa Religion mochten zwar einzelnen Studenten helfen, ihre Trauer zu bewältigen. Zur öffentlichen Sinnstiftung eigneten sie sich offensichtlich nicht: Religion spielt in den meisten Gedenkreden und -feiern, wenn überhaupt, dann nur eine marginale Rolle. Fast alle Gedächtnisfeiern fanden in Verbindungshäusern oder am universitären Ehrenmal statt, nur in Ausnahmefällen wurde eine Kirche als Ort des Gedenkens gewählt. Kam dies einmal vor, lieferte der religiöse Ort oft nicht mehr als einen sakralen Rahmen für eine kaum religiöse Feier. Das „Corps Franconia" etwa gedachte 1921 seiner Toten in der Stiftskirche, nicht jedoch mit Gottesdienst und Predigt, sondern mit der Rede eines Verbindungsmitglieds (keines Theologen) vor dem Altar. Weder Religion noch Gott wurden in dieser Rede erwähnt; nur als würdigen Rahmen hatte man offensichtlich die „ehrwürdige, geweihte Stätte" gewählt. Heldentum und Opfer wurden durch Ort und Sprache sakral überhöht. „Heilig sei uns das Gedächtnis dieser Helden", deklamierte der Redner emphatisch. 19 Man rief so religiöse Formen auf, ohne jedoch der Kirche die Deutung des Todes überlassen zu wollen. Selbst das von einem Theologiestudenten geschriebene eingangs zitierte Gedicht enthält keinen Verweis auf einen transzendentalen Sinn des Todes. Die wenigen Studentenverbindungen, die sich explizit als religiös definierten, bildeten hier nur begrenzt eine Ausnahme: Ihre Gedenkredner rekurrierten zwar auf religiöse Deutungsmuster, diese reichten aber offensichtlich zur Sinnstiftung nicht aus, denn auch ihre Redner arbeiteten sich an der Frage ab: „Sind sie nicht umsonst gestorben? Sind nicht [...] ihre Hingabe 20
und Treue und ihr Todesopfer umsonst gewesen?" Die Antwort auf diese Frage lautete in den meisten Verbindungen im Kern gleich: Es liege nun bei der Nachkriegsgeneration, dem Tod der Gefallenen Sinn zu verleihen. Sie müsse sich vom Geist der Opferwilligkeit leiten lassen und die Aufgabe zuende führen, für die jene in den Tod gegangen seien. Diese Nachfolge wurde von den Studenten meist als eine Art Schwur an die Toten formuliert. Der Student Gustav Höring, selbst zu jung, um im Krieg gewesen zu sein, deklamierte zur Einweihung der Gedenktafel der „Virtembergia": 18
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George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland, Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, 13. Tübinger Chronik, 10. 08. 1921. Zur Bedeutung religiöser Denkmuster im Gedenk- und Gemeinschaftsdiskurs der 1920er Jahre vgl. Manfred Hettling, Erlösung durch Gemeinschaft, Religion und Nation im Totenkult der Weimarer Republik, in: Ulrike Jureit (Hg.), Politische Kollektive, Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster 2001, 199-225 sowie Peter Walkenhorst, Nationalismus als politische Religion? in: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich, Gütersloh 1996, 503-530. Im Streite zur Seite, Ein Gruß vom Tübinger Bibelkreis, als Handschrift gedruckt, Nr. 50, März 1920, 213. Es gab auch vereinzelt Gedenkgottesdienste, für das Gefallenengedenken der meisten Korporationen spielten diese aber keine Rolle.
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Getrost, wir schwören es in heiigem Ernst Einst kommt der Tag, der eine Tag Da schlägt dem deutschem Volk die Scham Ins Antlitz, dann erwacht der heisse Zorn. Wenn dann der Deutsche seine Ketten sprengt, Ob Euren Häupten wieder Schlachtgetös Das deutsche Hurra wiederklingt: Dann wisset, Eure Brüder hielten Wort.21
Oft wurde in solchen Reden und Gedichten wie hier explizit von einem „Schwur" gesprochen, ein verpflichtendes Wort, das die Studenten mittels ihrer „Ehre" an die Toten band. Die „Suevia" sprach von einem „Gelöbnis", alternativ war auch von einer 22
„Schuld" die Rede, die den Toten gegenüber „heimzubezahlen" sei. In all diesen Formeln äußert sich die Vorstellung fester Bande, die die Lebenden an die Toten fesselten. Die Studenten wurden zu „Geiseln" der Gefallenen, da deren Totenruhe, so die immer wieder bekundete Überzeugung, von ihren zukünftigen Handlungen abhing. Ein erneuter Kampf zur Befreiung des Vaterlandes war meist Bestandteil dieses Schwures. Nur durch diesen schienen die Toten von ihrer Rastlosigkeit befreit werden zu können. Die „Normannia" meißelte dieses Bekenntnis sogar in die steinerne Gedenktafel: „Wenn wir das Land befreit dann legen wir den frischen Kranz des Siegs auf Eure Bahre", 23 versprach sie in dem Spruch unter den Namen der Gefallenen. Erst dann, so scheint es, könnte die symbolische „Beerdigung" der Kommilitonen vollendet werden. Der Sinn des Todes der Kommilitonen, der im Geschehenen nicht gefunden werden konnte, wurde in die Zukunft projiziert. Manche Redner legten sich nicht explizit auf eine Pflicht zur gewaltsamen „Rettung und Befreiung des Vaterlandes" fest, 24 sondern forderten allgemeiner, den Geist der Kriegsteilnehmer zu wahren und diese zum Vorbild werden zu lassen. „Unser, der Überlebenden, harrt die große Aufgabe, das deutsche Vaterland, für dessen Bestand unsere gefallenen Brüder ihr Leben geopfert haben, wieder emporzuarbeiten [...] zu neuer, schönerer innerer Festigkeit und Größe. So mahnt das Ehrenmal unserer Gefallenen uns und kommende Rhenanengeschlechter, daß die deutsche Jugend [...] allzeit bereit sein soll zum Dienst am deutschen Volke",25
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UAT 192/99 Verbindung Virtembergia: Kneipzeitungen 1918-1921, Gedicht von Gustav Höring II, WS 1919-20, An unsere Toten, Zur Einweihung der Gedenktafel. Von einem „Schwur" ist die Rede u. a. in: UAT 367/47 Chronik der Verbindung Saxonia, Bd. 3, 1899-1923, hier: WS 1921/22 sowie in: Festschrift zur Feier des 80jährigen Bestehens der Landsmannschaft Ghibellinia in Tübingen, 1.-3. August 1925, Stuttgart 1925, 95. Bericht über das hundertjährige Stiftungsfest des Corps Suevia zu Tübingen 1831-1931, o. O. o. J., 26; Von einer heimzubezahlenden Schuld spricht Festschrift Ghibellinia, 96. Ein Foto der Gedenktafel ist abgedruckt in: Gedenkbuch der Tübinger Normannia für ihre Gefallenen, hg. vom Verein alter Tübinger Normannen, Stuttgart 1921. UAT 367/47 Chronik der Verbindung Saxonia, Bd. 3, 1899-1923, hier: WS 1920/21. Walter Schmidt, Vermächtnis, 45-48, hier: 46.
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verkündete ein Alter Herr der Aktivitas der Tübinger „Rhenania". Solche allgemeinen Bekenntnisse zur nationalen Aufgabe der Studenten, die sich nicht direkt auf den Krieg bezogen, aber auch den Einsatz für eine neue nationale Größe verlangten, waren die Minimalforderung, die an die Studenten gestellt wurde. Gängig war hingegen eine direkte Aufforderung bzw. Selbstverpflichtung zu neuem Kampf. „Unsere Pflichten liegen dabei offen und klar vor uns. Es gilt Macht zu schaffen. Macht aber ist Bereitschaft. Das heißt, wir müssen in harter und nie ermüdender Arbeit die körperliche und geistige Wehrhaftmachung unserer Jugend betreiben."26
Nicht nur die Studenten selbst, sondern auch Alte Herren und Professoren beteiligten sich an der Konstruktion dieses neuen Jugendmythos, welcher der jungen Generation die Aufgabe zuschrieb, die Nation in einem erneuten Kampf zu erlösen. Er war nicht Ergebnis eines Generationenkonfliktes, sondern eines übergenerationellen Konsenses. Schon bei der Begrüßung der soeben aus dem Felde zurückgekehrten Studenten 1919 rief Rektor Johannes Haller diese dazu auf, auf eine neue nationale Erhebung hinzuarbeiten. 27 Auch bei der Denkmals-Weihe des Ehrenmals für die Gefallenen der Universität Tübingen auf der Eberhardshöhe stießen Vertreter beider Generationen in dasselbe Horn. Initiiert hatte das Ehrenmal der Allgemeine Studentenausschuss, geplant und errichtet wurde es in Kooperation mit dem Senat und dem Gemeinderat. 28 Die Denkmals-Weihe im Juni 1922 war eigentlich eine Universitätsfeier, praktisch war sie jedoch vor allem eine weitere öffentliche Gedenkfeier der Verbindungen, die die Veranstaltung sowohl zahlenmäßig dominierten wie auch durch ihre Uniformierung visuell prägten. Obwohl in den frühen zwanziger Jahren nur etwa die Hälfte der Tübinger Studenten korporiert war, dominierten die Korporationen den studentischen Diskurs, soweit er an die Öffentlichkeit trat, fast unangefochten. Die Inschrift des „Ehrenmals" war ganz dem Topos der Erlösung der Toten durch Opfer der Nachfolgenden gewidmet: Aus unserem Tod erblühe Euch das Leben/ Uns gleich lernt opfernd Euch für andre geben/ Und unser Sterben wird gesegnet sein/ 1914-19 29
Allerdings rückte die Inschrift zwar den Opfergedanken in den Mittelpunkt, bezog ihn jedoch nicht explizit auf das Opfer des eigenen Lebens und damit auf eine neue Kriegssituation. Die genaue Auslegung war dem Betrachter freigestellt. Nicht alle Reden zur Einweihungsfeier stellten eine militärische Aufgabe der Studenten in den Mittelpunkt. 26 27
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Festschrift Ghibellinia, 96. Begrüssung der aus dem Felde heimgekehrten Studierenden am 16. Februar 1919, Tübingen 1919, 17. Die Rede stand unter dem Motto „Von Tod und Auferstehung der deutschen Nation." Vgl. UAT 117E/204. Als Projekt des AStA entstand das Ehrenmal im Namen der Gesamtstudentenschaft, auch im AStA dominierten jedoch Korporationsstudenten. Tübinger Chronik, 22. 06. 1922. Die Zeitangabe 1914-19 ist gängig, da auch 1919 noch Verwundete an ihren Kriegsverletzungen starben. Vgl. auch: Das Ehrenmal für die Gefallenen der Universität auf der Eberhardshöhe, in: Tübinger Blätter 17 (1922-24), 44-46.
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Eingefordert wurde diese aber von Vertretern beider Generationen: Staatspräsident Hieber las aus dem Denkmal die Verpflichtung „des Dienstes für das Vaterland, der Treue bis zum Tode", der 1. AStA-Vorsitzende, dessen Rede den Schluss der Veranstaltung bildete, rief dazu auf, den Toten mit der Gesinnung zu danken: „Sklavisches Joch sei uns bitterer als der Tod. Ringet und kämpfet Euch frei, ist für uns Euer Geu » «30 bot. Eindeutiger als die Aussage des Tübinger Ehrenmals war die des Denkmals der Deutschen Studentenschaft in Würzburg, das erst 1927 eingeweiht wurde. Es zeigte den Spruch „Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen", und eine Abbildung von zehn Händen, die sich nach einem Schwert recken, verstanden als „symbolische Darstellung der Kräfte der Jugend". 31 Die studentische Jugend, die dieses Denkmal in Auftrag gegeben hatte, identifizierte sich in seiner Symbolik mit der Aufgabe eines nationalen Befreiungskampfes. Aus dieser Deutung auszuscheren, sie anzuzweifeln, war aus einem doppelten Grund schwierig. Es hätte den Tod der Kommilitonen sinnentleert, was den Verbindungsstudenten besonders unerträglich erscheinen musste, da sie ihre raison d'être stets über Opferbereitschaft definiert hatten. Wer sich gegen diesen Konsens wenden wollte, setzte sich nicht nur dem Vorwurf aus, das Opfer der Gefallenen „ruchlos und kalt in den Staub" zu treten, ja ihnen die Grabesruhe vorzuenthalten, sondern stellte damit gleichzeitig den Statusanspruch der Verbindungen in Frage. Dass die Bedeutung des Opfertodes ein wunder Punkt im studentischen Selbstbewusstsein war, da von ihm die Legitimation des Verbindungswesens abhing, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 1925, die sogenannte „Lustnauer Schlacht". Die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Akademiker, eine kaum zwanzig Köpfe zählende Tübinger Studentengruppe, hatte den Heidelberger Privatdozenten Emil Julius Gumbel zu einem Vortrag über das Thema „Vier Jahre Mord" eingeladen. Gumbel, Pazifist und Sozialist, hatte Anstoß erregt, als er 1924 in einer Rede vor der Deutschen Friedensgesellschaft von den Gefallenen als solchen, „die, ich will nicht sagen, auf dem Felde der Unehre gefallen sind" sprach.32 Trotz mehrfacher Beteuerung, das Andenken der Gefallen nicht 30
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Tübinger Chronik, 22. 06. 1922. Auch der Berichterstatter der Tübinger Chronik interpretierte das Denkmal als eines „des Glaubens an das Vaterland, [...] der Treue bis zum Tode." Die Rede des Rektors hielt sich dagegen in dieser Hinsicht zurück. Zitiert nach Walter M. Brod, Der Studentenstein, das Mahnmal der deutschen Studentenschaft in Würzburg, in: Rolf-Joachim Baum u. a. (Hg.), Studentenschaft und Korporationswesen an der Universität Würzburg, 1582-1982, Herausgegeben zur 400 Jahrfeier der Alma Julia-Maximiliana vom Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Würzburg 1982, 80. Der Spruch „Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen" ist dem Gedicht Soldatenabschied von Heinrich Lersch aus dem Jahr 1914 entnommen. Vgl. Ralph Lange, Von der „Affäre Gumbel" zum „Fall Wilbrandt": Die „Lustnauer Schlacht", Ein Beitrag zur politischen Kultur der Universität Tübingen in der Weimarer Republik, in: Michael Wischnath (Hg.), Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte, Folge 9, Tübingen 1995, 29-54, hier: 31; Georg Bayer, Wollten überhaupt nichts hören, Wie es 1925 zu der .Schlacht von Lustnau'
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habe schmähen zu wollen, wurde er fortan mit dem Bild „Feld der Unehre" assoziiert. Der Vortrag Gumbels in Tübingen führte zu einer von Verbindungsstudenten provozierten Saalschlacht mit zahlreichen Verletzten, nach Verlegung des Vortrages nach Lustnau schließlich zu einer Prügelei zwischen Studenten, Reichsbanner und Anwohnern, in deren Verlauf es mindestens 14 Verletzte gab, das Lokal „Krone" verwüstet wurde und anliegende Häuser und Lokale Schaden nahmen. Das Ereignis als Ausdruck allgemeiner politischer Intoleranz und Rauflust der Studenten zu erklären, kann nicht befriedigen, da andere Vorträge, auch solche von sozialistischen Rednern, bis dahin in Tübingen nie zu derartigen Ausschreitungen geführt hatten. Naheliegend ist, dass gerade Gumbels Zweifel am Sinn des Opfertodes der Gefallenen seinen Vortrag für die Studenten inakzeptabel machte. Gumbels Interpretation, dass der Opfertod keinen Sinn gehabt habe, sollte in Tübingen mit Gewalt zum Schweigen gebracht, die Deutungsdominanz der Verbindungen somit erhalten werden. Explizit äußerte die Germania nach dem Vorfall: „Es ist zu betonen, daß es in keiner Weise dem Geist der Tübinger Studentenschaft entspricht, durch Lärm oder gar tätlichen Eingriff freie Meinungsäußerungen zu unterdrücken", schränkte aber die Redefreiheit ein mit der Begründung: Wer in „ehr- und würdeloser Weise" das deutsche Volk und seine Gefallenen beleidige, der habe sein Recht zu öffentlichem Auftreten verwirkt.33
3. Sieg und der Sinn des Opfertodes in Cambridge „Great as was their sacrifice, it was worth while. Irreparable as was the loss, it was worth while. I am certain that the historians, that those who look back on those memorable years in times to come, will endeavour to conjecture what it would have been had the sacrifice never been made, and will unite with me in saying it was worth while." 34
Diese Rede hielt Arthur James Earl of Balfour, Ex-Außenminister und Chancellor35 der Universität Cambridge, bei der Einweihung des Clare College Memorials am 11. November 1924. Der Sieg räumte das Problem der Sinnstiftung nicht aus: Der Verlust von Freunden und Kommilitonen war auch für viele englische Studenten ein schwerer Schicksalsschlag, den der Sieg nicht einfach ausglich. Rund ein Viertel aller im Krieg
kam, Bericht eines Beteiligten, in: „...helfen zu graben den Brunnen des Lebens." Katalog zur historischen Jubiläumsausstellung des Universitätsarchivs Tübingen, Tübingen 1977, 312-316; Ders., Dabei bis zu den Pyramiden von Miramas, 3. Aufl., Tübingen 1977, 58ff. 33
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Bericht der Burschenschaft Germania zu Tübingen über das Sommer-Semester 1925, Stuttgart 1925, 18. Cambridge Daily News, 1 1 . 1 1 . 1924, 5. Der Chancellor ist das gewählte Oberhaupt der Universität, das jedoch nur repräsentative Funktionen ausübt.
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eingesetzten Cambridger Studenten waren gefallen. 36 Ebenso wie die Tübinger Verbindungen sorgten die Cambridger Colleges dafür, dass alle Gefallenen auf Gedenktafeln namentlich genannt wurden. Auch in Cambridge waren es Gedichte, in denen die Undergraduates Trauer und Verlusterfahrungen äußerten. Persönliche Trauer kam hier noch viel öfter und intensiver zum Ausdruck als in Tübingen. „Somewhere beyond the hill is he/ Who lived and laboured and laughed with me", begann ein Student sein Gedicht auf den gefallenen Freund. 37 Ein anderer Student erinnerte sich seiner fröhlichen Vorkriegstage und kontrastierte sie mit der bedrückenden Gegenwart. Denn, obwohl der Krieg gewonnen sei, sei er einsam: And now I wander through the town And feel so lonely in the night, For where old friends made revelry Is scarce a light.38
Dennoch gab der Sieg dem Cambridger Gefallenengedenken einen anderen Charakter, machte zumindest die öffentliche Sinnstiftung einfacher. Die von Balfour geäußerte Vorstellung, das Opfer der Gefallenen habe England vor Schlimmerem gerettet und die Tatsache, dass die Gefallenen ihre „Mission", den Sieg und die Sicherheit der Nation zu erlangen, erfüllt hatten, gaben ihrem Tod einen Inhalt. Im 11. November, dem Tag des Waffenstillstands und für England Tag des Sieges, verband sich das Gedenken an den Tod unmittelbar mit der Feier des Sieges. Der Morgen des 11. November war für Gottesdienste und Gedenken in zweiminütiger Stille reserviert, der Abend jedoch war in Cambridge ein Abend der Siegesbälle und Feste, ein Anlass für die Studenten, jährlich auf dem Marktplatz Freudenfeuer und allgemeines Chaos zu veranstalten. 39 Gerade für die Studenten war diese Siegesfeier der wichtigste Teil des Tages. Gegenüber Kritikern aus vielen Lagern betonten gerade die ehemaligen Soldaten in der Studentenschaft immer wieder, dass sie sich das Recht erkämpft hätten, zu feiern. Auch in England war die Frage, wofür die Gefallenen in den Krieg gezogen und gestorben seien, vor und während des Krieges einhellig mit „for their country" beantwortet worden. Das während des Krieges entstandene und schnell berühmt gewordene Gedicht In Flanders Fields des Kanadiers John McCrae hatte ebenfalls den Topos der nicht zur Ruhe kommenden Toten enthalten:
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Vgl. Jay M. Winter, The Great War and the British People, Cambridge (Mass.) 1986, 92. Einzelne Colleges verloren mehr als ein Drittel ihrer 1914 immatrikulierten Studenten, vgl. G. V. Carey, The War List of the University of Cambridge, Cambridge 1920. The New Cambridge, 26. 04. 1919. The New Cambridge, 08.03. 1919. Einen guten Überblick über britische Reaktionen auf den Massentod des Krieges gibt David Cannadine, War, Death, Grief and Mourning in Modern Britain, in: John Whaley (Hg.), Mirrors of Mortality: Studies in the Social History of Death, London 1981, 187-242. Zur Gestaltung des und den Debatten um den 11. November in der Zwischenkriegszeit siehe Adrian Gregory, The Silence of Memory, Armistice Day 1919-1946, Oxford/Providence 1994.
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156 We are the Dead. Short days ago we lived, felt dawn, saw sunset glow, Loved and were loved, and now we lie In Flanders fields. Take up your quarrel with the foe, To you from failing hands we throw The torch; be yours to hold it high. If ye break faith with us who die We shall not sleep, though poppies grow In Flanders fields. 40
Die Parallelen sind auffällig. War auch hier während des Krieges aus dem Opfer die Pflicht zur Nachfolge im Kampf abgeleitet worden, fehlte diese Eindeutigkeit jedoch nach dem Sieg. Im Gegensatz zu Deutschland konnte die Deutung, die Toten seien „for their country" gefallen, auch nach dem Krieg Inhalt und Trost stiften, da mit dem Sieg aus dem Opfer unmittelbare Vorteile für die Nation entstanden waren. Die Toten hatten ihre Pflicht erfüllt und konnten somit zur Ruhe kommen. Für Cambridger Studenten bestand die Möglichkeit, in den „Leistungen" der Toten bereits den Sinn ihres Opfertodes zu sehen: „Wrong they have battled down,/ subtlety, treachery, devilry come to nought", so ein Cambridger Student, „Children need have no fears/ No woman-slaying army shall they see/ Ask them for smiles, not tears/ Our dead have made them free." 41 Während die Tübinger „Normannia" erst in Zukunft den Kranz auf das Denkmal ihrer Gefallenen legen wollte, die „Beerdigung" damit symbolisch nicht abgeschlossen hatte, enthielten Cambridger Gedenkzeremonien ein Symbol dafür, dass die Toten ihre Ruhe gefunden hätten: Die von Hörnern geblasene Melodie „The last post" galt als „a final farewell" und Symbol dafür, dass die Pflicht der Toten erfüllt sei und sie in Frieden ruhten. Auch Cambridger Gedenkreden forderten, den Geist der Gefallenen zum Vorbild zu nehmen und ihrem Beispiel zu folgen. Worin aber diese Nachfolge bestehen sollte, darüber bestand angesichts der Tatsache, dass die unmittelbare Aufgabe der Gefallenen erfüllt war, keine Einigkeit: So kommentierte ein Student die Beisetzung des Unbekannten Soldaten mit den Worten: „The passing of the Unknown Warrior again proved Englishmen of all classes to be susceptible to influences which are more than merely practical. The fact should not be forgotten when they hear the call which comes to them from Geneva to lead the world in the practical interpretation of the ideal held out to it by the League of Nations."42
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John McCrae, In Flanders Fields and Other Poems, London u. a. 1919. The Cambridge Review, 15. 11. 1918, 115, „November 11th, 1918". The Old Cambridge, 20. 11. 1920, 20. Dazu auch Cambridge Daily News, 09. 11. 1925. Zu den britischen Debatten um das Vermächtnis der Gefallenen vgl. King, Memorials, Kapitel 8, sowie Gregory, Silence of Memory.
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Ihm erschien das Eintreten für den Völkerbund als Vermächtnis der Ideale, die die Gefallenen verkörperten. Für die vielen Undergraduates, die seit 1921 jeweils am 11. November Mohnblumen für den „Haig Poppy Appeal" verkauften, war die Fürsorge für die Veteranen eine Form, den Idealen der Gefallenen zu folgen. Andere schrieben diesen zu, für ein Ideal gestorben zu sein, ohne dies näher zu präzisieren: „They died for an ideal because the lack of ideals leaves the world loveless, and lovelessness is the ruin of the world." 43 Auch eine kontroversere Beurteilung des Kriegs selbst machte der Sieg möglich. Neben Stimmen, die ihn als ideales Erlebnis und nationale Großtat priesen, traten viele, die ihr Kriegserlebnis als „a ghastly nightmare" beschrieben und den Krieg als „beastliness" beklagten. 44 Sie interpretierten das Vermächtnis der Gefallenen als Pflicht, einen neuen Krieg zu verhindern. Diese Stimmen, die aus dem Geist der Gefallenen ein Eintreten für Frieden und Völkerbund forderten, überwogen. Aufschlussreich ist jedoch vor allem, dass es keine eindeutige Definition gab, dass über diese Ziele diskutiert werden konnte, ohne das Opfer sinnlos zu machen, ohne die Toten der Möglichkeit zu berauben, ihre letzte Ruhe zu finden. Einigkeit bestand im Hinblick auf die positive Wertung des eigenen Sieges und die Reverenz an die Gefallenen. Der Sieg bildete damit eine Voraussetzung dafür, dass unter englischen Studenten in den zwanziger Jahren ein Pluralismus an politischen Zielen diskutiert werden konnte. In unteren Schichten der britischen Gesellschaft hingegen, etwa unter den arbeitslosen Veteranen, die von niedrigen Pensionen gerade so überleben konnten, wurde die Frage, ob die Toten nicht doch umsonst gestorben seien, viel lauter und häufiger gestellt als in Cambridge. Invalide und arbeitlose Kriegsheimkehrer sahen sich im Gegensatz zu den Studenten trotz des Siegs ihrer Nation als Verlierer des Kriegs. Die Legitimation des Todes durch den Sieg verlor angesichts ihres persönlichen Schicksals an Überzeugungskraft. 45 Sieg und Niederlage bestimmten die Nachkriegskultur nicht absolut. Auch in Cambridge prägten Vorkriegstraditionen die Art und Weise, in welcher der Toten gedacht wurde. Im Gegensatz zu Tübingen fanden fast alle Cambridger Gedenkfeiern in religiösem Rahmen statt. Die Gedenktafeln für die Gefallenen wurden fast ausnahmslos in den College Chapels angebracht, ihre Einweihung fand in der Regel in einem Gottesdienst statt. Auch die Inschriften stellten den Tod in einen religiösen Kontext oder vermischten religiöse und säkulare Motive: „Laus deo" und „Floreat Domus" verkündet das Denkmal in Queens' College und fügte hinzu „Greater Love hath no man than this,
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The New Cambridge, 08. 11. 1924, 83. The Old Cambridge, 13. 11. 1920, 5; The Cambridge Review, 18. 10. 1918, 47, „On the Vimy ridge". Londoner Arbeitslose etwa machten einen Protestmarsch zum Londoner Cenotaph mit Plakaten wie „From the living victims - the unemployed - to our dead comrades who died in vain.", zitiert nach Gregory, Silence of Memory, 58. In Frankreich griff Abel Gance mit dem Film „J'accuse" dieses Thema auf, vgl. Jay M. Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning, The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995, 15ff.
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that a man lay down his life for his friends." 46 Christlichen Sinnangeboten wurde ein breiter Raum gegeben, oft der Kirche die Deutung des Todes angetragen. Diese pries die den Gefallenen zugeschriebenen Tugenden des Opfers, der Pflichterfüllung und Hingabe als allgemein christliche Tugenden und entzog den Aufruf, diese Tugenden fortzuführen, so einem explizit militärischem Kontext. Der christliche Erlösungsgedanke, der den Tübinger Korporationen nicht zur Sinnstiftung zu taugen schien, spielte in Cambridge eine wichtigere Rolle im Totengedenken. So begann der Memorial Service im King's College am 2. November 1919, eine der wichtigen Gedenkfeiern dieses Jahres, mit den Worten: „I am the resurrection and the Life, saith the Lord: he that believeth in Me, though he were dead, yet he shall live; and whosoever liveth and believeth in Me shall never die." 47 Der höhere Stellenwert der Religion im Cambridger Gedenken erklärt sich aus der traditionell engen Einbindung der Kirche in das Studentenleben der Oxbridger Colleges. Der religiöse Rahmen des Totengedenkens trug dazu bei, dass in Cambridge die Lage der Nation nicht das einzige Kriterium für die Sinnhaftigkeit des Opfertodes war. Aber auch Pfarrer zogen oft den Sieg als Sinnstiftung für den Tod der Gefallenen heran, vermischten christliche und nationale Argumente. 48 Der zitierte Gedächtnisgottesdienst im King's College begann zwar mit dem christlichen Erlösungsversprechen, endete jedoch mit der Rezitation von Rupert Brooke's War sonnets aus dem Jahr 1914. Das Gedicht The Soldier, mit dem der Gottesdienst abschloss, steht wie kaum ein anderes Gedicht für die Idealisierung nationalen Opfers und britischen Patriotismus: If I should die, think only this of me: That there's some comer of a foreign field That is forever England.49
Auch im Cambridger Gefallenengedenken ging es nicht nur um Trost, sondern auch um Identität und Legitimation der eigenen Gemeinschaft, der eigenen Nation.
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The Dial (Queens' College Magazine), Michaelmas Term 1921, 3; dieser Spruch war einer der auf britischen Denkmalen meistverwendeten, vgl. Alan Wilkinson, The Church of England and the First World War, London 1978, 297. Memorial Service, November the Second, 1919, For the members of King's College and Choir School, and college servants, who have died on active service, Order of service, 1. Magdalene College Chapel, Dedication of the War Memorial, November 11, 1923; Bob Bushaway, Name upon Name: The Great War and Remembrance, in: Roy Porter (Hg.), Myths of the English, London 1992, 136-67, bezeichnet das britische Gedenken als „rooted in the language of the Eucharist and the Passion of Christ" (158), aber gleichzeitig als „strangely areligious": die etablierte Kirche habe keine große Rolle im Gedenken gespielt. Dies sah in den Universitäten jedoch anders aus. Memorial Service, 15. Zu Brooke vgl. Nigel Jones, Rupert Brooke, Life, Death and Myth, London 1999.
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4. Wirkung der Niederlage oder Nachwirkung der Vorkriegstradition? War die Fixierung der Tübinger Korporationen auf die Befreiung der Nation als Sinnstiftungskriterium nur Folge der Niederlage? Welche Rolle spielten Vorkriegstraditionen oder politische Einflüsse der Nachkriegszeit? Die Revolution als unmittelbare Kriegsfolge verstärkte den Eindruck der deutschen Studenten, Kriegsverlierer zu sein; sie verschärfte auch die Frage nach dem Sinn des Opfers für die Nation. Gelegentlich rekurrierten die Studenten dabei auf die Dolchstoßlegende. Gustav Höring etwa prangerte inneren Verrat an mit der rhetorischen Frage an die Toten: „Sprecht, könnt Ihr Ruhe finden, wenn ihr hört/ Dass Deutschland fiel durch deutsche Hand?" 50 Darüber hinaus kann die politische Konstellation der Nachkriegszeit, etwa die Propaganda rechtsnationalistischer Gruppen in Deutschland, jedoch nicht für die Differenzen zwischen englischem und deutschem studentischen Totengedenken verantwortlich gemacht werden, da die aufgezeigten Unterschiede in den Denk- und Sinnstiftungsmustern sowohl die unmittelbare Nachkriegszeit als auch die frühen zwanziger Jahre prägten. In diesem Zeitraum ist kein signifikanter Wandel auszumachen. In Cambridge lässt sich im Laufe der zwanziger Jahre eine langsame Zunahme pazifistischer Deutungen konstatieren, deren Entwicklungsmöglichkeit jedoch schon 1919 angelegt war. Schwieriger ist es, die Rolle der nationalistischen Vorkriegstradition der Tübinger Korporationen zu bewerten. Nationale Gesinnung hatte in ihrer Selbstdefinition eine herausgehobenere Rolle gespielt als in Cambridge. Die Korporationen hatten den Kult um die studentische Opferbereitschaft auf eine Höhe getrieben, die im Cambridge der Vorkriegszeit keine Parallele fand. Die Tatsache, dass die Korporationen ihre Existenzberechtigung argumentativ stets eng mit ihrer nationalen Opferbereitschaft verbunden hatten, trug nach 1918 zur Schärfe der Sinn- und Legitimationskrise bei. Aber auch im Cambridger Studentenleben hatten Patriotismus und die Verherrlichung militärischer Aufgaben des Studenten eine wichtige Rolle gespielt. Rupert Brooke war zwar kein typischer, aber ein stets als Vorbild geltender Cambridge Man der Vorkriegszeit gewesen, galt vor und nach dem Krieg vielen als Verkörperung Cambridger Ideale. Diese nur graduellen Unterschiede zu Tübingen reichen nicht aus, um den signifikant anderen Umgang mit der Frage des Vermächtnisses der Gefallenen zu erklären. Eine plausiblere Begründung bietet der wirkungsmächtige Topos der nicht zur Ruhe kommenden Gefallenen. Der Gedanke einer „Restschuld", einer nicht zu Ende gebrachten Aufgabe dominierte den Tübinger Diskurs in hohem Maße. Cambridger Gedenkfeiern dagegen, seien sie religiös oder säkular, feierten stets den Sieg mit. Hierin sehe ich den entscheidenden Grund für die weitere Spanne des Sagbaren und Denkbaren im Cambridge der Nachkriegszeit. Der Sieg machte viele Interpretationen des Erbes der Gefallenen und der studentischen Aufgaben möglich. Ein letztes Beispiel aus dem Jahr 1925 50
UAT 199/92, Kneipzeitungen 1918-1921, 19. 11. 19, „An unsere Toten".
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soll dies erhellen: Im Oktober 1925 unterzeichnete eine Gruppe von Cambridger Undergraduates, darunter der Präsident der Cambridge Union, eine Deklaration, mit der sie sich zum Pazifismus verpflichteten: „We, the undersigned, convinced that all disputes between nations are capable of settlement either by diplomatic negotiation or by some form of international arbitration, hereby solemnly declare that we shall refuse to support or render war service to any Government which resorts to arms."51
Zwar schränkten einige der Unterzeichnenden auf Nachfrage ein, dass sie in Verteidigung des Völkerbundes oder bei einem überraschenden Überfall auf England doch zu den Waffen greifen würden. Der Union-Präsident Hardman verneinte auch dies. Dennoch unterzeichnete er in der gleichen Woche einen Aufruf mit dem Inhalt: „Armistice Day demands a solemn and grateful recollection of all who gave their lives for national freedom and the world's peace." 52 Diese Einstellung - die Toten des vergangenen Kriegs ehren, einen neuen Kriegseinsatz jedoch ablehnen - charakterisierte große Teile des in den zwanziger Jahren wachsenden Pazifismus in Cambridge. Radikale Pazifisten waren keine Mehrheit im Cambridge des Jahres 1925, und ihre Einstellung fand scharfe Gegner. Aber auch ihre Position ließ sich mit dem Vermächtnis der Gefallenen in Einklang bringen: Mit dem Sieg von 1918 war die Aufgabe der Gefallenen erfüllt, die neue Aufgabe der Studenten nun war die der Friedenswahrung.
5. Fazit Der massenhafte Tod der Kommilitonen im Weltkrieg war für die überlebenden und nachkommenden Studenten in Deutschland ebenso wie in England nur schwer mit Sinn zu versehen. Den deutschen Studenten musste dies jedoch ungleich schwerer fallen, da Niederlage und Zusammenbruch der Nation dem Kriegstod den Sinn raubten, den sie ihm bisher stets zugeschrieben hatten: das Überleben, den Glanz und die Größe des Vaterlandes zu sichern. Die deutschen Studenten sahen den einzigen Ausweg aus ihrer Sinnkrise darin, eine Zukunft aufzurufen, die den verlorenen Krieg durch einen neuen überwinden werde. Deshalb schworen sie, für die „Befreiung" des Vaterlandes in den Krieg zu ziehen, um dem Kriegstod ihrer Kommilitonen doch noch einen Sinn geben zu können. Die Lebenden wurden zu „Geiseln" der Gefallenen, da jene, so das Bild unzähliger Gedichte und Gedenkreden, wie böse Geister so lange nicht zur Ruhe kommen würden, bis das Vaterland erlöst und ihr somit Tod sinnhaft geworden sei. Diese Art des Totengedenkens im Banne der Niederlage schränkte die Handlungsfreiheit der Lebenden ein. Das war in England anders. Angesichts des Sieges ihrer Nation fiel es englischen Studenten leichter, dem Massentod einen Sinn zu geben. In die 51 52
Cambridge Daily News, 14. 11. 1925; The New Cambridge, 07. 11. 1925, 86. The New Cambridge, 21. 11. 1925, 133.
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Zukunft blickten auch die englischen Studenten, wenn sie ihrer Toten gedachten und sich verpflichteten, dem Vermächtnis der Gefallenen gerecht zu werden. Der gewonnene Krieg weitete jedoch die Spanne des Sagbaren. Er bildete die Voraussetzung dafür, dass auch pazifistische Ideale in der Studentenschaft Fuß fassen konnten. Während Tübinger Studenten sich in den zwanziger Jahren mehrheitlich als Soldaten auf Abruf definierten, trat in Cambridge eine solche Rollenvorstellung nach und nach in den Hintergrund.
VANESSA CONZE
Die Grenzen der Niederlage Kriegsniederlagen und territoriale Verluste im Grenz-Diskurs in Deutschland (1918-1970)
Die im Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges erhobenen Forderungen nach territorialen Zugewinnen wurden bei Kriegsende bekanntlich bitter enttäuscht. Vielmehr mussten die Deutschen Grenzveränderungen hinnehmen, die das deutsche Staatsgebiet erheblich verkleinerten: 1919 verlor das Deutsche Reich durch die Regelungen des Versailler Vertrages neben seinen Kolonien Elsass-Lothringen, Danzig, das Memelland, Westpreußen und das Hultschiner Ländchen. Nach (teils manipulierten) Abstimmungen gingen Eupen-Malmedy an Belgien, Nord-Schleswig an Dänemark und Teile Oberschlesiens an Polen. Insgesamt verlor Deutschland durch diese Grenzkorrekturen 2 " 70 000 km Land und ca. 7,3 Millionen Einwohner. Ahnliches wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg: Im Osten (Ostpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg, Schlesien) gingen noch einmal ca. 114 000 km 2 verloren, so dass Deutschland schließlich im Vergleich zu 1914 ein um rund 34 Prozent verkleinertes Territorium besaß. Zwei Kriege mit jeweils weit ausgreifenden territorialen Ambitionen endeten also mit zwei Niederlagen und jeweils erheblichen Gebietsverlusten. Denkt man über die Bedeutung von Kriegsniederlagen für nationale Gesellschaften im 20. Jahrhundert nach, so müssen zumindest im deutschen Fall die territorialen Veränderungen bei Kriegsende eine entscheidende Rolle spielen. Denn die Kriegsniederlagen wurden im kollektiven Gedächtnis auf unterschiedlichen Ebenen mit den territorialen Verlusten verknüpft: Zum einen ergab sich aus verschobenen Grenzverläufen die Veränderung von nationalstaatlichen Zugehörigkeiten; dies wiederum war häufig mit drohenden Diskriminierungen der entstehenden Minderheit, wenn nicht sogar mit Vertreibungen und Fluchtbewegungen verbunden. Grenzverschiebungen waren damit für Teile der Bevölkerung von existenzieller Bedeutung. Doch weit über diese, wenn auch massenhaften, so letztlich doch individuellen (nicht zuletzt materiellen) Erfahrungen hinaus, haben wenige außenpolitische Themen die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert in solchem Maße beschäftigt wie Grenzfragen. 1 Diese Trotz dieser enormen Bedeutung ist der deutsche „Grenz-Diskurs" bisher nicht systematisch beschrieben und analysiert worden. Es finden sich vor allem zwei Kategorien von Literatur: Ent-
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„ B e s e s s e n h e i t " v o n G r e n z f r a g e n wurzelte weit i m 19. Jahrhundert, w a s nicht v e r w u n dern
kann,
wenn
man
die
zentrale
Bedeutung
von
Grenzen
für
nationale
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Identitätsbildungsprozesse b e d e n k t . D e n n G r e n z e n d i e n e n dazu, durch die A b g r e n z u n g v o m „Anderen", v o m „Fremden", Identitäten zu stiften - w o b e i e s i m Z u g e der N a t i o nalstaatsbildung d e s 19. Jahrhunderts vor a l l e m d i e nationalen G r e n z e n waren, mit d e n e n sich die D e u t s c h e n auseinander setzten. D i e D e b a t t e n über D e u t s c h l a n d s Grenzen, d i e in der Frankfurter N a t i o n a l v e r s a m m l u n g ihren ersten H ö h e p u n k t erlangten, 3 aber auch in späteren Jahrzehnten mit g r o ß e m Einsatz v o n Politikern, Publizisten u n d W i s s e n s c h a f t l e r n geführt w u r d e n , 4 f a n d e n selbst mit der R e i c h s g r ü n d u n g kein E n d e . D a s B e d ü r f n i s , d i e e i g e n e Identität durch die A b g r e n z u n g v o n d e n e u r o p ä i s c h e n N a c h barn zu stärken, f o r m t e d i e p o l i t i s c h e Kultur in D e u t s c h l a n d : G r e n z e n w u r d e n zu e i n e m T e i l d e s nationalen M y t h o s . 5 H ä u f i g g e n u g w u r d e n G r e n z e n dabei nicht als statisch verstanden, sondern mit e i n e m e x p a n s i v e n E l e m e n t verknüpft, e i n e E n t w i c k l u n g , die in den z u m Teil w e i t g e s t e c k t e n K r i e g s z i e l e n d e s Ersten W e l t k r i e g e s ihren H ö h e n p u n k t fand. B e i K r i e g s e n d e m u s s t e n die territorialen R e g e l u n g e n d e s Versailler Vertrages den nationalen M y t h o s der „Grenze" daher tief erschüttern. Im E r g e b n i s formierte sich ein regelrechtes „Grenz-Syndrom", w e l c h e s G r e n z e n bis w e i t über d e n Z w e i t e n W e l t k r i e g hinaus zu e i n e m der zentralen T h e m e n in der p o l i t i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t w e r d e n ließ.
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weder klassisch außenpolitikgeschichtliche Arbeiten, die Grenzfragen vor allem im Regierungshandeln untersuchen, dabei aber gesellschaftliche Zusammenhänge und Rückwirkungen dieser Grenzdebatten außer Acht lassen. Andererseits liegen Arbeiten vor, die sich eher kultur-, ideen- oder wissenschaftsgeschichtlich orientiert der „Raumfixierung" der deutschen Gesellschaft bzw. der deutschen Human- und Geisteswissenschaften zuwenden, außenpolitische Aspekte jedoch meist unberücksichtigt lassen. Die Forschung hat sich der identitätsstiftenden Wirkung von Grenzen jüngst verstärkt zugewandt, in Auswahl: Wilfried Heller, Grenzen und ihre Erforschung, Gegenstände, Fragestellungen, Zielsetzungen, in: Irene Diekmann/Peter Krüger/Julius H. Schoeps (Hg.), Geopolitik, Grenzgänge im Zeitgeist, 2 Bde., Potsdam 2000, 325-350; Hans Medick, Zur politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Neuzeit Europas, in: Sowi 20 (1991), 157-163; Daniel Nordman, Des limites d'Etat aux frontières nationales, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. II: La nation, Paris 1986, 35-61; Jürgen Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes, Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: NPL 43 (1998), 374-397; Peter Weichhart, Territorialität, Identität und Grenzerfahrung, in: Peter Haslinger (Hg.), Grenze im Kopf, Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa, Frankfurt a. M. 1999, 19-30. Manfred Kittel, Abschied vom Völkerfrühling? National- und außenpolitische Vorstellungen im konstitutionellen Liberalismus 1848/48, in: HZ 275 (2002), 333-383; Günter Wollstein, Das Großdeutschland der Paulskirche, Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977. Vgl. z. B. zu den geographischen Diskussionen: Hans Dietrich Schultz, Deutschlands natürliche Grenzen, „Mittellage" und „Mitteleuropa" in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: GG 15 (1989), 248-281. Peter Krüger, Der Wandel der Funktion von Grenzen im internationalen System Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, in: Hans Lemberg, Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Aktuelle Forschungsprobleme, Marburg 2000, 39-56.
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Die Kriegsniederlagen von 1918 und 1945 verdichteten sich gewissermaßen in der territorialen Verlusterfahrung. Hier schienen sich alle Folgen der Niederlagen des Ersten und Zweiten Weltkrieges zu spiegeln: (Außen-)Politischer Machtverlust, Demütigung durch die ehemaligen Kriegsgegner, wirtschaftliche und militärische Schwächung. Daher kam der „Kampf" gegen die veränderten Grenzverläufe vor allem nach dem Ersten Weltkrieg einem Kampf gegen die Kriegsniederlage gleich - und zwar in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen: Politik, Medien, Öffentlichkeit, Interessengruppen und Wissenschaften, sie alle debattierten über Grenzfragen, suchten nach politischen Wegen zur Veränderung bestehender Grenzen, fragten nach der „Gerechtigkeit" aktueller Grenzen, waren bemüht, außerhalb deutscher Grenzen liegende Gebiete als „deutsch" zu legitimieren oder suchten nach Definitionen für „gute" Grenzen im Allgemeinen. In veränderter Form galt dies auch noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Erst im Verlauf der sechziger Jahre veränderte sich der Umgang der Westdeutschen mit konkreten Grenzverläufen (insbesondere der Oder-NeißeGrenze) einerseits, aber auch mit dem Verständnis von Grenzen generell; und ebenso langsam veränderte sich auch das Verhältnis der Westdeutschen zu den Kriegsniederlagen des 20. Jahrhunderts. Die Akzeptanz der territorialen Verluste bzw. der neuen Grenzverläufe und die Akzeptanz der Kriegsniederlage(n) hingen somit unmittelbar zusammen. Während die Kriegsniederlage nach dem Ersten Weltkrieg von der deutschen Gesellschaft nicht angenommen wurde, blieben auch die territorialen Verluste inakzeptabel. Die „totale Niederlage" nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen war nicht mehr zu leugnen. Sie jedoch in all ihren Auswirkungen zu akzeptieren, und damit gleichzeitig auch Schuld einzugestehen und Verantwortung für die im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen zu übernehmen, dazu benötigte die westdeutsche Gesellschaft nach 1945 noch mehr als zwei Jahrzehnte. Erst dann konnten auch die territorialen Verluste akzeptabel werden - von vielen nun gewissermaßen als „Strafe" hin- und angenommen. In der Analyse des deutschen Grenz-Diskurses nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg lässt sich daher wie in einem „Brennspiegel" auch die Niederlagenerfahrung der Deutschen nach 1918 und 1945 fassen. Dies soll im Folgenden thesenhaft geschehen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den strategisch und politisch wichtigen Grenzen in West und Ost, denn es waren vor allem die deutsch-französische und die deutsch-polnische Grenze, an denen sich die Niederlagenerfahrungen der deutschen Gesellschaft festmachten. Im Osten erlitten die Deutschen sowohl nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg die größten territorialen Verluste, und die Akzeptanz dieser Verluste fiel gerade hier besonders schwer. Im Westen sahen sich die Deutschen der Zwischenkriegszeit ebenso im „Grenzkampf" stehen wie im Osten - nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich jedoch im Kontext der europäischen Integration hier ein neues Grenzverständnis, das schließlich auch im Hinblick auf die Ostgrenze zu einem Einstellungswandel führen sollte. Betrachtet werden die Jahrzehnte vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die siebziger Jahre. Dann war in der Bundesrepublik (die hier im
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Vanessa Corize
Zentrum stehen wird) ein entscheidender Wendepunkt erreicht: Die „neue Ostpolitik" hatte einerseits die deutsch-polnische Grenze (wenn auch nicht völkerrechtlich, so doch politisch) anerkannt, andererseits war die europäische Integration im Westen so weit fortgeschritten, dass die klassischen nationalstaatlichen Grenzen im Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung deutlich aufzuweichen und an Bedeutung zu verlieren begannen. Der Text ist in drei Teile gegliedert. In einem ersten Teil sollen knapp die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen skizziert werden, die sich in die Grenzdebatten nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg einschalteten. In einem zweiten Teil sind dann die typischen Argumentationsmuster zu betrachten, mit denen man nach dem Ersten, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, Grenzveränderungen zu legitimieren. In einem letzten Teil schließlich gilt es sich der Frage zuzuwenden, inwieweit sich die Reaktionen auf die territorialen Veränderungen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg voneinander unterschieden. Damit wird gleichzeitig die Frage anzusprechen sein, wann die Deutschen die territorialen Verluste - und damit die Niederlagen insgesamt - tatsächlich akzeptierten und annahmen.
1. Grenzen in Politik und Öffentlichkeit Generell lässt sich sagen, dass die Grenzregelungen, wie sie nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen wurden, von der deutschen Öffentlichkeit und Politik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein heftig debattiert wurden. Die Nicht-Anerkennung der Grenzregelungen bildete ein verbindendes Signum der Außenpolitik der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit, wenn sich diese Nicht-Anerkennung auch in durchaus unterschiedlicher konkreter Politik niederschlug. War nach 1919 die Revision der Versailler Ordnung das wichtigste Ziel deutscher Außenpolitik, ging es nach 1945 vor allem um das Offenhalten der Grenzfrage im Osten, also an Oder und Neiße. Nach 1919 sollte - mit unterschiedlichen Mitteln, die von der Verweigerung (Anfang der zwanziger Jahre) über die Verständigung (Mitte der zwanziger Jahre) bis hin zur gewaltsamen Grenzveränderung (im Zweiten Weltkrieg) reichten - ein völkerrechtlich legitimiertes System destabilisiert werden. Eng damit verbunden war die Hoffnung auf eine Tilgung der Kriegsschuldzuweisung und der Niederlage insgesamt sowie auf eine Rückkehr zum nationalen (Groß-)Machtstatus. Nach 1945 stand demgegenüber die Forderung nach einer völkerrechtlichen Lösung der deutschen Grenzfrage im Rahmen eines Friedensvertrages im Zentrum und der Versuch, bis dahin eine o f f i zielle völkerrechtliche Anerkennung der nach dem Krieg geschaffenen Situation zu verhindern. Die Nicht-Anerkennung der innerdeutschen wie der Oder-Neiße-Grenze bedeutete gleichzeitig auch eine Stellungnahme im Kalten Krieg, nämlich die NichtAnerkennung der kommunistischen Regime des Ostens. Dies zog in den fünfziger und sechziger Jahren den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik nach sich (wenn
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die Regierung Adenauer sich intern auch schon früh der Tatsache bewusst war, dass die Gebiete des ehemaligen deutschen Ostens dauerhaft verloren waren). Die DDR hingegen musste die Oder-Neiße-Grenze bereits 1950 auf Geheiß Moskaus als die „Friedensgrenze" anerkennen und betonen, dass es „zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk keine gegensätzlichen Interessen" in Hinblick auf den Grenzverlauf gebe. 6 In der Bundesrepublik wurde diese Verweigerungshaltung nur langsam abgelöst durch die verständigungsbereitere „Neue Ostpolitik". Diese bestand zwar weiterhin auf der prinzipiellen Veränderbarkeit von Grenzverläufen, schloss allerdings gewaltsame Mittel dafür aus und sicherte somit Polen (für den Fall der deutschen Wiedervereinigung) die Unverletzlichkeit der Grenze vertraglich zu (Warschauer Vertrag 1970). Willy Brandts Kniefall in Warschau symbolisierte in diesem Zusammenhang die enge Verzahnung zwischen einer Akzeptanz des territorialen Verlustes und der Anerkennung der deutschen Schuld im Zweiten Weltkrieg. Erst 1990 erfolgte jedoch die endgültige völkerrechtliche Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten territorialen Regelungen im Rahmen des „2+4-Vertrages". Parallel zu dieser langsamen Akzeptanz der Grenze im Osten sehen wir in der Nachkriegszeit eine sich durch die europäische Integration völlig verändernde Debatte um Deutschlands Grenzen im Westen, Süden und Norden. Die deutsche Öffentlichkeit stützte die politische Nicht-Anerkennung der Grenzregelungen sowohl nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Verschiedenste Interessengruppen, Verbände und Medien schalteten sich aus unterschiedlichsten Gründen in die Debatte um deutsche Grenzverläufe ein. Zum einen lässt sich dabei die Gruppe der im weitesten Sinne „Betroffenen" ausmachen: Nach dem Ersten Weltkrieg waren dies vor allem die Auslandsdeutschen, also alle jene, die durch die neuen Grenzregelungen plötzlich nicht mehr zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches gehörten. Es bildeten sich Verbände und Organisationen, die sich den „Schutz" dieser Deutschen auf die Fahnen schrieben und die sich massiv darum bemühten, auf die Politik im eigenen Sinne Einfluss zu nehmen und ihr Argumente für einen revidierten Grenzverlauf zu liefern. In veränderter, doch strukturell ähnlicher Weise wurde ihre Arbeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von den Vertriebenenverbänden fortgesetzt. Nicht zuletzt das Betreiben dieser Gruppierungen von „Betroffenen" führte dazu, dass Grenzen in der Presse und den Medien immer wieder thematisiert wurden. Andere Gruppen wie etwa Wirtschaft und Militär kamen hinzu, die aus jeweils eigenen Interessen die gefundenen Grenzregelungen ablehnten und sich sowohl durch politische Lobby- wie Öffentlichkeitsarbeit mit ihren Argumenten - auf die noch einzugehen sein wird - in die Diskussion einschalteten. Schließlich bemühte sich auch die Wissenschaft um die (De-)Legitimierung von Grenzverläufen. Sie stellte Politik und Öffentlichkeit vor allem nach dem Ersten Welt6
Rudi Goguel/Heinz Pohl, Oder-Neisse, Eine Dokumentation des Instituts für Zeitgeschichte, Berlin 1955, 166. Vgl. auch: Felix-Heinrich Gentzen, Ewige Freundschaft an Oder und Neiße, Neue Gesellschaft (1952), 7, 488-453.
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krieg Sinnstiftungsangebote zur Verfügung, die die Schmach der Niederlage von 1918 objektivieren helfen und gleichzeitig die vermeintlich wissenschaftlich nachweisbare Fehlerhaftigkeit der territorialen Verluste beweisen sollten. An dieser Debatte beteiligten sich unterschiedlichste Disziplinen, neben Geografie und Geschichte die Völkerrechts-, Wirtschafts- und die so genannten Wehrwissenschaften, die Raumforschung und die Soziologie, um einige Beispiele zu nennen. Wissenschaftler boten sich als politische Experten, aber auch als „Meinungsmacher" in der Öffentlichkeit an. Mit ihren Arbeiten versuchten sie, die Ordnung des Versailler Systems zu delegitimieren. Gegenstimmen waren selten zu hören, am ehesten aus pazifistischen und völkerbundsnahen Kreisen. Gehör fanden diese Stimmen in der Zwischenkriegszeit jedoch kaum. Erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein langsamer Lernprozess ein, der die deutsche Gesellschaft allmählich zu einem veränderten Umgang mit ihren territorialen Grenzen führte. Am Beispiel der typischen Argumentationsmuster für Grenzverläufe nach dem Ersten, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg wird dies im Folgenden nachzuvollziehen sein.
2. Argumentationsmuster in Grenz-Debatten Die Argumente, die von all diesen gesellschaftlichen Gruppen sowohl nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Nicht-Anerkennung der Grenzverläufe gefunden wurden, lassen sich in sieben Kategorien unterscheiden. Die größte Vielfalt an Grenzkonzepten fand sich dabei in der Zwischenkriegszeit, auf die in einem ersten Schritt einzugehen sein wird. Die Nachkriegszeit sah manche dieser Argumentationsweisen wieder, andere jedoch verschwanden völlig.
2.1 „Grenzkampf" in der Zwischenkriegszeit 1. An erster Stelle finden wir in diesem Diskurs politische Argumente gegen die Grenzziehung des Versailler Systems. Diese bildeten beinahe immer die explizit ausgeführte Motivation, bestimmte Grenzführungen zu analysieren und zu kommentieren: Publizistik und Wissenschaft sahen es als ihre Aufgabe an, das vermeintlich geschehene politische Unrecht immer wieder zu schildern, um es auf diese Weise nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden Überlegungen zu den deutschen Gebietsverlusten immer wieder in den Gesamtkontext des „Schanddiktats" von Versailles gestellt. Wir finden verhältnismäßig wenige Zeugnisse, die sich ausschließlich mit einzelnen Grenzfragen beschäftigen. Es ging vor allem darum, das umfassende Unrecht, das man durch Versailles meinte erlitten zu haben, in grellsten Farben zu zeichnen. Die „unverheilten Brandwunden in der Außenhaut des Volkskör-
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pers"7 waren kurz nach dem Krieg nur Teil jener „Amputationen", die man dem deutschen Volk insgesamt vermeintlich zugemutet hatte, indem man ihm seine Wirtschaftskraft, seine Militärmacht und seine „Ehre" raubte. Hier fielen Niederlagen- und territoriale Verlusterfahrung auch sprachlich noch vollständig zusammen. Doch auch in späteren Jahren kamen bei den politischen Argumenten immer wieder die „Ungerechtigkeiten" des Friedensschlusses sowie der Politik der unmittelbaren Nachkriegsjahre zur Sprache. An erster Stelle stand dabei der Verweis auf die 14 Punkte Wilsons, die sich als „eitel Lug und Trug" erwiesen hätten und mittels welcher die Deutschen über o
die Natur des Friedensschlusses „getäuscht" worden seien. Das „Selbstbestimmungsrecht" sei „wider alle Gerechtigkeit und alle politische Vernunft" entweder verweigert oder manipuliert worden. 9 Der Vorwurf der Abstimmungsmanipulation durch die Alliierten jedoch wurde nur selten explizit geäußert. Vielmehr suchte man, vor allem im Hinblick auf die „Korridor-Gefahr" 10 immer wieder Unterstützung im Ausland, wo vermeintlich „viel klarer als bei uns die Unhaltbarkeit der politischen Lösungen im Osten erkannt wird".11 Ausländische Stimmen, die die Korridorlösung mit den vom Reich abgetrennten Ostgebieten beklagten, wurden ausführlich zitiert, immer wieder verbunden mit dem Hinweis, dass der Korridor die europäische Sicherheit und damit den Weltfrieden gefährde. 12 Ein weiterer politischer Argumentationsstrang bezog sich auf die Rheinlandbesetzung bzw. den „Ruhrkampf".13 Generelles Ziel war es, die Politik der Franzosen als annexionistisch zu beschreiben: Es ginge letztlich nur darum, den Rhein als französi-
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Karl Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927, XIV. Alfred Hettner, Der Friede und die Politische Geographie, in: Geographische Zeitschrift 25 (1919), 233-235, hier: 233; vgl. z. B. auch die Erläuterungen zu der Karte: Wie der Versailler Vertrag Wilsons Grundsätze mißachtet und den deutschen Westen verstümmelt hat, in: Karl Linnebach, Die gerechte Grenze im deutschen Westen, ein lOOOjähriger Kampf, Berlin 1926, 61. Paul Blunk, Ostpreußen und der Korridor, Vortrag gehalten am 16. März 1933, Berlin 1933, 3. [anonym], Die Korridor-Gefahr, Das Problem des deutschen Ostens, der europäischen Verständigung, des Weltfriedens, München 1930. Die Korridor-Gefahr, Geleitwort. Vgl. etwa: Margarete Gaertner, Zeugnisse der Wahrheit, Danzig und der Korridor im Urteil des Auslands, Berlin 1939; Erich Murawski, Das Korridorproblem in der internationalen Diskussion, in: Friedrich Heiss/Arnold Hillen Ziegfeld (Hg.), Deutschland und der Korridor, Berlin 1933, 221260; Ulrich Wendland, Das Korridorproblem in der internationalen Diskussion, in: Friedrich Heiß (Hg.), Deutschland und der Korridor, Berlin 1939, 277-290; Polnische und andere ausländische Stimmen zum Korridor- und Danzig-Problem, Auslandsstimmen über Danzigs Deutschtum, Welche Vorschläge hat das Ausland im Laufe der Nachkriegsjahre gemacht?, in: [anonym], Korridor und Danzig, Breslau 1939, 11-33. Vgl. z. B. Franz Rodens, Der Sieg am Rhein, Frankreich und der Separatismus, Bonn 1933; Um Rhein und Ruhr und deutsches Sein, Des deutschen Volkes Kampf um seine Freiheit, sein Recht, seine Arbeit und sein Vaterland, unter Mitarbeit deutscher Männer und Frauen herausgegeben, Berlin 1923; Karl Wachendorf, Zehn Jahre Fremdherrschaft am deutschen Rhein, Eine Geschichte der Rheinlandbesetzung, Berlin 1928 (mit ausführlichen Literaturangaben).
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sehe Ostgrenze zu etablieren. 14 Diese zeitgenössische Literatur zur Rheinlandfrage oder zum polnischen Korridor ist kaum zu übersehen. 15 Darunter finden sich Schmäh- und Hetzschriften; die große Menge der Texte jedoch versuchte sich - trotz aller politischen Argumentationsweisen - bewusst „unpolitisch" zu geben; immer wieder beschwor man eine „vollkommen überparteiliche Haltung". 16 Diese im Kern höchst politische „unpolitische" Grundhaltung - ein zentrales Element der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit nicht nur in konservativen Kreisen - findet sich in dieser Zeit auch in den meisten Werken zu Grenzfragen. 17 2. Diese politische Fundierung aller Grenzfragen wurde mit Argumenten verknüpft, die die politische „Ungerechtigkeit" inhaltlich unterfüttern und ihre vermeintlich katastrophalen Auswirkungen schildern sollten. Gleichzeitig entwickelten sich im Gefolge dieser Argumente dann aber auch Legitimationsstrategien für „bessere" und „gerechtere" Grenzen. So wurden die politischen Argumente nicht selten verknüpft mit Hinweisen zur militärischen Entwicklung aufgrund der Grenzziehungen des Versailler Vertrages Argumente, die sich verflochten mit dem Kampf gegen die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages. Die sich in der Zwischenkriegszeit, besonders aber nach der nationalsozialistischen „Machtübernahme" etablierenden „Wehrwissenschaften" fühlten sich in besonderem Maße berufen, die deutschen Grenzen im Hinblick auf militärische 14
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Hermann Coblenz, Frankreichs Ringen um Rhein und Ruhr, Eine Schriftenreihe zur Abwehr, Berlin o. J.; Ernst Keetmann, Frankreichs Kampf um den Rhein, Eine politische Studie zum Versailler Friedensdiktat, (Völkerrechtsfragen 9), Berlin 1925; Walter Platzhoff, Rhein und Osteuropa in der französischen Außenpolitik, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 7 (1928), 1-8. Auf die immer wieder erwähnte historische Kontinuität französischer Ostpolitik wird im Zusammenhang mit historischen Argumentationsweisen noch einmal zurückzukommen sein. Zur Bedeutung des Rheins für Frankreich: Fernand L'Huillier, Le mythe français du Rhin 1918-1923, in: Christian Baechler (Hg.), L'Etablissement des frontières en Europe après les deux guerres mondiales, Bern u. a. 1996, 263-279. Siehe zum „Rhein"-Problem insgesamt: Nikolaus Flüeler, Der mißbrauchte Rhein, Untersuchung zu einem problematischen Thema der Geschichte deutsch-französischer Beziehungen, Phil. Diss, Zürich 1966; Aram Mattioli, „Volksgrenzen" oder Staatsgrenzen? Wissenschaft und Ideologie in der Debatte um die Hochrheingrenze (1925-1947), in: Guy Marchai (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen (11.-20. Jahrhundert), Zürich 1996, 285-311; Peter Schöttler, Le Rhin comme enjeu historiographique dans Γ entre-deux-guerre, in: Genèse 14 (1994), 63-82; Franziska Wein, Deutschlands Strom - Frankreichs Grenze, Geschichte und Propaganda am Rhein 19191930, Essen 1992. Vgl. die Verzeichnisse: Paul Güntzel, Das Schrifttum über das Recht der abgetretenen und besetzen Gebiete, in: Juristische Wochenschrift (1926), 1377; Georg Reismüller/Josef Hofmann, Zehn Jahre Rheinlandbesetzung, Ein beschreibendes Verzeichnis des Schrifttums über die Westfragen mit Einschluß des Saargebietes und Eupen-Malmedy, Leipzig 1928; Paul Rühlmann, Fragen des besetzten Westens, Ein Literaturnachweis, 2. Aufl., Berlin 1925; Helmut Göring, Die Großmächte und die Rheinfrage in den letzten Jahrhunderten, Berlin 1926, Vorbemerkung des Herausgebers. Raimund von dem Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik, Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998, vor allem 21-53.
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Argumente zu analysieren. Für ihre Vertreter stimmten die als militärisch sinnvoll erachteten „Wehrgrenzen" nicht mit den Grenzen von 1919 überein. Auf zahlreichen Karten wurde dem Betrachter deutlich gemacht, wie wehrlos das Deutsche Reich durch seine Grenzführung sei: Während die wirtschaftlichen Ballungsräume in grenznahen Gebieten, also nicht im „deutschen Restschutzraum" 19 lägen, hätten nicht einmal die großen Städte die notwendige Sicherheit vor einem Angriff. Insgesamt war man der Überzeugung, dass Deutschland „die wohl schlechtesten militärischen Grenzen in Eu20
ropa besitzt", ja durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages eigentlich „keine Grenzwehr und vollends keine Form der Wehrgrenze" mehr besäße und damit vollständig „entwehrt" (das hieß gleichzeitig auch: „entehrt") sei.21 Dafür waren nach Auffassung aller Autoren primär die Ergebnisse des Versailler Vertrages verantwortlich zu machen. Doch traten weitere Argumente hinzu: Zum ersten das Problem der deutschen „Mittellage". Dabei handelte es sich um einen alten Topos, der historisch immer dazu gedient hatte, eine Vormachtstellung des Deutschen Reiches über „Mitteleuropa" zu begründen. Angesichts der Kriegsniederlage und der politischen Situation der Zwischenkriegszeit jedoch erschwerte, in Anknüpfung an den Einkreisungs-Topos vor 1914, nach dem 22 Verständnis der „Wehrwissenschaften" die Mittellage Deutschlands Grenzsituation: „Je mehr fremde Völker an einen Staat grenzen, wie es bei der Mittellage der Fall ist", desto größer die Gefahr eines militärischen Überfalls, aber auch einer ideologischen Beeinflussung der Bevölkerung im Grenzland. 23 Doch „für die Sicherheit eines Staates ist es nicht nur entscheidend, wie er zu seinen Nachbarn liegt, sondern auch wie seine Grenzen beschaffen sind". 24 So erwies sich auch die äußere Gestalt Deutschlands in wehrwissenschaftlicher Betrachtung als ungünstig, denn „je mehr sich ein Staat der Kreisform nähert, um so kürzer werden seine Grenzen, und um so leichter kann er verteidigt werden." 25 Die Grenzen des Deutschen Reiches jedoch seien nicht nur „3,1 mal länger als der Umfang des flächengleichen Kreises", nein, sie enthielten an der deutsch-polnischen und der böhmischen Grenze auch noch Ausbuchtungen, die insbesondere Berlin gefährlich nah an die Grenze heranrücken lassen. Geografische Argumente, nach denen dem deutschen Boden an den Grenzen der nötige Schutz durch natürliche Hindernisse fehlte, traten hinzu: So sahen manche Autoren den Rhein als die eigentlich militärische Grenze: Für sie stellten die 18
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Zu den „Wehrwissenschaften" vgl. Christoph Jahr, D i e „geistige Verbindung von Wehrmacht, Wissenschaft und Politik", Wehrlehre und Heimatforschung an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1933-1934, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), 161-176. Haushofer, Grenzen, 218. Ewald Banse, Wehrwissenschaft, Einführung in eine neue nationale Wissenschaft, Leipzig 1933, 7. Haushofer, Grenzen, 218. Zur „Mittellage" und „Mitteleuropa" vgl. den Abschnitt zu geographischen Argumentationsweisen. Friedrich Papenhusen, Wehrwissenschaft und Wehrgeographie, in: Geographische Wochenschrift 1 (1933), 797-804, hier: 798. Ebd., 802. Ebd., 801.
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linksrheinischen Gebiete ein „Glacis" dar, das im Falle eines Krieges notwendigerweise geopfert werden musste, weil es nicht zu verteidigen war. 26 Die insgesamt weit verbreitete Absicht, das deutsche Volk „wehrhaft" zu machen, spiegelte sich in diesen Debatten über die militärischen Grenzen des Reiches. „Grenzwehr und Wehrgrenze" durften nach dieser Meinung solange nicht „als Idee aus der öffentlichen Meinung des deutschen Volksbodens, aus der Schule und Erziehung, besonders aus den Hochschulen verschwinden, bis alle anderen Völker Europas auch mindestens die Entwehrung ihrer Grenzen [...] zugestanden haben."27
Hier verknüpfte sich der Grenzdiskurs wiederum mit tagespolitischen Argumenten: den Debatten um Sicherheit und Abrüstung der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. 3. Neben militärische Argumente traten Hinweise zur wirtschaftlichen Entwicklung aufgrund der Grenzziehungen des Versailler Vertrages. Das Saargebiet stecke in einer „wirtschaftsgeographischen Schlinge, es steck[e] in einem Sack, es [sei] von drei Seiten von der Franken- und der Zollgrenze umzingelt mit der notwendigen Wirkung der fast vollständigen Abtrennung von den seit Jahrhunderten eingespielten Bezugs- und Absatzgebieten."28
Ähnliches versuchte man für das Rheinland zu zeigen, welches als Beispiel einer Region galt, die durch die veränderten Grenzen und die französische Besatzung einen deutlichen wirtschaftlichen Niedergang erlebe, den die Franzosen gezielt herbeiführten. 29 Diese Texte verstanden Grenzen vorwiegend als Zollgrenzen, deren Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft mit genauen statistischen Angaben ausgeführt wurden. Gleichzeitig verwies man auf die eminent politische Bedeutung der um das Rheinland bzw. das Ruhrgebiet errichteten Zollgrenzen: Zwar habe die französische Regierung bei den Friedensverhandlungen in Versailles den Begriff „Annektion" vermieden, doch wenn „Frankreichs militärische Grenze der Rhein ist, Frankreichs Zollgrenze der Rhein ist, Deutschlands politische Westgrenze der Rhein ist, worin unterscheiden sich diese Konstruktionen von einer Annektion der linksrheinischen Gebiete"? 30 Gerade für den Westen empfanden es Publizisten und Wissenschaftler daher als wichtig, auf die Wirtschaftsnöte durch die Grenzziehungen aufmerksam zu machen, nahmen sich die Verän26 27 28
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Oskar von Niedermayer, Wehrgeographie, Berlin 1942. Haushofer, Grenzen, 218. Hermann Van Ham, Die Wirtschaftsnöte des Westens durch Kriegsausgang und Grenzziehung mit besonderer Berücksichtigung der Rheinprovinz, Berlin 1928. Vgl. in Auswahl: Peter Härtel, Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet, Diss., Köln 1925; Carl H. Heneo, Frankreichs Wirtschaftsziele während der Besatzung, in: Otto Peters (Hg.), Kampf um den Rhein, Beiträge zur Geschichte des Rheinlandes und seiner Fremdherrschaft 1918-1930, Mainz 1930, 70-80; Reinhold Quaatz, Der Franzoseneinbruch, Frankreichs Angriff und Deutschlands Verteidigung, Ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung, Berlin 1923; Rudolf Strobel, Sanktionen und Rheinzollinie, Eine politisch-wirtschaftliche Studie, München 1922. Heneo, Frankreichs Wirtschaftsziele, 71.
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derungen hier doch, gerade im Vergleich mit dem „Korridor", offenbar „nicht sensationell genug" aus: „Die heutige Ostgrenze des Reiches schreit [...] ihre Unvernunft heraus, die neue deutsche Westgrenze dagegen sieht auf der Karte nicht ganz so den deutschen Volkskörper zerfetzend aus."31 In ihren Wirkungen aber seien die wirtschaftlichen Grenzen ebenso verheerend wie im Osten. Die „Zerstückelung" des Reiches durch den „Korridor" und die Abtrennung des oberschlesischen Industriegebietes war jedoch nach ökonomischer Argumentation noch bedeutender, schließlich hatte das Reich mit dem Verlust Oberschlesiens einen erheblichen Teil seiner Industriekapazität und Rohstoffvorräte eingebüßt. Hier wurde von Publizistik und Wissenschaft immer wieder der Beweis einer seit Jahrhunderten schicksalhaft verbundenen einheitlichen Wirtschaftslandschaft im Osten „als Teilgebiet des Gesamtorganismus des Deutschen Reiches" zu erbringen versucht, 32 die durch polnische Zoll- und Abschottungsmaßnahmen zerstört und zu einer „wirtschaftlich toten Zone" werde. Doch auch die Grenzregelungen „vor Ort" erwiesen sich nach Überzeugung unterschiedlicher Autoren als „unsachgemäß" und dilettantisch, da sie das Hinterland von Kreisstädten abtrenne, Verkehrswege und Eisenbahnlinien durchschneide. 33 4. Einen weiteren entscheidenden Argumentationsstrang bildeten geografische und geopolitische Überlegungen zur deutschen Grenzstruktur. Traditionell gehörten geografische Grenzen zu den zentralen Untersuchungsfeldern von Geographen. 34 Im Verlauf des Ersten Weltkrieges und seines Ausgangs lud sich diese geografische Beschäftigung verstärkt politisch auf. 35 Geographen sahen sich selbst als prädestiniert an, dem Staat bei seinen Bemühungen um „richtige" Grenzen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Neben den anthropogeografischen Grenzen wie Siedlungs-, Verkehrs oder Kulturgrenzen griffen Geographen dabei häufig auf die alte Idee der „natürlichen" Grenze zurück: Ideale Grenzen verliefen so, dass sie in der Natur etwa in Form von morphologische 31 32
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Van Harn, Die Wirtschaftsnöte des Westens, 5. Walter Geisler, Die ostdeutsche Wirtschaftslandschaft und ihre Zerstörung durch das Diktat von Versailles, in: Heiss (Hg.), Deutschland und der Korridor, Berlin 1939, 153-170, hier: 157; Carl Budding, Der polnische Korridor als europäisches Problem, Danzig 1932. Geisler, Die ostdeutsche Wirtschaftslandschaft, 168f. Vor allem Hans-Dietrich Schultz hat sich diesen Zusammenhängen gewidmet: Schultz, Deutschlands natürliche Grenzen; ders., Deutschlands „natürliche Grenzen", in: Reimer Hansen/Alexander Demandt (Hg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1993, 32-93; ders., Raumkonstrukte in der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit, Ein Überblick, in: GG 29 (2003), 3, 343-377. Vgl. ζ. B.: Albrecht Penck, Über politische Grenzen; Wilhelm Sievers, Die geographischen Grenzen Mitteleuropas, Akademische Rede zur Jahresfeier der Großherzoglich Hessischen LudwigsUniversität am 1. Juli 1916, Glessen 1916; Alfred Hettner, Der Friede und die Politische Geographie, in: Geographische Zeitschrift 25 (1919), 233-235; Otto Maull, Geographische Staatsstruktur und Staatsgrenzen, in: Kartographische und schulgeographische Zeitschrift 7 (1919), 9/10, 129136. Siehe auch: Astrid Mehmel, Deutsche Revisionspolitik in der Geographie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geographische Rundschau 47 (1995), 9, 498-505.
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Grenzen oder Klima- und Vegetationsgrenzen ablesbar seien. Solche geografisch ausgerichteten Grenzdefinitionen kannte man bereits seit Jahrhunderten. 36 Mit der zunehmenden Politisierung der Grenzfragen in der Zwischenkriegszeit jedoch entpuppte sich die Idee der „natürlichen" Grenze immer wieder als problematisch: Der Rhein etwa sollte - im Anschluss an Ernst Moritz Arndt - ganz selbstverständlich „Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze" sein. 37 Daher wurde die Auffassung, dass Flüsse die „natürlichen" Grenzen zwischen Gebieten darstellten, im Falle des Rheins vehement abgestritten: „Der Rhein ist nicht die Grenze einer Naturlandschaft, sondern nur ein Glied der natürlichen Einheit [einer] rechts und links des Stroms gleichmäßig und symmetrisch aufgebauten Landschaft," deren Grenze erst am westlichen Ende dieser Symmetrieachse - also westlich der Vogesen - verlaufe. Auch im Osten konnte die Idee der „natürlichen" Grenze nicht im eigenen Interesse genutzt werden, und so sahen es viele Geographen als erwiesen an, dass der deutsche Raum „nach Osten offen" sei und sich dort „keine feste Naturgrenze, [...] die sich als günstige politische Grenze" eignen würde, fände. 39 Bedeutung erlangte die Idee der „natürlichen" Grenze eher im Hinblick auf eine europäische Ordnung: Die Stärkung des vermeintlich natürlich vorgegebenen Raumes „Mitteleuropa" - mehr oder weniger unter deutscher Hegemonie gedacht - erschien vielfach als die einzige Möglichkeit, die als verhängnisvoll interpretierte „Mittellage" Deutschlands zu überwinden. 40 Dass sich die Ausdehnung „Mitteleuropas" dabei je nach Anschauung erheblich unterscheiden konnte, zeigt nur, wie relativ die Idee der „natürlichen" Grenze war. Doch blieb es im Hinblick auf geografische Grenzlegitimationen nicht allein beim Konstrukt der „natürlichen" Grenze. Vielmehr entwickelte sich die Verwendung geografischer Elemente zu einem umfassenden System, eng verbunden mit dem breiten Durchbruch, den die Geopolitik in der Zwischenkriegszeit erlebte. Die deutsche Geopolitik, die in ihren Wurzeln bis an die Jahrhundertwende zurückreichte, entwickelte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges explosionsartig und wurde zu einer der, ja vielleicht zu der zentralen „Leitwissenschaft" der Zwischenkriegszeit. Der „Raum" wurde zur wichtigsten Ordnungskategorie, zumindest, bis die Rasse ihm in den dreißiger Jahren gleichwertig zur Seite gestellt wurde. Für die bewusst politisch motivierte Geopolitik mit ihrem „elementaren Drang nach besserem wissenschaftlichen Schutz der
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Vgl. etwa: Peter Sahlins, Boundaries, The making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1989; ders., Natural frontiers revisited, France's boundaries since the 17th century, in: AHR 95 (1990), 1423-1481. Alexander Graf zu Dohna, Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze, Vortrag, gehalten am 19.2.1925 an der Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg im Rahmen des Vortragszyklus „Der Deutsche Rhein", Heidelberg 1925. Linnebach, Die gerechte Grenze im deutschen Westen, 49. Volz, Wilhelm, Lebensraum und Lebensrecht des deutschen Volkes, in: Deutsche Arbeit 24 (1925), 159-174. Hans-Dieter Schultz, Deutschlands „natürliche Grenzen".
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politischen Lebensform wie des Volks- und Kulturbodens"41 stellte das Nachdenken über Grenzen einen entscheidenden Bestandteil ihres Wirkens dar: „Das Wissen von der Grenze [bedarf] gemeinsamer politisch-geografischer wie geopolitischer Vertiefung. Die Forderung eines viel bewussteren Verhältnisses zum Saum der staatlichen Lebensform und Volkheit richtet sich hier auf, mit der weiteren nach suggestiver Kartographie und geopolitischer Werbekraft." 42
Hier zeigt sich ein entscheidendes Merkmal der Geopolitik - und anderer „Grenzwissenschaften" - der Zwischenkriegszeit. Es ging nicht nur darum, dass die Politik endlich „lernen [müsse], sich wenigstens aller erreichbaren wissenschaftlichen Hilfsmittel zu bedienen", 43 die Wissenschaftler an sie herantrugen. Es ging auch und vor allem um die Beeinflussung breiter Bevölkerungsschichten. Die Erziehung der Deutschen zu einem lebendigen „Grenzgefühl" sah man als selbst gestellte Aufgabe. Wichtigstes Hilfsmittel dazu schienen Karten zu sein, Karten, die man bewusst als „suggestiv" kennzeichnete: Dem „fast kleinlichen Zug zur Treue" in der Darstellung setzten Geopolitiker die „betont politische Leistung [des suggestiven Kartenbildes] in dem, was es an Untergeordnetem oder Unerwünschtem typisiert, zurücktreten lässt oder verschweigt [...]" entgegen. 44 So kam kein Text über deutsche Grenzen ohne Karten aus. 5. Einen weiteren Argumentationsstrang im Bezug auf Grenzen bildeten historische Argumente, ergänzt um im weitesten Sinne kulturelle und sprachliche Aspekte. Historische Argumentationslinien gehörten zu den wichtigsten überhaupt, wenn es der Zwischenkriegszeit um die Rechtfertigung veränderter Grenzverläufe ging. Die sich in den zwanziger Jahren etablierende „Volksgeschichte" machte sich die Erforschung der deutschen Geschichte in den Grenzräumen vor allem des Westens und Ostens zur vornehmlichen Aufgabe. 45 Das (durch die Geographen Albrecht Penck und Wilhelm Volz
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Karl Haushofer, Grundlagen, Wesen und Ziele der Geopolitik, in: ders. u. a. (Hg.), Bausteine zur Geopolitik, Berlin 1928, 29-48, hier 29. Ebd., 69. Ebd., 60. Karl Haushofer, Die suggestive Karte, in: Bausteine zur Geopolitik, 343-348, hier: 343 und 346. Siehe auch: Otto Maull, Über politischgeographische-geopolitische Karten, in: Haushofer u. a. (Hg.), Bausteine zur Geopolitik, 325-342. Vgl.: Geoffrey Herb, Persuasive Cartography in „Geopolitik" and National Socialism, in: Political Geography Quarterly 8 (1989), 298-303; ders., Under the map of Germany, Nationalism and propaganda 1918-1945, London 1997. Vgl. in Auswahl: Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000; Willi Oberkrome, Volksgeschichte, Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 19181945, Göttingen 1993; Winfried Schulze/Otto G. Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999; Hans-Erich Volkmann, Historiker im Banne der Vergangenheit, Volksgeschichte und Kulturbodenforschung zwischen Versailles und Kaltem Krieg, Versuch eines thematischen Aufrisses, in: ZfG 49 (2001), 5-12. Siehe neuerdings auch die ausführlichen Sammelbände zur „Westforschung": Burkhard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hg.), Griff nach
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eingeführte) Konzept des „Volksbodens" als jenem Raum, den das deutsche Volk durch Besiedlung bis in die Gegenwart der Zwischenkriegszeit hinein prägte, entwickelte erstaunliche Entfaltungskraft: Dabei handelte es sich, das ist zu betonen, um ein historisch-kulturell argumentierendes Legitimationsmuster, nicht um ein rassisches. 46 Es galt, den Nachweis tausendjähriger „deutscher" Siedlungskontinuität, „deutschen" Kulturschaffens und deutscher Sprachtradition in jenen Gebieten zu erbringen, die auf eine deutsche Siedlungstradition zurückblicken konnten: Im Hinblick auf die Grenzverläufe wurde mit diesem Konzept vor allem für die linksrheinischen Gebiete gearbeitet. Das Motiv des „Kulturbodens", ebenfalls ursprünglich von Albrecht Penck eingeführt, bezog sich hingegen auf die umstrittenen Gebiete mit gemischt-ethnischer Bevölkerung, also vor allem Schlesien, aber auch den „Korridor" oder Schleswig. Die deutsche Bevölkerung als überlegener Kulturträger präge die Landschaft auch dort, „wo die deutsche Bevölkerung gegenüber der anderssprachigen zurücktritt". 47 Mit dieser fragwürdigen Argumentation konnte man potenziell auch Gebiete beanspruchen, die weit außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen des Deutschen Reiches lagen. Die „Volks- und Kulturboden"-Forscher entfalteten eine rege Aktivität: Literatur wurde gesammelt, Architektur und Bauformen dokumentiert, religiöse Praktiken beschrieben, Bevölkerungsverhältnisse ausgezählt oder Dialekte verglichen, um den deutschen Einfluss in den umstrittenen Gebieten - und weit über die bestehenden Grenzen hinaus - nachzuweisen; 48 gleichzeitig versuchte man immer wieder auch, die aktuelle Bedrohung des „Volksbodens" durch die Machtansprüche fremder Nationen in eine historische Traditionslinie zu stellen. Vor allem am Rhein bedeutete dies, einen vermeintlich seit Julius Cäsar existierenden „französischen Drang nach Westen" zu konstatieren. 49 Neben diesen wissenschaftlichen Versuchen, Deutschlands „wahre" Grenzen
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dem Westen, Die „Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), 2 Bde., Münster 2003. Andreas Kossert, „Grenzlandpolitik" und Ostforschung an der Peripherie des Reiches, Das ostpreußische Masuren 1919-1945, in: VfZG 51 (2003), 117-146, hier: 124. Albrecht Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl Christian von Loesch (Hg.), Volk unter Völkern, Breslau 1925, 62-73, hier: 68. Vgl. in Auswahl: Fedor Schneider, Zur Entstehung der etschländischen Sprachgrenze, in: ElsaßLothringisches Jahrbuch 8 (1929), 40-68; Aloys Schulte (Hg.), Tausend Jahre deutscher Geschichte und deutscher Kultur am Rhein, Im Auftrage des Provinzialausschusses der Rheinprovinz, Düsseldorf 1925; Deutschland und der Korridor, Berlin 1933 und 1939; Paul Wentzcke, Der Anteil des rechtsrheinischen Deutschland am Kultur- und Geistesleben Elsaß-Lothringens, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 6 (1927), 116-135. Vgl. z. B.: Friedrich von Boetticher, Frankreich, Der Kampf um den Rhein und die Weltherrschaft, Leipzig 1922; Friedrich Grimm, Frankreich am Rhein, Rheinlandbesetzung und Separatismus im Lichte der historischen französischen Rheinpolitik, Hamburg/Berlin o. J. [1931]; Rudolf Kautsch (Hg.), Frankreich und der Rhein, Beiträge zur Geschichte und geistigen Kultur des Rheinlandes, Frankfurt a. M. 1925; Hermann Oncken, Napoleon III. and the Rhine, The Origins of the War of 1870-71, New York 1928; Walter Platzhoff, Der Kampf um den Rhein in zwei Jahrtausenden, in: Peters (Hg.), Kampf um den Rhein, 5-12; Hermann Stegemann, Der Kampf um den Rhein, Das
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zu beschreiben, beteiligten sich Wissenschaftler bereits in den zwanziger Jahren auch aktiv an der „Grenzlandpolitik" im „Deutschtumskampf", vor allem, indem sie Vorträge und Tagungen für ein breiteres Publikum hielten.50 Ähnlich wie in der geopolitischen Auseinandersetzung um Grenzen ging es auch den historisch-kulturell argumentierenden Vertretern nicht nur um einen fachwissenschaftlichen Beitrag: Die erarbeiteten Legitimationsmuster für Grenzen sollten vielmehr weit in die deutsche Bevölkerung hineingetragen werden. 6. Die ursprünglich historisch-kulturell definierte Idee des „Volks- und Kulturbodens" bot jedoch auch Ansatzpunkte für Auslegung ganz anderer Art: Mit dem Begriff des „Volkes" konnte auch die „Rasse" in das Grenzdenken der Zwischenkriegszeit Einzug halten. Damit ist der Komplex der rassisch-biologisch-ethnischen Argumentationsmuster zur Legitimierung eines Grenzverlaufs angesprochen, der sich vor allem seit den dreißiger Jahren entwickelte und nach der „Machtübernahme" der Nationalsozialisten zunehmend Bedeutung entfaltete. Eine jüngere Wissenschaftlergeneration machte sich die Neuorganisation der rassisch fundierten Grenzforschung zur Aufgabe, finanziell und organisatorisch unterstützt vom nationalsozialistischen Regime. Zum „Raum", der Grenzen bis dahin ganz überwiegend bestimmt hatte, trat nun das rassisch definierte „Volk". Die territoriale Neugliederung Europas entwickelte langsam ein anderes Gesicht: Grenzen sollten nach rassischen Kriterien gezogen werden, sie sollten fortan „reinrassige" Gebiete umschließen. Für ethnische Minderheiten oder „Zwischenvölker" war in diesem Konzept im Wortsinne kein Raum mehr. Die Umorientierung dieser Grenzkonzeption erstreckte sich über die gesamten dreißiger Jahre. Aber auch in den vierziger Jahren findet man noch Grenzdefinitionen „alten" Stils: geografische, kulturelle, politische oder historische.51 Nicht alle Wissenschaftler übernahmen also rassistische Grenzdefinitionen, vielmehr hielt sich das alte, traditionelle „Raum"-Denken bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein und darüber hinaus. 52 Doch die
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Stromgebiet des Rheins im Rahmen der großen Politik und im Wandel der Kriegsgeschichte, Neue, bis zur Gegenwart fortgeführte Ausgabe, Stuttgart/Berlin 1924; Edmund Stengel, Deutschland, Frankreich und der Rhein, Eine geschichtliche Parallele, Langensalza 1926, vor allem 12-29. Als Beispiele: Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973; Andreas Kossert, „Grenzlandpolitik". Als Beispiel dafür kann nicht zuletzt die Denkschrift „Die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich" von Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsinnenministerium, vom Juni 1940 gelten, in der sich geografische, historische, sprachliche, „völkische" und militärische Definitionen vermischen. Vgl.: Peter Schöttler, Eine Art „Generalplan West", Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), 83-131. Ein ähnliches Nebeneinander von „traditionellen" und rassistisch aufgeladenen Konzepten findet sich im Nationalsozialismus beispielsweise im Hinblick auf Europaideen, vgl. Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen, Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), i.E. (München 2004); Vgl. auch: Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne
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zunehmende Radikalisierung rassistischer Grenzmodelle und die gezielte politische Unterstützung, die diese Konzepte fanden, eröffneten im Verlauf der dreißiger Jahre eine neue Entwicklung: Verschwanden ethnische Minderheiten anfangs „nur" von den Karten, aus den wissenschaftlichen Publikationen und der öffentlichen Berichterstattung, so wurde die „Eliminierung" mit Beginn des Zweiten Weltkrieges zur brutalen Realität.
2.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg Rassistischen, aber auch geopolitischen Legitimationsmustern war nach dem 8. Mai 1945 die Grundlage entzogen. So schränkte sich das Spektrum möglicher Grenzdefinitionen nun - gegenüber der Zwischenkriegszeit - erheblich ein: Übrig blieben vor allem politische und historisch-kulturelle Definitionen. Mit den gleichen Argumenten wie nach 1919 klagten viele Politiker und Interessenverbände in der Bundesrepublik auch 1945 den Prozess der Grenzfindung durch die ehemaligen Kriegsgegner in den letzten Kriegsjahren und die Schaffung vollendeter Tatsachen durch die Sowjetunion und Polen seit 1945 an. Kaum jemand war in den fünfziger Jahren bereit, die Oder-Neiße-Grenze als dauerhafte Grenze zu akzeptieren und den Gebietsverlust im Osten hinzunehmen. Kombiniert wurde dieser Anspruch mit den immer wiederholten Nachweisen einer historischen Siedlungskontinuität, Kulturleistungen und Sprachverwurzelung, mit denen man - ebenso wie nach dem Ersten Weltkrieg - das Recht auf die verlorenen Gebiete zu beweisen suchte. 53 Doch trotz dieser inhaltlichen Ähnlichkeit mit den Argumentationsweisen der Zwischenkriegszeit hatten diese historisch-kulturellen Grenzdefinitionen in den Zeiten den Kalten Krieges zunehmend weniger politische Wirkungskraft. So können wir in den Jahrzehnten nach 1945 einen zwar langsamen, doch entscheidenden Wandel gegenüber der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beobachten. Die politische Grenze, als völkerrechtliche Linie, erlangte nun eine Bedeutung, wie sie sie im Verständnis vieler Zeitgenossen der Zwischenkriegszeit nicht gehabt hatte. Die politische Grenze war in den zwanziger und dreißiger Jahren häufig genug „nur eine und keineswegs die wichtigste unter den vielen Grenzlinien und Grenzsäumen" gewesen. 54 Als „technisch" gezogene, „tote" Linie erschien sie verachtenswert. Diese Sicht auf die Grenze war eindeutig durch die Kriegsniederlage und den Umgang mit dieser Niederlage gekennzeichnet gewesen: Da man die Niederlage nicht akzeptierte, ja verdrängte, und den Friedensvertrag ablehnte, konnten auch die hier gezogenen Grenzen nicht akzeptabel sein. Aber die Wirkungen der Niederlagenerfahrung gingen noch
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zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999; Birgit Kletzin, Europa aus Rasse und Raum, Die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung, Münster 2000. Vgl. etwa: Karl Pagel (Hg.), Deutsche Heimat im Osten, Berlin 1951 oder die Reihe: Veröffentlichungen des Göttinger Arbeitskreises seit 1951, wechselnde Verlagsorte. Norbert Krebs, Deutschland und Deutschlands Grenzen, Berlin 1929, 4.
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weiter: Man zog nicht nur spezifische Grenzverläufe in Zweifel, sondern die Ablehnung der Kriegsfolgen führte bis zu einer grundsätzlichen Ablehnung politischer Grenzen als solcher und ihrer Ersetzung durch alternative Grenzkonzepte. Was in Versailles in einem völkerrechtlich legitimierten Vertrag beschlossen worden war, war nicht akzeptabel; folglich waren auch die als „westlich" diffamierten Prinzipien, nach denen dieses geschehen war (das internationale Völkerrecht), nicht akzeptabel. Es ging also bei den Grenzdebatten der Zwischenkriegszeit um mehr als den Verlauf einer Linie auf einer Karte: Es zeigte sich in dem Versuch, lineare, politische, völkerrechtlich legitimierte Grenzen zu ersetzen durch Grenzkonzepte biologischer oder geografischer Natur, diese Grenzformen als die natürlichen, „organischen" - sprich als die eigentlich wahren, guten, gerechten - zu definieren, um mehr als eine außenpolitische Stellungnahme gegenüber den in Versailles 1919 getroffenen Grenzverläufen. Es ging letztlich um den Versuch, Ordnungsvorstellungen zu propagieren, die mit dem internationalen Regelungssystem aufs schärfste kontrastierten. So führte schließlich die nicht verarbeitete Kriegsniederlage nach 1918 dazu, dass sich in der deutschen Gesellschaft alternative Grenzvorstellungen verwurzelten, die sich immer weiter von der Idee eines international geregelten Miteinanders entfernten und ausschließlich von nationalen Kriterien bestimmt waren. Ihren Niederschlag fanden diese Überzeugungen schließlich in der Außenpolitik der Nationalsozialisten, die mit dem Austritt aus dem Völkerbund die deutsche Verachtung für internationale Regelungsversuche deutlich machte. Fortan waren es auch in der deutschen Politik nicht mehr völkerrechtliche Maßstäbe, die Grenzen bestimmten, sondern deutsche Interessen - geopolitisch, „völkisch" und rassisch definiert. Der Weg in den Krieg war vorgezeichnet, ein Krieg, der die Niederlage im Ersten Weltkrieg vergessen machen sollte. Die Tatsache, dass das Bewusstsein für völkerrechtliche Grenzen als friedenssicherndem Element des internationalen Systems bereits seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre im Deutschen Reich zu verblassen begann, dass alternative Grenzkonzepte in der deutschen politischen Kultur tief verwurzelt waren, machte vielen Deutschen diesen neuen Krieg akzeptabel. Denn wenn sich die „richtigen" Grenzen Deutschlands wissenschaftlich eindeutig feststellen ließen, wenn diese „richtigen" Grenzen jedoch mit den Nachbarn nicht umzusetzen waren, musste dann nicht im Verständnis vieler Deutscher der Krieg zum Vater neuer Grenzen werden? Hatte man einmal Grenzen nicht als völkerrechtliches System, sondern als Ausdruck nationaler Politik verstanden, so akzeptierte man leichter, dass Veränderungen dieser Grenzen auch nur national - im Alleingang und gegen andere - durchgesetzt werden konnten. Ein weiterer Schritt kam hinzu: Hatte man einmal theoretisch rassistische, geopolitische oder historische Legitimationslinien für Grenzen akzeptiert, so konnten sich auch konkrete Planungen für „rassenreine" Gebiete durchsetzen. Damit wiederum war der Weg zu Umsiedlungen und Vernichtung beschritten. Nach 1945 blieb den Deutschen - im Angesicht der totalen Niederlage und im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit - nichts mehr anderes übrig als das Konzept der politi-
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sehen Grenze als letztlich politikentscheidend zu akzeptieren. Die Hoffnung, alternative Grenzvorstellungen könnten politische Wirkungskraft erlangen, wurde nicht zuletzt durch die Blockbildung des Kalten Krieges, als politische Grenzen vor allem zwischen Ost und West für die Ewigkeit betoniert schienen, endgültig zerschlagen. So blieben zwar historische und kulturelle Argumentationsmuster vor allem in politischen Sonntagsreden erhalten, wenn man die „Heimat im Osten" beschwor,55 als politisch wirksame Grenzdefinitionen konnte man diese indes nicht mehr verstehen. Stattdessen entwickelte sich nun ein wichtiger Legitimationsstrang, der in der Zwischenkriegszeit für Grenzfragen symptomatischerweise kaum eine Rolle gespielt hatte: Völkerrechtliche Zusammenhänge spielten vor allem im Hinblick auf die „Oder-NeißeLinie" eine entscheidende Rolle. Die Frage, ob das Deutsche Reich als Staatsformation weiterbestünde, und die formale Offenhaltung der Grenzregelung durch die Alliierten bis zu einem endgültigen Friedensvertrag eröffneten insbesondere Völkerrechtlern die Möglichkeit, sich in die Diskussion einzuschalten.56 In der Zwischenkriegszeit finden wir demgegenüber den völkerrechtswissenschaftlichen Anteil in der Diskussion um konkrete Grenzverläufe noch weniger stark ausgeprägt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die meisten Vertreter des Völkerrechts recht hilflos reagierten auf das zunehmende Auseinanderklaffen ihrer professionellen „mental map", welche die völkerrechtlich legitimierten Grenzen von 1919 als unantastbar verstehen musste, und der kollektiven „mental map" der Deutschen, die diese völkerrechtlichen Grenzen als unakzeptabel verurteilte und sie durch anders begründete Grenzen ersetzen wollte. So zogen sich Völkerrechtler immer wieder auf den Standpunkt zurück, dass es nicht Aufgabe des Völkerrechts sei, über konkrete Grenzverläufe Aussagen zu treffen, 57 oder beschränkten sich auf Untersuchungen zur Stellung der Freien Stadt Danzig unter Völkerbundsmandat oder zum territorialen Annexionsverbot des Briand-Kellog-Paktes bzw. der Stimson-Doktrin. Doch selbst innerhalb der Völkerrechtswissenschaft wurde - vor allem nach 1933 - die Bedeutung völkerrechtlich legitimierter Grenzen infrage gestellt, ja schließlich in der Tradition der Völkerrechtsleugner die Existenz einer internationalen Völkerrechtsordnung insgesamt bestritten. Nach 1945 bot die spezifische Situation Völkerrechtlern in viel stärkerem Maße als nach 1919 die Möglichkeit, den Grenzverlauf im Osten zu kritisieren, ohne dabei die Grundlagen ihres eigenen Faches infrage zu stellen. Dabei lehnten die allermeisten Schriften die Grenzregelungen von Potsdam ab 55
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Deutsche Heimat im Osten, Ausstellung in den Messehallen am Funkturm 24. 11.-17. 12. 1950 in Berlin, veranstaltet vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen und vom Magistrat von Groß-Berlin, Berlin 1950. Vgl. etwa: Herbert Kraus, Die Oder-Neisse-Linie, Eine völkerrechtliche Studie, Köln 1954; Siegrid Krülle, Die völkerrechtlichen Probleme des Oder-Neiße-Problems, Berlin 1970; Wilhelm Knittel, Der völkerrechtliche Status der Oder-Neiße-Gebiete nach dem Potsdamer Abkommen, in: JuS 7 (1967), 1, 8ff; Herbert Marizan, Politischer Realismus, Ein Beitrag zur Oder-Neiße-Frage, Leer 1969. Julius Hatschek/Karl Strupp, Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Aachen 1924, Art.: Grenze.
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und bemühten sich, diese völkerrechtlich zu widerlegen. Die Ergebnisse der Kriegsniederlage waren unter Völkerrechtswissenschaftlern im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre noch ebenso wenig anerkannt wie im Rest der deutschen Bevölkerung. Dass sich dies im Verlauf der sechziger Jahre langsam wandelte, dazu trug nicht zuletzt ein ganz neues Grenzverständnis bei, welches sich im Bezug auf Deutschlands Westgrenzen im Kontext der beginnenden europäischen Integration zu entwickeln begann. Bereits die „Europa-Euphorie" der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre hatte zum Niederreißen von Schlagbäumen durch die Bevölkerung geführt. Die Überzeugung, bald die „Vereinigten Staaten von Europa" verwirklicht zu sehen, hielt noch 58
bis weit in die fünfziger Jahre hinein an. Persönliche Erfahrungen wie Auslandsreisen machten Grenzen spürbar durchlässiger, die Römischen Verträge und die wirtschaftliche Teilintegration schließlich unterfütterten diese Erfahrungen politisch. Gerade für die Deutschen, die im Osten mit einer hermetisch abgeriegelten Grenze lebten, sollte diese Öffnung im Westen einen tief greifenden Wandel auslösen. Zwar lief auch dies nicht ohne Konflikte ab - man denke etwa an die Saarfrage - , doch stand, beginnend mit den sechziger Jahren, auch im theoretischen Nachdenken über die Grenze zunehmend die Frage nach der „Auflösung" bzw. Durchlässigkeit der Grenze im Zuge der Integration im Mittelpunkt. Die Grenze wurde nicht mehr als „Frontlinie" verstanden, sondern als Region mit strukturellen und kulturellen Ähnlichkeiten beiderseits der Grenzlinie, die es zusammenzuwachsen lassen galt. Dass es sich dabei um ein altes, traditionelles Grenzkonzept handelte, sei hier nur angedeutet: Die in der Zwischenkriegszeit so virulente Idee des „Grenzsaums" kam nun zu neuen Ehren. Sie wurde allerdings grundsätzlich anders interpretiert als in der Zwischenkriegszeit, nämlich im integrativen und nicht mehr im imperialen Sinne. Dies wiederum hatte etwa seit den späten sechziger Jahren langsam auch Rückwirkungen auf die Positionen zum Grenzverlauf im Osten. Erst im Verlauf der sechziger Jahre zeigten Meinungsumfragen eine wachsende Akzeptanz der Tatsache, dass die ehemaligen Ostgebiete „verloren" waren. Der Begriff der Wiedervereinigung beschränkte sich im öffentlichen Sprachgebrauch fortan immer stärker auf das Staatsgebiet von Bundesrepublik und DDR, 5 9 auch wenn die westdeutschen Regierungen diesen Wandel erst zu Beginn der siebziger Jahre in aktive Politik übersetzen konnten.
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Vgl. Institut für Demoskopie (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bonn 1947/55, 1957, 1958/64, 1965/67.
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Vgl. hierzu u. a. Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, Eine Nation, Deutsche Geschichte 1955-1970, 2. Aufl., Bonn 1997.
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3. Akzeptanz der Kriegsniederlagen im Grenzdiskurs? Damit war auch der Weg zu einer neuen Entwicklung offen: Erstmals konnten nun die durch die Kriegsniederlage bedingten territorialen Verluste tatsächlich als Verluste akzeptiert werden. Die Erinnerungsliteratur der späten siebziger und achtziger Jahre, welche die „untergegangene Welt" im Osten beschwor, zeigt dies deutlich. 60 Hier schwingt durchgehend eine tiefe Melancholie mit, genauso deutlich jedoch wird, dass der Verlust der Heimat unwiederbringlich erscheint. Auch wenn sich insbesondere die Vertriebenenverbände gegen diese Einsicht lange wehrten und versuchten, auf die Politik Einfluss zu nehmen, 61 zeichnete sich doch ein langsamer Stimmungswandel in der Bundesrepublik ab. Dies wiederum war die Voraussetzung, um die seit 1918 konfliktgeladenen Grenzfragen zu entspannen und eine Verständigung mit dem polnischen Volk in die Wege zu leiten. Hier offenbart sich erstmals auch ein Lernen aus der Niederlage: Das Wissen um die Unmöglichkeit eines kriegerischen Revisionismus, verstärkt durch allgemeine Prozesse der Deterritorialisierung und Transnationalisierung, öffnete einem neuen Grenzverständnis die Tür, welches die Bedeutung von territorialen Grenzen insgesamt minderte und auf diese Weise Verlusterfahrungen die Härte nahm (und, auf einer anderen Ebene, zu Ressourcenoptimierung und Machtakkumulation neuer, nicht mehr national/territorialstaatlich definierter politischer Einheiten wie Europa beitrug). Damit wurde erstmals auch die Niederlage selbst akzeptabel, und es ist keine zufällige Koinzidenz, dass sich gerade zu dieser Zeit auch der historische Blick auf den Ersten Weltkrieg im Kontext der Fischer-Kontroverse zu wandeln begann. Demgegenüber hatte die Zwischenkriegszeit die auf die Kriegsniederlage zurückgehenden territorialen Verluste Deutschlands zu keinem Zeitpunkt akzeptiert, wie sie auch die Kriegsniederlage selbst nicht akzeptiert und angenommen hatte. Die Frage, wie die Niederlage zu überwinden sei, beantwortete die Zwischenkriegszeit schließlich immer deutlicher mit der Idee eines neuen Krieges, schienen doch Politik und Diplomatie keine Möglichkeit zu bieten, die Realität von Versailles zu revidieren. Der Krieg erschien vielen Deutschen in diesem Zusammenhang weniger als unsteuerbare Katastrophe, denn als planbare Handlung, die 60
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Vgl. in Auswahl zum Beispiel Ostpreußen: Marion Dönhoff/Wladimier Federnko, Bilder, die langsam verblassen, Ostpreussische Erinnerungen, Berlin 1989; Wilhelm Matull, Reise nach Ostpreussen, Westpreussen und Danzig, Wiedersehen mit der Heimat heute, München 1975; Agnes Miegel, Es war ein Land, Gedichte und Geschichten aus Ostpreussen, Köln 1983; Esther von Schwerin, Kormorane, Brombeerranken, Erinnerungen an Ostpreußen, 2. Aufl., München 1986; Hans-Ulrich Stamm, Frag mich nach Ostpreussen, 2. Aufl., Rautenberg 1976. Der politische Einfluss der Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik ist durch die historische Forschung bisher kaum ausgelotet worden. Vgl. zur ersten Information: Dieter Strothmann, „Schlesien bleibt unser", Vertriebenenpolitiker und das Rad der Geschichte, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Ursachen, Ergebnisse, Folgen, Frankfurt a. M. 1985, 209-218; Hermann Weiss, Die Organisationen der Vertriebenen und ihre Presse, in: ebd., 193-208.
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man gezielt einsetzen wollte, um die Ergebnisse der vorangegangenen Kriegsniederlage zu verändern. So entwickelten sich die wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten um Deutschlands Grenzen in der Zwischenkriegszeit immer deutlicher in Richtung der Antizipation eines neuen Krieges, dessen territoriale Planungen und Ziele schließlich weit über die Revision der Ordnung von 1919 hinausgingen, der aber bis zuletzt auch mit der „Sprengung der Ketten von Versailles" legitimiert wurde. Mit der Niederlage von 1945 verschwand der Krieg als Handlungsoption und Mittel zu einer Grenzveränderung aus den Köpfen der Zeitgenossen. Dazu trug, neben der Totalität der Niederlage (im Gegensatz zu 1918) und dem Ausmaß an deutscher Schuld an Krieg und Genozid, auch die atomare Bedrohung des Kalten Krieges bei. Politik und Diplomatie wurde wieder zur einzigen Handlungsoption. Die Niederlage aber in all ihren Konsequenzen anzunehmen und zu akzeptieren, das gelang den Deutschen ebenso langsam wie die Akzeptanz der neuen Grenzverläufe von 1945. So änderten sich auch die Selbst- und Fremdbilder, die durch Grenzlegitimationen konstruiert bzw. verfestigt worden waren, nur langsam. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Grenzregelungen in den Augen der deutschen Öffentlichkeit vor allem den vermeintlich „ewigen Drang" der Franzosen gezeigt, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa zu beherrschen. Diese Wahrnehmung konnte erst in den fünfziger Jahren durch ein positiveres Bild ersetzt werden, als mit der Abstimmung im Saargebiet auch hier Klarheit geschaffen worden war. Die Vorwürfe, die man den „schwachen" Amerikanern gemacht hatte, die sich erst mit ihren 14 Punkten gegenüber den Franzosen nicht hätten durchsetzen können und später im Hinblick auf die Regelung der Oder-Neiße-Grenze gegenüber den Russen „eingeknickt" wären, verloren sich erst in dem Moment, als die Amerikaner als Schutzmacht des jungen westdeutschen Staates die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis sicherten, und damit den westdeutschen Wiederaufstieg. Auch das deutsche Selbstbild begann sich zu wandeln. Herrschte nach dem Ersten Weltkrieg in den Grenzdebatten vor allem die Vorstellungen eines ungerecht behandelten, „verratenen" und von Feinden umzingelten Deutschen Reiches vor, das es „wehrhaft" zu machen gelte, war der Phobie der „Mittellage" nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage geraubt. Sie wurde in der Bundesrepublik ersetzt durch die Überzeugung, als „Frontstaat" im Kalten Krieg einen zentralen Platz im atlantisch-europäischen Bündnis einzunehmen. Das Selbstbild einer „zerstückelten, geschwächten Nation" trat zunehmend zurück in dem Maße, in dem die Idee des Nationalstaates in seiner territorialen Fixierung in der Bundesrepublik insgesamt schwächer wurde. Die vormals überwiegend nationale Komponente der Grenzen wurde durch zwei Komponenten ergänzt, durch eine individuelle und eine europäische: Das Leiden der Bevölkerung durch die Vertreibungen aus den ehemals deutschen Gebieten im Osten und den „Verlust der Heimat" einerseits, die Vorzüge von Reise- und Güterfreiheit innerhalb (West-)Europas andererseits. Auf diese Weise verloren die territorialen Verlusterfahrungen seit den siebziger Jahren zunehmend ihre Rolle als „Brennspiegel" für das kollektive Trauma der Niederlage. Gleichzeitig verlor auch die Grenze ihre Rolle als „na-
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tionaler Mythos". Dies war ein zum Teil schwieriger Prozess, für den die Deutschen vom Ende des Zweiten Weltkrieges beinahe dreißig Jahre Zeit benötigten und der auch dann nicht abgeschlossen war. Doch erst durch ihn konnte der Verlust - und auch die Niederlagen - akzeptabel werden.
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„Der Kult des Heldenmutes ist für den Sieg notwendig" - Sowjetisches Militär und die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges
1. Einleitung Die Erfahrungen des „Großen Krieges" 1914-1918 beeinflussten maßgeblich die Vorbereitung der zukünftigen Kriege und die Ausarbeitung einer modernen Militärdoktrin in allen am Krieg beteiligten Ländern. Die beispiellose Katastrophe des Weltkrieges löste in der Zwischenkriegszeit lebhafte militärische Debatten aus. Hierbei zeigte sich eine Tendenz, sich den zukünftigen Krieg in Form eines totalen Krieges vorzustellen. 1 Gleichzeitig wurden nationale Militärdoktrinen von den spezifischen Kriegserfahrungen eines jeden Landes, von den Besonderheiten seines politischen Regimes und wirtschaftlichen Systems sowie von ideologischen Machtdiskursen geprägt. Im Fall Russlands wurde die Entwicklung einer Militärdoktrin durch die Erfahrungen der Niederlage im Weltkrieg, im Bürgerkrieg und durch das Entstehen eines neuen politischen Systems in Gestalt der Sowjetmacht bestimmt. 2 Dabei verdrängte die Intensität der politischen Ereignisse seit 1917 die Erinnerungen an den „Großen Krieg" im kollektiven Gedächtnis. Eine öffentliche Diskussion über den Krieg und die Niederlage fand in Sowjetrussland nie statt. Darüber hinaus wurde er im Machtdiskurs Sowjetrusslands als ein „imperialistischer ungerechter" Krieg markiert und den „gerechten" Revolutionskriegen gegenübergestellt. Dadurch verhinderte man eine „normale" Verarbeitung von Kriegserfahrungen. Der Frieden in Brest-Litovsk rief zwar heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen hervor, sie gingen aber nicht über den engen Kreis der bolschewistischen Führung hinaus. Der Erste Weltkrieg wurde damit zum „vergessenen" Krieg. Was versteckte sich hinter dieser historischen „Amnesie"? Wie ließen sich die Erfahrungen
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Vgl. dazu Stig Förster (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg, Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919-1939, Paderborn u. a. 2002. Vgl. Dietrich Beyrau, Der Erste Weltkrieg als Bewährungsprobe, Bolschewistische Lernprozesse aus dem „imperialistischen" Krieg. In: JMEH 1 (2003), 96-123.
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aus dem Ersten Weltkrieg verarbeiten, wenn sie in Erinnerungen von Individuen verdrängt und im Machtdiskurs unterdrückt wurden? In diesem Beitrag versuche ich, auf diese Fragen einzugehen.
2. Die Militärspezialisten Erfahrungen sind immer akteurs- und gruppenspezifisch. Aus den vielen sozialen Gruppen und Akteuren, die während des „Großen Krieges" Kombattanten und Befehlshaber, Helden und Deserteure waren, ist für diese Untersuchung eine kleine Gruppe von Militärs ausgewählt worden. Es geht um die ehemaligen Generäle und Stabsoffiziere der zaristischen Armee, die nach 1917 in die Rote Armee eintraten und meistens zum „Hirn" dieser Armee - ihrem Generalstab - gehörten. In ihren persönlichen Schicksalen fanden die unterschiedlichen Aspekte der katastrophalen Kriegsniederlage ihren Niederschlag. Dies betraf in allererster Linie ihren eigentlichen Beruf als Offiziere oder Generäle, es betraf ihren sozialen Status und auch ihr Privatleben. Die ehemaligen russischen Offiziere wurden in Sowjetrussland als „bürgerliche Fachleute" (burzuaznye specialisty) stigmatisiert. Bis in die Mitte der 1920er Jahre definierten die Bolschewiki diese Gruppe als „Militärspezialisten" (voennye specialisty). Diese Definition ordnete sich in das vom Klassenkampf geprägte Vokabular der Bolschewiki sehr gut ein. An der Front und in den Armeestäben befanden sich die „Militärspezialisten" unter der Kontrolle der politischen „Kommissare". Damit wurde ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit zum „einheitlichen Körper" der Arbeiter-und-Bauern-Armee entzogen. Diese Situation mündete schließlich in die Repressalien der 30er Jahre, als die meisten Militärspezialisten ums Leben kamen. Hier sollen aber nicht die persönlichen Tragödien und Niederlagen der Militärspezialisten im Vordergrund stehen, sondern ihre Bemühungen, die Geschichte des Weltkrieges zu interpretieren und aus der vergangenen Kriegserfahrung eine Militärdoktrin zu entwickeln. In Memoiren und wissenschaftlichen Schriften, in Vorlesungen an den Militärakademien und durch ihre Tätigkeit in den Armeestäben analysierten sie die Kriegserfahrungen und versuchten, sie einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Insofern ist diese Gruppe der Militärs als wichtige Vermittlungsinstanz von Kriegserfahrungen zu verstehen. Am Ende des Bürgerkriegs stellten sie nach Angaben sowjetischer und russischer Historiker 34 Prozent (ca. 50 000) bis 56 Prozent (ca. 70 000-75 000) der Führungskräfte der Roten Armee. 3 Unter ihnen befanden sich etwa 775 Generäle und 1 726 Stabsoffiziere der alten russischen Armee. Von den Offizieren des Generalstabs, die 3
Vgl. dazu Aleksandr G. Kavtaradze, Voennye specialisty na sluzbe respubliki Sovetov, 1 9 1 7 - 1 9 2 0 , Moskva 1988, 170; Sergej V. Volkov, Russkij oficerskij korpus, Moskva 1993, 308-343.
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sich vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges mit Fragen der Kriegführung beschäftigt hatten, dienten in der Roten Armee 21 bis 33 Prozent (ca. 386-475 Offiziere). 4 Diese Zahlen wurden zum Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und Opponenten des sowjetischen Regimes. Die „weißen" und exilierten Generäle ebenso wie die sowjetischen und postsowjetischen Historiker bemühten sich, mithilfe dieser Zahlen die Rolle der zaristischen Offiziere beim Aufbau der sowjetischen Streitkräfte einzuschätzen. Die Militärgeschichte des russischen Exils neigte dazu, die Militärspezialisten als Träger der Prinzipien einer konventionellen Kaderarmee und moderner Kriegführung darzustellen. Sie galten als Opponenten der „Roten Kommandeure", welche die Milizidee und den Partisanenkrieg propagiert hatten. Den ehemaligen zaristischen Generalstäblern und Stabsoffizieren wurden die meisten Erfolge der Roten Armee zugeschrieben. In der sowjetischen Geschichtsschreibung schätzte man dagegen die Rolle der Militärspezialisten beim Aufbau der Roten Armee geringer ein. Meines Erachtens ist die Bedeutung der Militärspezialisten für den Aufbau der sowjetischen Streitkräfte und die Ausarbeitung der sowjetischen Militärdoktrin hoch zu veranschlagen. Es reicht nicht aus, mit quantitativen Angaben zu operieren, sondern man sollte die Rolle der Militärspezialisten als Vermittlungsinstanz von Kriegserfahrungen in Sowjetrussland analysieren.
3. Auswahlkriterien und Quellenlage Am Beispiel einiger Militärspezialisten werde ich auf die Probleme eingehen, die für die erfahrungsgeschichtliche Perspektive des „Lernens aus Krieg und Niederlage" von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck wird hier eine relativ kleine Gruppe von Offizieren und Generälen der alten Armee ausgesucht, die in den Stäben der Roten Armee oder ihren Lehreinrichtungen diente und dabei ihre Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg weitergab. Dies konnte in Gestalt von Memoiren oder wissenschaftlichem und publizistischem Schrifttum geschehen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Generälen Aleksandr A. Svecin, Aleksandr I. Verchovskij, Michail D. Bonc-Bruevic u. a. zuteil werden. Die frühere Forschung, welche sich mit den Militärspezialisten auseinander setzte, ging nicht über die politische Geschichte und die Geschichte der Institutionen hinaus. Dies ist teilweise mit der mangelhaften Quellenlage zu erklären. Bis heute werden in die Forschung hauptsächlich „indirekte" Zeugnisse einbezogen, die mehr über die Stellung der bolschewistischen Führung oder ihrer Gegner zu den Militärspezialisten sagen als dass sie Auskunft geben über die Selbstreflexion dieser Gruppe. Die „EgoDokumente", die eine Annäherung an die Erfahrungsgeschichte erlauben, waren bis jetzt nur in Form der zur Sowjetzeit veröffentlichten Memoiren vorhanden. Diese 4
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Quellen unterlagen äußerer und innerer Zensur und befanden sich in Übereinstimmung mit dem damaligen sowjetischen Machtdiskurs. Viele Memoiren der ehemaligen russischen Generäle wurden mit beträchtlichen Kürzungen in den 50er und 60er Jahren (zur Zeit der Entstalinisierung) herausgegeben. Manche von ihnen waren die schriftliche Fassung mündlicher Erinnerungen, was ihre Authentizität sehr infrage stellt. Die nicht veröffentlichten Erinnerungen und andere persönliche Nachlässe der Militärspezialisten, die in den 30er Jahren erschossen wurden oder in den Konzentrationslagern gestorben sind, müssen in den Archiven der Sicherheitsorgane gesucht werden.
4. Die Kriegserfahrungen im revolutionären Kontext Die Kriegserfahrungen der Militärspezialisten könnten zum Gegenstand einer selbstständigen Untersuchung werden. Warum haben einige Offiziere der russischen Armee Not und Demütigung des Exils und die Militärspezialisten die lebensgefährliche Existenz in Sowjetrussland gewählt? Im Fall der Militärspezialisten operiert die Forschung mit verschiedenen Interpretationen: Sie reichen von der moralischen Verurteilung als Verräter der Offiziersehre und als Karrieristen über Erklärungen mit der miserablen materiellen Lage und mit der Art sowjetischer Zwangsmobilisierung bis hin zu Verschwörungstheorien in Gestalt des „Versetzens der Grenzpfähle",5 Die sorgfältige Analyse aller Gründe, welche die ehemaligen russischen Offiziere in die Rote Armee führten, ist nicht meine Aufgabe. Ich versuche nur, dem bis jetzt vernachlässigten Motiv der Militärspezialisten - den Kriegserfahrungen - nachzugehen. Zweifellos kam den Erfahrungen von Krieg und Niederlage eine große Bedeutung zu. Sie lagen nicht nur den Entscheidungen zur Unterstützung der Sowjetmacht zu Grunde, sondern beeinflussten auch ihre „sowjetische Biografie" und berufliche Tätigkeit in der Roten Armee. Alle hier untersuchten Offiziere hatten dem russischen Generalstab während des Ersten Weltkrieges angehört. Ihre Kriegserfahrungen beschränkten sich aber nicht auf die Arbeit in den weit von den Frontlinien entfernten Stäben, sondern entstanden auch aus der näheren Bekanntschaft mit den Realitäten des Frontkampfes. Den Offizieren, die im Krieg beides - die operative Arbeit in den Stäben und die Truppenführung - erfahren hatten, fiel die Diskrepanz zwischen dem Krieg in den Schützengräben oder auf den Schlachtfeldern und wie er in den Stäben erlebt wurde, auf. Aleksandr Svecin schrieb später:
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Der 1921 in Prag von Emigranten herausgegebene Sammelband „Versetzen der Grenzpfähle" (Smena vech) rief die nicht- und antibolschewistische Intelligenz im Interesse des Aufbaus Russlands zur Zusammenarbeit mit den Bolschewiki auf.
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„Die Truppen an der Front sahen ganz anders aus als das Bild, das von ihnen im Hauptquartier gezeichnet wurde. Zwischen den Bestrebungen, einen Vernichtungskrieg zu führen, und den objektiven Möglichkeiten tat sich eine Kluft auf. Die Arbeit im Hauptquartier tendierte zum Bau von Luftschlössern [...]" 6
Die Auseinandersetzung mit den Kriegsrealitäten veranlasste zu einer kritischen Analyse der russischen Kriegführung. Millionen von Opfern, große Gebietsverluste, die miserable Truppenversorgung (Mangelhafte Ernährung, Munitionsmangel, der schlechte Sanitätsdienst) galten als Indizien der Ineffizienz. Diese Probleme werden in allen untersuchten Memoiren, Feldtagebüchem und anderen Schriften zum Ausdruck gebracht. 7 Die Offiziere, die den linken politischen Parteien angehört oder mit ihren ο
Ideen sympathisiert hatten, übertrugen die Ineffizienz der Kriegführung auf die Bewertung des politischen Regimes. Für diese Militärs lieferten die Kriegserfahrungen die Gründe für die Entlegitimierung des Zarenregimes.
5. Strategie und Politik In den Memoiren der Militärspezialisten sind die Überlegungen von besonderem Interesse, die sich mit den Besonderheiten des modernen Krieges beschäftigen. 9 Diese Reflexionen kreisen um die Fragen nach den Grundlagen erfolgreicher Kriegführung im modernen Krieg, nach der Kampfmoral der Armee und nach der Rolle der Technik. Die Frage nach den komplizierten Zusammenhängen zwischen Militärstrategie und Politik stand im Mittelpunkt der Diskussionen unter den sowjetischen Militärs in den 20er und 30er Jahren. In der Historiographie werden diese Auseinandersetzungen oft der Diskussion über die „einheitliche Militärdoktrin" zugeordnet. Der ehemalige Gene-
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Aleksandr A. Svecin, Iskusstvo vozdenija polka: Po opytu vojny 1914-18 gg., Moskva/Leningrad 1930, 14-15. Ebd.; Aleksandr I. Verchovskij, Rossija na Golgofe, Petrograd 1918; ders., Na trudnom perevale, Moskva 1959; Michail D. Bonö-BrueviC, Poterja nami Galizii ν 1915 g. Bd. 1: Cerez karpaty ν Vengriju zimoju 1915 goda, Moskva 1921; ders., Vsja vlast' Sovetam, Moskva 1957. Verchovskij gehörte der Partei der Sozialrevolutionäre an, Bonò-BrueviC war Mitglied der bolschewistischen Partei. Die Mehrheit der hohen Offiziere weigerte sich, sich einer bestimmten Partei anzuschließen und hatten nur vage Vorstellungen von ihrem politischen Credo. Die Offiziere, deren Kriegserfahrungen untersucht werden, haben sich schon vor 1914 und während des Krieges als begabte Militärs hervorgetan. Das System der Kriegführung, welches sich in allen am Krieg beteiligten Ländern auf die Tradition des 19. Jahrhunderts stützte, ließ aber der Selbständigkeit und Kreativität der Offiziere wenig Platz. Boni-Brueviö schrieb über die „erstickende Atmosphäre" in der Truppenführung der Südwestfront und über die Rolle der Offiziere des mittleren Rangs, die zu „Marionetten im Spiel der Führer" wurden (Bonô-Brueviè, Poterja nami Galicii, 115). Viele Offiziere, die mit großen persönlichen Ambitionen in den Krieg gegangen waren und sich durch selbstständiges Denken ausgezeichnet hatten, fühlten sich gekränkt. In den Schriften der Militärspezialisten ist dieses Motiv leicht erkennbar.
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ralmajor der russischen Armee Aleksandr Svecin wurde, wie das eine der letzten russischen Monografien zu diesem Thema darstellt, zum Initiator der Diskussion.10 Als Anhänger von Carl von Clausewitz teilte Svecin dessen Ansichten über das Verhältnis zwischen Politik und militärischer Strategie. Die Erfahrungen des russisch-japanischen und des Ersten Weltkrieges bestärkten ihn in dieser Ansicht. Der Zwang zur Massenmobilisierung, die Militarisierung der Wirtschaft, die Auswirkungen des Kriegs auf weite Territorien einschließlich des Hinterlandes sowie auf die logistischen und administrativen Organisationstechniken verlangten eine enge Kooperation zwischen der politischen und militärischen Führung. Die strategischen Aufgaben der Armee müssten den politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes entsprechen. Und umgekehrt - die Politik müsse die strategischen Entscheidungen beeinflussen. Nach Svecin lieferte die russische Armee während des „Großen Krieges" ein negatives Beispiel. Weder die politische Führung des Landes noch sein Oberkommando hätten ihr Handeln koordiniert. Das habe sich im blinden Befolgen der strategischen Pläne der Alliierten, v. a. des französischen Generalstabs, gezeigt ebenso wie im Fehlen eines klaren strategischen Ziels in den militärischen Operationen an der Ostfront. In diesem Mangel sah er auch ein politisches Symptom für das Versagen des alten Regimes. Zudem seien strategische Entscheidungen und ihre Begründung auch der mittleren und unteren Kommandoebene zu vermitteln. Geschehe dies nicht - wie im Weltkrieg - , führe dies zu Chaos und hohen Verlusten. Als paradigmatisches Beispiel für diese Mängel lesen sich seine Ausführungen in den Erinnerungen ,J)ie Kunst der Regimentsführung". Hier schildert er die missglückten Operationen bei Wilna im Herbst 1915. Mit dieser Darstellung verknüpfte er die Forderung nach Überprüfung alter Traditionen. Zu ihnen gehörte der Verzicht der alten Armee und ihrer Offiziere, sich am politischen Leben im Zarenreich zu beteiligen. Ihre Selbstständigkeit und Kreativität waren aber auch in der Truppenführung stark eingeschränkt, ein Gegenstand vielfacher Kritik der Militärspezialisten. Demgegenüber wurde der Dienst in der Roten Armee als Alternative betrachtet. Die Offiziere, die sich auf diesen neuen Bahnen bewegten, rechneten zudem mit besseren Aufstiegsmöglichkeiten. Einer dieser Offiziere schrieb seinem Kameraden im Mai 1918, als die bolschewistische Regierung ihn an die Front gegen die Entente schickte: „Das ist ein historischer Kampf für das Neue, für Lebendiges gegen Routine und Archaismen [...]. Ich glaube, daß heute Ränge und Seniorität keine Rolle spielen, jetzt geht es um schöpferische Arbeit [...]. Jeder sollte durch seine Arbeit etwas Beständiges schaffen, d. h. etwas Zukunftsfähiges."11
In späteren wissenschaftlichen Arbeiten (v. a. in der Schrift Strategie") fasste Sveéin seine Ansichten für eine effiziente Truppenführung und strategische Planung in einem modernen Krieg zusammen. Die erfolgreiche Lösung von Aufgaben, die im Dreieck 10
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Vgl. Andrej A. Kokosin, Armija i politika: Sovetskaja voenno-politiCeskaja i voenno-strategiCeskaja mysl', 1918-1991 gody, Moskva 1995, 35. Aleksandr G. Kavtaradze, Sovetskoe raboce-krest'janskoe pravitel'stvo priznalo neobchodimym..., in: Voenno-istoriöeskij zurnal 2002, 32-40.
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„Politik - Strategie - Operationskunst" entstehen, hänge von der Schlüsselfigur des „integralen Feldherrn" ab. Unter diesem „integralen Feldherrn" verstand er eine kollektive Kriegführung mit dem Staatsoberhaupt als Oberbefehlshaber.12 Eine ähnliche Idee formulierte ein anderer Militärspezialist Boris Saposnikov in seiner Schrift „Hirn der Armee". Hier analysierte er die Arbeit des Österreich-ungarischen Generalstabs während des Großen Krieges.13
6. Die moderne Armee Einen wichtigen Aspekt in den Kriegserfahrungen der Militärspezialisten bildete die Kampfmoral der russischen Armee. Deshalb wurden die Erfahrungen unter vergleichendem Aspekt untersucht, indem die Armeen des Feindes in die Analyse einbezogen wurden. Denn mit der Einführung der Massenmobilisierung war neben dem Berufsmilitär der „bewaffnete" Bürger getreten. Zu den traditionellen Fertigkeiten wie Schießen und Marschieren, Gehorsam und Disziplin traten neue Anforderungen hinzu: Patriotismus und Nationalismus, die Aneignung der Kriegsziele, politische Loyalität und mobilisierende Feindbilder. Die niedrige Kampfmoral und geringe Widerstandskraft der russischen Soldaten hatten erkennen lassen, dass sie diesen neuen Anforderungen kaum entsprochen hatten. Der russische Soldat, wie er in den Memoiren und Untersuchungen der Militärspezialisten dargestellt wurde, erschien als widerspruchsvolle Figur. Die russische Armee hatte zu 80 Prozent aus Bauernsoldaten bestanden. Diese zeichneten sich durch Gehorsam und Gewöhnung an schwere Arbeit aus, was ursprünglich zu den soldatischen Tugenden gehört hatte. Die archaischen sozialen Verhältnisse des russischen Dorfes, in die Armee übertragen, förderten paternalistische Muster in den Beziehungen zwischen Soldaten und Offizieren. 14 In den meisten Kriegserinnerungen sind Episoden zu finden, die diese Muster veranschaulichen. Gewöhnlich geht es um Offiziere, die mit ihren Soldaten sehr väterlich umgingen. Wie die Memoiren behaupten, waren diese Offiziere unter den Soldaten sehr populär, und ihre Einheiten zeichneten sich durch gute Disziplin und Kampffähigkeit aus. In der ,J(unst der Regimentsführung" stellt Aleksandr Svecin sich selbst in der Rolle des „Vaters" dar. Trotz solcher Beziehungen versagte die russische Armee unter den Bedingungen des modernen Krieges. Svecin sah den Kern des Problems auf dem Gebiet des Sozialen:
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Aleksandr SveCin, Strategija, Moskva 1926, 63-64. Boris M. Schaposchnikof, Das Hirn der Armee, Berlin 1987. Zur Idee des „integralen Feldherrn" vgl. auch Kokosin, Armija i politika, 47-48. Olga S. Porsneva, Mentalitet i social'noe povedenije raboéich, krest'jan i soldat ν period pervoj mirovoj vojny (1914 - mart 1918g.), Ekaterinburg 2000, 217-218.
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„Die soziale Grundlage des zaristischen Rußlands - Gutsbesitzer und Bourgeoisie - war sehr schmal; sie umfaßte nicht einmal die wohlhabenden bäuerlichen Oberschichten. Auf dieser Basis war es unmöglich, den sich hinziehenden Weltkrieg zu führen". 15 D i e russischen S o l d a t e n w a r e n auf k e i n e n Fall „ b e w a f f n e t e " Bürger, die e i n e n t w i c k e l tes nationales B e w u s s t s e i n vereinigte und die v o n Patriotismus erfüllt waren. „ W i e kann m a n über Patriotismus sprechen", rief A l e k s a n d r V e r c h o v s k i j aus, „ w e n n e s nicht erlaubt war, [das V o l k - O . N . ] L e s e n und Schreiben zu lehren!" 1 6 Er suchte die W u r z e l n d e s P r o b l e m s i m D u a l i s m u s der Kulturen in R u s s l a n d . D e m e i g e n e n Rückstand stellte er das fortgeschrittene D e u t s c h l a n d mit einer h o h e n Kultur, e i n e m aufgeklärten V o l k u n d b e i s p i e l h a f t organisierter
Staatsverwaltung
gegenüber.
A l s einer der
wenigen
O f f i z i e r e der „alten" A r m e e , der einer p o l i t i s c h e n Partei (der Partei der S o z i a l r e v o l u t i o näre) angehört hatte, g i n g V e r c h o v s k i j über die Verurteilung der russischen K r i e g f ü h rung hinaus. Er unterzog auch das politische R e g i m e d e s russischen Imperiums s c h o n i m F e l d t a g e b u c h v o n 1 9 1 4 bis 1 9 1 7 einer Kritik. 1 7 A m V o r a b e n d d e s K r i e g e s habe die Militärbürokratie in der A r m e e j e d e Initiative verhindert, d i e zur p o l i t i s c h e n A u f k l ä r u n g der russischen Soldaten hätte führen k ö n n e n . D a m i t sei auch d i e M ö g l i c h k e i t vertan w o r d e n , d i e K r i e g s z i e l e R u s s l a n d s den g e m e i n e n Soldaten zu erklären. „ W i e v i e l mal habe ich in d e n S c h ü t z e n g r ä b e n gefragt, w e s w e g e n wir Krieg führen", erinnerte sich der russische General A l e k s e j B r u s i l o v ,
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„[...] und jedesmal erhielt ich die Antwort, daß irgendein Erz-Herz-Perz mit seiner Frau von jemandem getötet worden sei, und daß deswegen die Österreicher die Serben kränken wollten. Aber wer die Serben sind, wußte niemand. Wer die Slawen sind, blieb auch im Dunkeln, und warum die Deutschen sich ausdachten, wegen Serbien Krieg zu führen, blieb ganz unklar. Es stellte sich heraus, daß die Menschen aus ihnen unbekannten Gründen zur Schlachtbank geführt wurden, d. h. wegen einer Laune des Zaren". 19
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Sveiin, Iskusstvo vozdenija polka, 38. Verchovskij, Na trudnom perevale, 51. Die Mehrheit der Militärspezialisten eignete sich, wenn nicht die bolschewistische Ideologie, dann die übliche Rhetorik der Bolschewiki an. Deshalb ist immer schwer zu beurteilen, inwieweit ihre Kritik ursprünglich radikale Formen angenommen hatte. General Aleksej Brusilov ist durch seine erfolgreiche Offensive im Juni 1916 an der Südwestfront berühmt geworden, die Österreich-Ungarn große territoriale Verluste (der größte Durchbruch ins feindlichen Territorium während des Krieges) kostete und das Reich an die Grenze seiner militärischen Möglichkeiten brachte. Nach dem Oktoberumsturz ist Brusilov in Sowjetrußland geblieben, was er später als Ausdruck seiner nationalen Gefühle und seiner Offiziersehre erklärte: „Am Anfang der Revolution habe ich beschlossen, daß ich mich von den Soldaten nicht trenne und in der Armee bleibe, solange sie existieren wird oder bis ich abgelöst werde. Später sagte ich allen, daß die Pflicht jedes Bürgers ist, sein Volk nicht zu verlassen und zusammen mit ihm zu leben, um jeden Preis [...] Das ist sicher sehr schwer, aber anders konnte ich nicht verfahren, sogar wenn ich ums Leben kommen sollte. Umherirren im Ausland als Emigrant - das hielt ich für unmöglich und unwürdig". Brusilov starb 1920. Aleksej Brusilov, Moi vospominanija, Moskva 2001, 220. Ebd., 69.
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Für einen modernen Krieg, wie die meisten Militärspezialisten behaupteten, hatte diese Unwissenheit der Soldaten die schwersten Folgen. Im Vergleich zu den Soldaten der Alliierten oder zu den Gegnern zeichneten sich die russischen Krieger durch geringe Widerstandskraft aus. Massenhafte Fahnenflucht und leichte Gefangennahme wurden zu Indizien des Krieges an der Ostfront. Mit dem Zerfall der alten Ordnung im Jahre 1917 vollzog sich der Übergang von passiven Widerstandsformen (Befehlsverweigerung, Fahnenflucht und Gefangenschaft) zu aktiven - den Offiziersmorden. Die Kluft zwischen den Soldaten und Offizieren, die in ihrer Masse für die Fortsetzung des Krieges eintraten, weitete sich aus. Verchovskij schrieb in seinem Tagebuch über den Einfluss der bolschewistischen Propaganda: „Im ungebildeten Kopf des Bauern verwandelte sich die Internationale zur Verbrüderung mit den Deutschen und Klassenkampf - zum Kampf mit dem einzigen Vertreter der Bourgeoisie ganz in der Nähe - mit dem eigenen armen, verletzten, seine Heimat unendlich liebenden Offizier".20
In den Erfahrungen der verlorenen Gefechte und Niederlagen des Großen Krieges, wie sie in den Memoiren und anderen Schriften der Militärspezialisten dargestellt sind, nahmen die ihre Positionen verlassenden und fliehenden Soldaten einen wichtigen Platz ein. Dieser Dimension von Kriegserfahrung kam eine besondere Bedeutung zu, da sie ihr Prestige und ihre Autorität unmittelbar getroffen hatte. Indirekt wird dies dadurch bestätigt, dass die Ereignisse von 1917 und 1918, als die Armee endgültig zerfiel und sich in unkontrollierbare Banden von bewaffneten Menschen verwandelte, in den Erinnerungen und Untersuchungen der Militärspezialisten relativ selten thematisiert wurde. Diese „Amnesie" erstreckte sich auch auf das offizielle Ende des Krieges - und auf den Frieden von Brest-Litovsk. Dies alles wurde zum Trauma. Von daher wird das Interesse an der Frage der „politischen Erziehung" der Soldaten in den wissenschaftlichen Arbeiten vieler Militärspezialisten verständlich.21 Die Einführung der politischen Kommissare mit der Aufgabe der Kontrolle und „Aufklärung" der Soldaten sah man daher als richtige Konsequenz aus den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Das Ziel, zukünftige Soldaten und Kommandeure zu bilden und zu „zivilisieren", sicher auch politisch zu indoktrinieren, erweist sich somit als gemeinsame Vorstellung sowohl der Militärspezialisten als auch der bolschewistischen Führung. Von der Erfahrungen des Großen Krieges her lassen sich auch die neuartigen Ideen über die Popularisierung der (vor-) militärischen Ausbildung für Zivilisten ableiten, welche später dem System der paramilitärischen Einrichtungen zu Grunde gelegt wurden. In der sowjetischen Rhetorik der Nachkriegszeit lief dieses Projekt unter dem Titel „voenizacija" („Militarisierung"). 22 Seine Entstehung wird in der Forschung gewöhn20 21
22
Aleksandr I. Verchovskij, Rossija na Golgofe, in: Voenno-istoriöeskij zurnal (1993), 4, 42. Vgl. ζ. B. Aleksandr Verchovskij, Obsüaja taktika, Moskva 1926; ders.: Osnovy podgotovki komandirov, Moskva/Leningrad 1926; Sveöin, Strategija. Der historische Begriff „voenizacija" kann auf Deutsch nur als Militarisierung übersetzt werden. Das Wort „Militarisierung" wurde aber nur mit negativer Konnotation benutzt, um die Prozesse in
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lieh auf das Milizsystem und die Militärreform von 1924 23 zurückgeführt und ursprünglich mit der Initiative der so genannten Roten Kommandeure 24 verbunden. Es ist anzunehmen, dass „voenizaeija" noch andere Autoren hatte - die Militärspezialisten. Die meisten ehemaligen russischen Generäle waren Gegner einer Milizarmee. Sie gingen dabei von einem zukünftigen langwierigen Zermürbungskrieg aus, welcher enorme Energien und Ressourcen verlangte. „Die militärische Planung darf sich keineswegs auf die Armee und Flotte beschränken; heute nimmt am Krieg das ganze Land teil, und militärische Direktiven sollten die ganze Breite staatlicher Tätigkeit einbeziehen [...]." 2S
Unter anderen Maßnahmen schlug z. B. Svecin vor, Elemente einer militärischen Ausbildung und Ertüchtigung in den Schulen und Hochschulen einzuführen. Die Offizierskader müssten sich während des Krieges, so Svecin, aus den Jugendlichen auffüllen. Es sei notwendig, ihre militärischen Fertigkeiten durch körperliche Ertüchtigung, „Kampf gegen pazifistisches Denken", grundlegendes militärisches Wissen, Schießübungen („sei es unter den Fahnen der Sporteinrichtungen") und durch „sittliche Annäherung an die Rote Armee" zu verbessern. 26 Es ist schwer einzuschätzen, inwieweit diese Gedanken, die vom Rednerpult in den Militärakademien propagiert wurden, die Denkweise der Roten Kommandeure beeinflusst haben. Die Kompetenz der ehemaligen Generäle wurde offensichtlich auf die theoretische Arbeit und die Lehrtätigkeit beschränkt. Es ist aber auffällig, daß die Ideen der Militärspezialisten mit der Entwicklung der militärischen und paramilitärischen Ausbildung in Sowjetrussland zusammenfielen. Das von ihnen propagierte Projekt einer Militarisierung der Gesellschaft zeichnete sich in ersten Umrissen in den Aufgaben der „Kriegswissenschaftlichen Gesellschaft" (voenno-nauenoe obscestvo)27 und in den paramilitärischen Organisationen ab. Gegen Ende der 20er Jahre sind diese und
den kapitalistischen Staaten zu bezeichnen und die Trennlinie zwischen dem ersten sozialistischen Land und der kapitalistischen Welt nochmals offen zu legen. 23
Während der Reform 1924 geschah der Übergang von der Kaderarmee zum gemischten System aus Kadereinheiten und „territorialen" (Miliz-) Einheiten. Es scheint, dass der Reform die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion zugrunde lagen und dem Milizgedanken eine Dekorationsfunktion zukommt.
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Im Gegensatz zu den Militärspezialisten Unteroffizieren oder Fähnrichen rekrutiert.
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Sveöin, Strategija, 157. Ebd.
26 27
wurden die Roten Kommandeure
aus
Soldaten,
Die „Kriegswissenschaftliche Gesellschaft" wurde in der ersten Hälfte der 20er Jahre auf Initiative der bolschewistischen Zelle in der Akademie des Generalstabs gegründet. Die Gesellschaft beschäftigte sich anfangs mit der Erfahrungen des Bürgerkrieges mit dem Ziel, die Theorie eines revolutionären Klassenkrieges auszuarbeiten. Später erstreckten sich die Aufgaben der Gesellschaft auf die Militarisierung der sowjetischen Gesellschaft im allgemeinen. Vgl. dazu Oöerednye zadaii VON, Reòi tov. Kalinina, Vorosilova, Unslichta na I-m Vsesojuznom s-ezde VNO, Moskva 1926; Robert P. Ejdeman, Itogi i perspektivy rabot VNO, Moskva 1926.
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andere Institutionen unter dem Dach der Organisation „Osoviachim" (Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, der Luftfahrt und der Chemieindustrie) zusammengefasst worden. Die neue Gesellschaft spielte in den 30er Jahren eine Schlüsselrolle bei der vormilitärischen Ausbildung der Jugendlichen in Vorbereitung auf den Dienst in der Roten Armee.
7. „Unsere Losung wird die Wahrheit, die ganze Wahrheit sein..." In vielen europäischen Ländern wurden nach dem Weltkrieg für die Untersuchung der Kriegserfahrungen besondere Einrichtungen gegründet.28 Dieses „Lernen aus dem Krieg" beschränkte sich entsprechend dem damaligen Verständnis von Kriegserfahrungen auf die Operationskunst. So wurde 1918 beim Generalstab der Roten Arbeiter- und Bauern-Armee (RKKA) die „Kommission zur Erforschung und Anwendung der Erfahrung des Krieges 1914-1918" (Voenno-istoriceskaja komissija) gegründet.29 Zum Personal der Kommission gehörten bekannte russische Generäle und Militärtheoretiker wie Sveöin, Klembovskij, Parskij, Cichovic, Baiov u. a.30 Die Kommission sollte auf Grund der Erfahrungen im Weltkrieg „neue Methoden und Begriffe der Kriegskunst offen legen; [...] auf neue Formen und Mittel der Staatsverteidigung hinweisen und damit zum Aufbau einer neuen kampffähigen Armee beitragen".31 Die Kommission übernahm Aufgaben, wie sie auch in anderen Ländern Europas durchgeführt wurden. Sowjetrussland unterschied sich nur dadurch von den anderen kriegführenden Staaten, dass sich keine amtlich geförderte Memorialkultur entwickeln konnte.32 Die an der Kriegshistorischen Kommission beteiligten Militärspezialisten verstanden ihre Beteiligung dennoch wohl auch als Arbeit am Gedächtnis der gefallenen Soldaten und Kriegsopfer Russlands. So schrieb Aleksandr Sveöin im Vorwort zur ersten Ausgabe des „Kriegshistorischen Sammelbandes" (Voenno-istoriceskij sbornik): „Wie auch immer es mit der Beziehung des Volkes zum vergangenen Krieg bestellt sein mag, so sollte es doch Beachtung jenen Anstrengungen, jener Ausdauer und Selbstverleugnung und dem Gedächtnis jener unzähligen bescheidenen Gräber schenken, die unsere westlichen Grenzgebiete bedecken. Ein Denkmal aufzurichten als Teil der offiziellen Anerkennung des 28
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Zu erwähnen sind hier die Verarbeitung der Erfahrungen des Krieges 1870-1871 durch den Preußischen Generalstab und die russische historische Kommission zur Untersuchung des Krieges 1904-1905 mit Japan. In diesem Jahr entstand auch die Kommission zur Erforschung der Kriegserfahrungen auf See unter der Leitung von Professor Nikolaj Klado; vgl. Tatjana A. Varaksina, „Staraja russkaja armija ν ètoj vojne dala ves'ma mnogo pouöitel'nogo...", in: Voenno-istoriieskij zurnal (2002), 7, 78. Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv (RGVA), fond 7, opis' 5, delo 65, list 14, 18. RGVA f. 7, op. 5, d. 65,1. 3-5. Beyrau, Der Erste Weltkrieg als Bewährungsprobe, 98.
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Krieges ist für jede Regierung unvermeidlich, die weiterhin auf bewaffnete Streitkräfte setzt und das Volk zu Opfem aufruft. Militärischer Heldenmut bedarf des Kultes und der Kult des Heldenmutes ist für den Sieg notwendig [...]. Gegenwärtig ist die Erinnerung an die gemeinsame großartige Geschichte besonders wertvoll, wie Zement, der uns zu einem Ganzen verbindet."33
Die bolschewistische Führung machte sich dieses Bedürfnis in der Weise zu eigen, dass sie eine pompöse Memorialkultur für den Bürgerkrieg konstruierte. Der Bürgerkrieg und nicht der „Große Krieg" hatte in den sowjetischen Konstruktionen von Geschichte die Funktion einer fast schon mythischen Erzählung zu übernehmen. Die Kommission aber setzte sich das Ziel, alle Aspekte des Weltkrieges zu rekonstruieren. Zuerst sollte ein Abriss des Weltkrieges aus der Sicht der militärischen Strategie erstellt werden, dann folgten einzelne Kampfhandlungen und Schlachten als Beispiele taktischer Entscheidungen, des Weiteren Fragen der Militärtechnik und des Giftgaseinsatzes und schließlich der Versorgung der russischen Armee. Nach wissenschaftlichen Methoden, auf der Basis von Quellen, sollte ein facettenreiches Bild des Krieges geschaffen werden. Die Kommission fing ihre Arbeit unter den Bedingungen des revolutionären Chaos an, als man sich um die Aufbewahrung von Regiments-, Armee- und Frontarchiven kaum kümmerte. Sie bemühte sich, die militärischen Archive zu retten. In einem Jahr nach ihrer Gründung sammelte sie mehr als 14 000 Akten.34 Einige dieser Akten wurden später im Periodikum der Kommission veröffentlicht. Vieles aber ging verloren. 1919-1921 veröffentlichte die Kommission einen Strategischen Abriß des Krieges 1914-1918" ,35 Monografien über die Versorgung der russischen Armee und über die strategischen Verhandlungen Russlands mit den Alliierten während des Krieges.36 Zur selben Zeit erschienen auch vier Hefte des ,JCriegshistorischen Sammelbandes". In diesen Heften wurden die einzelnen Schlachten und Operationen des Weltkrieges an der West- und Ostfront nach neuesten Erkenntnissen analysiert. Perspektivisch sollte diese fachmännische Arbeit sowohl praktischen Zielen (z. B. der Umarbeitung von Dienstordnungen) als auch einer Ausarbeitung der Militärdoktrin dienen. Diese „Publikationsoffensive" wurde von anderen Militärspezialisten unterstützt. So übersetzte man die Memoiren und wissenschaftlichen Schriften von Militärs aus vielen am Krieg beteiligten Ländern.37 Dank dieser Übersetzungen ist die Barriere, welche sich nach der Revolution und dem Bürgerkrieg zwischen Sowjetrussland und der übrigen Welt auf33
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Aleksandr Sveöin, Trudy komissii po issledovaniju i ispol'zovaniju opyta vojny 1914—1918gg., in: Voenno-istoriöeskij sbomik Bd. 1, Moskva 1919, 6. Varaksina, „Staraja russkaja armija...", 78. Strategiöeskij oöerk vojny 1914-1918, Moskva 1919. Aleksej A. Manikovskij, Boevoe snabzenie russkoj armii ν vojnu 1914-1918gg. Bd. 1, Moskva 1920; Nikolaj Valentinov, Snosenija s sojuznikami po voennym voprosam vo vremja vojny 1914— 1918gg., Moskva 1919. So wurden ζ. B. die Memoiren von Ludendorff, Hindenburg und Tirpitz, die Schriften von L. Hardt und Paul Fusseil übersetzt und veröffentlicht.
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gebaut hatte, auf dem Gebiet des Militärdenkens überwunden und der Transfer militärischer Ideen ermöglicht worden. In den ersten zwei Heften des „Kriegshistorischen Sammelbandes" wurde das Feldtagebuch eines russischen Soldaten veröffentlicht. Mit dieser Publikation hoffte Svecin, eine Reihe von Erinnerungen an den Krieg zu eröffnen. Sie sollten den „sprachlosen" unbekannten Kriegern des „Großen Krieges" ein Denkmal setzen. Im Vorwort zur Publikation rief Svecin dazu auf, eigene Erinnerungen, Tagebücher und Briefwechsel aus dem Krieg der Kommission zur Verfügung zu stellen. Solange Svecin die Kriegshistorische Kommission leitete, lassen sich Fragestellungen und Probleme erkennen, die systematisch bearbeitet werden sollten. So ging es bei der Beschreibung militärischer Operationen um die Analyse des Typs moderner Ge38
fechtsführung, um die Legitimierung strategischer Rückzüge, aber auch um die Bloßstellung menschlichen Versagens auf dem Schlachtfeld. Die russische Front bot hier ebenso viele Beispiele wie jede andere Front. Dem bolschewistischen Internationalismus begegnete Svecin mit der „russischen Idee" (in einer slavophilen Variante). Diese wollte er der Arbeit der Kommission zu Grunde legen. Dabei berief er sich auf die Opferbereitschaft und Selbstaufopferung der russischen Armee für die allgemeinen Kriegsziele der Entente. Dies hob er gegen den Egoismus der westlichen Verbündeten ab. Als Beleg für diese Sicht verwies er auch auf die strategischen Verhandlungen der Verbündeten. Bei der Darstellung der Niederlagen der russischen Seite vor Riga im Herbst 1917 nahm er die Heeresleitung in Schutz gegen Verrats- und Verschwörungsvorwürfe. 39 Insgesamt sollte die Arbeit der Kriegskommission der Tendenz westlicher Militärgeschichtsschreibung entgegenwirken, die russischen militärischen Leistungen herabzuwürdigen. 40 Um der Arbeit der Kommission eine größere Resonanz zu verschaffen, veranstaltete sie regelmäßig öffentliche Vorträge. So wurden 1919 35 Vorträge geplant, welche verschiedenen Probleme des Militärwesens, der Geschichte und der Philosophie umfassten. Ein Vortrag von Aleksandr Svecin „Miliz als Tendenz" steht neben Referaten des Historikers Robert Vipper „Die Ewigkeit des Krieges" und Vladimir Piceta „Die polnische Frage in der russischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts". Der bekannte Militärhistoriker und ehemalige General Aleksandr Neznamov berichtete über die „Petrograder Operation von Judenic im Oktober 1919" und der Orientalist Andrej Snesarev hielt einen Vortrag über den „Feldzug von Tamerlan gegen Tochtamys". 41 Für besonders aktuelle Probleme wie den Übergang zur Milizarmee wurde im Vortragskalender viel Zeit eingeräumt. Ob die Kommission bei einem breiteren Publikum auf 38
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Diese Idee führte in die Vorkriegszeit zurück, als die Generalstäbe der zukünftigen Kriegsteilnehmer von der offensiven Militärdoktrin ausgegangen waren und insofern den Anfang des Krieges beeinflussten. Die Offensivoperationen kosteten die Armeen viel Opfer und Blut. RGVA, f. 7, op. 5, d. 65, 11. 37-37ob. Sveöin, Trudy komissii, 6. RGVA, f. 7, op. 5, d. 65,11. 78-78ob, 104-111.
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Resonanz stieß, ist schwer zu beurteilen. Angaben dazu wurden in den Archivakten bisher nicht gefunden. 1921 wurde die Kommission reorganisiert. Die bolschewistische Führung erwartete von den Militärspezialisten, dass sie den Schwerpunkt ihrer Untersuchungen auf den Bürgerkrieg verlegten. Svecin widersetzte sich dieser Reorganisation. 42 In den 1920er Jahren wurde die Kommission mehrmals umbenannt, reorganisiert und verschiedenen militärischen Institutionen untergeordnet. Die Militärspezialisten, die an der Spitze der Kommission standen, wie auch ihre Mitarbeiter wechselten wie im Kartenspiel. Einen radikalen Austausch des Personalbestandes erlebte die Kommission während der politischen Prozesse gegen die Militärs (1930/1931, 1937/1938). Während der Repressalien 1937/1938 kam die Mehrheit von ihnen ums Leben. Bis zur Hinrichtung nutzte man sie aber als Theoretiker und als hoch qualifizierte Fachleute in den Militärakademien. 43 1934/1935 bildete eine Zäsur in der Vergangenheitspolitik des stalinschen Regimes. Die sowjetische Führung forderte eine Rückkehr zur Geschichte, die zur patriotischen Erziehung der Jugendlichen dienen sollte. Hohe Regierungskommissionen kontrollierten die Vorbereitung neuer Geschichtsbücher für die allgemeinen Schulen und andere Lehranstalten. Der damalige Leiter der Kriegshistorischen Kommission Sokolov-Strachov versuchte, die günstige Konjunktur auszunutzen und den Tätigkeitsbereich der Kommission wesentlich zu erweitern. Er wollte den Schwerpunkt der Arbeit auf die militärische Ausbildung, die Erziehung und Indoktrination der zukünftigen Kommandeure der RKKA legen. Der Militärgeschichte, besonders der Geschichte des Weltkrieges, würde dabei eine große Bedeutung zukommen. 4 4 Gleichzeitig bemühte sich Sokolov-Strachov, die militärischen Archive unter seine Kontrolle zu bringen. 45 Seine Berichte zeigen, wie der Leiter der Kommission sich den Anforderungen der sowjetischen Führung anzupassen suchte. Statt von Erfahrungen und Lehren aus dem Weltkrieg war von denen aus dem Bürgerkrieg die Rede. Sie hatten der Erziehung der roten Kommandeure zu dienen. 46 Die letzte produktive Periode in der Arbeit der Kommission fiel in die Vorkriegsjahre 1939-1940. Die wenigen von den Repressalien nicht betroffenen Militärspezialisten wie Boris Saposnikov und Evgenij Barsukov nahmen an den Projekten der Kommission teil. Am Vorabend des „Großen Vaterländischen Krieges" gab die Kommission die Quellen zur Geschichte des Krieges heraus. Jeder Band stellte einzelne Operationen oder einen bestimmten Abschnitt des Krieges vor. 47 Der ehemalige General der Artillerieverwaltung des russischen Hauptquartiers Evgenij Barsukov 42 43
44 45 46 47
RGVA, f. 7, op. 5, d. 65,11. 176-179. Beispielhaft ist die Geschichte Aleksandr Verchovskijs, der während der Haft einen „Auftrag" von der OGPU zur wissenschaftlichen Arbeit im Bereich der Kriegstaktik bekam. RGVA, f. 39352, op. 1, d. 24,1. 162, 163-166; d. 25,11. 61-64. RGVA, f. 39352, op. 1, d. 25,11. 37, 47-51ob. RGVA, f. 39352, op. 1, d. 28,1. 2-6. Vgl. Sbomik dokumentov mirovoj imperialistiöeskoj vojny na russkom fronte (1914-1917). Manevrennyj period 1914-1915, Moskva 1933-1941; Varsavsko-Ivangorodskaja operacija, Moskva 1938; Vostoöno-Prusskaja operacija, Moskva 1939; Gorlickaja operacija, Moskva 1941.
Der Kult des Heldenmutes ist für den Sieg notwendig "
199
veröffentlichte eine Monografie über die russische Artillerie während des Weltkrieges. 48 1942 wurde das Buch mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet. 49 Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Arbeit der Kommission irrelevant. Die neuen Katastrophen brachten neue Erfahrungen mit sich, welche den vergangenen Krieg endgültig dem Vergessen anheim stellten.
8. Fazit Die Erinnerungen an den „Großen Krieg" 1914-1918 wurden im kollektiven Gedächtnis der sowjetischen Bevölkerung durch die Katastrophen der Revolution und des Bürgerkrieges verdrängt. Mit der Markierung des Weltkrieges als „imperialistischem" und „ungerechtem" Krieg wurde ihm ein Platz im kollektiven Gedächtnis verweigert. Die Revolution und der Bürgerkrieg, nicht aber der Erste Weltkrieg konstituierten die Gründungsmythen der sowjetischen Geschichte. Nur die Berufsmilitärs untersuchten die Kriegserfahrungen von 1914—1918. Die Militärakademien und die „Kommission für die Erforschung und Anwendung der Erfahrung des Krieges 1914—1918" (Militärhistorische Kommission) gehörten zu den wichtigsten Vermittlungsinstanzen der Kriegserfahrungen. Ihnen kam zudem eine besondere Bedeutung zu bei der Ausarbeitung der sowjetischen Militärdoktrin sowie neuer Strategien und Taktiken. Die Erfahrungen des Weltkrieges waren grundlegend für die „Voenizacija" (die Militarisierung) der sowjetischen Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit. Die Versuche der Kommission, über die Grenzen der fachlichen Analyse und Anwendung der Kriegserfahrungen hinauszugehen, scheiterten. Das „Gebäude" der Memorialkultur wurde nur für das Erinnern an den Bürgerkrieg errichtet. Der „Große Vaterländische Krieg" verbannte die Ereignisse von 1914-1918 dann endgültig in die gesellschaftliche Amnesie.
48 49
Evgenij Z. Barsukov, Russkaja artillerija ν mirovuju vojnu 1914-1917gg., Moskva 1938-1940. Rossijskij Gosudarstvennyj Voenno-Istoriöeskij Archiv (RGVIA), f. 234, op. 1.
BERNHARD CHIARI
Sieg in der Niederlage? Anmerkungen zu Geschichte und Mythos der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa)
Die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa) ist alles andere als ein Mythos. Geführt von einer polnischen Exilregierung zunächst in Frankreich und später in London, war sie während des Zweiten Weltkrieges mit bis zu 400 000 Angehörigen die zentrale Trägerin des bewaffneten Widerstandes und wurde wie keine andere Organisation zum Synonym für die militärischen Leistungen des polnischen Untergrundes. Ab Sommer 1944 zerschlugen die Rote Armee und der sowjetische NKVD die Einheiten der Armia Krajowa. Im Rahmen umfangreicher „Säuberungen" verhafteten oder exekutierten sie deren Führerkorps, entwaffneten die Mannschaften oder gliederten sie in sowjettreue Verbände ein. 1 Die bekannteste Leistung der Armia Krajowa ist ihr Einsatz während des Warschauer Aufstandes vom 1. August bis 2. Oktober 1944. 36 000 mangelhaft ausgerüstete Kämpfer boten deutschen Eliteeinheiten unter Führung des Generals der Waffen-SS Erich von dem Bach-Zelewski und enthemmten Killerkommandos wie dem berüchtigten Sonderverband Dirlewanger die Stirn. Diese legten Warschau in Schutt und Asche und töteten vermutlich 16 000 Kämpfer der Armia Krajowa und bis zu 150 000 Zivilisten. Der Aufstand, der Züge einer antiken Tragödie aufweist, verlieh der Heimatarmee einen mythischen Nimbus. Neben dem Heldenmut der polnischen Kämpfer und der Überlegenheit des deutschen Gegners trug zu diesem auch die Rote Armee bei. Diese brach einen Entlastungsangriff auf Warschau am Ufer der Weichsel ab und verfolgte - zumindest in der polnischen Erinnerung - untätig das Verbluten der Aufständischen in der Stadt. 2 1
2
Vgl. Bernhard Chiari (Hg.), Die polnische Heimatarmee, Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 57), München 2003. Die folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf die in diesem internationalen Forschungsprojekt von 35 Autoren zusammengetragenen Arbeitsergebnisse. Für eine detaillierte Darstellung der hier angerissenen Einzelaspekte sowie bezüglich der umfangreichen Forschungsliteratur sei ebenfalls auf den Sammelband verwiesen. Wiodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2001; Bernd Martin/Stanistawa Lewandowska (Hg.), Der Warschauer Aufstand 1944, Warschau 1999; vgl. auch
202
Bernhard Chiari
Die militärgeschichtliche Dimension der Ereignisse rechtfertigt deren Beschreibung als schwere Kriegsniederlage. Dies ist angesichts des Fehlens einer regulären Armee im besetzten Polen schon an sich bemerkenswert. Das Scheitern des antideutschen und später des antisowjetischen Widerstandes der Heimatarmee war darüber hinaus aber für die Zeitgenossen - u n d zwar Verbündete wie Gegner der Untergrundstreitkräfte — ebenso wie für die Betrachter aus der Retrospektive eine epochale Katastrophe der polnischen Nation. Die Armia Krajowa bedeutete, ähnlich wie die sowjetische Partisanenbewegung, mehr als nur eine bewaffnete Organisation.3 Ihr heldenhafter, doch letztlich chancenloser Kampf gegen die deutsche Wehrmacht und die Sicherheitsorgane der Besatzungsmacht, gegen Mord und Terror, „Eindeutschung" und „Umvolkung" bis hin zum Ende ihres Führerkorps vor den Erschießungskommandos des sowjetischen NKVD machte sie zum leuchtenden Sinnbild der polnischen Nationalgeschichte. Dies erklärt die Bedeutung, welche der Heimatarmee im kollektiven Gedächtnis Polens bis heute zukommt.
1. Die Armia Krajowa in ihrem historischen Umfeld Den Hintergrund für die Erinnerung an Krieg und Niederlage bildet die reale Lage des polnischen Untergrundes. Die Heimatarmee geriet im Kriegsverlauf in einen Kampf hinein, der um die Neuaufteilung Europas geführt wurde. 4 Sie kämpfte nicht nur in Warschau und im übrigen deutsch besetzten sogenannten „Generalgouvernement". Ihre Formationen waren auch auf dem polnisch, ukrainisch, weißrussisch, jüdisch und litauisch besiedelten Territorium präsent, das seit dem Frieden von Riga 1921 als „Östliche Grenzmarken" (Kresy Wschodnie) Teil Polens war, und das die Sowjetunion 1939 infolge des Hitler-Stalin-Paktes annektiert und der Weißrussischen, Ukrainischen bzw. Litauischen SSR (Wilnagebiet) einverleibt hatte. Die Armia Krajowa geriet seit 1943 zunehmend zwischen die Fronten und kämpfte gegen mindestens zwei Feinde, nämlich gegen die deutschen Besatzungstruppen und die Rote Armee. Die sowjetische Führung um Iosif Stalin machte in der letzten Kriegsphase gegenüber ihren westlichen Verbündeten kaum mehr ein Hehl daraus, dass sie einen polnischen Staat nicht in den Grenzen Amold Bartetzky, Der wiedergekrönte Adler, Polens visuelle Selbstdarstellung, in: Osteuropa 53 3
4
(2003), 7, 9 1 0 - 9 2 0 . Vgl. zur sowjetischen Partisanenbewegung und ihrer Deutung im Überblick Bernd Bonwetsch, Sowjetische Partisanen 1 9 4 1 - 1 9 4 4 , Legenden und Wirklichkeit des „allgemeinen Volkskrieges", in: Gerhard Schulz (Hg.), Partisanen und Volkskrieg, Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert, Göttingen 1985, 92-124; Lutz Klinkhammer, Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1 9 4 1 - 1 9 4 4 , in: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht, Mythos und Realität, München 1999, 815-836. Vgl. Harald Neubert (Hg.), Stalin wollte ein anderes Europa, Moskaus Außenpolitik 1940 bis 1968 und die Folgen, Eine Dokumentation von Wladimir K. Wolkow, Berlin 2003.
Sieg in der Niederlage?
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der Zweiten Polnischen Republik wiederherstellen würde, sondern die Kresy dauerhaft als sowjetisches Territorium betrachtete. Anders als die sowjetische Partisanenbewegung, die zwar im deutsch besetzten Gebiet operierte, aber als Teil der Roten Armee von Moskau aus geführt und vor allem versorgt wurde, war die Heimatarmee in ihrem Kampf auf sich allein gestellt. Bei ihrer Suche nach rüstungstechnischer und militärischer Hilfe bei den Alliierten war sie in der Realität auf die Rolle eines Bittstellers verwiesen, der das Verhältnis zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion noch komplizierter machte, als es ohnehin schon war. 5 In dieser Lage entwickelten die Untergrundverbände und ihre Führer in verschiedenen Regionen ein Eigenleben. Die Heimatarmee bestand aus Gruppen unterschiedlichster Couleur. Diese reichten von linksliberalen Gruppierungen über die teilweise vereinnahmten sogenannten Bauernbataillone bis hin zu einem nationalistischen Flügel mit faschistoiden Tendenzen. Vor allem in den weitgehend auf sich gestellten Brigaden außerhalb der Großstädte war neben dem Hass auf die deutsche Besatzung und einem weit verbreiteten Antibolschewismus immer wieder auch Judenfeindschaft anzutreffen. 6 Die Angehörigen der Heimatarmee führten ein Doppelleben: Obwohl sie einen Eid auf die Armia Krajowa geleistet hatten, blieben sie zunächst in ihren zivilen Berufen und hielten sich für ein mögliches Losschlagen bereit. Der Kampf gegen die Besatzungsmacht beschränkte sich bis 1943 weitgehend auf Aufklärung, Sabotage, und Diversion. Erst 1944 kam es zu nennenswerten militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden der Heimatarmee und Wehrmacht sowie deutschen Sicherheitskräften. Die Eskalation der Gewalt bezog zunehmend auch sowjetische, nationallitauische und ukrainische Partisanengruppen sowie all jene Formationen mit ein, die im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich an deutscher Seite in die Sicherung des besetzten Territoriums eingebunden waren. Abweichend von verklärenden Darstellungen kann in der Realität von „der" Untergrundarmee nur bedingt gesprochen werden. 8 Die Armia Krajowa focht heldenhaft im Warschauer Aufstand und in der ebenfalls im Sommer 1944 in ganz Polen ausgelösten „Aktion Burza" (Gewittersturm), musste sich aber den deutschen und dann endgültig den sowjetischen Truppen geschlagen geben. Letztere brachen 1944 den „polnischen nationalistischen Widerstand" im befreiten Gebiet und begannen mit ethnischen Säuberungen (Repatriierungen), die Polen gemeinsam mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung bis 1947 zu einem mehr oder weniger ethnisch homogenen Nationalstaat machten. Weißrussen und Ukrainer wurden
5
Vgl. im Überblick nach wie vor Armia Krajowa w dokumentach 1 9 3 9 - 1 9 4 5 , Wroclaw 1 9 9 0 - 1 9 9 1 (Nachdruck der gleichnamigen polnischen Dokumentenedition, London 1 9 7 0 - 1 9 8 9 ) .
6
Vgl. Bernhard Chiari, Der polnische Widerstand und die Juden. Anmerkungen zum Diskurs über den Zweiten Weltkrieg, in: Osteuropa, 53 (2003), H. 12, 1842-1852; Frank Golczewski, Die Heimatarmee und die Juden, in: Chiari, Die polnische Heimatarmee, 635-676. Grzegorz Mazur, Die Aktion „Burza", in: ebd., 255-274. Zur Organisation der Armia Krajowa vgl. Grzegorz Mazur, Der „Bund für den bewaffneten Kampf - Heimatarmee" und seine Gliederung, in: ebd., 111-150.
7 8
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Bernhard Chiari
aus Polen in den sowjetischen Osten „umgesiedelt" bzw. zum Zwecke der Assimilation unter polnischen Neusiedlern in den ehemals deutschen Gebieten zerstreut. Die polnische Judenheit war zu großen Teilen emigriert oder in den nationalsozialistischen Todeslagern umgekommen.9 Als Ergebnis beider Weltkriege sowie der Stalinschen Repressionen innerhalb der Sowjetunion, aber auch als Resultat der zweifachen sowjetischen Besetzung Ostpolens 1939 und 1944 verschwand die polnische Bevölkerung fast vollständig aus ihren historischen Siedlungsgebieten außerhalb der polnischen Nachkriegsgrenzen. Von den verbliebenen Sowjetbürgern polnischer Nationalität gaben 1989 nur noch 30 Prozent an, Polnisch als ihre Muttersprache zu sprechen.10 Die Armia Krajowa symbolisiert den erfolglosen, aber heldenhaften Widerstand gegen diese Katastrophe und steht in einer langen Reihe von Akteuren und Ereignissen, welche das Uberleben der polnische Nation sicherten und sie yor dem Untergang bewahrten.
2. Schule und Hort der polnischen Nation Auf der Grundlage kommunistischer Widerstandsorganisationen wie der Armia Ludowa (Volksarmee) und polnischer Truppen, die unter sowjetischer Führung in der UdSSR aufgestellt worden waren und nun gemeinsam mit der Roten Armee Polen von der Wehrmacht befreiten, entstanden in den Jahren nach Kriegsende volkspolnische Streitkräfte. Für sie waren die „nationalistische" Armia Krajowa, von den kommunistischen 9
10
Vgl. Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas, 1918, 1945, 1989 - Drei Versuche im Westen anzukommen. Frankfurt a. M. 2002. Von 1,6 Millionen Polen, die vor dem Ersten Weltkrieg in den Grenzen des Zarenreiches gelebt hatten, verließen schon bis 1926 etwa die Hälfte die UdSSR (Zahlen nach Maria Rhode, Polen, in: Thomas M. Bohn/Dietmar Neutatz, Geschichte des russischen Reiches und der Sowjetunion (Studienhandbuch östliches Europa, Bd. 2), Köln u. a. 2002, 413-416). Zur vergleichsweise liberalen sowjetischen Nationalitätenpolitik in den ersten Nachkriegsjahren vgl. exemplarisch Bernhard Chiari, „Nationale Renaissance", Belorussifizierung und Sowjetisierung: Erziehungs- und Bildungspolitik in Weißrußland 1922-1944, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 42 (1994), 4, 521-540. Alleine in der Ukraine fielen seit Herbst 1936 250 000 Polen eirier Deportationswelle zum Opfer, vgl. für die Sowjetunion im Überblick Andrzej Paczkowski, Polen, der „Erbfeind", in: Stéphane Courtois u. a. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich 1998, 397-429. Nach der sowjetischen Annexion ermordete der NKVD im Mai und Juni 1940 vermutlich 14 500 polnische Offiziere und Polizisten, ebenso wie weitere 7 000 „gesellschaftlich gefährliche Elemente". Bis zum deutschen Überfall wurden zwischen 316 000 und 325 000 ehemalige polnische Staatsbürger nach Osten deportiert, darunter 200 000 Polen, mehr als 70 000 Juden, 25 000 Ukrainer und 20 000 Weißrussen. Vgl. Tomasz Strzembosz (Hg.), Studia ζ dziejów okupacji sowieckiej (1939-1941), Warszawa 1997; Krzysztof Jasiewicz, Zaglada Polskich Kresów, Ziemiañstwo polskie na Kresach Pólnocno-Wschodnich Rzeczypospolitej pod okupacji sowieck^ 1939-1941, Warszawa 1997; vgl. mit umfangreichen weiteren Literaturhinweisen Wanda Krystyna Roman, Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941, in: Chiari, Die polnische Heimatarmee, 87-110.
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Behörden verunglimpft als „Sudelgnom der Reaktion" ebenso wie die „bourgeoise" polnische Exilregierung in London, keinesfalls traditionswürdig. Der Umgang der polnischen Gesellschaft mit einem zentralen Thema ihrer Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts ist bis heute höchst emotional. Die Heimatarmee, oder besser, ein idealisiertes und überhöhtes Bild von ihr, ist trotz kommunistischer Verteufelung für viele Menschen über die Jahre ein nationales Symbol geblieben. Sie steht für Allgemeingültigkeit beanspruchende und in der polnischen Geschichte zentrale Werte wie Mut, Opferbereitschaft, Heldentum und Vaterlandsliebe. Die Armia Krajowa habe, so Tomasz Strzembosz, den Charakter einer Jugendorganisation angenommen und die Erziehung ihrer Mitglieder in einem umfassenden Sinne positiv beeinflusst. Im trostlosen und verzweifelten Kriegsalltag habe die Heimatarmee Hunderttausende aus der Untätigkeit und der Hoffnungslosigkeit im besetzten Land gerissen und eine ganze Generation vor Demoralisierung geschützt. 11 Die Untergrundbehörden und ihre militärische Führung haben eine ganze Reihe von Kodices verfasst, die den Umgang mit den deutschen Besatzern regeln und die Bevölkerung zu „richtigem" und ehrenhaftem Verhalten im Alltag motivieren sollten. Sie verfügten auch über die Infrastruktur, um derartige Appelle an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Die Wirksamkeit solcher Verhaltensmaßregeln in unterschiedlichen Kontexten (Stadt - Land, Familie - Freundeskreis - Arbeitsplatz - öffentlicher Raum) ist für den Historiker allerdings kaum nachweisbar. Es liegt auf der Hand, dass sich manche Polen mit den deutschen Besatzern „arrangierten", und dass es wie überall im besetzten Europa auch in Polen Kriegsgewinnler gab, die aus der verzweifelten Situation ihrer Mitmenschen Kapital schlugen. Ebenso ist für Polen davon auszugehen, dass ein großer Anteil der Bevölkerung sein Heil zunächst in der Sorge für das eigene Überleben und erst in zweiter Linie im Kampf für übergeordnete Werte wie die polnische Nation suchte. 12 Im Falle der Heimatarmee steht aber zumindest fest, dass der polnische Untergrundstaat erstens andere Widerstandsstrukturen mit Ausnahme der polnischen Kommunisten weitgehend vereinnahmte und zweitens, was die Position als moralische Autorität in der polnischen Untergrundgesellschaft angeht, eine Monopolstellung besaß. Insofern ist angesichts der menschenverachtenden deutschen Besatzungspolitik alleine schon der Versuch, einer allgemeinen Demoralisierung entgegenzuwirken, äußerst hoch zu bewerten. 13 11
Tomasz Strzembosz, Refleksje o Polsce i podziemiu 1939-1945, 2. Aufl. Warszawa 1990, (1. Aufl. Warszawa/Lublin 1987), eine überarbeitete und ergänzte Ausgabe erschien im Jahre 2000 unter dem Titel Rzeczpospolita Podziemna.
12
Vgl. Czeslaw Madajczyk, Kann man in Polen 1 9 3 9 - 1 9 4 5 von Kollaboration sprechen? in: Okkupation und Kollaboration ( 1 9 3 8 - 1 9 4 5 ) , Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, Zusammengestellt und eingeleitet von Werner Röhr (Europa unterm Hakenkreuz, Ergänzungsband 1), Berlin 1994, 133-148. Zu diesem Urteil kommen auch Piotr Majewski, Konzept und Organisation des „zivilen Kampfes", in: Chiari, D i e polnische Heimatarmee, 303-324, sowie Janusz Marszalec, Leben unter dem Terror der Besatzer und das Randverhalten von Soldaten der Armia Krajowa, in: ebd., 325-354.
13
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Die Armia Krajowa ging im Zweiten Weltkrieg angesichts zweier übermächtiger Feinde mit wehenden Fahnen unter, verkörperte aber gleichzeitig einen gewaltigen moralischen Sieg: das physische und moralische Überleben der polnischen Gesellschaft im Untergrund. Dieser tragische Sieg war allen Polen bekannt und wurde den Überlebenden des Krieges an jeder Straßenecke der fast total zerstörten Stadt Warschau überdeutlich vor Augen geführt. Nach dem Ende der Kämpfe dauerte es viele Monate, bis die Gräber der Gefallenen aus Trümmerfeldern und Grünanlagen verschwanden, wo man die Toten während des Aufstandes zur letzten Ruhe gebettet hatte. In fast allen polnischen Familien gab es direkte oder indirekte Verbindungen zum Untergrundstaat und der Heimatarmee. Angesichts der immensen Opferzahl, die die deutsche Besatzung der Bevölkerung abverlangte, waren solche Erinnerungen sogar überaus präsent. Dennoch haben die kommunistischen Machthaber bis zum Ende der Stalinära die Rolle der Heimatarmee tabuisiert oder zumindest verzerrt dargestellt, und damit wiederum zu ihrer Mystifizierung beigetragen. Zahlreiche Offiziere der Armia Krajowa wurden in Volkspolen nach dem Krieg zum Tode verurteilt. Erst seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ermöglichte das Tauwetter im Lande einen etwas moderateren Umgang mit der „bourgeoisen" Weltkriegstradition und ihren Vertretern.
3. Historische Motive Um die Rolle der polnischen Niederlage bei der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern zu verstehen, ist die Kenntnis einiger ständig wiederkehrender Motive unerlässlich. Hierzu zählen vor allem die Geschichte und der Mythos der Teilungszeit. Norman Davies beschreibt in seiner großartigen Erzählung von der Geschichte Polens für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Manifestationen polnischen Patriotismus' in Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland. 14 Dieser entwickelte sich in Wechselwirkung mit den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Polen war keine verspätete, sondern eine aufgeteilte Nation. Dennoch hörte die polnische Gesellschaft niemals auf, sich als Einheit zu begreifen. Im 19. Jahrhundert wurde vielmehr die Vorstellung von der Unrechtmäßigkeit der Teilungen und von der Rechtmäßigkeit des polnischen Anspruches auf die Freiheit der polnischen Nation in der Oberschicht zur allgemein akzeptierten Prämisse. 15 Ebenfalls in der Teilungszeit bildeten sich funktionierende Strukturen einer polnischen Untergrundgesellschaft heraus, die das sprachliche, kulturelle und moralische Überleben sicherten. Gleichzeitig erfuhr die reale Erfahrung von Unterdrückung und 14
15
Norman Davies, Im Herzen Europas, Geschichte Polens, 3. Aufl., München 2002 (engl. Heart of Europe, A Short History of Poland, Oxford/New York 1984). Bernd Martin, Barrieren - Brücken - Barrikaden, Historische Perspektiven deutsch-polnischer Nachbarschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Chiari, Die polnische Heimatarmee, 29-50.
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vom Leben im Untergrund eine Verklärung und Überhöhung. Patriotismus erhielt eine religiöse Dimension, von der Norman Davies sagte, sie habe „auf einem System irrationaler Überzeugungen [beruht], die man nur in einem Glaubensakt übernehmen konnte, und diese Überzeugungen sollten als Anleitung für das tägliche Leben in einer feindlichen, gleichermaßen irrationalen Welt dienen". 16 Zwischen 1918 und 1921 erstand aus den Trümmern der untergegangenen Reiche ein unabhängiges Polen. Seit dem Frieden von Riga im März 1921 handelte es sich zwar um ein einheitliches Staatsgebilde, das aber seinerseits für Ostmitteleuropa typische ethnische, kulturelle und religiöse Mischgebiete vereinnahmte. Polnische Regierungen kämpften in der Folge gegen das Chaos und den wirtschaftlichen Niedergang der Nachkriegszeit an, die auch den übrigen europäischen Staaten zu schaffen machten. Die wechselvolle, häufig von Gewalt und Vertreibung gezeichnete und mit traumatischen Elementen behaftete Geschichte ethnischer Mischregionen hat, gemeinsam mit der Vereinnahmung ihrer Historie durch nationale Bewegungen oder politische Regimes, in Polen die Beschränkung auf nationale Standpunkte und die Tabuisierung problematischer Aspekte gefördert. Dies wirkt auch nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums weiter fort. Der Mythos der Heimatarmee als Trägerin des Teilungsmythos und der Untergrundgesellschaft spielte in der Volksrepublik und dann im postkommunistischen Polen eine wichtige Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung und in staatlichen Inszenierungen.
4. Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit Diese Auseinandersetzung mit der Armia Krajowa war ein überaus komplexer Vorgang. Selbst für viele Angehörige der Partei verkörperte die Heimatarmee über Jahrzehnte und verschiedene Phasen staatlicher Dominanz hinweg neben Rückständigkeit und Bürgerlichkeit durchaus auch eine wertvolle Tradition des „alten" Polen. Ein volkspolnischer Politiker wie General Mieczystaw Moczar beispielsweise suchte in den sechziger Jahren als radikaler nationalistischer Kommunist seine Gefolgsleute auch unter den Anhängern der Heimatarmee bzw. in deren halb- oder illegal operierenden Zusammenschlüssen. 17 Die militärische Tradition der Armia Krajowa war zum Teil 18
selbst in den volkspolnischen Streitkräften lebendig. In der Sowjetära, in Spätstalinismus und „Tauwetter", zur Hochzeit der Volksrepublik Polen in den späten siebziger Jahren, innerhalb der unabhängigen Gewerkschafts16 17
18
Davies, Im Herzen Europas, 245. Krzysztof Lesiakowski, Die Veteranen der Armia Krajowa und die „Partisanen" von Mieczyslaw Moczar in den sechziger Jahren, in: Chiari, Die polnische Heimatarmee, 721-738. Vgl. Andrzej Czestaw Zak, Militärische Traditionspflege in den polnischen Streitkräften, in: ebd., 691-720.
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Bernhard Chiari
bewegung „Solidarnosc" oder während des im Dezember 1981 von General Wojciech Jaruzelski verhängten Kriegsrechtes bildete die Heimatarmee einen patriotischen Bezugspunkt. Im Ausland errichteten die vor dem Kommunismus geflüchteten Exilpolen und Kombattanten Tabernakel der Erinnerung und entzogen sie oft jeder kritischen Betrachtung. 19 Im Bereich der materialen Erinnerungskultur versuchten die kommunistischen Behörden, der staatlich verordneten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den kommunistischen Rettern Polens Denkmäler zu setzen und gleichzeitig dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung gerecht zu werden. Diese hatte Krieg und Warschauer Aufstand selbst miterlebt und war darum nicht von allzu einfachen Propagandaformeln zu überzeugen, die der Heimatarmee ihre Verdienste als Trägerin des bewaffneten Widerstandes absprachen. Der Spagat zwischen kollektiver Erinnerung und kommunistischer Traditionspflege führte teils zu grotesken Verrenkungen der Behörden. Diese beugten sich in Einzelfällen zwar dem öffentlichen Wunsch nach der Ehrung von Heimatarmee-Kämpfern, versuchten dies aber durch die zeitgleich an anderer Stelle in Szene gesetzte Herausstellung kommunistischer Leistungen im Widerstand „auszugleichen". 20 Ein Kampf wurde auch um die zentralen Werte geführt, welche die Armia Krajowa verkörperte. Ein kommunistischer Mythos besagte, die Generation der HeimatarmeeKämpfer sei für die „falschen" politischen Ziele missbraucht worden und nach dem Krieg verbraucht und „ausgebrannt" gewesen - und damit unfähig, den notwendigen und zukunftsweisenden Umbau der polnischen Gesellschaft in Angriff zu nehmen. Dessen nahmen sich dann die polnischen Kommunisten an. Diese kamen freilich in Erklärungsnot, wenn sie die innere Konsistenz der Heimatarmee und die Gründe für die offensichtliche Opferbereitschaft ihrer Mitglieder erklären sollten. 21 Mit soziologischen Methoden lässt sich zeigen, dass sich die Bedeutung der Armia Krajowa im polnischen kollektiven Gedächtnis der Nachkriegszeit zwar veränderte, dass bei der Erinnerung an Heimatarmee und Zweiten Weltkrieg aber die Verbindung zu den nationalen Motiven der Zwischenkriegs- und Teilungszeit erhalten blieb. 22 Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kehrte die Erinnerung an die Armia Krajowa in die Heimat zurück und war verstärkt wieder in Kasernen, Schulbüchern und in wissenschaftlichen wie populären Veröffentlichungen präsent. Ein einzelnes Ereignis 19
Vgl. beispielhaft die literarische Verarbeitung der Kriegszeit durch Zbigniew Kabata „Bobo", Bytas radosci^ i dum% Wroclaw o. J. [1999]. Der plakativ im Titel geführte Deckname „Bobo" kennzeichnet den Autor als Veteran der Heimatarmee; hierzu systematisch Rafat Habielski, Die Soldaten der Heimatarmee in der Emigration, in: Chiari, Die polnische Heimatarmee, 739-752.
20
Vgl. Hierzu Tomasz Markiewicz, Der Kampf um die Erinnerung, Denkmäler der Heimatarmee in Warschau seit 1945, in: ebd., 753-776.
21
Rafat Wnuk, Die „Kolumbus-Generation", Überlegungen zu einer kollektiven Biographie, in: ebd., 777-806.
22
Vgl. hierzu Barbara Szacka, Die Legende von der Armia Krajowa im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegszeit, in: ebd., 847-861.
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illustriert augenfällig die Bedeutung der Organisation in der Öffentlichkeit. Während der gesamten Zeit der Volksrepublik gab eine ununterbrochene Kette von Männern in London das Amt des Exilpräsidenten weiter. Der letzte Amtsinhaber, Ryszard Kaczorowski, brachte nach dem Sturz der Kommunisten die präsidialen Vorkriegsinsignien von London nach Warschau. Er übergab sie dort an Lech Watçsa, den ehemaligen Funktionär der Gewerkschaft Solidarnosc, der im Dezember 1990 sein Präsidentschaftsamt antrat.23
5. Sieg in der Niederlage Die Armia Krajowa verkörperte den polnischen Widerstand und die polnische Nation, weil sie auf eine lange historische Tradition und auf zahlreiche Mythen zurückgreifen konnte, die sie in Verbindung mit den realen Kriegsereignissen selbst zum Mythos werden ließen. Die Erinnerung an die menschenverachtende Politik einer brutalen deutschen Besatzungsmacht, die Polen aus rassenideologischem Kalkül dem Untergang weihte, aber auch die niemals vergessene Katastrophe der Sowjetisierung von 1939 und nach 1944 machten aus der Kriegsniederlage einen moralischen Sieg, den Angehörige wie Protagonisten des nationalen Widerstandes in Polen wie im Ausland bis in die Zeit der Unabhängigkeit hinüberretteten. In der Nachkriegszeit wirkte der Krieg sinnstiftend, weil er im polnischen Fall in einer langen Tradition vergleichbarer historischer Erfahrungen stand. Die Betrachter sahen ihn aus der Perspektive vieler Generationen, aus der Position des Kampfes um ein unabhängiges und souveränes Polen und nicht zuletzt auch durch das Prisma des Christentums. Der Untergang der Heimatarmee war eine katastrophale Kriegsniederlage und wurde als solche inszeniert und erinnert. Der Opfergang der Armia Krajowa-Soldaten ermöglichte es jedoch, selbst in einer kommunistischen Umwelt am positiven Selbstbild von der polnischen Nation festzuhalten und sich gegenüber den ehemaligen sowjetischen Gegnern abzugrenzen, die der polnischen Gesellschaft seit 1944 ihren Stempel aufzudrücken versuchten. Historische Analysen der unabhängigen polnischen Geschichtsschreibung reflektierten stets auch diese moralische und symbolische Ebene mit. Unter den Gegebenheiten der Nachkriegszeit konnten die staatliche Konstruktion und Vermittlung von Kriegserfahrung bestenfalls teilweise identisch sein mit der kollektiven Erinnerung. Nach der Niederlage machten die polnischen Kommunisten ein Sinnstiftungsangebot, indem sie den Umbau und die Erneuerung der polnischen Gesellschaft propagierten. Es scheint, als hätte aber gerade die Niederlage der polnischen Heimatarmee eine Kraft entfaltet, die die Behörden schließlich zu einer Liberalisierung ihrer Politik gegenüber der nichtkommunistischen Vergangenheit bewegte. Dabei versuchte die Polnische Kommunistische Partei vor allem, dem Konflikt zwischen staat23
Davies, Im Herzen Europas, 434.
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Bernhard Chiarì
licher und kollektiver Erinnerung dadurch die Spitze zu nehmen, dass sie einerseits „fehlgeleiteten Individuen" ehrenhafte Beweggründe für ihren Opfermut bescheinigte und andererseits die „verbrecherische Führungsclique" der Armia Krajowa verteufelte. Gebietsverluste und Herrschaftswechsel als Folge des Zweiten Weltkriegs gaben nationalen Aspekten der Kriegserinnerung seit der Unabhängigkeit Polens besonderes Gewicht. 24 Durch die Überhöhung der polnischen Opferrolle überlagerten sie - beispielsweise in den einflussreichen Kombattantenkreisen - das reale Kriegsgeschehen. Dieses war, so wie überall im besetzten Ostmitteleuropa, gekennzeichnet von nationalen und ethnischen Spannungen sowie territorialen Konflikten. Die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten schuf selbst im besetzten Polen einen guten Nährboden dafür, aus den Höhen eines idealen Widerstandsethos' in den Sumpf von Gewalt, Raub, Mord und ethnischen Säuberungen abzustürzen. Für eine umfassende Synthese und Deutung des Phänomens „Armia Krajowa" fehlen bislang noch die Grundlagen. 25 Zumindest hat die Erinnerung an die große Niederlage jedoch mit dazu beigetragen, die staatliche Ordnung in Volkspolen nachhaltig infrage zu stellen. Die Machthaber haben dies erkannt und seit der Liberalisierung in der Mitte der fünfziger Jahre versucht, die Angehörigen des nichtkommunistischen Widerstandes in ihre Reihen zu kooptieren und durch den moderaten Umgang mit dem Mythos der Heimatarmee deren Leistungen für die eigene Legitimierung zu nutzen. Als Organisatoren des polnischen Wiederaufbaues profitierten die polnischen Kommunisten dabei ganz besonders von den verheerenden materiellen Kriegsfolgen. Heute, im unabhängigen Polen, stellen manche Historiker wie Laien die Frage, ob man gewinnen kann, wenn man verliert, und ob eine Niederlage als ein Sieg gewertet werden könne, nach wie vor nicht im übertragenen Sinn. Die Debatten machen die Spezifik des polnischen Falles deutlich: Kriegsniederlagen werden als Teil historischer Abfolgen von Katastrophen begriffen. Sie bilden zentrale Kristallisationspunkte nationaler, gesellschaftlicher und kultureller Identität. In der Erinnerung verändern sie ihre Qualität und werden gewissermaßen in den Schatz der nationalen Erinnerungskultur vereinnahmt. Diese stellt ein Gebäude dar, in der die Nation letztlich nur Siege erringen, aber keine Niederlagen mehr erleiden kann.
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Vgl. Andreas Kossert, Noch ist Polen nicht verstanden, Die Deutschen sollten sich endlich von den Klischees über ihr Nachbarland verabschieden, in: Die Zeit, 04. 09. 2003, Nr. 37, 20. Vgl. die einführenden Bemerkungen von Bruno Thoß zum Abschnitt „Erinnerungskulturen und Nachkriegszeiten", in: Müller/Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht, 635-640.
III. Religiöse Deutungsmuster
HANNES MÖHRING
Der Traum von der „Großen Revanche" in populären Weissagungen des mittelalterlichen Orients und Okzidents
1. Die Endkaiser-Weissagung des Pseudo-Methodios „Die Byzantiner sind besiegt worden im nächstliegenden Gebiet. Aber sie werden, nachdem sie besiegt worden sind, siegen, in etlichen Jahren [...] An jenem Tag werden die Gläubigen sich darüber freuen, daß Gott geholfen hat [...]" So lautet der Anfang der 30. Sure des Koran.1 Offenbar spielen diese Verse auf einen Sieg der persischen Sassaniden über die Byzantiner an, den sie Ende 614 nach der ihnen am 22. Mai gelungenen Einnahme Jerusalems im Gebiet von Bosra errungen hatten. In diesem bereits Anfang des Jahrhunderts begonnenen und auf beiden Seiten bis zur völligen Erschöpfung geführten Krieg gelang es den Persern vorübergehend, die byzantinischen Reichsteile Anatolien, Syrien, Palästina und Ägypten einzunehmen, so dass sie 626 bis vor die Mauern Konstantinopels vorstoßen und die byzantinische Hauptstadt belagern konnten, doch der Friedensschluss von 629 sah sie nicht als Sieger, sondern als Verlierer, weil sie 627 durch Kaiser Herakleios bei Ninive im Gegenstoß entscheidend geschlagen worden waren. Damit bewahrheitete sich die Voraussage des Koran, in der die Muslime später ein besonderes Zeichen für das Prophetentum Muhammads sahen.3 Indem Muhammad Partei für die Byzantiner ergriff, könnte er durch deren Vorstellung von der Unbesiegbarkeit des römischen Reiches beeinflusst worden sein, ganz konkret vielleicht durch jene dem Perserkönig Chosrau II. in den Mund gelegte chaldäische Prophezeiung, die der zeitgenössische Geschichtsschreiber Theophylaktos Simokattes überliefert.4 Wenn sie nicht als vaticinium ex eventu zu betrachten ist, dürfte 1
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4
Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1980, 282. Vgl. dazu Manfred Götz, Zum historischen Hintergrund von Sure 30, 1-5, in: Erwin Gräf (Hg.), Festschrift Werner Caskel, Leiden 1968, 111-120. Vgl. ebd., 117. Vgl. ebd., 113f. und 120; G. E. von Grunebaum, Der Islam im Mittelalter, Zürich/Stuttgart 1963, 87f. Theophylaktos Simokattes, Historiae V 15, ed. C. de Boor/P. Wirth, Stuttgart 1972, 216f.
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Hannes Möhring
sie in den zehn Jahren vor dem 627 errungenen Sieg des Herakleios entstanden sein. 5 Ihr zufolge soll der im Jahre 590 vor dem Usurpator Bahram Cobin nach Byzanz geflüchtete Perserkönig Chosrau II. im Gespräch mit dem byzantinischen Feldherrn Johannes Mystakon geweissagt haben, dass das „babylonische Geschlecht" drei Jahrwochen, also 21 Jahre lang das Byzantinerreich beherrschen werde, bevor Byzanz in der fünften Jahrwoche das Perserreich unterwerfen könne, worauf dann ein „Tag ohne Abend", das Ende der Herrschaft und das Leben in einer besseren Welt folge - tatsächlich hatte Chosrau im Jahre 604, also etwa drei Jahrwochen vor dem Sieg des Herakleios bei Ninive seine gegen Byzanz gerichteten Eroberungszüge begonnen. Eine ähnliche Weissagung bietet die um 630 entstandene syrische Alexander-Legende, denn dort wird einem Perserkönig namens Tubarlaq prophezeit, dass die Byzantiner bis zum Ende der Welt alle Königreiche der Erde besiegen und die Herrschaft dann an Christus übergeben würden. 6 Die Byzantiner sollten sich nicht lange über ihren gegen die Perser errungenen Sieg freuen dürfen, denn mit Muhammads Tod im Jahre 632 begann das islamische Reich, über die Arabische Halbinsel hinaus zu expandieren. Trotz schwerer innerer Auseinandersetzungen erreichte es innerhalb von 80 Jahren eine Ausdehnung vom Indus im Osten bis nach Spanien im Westen. Während das persische Großreich der Sassaniden gänzlich unterging, bedeutete die arabische Eroberung Ägyptens und Syriens beinahe auch für das byzantinische Reich das Ende - die Byzantiner mussten froh sein, wenigstens die mehrmals unternommenen Angriffe der Araber auf ihre Hauptstadt Konstantinopel abwehren zu können. Damit nicht genug, konvertierten die Christen der von den Arabern eroberten Gebiete in Scharen zum Islam und besiegelten so die byzantinische Niederlage. Der Sieg der Araber war für sie keine Katastrophe, sondern eher eine Befreiung. 7 In dieser Umbruchsituation von welthistorischer Bedeutung entstand in Nordsyrien während der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts eine auf Syrisch verfasste Schrift, die angeblich von dem bereits um 311 gestorbenen christlichen Märtyrer Methodios stammte und den Byzantinern allen Niederlagen zum Trotz den Sieg über die Araber verhieß. Sie gab einen in sieben Jahrtausende eingeteilten detaillierten Überblick über die Weltgeschichte seit Adam und Eva und schloss mit einer Weissagung, die ex eventu 5
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Vgl. Paul J. Alexander, Historiens byzantins et croyances eschatologiques, in: Ders., Religious and Political History and Thought in the Byzantine Empire, Collected Studies, London 1978, Aufsatz Nr. XV, 4f. The History of Alexander the Great Being the Syriac Version of the Pseudo-Callisthenes, ed./tr. E. A. W. Budge, Cambridge 1889, 275 (ed.) und 158 (tr.). Vgl. dazu Gerrit J. Reinink, Die Entstehung der syrischen Alexanderlegende als politisch-religiöse Propagandaschrift für Herakleios' Kirchenpolitik, in: C. Laga/J. A. Munitiz/L. van Rompay (Hg.), After Chalcedon, Studies in Theology and Church History Offered to Professor A. van Roey, Leuven 1985, 271 und 277-280. Vgl. Hannes Möhring, Byzanz zwischen Sarazenen und Kreuzfahrern, in: Wolfdietrich Fischer/Jürgen Schneider, Das Heilige Land im Mittelalter, Begegnungsraum zwischen Orient und Okzident, Neustadt a. d. Aisch 1982, 48f.
Der Traum von der „ Großen Revanche "
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die Eroberungen der Araber im siebten Jahrtausend „voraussagte", damit das Ende der Zeiten anbrechen ließ und dann als letzten römischen (d. h. byzantinischen) Kaiser einen von den Arabern für tot gehaltenen, wie aus dem Rausch erwachenden Mann verhieß, der Rache für die Leiden der Christen nimmt, Ägypten, Arabien und Hebron verwüstet, die Araber ohne Erbarmen gänzlich vernichtet, ein Reich des Friedens schafft, schließlich in Jerusalem mit seiner Krone alle Macht an Gott zurückgibt und so der Schreckensherrschaft des betrügerisch als Messias auftretenden Antichrist Platz macht, der später dann bei der Ankunft Christi mit allen, die an ihn glauben, dem höllischen Feuer ausgeliefert wird.8 Es ist nicht von den einzelnen Schlachten bzw. mehrfachen Niederlagen der Byzantiner die Rede, sondern Pseudo-Methodios gibt lediglich die Namen der vielen Länder an, die von den Arabern erobert werden. Auf die Gründe für die militärischen Siege und Niederlagen von Arabern und Byzantinern geht er nicht näher ein. Er begnügt sich mit dem Hinweis auf den Willen Gottes. So schreibt er, Gott lasse die Araber nicht etwa aus Liebe zu ihnen siegen, sondern als Strafe für jene widernatürlichen sexuellen Ausschweifungen, denen sich unter den Christen Männer wie Frauen hingäben. In der zehnten und letzten (Jahr-)Woche der Herrschaft der Araber verdoppele Gott die Leiden für Mensch und Natur, um die Ungläubigen von den Gläubigen, die Spreu vom Weizen zu trennen: Hunger mache sich breit, ein Massensterben setze ein, die Plage des Zornes Gottes - gemeint ist wohl die Pest - breche über die Menschen herein. Tribut und Geld würden von ihnen verlangt. In dem Augenblick allerdings, in dem die Araber zu höhnen begännen, für die Christen werde es keinen Erlöser geben, wendeten sich die Dinge zum Guten. Dann nämlich werde der letzte byzantinische Kaiser in den Kampf gegen die Araber ziehen. Die Herrschaft der Araber sollte also zehn (Jahr-) Wochen, d. h. 70 Jahre, dauern. Legt man als Ausgangspunkt die Auswanderung Muhammads von Mekka nach Medina im Jahre 622 und die damit beginnende, nach Mondjahren zählende islamische Zeitrechnung zugrunde, so bedeutet dies, dass die Herrschaft der Araber im Jahre 690 unserer Zeitrechnung bzw. im Jahre 1000 der damals bei den orientalischen Christen noch sehr verbreiteten seleukidischen Ära enden sollte.
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Zu Inhalt, Datierung und Verfasserfrage der Schrift des Pseudo-Methodios vgl. in kritischer Auseinandersetzung mit der umfangreichen jüngeren Forschungsliteratur Hannes Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000, 58-67, 75-82 und 92-97. Der syrische Text ist ediert und übersetzt von Reinink, vgl. Die syrische Apokalypse des Pseudo-Methodius, ed./tr. G. J. Reinink, 2 Bde., Leuven 1993. Der Text der ältesten erhaltenen griechischen und lateinischen Übersetzungen findet sich ediert in: Die Apokalypse des Pseudo-Methodius, Die ältesten griechischen und lateinischen Übersetzungen, ed. W. J. Aerts/G. A. A. Kortekaas, 2 Bde., Leuven 1998. Weitere griechische Versionen sind ediert von Lolos, vgl. Die Apokalypse des Ps.-Methodios, ed. A. Lolos, Meisenheim am Glan 1976; Die dritte und vierte Redaktion des Ps.-Methodios, ed. A. Lolos, Meisenheim am Glan 1978.
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Die Glaubwürdigkeit seiner Vorhersage versuchte Pseudo-Methodios dadurch zu stärken, dass er in Verfälschung der Geschichte behauptete, die Araber seien zwei Jahrtausende zuvor schon einmal über die Völker der Welt hergefallen und hätten mehrere (Jahr-) Wochen lang geherrscht, bis Gott sie dann durch die Juden unter ihrem Feldherrn Gideon wieder zurück in die Wüste habe treiben lassen. Den Zusammenbruch des Perserreiches aber führte er auf dessen Niederlage im beiderseits bis zur völligen Erschöpfung geführten langen Krieg mit Byzanz statt auf den fast unmittelbar darauf folgenden Arabersturm zurück. Dabei ließ er unerwähnt, dass die Byzantiner schon in diesem Krieg Ägypten und Syrien verloren und Konstantinopel (622) belagert gesehen hatten, am Ende jedoch trotzdem gegen Perser und Awaren die Oberhand behielten und die beiden Länder zurückerobern konnten. Das Schweigen über die frühere Notlage ist um so erstaunlicher, als die Erinnerung daran geeignet war, die Christen auf einen letzten Endes auch über die Araber errungenen Sieg der Byzantiner hoffen zu lassen. Was die Zielsetzung des Pseudo-Methodios betrifft, so ging es ihm um die Besiegung und völlige Vernichtung der Araber bzw. Muslime, nicht aber um ihre Bekehrung zum Christentum. Die zum Unglauben der Araber abgefallenen Christen sollten offenbar nicht anders behandelt werden als die Araber selbst. Zugleich nahm sich PseudoMethodios gegenüber seinen christlichen Glaubensbrüdern zum Ziel, vor Gefahren zu warnen und Hoffnung zu geben. Seine Warnung galt den Gefahren des Weltendes, besonders dem Abfall vom rechten Glauben, in dem er ein Zeichen der Endzeit sah. Durch die Behauptung, dass die islamische Herrschaft nur als eine vorübergehende Kasteiung durch Gott zu betrachten sei und ihr Ende unmittelbar bevorstehe, versuchte Pseudo-Methodios Hoffnungen zu wecken. Indem bei der Vernichtung des Islam dem römischen bzw. byzantinischen Reich - als dem nach allgemeiner christlicher Auffassung letzten Weltreich -
die entscheidende Rolle zukommen sollte, zielte Pseudo-
Methodios nicht zuletzt darauf, das stark erschütterte Ansehen der byzantinischen Macht wiederherzustellen. Die von ihm vorausgesagten Erfolge des letzten byzantinischen Kaisers, mit dem vermutlich der 685 im Alter von etwa 16 Jahren auf den Thron gekommene Justinian II. als wiedergekehrter Justinian I. gemeint war, mochten der Gefahr massenhafter Konversionen vom Christentum zum Islam entgegenwirken und so einem byzantinischen Großangriff auf Syrien, der zusammen mit Ägypten wirtschaftlich bedeutendsten ehemaligen Provinz des byzantinischen Reiches, den Boden bereiten. Pseudo-Methodios rief seine Glaubensbrüder aber nicht etwa zur Unterstützung des Endkaisers auf, sondern lediglich zu rein passivem Durchhalten in der Bewahrung des christlichen Glaubens. Zum Feindbild des Pseudo-Methodios ist zu sagen, dass die Araber als Ismaeliten, also als Nachkommen Ismaels, des illegitimen, mit der Magd Hagar gezeugten Sohnes Abrahams, bezeichnet werden. Die Ismaeliten stehen für Zerstörung und Vernichtung, wie die Namen ihrer vier Führer zeigen, über die Pseudo-Methodios schreibt, sie würden sehr stark und so hochmütig sein, dass sie sogar von den Toten Tribut verlangten und Waisen, Witwen und Heiligen die Kopfsteuer auferlegten. In ihrer Überheblichkeit
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kennten die Ismaeliten kein Mitleid, schonten selbst die Gottesdiener nicht und missbrauchten die Heiligtümer. Den in späteren christlichen Quellen als Betrüger und Vorläufer des Antichrist geschmähten Propheten Muhammad, den Koran oder die Religion des Islam erwähnt Pseudo-Methodios mit keinem Wort. So spricht er auch nur von der Verwüstung Arabiens durch den Endkaiser, nicht aber von der Zerstörung der islamischen Heiligtümer in Mekka und Medina. Die Ismaeliten sind aus seiner Sicht Heiden oder Ungläubige. Dementsprechend schreibt er, viele Söhne der Kirche verleugneten ohne Zwang ihre Religion und schlössen sich den Ungläubigen an, wodurch sich des Paulus Vorhersage bewahrheite, dass die Menschen in den letzten Zeiten unreinen Geistern und der Lehre von Dämonen folgten (1. Tim. 4, 1). Ebenso wenig wie auf die Religion geht Pseudo-Methodios auf Moral und Sitten der Araber ein. Im Unterschied zu späteren christlichen Quellen des Mittelalters ist bei ihm nicht von sexuellen Ausschweifungen der Muslime (sondern nur der Christen) die Rede. Auch die in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts unter den Muslimen tobenden Kämpfe um das Kalifat übergeht Pseudo-Methodios mit Stillschweigen. Er vertritt nicht etwa wie sein nestorianischer Zeitgenosse, der Mönch Johannan bar Penkaye, oder der Verfasser des wohl um 700 entstandenen syrischen „Evangelium der zwölf Apostel" die Meinung, dass die Herrschaft der Araber an ihren internen Auseinandersetzungen zerbrechen werde. 9 Auffallenderweise stehen sich Araber bzw. Muslime und Christen in zwei einheitlich erscheinenden Fronten gegenüber, denn auch die erbitterten theologischen Auseinandersetzungen und Spaltungen unter den Christen des byzantinischen Reichs, d. h. zwischen Orthodoxen (Chalkedonikern), Monophysiten (Kopten und Jakobiten) und Nestorianern, lässt Pseudo-Methodios unerwähnt. Er spricht lediglich von Christen, die zum Unglauben der Araber abfallen. Es ist nicht von einer Versöhnung der verschiedenen theologischen Standpunkte nach dem Sieg des Endkaisers die Rede.
2. Das Constans-Vaticinium, die Verbreitung der Endkaiser-Weissagung und die Hoffnung auf den Zusammenbruch des Islam im späteren Mittelalter Die Weissagung von dem letzten, die Welt erobernden römischen Kaiser entstand wohl nicht erst im 7. Jahrhundert und auch nicht als Folge einer Niederlage. Das vor allem als Teil der Tiburtinischen Sibylle überlieferte lateinische Constans-Vaticinium scheint aus der Zeit zwischen 337 und 411 zu stammen und ursprünglich auf Kaiser Constans I., einen Sohn Constantins des Großen, bezogen worden zu sein.10 Es heißt 9 10
Vgl. Möhring, Weltkaiser, 57f. Ebd., 39-44.
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darin, dass am Ende der Zeiten ein römischer Kaiser namens Constans auftreten werde, der die Heiden vernichte oder bekehre, ihre Tempel zerstöre, das Christentum über die ganze Welt ausbreite und schließlich nach Jerusalem ziehe, um dort Diadem und herrscherliches Gewand abzulegen und so seine Macht an Gott zurückzugeben, woraufhin dann der Antichrist erscheine und dessen Schreckensherrschaft beginne.11 Im Gegensatz zur Weissagung des Pseudo-Methodios ist der Endkaiser im Constans-Vaticinium kein für tot gehaltener, wie aus dem Rausch erwachender Herrscher, und er soll auch nicht von Jerusalem aus regieren, sondern lediglich zum Zweck der Abdankung nach Jerusalem ziehen. Außerdem ist von den Arabern keine Rede. Ziel des christlichen Autors ist es, ursprünglich aus christlicher Sicht bestehende Gegensätze zwischen dem Christentum und dem römischen Reich als antichristlicher Macht zu überbrücken. Zwar lässt er das römische Reich mit dem Sieg des Christentums enden, doch wird die alte römische Vorstellung von Roms Unbesiegbarkeit beibehalten, indem der Endkaiser erst der übermenschlichen Macht des Antichrist weichen soll. Der letzte römische Kaiser ist nicht (mehr) mit dem Antichrist zu identifizieren. Sein Gottesgnadentum findet in der Abdankung seinen äußersten Ausdruck. Das römische Reich wird durch die Bekehrung oder Vernichtung aller Heiden christlich legitimiert.12 Obwohl sich schon nach wenigen Jahren zeigte, dass die Angabe des Pseudo-Methodios über die Dauer der islamischen Herrschaft nicht wörtlich zu nehmen war, blieb die Endkaiser-Weissagung unter den Christen vor allem im Abendland, weniger im Orient,13 bis in die Neuzeit hinein populär. Sie hielt die Hoffnungen der Christen auf die große Revanche im Kampf gegen die Muslime dauerhaft wach. Die Schrift des Pseudo-Methodios wurde wahrscheinlich noch im 7. Jahrhundert vom Syrischen ins Griechische und dann im 8. Jahrhundert - vielleicht schon 727 vom Griechischen ins Lateinische übersetzt. Dabei wurde die vorausgesagte Dauer der arabischen Herrschaft von zehn auf sieben (Jahr-)Wochen, d. h. auf 7 χ 7 = 49 Jahre, verkürzt, konnte also von vornherein nicht mehr wörtlich, sondern nur noch symbolisch verstanden werden.14 Ebenfalls im 8. Jahrhundert, möglicherweise im Zusammenhang mit dem SpanienFeldzug Karls des Großen von 778, entstand eine erheblich gekürzte lateinische Fassung, die besonders populär wurde.15 Was ihren Inhalt betrifft, so fällt unter anderem auf, dass bei der Beschreibung des allgemeinen Elends, das die Araber über die Welt bringen, die Gefahr des Abfalls der christlichen Bevölkerung von ihrer Religion, also
11
12 13 14 15
Die Tiburtunische Sibylle ist ediert von Ernst Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen, Pseudomethodius, Adso und die Tiburtinische Sibylle, Halle a. S. 1898, 177-187. Vgl. Möhring, Weltkaiser, 45-48. Ebd., 345-349. Ebd., 97-102. Sie ist ediert von Otto Prinz, Eine frühe abendländische Aktualisierung der lateinischen Übersetzung des Ps.-Methodios, in: D A 41 (1985), 6-17. Vgl. dazu Möhring, Weltkaiser, 136-143.
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die Gefahr für das Seelenheil der Christen, mit keinem Wort erwähnt wird. Ebenso wenig wird eine Angabe zur Herrschaftsdauer der Araber gemacht. Außerdem ist der Endkaiser in zwei Personen geteilt, was sich daraus ergibt, dass der Herrscher, der die Araber besiegt, als „rex christianorum et Romanorum " bezeichnet wird und der Herrscher, der in Jerusalem die Macht an Gott übergibt, als „imperator Gregorum". Damit bleibt der byzantinische Kaiser zwar der eigentliche Endkaiser, aber er spielt bei den Ereignissen der Endzeit keine aktive Rolle mehr, während den Waffenruhm des Sieges über die Araber ein anderer - zwangsläufig westlicher - Herrscher der Römer erringt. Es spricht für die große Popularität der Endkaiser-Weissagung im Mittelalter, dass viele namhafte Autoren die Schrift des Pseudo-Methodios und die Tiburtinische Sibylle, die an ihrem Schluss das Constans- Vaticinium enthält, benutzt und teilweise vollständig zitiert haben.16 So hat die Gestalt des Endkaisers auch in dem zwischen 945 und 954 verfassten Antichrist-Traktat des Adso von Montier-en-Der Aufnahme gefunden, dessen acht verschiedene Versionen in 171 Handschriften erhalten sind.17 Die gekürzte Fassung des Pseudo-Methodios wurde in mehrere Volkssprachen übersetzt, nämlich ins Deutsche, Englische und Kastilische. Die Tiburtinische Sibylle wurde mindestens dreimal ins Französische übersetzt und um 1220 sogar in das Register der französischen Königskanzlei aufgenommen. Von des Pseudo-Methodios Weissagung sind in den heutigen Bibliotheken mehr als 200 lateinische Handschriften bekannt und von der Tiburtina über 170. Was die geographische Verteilung der lateinischen Handschriften des Pseudo-Methodios betrifft, so sind die meisten in England, äußerst wenige dagegen in Spanien erhalten. Dies gilt auch für die Tiburtina und Adsos Antichrist-Traktat. Daraus folgt, dass die Bedrohung durch die Muslime für die Verbreitung der EndkaiserWeissagung von keiner besonderen Bedeutung gewesen sein kann. Vielleicht liegt dies im Falle Spaniens am Erfolg der Reconquista. Die Endkaiser-Weissagung hat bei der Entstehung des Kreuzzugsgedankens eine Rolle gespielt, wie etwa das Werk des Benzo von Alba im 11. Jahrhundert zeigt.18 Während des Ersten Kreuzzugs dann allerdings, der 1099 ohne die Beteiligung eines Kaisers oder Königs zur Eroberung von Jerusalem führte, war ihr Einfluss auf die Teilnehmer allem Anschein nach gering, obwohl endzeitliche Erwartungen damals durchaus von Bedeutung waren.19 Wenn die Überlieferung nicht täuscht, hat die Popularität der Endkaiser-Weissagung vom 12. Jahrhundert an zugenommen. Vielleicht ist dies eine Folge der Fehlschläge immer neuer Kreuzzüge, und zwar nicht erst nach der Eroberung Jerusalems 1187 durch Sultan Saladin und dem missglückten Rückeroberungs16 17
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Ebd., 321-368. Sie sind ediert von Verhelst, vgl. Adso von Montier-en-Der, De ortu et tempore Antichristi, ed. D. Verhelst, Turnholti 1976. Vgl. Hannes Möhring, Benzo von Alba und die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, in: Karl Borchardt/Enno Bünz (Hg.), Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1998, 177-186. Vgl. Möhring, Weltkaiser, 166f.
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versuch durch den Dritten Kreuzzug, sondern bereits von der Mitte des 12. Jahrhunderts an mit dem Ende des von schweren Niederlagen begleiteten, sehr verlustreichen Zweiten Kreuzzugs. Zur Verbreitung könnte allerdings auch die persönliche Kreuzzugsteilnahme Friedrich Barbarossas und Friedrichs II. beigetragen haben, denn die beiden Staufer sind die einzigen Kaiser, die zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbrachen. Trotz der auf den Ersten Kreuzzug folgenden militärischen Misserfolge erwartete man im christlichen Abendland während des 13. Jahrhunderts über kurz oder lang das Ende der islamischen Macht, denn der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nicht nur im Orient berühmte Astrologe Abu Ma'shar (gestorben 886) gab in seinem durch Johannes von Sevilla aus dem Arabischen übersetzten Werk De magnis coniunctionibus an, dass die Macht des Islam nach 693 Jahren, d. h. mit dem 20. November 1294, enden werde. Abu Ma'shar verschwieg, dass er sich dabei auf die Berechnungen seines Zeitgenossen al-Kindi stützte. Manche Muslime behaupteten allerdings, al-Kindi habe bereits für die Mitte des 7. islamischen bzw. 13. christlichen Jahrhunderts das Ende des Islam vorhergesagt, und Abu Ma'shar scheint an anderer Stelle unabhängig von al-Kindi das Jahr 610 islamischer Zeitrechnung, das mit dem XL. Mai 1214 endete, als das letzte Jahr der islamischen Herrschaft bezeichnet zu haben.20 Auch Papst Innocenz III. erwartete noch vor dem Ende des 13. Jahrhunderts, vermutlich mit dem Jahr 1288, den Zusammenbruch der islamischen Macht. In Ausdeutung der Offenbarung des Johannes 13, 18 behauptete er in seinem Kreuzzugsaufruf von Mitte oder Ende April 1213, dass der mit dem zweiten, durch die Zahl 666 bezeichneten Tier der Apokalypse gleichzusetzende Muhammad 666 Jahre lang herrschen werde, von denen fast 600 Jahre schon verstrichen seien. Spätestens 1242 dann bildete sich die damals offenbar nicht nur im Apokalypse-Kommentar des Alexander Minorità zu findende Meinung, schon mit dem Jahr 1249 würden die von Innocenz III. auf Muhammad bezogenen 666 Jahre vergangen sein - nämlich von dessen Geburt an gerechnet - und dann komme das Ende des Islam durch die Bekehrung aller Muslime zum Christentum, die in Spanien bereits begonnen habe. Nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahre 1258, dem vermeintlichen Anfang vom Ende des Islam, glaubte im „Jahre 665 der Araber" (2. Oktober 1266-21. September 1267) auch der große franziskanische Gelehrte Roger Bacon, mit der Zahl aus der Offenbarung des Johannes, die er mit nur 663 angab, sei die Dauer der islamischen Herrschaft gemeint. Allerdings wollte er sie nicht wörtlich verstanden wissen und sah sie trotz einer Differenz von 30 Jahren mit der Angabe des Abu Ma'shar in Einklang, weil eine solche Abweichung in der 21
Heiligen Schrift nicht ungewöhnlich sei, wie schon Beda Venerabiiis festgestellt habe. Um so schwerer dürfte für die abendländischen Christen die Enttäuschung gewesen sein, als Ende des 13. Jahrhunderts die islamische Macht weder durch einen militärischen Sieg noch durch friedliche Missionsversuche zusammenbrach, sondern 1291 mit dem Fall von Akkon die noch verbliebenen Reste der Kreuzfahrerstaaten an die Mam20 21
Ebd., 193f. Ebd., 194f.
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luken verloren gingen und sich 1295 der mongolische Ilkhan im Iran, mit dessen Hilfe man die islamische Macht in die Zange hatte nehmen wollen, zum Islam statt, wie erhofft, zum Christentum bekehrte. In den folgenden Jahrhunderten wuchs die islamische Bedrohung Europas durch die aufstrebende Macht der Osmanen sogar noch dramatisch an. Vermutlich ist nicht zuletzt dadurch die große Popularität der EndkaiserWeissagung im Spätmittelalter zu erklären. Die Verbreitung der Schrift des Pseudo-Methodios war auch in Byzanz groß. Außerdem kam es dort zu mehreren freien Bearbeitungen, die als Visionen Daniels ausgegeben wurden. In beiden Fällen stammen die weitaus meisten der erhaltenen griechischen Handschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert.22 Es ist wahrscheinlich und durchaus plausibel, dass ihre Verbreitung im griechischsprachigen Gebiet nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels von 1453 größer war als während des Mittelalters. Entsprechend der Vorstellung vom unbesiegbaren Römerreich als dem letzten Weltreich der Geschichte überhaupt, mochten viele Griechen wohl kaum an den endgültigen Untergang von Byzanz glauben, zumal sie auf die Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 verweisen konnten, die auch nicht das Ende des byzantinischen Reiches bedeutet hatte. Über Jahrhunderte hinweg hielt sich unter den Griechen auch die Vorstellung, Kaiser Konstantin XI. Palaiologos sei nicht bei der Eroberung seiner Hauptstadt durch die Türken gefallen, sondern durch einen Engel gerettet worden: In Marmor verwandelt, schlafe er (ähnlich König Artus im Ätna oder Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser) in einer Höhle beim Goldenen Tor. Eines Tages werde er durch den Engel wiederbelebt werden und die Türken vertreiben. Bezeichnend für die Verbreitung reichseschatologischer Hoffnungen bei den Griechen ist zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Aufruf des Anastasios Gordios, nicht länger jenen Orakeln zu vertrauen, welche die Rückgewinnung des byzantinischen Reiches verhießen. Gordios glaubte in der Zeit der beiden angeblich mit Islam und Papsttum zu identifizierenden Tiere der Offenbarung des Johannes zu leben und erwartete in 130 Jahren das Ende der osmanischen Herrschaft und der Welt ohne die Wiederherstellung der byzantinischen Macht.23 Die Griechen haben sich aber nicht etwa passiv der Hoffnung auf einen deus ex machina überlassen, sondern gegen die Türken immer wieder zu den Waffen gegriffen. Sie haben sich auch lange um die Hilfe der abendländischen Christen bemüht, obwohl bei ihnen die Auffassung Tradition besaß, dass die Herrschaft der Muslime derjenigen der Päpste vorzuziehen sei. Erst nach 1669, als sich ihre Erwartungen mehr und mehr auf das immer mächtiger werdende orthodoxe Zarenreich richteten, suchten sie nur noch ausnahmsweise im Westen Unterstützung.24
22 23 24
Ebd., 343. Ebd., 344. Ebd., 344f.
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3. Die Friedrich-Erwartung der Deutschen Während des späteren Mittelalters verband sich in Deutschland die Erwartung des Endkaisers mit der Hoffnung auf die Wiederkehr Kaiser Friedrichs II. oder den Auftritt eines gleichnamigen Nachkommen, des so genannten dritten Friedrich. Damit trat neben die Hoffnung auf den Sieg des Christentums über den Islam die Hoffnung auf die siegreiche Revanche der Staufer bzw. des Kaisertums im Kampf gegen das Papsttum und auf tief greifende kirchliche, aber auch soziale Reformen. Den Namen Friedrich trägt der Endkaiser vielleicht erstmals in dem so genannten Sibyllen-Lied, einer auf Deutsch verfassten strophischen Weissagung, die aus dem 14. Jahrhundert stammt. Dort heißt es, der Friedrich genannte letzte Kaiser werde das Heilige Grab gewinnen und seinen Schild an einen „dürren Baum" hängen, der daraufhin als Zeichen einer guten Zeit wieder zu grünen beginne. Der Glaube der Juden finde ein Ende, und von der Geistlichkeit bleibe nur der siebente Teil bestehen. Im Gegensatz zur traditionellen Endkaiser-Weissagung ist nicht davon die Rede, dass der Kaiser in Jerusalem seine Herrschaftszeichen niederlegen wird, um auf diese Weise Gott die Macht zu übergeben.25 Auch in dem so genannten Sibyllen-Buch, einer paarzeilig gereimten Geschichte der Menschheit in deutscher Sprache, die ebenfalls im 14. Jahrhundert entstand, wird ein letzter Kaiser namens Friedrich verheißen, der das Heilige Grab erobert und seinen Schild an den dort stehenden „dürren Baum" hängt.26 Wie unschwer zu erkennen, bezeichnet die Schildaufhängung nicht etwa das Ende, sondern den Beginn einer sich über die ganze Welt erstreckenden Herrschaft des Friedens. Sie wurde wohl vor allem als Zeichen der Gerichtsbarkeit verstanden und bildet zusammen mit dem das Heilige Kreuz ersetzenden „dürren Baum" eine wesentliche Abweichung von der traditionellen Endkaiser-Weissagung. Das Vorbild des „dürren Baumes" ist im Kreuzholz oder in jenem Baum bei Hebron zu sehen, bei dem Abraham sein Zelt aufgeschlagen und einen Altar gebaut haben soll. Dem viel gelesenen Petrus Co27
mestor zufolge wurde Abraham bei diesem Baum die Weltherrschaft verheißen. Die Weissagung über den Friedrich genannten Endkaiser ist auch das Thema eines Liedes, das vermutlich aus den späteren Jahren Ludwigs des Bayern stammt, der 1347 starb. Der Verfasser des Liedes behauptet: Wenn die Not im Kampf zwischen Papsttum und Kaisertum am größten sei, dann erscheine Kaiser Friedrich, befreie das Heilige Grab und hänge seinen Schild an den alsbald wieder grünenden „dürren Baum". Für alle seine Untertanen gelte dann wieder gleiches Recht. Von der Geistlichkeit bleibe kaum der siebente Teil bestehen, die Klöster würden zerstört und die Nonnen verheira25
Vgl. die Edition von Ingeborg Neske, Die spätmittelalterliche deutsche Sibyllenweissagung, Untersuchung und Edition, Göppingen 1985, 323 und 330; dazu Möhring, Weltkaiser, 253-255.
26
ed. Neske, Sibyllenweissagung, 274-276; dazu Möhring, Weltkaiser, 255f. Vgl. ebd., 258-260.
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tet, so dass sie Wein oder Getreide anbauen müssten. Dann brächen gute Jahre an. Es fällt auf, wie undeutlich in diesem Lied der Bezug zur Endzeit ist. Zwar sollen sich Friedrichs Herrschaft auch die Heiden und Juden beugen, von ihrer Bekehrung zum Christentum ist aber nicht expressis verbis die Rede, und der Antichrist bleibt gänzlich unerwähnt. Indem der Endkaiser als Reformer erscheint, wird in der Endkaiser-Weissagung erstmals konkrete Kritik an den bestehenden Verhältnissen geübt. Sie entfaltet sich an der Kirche, ohne deren Reform die Herbeiführung eines Idealzustandes auf 28
Erden nun offenbar kaum noch denkbar schien. In dem wohl nur wenig jüngeren Bericht des Franziskaners Johannes von Winterthur über die Friedrich-Erwartung seiner Zeitgenossen erscheint der Kaiser dann nicht nur als Verfolger bzw. Reformer der Kirche, sondern auch als Reformer der Gesellschaft. Man hatte offenbar erkannt, dass nicht allein in der kirchlichen Ordnung die Ursache aller Missstände lag, und begnügte sich nicht länger mit der bloß allgemeinen Hoffnung auf Frieden und Überfluss. Johannes von Winterthur berichtet zum Jahr 1348, die verschiedensten Menschen hätten geglaubt, dass Friedrich II. nach Gottes Ratschluss mit großer Macht wiederkehren werde, um die verkommene Kirche zu reformieren - und zwar selbst dann, wenn er zuvor in tausend Stücke geteilt oder zu Asche verbrannt worden wäre. Friedrich werde den Waisen, Witwen und Beraubten ihr geraubtes Gut zurückgeben und überhaupt allen Menschen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, er werde nicht nur die Nonnen und Mönche zur Ehe zwingen, sondern auch die armen Frauen mit reichen Männern und die reichen Frauen mit armen Männern verheiraten, also alle sozialen Unterschiede ausgleichen. Zudem sollte der Kaiser die Geistlichen grausam verfolgen. Für das Ende seiner Herrschaft erwartete man, dass Friedrich mit einem großen Heer über das Meer fahren und auf dem Olberg oder beim „dürren Baum" abdanken werde. Die Befreiung des Heiligen Grabes scheint ebenso stillschweigend vorausgesetzt wie das anschließende Weltende. 29 Maßgeblichen Anteil an dem Glauben, dass Friedrich II. nicht am 13. Dezember 1250 gestorben sei, sondern noch lebe und eines Tages wiederkehre, hatten zunächst die Joachiten gehabt, d. h. die Anhänger der Vorstellungen des Abtes Joachim von Fiore. Sie hatten die Meinung vertreten, dass Friedrich der am Weltende zu erwartende Antichrist oder zumindest doch dessen direkter Vorläufer sei und dass der Antichrist im Jahre 1260 sterben werde. 30 Auch die Vorstellung von einem dritten Friedrich, der die durch Friedrich II. begonnene Züchtigung und Reinigung der Kirche vollenden werde, scheint in Italien in den Reihen der Joachiten - und damit der Gegner
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30
Vgl. Minnesinger, Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, ed. F. H. von der Hagen, Bd. 3, Leipzig 1838, 349; dazu Möhring, Weltkaiser, 256f. Johannes von Winterthur, Chronica, ed. F. Baethgen/C. Brun, Berlin 1924 (MGH SS rer. Germ., Nova series, Bd. 3) 280f.; dazu Möhring, Weltkaiser, 257f. Vgl. ebd., 206, 217f. und 221.
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der Staufer - entstanden zu sein. Sie lässt sich erstmals zwischen Mitte 1255 und Ende 1256 nachweisen.31 Den Fortbestand der Furcht vor dem Auftritt eines dritten Friedrich bezeugt dann im 32
Jahre 1281 der Kölner Kanoniker Alexander von Roes: Er berichtet von einer in Deutschland verbreiteten Weissagung, dass aus dem Geschlecht Friedrichs II. eine sündhafte Wurzel namens Friedrich hervorbrechen und den Klerus in Deutschland, aber auch die römische Kirche selbst mit aller Heftigkeit erniedrigen werde. Direkt im Anschluss daran erwähnt Alexander von Roes eine Weissagung über einen ganz Europa beherrschenden und Kirche wie Reich reformierenden letzten Kaiser namens Karl. Damit findet sich erstmals die Hoffnung auf einen zweiten Karl den Großen - d. h. auf Karl von Anjou, der die Macht der Staufer vernichtet hatte - der Furcht vor dem dritten Friedrich gegenübergestellt. Positive Erwartungen scheinen sich mit der Gestalt des dritten Friedrich erst nach der Hinrichtung Konradins durch Karl von Anjou (1268) verbunden zu haben, als in Italien mancher Ghibelline auf einen Enkel Friedrichs II. als Kandidaten für den sizilischen Königsthron hoffte, nämlich auf den 1257 geborenen Friedrich den Freidigen, den späteren Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen. Offenbar übernahmen die Ghibellinen die Vorstellung eines demnächst auftretenden dritten Friedrich von 33
den Joachiten, deuteten sie aber in ihrem Sinne ins Positive um. Wohl im Sommer 1269 durch ghibellinische Gesandte aus der Lombardei wurde in Thüringen eine Weissagung bekannt, in der zunächst der Sieg des Löwen von Frankreich, d. h. Karls von Anjou, über den Bastard Manfred und den Sohn des Adlers, d. h. Konradin, „vorausgesagt" wird. Weiter heißt es, dass nach einiger Zeit ein Fridericus orientalis aus staufischem Geschlecht die Macht des Löwen vernichten und seine Herrschaft bis an die Grenzen der Welt ausdehnen werde, indem er den Papst gefangen nehme und im Bündnis mit den Spaniern auch das französische Königreich erobere.34 Eine ähnliche Weissagung, die ebenfalls einen die ganze Welt beherrschenden Fridericus orientalis verheißt, entstand vermutlich 1275 oder 1276. Von der Vernichtung Karls von Anjou oder Frankreichs ist in ihr nicht eigens die Rede, aber in Bezug auf die Kirche geht ihr Verfasser deutlich über die erste Weissagung hinaus, indem er zu behaupten wagt, Friedrich werde nicht nur den Papst gefangen nehmen, sondern den Klerus als solchen zerschlagen.35 31
Nämlich im Liber de oneribus prophetarum, ed. von O. Holder-Egger, Italienische Prophetieen des 13. Jahrhunderts, in: N A 33 (1908) 139-187; dazu Möhring, Weltkaiser, 240f.
32
Alexander von Roes, Memoriale de prerogativa Romani imperii, cap. 30, in: ders., Schriften, ed. H. Grundmann/H. Heimpel, Stuttgart 1958 (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters, Bd. 1,1), 136.
33
Vgl. Bernhard Töpfer, Das kommende Reich des Friedens, Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, Berlin 1964, 171 und 174 Anm. 94. saec. XII. XIII. XIV., ed. O. Holder-Egger, Hannoverae/Lipsiae 1899 (MGH SS rer. Germ.), 679. Vgl. Thomas Ebendorfer, Chronica regum Romanorum, ed. A. F. Pribram, in: MIÖG, Erg.-Bd. 3, Innsbruck 1890-1894; Friedrich von Bezold, Zur deutschen Kaisersage, in: Sitzungsberichte der
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Die ursprünglich negative Ausgabe des Bildes vom dritten Friedrich dagegen wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts maßgeblich durch eine Weissagung verstärkt, als deren Verfasser ein gewisser Telesphorus von Cosenza (in Kalabrien) gilt. Telesphorus zufolge sollte ein 1365 geborener dritter Friedrich der letzte Kaiser deutscher Herkunft sein, der als Vorkämpfer des von seinen Fesseln befreiten Satan von einem falschen, deutschen Papst gekrönt werde. Dieser Friedrich strafe die Kirche für ihre Sünden, werde jedoch von einem französischen König namens Karl besiegt werden, der aus den Händen eines engelsgleichen Papstes die Kaiserkrone empfange, die Kirche reformiere, das Heilige Land erobere und beim Auftritt des Antichrist seine Krone am Heiligen Grab niederlege.36 Nicht etwa in Schwaben ist die Friedrich-Erwartung besonders groß gewesen, sondern in Thüringen. Johannes Rothe berichtet in seiner 1421 abgeschlossenen Thüringischen Weltchronik, dass manche Leute der ketzerischen Ansicht seien, Friedrich erscheine zuweilen auf dem Kyffhäuser oder anderen zum Reich gehörenden Burgen, rede von Zeit zu Zeit auch mit den Leuten und werde als der letzte Kaiser bis zum Jüngsten Tag leben.37 Johannes Rothe bietet den ältesten Beleg für diesen Glauben, der nicht viel früher entstanden sein kann, weil erst nach 1407 die drei Burgen auf dem Kyffhäuser nicht mehr bewohnt waren. Noch später erst scheint es zu dem Glauben gekommen zu sein, dass Friedrich sich nicht in einer der Burgen auf dem Kyffhäuser, sondern in dem Berg selbst aufhalte. Diese Vorstellung ist in einer 1537 erschienenen Flugschrift38 zu belegen, die eine Zusammenstellung von Angaben zum Glauben an die Wiederkehr Friedrichs II. enthält und unter anderem behauptet, Friedrich werde 1548 oder 1549 Kaiser Karl V. bei der Eroberung des Heiligen Landes helfen. Der Flugschrift zufolge soll der im Berg verborgene Kaiser (als Freund des „kleinen Mannes") einen Schafhirten in den Kyffhäuser hineingeführt, ihm viele Waffen gezeigt und ihn reich beschenkt mit dem Auftrag entlassen haben, den Leuten draußen zu sagen, dass er mit diesen Waffen das Heilige Grab gewinnen werde. Weniger auf die Eroberung Jerusalems als auf die Unterstützung ihrer Sache scheinen einige Jahre zuvor die Bauern der Umgebung gehofft zu haben, nachdem sie am 15. Mai 1525 in der Schlacht von Frankenhausen am Fuße des Kyffhäuser blutig geschlagen worden waren: Sie wollten sich nämlich in der Hoffnung auf Friedrichs Aufer39 stehung an einem Karfreitag auf dem Kyffhäuser versammeln.
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königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische und historische Klasse, 1884, München 1885, 606; Erwin Herrmann, Veniet aquila, de cuius volatu delebitur leo, Zur Gamaleon-Predigt des Johann von Wünschelburg, in: Karl Schnith (Hg.), Festiva lanx, Studien zum mittelalterlichen Geistesleben, München 1966, 115. Vgl. Möhring, Weltkaiser, 283-285. Johann Rothe, Düringische Chronik, ed. R. v. Liliencron, Jena 1859, 426. Vgl. Georgius Draudius, Fürstliche Tischreden, Teil 1, Franckfurt a. M. 1620, 322-330. Vgl. Hans Eberhardt, Die Kyffhäuserburgen in Geschichte und Sage, in: BDLG 96 (1960), 66-103, hier: 97.
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Mit dem in einem Berg verborgenen Kaiser Friedrich konnte spätestens seit 1519 auch Barbarossa gemeint sein. Am Ende des 1519 erstmals gedruckten Volksbuches über Friedrich Barbarossa heißt es nämlich, die Bauern und Anhänger der Schwarzen Kunst glaubten, dass der in einem hohlen Berg lebende Kaiser eines Tages wiederkehren und nach der Bestrafung der Geistlichen seinen Schild an den von den Sultanen gehüteten „dürren Baum" hängen werde. 40 Allerdings stammt die in der Neuzeit so populäre Vorstellung des im Berg lebenden Barbarossa vielleicht nicht erst aus dem Volksbuch, denn eine Verwechslung Friedrichs II. mit seinem Großvater Barbarossa ist mehrfach im 15. Jahrhundert und auch schon früher zu belegen. 41 Unstrittig lässt sich die Erwartung der Wiederkehr Friedrichs II. zuerst in Italien nachweisen. Es ist aber fraglich, ob die Wurzeln der späteren Sage, Friedrich lebe im Kyffhäuser verborgen, in Italien oder Sizilien zu suchen sind. Unwahrscheinlich ist jedenfalls eine Beeinflussung der Kyffhäuser-Sage durch den Glauben, Friedrich II. sei in den Ätna eingezogen: Der englische Franziskaner Thomas von Eccleston schrieb spätestens im Jahre 1260, zur Zeit des Todes Friedrichs II. habe ein auf Sizilien lebender Franziskaner beim Gebet 5 000 Ritter in das Meer hinein reiten sehen, dessen Wasser dabei aufgezischt sei, als wären sie alle aus glühendem Erz gewesen. Einer der 5 000 Ritter habe ihm erklärt, es sei Kaiser Friedrich, der dort in den Ätna einziehe. 42 Im Gegensatz zur Kyffhäuser-Sage war damit nicht die Erwartung der Wiederkehr Friedrichs II. verbunden, sondern bei Thomas von Eccleston erscheint der ja vom Papst exkommunizierte Kaiser als ein in die Hölle einziehender Verdammter.
4. Die muslimische Mahdi-Erwartung als Gegenstück zur christlichen Endkaiser-Weissagung Ungefähr gleichzeitig mit der Schrift des Pseudo-Methodios entstand um 700 auf muslimischer Seite die Hoffnung auf eine dem christlichen Endkaiser ähnliche Gestalt. In den Überlieferungen der Muslime heißt es, eines Tages werde ein als der Mahdi, der „Rechtgeleitete", bezeichneter Mann ohne Fehl und Tadel erscheinen, der die Muslime zum wahren Islam zurückführe und die zuvor von Unrecht beherrschte Welt mit Gerechtigkeit erfülle. Er zeichne sich nicht zuletzt durch größte Freigebigkeit aus, wie überhaupt mit dem Beginn seiner Herrschaft eine Zeit des Überflusses anbrechen werde. Der Mahdi sollte der Familie oder zumindest dem Stamm des Propheten Mu-
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Das Volksbuch von Barbarossa und Geschichten von Kaiser Friedrich dem Anderen, ed. E. Barnick, Jena 1925, 30. Vgl. Möhring, Weltkaiser, 228 Anm. 117. Thomas von Eccleston, Tractatus de adventu Fratrum Minorum in Angliam XV, ed. A. G. Little, 2. Aufl., Manchester 1951, 96.
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hammad angehören. Sein Erscheinen erwartete man meistens für die Zeit kurz vor dem Ende der Welt. 43 Der Kampf gegen das Christentum ist in der Mahdi-Weissagung gegenüber der Wiederherstellung der prophetischen Ordnung unter Muhammad nur von zweitrangiger Bedeutung. Zwar glaubten die Muslime - bezeichnenderweise wohl als Folge fehlgeschlagener eigener Eroberungsversuche im 7., 8. und 9. Jahrhundert - , dass der Mahdi Konstantinopel und Rom einnehmen werde, aber im Gegensatz zu Jesus (vgl. unten) sollte der Mahdi im allgemeinen kein Christenverfolger sein, und ein römischer Kaiser oder Endkaiser spielt in der Mahdi-Weissagung keine Rolle. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch insofern, als der Endkaiser dem Antichrist kampflos Platz machen, der Mahdi aber den meisten Überlieferungen zufolge den Dadjdjal, der dem Antichrist in den christlichen Endzeit-Vorstellungen entspricht, besiegen sollte.44 Die erhoffte große Revanche durch den Mahdi war aus muslimischer Sicht also endgültig, während der Sieg des Endkaisers den christlichen Erwartungen zufolge durch die Schreckensherrschaft des Antichrist wieder zunichte gemacht und damit der Sieg des Christentums nochmals in Frage gestellt werden sollte. Wie die christliche Endkaiser-Weissagung des Pseudo-Methodios so wurde auch die Hoffnung der Muslime auf den Auftritt des Mahdi aus der Niederlage heraus geboren, aber nicht etwa infolge einer Niederlage gegen die Christen, sonder als Folge dessen, dass die Schiiten, d. h. die Anhänger des vierten Kalifen Ali und seiner Nachkommen, im Kampf um das Kalifat bereits im 7. Jahrhundert gegen das Geschlecht der Umaiyaden und dann im 8. Jahrhundert gegen die Abbasiden den Kürzeren zogen. Die Gestalt des Mahdi war aber nicht nur bei den Schiiten, sondern auch bei den Sunniten populär. Allerdings ist der Mahdi in sunnitischer Sicht kein aus der Verborgenheit Wiederkehrender, und außerdem bildet die Mahdi-Vorstellung für die Sunniten im Gegensatz zu den Schiiten keinen festen Bestandteil ihres Glaubens, denn sie ist nicht koranisch. Bei ihrer Entstehung und Ausformung können jüdische, aber auch iranische Einflüsse eine Rolle gespielt haben, denn in den Legenden der Perser finden sich mehrere unsterbliche Rettergestalten, die im Verborgenen leben und beim Anbruch der Endzeit wieder erscheinen sollen. Es ist auch möglich, dass die Mahdi-Vorstellung durch die vielleicht auf christliche oder jüdische Heilsvorstellungen zurückgehende südarabische Weissagung von dem am Ende der Zeiten auftretenden Qahtani, einem Mann aus dem Stamm der Qahtan, beeinflusst wurde. Die Qahtani-Weissagung ist offenbar älter als die Mahdi-Vorstellung, entstand anscheinend aber auch erst in islamischer Zeit und blieb über Jahrhunderte hin43
Zur Mahdi-Vorstellung grundlegend: The Encyclopaedia of Islam, N e w edition, Bd. 5, Leiden 1986, 1230-1238 s. v. al-Mahdi (Artikel von W. Madelung); vgl. auch Möhring, Weltkaiser, 377414.
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Zur Gestalt des Dadjdjal vgl. David J. Halperin, The Ibn Sayyad Traditions and the Legend of alDajjal, in: JAOS 96 (1976), 213-225; Alfred Morabia, L'Antéchrist (ad-Daggal) s'est-il manifesté du vivant de l'envoyé d'Allah?, in: JA 267 (1979), 81-99.
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weg lebendig. Sie beschwor die Erinnerung an das ehemals glanzvolle Reich der Himyariten in Südarabien und zielte auf die Ablösung der Herrschaft des Stammes der Quraish, dem Muhammad, die „rechtgeleiteten" ersten vier Kalifen und nicht zuletzt auch die Kalifengeschlechter der Umaiyaden und Abbasiden angehörten. 45 Eine andere, dem Mahdi ähnliche Gestalt, die in arabischen Weissagungen begegnet, ist ein Mann, der als der Sufyani bezeichnet wird, d. h. als Abkömmling des Umaiyaden Abu Sufyan. Nach dem Sturz des umaiyadischen Kalifats durch die Abbasiden im Jahre 750 und der bald darauf folgenden Verlegung der Hauptstadt von Damaskus nach Bagdad ruhten auf dem Erscheinen des Sufyani die Hoffnungen so mancher Syrer, die sich um ihre führende Stellung im Kalifenreich gebracht sahen. Mehrfach nahmen sie während des 7. und 8. Jahrhunderts im Namen des Sufyani den Kampf gegen die Abbasiden auf. Die Hoffnung auf den Sufyani ist jünger als die Erwartung des Qahtani und des Mahdi, interessanterweise aber war die Weissagung vom Auftritt des Sufyani schon vor dem Sturz des umaiyadischen Kalifats in Syrien bekannt. Offenbar wurde sie nicht etwa in umaiyadischen Kreisen geboren. Vielmehr scheint sie aus schiitischer Feder zu stammen und nicht in Syrien, sondern in Kufa oder Basra entstanden zu sein. Aus der Fülle der meist kurzen Weissagungen über den Sufyani ergibt sich inhaltlich folgendes Bild: Wie in Europa der dritte Friedrich, so war auch der Sufyani ursprünglich keine positive Gestalt. Zunächst erwartete man, dass er Medina erobern und Mekka angreifen lassen werde, dabei jedoch die Wüste sein Heer verschlucke und danach der Mahdi ihn selbst an einem Tor von Jerusalem oder Damaskus töte. Später dann, nach dem Sturz der Umaiyaden im Jahre 750, trat die Vorstellung hinzu, dass sich der Sufyani blutig an den Abbasiden rächen und außer Kufa auch Bagdad erobern werde. Dies war der für die Anhänger der Umaiyaden wesentliche Punkt. Offenbar versuchten sie, den Sufyani nicht als Gegner, sondern als Vorläufer des Mahdi erscheinen zu lassen, denn eine Weissagung behauptet, dass der Sufyani das Kalifat dem Mahdi übergeben werde, während eine andere besagt, dass er zwar zunächst dem Mahdi huldigen, es dann aber zu einer für den Mahdi siegreichen Schlacht kommen werde. 46 Nichts deutet darauf hin, dass die Mahdi-, Qahtani- und Sufyani-Vorstellungen etwa als Reaktion - durch die Schrift des Pseudo-Methodios oder überhaupt die Endkaiser-Weissagung beeinflusst worden ist. Zweifellos jedoch geht die muslimische Erwartung der Wiederkehr Jesu auf christliche Wurzeln zurück: Die Muslime erwarteten für das Ende der Zeiten nicht nur den Mahdi, sondern auch Jesus, von dem im Koran mehrfach die Rede ist. Er gilt dort als von Gott entrückt und nicht als von den Toten
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44
Zum Qahtani vgl. Wilferd Madelung, Apocalyptic Prophecies in Hims in the Umayyad Age, in: JSS 31 (1986), 141-185; Möhring, Weltkaiser, 389-392. Zum Sufyani vgl. Wilferd Madelung, The Sufyani between Tradition and History, in: Studia Islamica 6 3 (1986), 5-48; Möhring, Weltkaiser, 392-394.
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auferstanden. Es bleibt aber unklar, ob Muhammad an die Parusie Jesu glaubte, auch wenn die muslimischen Gelehrten dies im allgemeinen annahmen. 47 Den Überlieferungen der Muslime zufolge soll Muhammad gesagt haben, dass Jesus schon bald (vom Himmel) herabkommen werde als ein gerechter Richter und rechthandelnder Imam, der das Kreuz zerbreche, die Schweine töte, die Kopfsteuer abschaffe d. h. alle Christen und Juden zum Islam bekehre - und das Geld in solcher Menge fließen lasse, bis es niemand mehr annehme. In anderen Überlieferungen heißt es, dass Jesus den Dadjdjal, d. h. den falschen Messias, töten und der Welt völligen Frieden bringen werde. Was das Verhältnis Jesu zum Mahdi betrifft, so nahm man auf sunnitischer Seite meistens an, dass Jesus erst nach dem Tod des Mahdi erscheinen werde. Teilweise aber glaubte man auch, dass beide gleichzeitig aufträten und der Mahdi den Dadjdjal auf Jesu Befehl hin töte oder umgekehrt Jesus den Mahdi im Kampf gegen den Dadjdjal unterstütze. Letzteres gilt vor allem für die Schiiten. Manche Sunniten waren dagegen der Meinung, der Mahdi sei mit Jesus zu identifizieren, es gebe also keinen anderen Mahdi als ihn. Obwohl im Koran vom Mahdi keine Rede ist, blieb die Mahdi-Vorstellung über das Mittelalter hinweg bis in die Gegenwart hinein populär: Immer wieder kam es in der islamischen Geschichte zu Aufständen, deren Führer sich als Mahdi zu legitimieren versuchten. Der auch in Europa berühmte sudanesische Mahdi, der 1885 Khartum eroberte, 48 war bei weitem nicht der einzige. 49 Allerdings gelangen ihnen nur ausnahmsweise dauerhafte Reichsgründungen - wie vor allem im Falle des Gegenkalifats der Fatimiden, deren politischer Aufstieg zu Anfang des 10. Jahrhunderts begann und mit der 969 erfolgten Eroberung von Ägypten, das sie 200 Jahre lang beherrschten, den Höhepunkt erreichte. 50 Im Kampf gegen die Reconquista war die Mahdi-Vorstellung offenbar kaum von Bedeutung, und auch im Kampf gegen die Kreuzfahrer fühlte sich kaum ein Muslim als Mahdi berufen. Lediglich Sultan Saladin scheint eine Ausnahme zu bilden, aber er trat nicht offen als der Mahdi auf, als den ihn mancher Zeitgenosse nach der Eroberung Jerusalems 1187 betrachtete. Als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus und Imperialismus nahm die Häufigkeit der Auftritte von Mahdi-Prätendenten jedoch erheblich zu, vor allem in Afrika. 51 Für die Popularität der Mahdi-Vorstellung spricht nicht zuletzt auch der Umstand, dass in der Verfassung des Iran unter dem letzten Schah ausdrücklich erklärt wurde, sie
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Zur Jesus-Erwartung der Muslime vgl. zusammenfassend Möhring, Weltkaiser, 372f. und 387f. Zu ihm vgl. Peter M. Holt, The Mahdist State in the Sudan 1881-1898, 2. Aufl., Oxford 1970. Vgl. Möhring, Weltkaiser, 395-414. Vgl. Heinz Halm, Das Reich des Mahdi, Der Aufstieg der Fatimiden (875-973), München 1991. Vgl. beispielsweise A. R. I. Doi, The Yoruba Mahdi, in: JRA 4 (1971/1972), 119-136; A. Le Grip, Le Mahdisme en Afrique noire, in: L'Afrique et l'Asie 18 (1952), 3-16; I. M. Lewis (Hg.), Islam in Tropical Africa, Oxford 1966, 5f., 14, 38-44, 89, 405f„ 426-428 und 431-437.
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solle nur bis zum Erscheinen des Zwölften Imam, d. h. des Mahdi, Gültigkeit besitzen. Der Schah selbst behauptete sogar, den sich verborgen haltenden Zwölften Imam in Wirklichkeit und nicht nur im Traum gesehen zu haben und von ihm aus einer gefährlichen Situation gerettet worden zu sein. 52 Während die Mahdi-Erwartung der Muslime im Orient handfeste politische Bedeutung gewann, lässt sich im christlichen Europa trotz der großen Verbreitung der Endkaiser-Weissagung und der sich im Spätmittelalter verstärkenden Enderwartung kaum ein Herrscher oder Rebell finden, der als Endkaiser aufzutreten versuchte. Offenbar typisch ist im 15. Jahrhundert der Fall Kaiser Friedrichs III., der trotz der Ermahnungen mancher Zeitgenossen und der immer größer werdenden Bedrohung durch die osmanischen Türken niemals versuchte, die Rolle des verheißenen dritten Friedrich zu spielen, oder sich entsprechend feiern ließ. 53 Für den Unterschied in der Auswirkung der christlichen Endkaiser-Weissagung und der muslimischen Mahdi-Erwartung gibt es mehrere Gründe. 54 Einer der wichtigsten liegt wohl darin, dass es in den islamischen Städten trotz wirtschaftlicher Macht und vieler Volksaufstände im früheren Mittelalter dann im späteren Mittelalter nicht wie in Europa, wo das Volk nun auch in den Weissagungen eine aktive Rolle zu spielen begann, zu einer Stück für Stück erkämpften politischen, rechtlichen und sozialen Emanzipation kam, die keines deus ex machina bedurfte. In der frühen Neuzeit gilt dies auch für den Kampf gegen den Glaubensfeind, denn es gelang den europäischen Christen nun aus eigener Kraft, ohne die Hilfe des Endkaisers, die Macht des Islam völlig in die Defensive zu drängen.
5. Schlussbetrachtung Die Hoffnung auf die große Revanche durch Endkaiser oder Mahdi bildet offenbar eine für das Mittelalter typische Art der Bewältigung von militärischen und politischen Niederlagen. Sie war aus heutiger Sicht vielfach eine selbstbetrügerische Hoffnung gegen alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit, aber immerhin ein Mittel, die Lage der Besiegten erträglicher zu machen und den Widerstand gegen die Sieger wenigstens geistig am Leben zu erhalten. Der für die Revanche gesetzte Termin der Endzeit war zwar so unverbindlich, dass die Verfasser entsprechender Weissagungen in diesem wichtigen Punkt niemals der Lüge geziehen werden konnten, aber wie schon die Zahl der Mahdi-Prätendenten zeigt, war die Ankündigung, dass sich am Ende der Zeiten mit dem Sieg der ge52
53 54
Vgl. Mohammad Serdani, Der verborgene Imam, Eine Untersuchung der chiliastischen Gedanken im schiitischen Islam nach Ibn Babuya (gestorben 991): Kamal al-din wa-tamam al-ni'ma, Diss. Bochum 1979, 30f. Vgl. Möhring, Weltkaiser, 248-253. Vgl. Hannes Möhring, Endkaiser- und Mahdi-Erwartung als Charakteristikum der Geschichte Europas und des Vorderen Orients, in: HZ 274 (2002), 315-329.
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rechten Sache oder des rechten Glaubens doch noch alles zum Guten wenden werde, nicht unbedingt eine resignierende Vertröstung auf eine allzu ferne Zukunft. Nach allgemeiner Auffassung von Christen und Muslimen konnte sich zwar erst am Ende der Zeiten die Hoffnung auf das schier Unmögliche erfüllen, war der Anbruch der Endzeit aber jederzeit möglich. Pseudo-Methodios glaubte die Endzeit (mit dem Abfall der Christen von ihrer Religion) sogar schon gekommen und den Sieg ganz nahe. Über Jahrhunderte hinweg behauptete man im Mittelalter auf christlicher Seite auch immer wieder, der Antichrist sei bereits geboren und werde demnächst seine Schreckensherrschaft antreten. Viele mittelalterliche Weissagungen mag man aus heutiger Sicht belächeln. Wie aber die neuere historische Forschung zeigt, sind sie nicht etwa als Ausgeburten primitiver, vielleicht auch krankhafter Fantasie oder allzu durchsichtiger Propaganda abzutun. Obwohl sich nur wenige erfüllten, fanden sie zu fast jeder Zeit Interesse, und zwar nicht nur bei Ungebildeten und Leichtgläubigen, sondern auch bei Gebildeten und sogar bei Gelehrten. Nicht zuletzt durch die Weissagungen kommt der Historiker der Mentalität der damals lebenden Menschen ein gutes Stück näher. Außerdem lassen die aus den Weissagungen sprechenden politischen und religiösen Hoffnungen und Ängste, die untrennbar zum Erlebnis von Geschichte gehören, die Vergangenheit mit den Augen der Zeitgenossen als Zukunft sehen. Dies ist eine in den erhaltenen Quellen seltene Gelegenheit! Durch die Weissagungen wird der Historiker teilweise auch in die Lage versetzt, sich bestimmte Situationen besser zu vergegenwärtigen. Sie sind geeignet, das häufig durch die politisch Erfolgreichen aus dem historischen Bewusstsein Verdrängte wieder bewusst zu machen, genauer erkennen zu lassen, welche Möglichkeiten bestimmte Situationen in sich trugen und damit die Ausgangslage oder die einzelnen Stationen einer Entwicklung schärfer in den Blick zu bekommen, eventuell auch deren vermeintliche Gradlinigkeit oder Zwangsläufigkeit zu hinterfragen.
ANDREAS HOLZEM
Religiöse Semantik und Kirchenkrise im „konfessionellen Bürgerkrieg" Die Reichsstadt Rottweil im Dreißigjährigen Krieg
1. Krieg: Rottweil 1633 und 1643 Der Ratsschreiber Rottweils, ein gebildeter Jurist, gleichzeitig Hofgerichtsassessor und Mitglied des Rates, formulierte 1635 das Elend des Krieges in seiner Heimatstadt als „Jamer Elendt, vnnd eiissersten nöthenn". Kriegskontributionen und Winterquartiere, mit denen die Bürger „geprest, tribulirt, genöthiget, vnnd gequellet werden", der zwei Jahre zurückliegende Überfall württembergischer Truppen, in Folge dessen „wür ausserhalb Vnsers Vralten Catholischen Glaubens, vnd fast halb gethötnen lebenß, ferners nichts, oder doch gar ein schlechtes mehr übriges behalten", weitere „schier vnerträgeliche pressuren", welche die Menschen „vf den eyssersten gradt außgemerglet" hätten: alle „hertzprechendten schmertzen zuerzehlen [sei] ohnmüglich". 1 Eine Stadt, der dies widerfährt, hat den Krieg bereits verloren, und darum markiert dieses Schreiben die Erfahrung einer Kriegsniederlage, obwohl der Krieg selbst noch weitere dreizehn Jahre dauern sollte. Der Bericht wurde geschrieben im Hinblick auf die Belagerung und Eroberung Rottweils durch württembergische Truppen im Jahr 1633, deren militärische, exekutive und wirtschaftlich-soziale Einzelheiten hier zunächst außer Betracht bleiben können. Aber diese Belagerung trug Seuchen in die Stadt, an denen bis 1634 die Hälfte der Bevölkerung starb - darauf ist zurückzukommen. Den Dreißigjährigen Krieg verlor man nicht an seinem Ende, sondern bereits in seinem Verlauf, zumal ein endgültiger Sieger auch 1648 geradezu programmatisch ausblieb und um der pragmatischen Funktionsfähigkeit des Friedens willen auszubleiben hatte.
1
Rottweil an Wilhelm Markgraf zu Baden und Hochberg, 09. 02. 1635: Stadtarchiv Rottweil (Stadt A Rw) II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 6 Nr. 1, fol. 1-6. Wilhelm Markgraf zu Baden und Hochberg war kaiserlicher Generalfeldwachtmeister und Obrist sowie Landhauptmann der Erzherzogin Claudia zu Osterreich.
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W e n n der Stadtschreiber aber g e m e i n t h a b e n sollte, d e n G i p f e l p u n k t d e s E l e n d s überschritten zu haben, hatte er sich bitter getäuscht. 1 6 4 3 k o n n t e n f r a n z ö s i s c h - w e i m a rische Truppen i m Juli zunächst a b g e s c h l a g e n werden, im N o v e m b e r aber w a r e n B e l a g e r u n g und B o m b a r d i e r u n g e r f o l g r e i c h - K o m m a n d a n t Hettlach übergab nach dramatischen k o m m u n a l e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n die Stadt. G l e i c h z e i t i g gibt e s S i e g e , an d e n e n man stirbt: D e r s c h w e r v e r w u n d e t e f r a n z ö s i s c h e Marschall Guébriant sollte R o t t w e i l nicht m e h r verlassen; s e i n e Truppen w u r d e n w e n i g e T a g e später v o n kurbayerischen R e g i m e n t e r n bei Tuttlingen v ö l l i g a u f g e r i e b e n . 2 Für d i e K r i e g s f o l g e n in Rottw e i l war das einerlei: „Nun ist leider Gott erbarms bekhondt, in was vhnaußsprechliche ruin hierzwischen die Statt gesetzt, von der Frantzösisch: Guebrian: Rantzow: vnd Weimarisch armada mit macht belägert, drey vorstätt gantz vnd gar abgebrendt, demolirei, vnd im vberigen mehr dan der dritte thail ahn der Statt theils eingeäschert, theils mit granaten nidergeschlagen, abgebrochen, [...] darüber Ross vnd vieh reuerenter sambt den fruchten zur profiantierung des feündts armada weggefiehrt, Im übrigen auch mit der gantzen burger: vnd paurschafft so lang der feünd alhie gelegen, erschröckhenlich tyrannisiert, vnndt Weiniglichen in eüsserste desolation Jamer vnd noth gestürzt worden, also das vihl burger, pauren, weib vnd khündern die schuld der Natur bezahlen müessen: Zuegeschweigen, was für ohnermeßlicher schaden auf dem Land in allen dorfschafften beschehen, Seytemalen fast alle Fleckhen in brand gesteckht, dahero mit einem wort wohl gesagt werden khan, tota civitas cum omnibus pertinentiis ruinae tradita." 3 A u c h für 1 6 4 3 existieren differenzierte K r i e g s f o l g e n a b s c h ä t z u n g e n , d i e hier nicht referiert w e r d e n m ü s s e n . A l s Eindruck m a g e i n B l i c k auf E i n w o h n e r z a h l e n g e n ü g e n : M a n geht für d i e Zeit u m 1 5 0 0 v o n 5 0 0 0 B e w o h n e r n aus, für 1 6 7 5 , g a n z e 3 0 Jahre nach d e m hier Berichteten, v o n gerade einmal 1 6 0 0 . D i e D ö r f e r der L a n d s c h a f t brauchten ein halbes Jahrhundert, u m d e n E i n w o h n e r s t a n d der V o r k r i e g s z e i t w i e d e r zu erreichen. 4 D i e s e B e r i c h t e liefern e i n e n ersten Eindruck d a v o n , w a s in R o t t w e i l in den z w e i dramatischsten K r i e g s p h a s e n erlebt und w i e das Erlebte b e s c h r i e b e n w u r d e -
natürlich
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Vgl. Professor Geiselhart, Zur Geschichte der Reichsstadt Rottweil im 30jährigen Kriege, in: Programm-Abhandlung des Königl. Gymnasiums in Rottweil, Schuljahr 1898-99, Rottweil 1899, 6172; Adolf Brinzinger, Des französischen Marschalls Jean Baptiste Budes Grafen v. Guébriant Sieg und Tod zu Rottweil a. N., im Jahr 1643, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N.F. 3 1902), 215-240; Ernst Müller, Der Tod des Marschalls Guébriant (gestorben am 24. November 1643 im Predigerkloster zu Rottweil), in: Schwäbische Heimat 20 (1969), 115-127; August Steinhauser, Die Tragödie von Rottweil 1643, Rottweil 1946, 3-23; auch Thema und Veröffentlichungszeitpunkt dieses „Gedenkblattes" sind offenkundig eine Erscheinungsform der Bewältigung einer verheerenden Kriegsniederlage.
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Rottweil an Feldmarschall von Mercy, 08. 01. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 4 Nr. 3b, fol. 1-3. Vgl. Thomas Knubben, Reichsstädtisches Alltagsleben, Krisenbewältigung in Rottweil 1648-1701, Rottweil 1996; Edwin Emst Weber, Der Dreißigjährige Krieg und die Bevölkerungsentwicklung des Rottweiler Territoriums, in: Rottweiler Heimatblätter 49 (1988), H. 4, 3-4; Mario Zeck, „Im Rauch gehn Himmel geschüggt", Hexenverfolgungen in der Reichsstadt Rottweil, Stuttgart 2000, 21 f.
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immer mit dem Ziel, Kontributions- und Quartierlasten zu erleichtern. Die Frage ist, wie das Erlebte erfahren, also gedeutet und erinnert wurde, wie diese Deutungen kommuniziert wurden und welche Rolle die Religion in diesem Kontext spielte. Der Anspruch dieses Beitrags gegenüber einer solchen Fragestellung ist denkbar bescheiden: Er präsentiert zunächst einen kleinen Teil des erst unmittelbar eingesehenen Archivmaterials. Erweiterte Archiv- und Bibliotheksrecherchen stehen ebenso aus wie ein Abgleich mit der Literatur. Dieser Skizzenblock zu lokalen Motivstrukturen des Verhältnisses von Religion und Krieg ist noch weit entfernt von einer gültigeren Durchdringung des Themas. Die Reichsstadt Rottweil, in der Frühneuzeit als Sitz des kaiserlichen Hofgerichts und aufgrund eines ausgedehnten Territoriums nach Augsburg und Ulm sicher eine der bedeutenden, dürfte zu einer der bestuntersuchten im südwestdeutschen Raum gehören. Dennoch wurden die Kriegsjahre 1618 bis 1648 bislang kaum beleuchtet. 5 Im Zusammenhang von Krieg und Religion ist vor allem eins historisch bekannt und bearbeitet: das Wunder der marianischen Augenwende in der extremen Belagerungssituation von 1643.6 Was praktisch unbekannt ist, ist die dahinter liegende Geschichte religiöser Kriegsdeutungen und die Konfliktgeschichte um die Krise der städtischen Religion in den Jahren zuvor. Diesen beiden Aspekten gilt mein Augenmerk.
2. Krieg und Religion: Katholische Ratsherrschaft unter dem Zorn des Allmächtigen Das religiöse Selbstverständnis Rottweils geht zurück auf die Geschichte einer „unterbundenen" Reformation. 7 Nach einer bürgerkriegsähnlichen Eskalation konnte sich der Rat, gestützt auf die Untertanen der Landschaft und einen Teil der Bürgerschaft, gegen die der Stadtreformation zuneigende Partei durchsetzen: etwa 450 protestantische Bürger wurden aus der Stadt vertrieben. Der Glaubensstreit trug „das Gepräge eines Herrschaftskonflikts" 8 und festigte in seinem Ergebnis die politische Durchsetzungs- und 5
Vgl. jedoch jüngst: Winfried Hecht, Rottweil 1529-1643, Von der konfessionellen Spaltung zur Katastrophe im 30jährigen Krieg, Rottweil 2002, 121-157.
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Vgl. Winfried Hecht, Das Dominikanerkloster Rottweil (1266-1802), Rottweil 1991, 114-119; ders., Die Rottweiler „Augenwende" von 1643, Ereignis und Wirkung, in: 1643-1993, 350 Jahre Unsere Liebe Frau von der Augenwende Rottweil, o. O. o. J. [Rottweil 1993], 5-8. Vgl. demnächst: Andreas Holzem zum seufzen und wainen also bewegt worden...", Maria im Krieg - Das Beispiel Rottweil 1618-1648, in: Anton Schindling (Hg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, Tübingen 2004. Bernhard Rüth, Reformation und Konfessionalisierung in oberdeutschen Reichsstädten, Der Fall Rottweil im Vergleich, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 92 (1992), 7-34, hier: 9; Hecht, Rottweil 1529-1643, 13-23. Ebd., 22.
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religiöse D e f i n i t i o n s m a c h t d e s Rates. Z w e i E n t w i c k l u n g e n d e s Spätmittelalters w u r d e n dadurch perpetuiert: d i e oligarchisch-autoritären F o r m e n d e s Ratsregiments mit l e b e n s länglicher R a t s m i t g l i e d s c h a f t einer „ f e s t g e f ü g t e n , hochintegrierten
Personengruppe" 9
u n d die fast v o l l s t ä n d i g e K o m m u n a l i s i e r u n g d e s K i r c h e n w e s e n s unter katholischen V o r z e i c h e n . S c h o n der V o r s p a n n e i n e s j e d e n Jahrgangs der Ratsprotokolle w i e s auf d i e S e l b s t a u f f a s s u n g d e s R a t e s als christliche - näherhin katholische - Obrigkeit hin. N u r wenige Beispiele: Zu Beginn des Bandes 1617-1623: „Memento homo nobilis et dives in deliciis suis qualis est post mortem, in terra sepultus, et quid tunc proderunt omnes divitiae, nemo quippe unius diei certitudinem vivendi habet, nec impetrare potest a Papa bullam numquam moriendi." Zu Beginn des Jahres 1618: „Tu quod iura petunt facias pietatis amore. Nec metuas quenquam quis quis obesse velit." Zu Beginn des Jahres 1619 : „Dicere solebat, ut accepimus, Constantinus, Imperium fato dari: eum vero cui datum fuerit operam dare debere, ut imperio dignus fuisse videatur." Zu Beginn des Jahres 1626: „Initium Sapientiae Timor Domini - Judicate Pupillo et Pauperii." Zu Beginn des Jahres 1629: „In omnibus rebus respice finem, et qualiter ante districtum stabis Judicem, cui nihil est occultum, qui muneribus non placatur nec excusationes recipit, sed quod justum est judicabit." -
Zu Beginn des Jahres 1632: „Incipe perficies auxiliante Deo." Zu Beginn des Jahres 1641: „Anno salutis 1641 - Gott verleihe ain glückhseeliges, fridtfertiges, gesundes newes Jahr. Amen." 10
Fast s ä m t l i c h e Ü b e r n a h m e n v o n Ratsämtern u n d Ä m t e r b e s e t z u n g e n durch den Rat w u r d e n v o n r e l i g i ö s e n F o r m e l n begleitet. 1 6 3 8 galt d e m n e u e n Bürgermeister d i e B e i stand und V e r p f l i c h t u n g g l e i c h z e i t i g v e r h e i ß e n d e Bitte, „der Allmechtige Gott wolle ihme vil glückh hail vnnd alle wolfahrt verleihen, auch das Er gemainer stat wessen zum besten nuzen vnnd gedeylichen vfnemmen, mit guoter gesundtheit, lang vorstehn möge." 11
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Ebd., 29. Stadt A Rw, Ratsprotokolle (RPR), Bd. 1617-1623: Vorspann, fol. 2v.; Stadt A Rw, RPR 1618, Vorspann, p. 69; Stadt A Rw, RPR 1619, Vorspann, p. 134; Stadt A Rw, RPR, Bd. 1624-1631: Stadt A Rw, RPR 1626, Vorspann, p. 137; Stadt A Rw, RPR 1629, Vorspann, p. 353; Stadt A Rw, RPR, Bd. 1632-1639: Stadt A Rw, RPR 1632, Vorspann, p. 1; Stadt A Rw, RPR, Bd. 1640-1644: Stadt A Rw, RPR vom 02. 01. 1641, p. 115. Stadt A Rw, RPR vom 02. 01.1638, p. 623; vgl. schon Stadt A Rw, RPR vom 2. 1. 1634, p. 133.
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Fast identische Segensbitten um himmlische Unterstützung der Amtsführung widmete man auch den neuen Assessoren und gemeinen Ratsherren, dem neuen Schulmeister 12
oder Kapellenprediger. Diese Bitten waren mehr als eine leere Formel, weil sich daraus die konkrete Verpflichtung ergab, durch würdige Amtsführung, bei den Geistlichen zusätzlich durch ihr Gebetsgedenken, der Kommunalgemeinschaft das Wohlgefallen Gottes zu sichern. Nachdem aufgrund der dramatisch gesunkenen Bevölkerungszahlen eine Verkleinerung des Rates beschlossen worden war, begann man das neue Sitzungsjahr mit dem Wunsch: „Gott der Allmächtig verleihe, das es ein glückhlicher anfang seye, das angestelte newe Regiment zue gemainer Statt vnd Landtschafft nutzen vnd wolfahrt gereiche vnd gedeihe." 13 Eine Verordnung zu den Sitzungspflichten der Ratsmitglieder erinnerte an die „heilige Mess, bei deren sich zu mehrerer Erlangung göttlicher Gnade, Verstands und Weisheit alle und jede Ratsverwandten einzustellen" 14 hätten. Die Beförderung der Ehre Gottes und des Gottesdienstes um des Seelenheils der Städter willen wurde klar als Ratsauf gäbe verstanden. 15 Diese Selbstauffassung des Rates markierte auch seine Kriegsziele und seine Kriegsdeutung in politisch-militärischen Verhandlungskontexten. Gegenüber den sieben katholischen Orten der schweizerischen Eidgenossenschaft, der Rottweil seit 1519 als „zugewandter Ort" 16 angehörte, formuliert der Rat, dass er „zur Erhaltung des katholischen Glaubens Leib, Ehre, Gut und Blut daran setzen werde." 17 Nachdem die Stadt 1619 der katholischen Liga beigetreten war, gab sie ihre Schaukelpolitik zwischen der habsburgischen Kaisermacht, die in ihren Mauern politisch, sozial und wirtschaftlich vor allem durch das Hofgericht präsent war, und der sich vom Reich emanzipierenden Eidgenossenschaft weitgehend auf; das nachreformatorische Rottweil war ein „Muster-
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Stadt A Rw, RPR vom 23. 06. 1621, p. 330: „Gott der Allmechtig wolle ihme vil gnad glückh, seegen vnd beystand verleyhenn."; Stadt A Rw, RPR vom 28. 02. 1623, p. 460: „Pfarherr in der Capellen - Eodem. Herr Mgr: Johann Spon ist per maiora zuo einem Praediger in vnser Fr: Cappellen vf vnd angenomen worden, deme der Allmechtig vil glückh, gnad vnd seegen darzu verleyhen wolle." Stadt A Rw, RPR vom 02. 01. 1637, p. 525. Ordnung, wie es fürohin mit Besuchung des Rats gehalten werden solle, 17.01.1642: Stadt A Rw I, I. Abt. Lade XXXVI Fasz. 1 Nr. le. Vgl. Rottweil an Dr. Rieger, Fiskal des Bistums Konstanz, 16. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII Fasz. 3 Nr. 3b, fol. 2, 3, 4: „E. E. Rhat zue der Ehr Gottes vnd befürderung des Gottsdiensts" - „ad honorem Dei ob salute animarum" - „vel laudem et gloriam, in animarum salute et divinis officiis consistente"; vgl. auch Knubben, Alltagsleben, 187ff. Wilfried Enderle, Rottweil und die katholischen Reichsstädte im Südwesten, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Land und Konfession 1500-1650, Münster 1993, 214-230, hier: 218. Vgl. Geiselhart, Geschichte, 15.
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knabe der kaiserlichen Religionspolitik". Diese Haltung hat Rottweil während des Krieges konsequent beibehalten und immer wieder betont. In den württembergischen Besatzungsbedingungen des Jahres 1633 akzeptierte der Rat 2 000 fl. Kontribution monatlich, den Unterhalt einer 2 000 Mann starken Garnison, 6 000 fl. zur Ablösung einer Plünderung und 300 Rthr. für die Belassung der großen Glocke, um im Gegenzug bei ihrer Religion, ihren Freiheiten und Rechten und beim Reich bleiben zu können. 19 Zunehmend aber wandelte sich der Charakter des Arguments: Die Betonung, als des „hey: Rom: Reichs Statt Rottweil" wolle man unerschütterlich bei „Vnsers Vralten Catholischen Glaubens" bleiben und verstehe sich selbstverständlich „alß vralte vfrichtige, mit leib, guet, vnnd bluot, der Rom: Kays: Mayst: gantz ergeben, vnderthänigst gehorsambste bürgere", war nicht mehr länger eine stolze konfessionspolitische Identitätszuschreibung. Mitte der 1630er Jahre formulierte diese Selbstpräsentation vielmehr die beredte Klage über die „trangsahl, so Vnß auch von vnnseren glaubenß genossen gleichsamb schier stündtlich beschieht". In verzweifelter Verteidigungsabsicht gegen die Zumutungen der Konfessionsverwandten flehte der Rat, es könne doch die Absicht katholischer Fürsten nicht sein, „alß eines Vralten Stammes hoch beriimebten recht Eyfferiger Catholischer Fürst vnnd Herr, deroselben glaubenß genossen, vnd der Rom: Kays: Mayst: allezeit aller vnderthänigst gehorsambste Burgerschafft, gäntzlich vmb leib vnd Seel zuebringen [...]".
Deutlich wurde der Enttäuschung Ausdruck verliehen, „bey dem würtembergischen Überfahl, aller menschlichen hülff vnnd Recents destituiert" und eben darum so geschädigt worden zu sein, dass Kontributionserwartungen gerade katholischer Fürsten 20
aller Gerechtigkeit entbehrten. Wie 1635 gegenüber dem Markgrafen zu Baden als kaiserlichem Generalfeldwachtmeister argumentierte man 1644 auch gegen die Quartierforderungen der Bayern nach der siegreichen Schlacht bei Tuttlingen. Im Blick auf Kurfürst Maximilian von Bayern betont man, ihn „allen vorab Catholischen Reichsständen, als miltester Churfürst vnd Herr mit gnädigister höchstruomlicher Clemenz beigethan [zu] wissen", um im Gegenzug hervorzuheben, als „jeweils trewgewesenen altcatholische Stadt" sei man „so gar ohn allen vergibigen trost und hilf" geblieben, so dass man, „vom Reichs in feindtsnöten verlassen, sich 21 dessen Joch und gwalt" habe unterwerfen müssen, um nun mittellos da zu stehen. Der Kurfürst könne daher die vorausgesetzte „zue dieser jeweils gewesenen ganz Catholischen stat tragenden gnedigsten Affection" nur durch eine Minderung seiner Quartier- und Kontributionsfor-
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Rüth, Reformation, 31; unter Berufung auf Martin Brecht, Die gescheiterte Reformation in Rottweil, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 75 (1975), 5-23, hier: 8. Geiselhart, Geschichte, 45. Rottweil an Wilhelm Markgraf zu Baden und Hochberg, 09. 02. 1635: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 6 Nr. 1, fol. 3-5. Rottweil an Herzog Maximilian I., 04. 02. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 2 Nr. 8, fol. 3.
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derung bewähren. 22 Auch der Appell an Ferdinand III. von Habsburg folgt dieser Logik. Gerade weil man „E. Kais: Mtt [...] getrewest zuverdienen pflicht: vnd schuldwilligst" sei, hoffe man auf seine Intervention gegen die kurbayerischen Ansprüche in desolater Lage, „bei welcher beschaffenheit wir unsers Rhats vnd Verhaltens khein mittel wissen, dan allein E.K.Mtt, dahin wir dero ohnmittelbare Reichsunderthonen, nägst göttlicher hilf, vnd der Himmelkönigin Mariae trawer fürbitt, nunmehr unser ainzige Zuflucht trost, vnd hofnung sezen". 23
Gegen Unzumutbares, das aus bayerischer und damit katholischer Hand begegnet, gibt es nur zwei Autoritäten, die man in klarer Stufung anrufen kann: zunächst den Kaiser, darüber aber nur noch die Himmelskönigin und Gott selbst. Weit über solche indirekten Verklausulierungen hinaus steht in anderen Argumentation skontexten das Gottesthema für den Rat schlechterdings in der Mitte der kollektiven Deutung des Kriegsunheils. Denn gegenüber der eigenen Bürgerschaft und den Untertanen der Landschaft wird der Krieg als Zeichen des göttlichen Zorns über die Sünden des Volkes kommuniziert. Sichtbare Zeichen der Buße, des Gehorsams und der Unterwerfung seien die Voraussetzung, die göttliche Barmherzigkeit wiederzuerlangen. Klar und deutlich setzt der Rat die Ursachen des Massensterbens von 1633 auseinander: Denn „in waß eilendes betrübten stand, kummernus, Jamer, angst vnd noth, ain allgemeine Burgerschafft, durch gegenwertig langwirig höchstverderblich Kriegßwesen, sambt von Gott den Allmächtigen schickhenden Kranckheiten, vnd erfolgenden Todtsfählen" sich befinde, sei „anders nichts, alß die aigentliche straff Gottes [...] Vnserer Vilfältigen begangenen schwären Sünden halber". Die Stadt müsse „gegen Gott den Allmöchtigen, demütiger, vber vnsere begangene Sünden Rew vnd laidt haben, vnd allgemeinlichen Bußwerckh verloben vnd würckhen", dann werde Gott „vnß den schwären obhabenden Kriegßlast sambt anderen straffen, darmit Er vnß bißhero Väterlich heimbgesucht, abnemen, [...] vnd gemeß gestandenen grossen Laidts reichlich ergezen." Der Klerus sehe neben bisherigen Büß werken ein zwölfjähriges Gelübde als geeignet an, „aine Wallfarth, mit Creuz vnd Fahnen, auch sechs Priestern, so dan ab der herren stuben, vnd auß jeder zunfft zwelff Man in höchster devotion vnd andacht vff den dreyfeltigen berg zue lob vnd Ehren der hochhailigsten Dreyfaltigkeit zuverrichten", auf dass „vnser lieber Gott [...] seinen gefasten Zorn sinckhen, die verlohrne gnaden vnß wider scheinen, den lieben Friden ertheilen, vnd in den alten Ruewigen Stand vnßer allgemeines liebes Vaterland komen lassen.
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Rottweil an Herzog Maximilian I., 28. Ol. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 4 Nr. 2b, fol. 2.
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Rottweil an Kaiser Ferdinand III., 04. 02. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 2 Nr. 7, fol. 3-4.
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Dieweil das nun E. E. Rath solches für sich beraits geschlossen vnd bewilliget, alß hat man solches E: ganzen Erbaren gemaindt, Ob sie zugleich mit E. E. Rath, daß vorhabende Gliibd, gegen den Allmöchtigen Gott laisten, [...] ihren willen vnd schluss darüber einzuhollen, für aine noturfft ermessen [...] Immaassen alß deren nach gethonen glübd einen jeden sein gewissen dahin verbinden thuet: Nachdeme nun obiger Rhatsbeschaid in allen Zünfften abgelesen, ist derselbe von der ganzen burgerschafft allseines Inhalts einhölliglich approbirt, vnd deme mit fleiß nachzukomen eingewilliget, also den guetigen Gott durch eingesambtes allgemeines Votum obbeschriebene Wallfarth zue Versöhnung seiner Vnendtlichen Barmherzigkeit verheissen worden."24
Mehrere Elemente dieses bei Geiselhart 25 knapp zitierten, aber in seiner Motivstruktur gänzlich unberücksichtigten Gelübdes einer jährlichen Wallfahrt zum Dreifaltigkeitsberg bei Spaichingen verdienen hervorgehoben zu werden: Es ist der Rat, dem die religiöse Deutungshoheit über die Widerfahrnisse der Stadt zukommt. Daher beschließt zunächst der Rat über die religiösen Erfordernisse und erwartet von der Stadtgemeinde den Konsens. Dafür gibt es offenbar traditionelle, jedenfalls unwidersprochen vollzogene Prozeduren: Zwar betont der Magistrat die Einigkeit mit der Priesterschaft, aber er ist es, der zunächst für sich beschließt und bewilligt. Erst danach wird durch Verlesung in allen Zünften der Konsens der Bürgerschaft als „ganzer Ehrbarer Gemeinde" hergestellt. Der Gemeinwesenbezug dieser Frömmigkeit wird nicht nur in starken Formeln, sondern auch in einer Teilnahmeordnung gesichert, welche alle zentralen Gruppen der Stadtkommune der Rangfolge nach partizipieren lässt: nach dem Rat selbst und den Priestern die „Herrenstube", als Vertretung der Rentiers und Hofgerichtsprokuratoren, sodann die Abordnungen der Zünfte. Kreuz und Fahnen repräsentieren den Zusammenhalt geistlicher und weltlicher Gruppen. Sodann gilt es, die religiöse Logik des Gelübdes zu beachten. Die Heimsuchung ist als „väterlich" beschrieben, so dass familiäre Zuchtkonzepte zwischen Allmacht und barmherziger Milde auf das Gottesbild übertragen werden. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass der Rat seinerseits zahlreiche eigene (auch Straf-) Entscheide als „väterlich" kennzeichnet, so dass die Kriegserfahrung ein paternalistischständisches Stufenmodell von der Familie über die christliche Obrigkeit bis hin zu Gott selbst eher stützt als destruiert. Darüber hinaus kommt den Kriegs- und Krankheitskatastrophen - wenn sie durch Reue und Leid innerlich angenommen und geduldig ertragen werden - eine produktive Kraft zu, welche zeitliche Wohlfahrt und überzeitliche Gnade aus dem Bußwerk zu generieren vermag, und zwar im Maß der vorhergegangenen Leiden. Es handelt sich hierbei um ein den Psalmen entnommenes biblisches Argument (vgl. z. B. Ps 90, 15), das hier gleichwohl in einer strikt konfessionsspezifischen Variante begegnet, die nach lutherischem Rechtfertigungsverständnis schwerlich denkbar wäre. Das Bestehen auf höchster Devotion und Andacht und auf einer Bindung des Gewissens sichert die inten-
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Stadt A Rw, RPR vom 28. 12. 1633, p. 861ff. Vgl. Geiselhart, Geschichte, 53.
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tionsethische Internalisierung des Sündenarguments.26 Allein das bereitwillige Einstimmen in das Urteil Gottes sichert dem Bußwerk sündentilgende Kraft und himmlischen Ausgleich: so viel Leiden, so viel Wohlergehen. Was hier geschieht, ist also nicht Zitation einer Formel, sondern Konstruktion religiöser Praxis. Dies sind die Schnittstellen, an denen sich die Rechtfertigungstheorien der nachtridentinischen Barockscholastik - über den theologischen Selbstbezug einer klassischen Dogmengeschichte hinaus - in den Kriegsdiskurs hinein vermitteln. Gebets- und Andachtsliteratur transformierte zentrale theologische Leitsätze auf das Niveau eines allgemeinen Verständnisses herunter, so dass nicht nur die Kriegserfahrung, sondern auch das daraus abgeleitete Handeln politischer Gremien und die symbolische Praxis der Gemeinde in einem hohen Maß theologiegeleitet war. Dieser Konnex von Theologie und Alltagswelt ließ jene konfessionellen Identitäten entstehen, deren kollektive Einheitlichkeit und gleichsam .totale' Konkurrenz zu vergleichbar strukturiertem religio27
sem „Wir-Bewusstsein" die Bellizität Europas enorm erhöhte. Die Plausibilitäten der Kriegsdeutung in Rottweil sind ein an konfessionelle theologische Grundoptionen dicht angebundener Diskurs, der sehr konkrete Praxisformen einfordert, bis in das Innerste der beteiligten Personen hinein. Der Rat seinerseits 28achtete strikt - jedenfalls so lange der Krieg währte - auf die Einhaltung des Gelübdes. Die Erfahrung des Misserfolgs, die einschneidende Wahrnehmung, dass das Gelübde den göttlichen Zorn keineswegs sinken ließ, hat diese Deutungskultur nicht verändert, sondern verstärkt. Im März 1634, wenige Wochen später, dekretierte der Rat: „Nachdeme nunmehr auß ohnerforschlichen Willen Gots albereit die halbe burgerschafft seeligiich abgestorben, derowegen vnd da mit der Allmöchtig gütige Gott seinen gefassten Zorn sinckhen vnd so wohl von gegen wertigen laidigen KriegsEmpörungen, alß einfallenden Ruhten vnd Kranckhheiten vns samentlich gnädig:vnd väterlich erledigen vnd behüeten wolle, alß hat E.E. Rhat vff ain Vierzig-stündiges gebet [...] in dißer Pfarrkirchen [...] geschlossen [...] Lasset hierauf Ε. E. Rath alle vnd jede Innwohner dieser Stat Gaist: vnd Weltlichen [...] mit Ernst anbeuehlen, sich bey solchem Gottßdienst fleissig vnd eufferig zuerzeigen vnd einzustellen, nit zweiflende, der Barmherzige Gott durch dass inbrünstig, andächtig gebet widerumb versöhnet, vnd so grosse straffen vnd Plagen von vnß barmherziglich abwenden, vnd alles zu vnßeren Zeitlich: vnd Ewigen hail in besseren stand väterlich disponiren vnd ordnen werde
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Vgl. demnächst: Andreas Holzem, Das Buch als Gegenstand und Quelle der Andacht, Beispiele literaler Religiosität in Westfalen 1600-1800, in: ders. (Hg.), Normieren - Tradieren - Inszenieren, Das Christentum als Buchreligion, Darmstadt 2004, 225-262. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit, Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24 (1997), 509-574, hier: 550-555. Vgl. z. B. Stadt A Rw, RPR vom 30. 08. 1640, p. 82. Stadt A Rw, RPR vom 04. 03. 1634, p. 165ff.; zum Kontext der Ereignisse vgl. auch Ludwig Ohngemach, Stadt und Spital, Das Rottweiler Hl.-Geist-Spital bis 1802, Rottweil 1994, 29.
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Auch hier ist die Deutung des „verlorenen Krieges" im Blick auf Gottes Zorn und Barmherzigkeit ausführlich, klar und unhinterfragt formuliert. Der Rat fordert unmissverständlich die nach außen fleißige, vor allem aber auch nach innen eifrige Devotionspraxis der Stadtgemeinde ein und verbietet geradezu den Zweifel an der göttlichen Versöhnung. Es gab offenbar Grund für dieses Verbot, denn in der Stadt machte sich, gegen alle erfahrungsstabilisierenden Diskurse, die Verzweiflung breit. Als allein 1635 fast 600 Menschen an Krankheit und Hunger starben 30 und den anderen nur noch „deß elenden Kleyen brots [...] zue stillunng deß bluotigen hungers" blieb, als die Zahl „vnsere arme vnerzogene khünder, vnnd andere viel Vnzahlbare, Vatter, vnd Mutterlose elende verlaßne waisen" sich mehrte, als schlichtweg die „stündtlich vnd ohne vnderlaß, mit haissen trähern" vorgetragenen Bitten, „Gott wolle sich doch Vnsers elendts vnnd Jamers erbarmen", so offenkundig umsonst geweint waren, gerieten „viel wegen höchster Armuot in grosse Kleinmüetigkheit, vnd so gar, wie sich die herren Beichtvätter, wehemiietige beclagen wollen, vor gäntzlichen desperation schwerlich khünden errettet werden [,..]".31
Der Hinweis der Beichtväter war ernst zu nehmen. Denn die religiöse Verzweiflung, verstanden als fundamentale Skepsis gegenüber der Bereitschaft Gottes, mit dem einsichtigen Sünder um Christi willen barmherzig zu verfahren, galt als Todsünde. Wer in diesem Seelenzustand starb, war um jede Aussicht, im Jenseits der Hölle zu entkommen, betrogen. Bei der Rede von Zorn und Barmherzigkeit Gottes handelt es sich einerseits um einen klar erkennbaren Erziehungsdiskurs, dem aber andererseits bloßer Machiavellismus nicht unterstellt werden darf. Die Sorge um das jenseitige Seelenheil der im Diesseits so gequälten Bürger deutet darauf hin, dass es dem Rat mit der Bußbereitschaft der ganzen Stadt - die Mitglieder des Gremiums eingeschlossen - bitter ernst war. Und so war es erneut mehr als eine Redensart, wenn der Rat den katholischen Fürsten vorwarf, mit dem Unmaß ihrer Forderungen die geschundenen Menschen „gäntzlich vmb leib vnd Seel zuebringen".
32
Das Argument von Gottes Zorn und Barmherzigkeit implizierte die Vorstellung von der Grundlegung des Krieges, wenn nicht im Willen, dann wenigstens in der Zulassung Gottes. Diese Vorstellung ließ sich in zwei Richtungen weiter entwickeln: in den Gedanken der erhofften göttlichen Sieghilfe, aber auch den der wechselseitigen fürbittlichen Gebetshilfe. Beide Vorstellungen finden sich auch in Rottweil. Freilich ist der Gedanke göttlicher Sieghilfe keineswegs geläufig oder gar dominant, und wo er begegnet, wird er eigentümlich verhalten ausgesprochen. Er erscheint - in Gestalt einer Mischung aus Fluchformel und Fürbitte - im Hinblick auf die Notwendig-
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Vgl. Hecht, Rottweil 1529-1643,142. Rottweil an Wilhelm Markgraf zu Baden und Hochberg, 09. 02. 1635: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XL VI Fasz. 6 Nr. 1, fol. 2-3. Ebd., fol. 4.
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keit, die kurbayerische Armee zu verproviantieren und zu unterhalten, „von dero der feündt zue rueckh gehalten vnd abermalen (darumben der Allmechtige Gott ohnablässig vnd eyferig zuebitten) geschlagen vnd entlich vertilgt werde". 33 Eben so zurückhaltend zeigt sich das Motiv von Gott als dem Sieghelfer der katholischen Sache in der Deutung des Sieges bei Tuttlingen, die der Rat in einem Schreiben an Kurfürst Maximilian von Bayern formuliert. Er nimmt Bezug auf die „Anno 1634 bei Nördlingen erhaltene Siegreiche Schlacht" und die daraus für die katholischen Reichsstände gezogene „sehr grosser nuzen vnd fruchtbarkait". Der Sieg über Guébrians Truppen gilt als „wunderlich"; ob auch er in gleicher Weise „sanctificiren" werde, „wirdt verhöffentlich der allgemeine desto ehe volgende Reichsfriden, oder anderweitige glükhliche Effectus zuerkennen gäben". Der Schaden Rottweils aus der französisch-weimarischen Belagerung Guébrians gilt aber „wegen nachgevolgten guten effects für aine sonderbare provision Gottes" und als gedeckt durch den „ohnerforschlichen göttlichen willen vnd werken", zumal Bayern einen Kredit für die Beseitigung der schlimmsten Zerstörungen gewährt habe, worin „die gnaden Gottes, vns in andere weeg zuergözen, sich dergestalt [hätten] sehen lassen." 34 Die letzte Anrufung göttlicher Kriegshilfe gehört ebenfalls nicht in den Schlachtenkontext, sondern in die posthume Deutung von Kriegsfolgen: Die Stadt bittet den Bischof von Konstanz um Genehmigung, das Mauerwerk der zusammen mit der Au-Vorstadt völlig zerstörten Michaelskirche zur Ausbesserung der „fortification: werkhen" verwenden zu dürfen und verspricht, sich zum Ausgleich um so mehr der Wiedererrichtung eines erst 1623 gegründeten, aber bereits 1633 wieder zerstörten Kapuzinerkonvents in der Hochbrückvorstadt zu widmen. 35 Auch hier enthält die Begründung, „damit dan nun solches bei dem Allmächtigen Gott desto mehr verantwortlich, glükh, gnad vnd seegen, darbei sein möchte", 36 nur noch Spurenelemente des alten Motivs von Gott als himmlischem Alliierten in der Schlacht. Das Schreiben hat seine taktische Seite und erkennt die kanonische Jurisdiktion des Bischofs auch über untergegangene Kirchen an, aber darüber hinaus formuliert es den Konsens von geistlicher und weltlicher Obrigkeit als Voraussetzung, Gottes Gnade neu zu gewinnen. Letztlich hat das Erleben des Krieges die Einsicht befördert, dass angesichts völlig zusammengebrochener menschlicher Mittel allein die wechselseitige Fürbitte, freiwillig angeboten oder als Gebetsverpflichtung statuiert, Gott auf der Seite der bedrängten Bürgerschaft führen konnte. Priester, die ein unter dem Patronat des Rates stehendes
33
Rottweil an den Pfarrer von Epfendorf und Bösingen, 13. 07. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 5 Nr. 33, fol. 1.
34
Rottweil an Herzog Maximilian I., 28. 01. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 4 Nr. 2b, fol. 1-2.
35
Vgl. Winfried Hecht, Rottweil 1643-1802, Die späte Reichsstadtzeit, Rottweil 1999, 64. Rottweil an den Bischof von Konstanz, o. D.: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 5 Nr. 26, fol.
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1.
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Beneficium resignierten, dankten dem Rat „vmb hieuon erzaigte wolthaten" und boten an, „selbiges anderweitig mit seinem Priesterlichen gebet zuerwidern".37 Der Pfarrer von Epfendorf und Bösingen wurde zur Leistung einer Proviantfuhre aufgefordert, „wordurch dem armen burgerschafft vnd vnderthonen nit allein ein mitleydenlicher trost vnd Zuspruch gemacht, sondern auch erzaigt würdt, dass der H. sowohl mit seinem Priesterlich gebett, als als vberigen seinen zuthuen dem allgemainen wesen bei jetziger höchsten angelegenheit, seine beyhilff zulaisten sich angelegen sein lasse." 38
Ebenso wie die Geistlichen sehen sich auch die Dominikanerinnen der „Weißen Sammlung"39 als eine Gebetsgemeinschaft mit einem Fürbittbezug zu „ihrer" Stadt. Der aus einer Tertiarinnengemeinschaft und mehreren Frauenklausen hervorgegangene Konvent war schon 1632 in eine dramatische wirtschaftliche Abwärtsspirale gezogen worden und hoffte auf Entgegenkommen des Rates „zur mehrung vnserer Leibsnahrung vnnd Erleüchterung [...] bißhero abgehabten, schweren Lasts". Als Gegenleistung galt ihnen das Fortbestehen der Gebetsgemeinschaft des Konvents für die Obrigkeit, indem „wür lenger beysamen bleiben, vnndt Gott den Allmechtigen Schuldiger massen dienen khönden. Darbey wür E. E. fr. wt. Hr: vnnd Gt: [Herrn und Gott] in unserem alltäglichen armen gebett gegen seiner göttlichen Allmacht, vmb deroselben langwärige, gliickhliche, gesunde fridfertige Regierung vnnd allen prosperierende wohlstandt fiirbitlichen ingedenckh sein wollen. f...]" 40
Nicht zuletzt war das Angebot der stellvertretenden Fürbitte Bestandteil eines jeden Schreibens, welches die Milde der Kriegsfürsten bei der Behandlung der krisengeschüttelten Stadt evozieren sollte. 41 Dies sind die wesentlichen Motive, welche im Verständnisrahmen einer teils konfessionsübergreifenden, teils konfessionsspezifischen theologisch-pastoralen Topik das religiöse Kriegsverstehen in Rottweil prägten, Kriegserfahrung präformierten und eine
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41
Stadt A Rw, RPR vom 03. 04.1636, p. 449. Rottweil an den Pfarrer von Epfendorf und Bösingen, 13. 07. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 4 Nr. 33, fol. 2. Heinrich Maulhardt (Hg.), Pfarrei Heilig Kreuz Rottweil, Aspekte und Stationen ihrer Geschichte, Rottweil 1991, 12, 90; Hecht, Rottweil, 63. Priorin und Konvent der Dominikanerinnen der „Weißen Sammlung" an Magistrat Rottweil, o. D. [nach 1632]: Stadt A Rw I, I. Abt. Lade III Fasz. 1 Nr. 4: Die kleine Formel „schuldigermaßen" insinuiert die These von einer religiösen Dienstpflicht des Menschen gegenüber Gott als seinem Schöpfer, die, einmal verletzt, den Zorn Gottes über das Gemeinwesen hervorruft. Dies soll an anderer Stelle weiter entfaltet werden. Beispiele: Rottweil an Herzog Maximilian I., 04. 02. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 2 Nr. 8, fol. 4: „also wollen vnd sollen diese Churf. milteste gnad vmb E. Churfr. Dht wir vnderthenigst zuverdienen die tag läbens eingedenckh vnd beflissen sein, E. Churf. Dht dem Allmächtigen Gott zue glückh: vnd fridfertiger Churf. Regierung, langwirigen gesunden läben" empfehlen; vgl. auch Rottweil an Wilhelm Markgraf zu Baden und Hochberg, 0 9 . 0 2 . 1635: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 6 Nr. 1, fol. 6; sowie Rottweil an Kaiser Ferdinand III., 04. 02. 1644: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XLVI Fasz. 2 Nr. 7, fol. 4.
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symbolische Praxis von Votivmessen, Wallfahrten, Bitttagen und Gebetsverbrüderungen grundlegten. Gleichzeitig sollten diese Motive im Zusammenbrechen jeder Ordnung dennoch das Modell eines ständisch gestuften Kosmos aufrecht erhalten, Ratsherrschaft auch als Kirchenherrschaft und moralische Erziehungsinstanz legitimieren und den Argumentationsspielraum des Magistrats gegenüber den katholischen Vormächten erweitern.
3. Krieg, Religion und Kirchenkampf: Der Rat, die „Achtzehnmeisterschaft" und der Stadtpfarrer Jacob Khuon Nun entstanden und geschahen Kriegsdeutungen nicht abstrakt, sondern an konkreten sozialen Orten, indem Einzelpersonen und Gruppen innerhalb des politischen und religiösen Gemeinwesens das Verstehen des Krieges vermittelten und durchsetzten. Die Entscheidungswege, auf denen religiöse Plausibilitäten in politisches und gesellschaftliches Handeln übersetzt wurden, waren gesäumt von schweren Kontroversen. Hier ist die oben angeschnittene Frage der wechselseitigen Zuordnung von Rat und Geistlichkeit wieder aufzunehmen. Der Stadtpfarrer Jacob Khuon sollte während der gesamten Kriegszeit erheblich zur Krisenverschärfung in der von Angst und Tod geschüttelten Stadt beitragen, indem er gleichermaßen die politische Verfassung wie die religiöse Verfasstheit des Rottweiler Gemeinwesens in Frage stellte. Khuon, der von 1606 bis 1651 amtierte, war in der bisherigen Stadtgeschichtsschreibung nicht präsent. Er war Nachfolger von Magister Johannes Uhi, einem äußerst gelehrten und moralisch integren Priester, der zwischen 1559 und 1606 die Konfessionalisierung Rottweils im Sinne eines katholischen Humanismus enorm vorangetrieben hatte. 42 In einer vergleichbar langen Amtszeit ließ Khuon, der wie Uhi aus einer angesehenen Ratsfamilie stammte, von dieser fruchtbaren Aufbauarbeit wenig übrig. Die Pfarrkirche Hl. Kreuz war als Zentralkirche Rottweils neben der exemten „Predigerkirche" der Dominikaner 4 3 und der nur noch als Pfründe für katholischen Adelsnachwuchs bedeutsamen Johanniterkommende das religiöse Zentrum der Stadt. Sowohl die Kapellenkirche als auch die Kirchen im und beim Spital gehörten zum Pfarrsprengel von Hl. Kreuz. Seit 1406 war dem Rat mit dem Erwerb des Patronatsrechts die Kommunalisierung der Stadtpfarrkirche gelungen, weswegen in der Regel nachgeborene Söhne der Ratsfamilien als „Pfarrherren" amtierten. Der Pfarrrektor un-
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Vgl. Winfried Hecht, Zur Bildungsgeschichte des Rottweiler Klerus gegen 1600, in: Rottweiler Heimatblätter 52 (1991), H. 3, l f .
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terhielt aus dem durch Grund- und Zehntherrschaft äußerst reichlich dotierten Pfründeinkommen zwei ihm unterstellte Seelsorgepriester, die in den Quellen in der Regel als „helffer" bezeichnet werden. Die Jenseitsvorsorge spätmittelalterlicher Bürgerreligiosität hatte an Hl. Kreuz zahlreiche Altar-, Mess- und Kaplaneistiftungen hinterlassen; die von diesen Pfründen lebenden Priester, 1532 von 16 (inklusive St. Michael in der Au) auf zwölf begrenzt, bildeten als sogenannte „Präsenz" eine eigene Bruderschaft. Auch die Kaplaneien der Präsenz, eben so wie das Amt des Predigers in der Kapellenkirche, unterstanden dem Patronat des Rates. Gerichtsstand für den Rottweiler Klerus war das Konsistorium des Bischofs von Konstanz. 44 So viel - ganz knapp - zum Rahmen. Im März 1619 berichten die „gemainen herren Zunfftmeistem in gesesßnem Rath außfüerlich [...], waß die Meister die achtzehen vor denselbenn gösterigß tagß, wegen herren Jacob Khunß Pfarherrenß alhie, vmb willen seiner relaxation vndt Costanzischer Arrests erledigung nit ohne Betrawrung angebracht, sich auch vernehmen lasßen, fahlß sie herren Zunfftmeistem, daß Ihrig darbey vndt neben Ihnen nit thun werden, sie für sich selbst ein Erbare Gemaindt Zuuersamblen gemaindt, vndt Ire Pfarrherren kurtzumb ledig haben wollten [...]." 45
Die Brisanz dieser Notiz ergibt sich erst aus zwei Seitenblicken. Ein erster gilt der Stadtverfassung. Der „gesessene Rat" setzte sich spannungsreich zusammen einerseits aus den dreizehn Assessoren des kaiserlichen Hofgerichts - der Hofgerichtsschreiber war gleichzeitig Stadtschreiber — sowie andererseits im Rahmen einer klassischen Zunftverfassung aus neun Zunftmeistern sowie Vertretern der „Herrenstube", welche Rentiers und Hofgerichtsprokuratoren umfasste. Als „Kontrollorgan" und „institutionelles Gegengewicht" der Bürgerschaft stand dem oligarchischen und schichthomogenen Rat, dessen Mitglieder auf Lebenszeit gewählt wurden, die „Achtzehnmeisterschaft" gegenüber: Mindestens drei Mal im Jahr und bei für das gesamte Gemeinwesen wichtigen Entscheidungen wie Krieg oder Frieden musste das Gremium aus je zwei Vertretern der neun Zünfte gehört werden. Ein zweiter Blick gilt der im Protokoll nicht weiter erläuterten „relaxation vndt Costanzischer Arrests erledigung" für den Stadtpfarrer. 1640, auf dem Höhepunkt des Streits um seine Person, schrieb der Rat an den Generalvikar des Bistums Konstanz, Dr. Mohrstein, „wes gestalt vnderschidliche so gar nägste befreundten wider herren Jacob Kuon pfarherren zum hailigen Creuz alhie nit allein ob debita geklagt, sondern auch dessen leiblicher bruder Leonardus Kuon vnser mitburger ihne pfarherren propter contumaciam in die excommunication gebracht, darvber er sich iudicaliter einzulassen erbotten, von vns auch intercessionales erlangt, entlichen widerum sub forma iuris absolvirt vnd ledig erkent worden, dessen wir mit sonderem erfröwen berichtet [..J." 46
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Vgl. Maulhardt (Hg.), Pfarrei Heilig Kreuz, 15, 21, 28, 30, 97; Enderle, Rottweil, 219. Stadt A Rw, RPR vom 07. 03. 1619, p. 147. Rottweil an Dr. Mohrstein, Generalvikar von Konstanz, 14. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII Fasz. 3 Nr. 3a, fol. 1.
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Diese Informationen zusammen genommen können kaum anders interpretiert werden, als dass die Lossprechung des Stadtpfarrers Khuon von der durch den eigenen Bruder wegen nicht zurückgezahlter Schulden erwirkten Exkommunikation, die 1619 erfolgte, eine ernste Verfassungskrise auslöste. Der größere Teil des Rates, vor allem die Hofgerichtsassessoren, hielt an Khuon, den er schließlich selbst ins Amt gebracht hatte, fest und hatte die Lösung aus dem kleinen Bann durch „intercessionales" erfolgreich betrieben. Die Achtzehnmeisterschaft hingegen versuchte offenbar den Stadtpfarrer durch eine eigenmächtig einberufene Versammlung aus dem Amt zu heben, nachdem dies zu ihrer „Betrawrung" auf dem Wege der Exkommunikation nicht gelungen war. Sie versuchten nichts weniger, als die aus den Reihen ihrer Zünfte stammenden neun zunftmeisterlichen Ratsmitglieder zu zwingen, ihrem Kurs beizutreten. Die Achtzehnmeister hatten dadurch in den Augen des Rats die Grenzen ihrer Befugnisse gleich doppelt übertreten: zunächst politisch, indem „sie die achtzehen sich solchen vnbefüegten in selbst angemassten aignen gewaldts vndemehmenn sollen, ein Ehrsamer gmaindt ihres gefallenß zuuersamblen, da sie doch wissen sollenn, daß sie derwarts ja ohne beuelch ihrer zunfftmaistem khein Zunfft zusamblen beruffen oder in die Gemainst gebotten werden solle jetz zugeschweigen, daß ausserhalb etlich weniger im Rechtbuch begriffner Articuln vmb all ander sachen in eineß Ehrsamen Rathß Regierung, sie die Maister die achtzehen, weiters noch förnerß nit einzutringen zu beladen noch anzunehmen haben [...]."47
Darüber hinaus hatten sie in eklatanter Weise das Patronatsrecht des Rates in Frage gestellt, weil „die fürsehung auch verliehung der Pfarr, Pfründen vndt anderß deme anhängig [...] ainem Ehrsamen Rath allhie zustendig, vndt sie die Meyster die achtzehen mit gedachts Pfarrherrenß Persohn nichts zu thun [...]."48
Der Rat verlangte rundheraus und mit scharfer Strafdrohung gegen „Leib, Ehr, haab vndt güetern", die Achtzehnmeisterschaft solle „ihreß vornehmenß vnzümblichen anbestimmenß genzlich vndt gahr übrig sein, sich desßen enthalten, vndt ein Ehrsamenn Rath In seiner Oberkhaitlichen administration nit maß noch Ordnung geben [...].1,49
Der Rat war auch nach Einreden seiner Kontrahenten der festen Überzeugung, dass diese mit Fragen der Besetzung der Stadtpfarrei wie auch der Zunftvertreter im Magistrat ihre Kompetenz massiv überschritten, die bürgerliche Einigkeit zerstörten und den Rat angesichts der eingetretenen Kriegsproblematik ganz unangemessen belasteten „zu Zerstörung bürgerlicher Lieb, gleich: vnd ainigkheit vnd zu gemainen bürgerlichen Wesenß Zerrüttung".50 Erneut bezeichnete der Rat das Verhalten der Achtzehnmeister 47 48 49 50
Stadt A Rw, RPR vom 07. 03. 1619, p. 148. Ebd., p. 148f. Ebd. Stadt A Rw, RPR vom 11. 04. 1619, p. 168.
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als im höchsten Maße strafwürdig, beschränkte sich dann jedoch, möglicherweise notgedrungen und um einer Spaltung der Bürgerschaft auszuweichen, auf deren Androhung und eine „oberkheitliche vätterliche vnd güetige erinnerung" daran, dass sie „Einen Ehrsamen Rath [...] bey tragender Oberkhait fürbaß vnmolestert, nit weniger ire Zunfftmaister vndt Räth bey gemainer Stat vnd Zunfftsachen sowohl alß andere ziinfftige bey ihrer gerechtigkheit der session vnd stimm allerdingß verbleiben lassen vnd der schuldigkheit nach respectieren sollen." 51
Hier wiederholte sich in nicht unerheblichen Aspekten eine Konfliktkonstellation, die schon für die Geschichte der unterbundenen Reformation in Rottweil maßgeblich den Ausgang bestimmt hatte: Die Kirchenkrise um den Stadtpfarrer wuchs sich zur Herrschaftskrise aus. 52 Wenige Tage später verlangte der Rat „bey straf 50 lb. hlr." verbindliche Auskunft über das Gerücht, aus dem Kreise der Brüder Leonhard und Claus Khuon seien „wider ihren herren Bruder den Pfarrherren Jacob Khun ein oder mehr hitzige Privatschreiben nacher Costanz abgefertigt worden", 53 möglicherweise mit Billigung oder gar Beteiligung der Achtzehnmeisterschaft, was die verfassungs- und patronatsrechtliche Stellung des Rates fortgesetzt untergraben hätte. Alles dies hätte nicht geschehen können ohne handfeste Ursachen im Verhalten des Pfarrers selbst, und zwar weit über sein Finanzgebaren hinaus bis in den Kern seiner geistlichen Aufgaben hinein. Aus ersten deutlichen Beschwerden und Ermahnungen der 1620er Jahre, Jacob Khuon solle sich mit seinen teils vom Rat selbst eingesetzten Helfern „deß Tüschgelts halber [...] zuo dieser schwören theüren Zeit zue gebühr vergleichen vndt mit ihnen sonsten aliso verhalten vnd betragen [...], daß sie sich ihrem Standt gemäß ehrlich außbringen vndt füran ihr ambt der gebühr administrieren mögen" 54 , lässt sich unschwer schließen, dass er die Vikare, welche die eigentliche Seelsorgearbeit zu leisten hatten, gar nicht oder so unzureichend bezahlte, dass sie ihren Aufgaben nicht nachkommen konnten und allein durch ihr Auftreten die Würde des geistlichen Amtes in Frage stellten - mitten im Krieg, dessen Bewältigung so offenkundig besondere religiöse Anstrengungen der Stadt erforderte. Im Dezember 1625 erging seitens der Konstanzer Bistumsadministration ein Dekret, demzufolge Khuon „wegen seiner zugestandenen Leibs indisposition vnd ohnvermöglicheit nicht nit allein des Pfarrlichen einkhommens administration enteüsseren, sondern auch [...] den Pfarrhoff räumen vnd abtretten solle". Der Rat forderte seinerseits alle seinem Patronat unterstehenden Priester auf, sich um eine Präsentation zu bewerben, „wofehr sich jemandts vnder denselbigen Priestern der Cantzel vnd den Seelsorg ahnzunemen gewült." 55 Warum aus alledem nichts wurde und Khuon Pfarrherr von Hl. Kreuz blieb, ist bislang nicht geklärt. Erst 1634, unter dem Eindruck der nur mit Not überstandenen würt51 52 53 54 55
Ebd., p. 170. Vgl. Rüth, Reformation, 22. Stadt A Rw, RPR vom 16. 04. 1619, p. 171. Stadt A Rw, RPR vom 20. 06. 1623, p. 477. Stadt A Rw, RPR vom 19. 12. 1625, p. 135.
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tembergischen Belagerung und des allgegenwärtigen Sterbens, spitzten sich die Dinge dramatisch zu. Im Januar fasste der Rat alle seine Beschwerden über Amtsversäumnisse des Pfarrers in äußerster Schärfe zusammen: Messen und Vespern unterblieben; Kranke gingen aus dem Leben, ohne mit den Sterbesakramenten versorgt worden zu sein; er weigerte sich, mit der übrigen Priesterschaft Frieden, ja nur das gemeinsame Chorgebet zu halten, und enthielt den Seelsorgehelfern nach wie vor das Kostgeld vor, was sie veranlasste, Hl. Kreuz zu verlassen und auf anderen Pfründen ihr Auskommen zu suchen - kurz: „daß herr Pfarrer sein Schuoldigkheit, mit besuochung der Kürchen vnnd anschaffung ainer rechten Ordnung nit laistet", so dass „E: Ers: Rhat auß Oberkheitlicher vorsorg solches widerwertige weßen abzustellen, vnnd den Gotsdienst in sein rechte Ordnung zuebringen verursacht worden." Er stellte aus eigener Vollmacht Seelsorgshelfer an und vermahnte den Pfarrer „nochmahlen ganz väterlich vnd wolmainendt [...], Er wolle sein obhabendes Pfarrliches Ambt in gute obacht nemmen." Der Rat artikulierte gleichzeitig deutlich, dass „sonderlich bey jezigen schweren zeiten" der Zusammenhang von Krieg und Religion krisenhaft akut wurde: einerseits, weil „zu dißen betrüebten laidigen schweren zeiten" zur Befriedung der Gemeinschaft, aber auch zur Sicherung göttlicher Gnade, zur Milderung göttlichen Zorns und zum Ausgleich früherer Verfehlungen „daß gaistlich weßen vnnd die Seelsorg" ganz unabdingbar intensiviert und vertieft werden musste; zweitens, weil dort, wo angesichts des großen Sterbens die zeitliche Wohlfahrt ausblieb, „sonderlich was die Kranckhe betrifft" wenigstens das jenseitige Heil gesichert werden musste, damit keine „arme Seel verabseumbt vnd verkhürzt werden möchte"; drittens schließlich ging es darum, den Glauben in der kommenden Generation zu verwurzeln und den rechten Gottesdienst auch für die Zukunft zu sichern, weil „mit versehung der khinder Lehr, großer vnfleiß vnnd schlechte Ordnung verspürt, vnnd im werckh erfahren, daß die khinder sowol im beten als Catechismo schlechtlich vnderrichtet". 56 Im März 1634 eskalierte der Versuch, Krieg mit den Mittel der Religion zu bewältigen, in Rottweil zu einer umfassenden Kirchenkrise. Als der Rat wegen des Massensterbens das oben erwähnte vierzigstündige Gebet anordnete, „derowegen vnd damit der Allmöchtig gütige Gott seinen gefassten Zorn sinckhen vnd so wohl von gegenwertigen laidigen KriegsEmpörungen, alß einfallenden Ruhten vnd Kranckhheiten vns samentlich gnädig:vnd väterlich erledigen vnd behüeten wolle", 57
verweigerte der Pfarrer mehrere Tage lang jede Kooperation und ließ nicht einmal mehr die Ratsdeputation vor, die beauftragt war, die Durchführung mit ihm zu verhandeln. Diese Situation brachte nicht nur den Rat, sondern auch die Stadt an einen religiösen Siedepunkt, den der Rat nur noch mit einem gegen den Unwillen des Stadtpfarrers durchgesetzten Bußwerk unter Kontrolle halten konnte:
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Stadt A Rw, RPR vom 24. Ol. 1634, p. 138-141. Stadt A Rw, RPR vom 04. 03. 1634, p. 165ff.; vgl. das ausführliche Zitat in Anm. 28.
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„Nachdeme aber Ihme Pfarrherren solches nit allerdings gefallen vnd belieben, oder absolute darein consentiren wollen, alß hat E. E. Rhat zue Ihme Pfarrherren vff gesterigen tag ihre obermelte deputirten nochmalen abgeordnet, in meinung ihne zuerbiten, dass biß nägst körnenden Sontag Reminiscere, das Vierzig stündig gebet angefangen, vnd in heutiger Predig öffentlich zue allgemeiner Wissenschaft verkiindt werden solle: dieweilen aber mehrgemelter Pfarrherr die verordneten so gar in irem vorbringen nit anhören, oder für sich lassen, noch ihnen sein gemüth erklären wollen, alß hat E. E. Rath darab grosses Missfallen vnd Verdruss geschöpfft, vnd dannoch zu der Ehr Gottes, vnd vnsers allgemeinen Vaterlandts höchsterfordernder noturfft, obvermeltes Vierzigstündiges gebet biß künfftigen Sontag anzustellen, einhölliglich decretirt vnd entschlossen." 58
Erst 1634 also, als die politisch-militärische Krise und die Not der Stadtgemeinschaft ebenso offenkundig wurde wie die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Pfarrers, sie religiös zu beantworten, ging der Rat seinerseits in Opposition zu jenem von Teilen der Bürgerschaft und der Zünfte bereits seit 1619 als skandalös empfundenen Geistlichen, welcher mit seinem Amt die zentralen Aspekte kommunalen Christentums gerade unter den Bedingungen des Krieges unausgefüllt ließ. Der Rat drohte die von ihm stets beanspruchte religiöse Ordnungs- und Deutungshoheit über die Stadt und damit auch seine Befähigung und Autorität zum religiösen Erziehungsdiskurs zu verlieren, weil er die dazu erforderliche pastorale Praxis beim Klerus der Stadt offenbar nicht mehr durchsetzen konnte. Da Khuon dem städtischen Gerichtswesen gegenüber exemt war, besaß die Obrigkeit gleichzeitig kaum eine Handhabe für wirksame Maßregelungen - hier war und blieb katholischer Kommunalisierung des Kirchenwesens eine Grenze gezogen. Das war um so dramatischer, als gleichzeitig nur Tage später der Oberpfleger der Kapellenkirche „vnßer lieben Frawen" mitteilte, die Einnahmen aus der Pfründstiftung des Kapellenpredigers und -kaplans seien so drastisch zurückgegangen, dass die Geistlichen „den Gotsdienst genzlichen einzustellen vnnd zuvnderlaßen getrungen worden". 59 Drei Maßnahmen blieben: 1634 begann der Rat erstmals, Teile der Zehntfrüchte des Pfarrhofs sicherzustellen, um daraus seinerseits die vernachlässigten Helfer zu bezahlen und sie auf diese Weise an die städtischen Seelsorgeaufgaben zu binden. Zum anderen begann der Magistrat, mit M. Jacob Herderer gezielt eine personelle Alternative zum ungeliebten ersten Geistlichen der Stadt aufzubauen. Herderer wurde zunächst vom Rat als Helfer angestellt, dann mit Hilfe des Bischofs von Konstanz in einem ausgeklügelten Vertragswerk als Vizerektor der Stadtpfarrei durchgesetzt. 60 Herderer hatte offenbar alles, was Khuon vermissen ließ: als spirituell engagiert, moralisch integer, gebildet und fleißig beschreiben ihn die Quellen. Nicht zuletzt gestattete der Rat, Goldvotive der
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Ebd., p. 166. Stadt A Rw, RPR vom 22. 03. 1634, p. 173. Vgl. Stadt A Rw, RPR vom 24. 01. 1634, p. 139ff.; Stadt A Rw, RPR vom 08. 05. 1634, p. 204207; Vertrag zur Bestellung eines Vizerektors für die Pfarrkirche Hl. Kreuz: Rottweil, 07. 01. 1634: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade XI Fasz. 8 Nr. 1, fol. 1-3.
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Kapellenkirche zu verkaufen, um die dortigen Priester zur Fortsetzung ihrer geistlichen Aufgaben zu veranlassen. 61 Wie schwierig dieser Weg zu beschreiten war, zeigt der Fortgang der Affäre bis zum Katastrophenjahr 1643, in dem sich nach der französischen Belagerung und im Zusammenhang der umstrittenen Übergabe der Stadt das bislang zum Thema .Krieg und Religion' fast ausschließlich berücksichtigte Wunder der Augenwende einer Marienfigur in der Dominikanerkirche ereignete. Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Vizerektor und Pfarrherr misslangen, weil letzterer die vereinbarte Autonomie des ersten nicht achtete, 62 Kinderlehre und Gottesdienste - selbst die mitternächtliche Christmette - in der heftigsten Weise störte, grob beleidigend, ehrverletzend und sogar handgreiflich wurde. 63 Klar wird darauf verwiesen, wie gefährlich es für das Heil der Stadt sein müsse, dass durch „dergleichen vngemach vnd ärgerliche attentata zue Verhinderung Gottesdienst [...] großer vbel vervrsachet werde". 64 Bereits nach kurzer Zeit resignierte Herderer auf sein Vizerektorat trotz großer Zufriedenheit mit seiner Amtsführung. 65 Wichtig auch hier der Zusammenhang zum Krieg: Für die göttliche Sieghilfe ist das ungeordnete Gottesdienstwesen der Stadt höchst schädlich, aber der Krieg selbst verhindert gleichzeitig eine wirksame Änderung, „dieweil ilio tempore propter impedimenta bellica dises gaistlichen Kriegs sich niemandts angenomen". 66 Erst 1640 konnte der Rat Khuon „wegen seiner vielen, ärgerlichen vnd ganz destruierlichen Excessen zue 61 62
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Stadt A Rw, RPR vom 22. 03. 1634, p. 174. Vgl. Stadt A Rw, RPR vom 08. 05. 1634, p. 206: „da der viceRector sein Ambt ohne sonderer fähl vnnd mängell administriren werde, daß ihme herr Pfarrer in regimine et administratione Chori, et Cleri, Aedituorum et Choralium zue verhuetung ohnvermeidenlicher Confusion nit eingreifen oder eintrag thuen solle, alß habe es dabey sein verbleiben: Im Vbrigen aber vnd da Processiones, bettäg, vnd dergleichen Actus sey angestelt wurden, solle es inter Parochum et viceRectorem communicatio Consilio angesehen, vnd so wol hierinnen, alß auch zue anderen fahlen gutes vertrawen, corr e s p o n d e d , vnd fridliebenden verstand zue Pflanz: vnd Mehrung deß Gottßdienst gehalten werden." Vgl. Stadt A Rw, RPR vom 21. 03. 1641, p. 154: „ein ärgerlichen Vnhandel angefangen vnd Hn. Mgr. Jacob Herderer Confirmirten Pfarr Vicario ahn Verrichtung schuldigen Gotsdienstes eintrag vnd Verhinderung zuthuen sich Gewaltthätig vnderstanden"; Rottweil an Dr. Mohrstein, Generalvikar von Konstanz, 14. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII Fasz. 3 Nr. 3a, fol. Iff.: „aber nit lang gehalten, sonder in wenig zeit hernach von ihme pfarherren, vnd ohne sein ViceRectoris gegebene geringste vrsach gebrochen, Er ViceRector höchlich vnd ganz schmählich a parocho verbis et ruptis iniurirt, hingegen a viceRectore ad sui defensionem retorquirt vnd dadurch desertio viceRectoratus vervrsachet", sowie die bitteren Vorwürfe, die der Rat dem Pfarrer gegenüber dem Bischof, dem Generalvikar und dem Fiskal von Konstanz machten: Rottweil an Dr. Mohrstein, Generalvikar von Konstanz, 14. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII, Fasz. 3 Nr. 3a, fol. Iff.; Rottweil an Dr. Rieger, Fiskal des Bistums Konstanz, 16. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII, Fasz. 3, Nr. 3b, fol. 1-4. Stadt A Rw, RPR vom 21. 03. 1641, p. 153. Rottweil an Dr. Rieger, Fiskal des Bistums Konstanz, 16. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII Fasz. 3 Nr. 3b, fol. 4. Ebd., fol. 1.
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verhüetung grösseren vbels von seinem pfarambt gänzlich [...] amouieren", 67 indem er nun Johann Herderers 68 Bestellung zum Vizerektor beim Bischof von Konstanz durchsetzte, diesmal in einer Weise, die dem Pfarrer Khuon keinerlei Eingriffsmöglichkeiten mehr ließ und ihm für den Fall weiterer Skandale unmissverständlich seine Ausweisung aus dem Pfarrhof androhte. Bereits im Oktober 1639 waren auf Anweisung aus Konstanz seine sämtlichen Pfarrdotierungen und Pfründeinkünfte unter Zwangsverwaltung gestellt worden, weil er aus eigener Initiative offenbar von seinem Schuldenberg nichts abtrug. 69 Ihm selbst blieb nur die unmittelbare Notdurft. Gleichzeitig wird erkennbar, dass nach dieser weitgehenden Beiseitesetzung des Stadtpfarrers Jacob Khuon das als allein gedeihlich verstandene Einvernehmen zwischen Magistrat und Vizerektor, zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit offenbar wieder hergestellt worden war. Im Juni 1643 dekretierte der Rat „drey bettäg für die Liebe veldtfrüchten, [...] wie solche von herren PfarrVicario fürgeschlagen", und die obrigkeitliche Autorität reichte hin, um „aus jedem haus ein persohn darbey zuerscheinen bei straff 1 lb. hlr" aufzubieten. 70 Der Rat ist hier offenbar wieder im Konsens mit der religiösen Definitionsmacht des Pfarrvikars, den er selbst durchgesetzt hat. Als im Juli 1643 die französisch-weimarischen Truppen zunächst zurückgeschlagen werden konnten, sollte sich dieses Einverständnis in einer glänzenden Festprozession - so weit im schwer kriegsgeschädigten Rottweil Glanz noch herzustellen war — niederschlagen. Auch hier war es der Vizerektor Magister Johann Herderer, der jene Motive vorgab, welche der Rat anschließend sanktionierte und zu strafbewehrter Partizipation durchsetzte: „Vff einkhombenes Memoriale von Herren Pfarrvicario Magro Johan Herderern, waßgestalten Gott dem Allmechtigen vnd seiner Lieben Muetter Mariae, zue sonderbarer Ehre, lob vnd Danckhsagung vmb jüngst den 26 len July gegen dem Feünd erhaltene Victori auf morgigen tag eine Procession vnd Gottsdienst gehalten werden mechte, ist decretiert, das angeregte Procession vnd Gottsdienst dem Memoriali gemäs in allweg gehalten werden, vnd darbei Meniglich Jung vnd Alt vnd jeder bei straaf 1 lb. wax sich einzustellen schuldig sein solle."71
Um so bemerkenswerter ist, dass der Rat im Anschluss daran eine Kommission einsetzte, welche in Abstimmung mit dem Vizerektor Herderer ein erneutes Gelöbnis der Stadt zu entwerfen hatte, woraufhin die alten Konsensrituale wieder vollzogen werden sollten, die schon für das Wallfahrtsvotum zum Dreifaltigkeitsberg 1635 angewandt 67
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70 71
Rottweil an Dr. Mohrstein, Generalvikar von Konstanz, 14. 04. 1640: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII Fasz. 3 Nr. 3a, fol. 3. Das Verwandtschaftsverhältnis zu Jacob Herderer ist noch zu klären. Vgl. Mandat der bischöfl. Kanzlei an den Rat von Rottweil, 09. 11. 1638: Stadt A Rw II, I. Abt. Lade VIII Fasz. 3 Nr. 2; Stadt A Rw, RPR vom 06. 10. 1639, p. 820f. Die Sequestration und anschließende Verwaltung war alles andere als einfach und konfliktfrei, vgl. Stadt A Rw, RPR vom 10. 01. 1640, p. 2; Stadt A Rw, RPR vom 09. 02.1640, p. 8; Stadt A Rw, RPR vom 11. 04. 1640, p. 27f.; Stadt A Rw, RPR vom 07. 07. 1643, p. 538 und passim. Stadt A Rw, RPR vom 16. 06. 1643, p. 525. Stadt A Rw, RPR vom 28. 07. 1643, p. 553.
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worden waren: Auch der Konsens der Achtzehnmeisterschaft konnte nun wieder eingeholt werden, weil er a priori als gesichert gelten konnte: „Votum zuthuon vmb erhaltenen Victori gegen den feiind - Sonsten hat Ε: E: Rhat den Herren verordneten gewalt gegeben, mit zuthun herren Pfarrvicarii zuedeliberieren, wie vnd waßgestalten dem Allmechtigen zue lob vnd Ehr, auch ewig gedächtnus ain Votum am bestenn beschehen möge alsdan wider vor Rhat referirt, vnd für die Maister der Achtzehen, vnd gantze burgerschafft gebracht, auch hierin ein endtlicher schluss gemacht werden solle." 72
Ebenso bemerkenswert ist das Ergebnis der Konsultation. Gelobt und versprochen wurde, den Festtag der Mutter Mariens, der hl. Anna, „fürohin zu ewigen Zeiten" besonders feierlich zu begehen „sambt sonderen darbei angehenckhten gueten vnd eyferigen fümemmen", über deren genaue Beschaffenheit sich das Ratsprotokoll leider ausschweigt. Keineswegs schweigsam hingegen ist das Dekret hinsichtlich der klaren Erwartung, die gesamte Bürgerschaft und namentlich ihre Vertretung in einem in früherer Zeit enorm schwierigen Gremium werde sich dieser Einsicht in eine not-wendende Form der pietas und devotio keinesfalls verschließen können: „Allgemaines Votum vnd andere guete fürnemmen - Heüt dato hat E:E: Rhat das jüngst den 17ten dies, durch die Herren Verordnete mit Zuziehung des Herren Pfarvicarii, wegen neülich gegen den feündt erhaltener Victori, dem Allmechtigen Gott zu Lob vnd Ehr versprochene vnd auf das papier auch an heute abgelesene Votum, namblichen St: Anna Festum fürohin zu ewigen Zeiten feürlich zuhalten, durch einhelliges Votum begriffener maßen ratificirt, mit dem anhang, daß solches fürderlich für die Maister der Achtzehen vnd ganze Erbarn Gemaindt gebracht vnd derselben samptliche mainung in gleichem hierüber vernommen werden solle getroster Zuuersicht weil solches alles ainig vnd allein zue der Ehr vnd Lob Gottes, vnd aller Hailigen Gottes angesehen. Allß will E:E: Rhat verhoffen, Eine gantze Erbare Burgerschafft hierinnen zuewihlfahrung genaigt sein werden."73
Damit war es ohne Zweifel der vom Rat ein- und gegen zahlreiche Schwierigkeiten durchgesetzte Vizerektor von Hl. Kreuz Johann Herderer, der in die kollektive religiöse Verarbeitung von Kriegserfahrung das Marienthema nachdrücklich einbrachte - ein Thema, welches der städtischen Religiosität sicherlich keineswegs fremd war, aber eben doch nicht in so erkennbar akuter Nähe zur Erfahrung von Sieg und Niederlage stand wie im Krisenjahr 1643. Gleichzeitig standen Lob und Ehre des Sommers in einem scharfen Kontrast zu Tränen und Sterbensverweis des Herbstes: Eine weinende Maria erbleicht und blickt in bezeichnendem Wechsel auf ihr todgeweihtes Kind und die zertrümmerte Stadt. Es sind die durch die Kriegsereignisse völlig niedergedrückten Dominikaner und der wirtschaftlich und spirituell in die Enge getriebene Kapellenprediger, welche die geistlichen Hauptpersonen des Ereignisses geben. Vor diesem Hintergrund verdienen die Quellen zur „marianischen Augenwende in Rottweil" eine weitere Le74 sung. 72 73 74
Ebd., p. 553. Stadt A Rw, RPR vom 27. 08. 1643, p. 574. Vgl. oben, Anm. 6.
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4. Krieg und Religion in Rottweil: interimistische Thesen Dieser Beitrag verfolgte ein dreifaches Ziel in drei Gliederungspunkten. Er wollte erstens Kriegserleben sichtbar machen in der Art, in der diese Erlebnisse zeitgenössisch beschrieben wurden. Es ging dabei ausdrücklich nicht um eine detaillierte Rekonstruktion faktischer Verläufe, sondern um die Repräsentation ihrer Wahrnehmung. Zweitens galt es den Deutungsrahmen religiöser Kriegserfahrung abzustecken, der in der Stadt machtgestützt und öffentlichkeitswirksam zur Geltung gebracht wurde. Gleichzeitig sollte die Interdependenz dieses Deutungsrahmens mit konfessionsspezifischen theologischen Grundannahmen aufgewiesen werden. Drittens sollte dieser religiöse Kriegsdiskurs als sozialer Prozess rekonstruiert werden. Es ging um den Aufweis, dass eine Stadt, auch wenn sie sich als „corpus christianum im Kleinen" (Berndt Hamm) verstand, unter dem Druck der Kriegsbelastungen keineswegs als homogene Christengemeinde agierte, sondern auch in der religiösen Bewältigung des Kriegserlebens von Spaltung und Scheitern bedroht war. Nur sehr komplexe religionspolitische Prozeduren konnten die kollektive Vorstellungswelt und Praxis so weit retten, dass um das jenseitige Los der zahlreichen Opfer nicht mehr gebangt werden musste, wo ihrer diesseitigen Wohlfahrt nur mehr geradezu verzweifelte Akte der Buße und Fürbitte gewidmet werden konnten. Aus dem bisherigen Stand der Untersuchung heraus werden folgende Thesen mit zunächst begrenzter Reichweite für den unmittelbaren Untersuchungsgegenstand generiert. Für Rottweil als möglicherweise „typische" katholische Reichsstadt in den Jahren zwischen 1618 und 1648 gilt: These 1:
These 2:
Über Kriegserleben wird im Wesentlichen berichtet als eine Kette von Bedrohungen, die von Beeinträchtigungen des alltäglichen Lebens bis zu schockartiger Unterbrechung des Weltverstehens reichen. Die archivalisch erhaltenen Konzepte späterer Reinschriften zeigen eine Tendenz, die Drastik der Berichte rhetorisch zu steigern, dahinter aber steht die emotionale Qualität jeweils „äußersten" Erleidens. Religiöse Kriegsdeutung ist ein gleichzeitig politischer Diskurs, der die verfassungs-, kirchen-, konfessions- und bündnispolitische Rolle des Rates herausfordert. Der Rat reklamiert auf allen diesen Feldern seine Deutungshoheit. Daher hat der religiöse Kriegsdiskurs eine Vielzahl von Themen: eine konsequente Selbstdeutung des Rates als christkatholische Obrigkeit; eine Selbstpräsentation als kaiser- und ligatreue Bürgerschaft, die von katholischen Fürsten um der Gerechtigkeit und Loyalität willen nur begrenzt in Anspruch genommen werden darf; einen Erziehungsdiskurs um die Bußfertigkeit der Stadt angesichts des erkennbaren Gotteszornes über vorhergegangene Sünden einschließlich der Verpflichtung, an die Barmherzigkeit Gottes gegenüber reuigen Sündern zu glauben — es ist gerade dieser Aspekt
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These 3:
These 4:
These 5:
These 6:
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religiöser Kriegsdeutung, der durch das Kriegserleben am stärksten strapaziert wird und erkennbar Risse zeigt; die verschleiert-verhaltene Hoffnung auf die Parteilichkeit göttlicher Sieghilfe und die wechselseitige Zusage fürbittenden Gebets an den Grenzen menschlicher Mittel. Je katastrophaler der Krieg erlebt wird, desto vielstimmiger wird seine Deutung. Es gibt letzten Endes keine Hierarchie der Bedrohungen menschlichen Lebens und in diesem Sinne keine Exzeptionalität religiöser Kriegsdeutung. In der Begründungsstruktur durch den Zorn Gottes und die Sündhaftigkeit des Volkes ist der Krieg eine gottgesandte Katastrophe wie Menschen- und Viehseuchen, Fruchtfäule, Hungersnöte u. a. auch. Das lässt sich sowohl im diachronen wie im überregionalen Bereich belegen: Die Argumentation der kollektiven Verantwortlichkeit des Gemeinwesens für den Zorn Gottes, die Deutung verschiedenster Widerfahrnisse als himmlische Antwort auf die eigene Unchristlichkeit des Alltags, auch der Katalog möglicher Bußwerke ist kein Spezifikum des Dreißigjährigen Krieges. Am großen Fürbittgebet des Stadtpfarrers Johannes Uhi vor 161875 lässt sich das eben so belegen wie an zahlreichen Edikten aus nordwestdeutschen katholischen Territorien des 17. und noch 18. Jahrhunderts. 76 Beobachtbar ist jedoch, dass der Krieg als Kumulation sämtlicher dieser Bedrohungen erlebt wird. Die Kriegserfahrung zwischen 1618 und 1648 veränderte den religiösen Diskurs nicht, sondern bestätigte und verfestigte ihn. Der Dreißigjährige Krieg beließ weitgehend die überkommenen religiösen Logiken, setzte sie aber angesichts dramatischer Ereignisfolgen um so dringlicher in Geltung. Dass konfessionelle Homogenität Freundschaft und wechselseitige Rücksichtnahme bedeuten könnte, diese Hoffnung zerstob gerade für einen marginalen Reichsstand schnell. Die faktischen Auswirkungen des Krieges unterschieden kaum nach Freund und Feind. Allerdings gab es mit den katholischen Führungsmächten - allen voran Habsburg und Bayern - ein Konzept gemeinsamer Loyalitäten, auf das man sich gestuft berufen konnte: die gemeinsame Konfession und das verbindende Heilsinteresse - die schirmende Kraft der katholischen Kaisermacht - die Einflusssphäre des göttlichen Willens und der jenseitigen Alliierten'. Diese Hierarchie der Berufungsinstanzen war bei der Abwendung von konkreten Kriegslasten allerdings nur mäßig erfolgreich. Kriegserfahrung als religiös gedeutetes und durch Praxis beantwortetes Erleben ist ein konfliktreicher sozialer Prozess. Die Vorstellung einer homogenen Bürgergemeinde allein aufgrund des konfessionellen Gleichklangs
Vgl. Maulhardt (Hg.), Pfarrei Heilig Kreuz, 22f. Andreas Holzem, Religion und Lebensformen, Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800, Paderborn 2000, 285-382.
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ist irrig. Religiöse Deutungshoheit ist nie unumschränkt, sondern bedarf der Prozeduren von Partizipation und Konsens. Beim Vollzug dieser Prozeduren stößt der Rat vor allem dort an Grenzen, wo der durch eine kommunale Kirchenhoheit personalpolitisch steuerbare Klerus sich seiner spirituellen Aufgabe verweigert. Die aus solchen Konstellationen erwachsende innenpolitische Instabilität ist ebenso weitreichend wie die Ansprüche des Rates auf Dominanz in Religionspolitik und Alltagsmoral. Glauben und religiöse Praxis gehen nicht in sozialen Strategien auf. Dennoch ist nach solchen Kontexten auch für das Rottweiler Wunder der „Augenwende" Mariens neu und verstärkt zu fragen. These 7:
Hier wird die Auffassung bereits eingangs vertreten und in der Darstellung zu plausibilisieren versucht, dass von einer Kriegsniederlage sinnvoll nicht erst am Ende eines Krieges gesprochen werden kann, ja, dass das „Unterliegen" für viele ein Teil des Kriegsverlaufes und nicht erst des Kriegsendes ist. Im Horizont der Erfahrungsgeschichte berücksichtigt ein der klassischen Militärgeschichte abgeschauter Begriff der „Kriegsniederlage" nur sehr spezifische, in der Regel politisch-militärische Rollen, während er die Erlebnisse anderer und deren Deutung vernachlässigt. Abgesehen davon, dass mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden von 1648 der Niederlagen-Begriff auch auf der politisch-militärischen Ebene ohnehin wenig erklärt, 77 würde ein solcherart eingeengtes, wenn auch lang eingespieltes Bild der Niederlage wesentliche Erfahrungsmomente des Verlierens im und durch Krieg ausblenden. Für die „vf den eyssersten gradt außgemerglet[en]" Menschen in Rottweil bedeutete 1648 keine Zäsur. Ihr großes Centenarium begingen sie 1743 zur „Augenwende", nicht 1748 zum Westfälischen Frieden.
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Vgl. Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, 154-198, v. a. 161-165; jüngst zusammenfassend: Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, 4. Aufl., München 1999, 7782. Vgl. Sgeculum Rottwilano-Marianum, Oder Hundert-Jährig-Marianisches Jubel- und Danck-Fest, Verordnet Von einer Hochlöblichen Freyen Reichs-Statt Rottweil zu danckbarer Gedächtnuß jener wunderbarlichen Augen-Wendung und Veränderung des Angesichts / welche sich Anno 1643, an der Marianischen Bildnuß auff dem Rosenkrantz-Altar in dem Löblichen Gotts-Hauß Ord. FFr. Praedicatorum daselbst mit allgemeiner Erstaunung zweymahlen zugetragen [...], Cum Praescitu & Consensu Superiorum, Getruckt zu Rottweil bey Joan. Thaddaes Feyrer Anno 1744; vgl. auch Hecht, Dominikanerkloster, 156-161.
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1. Päpstlicher Protest und katholische Verluste Der Papst protestierte 1648 gegen den Westfälischen Frieden wegen der Säkularisation von geistlichen Fürstentümern der Reichskirche zugunsten von weltlichen protestantischen Fürsten.1 Diesen päpstlichen Protest hatte eine Gruppe von kompromissunwilligen katholischen Reichsständen auf den Weg gebracht, die sich um den päpstlichen Nuntius in Münster, Fabio Chigi, den Fürstbischof von Osnabrück Franz Wilhelm von Wartenberg und den Vertreter der schwäbischen Reichsklöster, den gelehrten Benediktiner Adam Adami, gesammelt hatte. Im ähnlichen Sinne argumentierte der gleichfalls aus Schwaben beauftragte Reichsstädtevertreter Leuxlring. Die Verweigerergruppe musste sich freilich am Ende des Westfälischen Friedenskongresses isoliert fühlen, denn die führenden katholischen Fürsten des Reichs, der habsburgische Kaiser, der Mainzer Erzbischof, der bayerische Kurfürst und die Mehrzahl der geistlichen Fürsten
* Für Hilfe und Unterstützung bei der Drucklegung danke ich sehr herzlich Frau Julia Riedel sowie den Herren Robert Bartczak, Donatus Düsterhaus und Jochen Merkle. 1 Konrad Repgen, Die Römische Kurie und der Westfälische Friede, Idee und Wirklichkeit des Papsttums im 16. und 17. Jahrhundert, Bde. I-II, Tübingen 1962/65; Ders., Der päpstliche Protest gegen den Westfälischen Frieden und die Friedenspolitik Urbans VIII., in: Ders., Von der Reformation zur Gegenwart, Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte, hg. von Klaus Gotto/Hans Günter Hockerts, Paderborn 1988, 30-52; Ders., Wartenberg, Chigi und Knöringen im Jahre 1645, Die Entstehung des Plans zum päpstlichen Protest gegen den Westfälischen Frieden als quellenkundliches und methodisches Problem, in: Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, Studien und Quellen, hg. von Franz Bosbach/Christoph Kampmann, Paderborn 1998, 487538; Johannes Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg, Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie, Tübingen 1985; Roland Minnerath, Le Saint-Siège, l'Europe et les Traités de Westphalie, in: Jean-Pierre Kintz/Georges Livet (Hg.), 350 e anniversaire des Traités de Westphalie 1648-1998, Une genèse de l'Europe, une société à reconstruire, Actes du Colloque International, Strasbourg 1999, 377-388; René Pillorget, De la Chrétienté à l'Europe, Un processus de désacralisation (XVIe-XVIIIe siècles), in: Ebd., 399-409.
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der R e i c h s k i r c h e , hatten den R e l i g i o n s f r i e d e n mit den protestantischen Ständen auf der G r u n d l a g e v o n Säkularisationen im R a h m e n d e s N o r m a l j a h r e s 1 6 2 4 akzeptiert. 2 D e r K ö n i g v o n Frankreich, der k a t h o l i s c h e Interessen zu s c h ü t z e n suchte, garantierte als europäische Schutzmacht den Reichsfrieden.3 In W i e n , M a i n z , M ü n c h e n und Paris konnte der W e s t f ä l i s c h e Frieden nicht als e i n katholischer S i e g g e f e i e r t werden, aber der aus Staatsräson g e f u n d e n e politische K o m p r o m i s s s c h i e n hier d i e r e l i g i ö s e n A n l i e g e n der k a t h o l i s c h e n K i r c h e nicht über G e b ü h r zu beeinträchtigen. 4 D i e Freude über den e n d l i c h erreichten Frieden blieb ideell freilich auf e i n e n w e l t l i c h e n R a h m e n beschränkt. S i e dokumentierte e i n e auf säkularer staatlicher E n t s c h e i d u n g s e b e n e sich anbahnende E n t f l e c h t u n g v o n R e l i g i o n und Politik z u g u n s t e n der Staatsräson. 5 E i n e r e l i g i ö s e W e i h e erhielt der F r i e d e n s s c h l u s s katholischerseits kaum. In den altg l ä u b i g e n R e i c h s t e i l e n f a n d e n deutlich w e n i g e r Friedensfeiern als bei d e n protestantis c h e n R e i c h s s t ä n d e n statt. N e b e n der a l l g e m e i n e n E r s c h ö p f u n g u n d der Trauer über d i e 2
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Franz Brendle, Säkularisationen in der Frühen Neuzeit, in: Rolf Decot (Hg.), Säkularisation der Reichskirche 1803, Aspekte kirchlichen Umbruchs, Mainz 2002, 33-55. Das klassische Werk zur Geschichte des Westfälischen Friedenskongresses ist: Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl., Münster 1998; Als Gesamtdarstellungen der Epoche vgl. Geoffrey Parker, Der Dreissigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1987; Heinz Schilling, Aufbruch und Krise, Deutschland 1517-1648, Berlin 1988; Konrad Repgen, Ferdinand III. 1637-1657, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918, Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, 142-167; Volker Press, Kriege und Krisen, Deutschland 1600-1715, München 1991; Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1998; Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 2. Aufl., Göttingen 2001; Gerhard Schormann, Der Dreißigjährige Krieg 1618-1648, in: Ders./Maximilian Lanzinner, Konfessionelles Zeitalter: 1555-1618 (Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 10), 10. Aufl., Stuttgart 2001; Zum komplexen Verhandlungsgeschehen vgl. die große Quellenedition der Acta Pacis Westphalicae, hg. von Max Braubach/Konrad Repgen, zahlreiche Bände, Münster 1962 ff.; Als Einzeluntersuchungen: Winfried Becker, Der Kurfürstenrat, Grundzüge seiner Entwicklung in der Reichs Verfassung und seine Stellung auf dem Westfälischen Friedenskongreß, Münster 1973; Günter Buchstab, Reichsstädte, Städtekurie und Westfälischer Friedenskongreß, Zusammenhänge von Sozialstruktur, Rechtsstatus und Wirtschaftskraft, Münster 1976; Karsten Ruppert, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1643-1648), Münster 1979; Fritz Wolff, Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß, Die Einfügung der konfessionellen Ständeverbindungen in die Reichsverfassung, Münster 1966; Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650: das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991. Albert Cremer, Ludwig XIII. (1610-1634), in: Peter Claus Hartmann (Hg.), Französische Könige und Kaiser der Neuzeit, Von Ludwig XII. bis Napoleon III. 1498-1870, München 1994, 171-188; Andreas Kraus, Maximilian I., Bayerns großer Kurfürst, Graz 1990; Dieter Albrecht, Maximlian I. von Bayern 1573-1651, München 1998. Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert, Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß, Darmstadt 1976; Ders. (Hg.), Der Westfälische Friede, Diplomatie - politische Zäsur - kulturelles Umfeld Rezeptionsgeschichte, HZ Beiheft N.F. 26, München 1998.
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immensen Kriegsverluste war dafür auch das Bewusstsein maßgebend, dass der Frieden nur mit großen Positionseinbußen der katholischen Kirche erkauft werden konnte, dass die Kirchenspaltung seit der Reformation nunmehr zementiert worden war und das Maximalziel einer Rekatholisierung weiter Teile des Reiches, wie es im Restitutionsedikt von 1629 angestrebt worden war, auf Dauer unerreichbar blieb. Die religiös triumphalistische Stimmung nach dem Sieg am Weißen Berg 1620, der dem direkten Eingreifen der Gottesmutter als Sieghelferin zugeschrieben worden war, 6 hatte sich nach 28 wechselhaften und verlustreichen Kriegsjahren eher in eine gedrückte Resignation verflüchtigt, die jetzt aus Friedenssehnsucht und Einsicht in die Notwendigkeit auch Schmälerungen hinnahm. Maria erschien nunmehr weniger als Sieghelferin der katholischen Sache, sondern als Bewahrerin vor den schlimmsten Kriegsleiden, die von den protestantischen Schweden, aber auch von den Franzosen verursacht wurden. 7 Dennoch war die katholische Bilanz für das Reich, die in Wien, Mainz, München oder Paris erstellt wurde, keineswegs nur von Negativposten gekennzeichnet, sondern wies sogar bemerkenswerte Gewinne auf. Der Kaiser hatte in Münster und Osnabrück die Anerkennung der Rekatholisierung seiner österreichischen und böhmischen Erblande durchgesetzt und die Anwendung des Normaljahrs 1624 auf dieselben erfolgreich abgewehrt. Nur in Schlesien musste er auf die schwedische Garantie zugunsten der Protestanten Rücksicht nehmen und den Bau von drei Friedenskirchen zugestehen. Bayern hatte neben der Pfälzer Kurwürde die Oberpfalz gewonnen und rekatholisiert, Kurmainz desgleichen die Bergstraße. 8 Das Normaljahr 1624 konnte bei unklaren konfessionellen Gemengelagen und Mehrheitsverhältnissen, wie es sie nicht nur im Hochstift Osnabrück, sondern auch in anderen norddeutschen Hochstiften, in manchen gemischtkonfessionellen Reichsstädten, Kondominaten und Kantonen der Reichsritterschaft gab, auch der Stabilisierung der katholischen Ansprüche vor Ort zu Gute kommen. 9
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Olivier Chaline, La bataille de la Montagne Blanche (8 novembre 1620), un mystique chez les guerriers, Ed. Noesis, Paris 2000. Klaus Schreiner, Maria, Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994; Ders., Maria, Leben, Legenden, Symbole, München 2003. Walter Ziegler, Rekatholisierung der Oberpfalz, in: Hubert Glaser (Hg.), Um Glauben und Reich, Kurfürst Maximilian I., Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1573-1657, Ausstellungskatalog, München/Zürich 1980, Bd. II. 1, 436-447; Alexander Jendorff, Reformatio Catholica, Gesellschaftliche Handlungsräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz, 1514-1630, Münster 2003. Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Land und Konfession 1500-1650 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 49-53, 56-57). VII Bde., 1.-3. Aufl., Münster 1989-1997 (Bd. I: Der Südosten, 2. Aufl., 1992; Bd. II: Der Nordosten, 3. Aufl., 1993; Bd. III: Der Nordwesten, 2. Aufl., 1995; Bd. IV: Mittleres Deutschland, 1992; Bd. V: Der Südwesten, 1993; Bd. VI: Nachträge, 1996; Bd. VII: Bilanz - Forschungsperspektiven - Register, 1997).
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Die katholische Reichskirche als Ganzes konnte durch den Westfälischen Frieden ihre Position in der Reichsverfassung bestätigt und befestigt sehen.10 Dazu hatte auch der König von Frankreich beigetragen, der auf dem Friedenskongress allen protestantischen Säkularisationsabsichten entgegengetreten war, wenn diese auf Hochstifte wie Paderborn zielten, die bereits vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges eindeutig katholisch gewesen waren. Nur die vor 1618 protestantisierten Glieder der Reichskirche in Mitteldeutschland und Norddeutschland wurden von der Säkularisation erfasst. Es waren also lediglich für die katholische Sache längst verlorene Territorien, auf die 1648 katholischerseits rechtlich Verzicht geleistet werden musste.11 Mit diesem politischen Kompromiss konnten engagierte katholische Fürsten wie Kaiser Ferdinand III., Johann Philipp von Schönborn, der Erzbischof und Kurfürst von Mainz und Fürstbischof von Würzburg, und der bayerische Kurfürst Maximilian I. leben. Aus der Sicht dieser meinungsführenden Entscheidungsträger endete der Dreißigjährige Krieg keinesfalls mit einer katholischen Niederlage, sondern mit der Akzeptanz einer größeren Selbständigkeit der Reichspolitik gegenüber dem konfessionellen Prinzip. Gerade das katholische kirchliche Reformwerk Schönborns in Würzburg und Mainz hat keine Züge von Resignation, sondern eher Elemente eines Aufbruchs. Eine nach innen weisende religiöse Erneuerung schickte sich an, dem nach außen zielenden Konfessionskampf den Rang abzulaufen. Eine Vertiefung des religiösen Lebens im Alltag trat an die Stelle konfessioneller Expansion auf Kosten der andersgläubigen Nachbarn. Das System der säkularen Reichsverfassung, wie es sich im 16. Jahrhundert herausgebildet hatte, bot eine Brücke zur Entkonfessionalisierung des Reichssystems bei gleichzeitiger Wahrung und paritätischer Privilegierung zentraler Bestandssicherungsinteressen der beiden Religionsparteien im Reich und auf dem Reichstag, dem Corpus Catholicorum und dem Corpus Evangelicorum.12
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Anton Schindling, Reichskirche und deutsche Nation in der Frühen Neuzeit, in: Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt a. M./New York 2001, 68-83; Franz Brendle/Anton Schindling, Reichskirche und Reich in der Frühen Neuzeit, in: Hans Ulrich Rudolf (Hg.), Alte Klöster - neue Herren, die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, Ausstellungskatalog zur Großen Landesausstellung Baden-Württemberg 2003 in Bad Schussenried (12. 4. - 5. 10. 2003), Aufsätze, 1. Teil: Vorgeschichte und Verlauf der Säkularisation, Ostfildern 2003, 3-22. Anton Schindling, Reichskirche und Reformation, Zu Glaubensspaltung und Konfessionalisierung in den geistlichen Fürstentümern des Reiches, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (ZHF, Beiheft 3), Berlin 1987, 81-112. Anton Schindling, Corpus evangelicorum et corpus catholicorum, Constitution juridique et réalités sociales dans le Saint-Empire, in: Kintz/Livet (Hg.), 350 e anniversaire des Traités de Westphalie, 43-55.
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2. Ecclesìa triumphans und Märtyrertum Das Gefühl einer katholischen Niederlage blieb so auf wenige Kreise beschränkt, die relativ einflusslos waren. Sogar in Rom spielte der päpstliche Protest in der Folge keine besonders große Rolle mehr. Zwar ohne große Begeisterung, aber doch auch ohne Absichten auf eine Revanche gingen die politischen und kirchlichen Meinungsführer katholischerseits zur Tagesordnung des Friedens in dem nunmehr definitiv bi- bzw. trikonfessionellen und säkularen Reichsverband „Teutscher Nation" über. 13 Diese Stimmung und der zugrunde liegende Erfahrungswandel fanden ihren religiösen Ausdruck in zahlreichen Gnadenorten und Wallfahrten, die während und nach dem Dreißigjährigen Krieg neu belebt wurden oder neu entstanden. Stätten eines triumphalistischen Selbstgefühls, wie in den Maria-vom-Sieg-Kirchen, die nach der Schlacht am Weißen Berg gebaut wurden, blieben insgesamt eher die Ausnahme. Es dominierten in der Folgezeit Verehrungsplätze, welche die mirakulöse Errettung in schwerer Not, vor allem in der Bedrohung durch die Schweden, thematisierten. Ein antiprotestantisches Motiv wurde durch die mitunter kultische Formen annehmende Erinnerung an die unmittelbar gesühnten Freveltaten schwedischer Soldaten an Marienbildern wachgerufen. Die Zuflucht und das Gebet zu Maria und anderen Heiligen brachten die vorhandenen Gefühle der Bedrohung und Rettung im katholischen Reich zwischen Verlusterfahrung und endlicher Friedensfreude recht treffend zum Ausdruck. Als Geschlagene und Besiegte brauchten sich die Katholiken im Reich nicht zu fühlen. Sie waren aber auch keine Sieger. Mit den Protestanten teilten sie die Kriegserfahrung extremer Gefährdung ihrer Kirche und letztendlicher Behauptung in Standhaftigkeit und Glaubensfestigkeit. Die letztgenannten Werte fanden insbesondere im vom Haus Habsburg nachdrücklich geförderten Kult des Kapuzinermärtyrers Fidelis von Sigmaringen eine sinnreiche Überhöhung. 14 Konfessionsverschieden waren die Formen der religiösen Verarbeitung: Während in den protestantischen Reichsteilen die Friedensfeiern und Büß- und Bettage die häufigste Form des gottesdienstlichen Friedensgedenkens waren, fehlte bei den Katholiken meist ein analoger allgemeiner Bezug. Hier wurde der Rettung von Stadt und Land in Form
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Volker Press, Adel im Alten Reich, Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hg. von Franz Brendle/Anton Schindling, Tübingen 1998; Ders., Das Alte Reich, Ausgewählte Aufsätze, hg. von Johannes Kunisch, 2. Aufl., Berlin 2000; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999. Matthias Ilg, Der Kult des Kapuzinermärtyrers Fidelis von Sigmaringen als Ausdruck katholischer Kriegserfahrungen im Dreißigjährigen Krieg, in: Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes, Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Beiträge aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", 2. Aufl., Münster 2002, 291-439; Ders., Der Kult des Kapuzinermärtyrers Fidelis von Sigmaringen (1578-1622) zwischen „Ecclesia Romana triumphans" und „Pietas Austriaca", in: Helvetia Franciscana 30 (2001), 34-62.
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von regionalen Wallfahrten und auf der Ebene von lokalen Kulten gedacht, die oftmals einen marianischen Charakter hatten. Diese Regionalisierung des Kriegserinnerns der Katholiken weist eine bislang unterschätzte Komponente auf: In das an sich auch von der katholischen Seite begrüßte Friedensgeläut mischte sich ein Beiklang ein, der seinen Ursprung in einer aus der Tradition des überkommenen Reichsgedankens herrührenden Verlusterfahrung hatte. Verloren war die kirchliche Einheit des nunmehr nur noch dem Namen nach „Heiligen" und „Römischen" Reiches sowie der „Teutschen Nation". Die Katholiken - wie ihrerseits auch die Protestanten - wussten jedoch, dass alles für sie viel schlimmer hätte kommen können und dass die im Westfälischen Frieden gefundene Bestätigung und Stabilisierung des bi- bzw. trikonfessionellen Reichssystems mehr als nur ein Augenblickserfolg war. Das säkular gewordene Reich bot vielmehr ein gemeinsames Dach und eine Überlebensperspektive für die getrennten Christen aller drei seit der Reformation entstandenen Konfessionsparteien. Der Westfälische Frieden bezeichnet die politische Ordnung des paritätischen Reichskirchenstaatsrechts trotz seiner reichsgrundgesetzlichen, unverbrüchlichen Gültigkeit ausdrücklich als eine interimistische - bis zu der im Erwartungshorizont der Zukunft noch immer erhofften kirchlichen Wiedervereinigung. Wann diese freilich erfolgen und der theologischen Wahrheit zum Durchbruch verhelfen sollte, blieb offen, und es herrschte ein interkonfessioneller Konsens, dass bis dahin die Politik im Reich nach säkularen rechtlichen Spielregeln, wie den friedenstiftenden Prinzipien des Normaljahrs, der Parität und des Auswanderungsrechts, ablaufen sollte. 15
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Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und die deutsche Konfessionsfrage, in: Manfred Spieker (Hg.), Friedenssicherung, Bd. 3: Historische, politikwissenschaftliche und militärische Perspektiven, Münster 1989, 19-36; Ders., Der Westfälische Frieden, Europäischer Frieden und Staatsgrundgesetz des Alten Reiches, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft 2 (1995), 290-298; Ders., Ein historisches Beispiel für Gerechtigkeit und Fairneß im Verfahren, Der Westfälische Frieden - Die Regelung im konfessionellen Nebeneinander, in: Günter Bierbrauer u. a. (Hg.), Verfahrensgerechtigkeit, Rechtspsychologische Forschungsbeiträge für die Justizpraxis, Köln 1995, 245-255; Ders., Der Westfälische Frieden und das Nebeneinander der Konfessionen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Konrad Ackermann/Alois Schmid/Wilhelm Volkert (Hg.), Bayern, Vom Stamm zum Staat, Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, Bd. 1, München 2002, 409-432; Ders., Der Passauer Vertrag und die Kirchengüterfrage, in: Winfried Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552, Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Neustadt a.d. Aisch 2003, 105-123.
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3. Die deutsche Konfessionsfrage und das Reichsreligionsrecht Das deutsche Religionsrecht wurde durch den Westfälischen Frieden auf der Grundlage des Augsburger Religionsfriedens neu geregelt unter Ausräumung derjenigen Konflikte, die das Reich nach 1555 belastet hatten.16 Die territoriale Konfessionshoheit wurde als ein Rechtsmerkmal der Landeshoheit der Reichsstände bestätigt. Die Befugnis, über die Konfession der Untertanen zu entscheiden, wurde im Reich als das „ius reformandi" sowie als ein Bestandteil des „ius territoriale" und der „superioritas territorialis" der Reichsstände bezeichnet. Dafür hatte schon vor dem Dreißigjährigen Krieg der Rechtsprofessor Joachim Stephani von der Universität Greifswald die berühmte Formel „cuius regio eius religio" gefunden. Die Festschreibung der obrigkeitlichen Befugnis, über die Konfession zu entscheiden, wurde im Westfälischen Frieden zugleich aber faktisch außer Kraft gesetzt durch das neue Rechtsprinzip des Normaljahrs 1624. Dieses Normaljahr 1624 sollte eine grundlegende Tatsache der deutschen Geschichte werden. Danach wurde der Besitzstand von Katholiken und Protestanten im Reich und seinen Territorien und Städten auf die tatsächlich gegebenen Verhältnisse am NormaljahrsStichtag 1. Januar 1624 fixiert. Die Konfessionsverhältnisse blieben fortan dauerhaft eingefroren, und es wurde verhindert, dass die Landesobrigkeiten erneute Konfessionswechsel der Untertanen erzwingen konnten. Das hieß praktisch, dass die tatsächlichen konfessionellen Besitzverhältnisse am 1. Januar 1624 darüber entschieden, ob ein Territorium, eine Stadt, ein Dorf, ein Kloster, ein Stift, eine einzelne Pfründe oder eine Kirche auf Dauer katholisch oder evangelisch waren. Der jeweilige Konfessionsstand der Menschen war in der Folge durch das Reichsreligionsstaatsrecht als zentralem Teil des öffentlichen Rechts, des „ius publicum", garantiert. Es war dies eine für Jahrhunderte wirksame Weichenstellung der deutschen Geschichte. 17 Für die geistlichen Fürstentümer der Reichskirche galt nunmehr auf der katholischen wie auf der evangelischen Seite der Geistliche Vorbehalt und damit eine Garantie des Religionsstandes von 1624. Der Inhaber einer geistlichen Fürstenwürde musste gemäß dem Geistlichen Vorbehalt im Falle eines persönlichen Konfessionswechsels auf sein 16
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Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: Schindling/ Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs, Bd. VII, 9-44; Bernd Christian Schneider, lus reformandi, Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Tübingen 2001. Georg Schmidt, Der Westfälische Frieden, Eine neue Ordnung für das Alte Reich? In: Der Staat, Beiheft 10: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1993, 45-83; Anton Schindling, Andersgläubige Nachbarn, Mehrkonfessionalität und Parität in Territorien und Städten des Reichs, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hg.), 1648 - Krieg und Frieden in Europa, Ausstellungskatalog (26. Europaratsausstellung - Westfälisches Landesmuseum Münster und Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück 1998/99), Aufsatzband 1: Geschichte, Religion, Recht und Gesellschaft, Münster/Osnabrück 1998, 465-473.
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A m t verzichten. A u f der e v a n g e l i s c h e n Seite b l i e b e n allerdings i m W e s t f ä l i s c h e n Fried e n nur n o c h sehr w e n i g e g e i s t l i c h e Territorien übrig, n ä m l i c h das Fürstbistum L ü b e c k , das halbe Fürstbistum Osnabrück, e i n i g e B a l l e i e n d e s D e u t s c h e n O r d e n s 1 8 und d e s Johanniterordens und e i n i g e n o r d d e u t s c h e D a m e n s t i f t e , da d i e M e h r z a h l der nach der R e f o r m a t i o n e v a n g e l i s c h g e w o r d e n e n g e i s t l i c h e n Fürstentümer jetzt z u g u n s t e n w e l t licher N a c h b a r n säkularisiert w o r d e n war. 1 9 N u t z n i e ß e r dieser Säkularisationen w a r e n vor a l l e m S c h w e d e n u n d Kurbrandenburg. D e r w e i t a u s größte T e i l der g e i s t l i c h e n Fürstentümer und der Prälaturen der R e i c h s k i r c h e w u r d e durch d e n W e s t f ä l i s c h e n Frieden für den K a t h o l i z i s m u s gesichert.
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Bernhard Demel, Von der katholischen zur trikonfessionellen Ordensprovinz, Entwicklungslinien in der Personalstruktur der hessischen Deutschordensballei in den Jahren 1526-1680/81, in: Udo Arnold/Heinz Liebing (Hg.), Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche, Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983, 186-281; Volker Press, „Des deutschen Adels Spital", Der Deutsche Orden zwischen Kaiser und Reich, in: Heinz Noflatscher (Hg.), Der Deutsche Orden in Tirol, Die Bailei an der Etsch und im Gebirge, Bozen/Marburg 1991, 1-42; Marian Tumler, Der Deutsche Orden, Von seinem Ursprung bis zur Gegenwart, 5. Aufl., Bad Münstereifel 1992. Eike Wolgast, Hochstift und Reformation, Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648, Stuttgart 1995. Günter Christ, Praesentia regis, Kaiserliche Diplomatie und Reichskirchenpolitik vornehmlich am Beispiel der Entwicklung des Zeremoniells für die kaiserlichen Wahlgesandten in Würzburg und Bamberg, Wiesbaden 1975; Peter Moraw/Volker Press, Fürstentümer, Geistliche, in: TRE 11 (1983), 711-719; Volker Press, Ellwangen, Fürststift im Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Ellwanger Jahrbuch 30 (1983/84), 7-30; Ders., Das Hochstift Speyer im Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Portrait eines geistlichen Staates, in: Ders./Eugen Reinhard/Hansmartin Schwarzmaier (Hg.), Barock am Oberrhein, Karlsruhe 1985, 251-290; Ders., Bischof und Stadt in der Neuzeit, in: Bernhard Kirchgässner/Wolfram Baer (Hg.), Stadt und Bischof, Sigmaringen 1988, 137-160; Franz Brendle, Die Wahlkapitulationen der Ellwanger Fürstpröpste, in: Ellwanger Jahrbuch 33 (1989/90), 76-120; Konstantin Maier, Das Domkapitel von Konstanz und seine Wahlkapitulationen, Ein Beitrag zur Geschichte von Hochstift und Diözese in der Neuzeit, Stuttgart 1990; Michael Kissener, Ständemacht und Kirchenreform, Bischöfliche Wahlkapitulationen im Nordwesten des Alten Reiches 1265-1803, Paderborn u . a . 1993; Berthold Jäger/Walter Heinemeyer (Hg.), Fulda in seiner Geschichte, Landschaft, Reichsabtei, Stadt, Marburg 1995; Dieter J. Weiß, Das Exemte Bistum Bamberg, Bd. 3: Die Bischofsreihe von 1522 bis 1693 (Germania Sacra, N.F. 38, 1), Berlin u. a. 2000; Anton Schindling, Das dritte fränkische Fürstbistum, Eichstätt im Reich der Frühen Neuzeit, Zentrum der Reichsritterschaft an der Altmühl und Ziel bayerischer Machtinteressen, in: Kirche und Glaube - Politik und Kultur in Franken, Festgabe für Klaus Wittstadt zum 65. Geburtstag (Würzburger Diözesangeschichtsblätter, Bd. 62/63), Würzburg 2001, 557-573; Ders., Rheinisches Reich und Frankreich im 18. Jahrhundert, in: Sven Externbrink/Jörg Ulbert (Hg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit, Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem, Festschrift für Klaus Malettke zum 65. Geburtstag, Berlin 2001, 379-392; Wolfgang Wüst, Geistlicher Staat und Altes Reich, Frühneuzeitliche Herrschaftsformen, Administration und Hofhaltung im Augsburger Fürstbistum, 2 Bde., München 2001; Ders. (Hg.), Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung, Kultur - Verfassung - Wirtschaft - Gesellschaft, Ansätze zu einer Neubewertung,
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4. Gewinne durch Bikonfessionalität und Parität? Ein besonders markanter Fall war Osnabrück: Für das bikonfessionelle Hochstift Osnabrück schrieb der Westfälische Frieden die alternative Sukzession von katholischen und lutherischen Fürstbischöfen vor.21 Die katholischen Fürstbischöfe wurden durch das mehrheitlich katholische Osnabrücker Domkapitel gewählt, als lutherische Fürstbischöfe amtierten jüngere Prinzen aus der Linie Hannover des Hauses der Weifen. Von der Lebenszeit des jeweiligen Amtsinhabers hing die Dauer der katholischen oder evangelischen Regierung des Landes ab. Die Osnabrücker Untertanen hatten faktisch Wahlfreiheit zwischen Luthertum und Katholizismus, mussten jedoch die kirchlichen Amtshandlungen Taufe, Hochzeit und Beerdigung in der jeweils sprengelmäßig zuständigen Pfarrkirche vornehmen lassen. In der Stadt Osnabrück und im Territorium des Fürstbistums wurden die Kirchen gemäß dem Normaljahrstermin 1. Januar 1624 aufge22
teilt. Die spezifischen Paritätsverhältnisse in Osnabrück führten zu einem eigentümlichen gesellschaftlichen Beharren und einem Denken in Rechtspositionen in diesem geistlichen Fürstentum, welches im 18. Jahrhundert23 einen genialen Historiker und literarischen Interpreten in Justus Moser gefunden hat.
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Epfendorf 2002; Gerrit Walther, Abt Balthasars Mission, Politische Mentalitäten, Gegenreformation und eine Adelsverschwörung im Hochstift Fulda, Göttingen 2002. Anton Schindling, Westfälischer Frieden und Altes Reich - Zur reichspolitischen Stellung Osnabrücks in der Frühen Neuzeit, in: OsnMitt 90 (1985), 97-120; Ders., Reformation, Gegenreformation und Katholische Reform im Osnabrücker Land und im Emsland, in: OsnMitt 94 (1989), 35-60; Karl Georg Kaster/Gerd Steinwascher (Hg.), 450 Jahre Reformation in Osnabrück, Ausstellungskatalog, Osnabrück/Bramsche 1993; Christian Hoffmann, Ritterschaftlicher Adel im geistlichen Fürstentum, Die Familie von Bar und das Hochstift Osnabrück, Landständewesen, Kirche und Fürstenhof als Komponenten der adeligen Lebenswelt im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung 1500-1651, Osnabrück 1996. Wolfgang Seegrün, In Münster und Nürnberg, Die Verteilung der Konfessionen im Fürstentum Osnabrück 1648/50, in: BDLG 134 (1998), 59-94; Anton Schindling, Justus Moser - Fiktion und Realität des Alten Reichs, in: Winfried Woesler (Hg.), Möser-Forum 3 (1995-2001), Osnabrück 2001,205-219. Manfred Rudersdorf, Justus Moser, Kurfürst Max Franz von Köln und das Simultaneum zu Schledehausen, Der Osnabrücker Religionsvergleich von 1786, in: Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Schelenburg - Kirchspiel - Landgemeinde, 900 Jahre Schledehausen, Bissendorf 1990, 107-136; Ders., „Das Glück der Bettler", Justus Moser und die Welt der Armen, Mentalität und soziale Frage im Fürstbistum Osnabrück zwischen Aufklärung und Säkularisation, Münster 1995; Ders., Das Prinzip der , Lokal Vernunft', Der konservative Aufklärer Justus Moser und das Problem der Armutsbewältigung im Ancien régime, in: Manfred Hettling u. a. (Hg.), Figuren und Strukturen, Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, 241-262; Karl H. L. Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, Justus Moser als Jurist und Staatsmann, 2 Bde., Osnabrück 1996.
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Osnabrück bot ein Modell der Parität, welches der Westfälische Frieden vorschrieb. Die alternative Sukzession im Bischofsamt ist juristisch als Parität durch Verfahren, als eine „temporale Verfahrensparität", zu bezeichnen. Eine andere Möglichkeit der Parität war die gleichzeitige doppelte Besetzung aller Ämter jeweils mit einem Katholiken und einem Protestanten. Eine solche Paritätsregelung durch Doppelung der Ämter wurde für vier bikonfessionelle schwäbische Reichsstädte vorgeschrieben, nämlich für die Städte Augsburg, Biberach, Dinkelsbühl und Ravensburg. 24 Auch in diesen vier Reichsstädten führten die Paritätsregelungen zu einem juristisch geprägten Beharren in der Gesellschaft und zu unsichtbaren Grenzen zwischen Protestanten und Katholiken, die auf engstem Raum und vermischt als Nachbarn zusammenlebten. Trotz der täglichen Kontakte kam es in den schwäbischen Städten jedoch nur selten zu Konversionen und zu konfessionellen Mischehen. Andererseits war die interkonfessionelle Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Leben selbstverständlich. In Osnabrück ebenso wie in den schwäbischen Städten arbeiteten Kunsthandwerker in gleicher Weise für katholische wie für evangelische Kirchen, die im Stile des Barock neu ausgestattet wurden. Die berühmten Augsburger Gold- und Silberschmiede, die mehrheitlich protestantisch waren, schufen prachtvolle Barockmonstranzen für katholische Fronleichnamsprozessionen. Die Kirchen wurden in den vier paritätischen schwäbischen Reichsstädten gemäß dem Normaljahr 1624 aufgeteilt, wodurch die Katholiken begünstigt waren. In der großen Stadt Augsburg standen katholische und evangelische Kirchen nebeneinander. In Biberach wurde die Stadtpfarrkirche und in Ravensburg die Karmeliterkirche simultan von beiden Konfessionen benutzt. Auch in anderen Territorien und Städten des Reiches führte das Normaljahr 1624 mehrfach zur simultanen Nutzung von Kirchen durch beide Konfessionsgemeinschaften, wobei meistens die Chöre den Katholiken und die Kirchenschiffe den Protestanten gehörten. Der juristische Begriff der Parität erscheint im Westfälischen Frieden als „aequalitas exacta mutuaque". Das Normaljahr 1624 und das Prinzip der konfessionellen Parität zwischen Katholiken und Protestanten waren fortan feste Regeln für die Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Deutschland. Versuche eines faktischen Aushöhlens und Unterlaufens dieser Prinzipien, die es nach dem Westfälischen Frieden durchaus mehrfach gab, änderten nichts mehr an ihrer grundsätzlichen normativen Geltung. 25 Besonders in der Kurpfalz gab es am Beginn des 18. Jahrhunderts noch scharfe 24
Paul Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt, Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648, Wiesbaden 1983; Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden, Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, 2 Teile, Göttingen 1989; Ders., Als wollt die Welt schier brechen, Eine Stadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, München 1991; Etienne François, „Die unsichtbare Grenze", Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806, Sigmaringen 1991; Dieter Stievermann/Volker Press/Kurt Diemer (Hg.), Geschichte der Stadt Biberach, Stuttgart 1991.
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Karl Otmar Freiherr von Aretin, Die Konfessionen als politische Kräfte am Ausgang des alten Reiches, in: Festgabe für Joseph Lortz, Bd. 2, Baden-Baden 1958, 181-241; Günter Christ, Fürst,
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k o n f e s s i o n e l l e A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n , als d i e k a t h o l i s c h e n Kurfürsten aus d e m H a u s P f a l z - N e u b u r g M a ß n a h m e n z u g u n s t e n einer R e k a t h o l i s i e r u n g d i e s e s
calvinistischen
Territoriums ergriffen. 2 6 A n der G e l t u n g d e s Normaljahrs k o n n t e j e d o c h in der Kurpfalz e b e n s o w e n i g w i e in anderen k o n f e s s i o n e l l umstrittenen Territorien gerüttelt werden. G e m ä ß d e m Normaljahr 1 6 2 4 galten Bestandsgarantien für k o n f e s s i o n e l l e M i n d e r h e i ten. D a s R e c h t für D i s s i d e n t e n auf A u s w a n d e r u n g w u r d e im W e s t f ä l i s c h e n Frieden 1 6 4 8 w i e s c h o n i m A u g s b u r g e r R e l i g i o n s f r i e d e n 1 5 5 5 f e s t g e l e g t , und z w a r als ein indiv i d u e l l e s R e c h t , das auch S c h u t z b e s t i m m u n g e n für das E i g e n t u m der A u s w a n d e r n d e n einschloss. Für d i e österreichischen und b ö h m i s c h e n Erbländer der Habsburger w u r d e i m W e s t f ä l i s c h e n Frieden d i e w ä h r e n d d e s K r i e g e s e r f o l g t e R e k a t h o l i s i e r u n g bestätigt, mit einig e n K o n z e s s i o n e n z u g u n s t e n der Protestanten in S c h l e s i e n und in Niederösterreich.
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In
S c h l e s i e n legten d i e Habsburger d i e s e B e s t i m m u n g e n allerdings t e i l w e i s e im S i n n e 28
einer n a c h h o l e n d e n G e g e n r e f o r m a t i o n aus.
Immerhin durften die Protestanten
in
S c h l e s i e n drei n e u e Kirchen aus H o l z und o h n e Turm, d i e s o g e n a n n t e n Friedenskirchen, erbauen, und zwar vor den T o r e n der Städte S c h w e i d n i t z , Jauer und G l o g a u .
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Dynastie und Konfession, Beobachtungen zu Fürstenkonversionen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, in: Ders., Studien zur Reichskirche der Frühneuzeit, Stuttgart 1989, 111-131; Heinz Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und Altes Reich, Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht, Wiesbaden 1977; Dieter Stievermann, Politik und Konfession im 18. Jahrhundert, in: ZHF 18 (1991), 177-199; Gabriele HaugMoritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; Dies., Kaisertum und Parität, Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: ZHF 19 (1992), 445-482; Helmut Neumaier, Simultaneum versus Reichsverfassung, Der Rosenberger Kirchenstreit 16581756, in: Wertheimer Jahrbuch 1993, 153-214. Hans Schmidt, Kurfürst Karl Philipp von der Pfalz als Reichsfürst, Mannheim 1963; Peter Zschunke, Konfession und Alltag in Oppenheim, Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1984; Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2: Neuzeit, Stuttgart u. a. 1992; Albrecht Emst, Die reformierte Kirche der Kurpfalz nach dem Dreißigjährigen Krieg (1649-1685), Stuttgart 1996; Christoph Flegel, Die lutherische Kirche in der Kurpfalz von 1648 bis 1716, Mainz 1999. Anton Schindling, Verspätete Konfessionalisierungen im Reich der Frühen Neuzeit: Retardierende Kräfte und religiöse Minderheiten in den deutschen Territorien 1555-1648, in: Karl Borchardt/Enno Bünz (Hg.), Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte, Peter Herde zum 65. Geburtstag von Freunden, Schülern und Kollegen dargebracht, Teil 2, Stuttgart 1998, 845-861. Norbert Conrads, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707-1709, Köln 1971; Ders. (Hg.), Schlesien (Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1994; Arno Herzig, Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung, Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz, Hamburg 1996; Ders., Rekatholisierung in deutschen Territorien im 16. und 17. Jahrhundert, in: GG 26 (2000), H. 1, 76-104; Ders., Der Zwang zum wahren Glauben, Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000; Ders., Konfession und Heilsgewissheit, Schlesien und die Grafschaft Glatz in der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2002; Jörg Deventer, Gegenreformation in Schlesien, Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz (1526-1707), Köln u. a. 2003.
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Schweden sicherte sich als Schutzmacht der deutschen Protestanten das Recht, zugunsten der Glaubensverwandten in Schlesien beim Kaiser intervenieren zu dürfen. Für die übrigen österreichischen und böhmischen Länder des Hauses Habsburg galt fortan das Prinzip der geschlossenen Katholizität. Jedoch überlebte in abgelegenen Gebieten ein geheimer Protestantismus in der bäuerlichen Bevölkerung, den die Habsburger trotz großer Anstrengungen nicht beseitigen konnten. Erst das Toleranzedikt Kaiser Josephs II. von 1781 löste für Österreich und Böhmen dieses Problem eines latenten Protestantismus, indem jetzt der evangelischen Minderheit Religionsfreiheit eingeräumt wurde. Das maximalistische Rekatholisierungsprogramm des Restitutionsedikts von 1629 war durch den Westfälischen Frieden aufgehoben worden. 29 Aber auch in mehreren Reichsterritorien konnten Rekatholisierungserfolge der Kriegsjahre jetzt als abgesichert gelten, so in der Oberpfalz, an der Bergstraße und in Teilen von Baden, Nassau und Osnabrück. 30 Die Schutzbestimmungen des Reichsreligionsrechts von 1648 kamen im Süden des Reiches vor allem den Protestanten, im Norden dagegen den Katholiken zugute. Der innerprotestantische Konfessionskonflikt zwischen Lutheranern und Reformierten fand im Westfälischen Frieden ebenfalls eine juristische Regelung. Die Reformierten wurden durch den Frieden als eine Untergruppe der Augsburger Konfessionsverwandten anerkannt, und zwischen den beiden evangelischen Bekenntnissen sollte ein Normaljahr 1648 gelten. Auch zwischen den beiden protestantischen Bekenntnissen sollten damit künftige durch die Landesherrschaft erzwungene Konfessionswechsel der Untertanen ausgeschlossen werden. Ein Modell für das Zusammenleben von Calvinisten und Lutheranern boten die Mark Brandenburg und die dazu gehörenden Territorien, wo die calvinistische Dynastie der Hohenzollern über mehrheitlich lutherische Länder herrschte. 31 Der Kurfürst von Brandenburg Friedrich Wilhelm, der spätere Große Kur29
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Heinrich Günter, Das Restitutionsedikt von 1629 und die katholische Restauration Altwirtembergs, Stuttgart 1901; Wolfgang Seibrich, Gegenreformation als Restauration, Die restaurativen Bemühungen der alten Orden im deutschen Reich von 1580 bis 1648, Münster 1991; Christian Schulz, Strafgericht Gottes oder menschliches Versagen? Die Tagebücher des Benediktinerabtes Georg Gaisser als Quelle für die Kriegserfahrung von Ordensleuten im Dreissigjährigen Krieg, in: Asche/Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes, 219-290; Carsten Kohlmann, „Von unsern Widersachern den bapisten vil erlitten und ussgestanden", Kriegs- und Krisenerfahrur.gen von lutherischen Pfarrern und Gläubigen im Hornberger Amt des Herzogtums Württemberg während des Dreißigjährigen Krieges und nach dem Westfälischen Frieden, in: Ebd., 123-211. Hierzu die einschlägigen Artikel, in: Schindling/Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs. Für die reichsrechtliche Anerkennung der Reformierten setzte sich vor allem Kurbrandenburg ein: Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten, Witten 1973; Anton Schindling, Kurbrandenburg im System des Reiches während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Eine Problemskizze, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich, Köln 1987, 33-46; Ders., Der Große Kurfürst und das Reich, in: Gerd Heinrich (Hg.), „Ein sonderbares Licht in Teutschland", Beiträge zur Geschichte des Großen Kurfürsten von Brandenburg (1640-1688) (ZHF, Beiheft 8), Berlin 1990, 59-74; Volker Press, Außerhalb des Religionsfriedens? Das refor-
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fürst, hatte sich auf dem Westfälischen Friedenskongress sehr stark für die Gleichberechtigung der Calvinisten im Reich eingesetzt. Der Westfälische Frieden gewährleistete ein rechtlich geregeltes Nebeneinander zwischen den drei christlichen Hauptbekenntnissen der Katholiken, Lutheraner und Calvinisten. Nicht eingeschlossen in den Frieden und in das Reichsrecht waren andere christliche Gruppen, wie die Täufer, die Böhmischen Brüder und die Unitarier. Für die Juden galten ohnehin andere Regelungen.32 Der Frieden verstand die Toleranz vor allem als eine korporativ den Konfessionskirchen gewährte rechtliche Anerkennung, freilich mit dem individuellen Recht der Auswanderung für Dissidenten.
5. Reichsrecht versus Religionskrieg Als Garantieinstitution für den Religionsfrieden im Reich wurde im Westfälischen Frieden der Reichstag eingesetzt, der bei der Behandlung von Religionsfragen nicht in der herkömmlichen Kuriengliederung beraten sollte. Die Reichsstände sollten vielmehr in Religionsmaterien nach den Konfessionsgruppen des Corpus Catholicorum und des Corpus Evangelicorum auseinander treten, was als eine „itio in partes" bezeichnet wurde. Eine Entscheidung der anstehenden Streitfragen sollte durch einen zwischen den beiden Konfessionsparteien auszuhandelnden Kompromiss, eine „amicabilis compositio", gefunden werden. Dies war juristisch eine exemplarische Form von Parität durch Verfahren.33 Auch die Rechtsprechung der beiden obersten Reichsgerichte erfolgte in Zukunft auf der Grundlage des Westfälischen Friedens. Für das von den Reichsständen besetzte Reichskammergericht in Speyer wurde eine paritätische Zusammensetzung der Assessoren vorgesehen. Auch der Reichshofrat des Kaisers in Wien hatte eine Minderheit von evangelischen Mitgliedern.
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mierte Bekenntnis im Reich bis 1648, in: Günter Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994, 309-335; Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 1: Anfänge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740, Stuttgart u. a. 1996. Gerhard Taddey, Kein kleines Jerusalem, Geschichte der Juden im Landkreis Schwäbisch Hall, Sigmaringen 1992; Jörg Deventer, Das Abseits als sicherer Ort? Jüdische Minderheit und christliche Gesellschaft im Alten Reich am Beispiel der Fürstabtei Corvey (1550-1807), Paderborn 1996; Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz, Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999. Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg, Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991; Ders., Reichsinstitutionen und Friedenswahrung nach 1648, in: Ronald G. Asch u. a. (Hg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit, Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt (Der Frieden - Rekonstruktion einer europäischen Vision, Bd. 2), München 2001, 259-291.
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Die großen katholischen Mächte und Reichsstände, so der Kaiser, der König von Frankreich und die katholischen Kurfürsten von Mainz, Trier, Köln und Bayern, waren nicht bereit, sich durch den päpstlichen Protest am Abschluss des Friedens hindern zu lassen. Gemeinsam mit Schweden und den protestantischen Reichsständen beschlossen sie eine Anti-Protestklausel, die jeden Einspruch gegen den Frieden und damit den vom Kongressort Münster her initiierten Protest Papst Innozenz X. zurückwies. Diese Nichtbeachtung des päpstlichen Protests bedeutete eine demonstrative Abtrennung des Reichsreligionsrechts vom Papsttum und vom kanonischen Recht und damit einen gewollten Traditionsbruch gegenüber der mittelalterlichen Vergangenheit des Reiches. Das Reich war jetzt nur noch dem bloßen Namen nach „heilig" und „römisch". Das durch Missachtung des päpstlichen Protests demonstrativ säkularisierte Reichskirchenstaatsrecht bot in der Folge gleichwohl das Dach für ein vielfältiges religiöses Leben jenseits des Konfessionellen Zeitalters und ohne dessen politische Zwänge und nach außen gerichtete Militanz. Das Ende der Epoche des religiösen Bürgerkrieges war im Bewusstsein der Politiktheoretiker und Reichsstaatsrechtslehrer eng mit dem Westfälischen Frieden verknüpft, der auch gerade deshalb im späteren 17. und im 18. Jahrhundert als Fundamentalgesetz des deutschen Reichssystems und des europäischen Völkerrechts hoch gerühmt wurde. 34
6. Die Machtbalance zwischen den Reichsinstitutionen Das politische Programm des Westfälischen Friedenskongresses für das Reich lief auf eine Einebnung der Reichsständehierarchie, eine Erweiterung der Ständerechte und eine Einsetzung des Reichstags als zentrales Regierungsorgan des Reiches hinaus. Jedoch konnten sich die radikalen, gegen das Kaisertum und das Kurfürstenkollegium gerichteten Tendenzen, die von einigen protestantischen Reichsständen mit zeitweiliger Unterstützung Frankreichs und Schwedens vertreten wurden, nicht durchsetzen. Das calvinistische Hessen-Kassel war vor allem Sprecher derartiger radikaler Tendenzen. Es kam im Osnabrücker Frieden weder zur einschränkenden Aufzählung der kaiserlichen Rechte, noch zu einer gegen das Kurfürstenkollegium gerichteten Reform des Reichstags. Die umstrittenen Punkte waren die Römische Königswahl, eine beständige kaiserliche Wahlkapitulation, das Verfahren der Achterklärung, die Reichstagsrechte und die Stellung der Reichstagsdirektorien sowie die Reichs-Sekurität, das heißt die Reichs-Wehrverfassung und die Exekutionsordnung. Diese Materien für eine künftige 34
Franz Xaver Seppelt, Das Papsttum in der neueren Zeit, Leipzig 1936; Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen, Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1984; Bernd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung, Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Hl. Rom. Reich Deutscher Nation vom Konfessionellen Zeitalter bis ins späte 18. Jahrhundert, Tübingen 1989.
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Gesetzgebung wurden als „hintersteilige Materien", als „negotia remissa", vom Westfälischen Friedenskongress auf den nächsten Reichstag vertagt, der sie beraten und regeln sollte.35 Durch die kurienweise Beratungsform des Westfälischen Friedenskongresses und des Reichstags und mit der im Verfahren gesicherten Vorzugsstellung der Kurfürsten war allerdings bereits eine klare Vorentscheidung gegen allzu weitgehende Reformforderungen getroffen, die aus dem Kreis der Protestanten im Fürstenrat erhoben wurden. Die „negotia remissa" trugen in der Folge wesentlich zur Perpetuierung des Reichstags in Regensburg als Immerwährender Reichstag seit 1663 bei, aber sie wurden auch dort nicht alle entschieden. Im Gegenteil, es kam nach 1648 zu einer allmählichen Restauration der kaiserlichen Position im Reich, und die Vorrangstellung der Kurfürsten im Reich und auf dem Reichstag blieb unerschüttert. 36 Auch das den Reichsstädten 1648 zugestandene „votum decisivum" im Reichstagsverfahren konnte die reichsherkömmliche Ständehierarchie nicht relativieren und blieb so praktisch eher wirkungslos. Es war vor allem die katholische Mehrheit unter den Reichsständen auf dem Reichstag, die an einer radikalen Umgestaltung der Reichsverfassung im Sinne der von Hessen-Kassel vorgetragenen Forderungen nicht interessiert war. Immerhin schrieb der Westfälische Frieden die Territorialhoheit der deutschen Landesfürsten unmissverständlich fest, die als „ius territoriale tarn in ecclesiasticis quam politicis" bezeichnet wurde. Der Westfälische Frieden schob damit allen Versuchen eines kaiserlichen Reichsabsolutismus definitiv einen Riegel vor und betonte zudem als Bestandteil der Ständerechte deren Bündnisrecht untereinander und mit auswärtigen Mächten. Dieses vielbeachtete Bündnisrecht der Reichsstände blieb allerdings unter dem Vorbehalt, dass es sich nicht gegen Kaiser und Reich und gegen den Westfälischen Frieden richten durfte. 37 Ebenso wie das Normaljahr 1624 und die Parität dem Ausgreifen der Gegenreformation eine Grenze zogen, so stellten die politischen Regelungen des Westfälischen Friedens mit der Stärkung der Territorialhoheit und dem Bündnisrecht der Reichsstände eine Barriere gegen die vom Haus Habsburg befürchtete Univer38 salmonarchie dar. 35
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Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und der Reichstag, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980, 113-153; Andreas Müller, Der Regensburger Reichstag von 1653/54, Eine Studie zur Entwicklung des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden, Frankfurt a. M. u. a. 1992; Matthias Schnettger, Der Reichsdeputationstag 1655-1663, Kaiser und Stände zwischen Westfälischem Frieden und Immerwährendem Reichstag, Münster 1996. Axel Gotthard, Säulen des Reiches, Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband, 2 Bde., Husum 1999. Ernst Wolfgang Böckenförde, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, in: Der Staat 8 (1969), 449-478. Karl Otmar Freiherr von Aretin (Hg.), Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 16481746, Zur verfassungsmäßigen Stellung der Reichskreise nach dem Westfälischen Frieden, Wiesbaden 1975; Ders., Das Reich, Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648-1806,
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7. Gewinner und Verlierer von ,1648' Die universalistische Reichsidee der Habsburger, sofern sie überhaupt ein praktisches Leitbild der Politik gewesen war, und die maximalistische Gegenreformation waren gleichermaßen die Verlierer des Dreißigjährigen Krieges. Gewinner waren Frankreich und Schweden sowie die säkularen Prinzipien der Staatsräson und des konfessionsneutralen Reichsrechts, des „Ius Publicum Imperii Romano-Germanici". 39 Es ist bezeichnend, dass in der historischen Erinnerung der Epoche nach 1648 die Protestanten in Deutschland den Westfälischen Frieden als rettendes Ereignis in Feiern hoch hielten, während die Katholiken den Friedensschluss eher als eine Niederlage ansahen. 40 So sehr der Westfälische Frieden die rechtliche Ausgestaltung der deutschen Territorialstaaten nach außen und innen vorantrieb, so muss doch betont werden, dass dies im Rahmen des von dem Frieden aufrecht erhaltenen Reichsverbandes blieb, dessen Geltung als System der Rechtswahrung nicht etwa geschwächt, sondern befestigt
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Stuttgart 1986; Ders., Das Alte Reich 1648-1806, 3 Bde., Stuttgart 1993-2000; Anton Schindling, Reichstag und europäischer Frieden, Leopold I., Ludwig XIV. und die Reichsverfassung nach dem Frieden von Nimwegen (1679), in: ZHF 8 (1981), 159-177; Ders., Kurbrandenburg im System des Reiches während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Eine Problemskizze, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich, Köln 1987, 33-46; Ders., Der Große Kurfürst und das Reich, in: Heinrich (Hg.), „Ein sonderbares Licht in Teutschland", 59-74; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 4. Aufl., München 2001. Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, Göttingen 1966; Notker Hammerstein, lus und Historie, Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an den deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; Ders., Aufklärung und katholisches Reich, Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im 18. Jahrhundert, Berlin 1977; Ders., Res publica litteraria, Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, hg. von Ulrich Muhlack/Gerrit Walther, Berlin 2000; Detlef Döring, Pufendorf-Studien, Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, Berlin 1992; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 : Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988; Ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt a. M. 1990; Ders. (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl., München 1995. Ciaire Gantet, Friedensfeste aus Anlass des Westfälischen Friedens in den süddeutschen Städten und die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg (1648-1871), in: Bußmann/Schilling, 1648 Krieg und Frieden in Europa, Aufsatzband 2: Kunst und Kultur, 649-656; Johannes Burkhardt (Hg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur, Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart, München 2000; Ders./Stephanie Haberer (Hg.), Das Friedensfest - Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur, Berlin 2000; Frank Kleinehagenbrock, „Nun müßt ihr doch wieder alle katholisch werden", Der Dreißigjährige Krieg als Bedrohung der Konfession in der Grafschaft Hohenlohe, in: Asche/Schindling (Hg.), Strafgericht Gottes, 59-122.
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werden sollte: Eine Souveränitätserklärung für die deutschen Reichsstände brachte der Westfälische Frieden nicht, auch wenn solche Absichten vielleicht französischerseits mit im Spiele waren. Die tatsächliche Verfassungsentwicklung nach 1648 verlief anders: Auf der Grundlage des Westfälischen Friedens fand das Reich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu neuer Stabilität und Kohärenz, die auch einen Wiederaufstieg der Machtstellung des habsburgischen Kaisertums mit einschloss.41 Die Epoche des Barock brachte so noch einmal eine hegemoniale Stellung des Hauses Habsburg im Heiligen Römischen Reich. Aber das Kaisertum der letzten Habsburger, von Leopold I., Joseph I. und Karl VI., verband sich jetzt nicht mehr mit dem Programm einer offensiven Gegenreformation, wie es während des Dreißigjährigen Krieges unter Ferdinand Π. der Fall gewesen war.42 Die Habsburger akzeptierten nach 1648 den politischen Ausgleich in Deutschland mit den protestantischen Reichsständen auf der Grundlage des Westfälischen Friedens. Auch wenn die Kaiser in ihren Erbländern, in Österreich, Böhmen und Schlesien, die Rekatholisierung mit Härte vorantrieben, so hielten sie sich doch gegenüber den Territorien und Städten des Reichs an den Religionsfrieden von Osnabrück und beachteten die Verfassungsprinzipien des Normaljahrs 1624 und der Parität. Auf dieser Grundlage konnte eine von dem konfessionellen Pluralismus des Reiches geprägte politische Kultur entstehen, die bis zum Ende des Alten Reiches am Beginn des 19. Jahrhunderts den deutschen Verhältnissen ein spezifisches Gepräge gab.43 41
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Hanns Leo Mikoletzky, Österreich, das große 18. Jahrhundert, von Leopoldi, bis Leopold II., Wien 1967; Victor L. Tapié, Die Völker unter dem Doppeladler, Graz 1975; Volker Press, Die Erblande und das Reich von Albrecht II. bis Karl VI. (1438-1740), in: Robert A. Kann/Friedrich Prinz (Hg.), Deutschland und Österreich, Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien/München 1980, 4488; Robert lohn Weston Evans, Das Werden der Habsburgermonarchie 1550-1700, Gesellschaft, Kultur, Institutionen, 2. Aufl., Wien 1989; Jean Bérenger, Die Geschichte des Habsburgerreiches 1273 bis 1918, 2. Aufl., Wien 1996. Volker Press, Österreichische Großmachtbildung und Reichsverfassung, Zur kaiserlichen Stellung nach 1648, in: MIÖG 98 (1990), 131-154; Ders., Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740 - Versuch einer Neubewertung, in: Ders., Das Alte Reich, Ausgewählte Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 2000, 189-222; Anton Schindling, Leopold I. 1658-1705, in: Schindling/Ziegler (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit, 168-185; Hans Schmidt, Joseph I. (1705-1711), in: Ebd., 186-199; Ders., Karl VI. (1711-1740), in: Ebd., 200-214. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches; Ders., „Wo Freiheit ist und Recht...", da ist der Deutsche Untertan? In: Matthias Werner (Hg.), Identität und Geschichte, Weimar 1997, 105-124; Ders., Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichs-Staats, in: Bußmann/Schilling, 1648 - Krieg und Frieden in Europa, Aufsatzband 1: Geschichte, Religion, Recht und Gesellschaft, 447-454; Ders., Angst vor dem Kaiser? Die Habsburger, die Erblande und die deutsche Libertät im 17. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, Mainz 1999, 329-348; Ders., Teutsche Kriege, Nationale Deutungsmuster und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation, Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum 1. Weltkrieg, München 2000, 33-61; Ders., Die frühneuzeitliche Idee „deutsche Nation",
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War der Westfälische Frieden also eine katholische Niederlage? Gemessen an dem gegenreformatorischen Maximalprogramm des Restitutionsedikts war er das sicherlich. Aber was die langfristige Sicherung und Stabilisierung der katholischen Kirche in den Territorien und Städten des Reiches angeht, stellt sich das Bild sehr facettenreich dar. Der Benediktiner Adam Adami, der 1648 sein Kloster definitiv dem lutherischen Herzog von Württemberg überlassen musste, Kardinal Mazarin, der einen militärischen und diplomatischen Sieg für den König von Frankreich errungen hatte, die Fürstbischöfe von Augsburg und Osnabrück, die Papst Innozenz X. zum Protest gegen den Frieden veranlassten, der Reichserzkanzler und Erzbischof Johann Philipp von Schönborn in Mainz, der alte Kurfürst Maximilian von Bayern und der eine Generation jüngere Kaiser Ferdinand III. in Wien, die alle drei die gegen den Papst gerichtete Anti-Protestklausel mittrugen, hatten jeweils eine ganz andere „katholische Sicht" auf den erzielten Friedensschluss. Eine gewisse Verhaltenheit der Stimmung angesichts des notwendig gewordenen Zurücksteckens von Maximalzielen und der Relativierung von konfessionellen Loyalitäten ist unübersehbar. Für die Fremdwahrnehmung der Protestanten, die das Ende ihres Alptraums einer drohenden Gegenreformation feierten, war dagegen die eigene Selbstbehauptung natürlich auch eine katholische Niederlage. Zweifel und Verhaltenheit gab es aber hier ebenfalls: Das Schicksal der Protestanten unter habsburgischer Herrschaft wurde von Emigranten wie Jan Amos Comenius beklagt, und der Weg der österreichischen und böhmischen Exulanten stand vielen vor Augen. 4 4 Das Konfessionen übergreifende epochale Lebensgefühl einer Hinfälligkeit und Wechselhaftigkeit des Daseins ließ weder zu viel Triumphalismus, noch zu viel Katastrophenpanik zu, sondern lehrte eher nüchternen Gleichmut im Ertragen der Launen von Glück
Mehrkonfessionalität und säkulare Werte, in: Haupt/Langewiesche (Hg.), Nation und Religion, 3367; Ders., Die „deutsche Freiheit" und der Westfälische Friede, in: Asch u. a. (Hg.), Frieden und Krieg, 323-347; Ders., Das frühneuzeitliche Reich - komplementärer Staat und föderative Nation, in: HZ 273 (2001), 371-399; Ders., Das frühneuzeitliche Reich - Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation? in: Matthias Schnettger (Hg.), Imperium Romanum - irreguläre corpus - Teutscher Reichs-Staat, Mainz 2002, 247-277; Anton Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648-1806, Das neue Bild vom Alten Reich, in: Olaf Asbach/Klaus Malettke/Sven Externbrink (Hg.), Altes Reich, Frankreich und Europa, Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2001, 25-54. 44
Klaus Schaller, Johann Amos Comenius, Ein pädagogisches Porträt, Stuttgart 2003; Werner Schnabel, Österreichische Exulanten in oberdeutschen Reichstädten, Zur Migration von Führungsschichten im 17. Jahrhundert, München 1992.
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und U n g l ü c k : 4 5 W i e der s t o i s c h e W e i s e oder der christliche Märtyrer galt e s den widerwärtigen u n d unkalkulierbaren G e g e n m ä c h t e n zu trotzen. 4 6 D e r W e s t f ä l i s c h e Frieden mit Normaljahr, Parität und A u s w a n d e r u n g s r e c h t
kam
auch den K a t h o l i k e n z u g u t e - d e n g e i s t l i c h e n u n d w e l t l i c h e n Herrschaftsträgern, d e n w e l t g e i s t l i c h e n und o r d e n s g e i s t l i c h e n A n g e h ö r i g e n d e s Klerus, w i e d e n e i n z e l n e n kat h o l i s c h e n Untertanen. 4 7 N a c h e i n e m als Strafgericht G o t t e s u n d verheerende L a n d p l a g e erlebten K r i e g v o n dreißig Jahren mit einer v i e l f a c h e l e m e n t a r e n B e d r o h u n g
und
R e c h t s u n s i c h e r h e i t war vor a l l e m d i e jetzt durch das R e i c h u n d s e i n e Institutionen g e w ä h r l e i s t e t e R e c h t s s i c h e r h e i t e i n großer G e w i n n . 4 8 V e r g l i c h e n mit anderen europäis c h e n R e i c h e n stellte sich die Situation der katholischen Kirche im „Mutterland der R e f o r m a t i o n " am E n d e d e s K o n f e s s i o n e l l e n Zeitalters gar nicht s o sehr u n g ü n s t i g dar. 4 9 D a s Kaisertum e b e n s o w i e das Erzkanzleramt, und damit d i e b e i d e n h ö c h s t e n Ä m t e r i m R e i c h , d e s g l e i c h e n d i e M e h r h e i t i m K u r f ü r s t e n k o l l e g i u m b l i e b e n in katholischen H ä n d e n . 5 0 D e r k a t h o l i s c h e A d e l behielt s e i n e V e r s o r g u n g s p o s i t i o n e n in der R e i c h s k i r c h e , 45
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Notker Hammerstein/Gerrit Walther (Hg.), Späthumanismus, Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000; Anton Schindling, Die Deutschen und der Dreißigjährige Krieg, Zeiterfahrung des steten Wechsels und Reichspolitik, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas, Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, Berlin 2002, 185-200. Vgl. Anm. 15. Armgard von Reden-Dohna, Reichsstandschaft und Klosterherrschaft, Die schwäbischen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 1982; Anton Schindling, Kurfürst Clemens August, der „Herr Fünfkirchen", Rokokoprälat und Reichspolitiker 1700-1761, in: Clemens August, Fürstbischof, Jagdherr, Mäzen, Eine kulturhistorische Ausstellung aus Anlaß des 250jährigen Jubiläums von Schloß Clemenswerth, Ausstellungskatalog, Bramsche 1987, 15-28; Ders., Die Territorien am Rhein zwischen Reich und Frankreich im 18. Jahrhundert, in: Heinke Wunderlich/Jean Mondot (Hg.), Deutsch-Französische Begegnungen am Rhein 1700-1789, Colloquium der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und der Société française d'Étude du XVille Siècle, Heidelberg 1994, 9-16; Wolfgang Wüst, Das Fürstbistum Augsburg, Ein geistlicher Staat im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Augsburg 1997; Frank Günter Zehnder/Werner Schäfke (Hg.), Der Riss im Himmel, Clemens August und seine Epoche [anlässlich der Ausstellung: Der Riss im Himmel, Clemens August und seine Epoche in Schloss Augustusburg in Brühl 2000], Köln 2000; Kurt Andermann, Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in: HZ 271 (2000), 593-619. Anton Schindling, Das Strafgericht Gottes, Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Erfahrungsgeschichte und Konfessionalisierung, in: Asche/Schindling (Hg.), Strafgericht Gottes, 11-51. Márta Fata, Ungarn, das Reich der Stephanskrone im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Multiethnizität, Land und Konfession 1500-1700, hg. von Franz Brendle/Anton Schindling, Münster 2000; Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Nordische Königreiche und Konfession 1500 bis 1600, Münster 2003. Anton Schindling/Walter Ziegler, Das deutsche Kaisertum in der Neuzeit, Gedanken zu Wesen und Wandlungen, in: Dies. (Hg.), Kaiser der Neuzeit, 11-30; Peter Claus Hartmann (Hg.), Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler, Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten
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die durch eine Säkularisation der Hochstifte durch weltliche Territorialfürsten stark gefährdet gewesen wären. 51 Damit korrelierte eine auch bei den Untertanen in den geistlichen Fürstentümern und den Klosterherrschaften anzutreffende Wahrnehmungs52
weise, dass „unter dem Krummstab gut zu leben" sei. Erst die Kritik der Aufklärer verstörte im späteren 18. Jahrhundert diese selbstgenügsame Sicherheit. 53
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Mannes im alten Reich, Stuttgart 1997; Ders. (Hg.), Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart 1998. Friedhelm Jürgensmeier, Johann Philipp von Schönborn (1605 - 1673) und die römische Kurie, ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts, Mainz 1977; Ders. (Hg.), Die von Walderdorff, Acht Jahrhunderte Wechselbeziehungen zwischen Region - Reich - Kirche und einem rheinischen Adelsgeschlecht, Köln 1998; Alfred Schröcker, Ein Schönborn im Reich, Studien zur Reichspolitik des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn (1655-1729), Wiesbaden 1978; Ders., Die Patronage des Lothar Franz von Schönborn (1655-1729), Sozialgeschichtliche Studie zum Beziehungsnetz in der Germania Sacra, Wiesbaden 1981; Bernhard Theil, Das (freiweltliche) Damenstift Buchau am Federsee (Germania Sacra, N.F. 32, 4), Berlin 1994; Ute Küppers-Braun, Frauen des hohen Adels im Kaiserlich-Freiweltlichen Damenstift Essen (1605-1803), Eine verfassungsund sozialgeschichtliche Studie, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stifte Thorn, Elten, Vreden und St. Ursula in Köln, Münster 1997; Kurt Andermann (Hg.), Geistliches Leben und standesgemäßes Auskommen, Adelige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart, Tübingen 1998; Dienst und Herrschaft, Aspekte adligen Lebens am Beispiel der Familie Walderdorff, Ausstellungskatalog, Trier 1998; Christophe Duhamelle, L'Héritage collectif, La noblesse d'Église rhénane, 17e et 18e siècles, Paris 1998. Neuerdings vgl. die Ausstellungskataloge anlässlich des zweihundertjährigen Gedenkens der Säkularisation von 1803: Gisela Weiß/Gerd Dethlefs (Hg.), „Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians" - Westfalens Aufbruch in die Moderne (Ausstellung v. 27. 10. 2002 bis 16. 3. 2003 im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster), Bönen 2002; Hans Ulrich Rudolf (Hg.), Alte Klöster - neue Herren, die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, Ausstellungskatalog zur Großen Landesausstellung Baden-Württemberg 2003 in Bad Schussenried (12. 4. - 5. 10. 2003), Aufsätze, 1. Teil: Vorgeschichte und Verlauf der Säkularisation, 2. Teil: Die Mediatisierung, Auswirkung von Säkularisation und Mediatisierung, Ostfildern 2003; Kirchengut in Fürstenhand, 1803 - Säkularisation in Baden und Württemberg, Revolution von oben, hg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg/Stadt Bruchsal (Begleitband zur Ausstellung vom 22. März bis 7. September 2003 im Schloß Bruchsal), Ubstadt-Weiher 2003; Peter Schmidt/Klemens Unger (Hg.), 1803 - Wende in Europas Mitte, Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter (Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum Regensburg, 29. Mai bis 24. August 2003), Regensburg 2003; Rainer Braun/Joachim Wild (Hg.), Bayern ohne Klöster? Die Säkularisation 1802/03 und die Folgen, Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, München 22. Februar bis 18. Mai 2003 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns, 45), 2. Aufl., München 2003; Reinhard Feldmann/Reimund Haas/Eckehard Krahl (Hg.), Frömmigkeit und Wissen, Rheinisch-Westfälische Kapuzinerbibliotheken vor der Säkularisation (Katalog zur Wanderausstellung aus Anlaß des Gedenkjahres 1803/2003), Münster 2003; Ulrike Gärtner/Judith Koppetsch (Hg.), Klostersturm und Fürstenrevolution, Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser 1794/1803 (Begleitbuch zur Ausstellung der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen und des Museums für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, 24. Mai bis 17. August 2003, Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen: Reihe D, Ausstellungskataloge staatlicher Archive, 31), Bönen 2003; Renate Baumgärtel-Fleisch-
War ,1648' eine katholische Niederlage?
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Vor allem in den gemischtkonfessionellen und konfessionell umstrittenen Territorien und Städten wussten auch die Katholiken die durch den Religionsfrieden erzielte Rechtssicherheit zu schätzen. Die pathetische Geste der Ecclesia triumphans wandte sich in Zukunft weniger nach außen zur Wiedergewinnung der „Ketzer", sondern vielmehr nach innen zur Stabilisierung und Festigung der Kohärenz im eigenen Lager. In Parallele zum protestantischen Pietismus stellte auch die nach 1648 aufblühende katholische Barockfrömmigkeit eine Verarbeitung von Kriegserfahrungen dar. Die retrospektive Frage nach Sieg oder Niederlage trat jetzt hinter einem stark auf die Gewinnung des eigenen Seelenheils und die individuelle wie kollektive Frömmigkeit konzentrierten prospektiven Denken und Handeln der Menschen zurück.54 Nicht mehr der kämpferische Erzengel Michael als Symbol der Gegenreformation, sondern der friedliche Brückenheilige und böhmische Märtyrer Johann von Nepomuk war im 18. Jahrhundert die Symbolfigur des neuen katholischen Reiches unter der „milden" Führung des Hauses Österreich.55
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mann (Hg.), Bamberg wird bayerisch, Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg 1802/03, Handbuch zur Ausstellung, 10. September bis 9. November 2003, Bamberg 2003. Peter Wende, Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, Lübeck 1966; Horst Möller, Aufklärung in Preußen, Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974; Günter Hess, Deutsche Nationalliteratur und oberdeutsche Provinz, Zu Geschichte und Grenzen eines Vorurteils, in: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 8 (1985), 7-30; Peter Hersche, Intendierte Rückständigkeit, Zur Charakteristik des Geistlichen Staates im Alten Reich, in: Georg Schmidt (Hg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Wiesbaden 1989, 133-149. Heribert Smolinsky/Marc Venard (Hg.), Die Zeit der Konfessionen (1530-1620/30), Die Geschichte des Christentums, Religion, Politik, Kultur, Bd. 8, Freiburg u. a. 1992; Dies. (Hg.), Das Zeitalter der Vernunft (1620/30-1750), Die Geschichte des Christentums, Religion, Politik, Kultur, Bd. 9, Freiburg u. a. 1998. Johannes Neuhardt (Hg.), 250 Jahre hl. Johannes von Nepomuk, Ausstellungskatalog, Salzburg 1979; Anna Coreth, Pietas Austriaca, Österreichische Frömmigkeit im Barock, 2. Aufl., Wien/München 1982; Reinhold Baumstark (Hg.), Johann von Nepomuk, 1393-1993, Ausstellungskatalog des Bayerischen Nationalmuseums München, in Zusammenarbeit mit dem Prämonstratenserkloster Strahov, Prag und dem Nationalmuseum Prag, Kloster Strahov, Prag 17. Mai - 15. August 1993, München 1993; Barbara Bauer (Hg.), Triumphus divi Michaelis archangeli bavarici, Triumph des Heiligen Michael, Patron Bayerns (München 1597), Einleitung - Text und Übersetzung - Kommentar, Regensburg 2000.
HORST CARL
„Strafe Gottes" - Krise und Beharrung religiöser Deutungsmuster in der Niederlage gegen die Französische Revolution
1. Auswirkungen der Revolutionskriege auf Nordwesteuropa Die Französischen Revolutionskriege, in deren Gefolge die Revolutionsheere die Fahne der Revolution zwischen 1792 und 1801 weit über die Grenzen Frankreichs hinaustrugen und in den benachbarten Staaten die etablierte politische und gesellschaftliche Ordnung zum Einsturz brachten, bieten aus der Sicht der Kriegsgegner Frankreichs reiches Material für das Thema „Kriegsniederlagen", denn für sie stellten sich diese Kriege als eine fast ununterbrochene Folge von militärischen Niederlagen dar. Nur gelegentlich und letztlich nicht entscheidend wandte sich das Kriegsglück den Alliierten zu. Ihr Kriegsziel, die militärische Eindämmung der Französischen Revolution und die Restauration der Alten Ordnung, erreichten die Verbündeten nicht, im Gegenteil: Die Friedensschlüsse von Lunéville 1801 und Amiens 1802 bestätigten die militärischen Erfolge der Revolutionsheere in Form von Annexionen der Nachbarterritorien im Norden und Osten des Hexagons oder der Etablierung von Satellitenstaaten. 1 Die Revolutionskriege erlauben aber auch eine spezifische Engführung mit dem Themenfeld „Religion". „Iis [die Revolutionäre, H. C.] attaquèrent à la fois le trône de la divinité dans le Ciel et celui des Souverains sur la terre [...]", heißt es in einer gegenrevolutionären Propagandaschrift des Jahres 1793, die diesen Vorwurf zum An-
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Zu den Revolutionskriegen vgl. Timothy C. W. Blanning, The French Revolutionary Wars, 17871802, London 1996; ders., The French Revolution in Germany, Occupation and Resistance in the Rhineland 1792-1802, Oxford 1983; Elisabeth Fehrenbach, Die Ideologisierung des Krieges und die Radikalisierung der Französischen Revolution, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Revolution und Krieg, Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn 1989, 57-66; Jean Delmas (Hg.), Histoire Militaire de la France, Bd. 2: de 1715 à 1815, Paris 1992, 195ff.; Charles Ingrao, War and Legitimation in Germany in the Revolutionary Age, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780-1815, Mainz 1998, 1-22.
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gelpunkt der gegenrevolutionären Propaganda machte. 2 In den Revolutionskriegen nach 1792 kündigte sich aufgrund der französischen Massenheere nicht nur eine neue militärische Qualität des Krieges an, 3 sie zeichneten sich darüber hinaus dadurch aus, dass mit ihnen eine bislang präzedenzlose Herausforderung der religiösen Sinnwelt einherging, schienen die siegreichen Revolutionäre doch die christliche Religion selbst in Frage zu stellen.4 Wenn Friedrich Wilhelm Graf unlängst Religion funktional als „eine alle Negativitätserfahrungen integrierende, tragende Gewissheit" 5 definiert hat, so ist zunächst einmal die Erfahrung von Kriegsniederlagen in ganz allgemeinem Sinne ein Prüfstein für die Tragfähigkeit einer solchen Zuschreibung. Sie ist es in den Revolutionskriegen jedoch im Besonderen, weil hier die Niederlage mit „Negativitätserfahrungen" einherging, die die tradierte christliche Religion selbst betrafen: Religiöses Bewusstsein musste sogar die „Negativitätserfahrung" integrieren, dass die - christliche - Religion selbst negiert wurde. Die Frage nach Formen religiöser bzw. kirchlich angeleiteter Bewältigung von Kriegsniederlagen gegen die Französische Revolution lässt sich deshalb darauf zuspitzen, ob das traditionelle Koordinatensystem, in dem kriegerische Gewalt religiös gedeutet wurde, durch diese neuartigen Erfahrungen außer Kraft gesetzt wurde oder ob die Relationen neu bestimmt wurden. Wenn im Folgenden für diese Fragestellung der nordwesteuropäische Raum - Belgien, die Niederlande und die Rheinlande - als Referenzraum herangezogen wird, so lassen sich für eine solche Wahl mehrere Gründe anführen: Der kriegerische Revolutionsexport hat hier besonders intensive Züge angenommen, denn diese Großregion ist wohl wie keine andere in den Sog der Französi-
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Anon. [du Jarey], Discours sur la Délivrance de la Ville de Maestricht, par l'Auteur de Γ Instruction sur la cause de la Révolution, Maestricht 1793, 11 (W. P. C. Knüttel, Catalogus van de Pamfletten-Verzameling berustende in de Koninklijke Bibliotheek, Nr. 22156).
3
Stig Förster, Der Weltkrieg, 1 7 9 2 - 1 8 1 5 , Bewaffnete Konflikte und Revolutionen in der Weltgesellschaft, in: Jost Dülffer (Hg.), Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1 8 0 0 - 1 8 1 4 , Münster 1995 (Jahrbuch für Historische Friedensforschung 3), 17-38; Jeremy Black, Revolutionary and Napoleonic Warfare, in: ders. (Hg.), European Warfare 1 4 5 3 - 1 8 1 5 , London 1999, 224-246; Horst Carl, Der Mythos des Befreiungskrieges, Die „martialische Nation" im Zeitalter der Revolutions· und Befreiungskriege 1 7 9 2 - 1 8 1 5 , in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation, Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, 6283, hier: 64-69.
4
Michel Vovelle, La Révolution contre l'Eglise, Paris 1988; Alfred Minke, La vie religieuse dans le département de l'Ourthe de 1797 à 1802, in: Bernard Plongeron (Hg.), Pratiques religieuses, Mentalités et Spiritualités dans l'Europe révolutionnaire ( 1 7 7 0 - 1 8 2 0 ) , Turnhout 1988. Friedrich Wilhelm Graf, Die Nation - von Gott „erfunden"? Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.), „Gott mit uns", Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 285-317, hier: 297.
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sehen Revolution und des nachfolgenden napoleonischen Empire geraten.6 Ab 1792 wurde der gesamte nordwesteuropäische Raum in die Revolutionskriege mit Invasion und militärischer Okkupation hineingezogen: 1794/95 eroberten die Franzosen nicht alleine Belgien, sondern auch die Niederlande und die linksrheinischen Rheinlande, und der Umsturz der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des Ancien Régime, aber auch die Folgeerscheinungen und Anforderungen des modernen Krieges der Massenheere wurden zur einschneidenden Kriegserfahrung in den betroffenen Ländern. Die „Niederlage" konkretisierte sich folglich für die Zivilbevölkerung in den Erfahrungen mit feindlichen Armeen, deren schiere Größenordnung das bislang Gewohnte sprengte. Die Jahre nach 1794 waren in Belgien und den Rheinlanden geprägt von einer harten und oft chaotischen französischen Besatzungspolitik, und auch die Niederlande wurden 1795 mit einer kurzen, aber umso ruinöseren Besatzungsepisode konfrontiert. Die auch sonst in Okkupationszeiten übliche Ausbeutung der Zivilbevölkerung durch eine siegreiche Armee nahm - gesteigert durch die extreme Korruption der Revolutionssoldaten und die Assignateninflation - präzedenzlose Ausmaße an.7
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Für die einzelnen Großregionen liegen für die Revolutionsepoche aus national- oder regionalgeschichtlicher Perspektive durchaus gewichtige und qualitätvolle Darstellungen vor, doch wird nur in Ausnahmefällen in vergleichender Absicht der nationalgeschichtliche Rahmen überschritten: Für die Niederlande und Belgien einschlägig sind die entsprechenden Bände der Algemenen Geschiedenis der Nederlanden, 15 Bde., Haarlem 1977-1983. Beispiele neuerer gesamtniederländischer Geschichtsdarstellungen sind etwa Emst H. Kossmann, De Lage Landen 1780-1940, Twee eeuwen Nederland en Belgie, Amsterdam, Brüssel 1986. Für den Vergleich von Rheinland und belgischen Departements sind die Studien von Alfred Minke grundlegend: Hommes de Dieu et Révolution entre Meuse, Rhin et Moselle, Turnhout 1992; ders., Die Kirchengesetzgebung während der französischen Revolution in den Departements Ourthe und Roer (1794-1799), in: Detlev Arens (Hg.), Rhein-Maas, Kulturraum in Europa, Köln 1991, 62-69; Christopher Buchholz, Französischer Staatskult 1792-1813 im linksrheinischen Deutschland, Mit Vergleichen zu den Nachbardepartements der habsburgischen Niederlande, Frankfurt 1997. Bei Blanning, French Revolution, ist der Gegensatz von Okkupation und revolutionärer Befreiungsideologie Programm einer dezidiert revolutionskritischen Darstellung. Zur Okkupation in Belgien vgl. Robert Devleeshouwer, L'arrondissement du Brabant sous l'occupation française, 1794—1795, aspects administratifs et économiques, Bruxelles 1964. Für die Niederlande ζ. Β. Simon Schama, Patriots and Liberators, Revolution in the Netherlands 1780-1813, London 1977. Für die Rheinlande bietet die Quellensammlung von Joseph Hansen umfangreiches Material: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780-1801, 4 Bde., Bonn 1931-1938; Uwe Andrae, Die Rheinländer, die Revolution und der Krieg 17941798, Studien über das rheinische Erzstift Köln unter der Besatzung durch die französischen Revolutionstruppen 1794-1798 im Spiegel von Petitionen, Essen 1994; Horst Carl, Französische Besatzungsherrschaft im Alten Reich, Völkerrechtliche, verwaltungs- und erfahrungsgeschichtliche Kontinuitätslinien französischer Okkupationen am Niederrhein im 17. und 18. Jahrhundert, in: Francia 23/2 (1996), 33-66; Josef Smets, Les Pays Rhénans (1794-1814), Le comportement des Rhénans face à l'occupation française, Bem 1997.
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Im Unterschied zu früheren Besatzungsregimes beschränkten sich die Revolutionäre nicht auf die finanzielle Ausbeutung der besetzten Gebiete, sondern nahmen tiefe Einschnitte im politischen und gesellschaftlichen System vor. Politisch besiegelte schließlich die Annexion durch Frankreich bzw. im Fall der Niederlande der Status eines Satellitenstaates von Frankreichs Gnaden die Niederlage der alten Herrschaften. Die Niederlage wurde somit „nachhaltig". Mehr noch gilt dies für den gesellschaftlichen Bereich, wo die Rückkehr zum Ancien Régime durch die Radikalität der französischen Maßnahmen verbaut wurde. Die militärische Niederlage gegen die Französische Revolution hatte folglich den Charakter einer tiefen Zäsur mit einschneidenden und dauerhaften Auswirkungen. Weil die Revolutionäre in den unterworfenen und besetzten Gebieten schließlich auch religionspolitisch ihre Vorstellungen zu verwirklichen suchten - auf Kosten der etablierten kirchlichen Institutionen - , nahmen die Zeitgenossen die militärische Niederlage des Ancien Régime auch als Auftakt zu einem Kirchenkampf wahr, der zumindest die katholische Kirche und Religion existenziell bedrohte. Es wiederholte sich in den besetzten und annektierten Gebieten die Erfahrung eines g Kirchenkampfes mit radikalen Ansätzen antichristlicher Kultver-
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drängung. Die antikirchlichen Maßnahmen der Revolutionäre führten in Belgien schließlich für die katholische Kirche zu einer Zerreißprobe in Gestalt eines Schismas: Wie in Frankreich nach 1790 standen sich in Belgien nach 1797 Eid verweigernde und Eid leistende Priester gegenüber.9 Schließlich sind große Teile dieser Region mit Ausnahme Belgiens gemischt konfessionell gewesen. Damit kann nicht nur danach gefragt werden, welche Rolle konfessionelle Reaktionsmuster und Spezifika für die Bewältigung der Niederlage gespielt haben: Hat die Erfahrung der revolutionären Überwältigung konfessionelle Deutungskulturen eher nivelliert oder erneut akzentuiert ?
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Buchholz, Staatskult, 23-31; Rolf Reichardt, Französische Revolution, in: TRE 11, Berlin 1983, 401-417, hier: 409; Horst Carl, Revolution und Rechristianisierung, Soziale und religiöse Umbruchserfahrungen im Rheinland bis zum Konkordat 1801, in: Walter G.Rödel/Regina Schwerdtfeger (Hg.), Zerfall und Wiederbeginn, V o m Erzbistum zum Bistum Mainz ( 1 7 9 2 / 9 7 1830), Ein Vergleich, Festschrift für Friedhelm Jürgensmeier, Würzburg 2001, 87-102, hier 94-96; Elisabeth Wagner, Revolution, Religiosität und Kirchen im Rheinland um 1800, in: Peter Hüttenberger/Hansgeorg Molitor (Hg.), Franzosen und Deutsche am Rhein: 1 7 8 9 - 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Essen 1989, 267-288.
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Bernard Plongeron (Hg.), Histoire du Christianisme des origines à nos jours, Bd. 10: Les défis de la modernité (1750-1840), Paris 1997, 427ff.; Minke, Hommes de Dieu, 91ff.; Etienne Hélin, La chute de deux colosses aux pieds d'argile: Noblesse et Clergé, in: La Belgique française 1 7 9 2 1815, ed. par Hervé Hasquin, Bruxelles 1993, 99-140, v. a. 129f.; Kurt Priem, God of de keizer, Clerus en Politiek te Brugge ( 1 7 8 0 - 1 8 0 2 ) , Brugge 1996, 75-92.
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2. Religiöse Deutungsmuster in der Konfrontation mit der revolutionären Gegenwelt Die offiziellen Deutungsangebote der Kirchen für die Sinngebung und Bewältigung der folgenschweren Niederlage gegen die Revolutionäre waren indessen konfessionsübergreifend. Aus den einschlägigen kirchlichen Verlautbarungen lassen sie sich unschwer erschließen, liegen diese doch in großer Zahl in den Archiven und häufig in gedruckter Form vor. Für die katholische Seite lassen sich die Hirtenbriefe heranziehen, denen für die protestantischen Kirchen die Anweisungen der Konsistorien für Predigten zu bestimmten staatlich festgesetzten Anlässen an die Seite gestellt werden können. Für die Niederlande existiert mit den traditionellen Bid- und Bededagsbrieven sogar der Sonderfall eines konfessionsübergreifenden Fundus offizieller Predigtanleitungen für entsprechende Anlässe. 10 Bei der Synopse der kirchlichen Deutungsangebote „von oben" fällt auf, dass in den Hirtenbriefen und Predigten am Beginn der Revolutionskriege der traditionelle Topos vom Krieg als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen noch nahezu unangefochten bemüht wurde. Dies galt konfessionsübergreifend, wofür die niederländischen Predigten anlässlich der Bid- und Bededagen 1793 und 1794 ebenso Anschauungsmaterial bieten wie die Hirtenbriefe der Bischöfe. „Gott hat das alles zugelassen. Ein großes Strafgericht ist über große Vergehen gekommen und soll wahre Büßer bewirken [...]", verkündete der Brügger Generalvikar Caytan 1793 nach der ersten französischen Besetzung. 11 Das göttliche Strafgericht konnte die Menschen in Gestalt von Naturkatastrophen wie auch Kriegserfahrungen treffen. 12 Wenn in dieser Parallelisierung der Krieg als gleichsam unbeeinflussbares und hinzunehmendes Schicksal beschworen wurde, manifestierte sich darin zugleich eine Distanz zum kriegerischen Geschehen selbst. Immerhin erlaubte es der Topos von der Strafe Gottes, auch sehr viel handfester Partei zu ergreifen - dann nämlich, wenn die göttliche Strafe nicht Ausdruck der eigenen Niederlage war, sondern die Revolutionäre für ihre Untaten traf. Der rheinische
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N. C. Kist, Neêrland's Bededagen en Biddagsbrieven, 2 Tie., Leiden 1848/1849; Peter van Rooden, Religieuze regimes, Over godsdienst en maatschappij in Nederland, 1 5 7 0 - 1 9 9 0 , Amsterdam 1996, 83ff.; ders., Godsdienst en nationalisme in de achttiende eeuw: het voorbeeld van de Republiek, in: Niek C.f. Van Sas (Hg.), Vaderland, Een geschiedenis van de vijftiende eeuw tot 1940, Amsterdam 1999, 201-236. Zitiert bei Jean-Jacques Langendorf, Pamphletisten und Theoretiker der Gegenrevolution 1 7 8 9 1799, München 1989, 83. Zu diesem grundlegenden Deutungsmuster für Kriegserfahrungen vgl. Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes, Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Münster 2001. Zu religiösen Deutungsdiskursen von Naturkatastrophen liegt jetzt der einschlägige Sammelband von Hartmut Lehmann/Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.), Um Himmels Willen, Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003 vor.
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Ordensgeistliche Anno Schnorrenberg kommentierte in seiner Chronik den Anblick verwundeter französischer Soldaten mit der Bemerkung, dies seien „lebendige Zeugen der göttlichen Strafe und des zum Himmel schreienden Blutes Ludwigs XVI.", während Trierer revolutionsfeindliche Zeugnisse von Geistlichen eine Reihe erbaulicher Geschichten zum Besten geben, die eine „auffallende Bestrafung frivolen Spottes mit den Heiligen zur Zeit der Occupation" zum Inhalt haben. 13 Hier war es der rächende Gott, der beschworen wurde, und nicht der zur Buße auffordernde Gott. Doch unbeschadet unterschiedlicher Verwendung des Deutungsmusters von der Strafe Gottes vermittelt eine solche Deutung keine Handlungsorientierungen, die zum aktiven, militärischen Widerstand motivierten. Wenn der militärische Triumph der atheistischen Revolutionäre eine Strafe Gottes für die Sünden der Gläubigen war, war zunächst Buße angesagt, nicht bewaffneter Widerstand. Die adäquate Reaktion auf die umfassende Niederlage lag für den Christen in der Intensivierung persönlicher Frömmigkeit. Dieses Deutungsmuster tendierte folglich zu einer Haltung allenfalls passiven Widerstandes und leidender Hinnahme und fügte sich in einen kirchlichen Deutungshorizont ein, der dem Sieg der Franzosen aus einer Opferperspektive Sinn zu verleihen suchte. Leitbild war das Beispiel Jesu, der durch das Opfer seines Kreuzestodes die Welt erlöst habe und dem schon die Urchristengemeinde gefolgt sei. Das Bild des stellvertretenden Opfers fand seine wirkungsvollste Aktualisierung in der Figur des Märtyrers für den Glauben, als auf dem Höhepunkt der Kirchenverfolgung 1798/99 mehrere hundert belgische Priester deportiert und einige sogar zum Tode verurteilt wurden, und im Rheinland immerhin die Pressionen bis zu Verhaftung und Geiselnahme reichten. Nicht anders als die französischen Revolutionäre mit ihrem Kult der Revolutionsmärtyrer machte sich auch der Klerus das Charisma des Märtyrertums zunutze, um emotionale Bindungen zu stärken. 14 In der katholischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts versuchte die katholische Kirche in Belgien in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus aus diesem symbolischen Kapital einer Verfolgungszeit Nutzen zu ziehen. 15 Allerdings kam in der Auseinandersetzung mit den Revolutionären in den 1790er Jahren auch die Ambivalenz der Märtyrerdeutung zum Tragen, die in der Fixierung auf die Niederlage nur wenig Energie auf aktivere Formen der Regeneration lenkte und
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Nachweise bei Carl, Revolution, 97. In Rom erschien im Auftrag von Papst Pius VI. bereits 1794 eine erste offiziöse Darstellung der „persécution française": Pierre d'Hesmivy d'Auribeau, Mémoires pour servir à l'histoire de la persécution française, recueillis par les ordres de notre très-saint-père le Pape Pie VI, Rom 1794. Charakteristisch für diese katholische Erinnerungskultur ist ein Anknüpfen an frühchristliche Formen des Märtyrerkatalogs: Jan-Baptist van Bavegem, Het martelaarsboek of heldhaftig gedrag der Belgische geestelijkheid ten tijde der Fransche omwenteling op het einde der achttiende eeuw, Gand 1875. Zur Verfolgungszeit in der katholischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts vgl. Minke, Hommes de dieu, 228f.
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stattdessen zur Schaffung eines selbstgeschaffenen mentalen Ghettos beitrug. 16 In der konkreten Situation der Revolutionskriege vertraten der Glaubensmärtyrer und der Verteidiger des Vaterlandes jedenfalls nahezu inkompatible Handlungsangebote. Die Möglichkeit religiöser Deutungsmuster, Angebote der Ohnmachtsbewältigung zu offerieren und Trost und Hoffnung zu artikulieren, zeichnet sie allerdings vor säkularen Deutungsmustern aus, denn der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung vernachlässigte diesen Erfahrungsbereich eklatant. Für diejenigen Kirchenmitglieder, die mit der Französischen Revolution Verlusterfahrungen verbanden, ließ sich in Verlust und Niederlage immer noch der Sinn eines Opfers entdecken. Dabei war dem Schreckensszenario möglicher oder auch praktizierter Eingriffe der Kirchen- und Religionsfeinde kaum eine Grenze gesetzt, sie reichten von Zerstörung und Profanierung von Kirchen und Altären bis zu Verbannung der Priester und Durchsetzung eines revolutionären Ersatzkultes. Aber selbst das Maximum möglicher Verlusterfahrung konnte in den Augen der Gläubigen nicht den innerlichen Bezirk von Gewissen und Gesinnung einreißen. 17 Diese Leidensperspektive dominierte angesichts immer massiverer Bedrohung durch die Revolutionäre zunehmend die offizielle kirchliche Sinnstiftung. Neben dem Vorbild des leidenden Christus wurde in Predigten, die sich für die späten 1790er Jahre im Rheinland und in Belgien erhalten haben, vor allem die Urkirche in den ersten Christenverfolgungen beschworen: „Die ersten Christen wußten zu leiden, zu sterben - aber nicht zu rebellieren [...]".18 Hingegen fehlen Rekurse auf alttestamentarische Gestalten wie die Makkabäer, deren religiöser Heroismus seit den Zeiten des Aufstandes gegen die spanische Herrschaft im 16. Jahrhundert immer wieder als biblisches Exempel bewaffneten Widerstandes gegen Unterjochung evoziert worden war. Selbst für die Niederlande, wo es eine ausgeprägte Tradition der Berufung auf die alttestamentarischen Freiheitskämpfer gab, 19 war der Gedanke an einen religiös motivierten und legitimierten Krieg nicht mehr opportun. Die Aufklärung hatte offenbar diese Form religiöser Kriegsrhetorik diskreditiert, indem deren Vertreter die „nationale" und gänzlich säkulare Freiheitsbewegung der Bataver zum Vorbild erkoren hatten. Auch wenn die Patriotenbewegung, die diese Freiheitsideologie auf ihre Fahnen geschrieben hatte, 1787 scheiterte, hatte sie den
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Diese kritische Sicht auf die Märtyrerdeutung als eines perspektivlosen Verlierermodells findet sich bei Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, 2. Aufl., Berlin 2001, 268f. Justus Hashagen, Das Rheinland und die französische Herrschaft, Beiträge zur Charakteristik ihres Gegensatzes, Bonn 1908, 273; Hansgeorg Molitor, La vie en Rhenanie française, 1794—1815, in: Occupants - Occupés, 1 7 9 2 - 1 8 1 5 , Colloque de Bruxelles, 29 et 30 janvier, Bruxelles 1969, 59-67, hier: 60; Blanning, French Revolution, 207. Stadsarchief Heerlen, Dionysius Penners, Mixtae novitates et Antiquitates ..., fol. 37. Marijke Meijer Drees, „Vechten voor het vaderland" in de literatuur, 1 6 5 0 - 1 7 5 0 , in: Van Sas (Hg.), Vaderland, 109-142, hier: 121f.
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Freiheitsdiskurs in den Niederlanden doch so nachhaltig geprägt, dass ein Rückgriff auf die biblisch-religiösen Vorbilder hoffnungslos antiquiert erscheinen musste.20 Dies heißt jedoch nicht, dass religiösen Deutungsmustern die Fähigkeit abhanden gekommen wäre, klare Oppositionen und damit Feindbilder zu formulieren. Vor allem 1794, als nach den Vorgängen in Frankreich und den Erfahrungen mit den Franzosen bei der ersten Invasion Belgiens und der Rheinlande den Kirchenoberen nicht mehr zweifelhaft sein konnte, dass bei einer Niederlage ein gänzlicher Umsturz aller Verhältnisse drohte, verschärfte sich der Ton in den kirchenoffiziellen Verlautbarungen und revolutionsfeindlichen Propagandaschriften. Dabei wurde in zunehmendem Maße an das Feindbild der „gottlosen Franzosen" appelliert, womit ein Topos wieder aufgegriffen wurde, der seit dem Spätmittelalter zum Fundus antifranzösischer Propaganda gehörte.21 Allerdings hatte dieser Topos im 18. Jahrhundert seine religiöse Konnotation zunehmend eingebüßt, so dass er etwa im Siebenjährigen Krieg allenfalls noch in der vergleichsweise harmlosen Variante kollektiver französischer Leichtlebigkeit und Sittenlosigkeit präsent blieb. Zu seiner erneuten Zuspitzung bedurfte es deshalb einigen argumentativen Aufwandes. So beschwor der Autor des schon zitierten Discours sur la Délivrance de la ville de Maestricht 1793 die Fürsten, ähnlich wie weiland Jan Sobieski, der als Verteidiger des Glaubens 1683 vor Wien die Türken zurückgeworfen habe, nunmehr die neuen Feinde der Christenheit vor Maastricht zu besiegen.22 Die Gleichsetzung der gottlosen Franzosen mit den Türken war keinesfalls originell, sondern ein seit dem Spätmittelalter bekanntes Versatzstück.23 Um dem solcherart geschärften Feindbild Plausibilität zu verschaffen, mussten aber auch lokale Ereignisse wie die Belagerung und Entsetzung der niederländischen Sperrfestung Maastricht Anfang 1793 eine nahezu universalhistorische Bedeutung erhalten. Ein derart religiös aufgeladenes Feindbild besaß folglich eine Affinität zur endzeitlichen Stilisierung der Bedrohung durch die französischen Revolutionäre, bei denen schließlich die aggressive „Gottlosigkeit" zum kirchen- und christentumsfeindlichen Programm geworden war. Wenn konservative Revolutionsgegner die Französische Revolution als gleichzeitigen Angriff auf den Thron der Souveräne auf Erden wie den Gottes im Himmel werteten, war es nur noch ein kleiner Schritt zu einer eschatologi20
Wyger R. E. Velema, Vrijheid als volkssoevereiniteit, De ontwikkeling van het politieke vrijheidsbegrip in de Republiek, 1 7 8 0 - 1 7 9 5 , in: Eco O . G . Haitsma Mulier/Wyger R. E. Velema (Hg.), Vrijheid, Amsterdam 1999, 287-303.
21
Zur antifranzösischen Propaganda nach 1648 im Reich künftig Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde, Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Diss. Osnabrück 2001, erscheint Mainz 2004. Dass dieser antifranzösische Topos auch im 19. Jahrhundert problemlos reaktualisiert werden konnte, hat Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde, Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1 7 9 2 - 1 9 1 8 , Stuttgart 1992, eindrucksvoll gezeigt.
22
[du Jarey], Discours, 11. Claudius Sieber-Lehmann, Spätmittelalterlicher Nationalismus: Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995.
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sehen oder apokalyptischen Wahrnehmung der Zeitereignisse. Die konfessionsübergreifend in der Reaktion auf die Niederlage sich artikulierende apokalyptische Deutung des Geschehens ist jedenfalls eine der auffallendsten Erscheinungen religiöser Deutungen in der Erfahrung der Niederlage gegen die Revolutionäre.24 Der Einfall der französischen Revolutionsheere nach 1792 war in solchen Szenarios der langerwartete Auftakt der finalen Auseinandersetzung von Unglauben und christlicher Religion. Bei aller Rückbezogenheit lässt sich diese Form der Radikalisierung doch als konsequente Reaktion auf die umstürzenden Revolutionsereignisse verstehen, war es doch gerade die Erfahrung der katastrophischen Beschleunigung von Zeit und Geschichte, die solchen Deutungsmustern noch einmal eine auf den ersten Blick überraschende Konjunktur verschaffte. Es war daneben gerade die Einzigartigkeit dieses Ereignisses, die zu einer geschichtstheologischen Deutung der Gegenwart als Bestandteil eines eschatologischen Dramas motivierte: So begründete der katholische Belgier Jean Baptiste Bouqueau 1802 seinen Rückgriff auf die biblische Apokalypse für die Deutung von Zeitereignissen folgendermaßen: Die Französische Revolution, die stürmischste aller Revolutionen, unterscheidet sich völlig von allen vorhergegangenen. Sie sei ein solch großes Ereignis und dermaßen aufschlussreich für die Geschichte des Christentums, dass sie notwendigerweise in den biblischen Prophezeiungen vorhergesagt worden sein müsse.25 Angesichts apokalyptischer Dimensionen verblassten konfessionelle Unterschiede, wenngleich solche Deutungen der Revolution besonders in pietistisch beeinflussten Kreisen der Niederlande und der nördlichen Rheinlande verbreitet waren.26 Als deren einflussreichstes Dokument darf die literarische Ausgestaltung, die der bekannte pietistische Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) ab 1794 formulierte, gelten.27 Jung-Stilling hat seine Sicht in seinem vierbändigen Roman Heimweh (17941796), in einem nachgeschobenen Schlüssel zum Heimweh und schließlich in der 1799 erschienenen Siegesgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnützigen Erklärung der Offenbarung Johannis in einem argumentativen Dreischritt entfaltet:
24
Grundlegend ist Bart van der Herten, Het begin van het einde, Eschatologische interpretaties van de Franse revolutie, Leuven 1994.
25
„La révolution française, c'est à dire la plus orageuse des révolutions, est totalement différente de celles qui l'ont précédé, est un événement tellement majeur et tellement intéressant pour la Religion de Jésus-Christ, qu'elle devoit nécessairement se trouver prédite dans les prophéties sacrées." Zitiert nach Van der Herten, Het begin, 93.
26
Für vergleichbare Phänomene in Württemberg vgl. Andreas Gestrich, Kirchliche Kriegsmentalität in Württemberg um 1800, in: Dülffer, Kriegsbereitschaft, 183-201.
27
Thomas Baumann, Jung-Stilling und die Französische Revolution, in: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), 132-154.
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Die Aufklärung ist es gewesen, die auf Vernichtung der wahren christlichen Religion und den Umsturz der Staatsverfassungen abzielte. Er identifiziert die Aufklärung mit dem falschen Propheten der Apokalypse, der dem Tier aus dem Abgrund - dem Antichristen - den Weg bereitet. Mit der Französischen Revolution nimmt das Reich des Antichristen seinen Anfang: Im Heimweh steht die Revolution selbst für das Tier aus dem Abgrund, das Jung-Stilling sprachmächtig mit dem Krieg und damit einer sehr realen Gegenwartserfahrung assoziiert. Den durch dieses Tier - sprich: die Revolution - bedrohten Christen winkt ein Zufluchtsort im Osten, an den das auserwählte Volk geführt wird, um dort der Wiederkehr des Herrn zu harren, während die Anhänger der Revolution im künftigen Jahrhundert „sich selbst zerfleischen und die Gärten und segens28 vollen Fluren mit Bürgerblut gedüngt sein werden".
Jung-Stillings apokalyptische Ausdeutung der Französischen Revolution ist schon deshalb kein anachronistisches Kuriosum gewesen, weil er nach den Befreiungskriegen in dem schwärmerischen Zaren Alexander eine Art Personifizierung des Heils aus dem Osten gesehen hat und Einfluss auf diesen und die Konzeption einer „Heiligen Allianz" gewinnen konnte. Frühe Resonanz fand er in den Rheinlanden und den angrenzenden Niederlanden, in denen es eine regelrechte Schar von Nachfolgeexegeten gab.29 Man würde die Wirkung dieser spekulativen Diskussion unterschätzen, wenn man in ihr nur einen absonderlichen literarischen Diskurs von Angehörigen religiöser Minderheiten sehen würde, denn sie setzte durchaus gesellschaftliche Aktivitäten frei. In den Niederlanden beeinflusste diese Konjunktur apokalyptischer Deutungen der Revolution 1797 die Gründung der Missionsgemeinschaften (Nederlandsch Zendeling-Genootschap), die sich einem eschatologisch motivierten Missionsverständnis verschrieben und für die gesamte innere und äußere Missionstätigkeit der reformierten Kirchen vorbildlich wurden - Mission als Vorbereitung der Wiederkunft Christi. Im krisenhaften Kontext einer ziel- und orientierungslos gewordenen Geschichte bot eine metahistorische Deutung, wie sie der Apokalyptiker offerierte, die Möglichkeit, der Niederlage gegen eine Macht, die Werte und Normen des tradierten kulturellen Systems suspendierte, ihren Sinn zu geben, denn am gar nicht so fernen Ende der Zeiten musste notwendig der endgültige Sieg stehen.30 Auch die Erfolge der Feinde der Religion konnten so immer noch als integraler Bestandteil einer von Gott gestifteten heils-
28 29 30
Ebd., 148. Van der Herten, Het begin, 37-43. Vgl. allgemein dazu den Beitrag von Hannes Möhring im vorliegenden Band. Zur Attraktivität apokalyptischer Krisendeutung im Kontext frühneuzeitlicher Kriege vgl. Thomas Klingebiel, Apokalyptik, Prodigienglaube und Prophetismus im Alten Reich, Einführung, in: Hartmut Lehmann/Ann-Charlott Trepp (Hg.), Im Zeichen der Krise, Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, 17-32.
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geschichtlichen Ordnung aufgefasst werden. 31 Zugleich hat die Mythologisierung der konkreten Feinde als Agenten des Antichristen, des endzeitlichen Widersachers, eine ganz elementare Vergewisserungsfunktion für die Rezipienten der apokalyptischen Deutung, denn sie wussten damit mit unanfechtbarer Gewissheit, auf welcher Seite sie zu stehen hatten. Ein Widerstandspotential gegen die Französische Revolution ließ sich freilich mit dem „Eskapismus" der Missionsgesellschaften auch hier nicht mobilisieren. Die Konjunktur eschatologischer Gegenwartsdeutungen fügt sich in den späten 1790er Jahren in eine breite volksreligiöse Reaktion auf die Revolution ein, in der ganz selbstverständlich mit einem direkten Eingreifen Gottes gerechnet wurde - sei es auf katholischer Seite stärker in Gestalt von Wundern, 32 sei es auf protestantischer in der Erwartung eines nahen Endes der Zeiten. Es war die mit der Niederlage einhergehende Krise der kirchlichen Institutionen, die popularen Formen religiöser Kontingenzbewältigung Freiräume verschaffte. In den Niederlanden musste die calvinistische Öffentlichkeitskirche aufgrund der Trennung von Staat und Kirche nach 1795 ihre dominierende politisch-soziale Position zugunsten der vordem marginalisierten anderen konfessionellen Gruppierungen aufgeben. Dem Verlust dieser gesellschaftlichen Vormachtstellung konnten einzelne Prädikanten immerhin insoweit etwas Positives abgewinnen, als nun nicht mehr Heuchelei und Karrierestreben den Weg zu wahrer Frömmigkeit verstellten - ein Vorwurf, der zuvor immer wieder aus freikirchlichen Kreisen erhoben worden war. Das Ende der calvinistischen Öffentlichkeitskirche führte in einem multikonfessionellen Klima somit zu einer Intensivierung und Verinnerlichung der Frömmigkeit und einer Aufwertung der individuellen Anteilnahme am Gottesdienst. 33 Für die protestantischen Kirchen des Rheinlandes lassen sich vergleichbare Phänomene einer Aufwertung der Autonomie der Gemeindemitglieder beispielsweise in der linksrheinischen Pfalz beobachten. Hier führte die Krise der kirchlichen Leitungsorgane zu einer Regeneration synodaler Strukturen und dem Bestreben einzelner Gemeinden, wieder entscheidenden Einfluss auf die Bestellung der Pfarrer zu nehmen. 34 Am augenfälligsten ist das Engagement der Gläubigen freilich auf katholischer Seite, weil hier die Scheidung zwischen Laien und Klerus besonders ausgeprägt war und deren Nivellierung noch einmal Freiräume für populare Frömmigkeitsformen schuf, die im Zeichen aufgeklärter Kirchenpolitik in den Jahrzehnten zuvor beschnitten worden waren. Hier nahmen vor allem in den ländlichen Gebieten, die abseits der städtischen Zentren der Dechristianisierungspolitik lagen, die Gemeindemitglieder Einfluss auf die Stellung des lokalen Klerus zur revolutionären Kirchenpolitik, indem sie die Pfarrer zur Verweigerung des geforderten Eides, der Hass auf das Königtum vorschrieb, explizit 31 32
33 34
Carl, Revolution, 98. Louis Preneel, Het geloofsleven in de „Beloken Tijd" (1797-1802), Problemstelling en Bronnen, in: Centre univ. d'histoire contemporaire 54 (1968), 7-36; Albert Millet, Le culte clandestin en pays wallon et les „lettres tombées du ciel" (1797-1799), in: RHE 8 4 (1989), 699-713. Van Rooden, Godsdienst, 231-236. Erich Schunk, Französische Revolution und pfälzischer Protestantismus, St. Ingbert 1992.
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aufforderten oder die Weigerung der lokalen Pfarrer, diesen abzulegen, unterstützten. 35 Da die revolutionäre Administration die Eid verweigernden Priester an der Ausübung der Seelsorge hinderte und sie in den Untergrund zwang, mussten die Laien selbst Verantwortung für den kirchlichen Kultus übernehmen. 36 Für den Gottesdienst wurden eigene Formen, die ohne Leitung durch einen Priester möglich waren, entwickelt wie die sogenannten „trockenen Messen", bei denen es sich meist um Rosenkranzandachten zu den üblichen Messzeiten handelte. Wenn zu dem Personenkreis, der an Stelle des Priesters dabei Leitungsaufgaben übernahm, neben den Leitern der Bruderschaften, örtlichen Lehrern oder Kirchenbediensteten vielfach auch „fromme Damen" aus der lokalen Honoratiorenschicht hinzutraten - wie die Berichte der revolutionären Lokalverwaltung abschätzig vermerkten - , dann macht dies deutlich, dass in dieser Situation auch Frauen einen größeren Gestaltungsspielraum erlangen konnten. War diese Form laikalen Engagements ein Spezifikum des belgischen Kirchenkampfes, so zeichneten sich auch in den Rheinlanden die Krisenjahre zwischen 1797 und 1801 durch eine bereits von den Zeitgenossen vermerkte augenfällige Konjunktur populärer Frömmigkeitsformen aus. Die sarkastischen und verständnislosen Kommentare der Revolutionsanhänger, die im Sinne der Aufklärung in den angeblichen Wundererscheinungen und Wundertätern oder in den spontanen Wallfahrten nur religiöse Massenhysterie, gesteuert von einem fanatisierten Klerus, erkennen konnten, 37 griffen jedoch zu kurz, waren dies doch gerade Frömmigkeitsmanifestationen, die sich einer Steuerung durch den Klerus in der Regel entzogen. Eine vergleichbare Konjunktur volksreligiöser Frömmigkeitsformen hat Werner Blessing auch für eine andere Region - Franken - konstatiert und dieses Phänomen als Ausdruck kollektiver Verstörung, ausgelöst durch die Niederlagen gegen die Révolu38
tionäre, gedeutet. Er vermag darüber hinaus eindrücklich zu zeigen, dass solche Phänomene auch in den Krisenzeiten des Dreißigjährigen Krieges in diesem Raum auffällige Konjunkturen erlebten. Der Vergleich dieser Erscheinungen um 1650 mit 35
Minke, Hommes de dieu, 213-221.
36
Louis Preneel, Godsdienstig leven in de Zuidelijke Nederlanden 1 7 9 4 - 1 8 1 4 , in: Algemene Geschiedenis, Bd. 9, 47-59, hier: 55ff. Blanning, Revolution, 235ff.; Carl, Revolution, lOlf.
37 38
Werner K. Blessing, Kirchen und Krieg, Zur religiösen Deutung und Bewältigung außergewöhnlicher Zeit von der konfessionellen zur nationale Epoche, in: Frank Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte, Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, 150-172, v. a. 157f. Einzelne Phänomene religiöser Hysterie weisen durchaus Parallelen zur „Tanzwut" in Berlin als kollektiver Reaktion auf die Kriegsniederlage von 1918 auf, die Schivelbusch, Kultur der Niederlage, 319-327, beschreibt. Es ist auch kein Zufall, dass Blessing mit der Kategorie der „VerStörung" eine sozialpsychologische Kategorie benutzt, während Schivelbusch auf psychoanalytische Analogien zurückgreift. Allerdings bleibt festzuhalten, dass es vor allem die polemische Perspektive der „aufgeklärten" Religionsgegner und -kritiker gewesen ist, die das „Hysterische" und Fanatische volksreligiöser Praktiken betonte. Wollte man diese Phänomene zur Grundlage psychohistorischer Analyse bzw. Spekulation machen, müsste empirisch ausgeschlossen werden, dass allein die tendenziösen Aussagen der Revolutionsanhänger als Grundlage gewählt werden.
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denen um 1800 lässt weniger Unterschiede in den Formen populärer Religiosität hervortreten, als vielmehr in deren Intensität: Um 1800 seien diese Phänomene nicht mehr so verbreitet gewesen wie noch um 1650, was Blessing auf die Zunahme von Kirchlichkeit in diesem Zeitraum zurückführt. 39 Diese These lässt sich durchaus auf den nordwesteuropäischen Raum übertragen, denn mit der Restauration kirchlicher Strukturen im Rheinland und in Belgien nach dem Konkordat von 1801 wurden diese volksreligiösen Ausdrucksformen rasch wieder in die etablierten Kanäle kirchlich angeleiteter Religiosität zurückgeleitet. Sie blieben Episode. Das Engagement der Laien war Ende des 18. Jahrhunderts der Krise der Institution Kirche geschuldet und nicht schon oder nicht mehr - Ausdruck einer widerständigen und eigensinnigen Volksreligiosität.
3. Die Beharrungskraft traditioneller religiöser Deutungen in veränderten Kontexten Wenn der Vergleich der Phänomene religiöser Kriegsbewältigung um 1800 mit denen um 1650 in Franken keine qualitativen Veränderungen und damit keine neuen Formen religiöser Bewältigung zu Tage fördert, so lässt sich dies auch für den nordwesteuropäischen Untersuchungsraum generalisieren: Die religiösen Deutungsmuster und Formen der Kontingenzbewältigung blieben durchweg traditionell bzw. „frühneuzeitlich". Der Herausforderung durch die Französische Revolution wurde nicht mit neuen Inhalten und neuen Formen begegnet. Trotzdem bedeuten gleiche Phänomene nicht, dass sich nichts geändert hätte, denn der Kontext hatte sich 1800 gegenüber den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges fundamental verändert. In der Auseinandersetzung mit den Revolutionären waren die Kirchen und diejenigen, die sich diesen verpflichtet glaubten, selbst Partei geworden. In den Augen der Revolutionäre - und wahrscheinlich auch zahlreicher gläubiger Christen - konnte damit auch der Vollzug religiöser Praxis wie eine Messe bzw. ein Gottesdienst, eine Wallfahrt oder eine Predigt eine politische Manifestation darstellen. Die Niederlage gegen die Revolution schuf ein frühes Potenzial der Politisierung von Religion, das schon auf die neue Verortung von Religion in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vorauswies, unter deren Bedingungen religiöses Verhalten nach außen fast zwangsläufig den Charakter einer Entscheidung und damit auch „politisches Gewicht" erhielt.40
39
40
Ebd., 157f. Diesen Prozess der Verkirchlichung zeichnen eindrucksvoll zwei neuere exemplarische Studien nach: Werner Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gesellschaft, Das Dekanat Vechta 1 4 0 0 - 1 8 0 3 , Bielefeld 1998; Andreas Holzem, Religion und Lebensformen, Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster, Paderborn 2000. Wolfgang Hardtwig, Die Kirchen in der Revolution, Religiös-politische Mobilisierung und Parteibildung, in: ders., Revolutionen in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998, 79-
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Abgerufen aber wurde dieses Potenzial nicht, denn aus der Niederlage gegen die Revolution resultierte weder in den Niederlanden, noch in Belgien und den Rheinlanden eine Befreiungsideologie, die mit den nur unwesentlich späteren Vorgängen in Spanien, Russland und vor allem Preußen vergleichbar gewesen wäre. Eine religiöse Überhöhung des Krieges gegen die Feinde und Besatzer als Antwort auf Kriegsniederlagen, wie sie die antinapoleonischen Befreiungskriege auszeichnete, finden wir in Nordwesteuropa nicht. Als Gründe dafür, weshalb die nicht minder einschneidende und folgenschwere Niederlage gegen die Revolutionäre in den 1790er Jahren nicht bereits vergleichbare Reaktionen auslöste, lassen sich eine Reihe von Thesen anführen, die zum Teil spezifisch für die untersuchte Großregion sind, zum Teil aber auch darüber hinausführen: 1) Fragt man nach den „Subjekten" der Niederlage, also nach denjenigen, die die kriegerischen Vorgänge und ihre Folgen als „Niederlage" erfuhren bzw. deuteten, so löst sich die Einheitlichkeit des Phänomens „Niederlage" bei näherem Hinsehen auf. Dies hing zumindest im vorliegenden Fall mit der Spezifik der Revolutionskriege zusammen, die in den besetzten und annektierten Gebieten nicht nur destruktive Ergebnisse zeitigten, sondern mit dem Umsturz des Anden Régime und dem Zusammenbruch des Feudalsystems grundlegende Neuerungen mit sich brachten, die Teile der Bevölkerung zu Nutznießern der Niederlage werden ließen. Die immer wieder von den Zeitgenossen beobachtete Passivität, auch Verstörung weiter Teile der Bevölkerung in den besetzten und annektierten Gebieten hing nicht nur mit der Radikalität des Umsturzes, sondern auch den ambivalenten Folgen der Kriegsniederlage zusammen. 41 Dies gilt gerade auch für den Bereich der Religion, war es doch speziell die konfessionelle Gemengelage, die im Untersuchungsraum eine Kollektiverfahrung „Niederlage" verhinderte. Die ïm Ancien Régime jeweils rechtlich und politisch schlechter gestellten Angehörigen der Minderheitenkonfessionen wurden durch die im Gefolge der revolutionären Herrschaft durchgesetzte Emanzipation zu Nutznießern der Niederlage - seien es die Protestanten in den katholischen Reichsstädten des Rheinlandes oder die Katholiken in den niederländischen Provinzen und in den vormals preußischen Provinzen am Niederrhein. In diesen gemischtkonfessionellen Gebieten war es deshalb häufig die Konfession, die über Sympathie oder Antipathie gegenüber der Französischen Revolution entschied, so dass das säkulare Ereignis der Französischen Revolution den Graben zwischen den Konfessionen nicht überwand, weil konfessionelle Unterschiede angesichts eines religionsfeindlichen Regimes eingeebnet worden
41
108; Rudolf Schlögl, Der Glaube Alteuropas und die moderne Welt, Zum Verhältnis von Säkularisation und Säkularisierung, in: Rödel/Schwerdtfeger, Zerfall, 62-82, hier: 77f. Hansgeorg Molitor, V o m Untertan zum Administré, Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der napoleonischen Zeit, Wiesbaden 1980.
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wären. Die Selbstbehauptung religiöser Identitäten vollzog sich vielmehr unter Wahrung und Betonung der Eigenständigkeit konfessioneller Milieus. Die langfristigen Folgen aus der Niederlage gegen die Französische Revolution stimulierten deshalb weniger die Genese eines modernen Nationalismus, der unterschiedliche soziale Gruppierungen zu integrieren vermochte, als vielmehr eine Verfestigung konfessioneller Milieus. Sie blieben das hervorstechende Charakteristikum einer bis tief ins 20. Jahrhundert „versäulten" Gesellschaft. 42 Es hat in diesem nordwesteuropäischen Raum in den Niederlanden durchaus einen frühneuzeitlichen Traditionsfundus gegeben, in dem die militärische und religiöse Selbstbehauptung gegen einen übermächtigen Feind zum Befreiungsmythos stilisiert und ein frühneuzeitliches Nationalbewusstsein im Sinne eines „auserwählten Volkes Gottes" formuliert wurde. 43 Auf diesen Fundus setzten manche Niederländer auch 1795 noch einmal ihr Gottvertrauen, doch die Natur kam ihnen nicht wie 1672 zu Hilfe - die Franzosen marschierten diesmal mitten im Winter über die gefrorenen Flussläufe und Kanäle ein. Die Niederlage von 1795 erschütterte das niederländische Selbstbild des „neuen Israel" endgültig und beschädigte eine religiöse Amalgamierung von Religion und Nation so nachhaltig, dass auch nach der „Franzosenzeit" nicht ohne weiteres daran angeknüpft werden konnte. Auf belgischer Seite hat es gleichfalls in den Auseinandersetzungen gegen Joseph II. eine Phase gegeben, in der nationaler Widerstand religiös legitimierte wurde. Aber die belgischen Gotteskrieger erwiesen sich in der militärischen Konfrontation mit den Habsburgern 1790 als so untauglich, dass auch hier die militärische Niederlage keine religiöse Überhöhung zuließ, sondern eine solche Amalgamierung von Krieg und Religion eher diskreditierte. Die Erfahrung, dass religiöse Motivation und Legitimation keineswegs den Erfolg militärischen Widerstandes garantierte, bestärkte nur grundsätzliche Zweifel an einer religiösen Legitimation kriegerischer Gewalt. Darin gingen paradoxerweise traditionelle Kirchlichkeit und aufgeklärte Moralität konform, so dass Ansätze zu einer „Heiligung" des Krieges in diesem Raum bloße Rhetorik blieben. Besonders deutlich prägte sich diese Hemmschwelle im Bereich der Armeen selbst aus, obwohl nunmehr die „Gesinnung" - die Kampfesmotivation - der Soldaten zentrale Bedeutung erhielt. Während die französischen Revolutionssoldaten ihren patriotischen Impetus gänzlich säkular verinnerlichten und die Armee auch in napoleonischer
Johannes Antonius Righart, De katholieke zuil in Europa, Een vergelijkend onderzoek naar het ontstaan van verzuiling onder katholie ken in Oostenrijk, Zwitserland, België en Niederland, Nijmegen 1986. C. Huisman, Neerlands Israel, Het natiebesef der traditioneel-gereformeerden in de achttiende eeuw, Dordrecht 1983; Peter van Rooden, Het Nederlands protestantisme en zijn vaderland, in: J. M. M. de Valk (Hg.), Nationale identiteit in Europees perspectief, Baarn 1993, 95-115; ders., Godsdienst, 204ff.
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Horst Carl Zeit noch ein Hort antichristlicher Ressentiments blieb, blieb in den Armeen ihrer Kriegsgegner in den Revolutionskriegen eine religiöse Aufrüstung der Soldaten, wie sie dann beispielhaft Preußen vorexerzierte, aus. Selbst in den preußischen Armeen wurde vor 1806 das Institut der Feldprediger von den Offizieren oft kritisch gesehen. 44 Religiöse Erbauung führte in ihren Augen eher zur Schwächung als zur Stärkung der Kampfmoral. Der fromme Krieger für Religion und Vaterland wurde erst nach der preußischen Niederlage von 1806 als eine spezifisch preußische Antwort auf die patriotische Gesinnung in den französischen Armeen kreiert. Wenn es im nordwesteuropäischen Untersuchungsraum religiös motivierten und legitimierten Widerstand gegen die französischen Aggressoren gegeben hat, wie dies am spektakulärsten bei den Bauernaufständen des Jahres 1798 in Luxemburg und Belgien der Fall war, wies dies gleichfalls eher in die Vergangenheit als in die Zukunft. 45 Diese Bauernkriege waren sowohl in ihren Ursachen als auch in Motivation und Ablauf gänzlich „frühneuzeitlich": Gerade die Explosivität eines Gemischs von militärischen und religiösen Ursachen können wir in großen Bauernaufständen wie dem in Oberösterreich 1626 oder in Bayern 1705 wiederfinden. Auslöser der antirevolutionären Aufstände 1798 war die eher zufällige Parallele von Kirchenverfolgung und Zwangsrekrutierung, die von den Betroffenen jedoch als intendierte Verquickung von religiösen und militärischen Eingriffen in die lokale Lebenswelt wahrgenommen wurde. Dagegen wehrten sich die Aufständischen, und folglich war es bei dieser lokalen Orientierung auch nur konsequent, wenn diese Bauernaufstände lokal begrenzt blieben. Bezeichnenderweise solidarisierten sich die Städter nicht mit den Bauern. Die Niederlage der Aufständischen markierte damit eher den Endpunkt frühneuzeitlicher Bauernaufstände, als dass sich aus diesem heroischem Widerstand und dieser Niederlage der Keim „nationalen Erwachens" hätte bilden können. Eine solche Bewertung allerdings stellt sich gegen die seit dem 19. Jahrhundert etablierte Erinnerungskultur, die die Bauernkriege erfolgreich und wirkungsmächtig zur „Vendée belge" stilisierte. 46 Die Deutung der gegenrevolutionären Aufstände als gescheiterte nationale Befreiungskämpfe diente dazu, gerade diesen beiden jeweils nicht unangefochtenen Nationen der Belgier und Luxemburger eine heroische Legitimation zu verschaffen.
Diesen Hinweis verdanke ich Sabine Holtz, Tübingen. Gilbert Trausch, Die Luxemburger Bauernaufstände aus dem Jahre 1798, Der „Klöppelkrieg", seine Interpretation und sein Nachleben in der Geschichte des Großherzogtums Luxemburg, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 4 8 (1984), 161-237; Luc Dhondt, La guerre des paysans, in: Hasquin, Belgique française, 141-169. Horst Carl, „Der Anfang vom Ende"" - Kriegserfahrung und Religion in Belgien während der Französischen Revolutionskriege, in: Dietrich Beyrau (Hg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001, 86-110, hier: 105f.
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Die hier thesenhaft formulierten Phänomene eröffnen abschließend eine Möglichkeit, Reaktionen auf Kriegsniederlagen im Spannungsfeld von Kriegserfahrungen und Erinnerungskulturen zu differenzieren, die über den Einzelfall hinausweisen. Wenn die Niederlage gegen die Revolutionäre im nordwesteuropäischen Untersuchungsraum keinen Weg zu „martialischen Nationen" geebnet hat, so lag dies nicht zuletzt daran, dass der Niederlage kein sinnstiftender Sieg folgte. In den 1790er Jahren blieben die Kriegserfahrungen diffus, weil sie eben nicht in der Deutung einer Niederlage aufgingen oder sich in diesem Punkt konzentrierten. Ein Grund dafür dürfte in der Beharrungskraft der religiösen Deutungsmuster liegen, die auf Konsolation, lebensweltliche Bewältigung und metageschichtliche Orientierung zielten, deren politisches Mobilisierungspotenzial jedoch nicht abgerufen wurde. Aus der Krise kirchlich institutionalisierter Religiosität führte schließlich nicht der Sieg über die Revolutionäre, sondern das Konkordat von 1801 mit deren Erben Napoleon Bonaparte heraus, der im übrigen die Kontinuität schon dadurch wahrte, dass er die politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Revolution beibehielt. Diese Kontinuität verhinderte erneut eine eindeutige Zuschreibung von Siegern und Verlierern, so dass sich aus der mühsamen institutionellen Selbstbehauptung der Kirchen in der Napoleonszeit keine retrospektive Deutung der Krise der 1790er Jahre als „Niederlage" folgern ließ. Die zukunftsweisende Erfahrung eines Befreiungskrieges, der sich retrospektiv als nationale Erweckung feiern ließ, blieb den Niederländern, Belgiern und Rheinländern gleichfalls verwehrt, weil sie an den antinapoleonischen Befreiungskriegen 1813 erst spät, als wenig enthusiasmierte „Trittbrettfahrer" teilnahmen. Die retrospektiven national und konfessionell geprägten Erinnerungskulturen des späteren 19. Jahrhunderts negierten indes aus der Warte aktueller Identitätsstiftung diese Uneindeutigkeiten und konnten so auch den Niederlagen gegen die Revolution einen zukunftsweisenden politischen Sinn verleihen, den diese für die Zeitgenossen nicht besessen hatten.
IV. Diskurse um Geschlecht und Ehre
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Das Leiden der Königin als Überwindung der Niederlage Zur Darstellung von Flucht und Exil Luise von Preußens von 1870/71 bis 1933.1
1. Hinführung So soll Dein Bild auf unseren Fahnen schweben, Und soll uns leuchten durch die Nacht zum Sieg. Luise sei der Schutzgeist deutscher Sache, Luise sei das Losungswort zur Rache. 2
Der Königin-Luise-Mythos eignet sich wie kaum ein anderer historischer Mythos für die geschlechtsspezifische Perspektivierung einer Kriegsniederlage. Die Mythisierung der historischen Figur Luise von Preußen (1776-1810) ist eng mit der Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 verknüpft. Die Flucht der königlichen Familie nach Königsberg und Memel, das Leiden der kranken Königin und ihre Begegnung mit Napoleon 1807 sind feste Bestandteile des Königin-Luise-Mythos. Mit Mythisierung sei hier die Reduktion einer Biographie, einer Legende oder eines historischen Ereignisses auf einen Kanon idealisierbarer Elemente gemeint. Diese können durch unterschiedliche Akzente in der mythisierenden Narration Interpretations- und Deutungsspielräume eröffnen sowie die Reaktualisierungen des Mythos begünstigen. 3 Die Reaktualisierungen des 1
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Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich Ute Frevert, Friedrich Lenger, Kaspar Maase und Arne Scheuermann. Theodor Körner zitiert nach August Kluckhohn, Luise, Königin von Preussen, Zur Erinnerung an ihren hundertjährigen Geburtstag (10. März 1876), Berlin 1876, 62. Das Zitat von Körner ist in einer Reihe weiterer Königin Luise-Biographien zu finden. Zur Mythisierung siehe Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr, Historische Mythologie der Deutschen 1789-1918, München 1991, 3-9; Wulf Wülfing, Mythen und Legenden, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 3, Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a.°M. 1997, 159-172, hier: 159f; siehe außerdem Jakob Vogel, Zwischen protestantischem Herrscherideal und Mittelaltermystik, Wilhelm I. und die „Mythomotorik" des Deutschen
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Königin-Luise-Mythos eröffnen eine potentielle Rekontextualisierung der Niederlage von Jena und Auerstedt. Gleichzeitig ist die historische Figur Luise von Preußen als „Losungswort zur Rache" mit dem Gründungsmythos des deutschen Reiches, den sogenannten Befreiungskriegen, eng verknüpft. Der Königin-Luise-Mythos erlaubt mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand Kriegsniederlage zwei Spezifizierungen: Erstens werden die Niederlage von Jena und Auerstedt, die bekanntlich die einstweilige Auflösung des preußischen Heeres zur unmittelbaren Folge hatte, und der Frieden von Tilsit 1807 - er bedeutete große Gebietsverluste für Preußen - in der Erinnerung an Königin Luise stets als überwundene Niederlage dargestellt. 4 Aus diesem Blickwinkel lassen sich nicht allein aktuelle Niederlagen in Bezug zur historischen von 1806 setzen, sondern auch aktuelle Siege. 5 So gewinnt der Königin-Luise-Mythos mit Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870 an Konjunktur, angestoßen unter anderem durch den symbolträchtigen Besuch des Charlottenburger Mausoleums durch König Wilhelm: Am sechzigsten Todestag Königin Luises, dem 19. Juli 1870, unmittelbar vor Kriegsbeginn besucht der preußische König gemeinsam mit seinem Sohn Friedrich Wilhelm die Grabstätte seiner Mutter. 6 Am gleichen Tag erneuert Wilhelm auch die Stiftung des Eisernen Kreuzes, das sein Vater Friedrich Wilhelm III. am 10. März 1813 anlässlich des Geburtstages seiner verstorbenen Frau gestiftet hatte und dessen Träger er selbst seit 1814 ist. Das symbolische Handeln des preußischen Königs stellt den bevorstehenden Krieg gegen Frankreich, dessen Ausgang zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss ist, somit zweifach in die Tradition der Befreiungskriege. Zumindest in der protestantischen Familienzeitschrift Daheim wurde diese Deutungsweise übernommen: „Ein treffenderes Symbol für den uns bevorstehenden Kampf konnte nicht gefunden werden: an die eiserne Zeit unserer tapferen Vorfahren und an ihr siegreiches Eisen mahnend, an die edle Königin, deren Herz warm für Deutschlands Einigung schlug, erinnernd, weist es zugleich hin auf das Kreuz der Erlösung, auf das Zeichen, indem wir so oft schon gesiegt haben und indem wir auch dieses Mal, - wir hoffen's zu Gott - siegen werden."7
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Kaiserreiches, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.), „Gott mit uns", Nation, Religion und Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, [213]-230, hier: 214. Die Perspektivierung der Niederlage als überwundene bedeutet auch, dass das Begriffsfeld „Krieg als Katastrophe" in den hier untersuchten Quellen keine oder nur eine marginale Rolle spielt. Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001, 40. Siehe Heinrich von Treitschke, Königin Luise, Vortrag gehalten im Kaisersaale des Berliner Rathauses, in: Preußische Jahrbücher 37 (1876), [417]-429, hier: 429; [Anonym], Die Mutter König Wilhelms, in: Daheim 7 (1871) H. 4, [49]; siehe auch Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation, Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001, 313ff. König Wilhelm und Königin Augusta besuchten allerdings bereits in den 1860er Jahren unregelmäßig das Mausoleum in Charlottenburg an Todes- und Geburtstagen Königin Luises. Siehe dazu GStA PK, BPH Rep. 113 Oberhofmarschallamt, Nr. 1580, Bl. 5, 8, 19, 24. Robert Koenig, Die Königin Luise und das Eiserne Kreuz, in: Daheim 6 (1870), S. 720.
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Zweitens wird die Niederlage der preußischen Truppen mittels der Schilderung von Flucht, Krankheit und Exil und dem häufig als Folge dieser Leidenszeit interpretierten frühen Tod der 34-jährigen Königin 1810 in ein (vermeintlich) persönliches Schicksal übersetzt. Das Leiden der Königin steht sodann stellvertretend für das Leiden Preußens und ihr kranker Körper für den desolaten Zustand von Staat und Armee während der militärischen Auseinandersetzungen und der darauf folgenden Besatzungszeit.8 Königin Luises Tod wird zum Opfertod für Preußen stilisiert, nicht selten werden die der Königin angeblich von Napoleon zugefügten Demütigungen (Verleumdung, Täuschung) als Grund für ihr frühes Hinscheiden genannt. Ihr Opfertod wird auf die Befreiungskriege bezogen, als Motor zur Überwindung der Niederlage von Jena und Auerstedt verstanden, und so nachträglich mit Sinn versehen: „Die ihr angethane Schmach entflammte alle deutschen Herzen zu wachsendem Haß gegen den übermüthigen Despoten, und als sie drei Jahre darnach, am 19. Juli 1810, gebrochenen Herzens starb, lebte sie doch fort - im Herzen ihres ganzen Volkes, ja, es wurde ihr in Reden und Gesängen gehuldigt, wie kaum jemals einer Frau [...]."9
Die Eigenschaften, die Königin Luise im Umfeld der Kriegsniederlage von 1806 zugeschrieben werden, qualifizieren die Königin insbesondere für Frauen und Mädchen zum Vorbild: ihr klagloses Dulden, ihr Opferwille, der seinen Höhepunkt im Gespräch mit Napoleon unter vier Augen zu erreichen scheint, ihr bürgerlich-schlichtes Leben im Exil und die von weiblicher Intuition motivierte Unterstützung Steins.10 Diese geschlechtsspezifische Adressierung manifestiert sich explizit in Unter- und Reihentiteln, Vorworten und Leseransprachen und hat auch nach dem Ende der Kaiserzeit Bestand. Die Individualisierung der Niederlage sowie die Leidensfähigkeit Königin Luises, lenken den Blick auf Geschlecht {gender) als historische Analysekategorie.11 In Anlehnung an Joan W. Scott schlage ich zwei Untersuchungsfelder vor, um die den verschiedenen medialen Erscheinungsformen des Königin-Luise-Mythos inhärenten (hierarchischen) Modelle von Geschlechterdifferenz zu analysieren. Zum ersten ist die 8
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Siehe hierzu auch Regina Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der Königin, in: Historische Anthropologie 6 (1998), 76-103, hier: 97. Koenig, Königin Luise, 720. Siehe dazu in Auswahl Th. Grünewald, Königin Louise von Preußen, Gedenkbüchlein zur Feier ihres hundertjährigen Geburtstages am 10. März 1876, Der deutschen Jugend in den Volksschulen gewidmet, Hannover 1876, [3], 21, 26; Ludwig Brünier, Louise, Eine deutsche Königin, Bremen 1871, [149]ff; Carl Schulz, Königin Luise, Zeitbild in fünf Aufzügen, 2. Aufl., Halle 1874, 41-49; Karl Heinrich Keck, Zum hundertjährigen Geburtstag der Königin Luise, [Husum 1876]. Siehe dazu Renate Hof, Die Entwicklung der Gender Studies, in: Hadumod Bußmann/Dies. (Hg.), Genus, Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, 2-33, hier: 20ff: Die Aufnahme von gender als Analysekategorie impliziert, dass eine als ,natürlich' vorausgesetzte Kausalverbindung von biologischer und soziokultureller Differenz und den ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rollen abgelehnt wird. Diese kulturelle Interpretation des Körpers und die daraus folgende Struktur der Geschlechterbeziehungen wird mit anderen kulturellen Kontexten und gesellschaftlichen Organisationsformen in Verbindung gebracht.
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symbolische Repräsentation Königin Luises in ihren jeweiligen Kontexten zu untersuchen; zum zweiten ist der normative Charakter dieser symbolischen Repräsentation und ihre damit begrenzte Interpretationsmöglichkeit in den Blick zu nehmen. Normative Konzepte äußern sich in diesem Zusammenhang häufig als binäre Oppositionen, die 12
hierarchisch strukturiert sind. Als Beispiel sei Treitschkes wirkmächtige These genannt, Königin Luise habe stets in der privaten Sphäre agiert und keinen Anspruch auf eine öffentliche politische Rolle erhoben. 13 Es gilt zu untersuchen, ob sich dieses normative Modell durchgesetzt hat, oder ob abweichende Darstellungen existieren: beispielsweise einer politisch agierenden Herrscherin.
2. Die überwundene Niederlage nach 1870/71 Das öffentliche Bild Königin Luises gewinnt mit der Reichseinigung 1871 ganz allgemein an Relevanz: Als Mutter Kaiser Wilhelms I. ist sie dazu prädestiniert, die nationale Einigung als etwas Langersehntes zu symbolisieren. Der deutsch-französische Krieg wird vor diesem Hintergrund zum „neuen heiligen Befreiungskrieg", in dem sich Wilhelm als „seiner Mutter würdig" erweist. 14 Auch das Bild der gegnerischen Partei wird ähnlich vereinfacht: Napoleon III., der Neffe Napoleons, erscheint als erneute Napoleonische Bedrohung. Wilhelm verteidigt sowohl seine Mutter als auch Preußen, wenn er als siegreicher König die Niederlage von Jena und Auerstedt endgültig überwindet, indem er die nationale Einheit Deutschlands herbeiführt. Aus den sieben Kindern des Königspaares sticht der zweitgeborene Wilhelm stets hervor; der kindliche und jugendliche Wilhelm habe Königin Luise besonders nahe gestanden. Als Augenzeuge seiner leidenden Mutter - schon als Kind äußert er im Gegensatz zu Kronprinz Friedrich Wilhelm den Wunsch, seine Mutter zu rächen - versteht er ihren Opfertod als Motivation, ihr Erbe zu erfüllen. 15 Neben dieser so hergestellten engen biographischen Bindung Kaiser Wilhelms an die Zeit der .Befreiungskriege', steht das persönliche Leid Königin Luises - wie eingangs eingeführt - im Zentrum des retrospektiven Blicks auf die Kriegsniederlage von Jena und Auerstedt. Niederlage, Flucht und Exil werden in Begriffe physischen und seeli12
Siehe Joan W. Scott, Gender, A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91 (1986), 10531075, bes. 1067ff.
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Treitschke, Königin Luise, 418, 427. [Anonym], Mutter König Wilhelms, [49], Spätestens nach 1870/71 wird der älteste Sohn Königin Luises, Friedrich Wilhelm (IV.) in den Königin Luise-Biographien marginalisiert. In nahezu allen Biographien wird der deutsch-französische Krieg und die Proklamation Wilhelms zum Kaiser übernommen. Auch vor diesem Zeitpunkt endeten die Königin Luise-Biographien nicht mit ihrem Tod im Jahr 1810, sondern integrierten stets einen Ausblick auf den Sieg über Napoleon. Siehe auch Wülfing u. a., Historische Mythologie, 104.
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sehen Schmerzes übersetzt, den Königin Luise erleiden muss: „Jede Nachricht aus den verschiedenen Teilen der Monarchie war auch eine Unglücksbotschaft. So vielem Leide erlag endlich die Gesundheit der Königin. Sie erkrankte an einem heftigen Nervenfieber, das sie dem Tode nahe brachte." 16 Das bis dato glückliche Leben der jungen Königin ist zerstört: „Die ihr angeborene Heiterkeit und Lebenslust war gebrochen; sie konnte auf Augenblicke vergessen und in ihrem Familienkreise sich recht glücklich fühlen, aber verschmerzen das Unglück konnte sie nie mehr." 17 Auf der Flucht fordert die Königin ihre beiden ältesten Söhne Friedrich Wilhelm und Wilhelm auf, die Nie18
derlage zu rächen oder andernfalls wie Prinz Louis Ferdinand den Tod zu suchen. Auch Königin Luise ist bereit, für Preußen zu sterben: Schwerkrank zieht sie die Flucht aus Königsberg der französischen Gefangenschaft vor und bringt ihr Leben dadurch in Gefahr. 19 „Kaum genesen, mußte sie mitten im Winter das vom Feinde bedrohte Königsberg verlassen und nach Memel flüchten. In Betten gehüllt, wurde sie auf elenden Wegen fortgebracht und, zu schwach zum Gehen [...] auf den Armen eines Dieners in ihre Wohnung getragen, aber keine Klage, kein unwilliges Wort entschlüpfte den Lippen der starken Dulderin, welche mit rührender Ergebung ihr starkes Geschick trug."20
In nahezu allen hier untersuchten Quellen wird Königin Luise als „Dulderin" bezeichnet. Diese Charakterisierung wird von christlich konnotierten Passionssymbolen wie Kelch, Opfergang und Opfertod flankiert. Somit wird auf bereits etablierte und weit verbreitete Topoi zurückgegriffen und durch diese Verknüpfung von Bekanntem und Neuem die Mythenrezeption gelenkt. Königin Luise leidet und duldet damit nicht für sich allein sondern stellvertretend für Preußen. Ihre Entscheidung, schwerkrank vor den Franzosen zu fliehen, machen sie zu einer „starken Dulderin", da sie ihr persönliches Leiden bewusst auf sich nimmt. Auch der Höhepunkt ihrer Leidensgeschichte, das Zusammentreffen mit Napoleon im Rahmen der Friedensverhandlungen in Tilsit im Juli 1807 wird zwar je nach Deutung von Friedrich Wilhelm III., seinen Beratern oder Zar Alexander initiiert, die Königin entscheidet sich jedoch in vielen Darstellungen persönlich dazu, den .Opfergang' anzutreten: „Ja, dieser Weg war wol [sie!] der schwerste in Ihrem Leben." 21
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G[ustav] E[mil] Burkhardt, Luise, Königin von Preußen, Ein Lebensbild für deutsche Frauen und Jungfrauen, Barmen 1872, 55. Wilhelm Müller, Historische Frauen, 2. Aufl., Berlin 1882, 338; siehe auch Burkhardt, Luise, 52. Siehe Max Ring, Louise, Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers, in: Die Gartenlaube 1876, 4-8, 26ff, 54ff, 71f, hier: 27; Kluckhohn, Luise, 18ff; Burkhardt, Luise, 53. Siehe dazu Grünewald, Königin Louise, 23; Kluckhohn, Luise, 20ff. Ring, Louise, 54; siehe Kluckhohn, Luise, 20f. Carl Friedrich Becker, Luise Auguste Wilhelmine Amalie, Königin von Preußen, Ihr Leben, Dulden und Sterben, [...] Ein Musterbild allen deutschen Frauen und Jungfrauen, Oestrich 1876, 23. Siehe auch Treitschke, Königin Luise, 426.
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Das Leiden der Königin, und damit einhergehend ihre Stilisierung zum Genius Preußens, wird 1876 von Treitschke als Zeichen der Verbundenheit von .Volk' und Herrscherhaus bewertet; es könne soziale und selbst politische Gegensätze überbrücken: „Wer weiß nicht aus den Liedern Theodor Kömers, wie das Verlangen, die zu Tode gequälte Königin an dem ungroßmüthigen Sieger zu rächen, die tapfere Jugend des Befreiungskrieges entflammte. [...] Mit dem Hause der Königin Luise lebte und litt das Land; seitdem erst entstand zwischen den Hohenzollern und ihrem Volke jenes einfache menschliche Verhältniß, das die Leidenschaften der Parteien nie zerstören konnte."22
Träger des Königin-Luise-Mythos im Jahrzehnt nach dem deutsch-französischen Krieg ist vor allem das protestantische Bildungsbürgertum. Die Autoren sind häufig entweder Lehrer, Historiker oder in Kirchenämtern tätig, später treten professionelle Schriftsteller hinzu. Die Adressaten entstammen zu Beginn der Kaiserzeit größtenteils dem Bürgertum, dies signalisieren Publikationsorgane wie die Preußischen Jahrbücher, Buchpreise und -ausstattung sowie bestimmte Verlage. Doch der Adressatenkreis wurde im Verlauf der Kaiserzeit größer. Die erfolgreichen Familienzeitschriften Gartenlaube und Daheim erreichten ein noch wesentlich größeres Lesepublikum, da hier von einem hohen Mitlesefaktor auszugehen ist. 23 Um die Jahrhundertwende erschienen auch Kolportageromane und preisgünstige Kurzfassungen von Königin Luise-Biographien, die auf unterbürgerliche Leserschichten hindeuten. 24 Eine wesentliche Institution zur Verbreitung des Königin-Luise-Mythos war schließlich die Schule. 25 In Lese-, Geschichts- und Realienbüchern sowie in Schulfestspielen war die Lebensgeschichte Königin Luises präsent. Die Schulbücher erlauben auch grobe Hinweise auf die regionale Verbreitung des Königin-Luise-Mythos. So fand Königin Luise erst nach 1866 Eingang in Schulbücher der Provinz Hannover, in Baden und Bayern wurde die preußische Königin nur vereinzelt nach 1871 erwähnt. Die preußischen Schulbücher berichten viel ausführlicher über Königin Luise, dieses gilt auch für die Lehrbücher katholischer Schulen in Preußen. 26 Im Königin-Luise-Mythos des Jahrzehnts nach 1870/71 dominiert ein Geschlechtermodell, das Königin Luise als in der privaten Sphäre agierend charakterisiert und ihr Leidenspotential und ihren Opferwillen in den Vordergrund stellt. Auch wenn das Lei22
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Treitschke, Königin Luise, 429. Soziale Fürsorge für Bedürftige und die Vermittlung zwischen Adel und Bürgertum ist ein Motiv des Königin Luise-Mythos, das in hier untersuchten Texten vor allem für den Zeitraum vor der Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 eine wesentliche Rolle spielt. In der Zeitschrift Daheim wurde besonders die tiefe Religiosität Königin Luises hervorgehoben. Siehe dazu Rudolf Koegel, Königin Luise von Preußen, Ein Lebensbild, in: Daheim 12 (1876), H. 26, 408-414. Beispielsweise der Kolportageroman [Anonym]: Königin Luise die Dulderin auf Preußens Thron oder Fürstenkrone und Dornenkranz, Berlin 1897/98. Zum Schulunterricht siehe Wülfing u. a., Historische Mythologie, 99-103; Rudolf Speth, Nation und Revolution, Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen 2000, 277f. Grundlage dieser Überlegungen sind die im Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig gesammelten Schulbücher von 1860 bis 1918.
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den Königin Luises als aktives Dulden 27 interpretiert wird, so ist diese Aktivität fast immer an passive Leidensfähigkeit geknüpft, etwa den Willen zum Opfer. Selbst ihr Zusammentreffen mit dem französischen Herrscher, das auch als öffentliches Handeln gedeutet werden könnte, bleibt diesem Interpretationsmuster verhaftet. Im Gespräch mit Napoleon negiert Königin Luise explizit ihre offizielle Funktion als Königin, sie begegne dem französischen Kaiser als Frau und Mutter; das erfolglose Treffen wird als Ausdruck ihrer Hingabe und Entsagung gedeutet. Letztlich habe sich die Königin nicht 28
durch ihre „Thaten" sondern durch ihr „Wesen und Sein" besonders hervorgetan. Sämtliche Leidensattribute, die Königin Luise zugeschrieben werden, unterstützen ein bipolares Geschlechtermodell, das Frauen vor allem passive Eigenschaften zuweist. Diese Polarität beruht nicht auf Wechselseitigkeit, sondern auf dem Prinzip der Hierar29 chie, und ist demzufolge asymmetrisch. Auch das Geschlechterrollenmodell des königlichen Ehepaares spiegelt diese Asymmetrie wieder, wenn Königin Luise ihrem Gatten tröstend und unterstützend zur Seite steht. Obwohl Friedrich Wilhelm III. häufig als zögerlich und unentschlossen dargestellt wird, obliegt ihm das öffentliche Handeln. 30 Hierin unterscheiden sich die Königin Luise-Biographien maßgeblich von jenen über die österreichische Kaiserin und Herrscherin Maria Theresia der 1870er Jahre. Wenngleich in diesen Schilderungen das private Leben Maria Theresias und ihre Qualitäten als „zärtlich liebende Gattin und sorgsame Mutter" 31 einen wesentlichen Raum einnehmen, so sind ihr politisches Amt wie ihre Fähigkeiten als Herrscherin unbestritten Teil ihrer Biographie. Um 1900 sind die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen in einigen Quellen bereits stärker ausdifferenziert. Neben die Hauptinterpretationslinie eines polaren Geschlechtermodells treten nun Mythenadaptionen, die der Königin eine 32 aktive politische Rolle zuschreiben, sei es als Zentrum der preußischen Kriegspartei oder als Kritikerin des königlichen Generalstabs, 33 die Rache für die Gebietsverletzungen der Napoleonischen Truppen fordert. 34 Diese Ausdifferenzierung ist im Kontext einer Erweiterung weiblicher Handlungsspielräume zu sehen, wie sie die Gründung des BDF 1894, die sukzessive Öffnung der Hochschulen für Frauen oder auch die Konzeption von Frauen als 27 28
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Diesen Begriff verdanke ich einem Diskussionsbeitrag Dieter Langewiesches. Theodor Mommsen, Königin Luise, Vortrag gehalten am 23. März 1876 in der Berliner Akademie der Wissenschaften, in: Preußische Jahrbücher 37 (1876), [430]-437, hier: 432. Siehe Cornelia Klinger, Beredtes Schweigen und verschwiegenes Sprechen, Genus im Diskurs der Philosophie, in: Bußmann/Hof (Hg.), Genus, 34-59, hier: 42f. Siehe Treitschke, Königin Luise, 424; Kluckhohn, Luise, 32 deutet an, die Königin habe über ihren Mann politischen Einfluss ausgeübt. [Franz] Isidor Proschko, Maria Theresia, Wien 1876, [l]f. Siehe Theodor Rehtwisch, Königin Luise, Gedenkblätter zur Jahrhundertfeier ihres Todesjahres, 101. bis 120. Tsd., Braunschweig [1910], 24. Siehe G[ustav] Gramberg, Königin Luise von Preußen, Ein Lebensbild für die deutsche Jugend, Volksausgabe Stuttgart [1909/10], 78. Siehe ebd., 70; Elisabeth Halden, Königin Luise, 3. Aufl., Berlin [um 1906], 101.
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Trägerinnen der .deutschen Kultur' signalisieren. 35 Für die Frauenbewegung war Königin Luise jedoch kein Bezugspunkt, Vorbilder waren hier vielmehr Frauenrechtlerinnen wie Louise Otto oder Malwida von Meysenbug. Ein weiterer Grund ist in der Gattungsentwicklung der biographischen Erzählung zu suchen, die auf Leseinteressen reagierte, um so ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Die mehrfach neu aufgelegten Texte von Halden und Gramberg sind einem hybriden Genre zuzuordnen, das die biographische Erzählung um Versatzstücke anderer populärer Genres ergänzt: Königin Luise wird von fiktiven Figuren flankiert und ihrer Lebensgeschichte werden Elemente beliebter und erfolgreicher Gattungen wie Liebesund Abenteuerroman hinzugefügt. 36 Emotionale Konflikte Königin Luises werden detailliert geschildert, dieses gilt insbesondere für die Darstellung der Königin als Verkörperung weiblichen National^e/wA/s, das oft mit einer distanzierten Haltung Friedrich Wilhelm III. zur Nation kontrastiert wird.
3. Die Verknüpfung des Vertrages von Versailles mit dem Frieden von Tilsit während der Weimarer Republik Man könnte vermuten, dass mit dem Ende des Kaiserreiches und der Hohenzollerndynastie auch der Königin-Luise-Mythos an Relevanz verliert. Tatsächlich bewies er jedoch eine erstaunliche Persistenz, wie verschiedene Reaktualisierungen des Mythos zeigen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg wurde die aktuelle Niederlage auf jene von 1806 projiziert: 37 „Wie die zweite Auflage der .Königin Luise' erscheint auch diese Ausgabe unter der Fron von Versailles. Unser Volk seufzt noch immer trotz Locarno unter einer Last, die es zu erdrücken scheint. Es ist eine Stimmung wie in Preußen 1806. Damals wurde die Königin Luise zum Schutzgeist deutscher Freiheit, der über das Grab hinaus die deutsche Sache zum Siege führte. Heute können wir nur rückblickend Hoffen und Glauben." 38
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Siehe Ute Planert, Vater Staat und Mutter Germania, Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht, Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000, 15-65, hier: 31 f. Siehe Birte Förster, V o m Nutzen der Historie, Die Nationalisierung der Biographie für junge Leserinnen, in: Gisela Wilkending (Hg.), Mädchenliteratur der Kaiserzeit, Zwischen weiblicher Identifizierung und Grenzüberschreitung, Stuttgart 2003, 219-257, hier: 226ff.
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Siehe Schivelbusch, Kultur der Niederlage, 44: „In Deutschland wurde der November 1918 mit dem Oktober 1806 verglichen und auf eine Wiederholung der Sequenz von Reform und Freiheitskrieg gehofft."
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Hermann Dreyhaus, Vorwort, in: Paul Bailleu, Königin Luise, Ein Lebensbild, 3. Aufl., Berlin 1926, [ο. P.].
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Die Reaktualisierungen des Königin-Luise-Mythos während der Weimarer Republik möchte ich hier unter zwei Gesichtspunkten beleuchten. Erstens werde ich mich einer spezifischen Trägerschicht zuwenden, nämlich mit dem Bund Königin Luise und dem Reichsfrauenausschuß der DNVP zwei nationalkonservativen Frauenorganisationen, und zweitens der Mythenadaption des Tonfilms Luise, Königin von Preußen. Trotz gemeinsam verfolgter politischer Ziele von Bund Königin Luise und weiblichen Abgeordneten der DNVP - beide engagierten sich beispielsweise 1929 beim Volksbegehren gegen den Young-Plan - war deren Adaption des Königin-Luise-Mythos durchaus von Erinnerungskonkurrenzen bestimmt. Diese Konkurrenz ist mit der unterschiedlichen Motivation zu erklären, die bei den jeweiligen Akteurinnen zur Instrumentalisierung des Mythos führte. Für den Bund Königin Luise (1923-1934), bis 1928 Frauenorganisation des Stahlhelm, war Königin Luise vor allem Bezugspunkt als eine in der „Notzeit" nach der Niederlage opferwillige Frau und Mutter. „Der Β [und] K[önigin] L[uise] wählte sich den Namen Königin Luise, weil diese Frau in schwerer Notzeit ihres Volkes sich als reine, sich selbst vergessende Volksmutter bewährte [...]."39 Die Niederlage von 1918 wurde in der Selbstdarstellung des Bund Königin Luise zum zentralen Faktor seiner Identitätskonstruktion: Der Bund verstand sich als „starke Mauer und Front [...], die dem Volke Reinheit, Sitte und Zucht wiedergeben" 40 könne. Ein weiterer Faktor seiner Identitätskonstruktion war die Abgrenzung gegen andere; dies äußerte sich im Ausschluss jüdischer Frauen und ,,Fremdstämmige[r]" 41 von der Aufnahme in den Bund Königin Luise sowie in aggressiven antidemokratischen Stellungnahmen 42 und der Dämonisierung von Frauen, die sich traditionellen Weiblichkeitskonzepten widersetzten. 43 Indem der Bund Königin Luise Cecilie von Preußen,
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Franziska v. Gaertner, Die Gründung des Bund Königin Luise im Jahre 1923 eine volkliche Notwendigkeit, in: Dies., Der Bund Königin Luise, Halle [1934], [6]-ll, hier: 10. Zur Organisationsstruktur des Bund Königin Luise siehe ausführlich Andrea Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation", Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900 bis 1937, Düsseldorf 2002, 165-171. Pommersche Tagespost, 26. 08. 1930, BArch R 1501/125982, Bl. 6. Hedwig Seyfahrt, Bund „Königin Luise", seine Ziele und Aufgaben, in: Die deutsche Frau 21 (1928), 110; siehe Süchting-Hänger, Gewissen der Nation, 168. Der Bund Königin Luise war der einzige konservative Frauenverband, der in seiner Satzung jüdische Frauen ausschloss. 1930 wurde ein Prozess gegen die schlesische Landes Vorsitzende des Bund Königin Luise wegen „Beleidigung der Reichsregierung" geführt, da diese auf einer Versammlung des Bundes in Waldenburg am 14. 10. 1929 geäußert habe: „Vor dem Krieg lag die Regierung in den Händen deutscher Männer. Heute werden wir von Juden regiert. Das sind keine Deutschen, sondern Lumpenpack. [...] Wir wollen uns nicht von Krummnasen, Kraushaar und Plattbeinen regieren lassen und zuletzt nicht von einem Grzesinski, dem unehelichen Sohn eines Juden Cohn [...]." (GStA PK, I. HA, Rep. 84A, Justizministerium, Nr. 55304, Bl. 9.) Franziska von Gaertner charakterisierte die .Neue Frau' der Weimarer Republik 1934 wie folgt: „Unter den jüngeren Frauen wurde das überschlanke Mannweib der Tagestyp, man rauchte Zigaretten statt zu essen, [...] man ging nächtelang in Bars und nahm sich das gleiche Recht auf
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eine Urenkelin Königin Luises, als Schirmherrin wählte und diese von seinen Mitgliedern stets als „Kronprinzessin" tituliert wurde, wurde eine Verbindung zum Herrscherhaus der Hohenzollern geschaffen. Nach dem Ende der Weimarer Republik ist in den Äußerungen des Bund Königin Luise vermehrt völkisches Vokabular zu finden. .Bundesführerin' Charlotte von Hadeln definiert die Aufgaben des Bund Königin Luise 1933 (als der Bund sich bereits der Nationalsozialistischen Frauenfront angeschlossen hatte) wie folgt: „Es gilt für uns, der ganzen deutschen Frauenwelt den tiefen Sinn der Begriffe ,Volk, Kultur und Rasse' einzuhämmern nicht nur im Hinblick auf die jetzt Lebenden und das Heute, sondern im Gedanken an einen hochwertigen Nachwuchs." 44
Der Bund Königin Luise vertrat ein Frauenbild, das Frauen generell in die private Sphäre verwies, ihren Aufgabenbereich allerdings um den Schutz der .nationalen Ehre' erweiterte. Eigene Aktivitäten interpretierten die Leiterinnen des Bundes als apolitisch und charakterisierten sie als ,,mütterliche[] Verantwortung". 45 Königin Luise hoben sie als opferwillige Frau hervor, die „im öffentlichen Leben stets hinter ihrem Gatten zurücktrat." 46 Weibliche Abgeordnete der DNVP hingegen bezogen sich - wie Andrea SüchtingHänger herausgearbeitet hat - explizit auf Königin Luise als Politikerin. 47 Anders als die Leiterinnen des Bund Königin Luise übten diese Frauen öffentliche politische Ämter aus und mussten dieses Überschreiten der Geschlechtergrenzen explizit für ihr Klientel legitimieren. Besonders Käthe Schirmacher wertet die politische Rolle Königin Luises auf. Königin Luise habe als einzige der preußischen Königinnen „eine politischgeschichtliche Bedeutung" erlangt. Schirmacher versieht die Königin mit männlich konnotierten Attributen wie „genial" und „schöpferisch" und erklärt Königin Luise zur „Heldin". 48 Sie hebt jedoch zugleich deren perfekte Erfüllung mütterlicher Aufgaben hervor. Elisabeth Spohr äußert sich verhaltener zur Option politischer Aufgabe für
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Zügellosigkeit und Ausschweifung, wie der männliche Freund. [...] Was galt da noch Volk und Vaterland!" (Gaertner, Gründung, 6). Kreuz-Zeitung, 14. 05. 1933, BArch R 72/1832, Bl. 32; siehe auch Gaertner, Gründung, 8. Pommersche Tagespost, 26. 08. 1930, BArch R1501/125982; siehe [Anonym]: Gegenwartsaufgaben der deutschen Frau, in: Der Obotrit, Mecklenburgische Stahlhelmzeitung 7 (1933), Nr. 1, 3; siehe Süchting-Hänger, Gewissen der Nation, 170. Gaertner, Franziska] v., Die politische Aufgabe der deutschen Frau, in: Die Deutsche Frau 23 (1930), [371]f, hier: [371], Siehe Süchting-Hänger, Gewissen der Nation, 290-295. Süchting-Hänger vertritt die These, es habe erst in den 1920er Jahren eine Umwertung des Königin Luise-Mythos von der Mutterrolle hin zu einer stärker politischen Rolle stattgefunden. Meines Erachtens sind solche Umwertungen jedoch bereits in der Kaiserzeit zu finden (s. o.) Eine deutliche Umwertung der Rolle Königin Luises findet sich auch bei Gertrud Aretz, Königin Luise, Dresden 1927. Königin Luises trägt in der Darstellung Aretz' die Hauptverantwortung für den Krieg. Siehe auch Günter de Bruyn, Preußens Luise, Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2001, 108. Käthe Schirmacher, Was ist an Königin Luise vorbildlich, in: Frauen-Weckruf 18 (1927), 45f.
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Frauen: „So wuchs die einst der Politik und allem Schweren des Lebens abholde Königin in ihre große vaterländische Aufgabe hinein." 49 Auch im Film Luise, Königin von Preußen (1931) sind Verbindungen zwischen der Niederlage von Jena und Auerstedt und jener von 1918 zu finden. 50 Wenngleich diese nicht auf der Ebene der Filmhandlung zu entdecken sind, so lässt doch die Bildsprache des Films die Interpretation zu, dass die Auswirkungen des Friedens von Tilsit (und analog des Vertrages von Versailles) nicht von Dauer sind: Während eine Stimme aus dem Off die abzutretenden Gebiete verliest, ist auf der Bildebene ein Zusammenschnitt vorüberziehender Wolken zu sehen. Auch zeitgenössische Rezensenten stellen einen Bezug zur potentiellen Überwindung der Niederlage her: „Es liegt über dem Bild eine starke Stimmung und es ruft fraglos in vielen Besuchern die wehmütige Erinnerung an jene großen Tage wach, wo Preußens Stern unterging, um nach kurzer Zeit umso heller aufzuleuchten." 51 Im sogenanten Memelgebiet durfte der Film wegen der „zahlreichen Parallelen, die zwischen Filmhandlung und der Gegenwart bestehen" nicht gezeigt werden. „Er [der Kommandant des Memelgebietes, BF] beanstandete in diesem Zusammenhang insbesondere eine im Film gebrachte Karte über das zerstückelte Preußen und wies auf deren Propagandawert hin f...]." 52 Der Film endet mit Königin Luises Ablehnung des Krieges, wobei sie die Unerbittlichkeit der Sieger kritisiert. 53 Die von Henny Porten verkörperte Luise ist vor allem eine leidende Königin. 54 Zum Leiden auf der Flucht, an lebensbedrohlicher Krankheit und den Anschuldigungen Napoleons, der die Königin als Kriegsfurie bezeichnet, tritt in dieser Mythenadaption der Verzicht auf eine Liebesbeziehung zu Louis Ferdinand und der Kompromiss einer Ehe mit dem unentschlossenen Friedrich Wilhelm III.55 Damit wird ein zentraler Topos des
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Elisabeth Spohr, Gekröntes Leid, Zum Geburtstage der Königin Luise am 10. März, in: Frauenkorrespondenz für nationale Zeitungen 9 (1927), Nr. 9, 03. 03. 1927. Luise, Königin von Preußen, Deutschland 1931, Regie Carl Froehlich. SDK/Deutsches Filmmuseum Berlin. Die Romanvorlage für den Film lieferte Walter v. Molo, Luise, Ein Volk wacht auf, 2 Bde., München 1919. [Anonym], Der Film von der Königin Luise, in: Der Kinematograph 25 (1931), Nr. 283, 08. 12. 1931. Siehe auch Charlotte Demmig, Historische Filme, in: Der Gral 26 (1931), 385f, hier: 385. [Anonym], Königin Luise im Memelgebiet verboten, in: Der Kinematograph 26 (1932) Nr. 33, 17. 02. 1932. Königin Luise: „So viel Blut und so viel Opfer und alles umsonst. [...]. Ja, ja, Sieger. Und dann werden wir genauso unbarmherzig, genauso unerbittlich sein, wie heut die andern. Und nie wird es Frieden geben. Immer nur Haß und ewiger Krieg. Ach Fritz, ich bin müde, müde bis auf den Tod." Diese Interpretation der Rolle fand nicht bei allen Kritikern Anklang. Siehe Ludwig Marcuse, Geschichte aus der Geschichte, Königin-Luise-Film im Atrium, in: Vossische Zeitung, 05. 12.1931, Nr. 574: „Henny Porten macht ein sehr trauriges Gesicht. [...] [Sie] soll nämlich Napoleon [...] für ihr Land [...] bitten und macht ein Gesicht wie die Vorsteherin eines Vereins zu Hebung gefallener Mädchen." Siehe dazu auch Katharina Sykora, Ambivalente Versprechungen, Die Figur der Königin Luise im Film, in: Barbara Determann/Ulrike Hammer/Doron Kiesel (Hg.), Verdeckte Überlieferungen,
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Birte Förster
Königin-Luise-Mythos ad acta gelegt: die Liebesehe des Königspaares. Der König stört nicht nur die zunächst hoffnungsvoll verlaufenden Verhandlungen Königin Luises mit Napoleon, die er vorzeitig unterbricht und damit Napoleons Einlenken verhindert - er kann auch mit .Deutschland' nichts anfangen. Seine Frau hingegen hat ein sehr emotionales Verhältnis zu .Deutschland', das sie höher schätzt als persönliche Interessen: Friedrich Wilhelm III.: „Ach, Deutschland ist etwas so Unbestimmtes, so Nebelhaftes [...]." Königin Luise: „Du Fritz, sag das nicht. Ich liebe Deutschland. Es ist etwas, was mich gut macht. [...] Unsere Liebe ist doch deutsch, unsere Ehe ist deutsch, unsere Kinder sind deutsch. [...] Du, wenn Deutschland stirbt, sterb' ich auch."
Henny Porten, Hauptdarstellerin und Produzentin des Films, definiert Königin Luise als apolitisch: „Ich will von Politik nichts wissen. Ich will ein Frauen- und ein Mutterschicksal zeigen, nichts weiter." 56 Diese Interpretation Portens wurde durch ihr Rollenrepertoire, das vor allem leidende Frauenfiguren umfasste, unterstützt. Porten verkörperte im Kino der 1920er Jahre einen Frauentyp, der eine Gegenfigur zur .Neuen Frau' darstellte.57 Mit ihrer Einordnung Königin Luises stimmte Porten mit dem Bund Königin Luise übereia In diesem Kontext steht auch der Verzicht auf die Liebesbeziehung zu Louis Ferdinand, der die Königin zu einer aktiveren politischen Rolle drängt. Wenngleich Leiden und Verzicht zentrale Topoi der Mythenadaption des Filmes sind, so sind dennoch auch Überschreitungen des dichotomen Geschlechtermodells zu verzeichnen. Die Königin ist Trägerin nationalen Gedankenguts, sie tritt in der Uniform der Königin58
Dragoner auf und nimmt als Vertreterin des Königs eine Militärparade ab. Schließlich scheitern ihre zunächst aussichtsreichen Verhandlungen mit Napoleon vor allem an der Ungeduld ihres Gatten - Friedrich Wilhelm III. ist in dieser Interpretation im Gegensatz zum patriotischen Prinzen Louis Ferdinand kein adäquater Lebenspartner für Königin Luise.
4. Schlussfolgerung Wie ich gezeigt habe, wird der Königin-Luise-Mythos im Hinblick auf Kriegsniederlagen instrumentalisiert. So wird durch den behaupteten Zusammenhang zwischen Königin Luises Tod und der Niederlage von Jena und Auerstedt, in dem sowohl auf ihre
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Weiblichkeitsbilder zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Fünfziger Jahren, Frankfurt a. M. u. a. 1991, 137-168, hier: 156. Henny Porten, zitiert nach Helga Belach, Henny Porten, Der erste deutsche Filmstar 1890-1960, Berlin 1986, 109. Siehe Sykora, Ambivalente Versprechungen, 151. Es handelt sich hier um die Ansbach-Bayreuth-Dragoner, die 1806 in Regiment-Königin-Dragoner umbenannt wurden. Siehe Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie, Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987, 257-262.
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Duldsamkeit als auch auf ihren Widerstand verwiesen wird, die Erinnerungsfigur einer überwundenen Niederlage geschaffen. Der Königin-Luise-Mythos wird hier zum Träger divergierender Deutungen, das heißt: Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen interpretieren das Verhältnis von Königin Luise zur jeweils kommunizierten Kriegsniederlage für ihre spezifischen Interessen neu. Auch am impliziten Geschlechtermodell der vorgestellten Interpretationen lassen sich diese Neu- und Umdeutungen aufzeigen. Die grundsätzliche Möglichkeit zur Reaktualisierung des Mythos eröffnet widerstrebende Deutungen von Kriegsniederlagen. Gleichzeitig ist die potentielle Offenheit Garant für das Fortbestehen des Königin-Luise-Mythos selbst.59
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Siehe Vogel, Protestantisches Herrscherideal, 242.
MICHAEL HOCHGESCHWENDER
Ehre und Geschlecht: Strategien bei der Konstruktion nationaler Einheit nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg
1. Die politisch-gesellschaftliche Situation der USA nach dem Bürgerkrieg Als am 12. April 1865 die konföderierte Army of Northern Virginia unter dem Kommando von General Robert E. Lee vor den von General Ulysses S. Grant befehligten Truppen der Union kapitulierte, war niemandem so recht klar, wie es zukünftig mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika weitergehen sollte. Die Frage nach dem gegenseitigen Umgang von Nord und Süd, von Siegern und Besiegten, blieb vorerst vollkommen offen. Insbesondere fehlte eine allgemein akzeptierte Option für eine rasche Reintegration jener Staaten, deren Sezession 1860 und 1861 den Bürgerkrieg eröffnet hatte. In mehreren öffentlichen Ansprachen hatte Unionspräsident Abraham Lincoln1 angedeutet, dass er eine schnelle und milde Wiederherstellung der Einheit aller Amerikaner wünschte. Die Wunden des brudermörderischen Konflikts, der bereits Züge eines totalen Krieges angenommen hatte, sollten baldmöglichst verheilen. Allerdings blieben Lincolns Ausführungen ambivalent. Schließlich stellte sich nicht nur die Frage nach dem Umgang mit den besiegten Südstaatlern, sondern auch die nach der Zukunft der befreiten ehemaligen Sklaven. Der Präsident selbst war kein eifernder Abolitionist. Bereits zu Beginn des Sezessionskrieges hatte er sich deutlich von den Radikalen distanziert. Der Präsident stammte politisch aus dem Lager der alten, inzwischen untergegangenen Whigs, wo er zwar aus Gewissensgründen stets gegen die Sklaverei eingetreten war, ohne aber den Primat der Einheit der Union je aus den Augen zu verlieren. Erst als der Norden militärisch gefestigt war, hatte er dem Drängen der Abolitionisten in den Reihen der Republikanischen Partei nachgegeben und die Abschaffung der Sklaverei zum Kriegsziel erklärt. Ihm selbst war es aber dabei ausschließlich um die Emanzipation der Schwarzen zu tun gewesen, nicht um ihre bürgerliche Partizipation. Dennoch deutete er in den letzten Kriegswochen an, zumindest literaten Schwarzen, die sich im Kampf um die Union bewährt hätten, könnte das Wahlrecht eingeräumt werden. Allein 1
Allen C. Guelzo, Abraham Lincoln, Redeemer President, Grand Rapids 1999.
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Michael Hochgesch wender
die Möglichkeit einer Beteiligung der Schwarzen an der politischen Macht im Lande aber musste Widerstand hervorrufen, und zwar nicht bloß im Süden. Kurz darauf war Lincoln tot, ermordet von einem Anhänger der Konföderation. Die Ankündigung des eingeschränkten - „Negerwahlrechts" war sein Todesurteil gewesen. 2 John Wilkes Booth, der Mörder Lincolns, hatte indes dem Süden nicht unbedingt einen Gefallen getan. Mit dem Tod des Präsidenten rückte die Lösung des Reintegrationsproblems, bei dem es immer auch um die Frage nach dem spezifischen Inhalt USamerikanischer Identität ging, in weitere Ferne als je zuvor. Das hatte vor allem mit dem Charakter der Republikanischen Partei zu tun, die seit ihrer Gründung im Jahre 1854 durchweg eine inkohärente und heterogene Koalition ganz unterschiedlicher Interessen dargestellt hatte. Evangelikaie Reformer standen neben liberalen Anhängern einer kapitalistischen Marktwirtschaft; radikale Abolitionisten, Temperenzler und Nativisten aus der unteren Mittelklasse neben wohlmeinenden unionspatriotischen Patriziern, die einst die Whigs gewählt hatten. 3 Vor allem aber hatten die Republikaner einen gravierenden Nachteil: Sie waren eine ausschließlich sektionalistisch ausgerichtete Interessenpartei, die im Süden bestenfalls unter den Schwarzen und den kleinen Freibauern, der Yeomanry, über eine potenzielle soziale Basis verfügte. Dies aber waren genau die bis dahin gesellschaftlich und politisch ausgegrenzten Gruppen der Südstaaten gewesen. 4 Dadurch waren weitere Konflikte vorprogrammiert. Es war in keiner Weise abzusehen, dass die herrschende großgrundbesitzende Pflanzeraristokratie des Südens ihre führende gesellschaftliche Stellung kampflos preisgeben würde. Gleichzeitig war jedermann klar, dass eine Beseitigung dieser Klasse nur möglich war, wenn man eines der geheiligten Prinzipien der amerikanischen Verfassung, das Recht auf Eigentum, antastete. Gerade den Republikanern mit ihrer gewichtigen liberalen Tradition musste dies aber schwer fallen. Dadurch wurde eine eigens für den Süden konzipierte und auf langfristige Machtsicherung angelegte Southern strategy der Partei von vornherein nahezu unmöglich gemacht. Hinzu kam ein weiterer Unsicherheitsfaktor: Der Nachfolger Lincolns, Präsident Andrew Johnson, 5 stammte weder aus der Partei noch aus dem Milieu der Whigs, aus dem der tote Präsident und sein Secretary of State, William H. Seward, gekommen waren. Johnson war ein unionstreuer Kriegsdemokrat aus Tennessee, einem der Sklavenstaaten, der sich 1861 der Konföderation angeschlossen hatte. Eigentlich war er nur deswegen Lincolns Partner auf dem republikanischen Ticket von 1864 geworden, weil
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James M. McPherson, Für die Freiheit sterben, Die Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges, München 1996, 838.
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Eric Foner, Free Soil, Free Labor, Free Men, The Ideology of the Republican Party before the Civil War, Oxford 1995; siehe auch John Ashworth, Slavery, Capitalism, and Politics in the Antebellum Republic, vol. I: Commerce and Compromise, 1 8 2 0 - 1 8 5 0 , Cambridge 1995. Zur sog. Southern Strategy der Republikaner vgl. Richard H. Abbott, The Republican Party and the South, 1 8 5 5 - 1 8 7 7 , Chapel Hill 1986.
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Hans L. Trefousse, Andrew Johnson, A Biography, New York 1989.
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die Republikaner angesichts einer massiven Antikriegspropaganda der Demokraten einen unionstreuen Vorzeigedemokraten benötigten. Johnsons Haltung zu den anstehenden Rekonstruktions- und Reintegrationsfragen war weit gehend unbekannt; viele glaubten, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Mann hasse die arrogante Pflanzeraristokratie des Südens und werde sich deswegen für eine unnachgiebige Haltung gegenüber der besiegten Konföderation aussprechen.6 Sie sollten sich täuschen. Angesichts dieser Voraussetzungen verwundert es kaum, dass die Republikaner zu keiner geschlossenen Position finden konnten. Dies eröffnete dem Süden dann im Laufe der folgenden Jahre Handlungsoptionen, von denen man im Frühjahr 1865 kaum zu träumen gewagt hätte. Eine Fraktion der Republikanischen Partei, die Radikalen, plädierte für eine harte, punitiv ausgerichtete Haltung gegenüber den Südstaaten. Die Rebellen sollten für ihren Verrat an der Union bestraft werden. Doch die Radikalen, die sich überwiegend aus abolitionistischen und evangelikalen, mitunter auch nativistischen Kreisen sowie aus Exilanten der europäischen 1848er Revolution rekrutierten, wollten mehr. Sie strebten nach einem Umsturz der sozioökonomischen und rassischen Ordnung des alten Südens, nach einem möglichst vollständigen Austausch der dortigen sozialen Eliten. Dies hing eng mit ihren eigenen Klassen- und Parteiinteressen zusammen, da es sich bei den Radikalen in aller Regel um Angehörige der Mittelklassen handelte, die für eine liberal-kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eintraten. Sie nahmen eine umfassende, wenngleich kurzfristige soziale Erschütterung des Südens bewusst in Kauf, um ihre langfristigen Ziele durchzusetzen. Am Ende sollte ein Süden stehen, der sich vom partiell bereits industrialisierten Norden in nichts mehr unterschied. Die agrarische und traditionale Gesellschaftsordnung Dixies sollte mittels einer aktiven und intensiven Rekonstruktionspolitik in eine bürgerlich dominierte, egalitäre Industriegesellschaft umgeformt werden. Ein frühes Beispiel von nation building, wenn man so will. Darüber hinaus planten die Radikalen durch die Einführung des Stimmrechts für Schwarze, auf Jahrzehnte die strukturelle Mehrheit der Republikaner zu sichern. Nach der Niederlage der Konföderation war für sie nationale Einheit nur zum Preis des Nordens zu haben. Das sahen freilich die ehemaligen Whigs und Demokraten vom moderaten und konservativen Flügel der Republikaner ganz anders. Zwar traten auch sie für die Emanzipation der Sklaven ein, nicht aber für deren künftige politische Partizipationsrechte. Schwarze sollten frei sein und dem Arbeitsmarkt lohnabhängige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Daneben mochten sie als Konsumenten dienen. Als gleichberechtigte Mitbürger aber kamen sie für die Konservativen keinesfalls infrage. Das hing eng mit den tief verinnerlichten Vorstellungen über konstante Rassemerkmale zusammen, wie sie sich spätestens seit den 1830er Jahren in der US-amerikanischen Gesellschaft herausgebildet hatten. Das Aufkommen des organisch-essentialistischen Rassismus mit seinen biologistischen Grundlagen, der seit etwa 1840 den romantischen und den auf6
Vgl. allg. Eric Foner, Reconstruction, America's Unfinished Revolution, 1 8 6 3 - 1 8 7 7 , New York 1988.
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Michael Hochgeschwender
geklärten Rassismus, die beide in ihren stereotypen Zuschreibungen noch weitaus flexibler gewesen waren, abgelöst hatte, verstärkte nur noch die wachsende Fixierung auf Rasse als sozialem Distinktionskriterium. Nicht nur Konservative, auch einige Radikale teilten die rassischen Vorbehalte gegenüber den Schwarzen, weswegen der Rekurs auf den Rassismus eine für die Konservativen Erfolg versprechende Strategie darstellte, die Reform- und Machtvorstellungen der Radikalen abzuwehren. Aber die Moderaten und Konservativen handelten nicht ausschließlich auf der Grundlage des organischen Rassismus. Auch wenn sie inhaltlich den Wirtschaftsliberalismus der Radikalen teilten, hatten sie entschiedene Vorbehalte gegenüber der Art und Weise, wie die Radikalen ihn im Süden durchsetzen wollten. Für den rechten Flügel der Republikanischen Partei kam ein kompletter sozioökonomischer Umsturz in den Gebieten der ehemaligen Konföderation schon aus systemischen und ordnungspolitischen Gründen nicht infrage. Wie wollte man die Heiligkeit des Privateigentums dauerhaft absichern, wenn man in Krisenzeiten derartige Ausnahmen zuließ? Konnte es so etwas wie eine sektional begrenzte Revolution geben, ohne dass die Eigentumsordnung des Nordens gleichzeitig in Gefahr geriet? In den Augen der Moderaten und Konservativen trug der punitive Aktivismus der Radikalen den Keim für weitergehende gesellschaftliche Umstürze in sich. Wenn überhaupt Veränderungen notwendig waren, was für viele Konservative überhaupt nicht ausgemacht war, dann durften sie sich nur allmählich, schrittweise vollziehen. Rekonstruktionspolitik war für die innerparteilichen Gegner der Radikalen meist nicht mehr als die Wiederherstellung der Union nach dem Vorbild der Vorkriegszeit, allerdings mit Ausnahme der für alle Seiten obsolet gewordenen Sklaverei. Ansonsten verbanden sich bei ihnen liberale und rassistische Prinzipien. Im Grunde war das ein Erfolg der Demokraten. Gewiss, diese waren seit 1860 nicht weniger gespalten ais der Rest des Landes auch. Aber zusätzlich zu den Prinzipien der engen oder strikten Verfassungsauslegung, des Primats der Einzelstaatensouveränität vor der Souveränität der Union, des lokalistischen Partikularismus und einer populistischen Kapitalismuskritik gehörte der unbedingte Glaube an die white supremacy zu den weltanschaulichen Fundamenten der Demokratischen Partei, die nicht umsonst im Süden ihre Hochburgen hatte. Diese Ideologie erlaubte es den Demokraten, ein wenigstens für Weiße inklusives Konzept nationaler Identität zu entwickeln, demgemäß die USA ein Land freier, weißer Männer waren. Dadurch konnten sie auf konfessionalistische und klassenspezifische Engführungen, wie sie unter den Whigs und Republikanern gang und gäbe waren, verzichten. Whiteness, nicht Protestantismus oder Reichtum begründete das Amerikaner-Sein. 7 Überdies war das Verhalten der Demokraten nach dem Krieg von dem Versuch bestimmt, die 1860 durch die Spaltung der Partei verlorene 7
John Gerring, Party Ideologies in America, 1 8 2 8 - 1 9 9 6 , Cambridge 2001, 163-66 und Jean H. Baker, Affairs of Party, The Political Culture of Northern Democrats in the Mid-Nineteenth Century, Ithaca 1989, 177-211; vgl. ferner zum Konzept der whiteness: David R. Roediger, The Wages of Whiteness, Race and the Making of the American Working Class, London 1991; Peter Kolchin, Whiteness Studies, The New History of Race in America, in: JAmH 89 (2002), 1, 154-173.
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Ehre und Geschlecht
politische und kulturelle Hegemonie in den Vereinigten Staaten zurückzuerobern. Dazu war es unabdingbar, zum einen den Süden schnell zu reintegrieren und zum anderen Koalitionen mit den Gegnern der Radikalen in der Republikanischen Partei zu suchen. Dies fiel den Demokraten umso leichter, als sie weltanschaulich zwar stärker vom klassischen Republikanismus beeinflusst waren, liberalen Werten also eher skeptisch gegenüberstanden, ihre Kapitalismuskritik sich jedoch nie zu einer Kritik des Privateigentums auswuchs. Prinzipiell dachten die Demokraten weniger stark vom Individuum, sondern von der historisch gewachsenen, „organischen" Gemeinschaft her. Aufgrund der spezifischen Mischung republikanischer und liberaler Ideologieelemente in nahezu allen zeitgenössischen Parteien hielt man aber auch bei den Demokraten fraglos an der beinahe religiösen Wertschätzung des Privateigentums fest. Darum dachten selbst unionstreue und kriegsbegeisterte Nordstaatendemokraten ganz auf der Linie der konservativen und moderaten Republikaner sowie der demokratischen Anhänger des Q
Südens. Ein sozialer Umsturz war mit ihnen nicht zu machen. In diese Konstellation hinein fielen die Bemühungen der ehemaligen konföderierten Staaten, die Einheit von Union und Nation neu zu konstruieren. Dabei setzten sie, über politische und verfassungsrechtliche Schritte hinaus, auch auf das weltanschauliche Moment. Vor allem die Konzepte von Ehre (honor) und Geschlecht (gender)9 nahmen in diesem ideologischen Rekonziliationsprozess eine zentrale Stellung ein. Beide Konzepte verfügten über einen großen Vorteil. Ihr Gebrauch war nicht der Niederlage geschuldet, auch wenn sie nach 1865 funktional unter dem Gesichtspunkt der Niederlage und ihrer Folgen eingesetzt werden konnten. Vielmehr konnte man über diese Konzepte semantisch und emotional Kontinuität zur Vorkriegszeit herstellen. Parallel verschoben sich die mit ihnen gemeinten Inhalte. Darüber hinaus drängten sich Ehre und Geschlecht für reintegratorische Zielsetzungen förmlich auf, weil sie nicht nur im Süden positiv konnotiert waren, sondern auch im Norden und Westen. Parteipolitisch traf dies gleichfalls zu. Ehre sowie der Kampf um die rassische Reinheit und gesellschaftliche Integrität der weißen Frauen waren konservativ besetzt. Sie verbanden sich zwanglos mit dem Ringen um den Erhalt der sozioökonomischen Struktur im Süden und im Norden. Dabei täuschte die Identität der Semantik über inhaltliche Divergenzen hinweg. Wenn sich im Süden ehemalige Sklavenhalter auf ihre Ehre beriefen, taten sie dies in apologetischer Absicht, um nachträglich die Sezession zu rechtfertigen. Im Norden meinte man hingegen die eigene Sache, den Kampf für den Erhalt der Union und die Emanzipation der Schwarzen. Wichtig war aber, dass beide Seiten sich gegenseitig ihrer Ehre versicherten. Der Bürgerkrieg wurde so im Rückblick zum tragischen Kampf zweier moralisch ebenbürtiger Parteien, deren gemeinsame Zukunft durch die Rück8 9
Vgl. dazu u. a. Ashworth, Slavery, 366-499. Aus einer analytischen Perspektive ist anzumerken, dass das Ehrkonzept dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entnommen ist, während der Begriff gender aus den Diskussionen des 20. Jahrhunderts stammt. Allerdings gibt der Begriff Inhalte wieder, die im 19. Jahrhundert in dem Terminus sex mitschwangen. Für den heutigen Gebrauch erscheint gender allerdings präziser.
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schau auf den soeben iiberstandenen Konflikt nicht notwendig getrübt sein musste. Entlang dieser Linie konnte die konservative Bürgerkriegserinnerung mühelos über Jahrzehnte hinweg konstruiert werden.10 Schließlich lag der Wert beider Konzepte in ihrer engen Verknüpfung mit dem Bemühen, nach dem Ende der Sklaverei die Rassen-, Gesellschafts- und Eigentumsordnung in den USA durch andere Formen sozialer Distinktion aufrecht zu erhalten. Honor, gender und race wurden durchgängig zusammen gedacht. Das machte sie für moderate Republikaner anschlussfähig. Der Dreiklang von Ehre, Geschlecht und Rasse erlaubte es dem Süden, eine tragfähige Koalition aus Demokraten und moderaten Republikanern zu zimmern, die es nach dem Scheitern der radikalen Rekonstruktionspolitik des Kongresses (1866-1872) erlaubte, den Süden in eine erneuerte USA als einer Nation, die durch die Vorherrschaft weißer Männer definiert wurde, einzugliedern. Besonderes Gewicht kam dabei der Demokratischen Partei zu, der es nach dem Scheitern der radikalen Rekonstruktion gelang, die Herrschaft in den Südstaaten zu erobern, die radikalen Republikaner zu verdrängen und den Süden in eine solide Bastion für die eigene Weltanschauung zu verwandeln. Nach 1872 akzeptierte man im Norden diese Entwicklung, deren Opfer die befreiten schwarzen Sklaven des Südens waren. Im Interesse einer ehrenhaften Reintegration des Südens und des Schutzes weißer Frauen wurde eine Rassenordnung geschaffen, die sektionsübergreifend hingenommen wurde. Parallel dazu stabilisierte sich die anfangs noch gefährdete Ordnung von Gesellschaft und Eigentum. Die neuen demokratischen Herren der 1870er Jahre, die so genannten Bourbonen oder Redeemer, waren sehr zum Ärger der radikalen Republikaner, aber auch reformorientierter Südstaatler aus Kreisen der kleinen Urbanen Mittelklasse, die gleichen Großpflanzer, die 1861 durch die Sezession für die Krise der Union gesorgt hatten. Sie mochten nun keine Sklavenhalter mehr sein, aber ein ausgefeiltes System ökonomischer Abhängigkeiten, das sharecropping,n sorgte dafür, dass ihre politische Herrschaft wirtschaftlich sogar deutlich mehr Effizienz aufwies als zu Zeiten der Sklaverei. Im Folgenden werden die Konzepte Ehre und Geschlecht auf ihre inhaltliche Tradition zur Antebellumzeit und ihren funktionalen Wert für die Nachkriegsordnung hin befragt. Diese Nachkriegsordnung wird unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden, einerseits im Modus der Reintegration und Rekonziliation, d. h. in Bezug auf den Norden und Westen, andererseits im Modus der internen Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung des Südens.
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Vgl. u. a. Peter Novick, That Noble Dream, The „Objectivity Question" and the American Historical Profession, Cambridge 1991, 224-39. Zum sharecropping siehe Eric Foner, Nothing but Freedom, Emancipation and Its Legacy, Baton Rouge 1983; Joel Wiliamson, After Slavery, The Negro in South Carolina During Reconstruction, Chapel Hill 1965.
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2. Die Ehrkonzepte im Süden der USA Gemäß dem eigenen Selbstverständnis war bereits der Süden der Antebellumzeit eine Gesellschaft, die sich signifikant von der des Nordens unterschied. Diese Differenz war auf mehreren Ebenen auszumachen: Ökonomisch war der Süden agrarisch ausgerichtet. Große Plantagen, auf denen Sklaven Tabak, Reis und vor allem Baumwolle profitabel anbauten, und die kleinen, meist im gebirgigen Hinterland angesiedelten Farmen der Yeomanry bestimmten das Bild. Der Norden hingegen befand sich bereits im Prozess der Frühindustrialisierung, was allerdings nicht ausschloss, dass weiterhin mehr als 80 Prozent der Bevölkerung als Bauern und Farmer auf dem flachen Land lebten. Dennoch galten die städtischen Mittelklassen im Norden als tonangebend. Entsprechend glaubte man zwei unterschiedliche Mentalitäten ausmachen zu können, eine aristokratische im Süden und eine merkantil-bürgerliche und profitorientierte im Norden. Politisch schließlich wurde der Süden von den republikanisch ausgerichteten Demokraten beherrscht, die in der Tradition Jeffersons und Jacksons standen, während in weiten Teilen des Nordens die liberalen Whigs und später die Republikaner den Ton angaben. 12 Doch die Südstaatler neigten dazu, den Konflikt tiefer zu verankern. Unter dem Einfluss romantischer Ritterromane aus der Feder Sir Walter Scotts und anderer Autoren tendierten sie dazu, den sektionalen Konflikt als Neuauflage des englischen Bürgerkrieges zwischen den puritanischen Roundheads und den aristokratischen Cavaliers zu interpretieren. 13 Dabei wiederum spielte das Konzept der Ehre eine besonders wichtige Rolle. Die Südstaatler schrieben sich selbst eine ihrer spezifischen Lebensweise gemäße Ehrenhaftigkeit zu, die den marktorientierten Yankees im Norden allemal abging. Dies war allerdings nur sehr bedingt richtig. Innerhalb der politischen Kultur der Demokraten kam dem Konzept der Ehre eine besondere integrative Funktion zu, weil die für die Partei schlechthin unersetzbare Leitfigur Andrew Jackson zeit seines Lebens seine persönliche Ehre stark betont hatte. Selbst Südstaatler aus Tennessee, lautete sein Motto: „Better Death than Dishonor." Außerdem war er der einzige US-Präsident, der im Duell einen Menschen getötet hatte. 14 Diese Auffassung war mit den aus England und Irland mitgebrachten Ehrbegriffen presbyterianischer Scotch-Irish und katholischer Iren, die
12
Zur Unterscheidung von liberal und republikanisch in der US-amerikanischen Historiographie siehe Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in the Historical Imagination, Cambridge 1992 und Jürgen Heideking/James A. Henretta (Hg.), Republicanism and Liberalism in America and the German States, 1750-1850, Cambridge 2002.
13
Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage, Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001, 63-67.
14
Bertram Wyatt-Brown, The Shaping of Southern Culture, Honor, Grace, and War, 1760s-1880s, Chapel Hill 2001, 56-63, siehe auch ders., Southern Honor, Ethics and Behavior in the Old South, New York 1983.
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sich vor allem bei den gangs in den Großstädten an der Ostküste halten konnten, 15 kompatibel. In diesen Schichten fanden sich nicht selten Wähler der Demokraten. Auf diese Weise war das Konzept der Ehre nie ein rein auf den Süden beschränktes. Allerdings meinte man sogar unter Demokraten in Nord und Süd oftmals unterschiedliches, wenn von honor und dem dazugehörigen duty die Rede war. Im Norden war Ehre unter dem Einfluss der evangelikalen Erweckungsbewegung und der viktorianischen Mittelklassen deutlich mehr innengeleitet als im Süden. Im Verlauf des Bürgerkrieges klang ein weiterer wesentlicher Unterschied auf, bezogen sich Ehre und Pflicht doch im Norden auf Abstrakta wie Patriotismus, Verfassung und Loyalität zur Union. Im Süden hingegen blieb Ehre stark außengeleitet und bevorzugte konkrete Referenzpunkte, zum Beispiel die Familie, die kleine, lokale Gemeinschaft und die Region. Nicht selten war der Einzelstaat, in dem man lebte und oft genug auch geboren war, der am stärksten abstrahierte Bezugspunkt südstaatlichen Ehrbewusstseins. Der Union hingegen kam eine eher subsidiäre Funktion zu. Besonders wichtig aber war der Bezug auf die Rasse, die in wachsendem Maße als Grundlage des Ehrgefühls gelten konnte. 16 In dem Maße, in dem die Sklavenfrage in den 1840er und 1850er Jahren in das Zentrum der sektionalen oder parteipolitischen Konflikte rückte, verlor dann die Union in den herrschenden Gruppen des Südens ihren patriotischen Wert, um endgültig zu Gunsten des Einzelstaates relativiert zu werden. Mit der Ehre des Einzelstaates war dann die Ehre der weißen Rasse, insbesondere der weißen Frauen, engstens verbunden. Das Kunststück der Nachkriegszeit bestand darin, diesen kommunitären Ehrbegriff zu abstrahieren und national zu instrumentalisieren. In der Antebellumzeit bezog sich Ehre im Wesentlichen auf drei Felder, zum einen die Konstruktion von Männlichkeit durch Tapferkeit, zum anderen auf den Erhalt der traditionalen Rassen- und Gesellschaftsordnung und zum dritten auf die Bewahrung der viktorianischen gender-Ordnung. Die Konstruktion männlicher, ritterlicher Identität erfolgte in Friedenszeiten nicht selten durch das Duell, das im Süden und Westen der Union weitaus häufiger gepflegt wurde als im Norden. Diese „Tradition" war indes nicht so alt, wie viele Pflanzeraristokraten 17 gerne glaubten. Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts war das Duellwesen unter dem Einfluss der Aufklärung etwa in Virginia so gut wie ausgerottet. Erst mit der Rezeption des Republikanismus und der Romantik, die später beide in der Demokratischen Partei ihre politische Heimat fanden, 15
Edwin G. Burrows/Mike Wallace, Gotham, A History of New York City to 1898, New York 1999, 633-634; 839-842.
16
Wyatt-Brown, Shaping of Southern Culture, 214; vgl. James M. McPherson, For Cause and Comrades, Why Men Fought in the Civil War, N e w York 1997, 77-84; James I. Robertson, Jr., Soldiers Blue and Gray, Columbia 1998, 222-224. Der Begriff Aristokratie bezeichnet in diesem Essay bestenfalls eine Selbsteinschätzung südstaatlicher sklavenhaltender Großpflanzer, denen es indes an einer zentralen Voraussetzung für eine echte Aristokratie mangelte, der Dauerhaftigkeit ihres sozialen Führungsvermögens. Kaum eine der herrschenden Familien des „Alten Südens" vermochte es, sich länger als drei Generationen an der Spitze der dortigen gesellschaftlichen Pyramide zu behaupten.
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kam es ab 1770 zu einer Renaissance. Interessanterweise war das Duell in der neuen Variante nicht mehr primär Ausdruck sozialer Distinktion, sondern eher auf klassenübergreifende, aber binnenrassische Interaktion angelegt. Wenn man so will, wurde das Duell im amerikanischen Süden demokratisch, egalitär und partizipatorisch. Im Kampf Mann gegen Mann bewies derjenige, der gesellschaftliche und politische Führungsansprüche erhob, dass er zum Führer des Volkes qualifiziert war. Er exekutierte lea18
dership und belegte dadurch öffentlich seine Männlichkeit. Das war im Norden für jene gesellschaftlichen Gruppen anschlussfähig, die politisch den Demokraten nahe standen. Insbesondere presbyterianische Iroschotten, katholische Iren und englische Arbeiter brachten aus ihrer jeweiligen Heimat eine ehrenorientierte Gewaltkultur mit, die sich unter anderem in den Ehrencodes der gangs in den Urbanen Zentren an der Ostküste niederschlug. 19 Diese städtische Unterklassengewalt teilte mit dem semiegalitären Duellwesen des Südens einige strukturelle Ähnlichkeiten. Beide Gewaltformen waren stark reglementiert, ritualisiert und traditional ausgerichtet. Überdies wurden sie von einer teilweise sympathisierenden Obrigkeit nicht weiter verfolgt, da sie als Bestandteile einer weithin akzeptierten Tradition populärer extralegaler Volksgewalt in den USA angesehen wurden. Allein den bürgerlichen Sozialreformern aus dem evangelikalen Milieu blieb es vorbehalten, sich gegen diese volkstümlichen Gewaltformen zu stellen. Dadurch entfremdeten sie sich allerdings zusätzlich sowohl von den Südstaatlern, als auch von den meist katholischen Angehörigen der nordstaatlichen Urbanen Unterklassen, die sich in ihrer rural geprägten Identität und zugleich in ihrer Ehre angegriffen fühlten. Dies führte dazu, dass am Ende die sklavenhaltenden Pflanzeraristokraten und die katholischen Arbeiter im Rahmen der Demokratischen Partei aus ähnlichen Motiven heraus identische Feindbilder pflegten. Auch im Bürgerkrieg blieb die Ehrenhaftigkeit des Südens ein beliebtes Motiv. Die Sezession wurde gerne mit dem Angriff des Nordens auf die Ehre des Südens begründet. Dabei waren Sklaverei, die peculiar institution des Südens, und die Einzelstaatensouveränität konstitutiv für den südstaatlichen Ehrbegriff. Nicht wenige Konföderierte waren zudem in der Frühphase des Konflikts überzeugt, nur sie könnten siegen, weil sie ehrenhafter und tapferer seien als die Yankees.2® Bis zu einem gewissen Grad wurde der Anspruch der Cavaliers sogar von ihren Gegnern akzeptiert. Der Moonshine and Magnolia-Mythos, der die Erinnerung an den „Alten Süden" medienwirksam verklären sollte, war bereits vor dem Krieg wirksam gewesen. Der Rekurs auf die Ehre im Rahmen der Sezession war daher mehrheitlich wohl kein instrumentelles Konstrukt, sondern durchaus ernst gemeint. Es ist im Rückblick auffällig, wie deutlich im Laufe der 1850er Jahre politische Diskurse im Süden an Rationalität einbüßten, um gleichzeitig 18
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20
Bruce C. Baird, The Social Origins of Duelling in Virginia, in: Michael A. Bellesiles (Hg.), Lethal Imagination, Violence and Brutality in American History, New York 1999, 87-114. Burrows/Wallace, Gotham, 6 3 3 - 6 3 4 und 839-842; siehe auch Kevin Kenny, Making Sense of the Molly Maguires, N e w York 1998, 13-44. Schivelbusch, Kultur der Niederlage, 78-82.
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an Emotionalität und Gewalttätigkeit zuzunehmen. Die politische Klasse des Südens fühlte sich wegen der Sklaverei auf ganzer Linie unter Druck gesetzt und reagierte mit einem zumindest oberflächlich entpolitisierten Diskurs der Ehre, an dem sie auch während des Krieges und in der Nachkriegszeit festhielt. Dies war umso leichter, als der Ehrbegriff zum etablierten Kanon republikanischer Tugend gehörte und deswegen übersektional abrufbar blieb. Gerade in Offizierskreisen der Union und unter moderaten Republikanern - beides fiel nicht selten zusammen, da viele Offiziere entweder Moderate oder Kriegsdemokraten waren - machte man sich vor diesem Hintergrund gegen Ende des Bürgerkrieges Gedanken über die Möglichkeit einer raschen Reintegration des besiegten Südens. Man war sich darüber im Klaren, dass die von den Radikalen gewünschte demütigende und exemplarische Bestrafung eher kontraproduktiv sein würde. Schon aus diesem Grund hatte Ulysses S. Grant dem General Joshua L. Chamberlain, der bei Appomattox Courthouse die Kapitulation Lees entgegennahm, die Anweisung gegeben, diesen Akt so schonend wie möglich durchzuführen. Es sollte ein „ritual of surrender and sober celebration of victory" werden, eingebettet in symbolische Akte, die den gegenseitigen Erweis militärischer Ehrenhaftigkeit beinhalteten: „Whatever was surrendered and laid down, it was not manhood and not honor. Manhood arose, and honor war plighted and received", wie Chamberlain später bemerkte. 21 Für die Wiedervereinigung der beiden Landesteile wurde dann das Bild der romantischen Liebesehe gewählt, ein Verweis auf den immanenten Anteil von genefer-Faktoren. Sieht man von der Phase der radikalen Rekonstruktion ab, war das Modell der gegenseitigen Versicherung der Ehrenhaftigkeit des jeweiligen Handelns rekonziliatorisch ausgesprochen erfolgreich. Schon seit 1868 richteten die Demokraten Veteranentreffen aus, auf denen sich ehemalige Soldaten der Union und der Konföderation als gleichberechtigte Partner begegneten. Vor allem der beliebte frühere Oberbefehlshaber der 22
Westfront, General Rosecrans, der nach demokratischer Lesart im Krieg das Opfer einer radikalrepublikanischen Intrige geworden war, diente als Aushängeschild dieser Kampagne. Rosecrans hatte den Vorteil, schon frühzeitig ein offener Gegner der Sklaverei gewesen zu sein, war also jeglicher Sympathien für die Sezession unverdächtig. Gleichzeitig aber war er Katholik und sozial konservativ gesonnen, weswegen er sich für erste Rekonziliationsversuche wie von selbst anbot. Später schlossen sich die sektionalistischen Veteranenverbände, die Grand Army of the Republic (GAR) und die United Confederate Veterans (UCV), diesem Vorgehen an. Beide, GAR wie UCV, waren in der frühen Nachkriegszeit ursprünglich als Lobbyorganisationen der Veteranen beider Armeen gegründet worden, um beispielsweise Pensionen und andere Vergünstigungen zu erreichen. Mehr und mehr aber entwickelten sie sich zu Trägern kollektiver Erinnerung. Vor allem die GAR mutierte zu einem institutionellen Hauptträger 21 22
Wyatt-Brown, Shaping of Southem Culture, IX-XII. Vgl. allgemein William A. Lamers, The Edge of Glory, A Biography of General William S. Rosecrans, U.S.A., Baton Rouge 1999.
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einer spezifischen, auch parteipolitisch fivierten Form des Bürgerkriegsgedenkens. In ihren Camp Fire Meetings berichteten die Veteranen der GAR in den 1870er Jahren nicht allein über das, was ihnen im Feld zugestoßen war. Sie gaben diesen Erinnerungen eine eigene, an den Interessen der Radikalen in der Republikanischen Partei orientierte Deutung, die lange durchaus abolitionistische Züge trug. Erst in den 1880er Jahren etwa verlor die GAR ihren ursprünglichen Charakter einer republikanischen Vorfeldorganisation und öffnete sich konfessionell und parteipolitisch. Gerade mit der Aufnahme von Demokraten und Katholiken aber wurde es unmöglich, den emanzipatorischen Abolitionismus weiterhin zur Leitideologie der GAR zu machen. An seine Stelle trat die Solidarität weißer Amerikaner. Die UCV allerdings blieb dem südstaatlichen Bekenntnis zum lost cause verpflichtet. Dies war freilich zunehmend kein Problem mehr, da sich der Kurs beider Organisationen auf der Grundlage des rekonziliatorischen Ehr- und Rassedenkens seit Ausgang der Rekonstruktionsepoche einander anglich und gesamtstaatlich patriotisch überwölbt wurde. Auch das institutionelle Kriegsgedenken verschob sich inhaltlich. Im Norden spielte, wie im Süden, die Sklaverei als Kriegsgrund keine Rolle mehr. Der Bürgerkrieg wurde zum Unfall in der amerikanischen Geschichte, dessen Ursachen auf beiden Seiten in gleichem Maße als ehrenwert angesehen werden konnten. 1913 kam es dann auf dem Schlachtfeld von Gettysburg in Anwesenheit von Woodrow Wilson, des ersten demokratischen Präsidenten aus dem Süden seit 1861, zu einem großen nationalen Versöhnungstreffen. Tausende weißer Veteranen reichten sich über den Gräbern der Gefallenen die Hand. Die USA waren seit dem Spanisch-amerikanischen Krieg zur Großmacht geworden und in Europa deutete alles auf einen kommenden großen Krieg hin. Da erschien es wichtig, nationale Einheit zu inszenieren und zu zelebrieren. Insofern war das Treffen in Gettysburg der Abschluss einer in die 1880er Jahre zurückreichenden rekonziliatorischen Entwicklung. Indes, die schwarzen Veteranen durften an der Feier nicht teilnehmen. Sie trafen sich, ganz im Geiste der herrschenden Segregation, abseits der anderen Festteilnehmer, um ihre eigene, separate Feier abzuhalten. Die Zeiten waren endgültig vorbei, in denen Weiße und Schwarze etwa in New York gemeinsam als Sieger gefeiert hatten oder gar weiße Frauen den Paraden schwarzer Unionstruppen beiwohnen durften. Der Ausschluss der schwarzen Veteranen war der Preis, den insbesondere die Republikaner zahlen mussten. Im Interesse nationaler Rekonziliation taten sie das auch. 24 Zusätzlich beteiligten sich die Veteranenverbände an der Schaffung und Durchsetzung einer auf den Krieg und sein Gedenken bezogenen nationalen Symbolik. Vor allem die integratorischen Rituale des Memorial Day, der national und sektional aufgeladen werden konnte, gehörten in diesen Kontext. 25 Im Süden wurde es zum Beispiel seit 23 24
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Zur GAR vgl. Mary R. Dearing, Veterans in Politics, The Story of the GAR, Westport 1974. David W. Blight, Race and Reunion, The Civil War in American Memory, Cambridge 2001, 272296 und 383-392. Cecilia Elisabeth O'Leary, To Die For, The Paradox of American Patriotism, Princeton 1999, 100107.
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den 1890er Jahren üblich, am Memorial Day, einer Art Vorläufer des deutschen Heldengedenktages, die Gräber der Gefallenen sowie die örtlichen Bürgerkriegsdenkmäler mit dem Sternenbanner und der konföderierten Fahne, den Stars and Bars, zugleich zu schmücken. Offenbar sah kaum noch jemand darin einen Widerspruch, obwohl 1861 gerade die konföderierte Fahne für ganz andere Werte und politische Ideale gestanden hatte als Old Glory, die Fahne der Union. Nun jedoch, drei Jahrzehnte später, waren diese fundamentalen Divergenzen beinahe belanglos geworden, hatte man sie doch mit einer ausgefeilten Rhetorik gegenseitiger Ehrerbietung übertüncht.
3. Der Zusammenhang der Diskurse über Ehre, Rasse und Gender nach 1870 Im Hintergrund dieser rekonziliatorischen wechselseitigen Garantie männlicher Ehre stand eine gemeinsam akzeptierte Rassen- und Gesellschaftsordnung, die ihrerseits auf Ehrenhaftigkeit aufbaute bzw. sie implizierte. Nur wem Ehre zugebilligt wurde, konnte gesellschaftliche Relevanz für sich in Anspruch nehmen. Ehre aber war, spätestens seit den 1870er Jahren, wieder vollkommen an die Zugehörigkeit zur weißen Rasse und an eine traditionale Eigentumsordnung gebunden. Die Rassenfrage wiederum war äußerst eng mit der gender-Oránung gekoppelt, und zwar sowohl reintegratorisch wie sektionalistisch. Vor 1863, dem Jahr der Emancipation Proclamation, und 1865, dem Jahr der allgemeinen Sklavenbefreiung, hatte die Sklaverei eine stabile Rassenordnung im „Alten Süden" gewährleistet. Das war für ethnische Gruppen wie etwa die Irokatholiken, deren whiteness im gesellschaftlichen Diskurs als günstigenfalls prekär angesehen wurde, wichtig, weil ihr Status dank der strikten Rassengrenzen in der angelsächsischen Sklaverei abgesichert wurde. 26 Zugleich diente die Sklaverei dem Erhalt südstaatlichen Ehrpotentials. Gemeinsam mit theologischen (Hamitenhypothese) und naturwissenschaftlichen (Polygenese der Menschheit) Begründungsversuchen, wurde 27
die Sklaverei zur Frage der Ehre. In Anbetracht der auf beiden Ebenen behaupteten absoluten und unüberwindbaren Minderwertigkeit der Schwarzen war es unvorstellbar, dass den Schwarzen irgendeine gesellschaftliche Funktion zukommen konnte, außer eben Sklaven zu sein. In der Sklavenhaltung drückte sich darüber hinaus ebenso wie in der - vermutlich gar nicht so häufigen - Vergewaltigung schwarzer Sklavinnen die Männlichkeit weißer Südstaatler aus, unabhängig von ihrem tatsächlichen sozialen 26
Dale T. Knobel, Paddy and the Republic, Ethnicity and Nationality in Middletown 1986; Kirby A. Miller, Emigrants and Exiles, Ireland and the America, N e w York 1985; Lawrence J. McCaffrey, The Irish Catholic Washington, DC 1997; Noel Ignatiev, H o w the Irish became White, London
27
Vgl. allgemein John David Smith, An Old Creed for the New South, Proslavery Ideology and Historiography, 1865-1918, Athens 1991.
Antebellum America, Irish Exodus to North Diaspora in America, 1995.
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Status. Auf diese Weise stabilisierte die Sklaverei zumindest theoretisch die faktisch antiegalitären Besitzstrukturen im weltanschaulich dem Egalitarismus verpflichteten Süden. Fast wichtiger noch war der zugrunde liegende Anspruch, die Schwarzen aufgrund der naturimmanenten Überlegenheit der weißen Rasse zu führen und zivilisatorisch anzuleiten. 28 Auch diese Aufgabe fiel allen Weißen, unabhängig von ihrem realen Stand in der Gesellschaft des Südens zu. In der Vorkriegszeit überwog in diesem Zusammenhang ein stereotypes Bild der schwarzen Rasse, das auf deren Kindlichkeit, Rückständigkeit, Ergebenheit und Leitungsbedürftigkeit abhob. Weiß sein bedeutete hingegen per se zivilisiert und fortschrittlich zu sein. Demgegenüber traten Elemente, die auf die von den Schwarzen ausgehende Gefahr abhoben, eher zurück. Schwarze Brutalität und schwarze Hypersexualität waren eher Topoi, die in der nordstaatlichen Arbeiterklasse zu Hause waren. 29 Dies änderte sich nach 1863. Nun traten Theorien in den Vordergrund, welche die von den Schwarzen ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung betonten. Die Gegner der Emanzipation in Nord und Süd, vor allem in den Reihen der Demokraten, wiesen darauf hin, dass zwei unterschiedliche Rassen nicht friedlich nebeneinander leben könnten, wenn nicht die eine entweder andauernd unterdrückt oder rücksichtslos ausgerottet werde. Der Sklavenaufstand von Santo Domingo (1791) und der Kampf gegen die Indianer wurden als Beispiele herangezogen. 30 Aus einem spannungsreichen, aber sozialromantisch-paternalistisch verklärten Miteinander von Sklaven und Herren wurde ein offen konfrontatives Gegeneinander, das sich vor allem im ganz auf Ausbeutung bedachten sharecropping-System niederschlug. Vielfach kam es von Seiten der Weißen zu hasserfüllten Reaktionen gegenüber ehemaligen Sklaven, die nicht selten in Gewalt umschlug. 31 Umso erstaunlicher ist das weitgehende Ausbleiben der befürchteten Racheakte der Schwarzen. Die schwarze Gewalt war in aller Regel ein weißer Mythos, der gegenüber allen gegenteiligen Entwicklungen in der Realität überaus resistent und für das Verhalten der Weißen maßgeblich blieb. An genau diesem Punkt, der perzipierten schwarzen Gewalt, die eigentlich eher als Topos für Ängste vor radikalrepublikanischen Versuchen, das Gesellschaftssystem zu revolutionieren, stand, verbanden sich die Komplexe um die Begriffe Ehre und Rasse mit der viktorianischen gender-Ordnung. Angesichts der Niederlage verschob sich die Vorstellung von Tapferkeit und Ritterlichkeit. Ehre definierte sich nun weniger über das Duell oder den Krieg, sondern im Schutz der Schwächsten, in diesem Fall der wei-
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Wyatt-Brown, Shaping of Southern Culture, 137-153. Jacqueline Jones, American Work, Four Centuries of Black and White Labor, New York 1998, 249-253. Michael Hochgeschwender, Wahrheit, Einheit, Ordnung, Der US-amerikanische Katholizismus und die Sklavenfrage, 1835-1870, Habil., Universität Tübingen 2003, 215-216, 416-417 und 484485. Ein gutes Beispiel hierfür bietet James F. Hollandsworth, An Absolute Massacre, The New Orleans Race Riot of July 30, 1866, Baton Rouge 2001.
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ßen Frauen des Südens, vor der weitgehend imaginierten Bedrohung durch massenhafte Vergewaltigung seitens der befreiten Schwarzen. 32 Dahinter steckte die Angst, die Radikalen planten die Schaffung einer hybriden Mischrasse von Mulatten, um die Herrschaft der Weißen zu durchbrechen. Den Hybriden schrieb man ganz im Geist der Zeit die jeweils schlechtesten Eigenschaften beider Rassen zu, weswegen man den Radikalen vorwerfen konnte, sie betrieben Vaterlandsverrat durch Rassenmischung, indem sie das glänzende Potential der Weißen unterminierten. Dabei bedienten sich die Radikalen in der Phantasie der Demokraten sowohl der Vergewaltigung wie der legalen Eheschließung als Mittel zum Zweck. Diese Furcht, die im Norden und im Süden unter Demokraten und Moderaten weit verbreitet war, führte dazu, dass zunehmend gesetzliche Verbote des gemischtrassigen Geschlechtsverkehrs erlassen wurden. Anfangs betraf dies nur den Süden, aber seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert fanden sich Anti-Miscegenation Laws in 41 der damals 48 US-Bundesstaaten. 33 Erst 1967 hob der United States Supreme Court in seinem Grundsatzurteil Loving vs. Virginia die letzten Gesetze gegen Rassenmischung auf. Der Kampf gegen die miscegenation diente durchgängig mehreren Zwecken: Zum ersten half er dabei, die Geschlechterordnung zu rekonstituieren. Im Verlauf des Krieges hatten die Frauen des Südens sich mehrfach darin hervorgetan, die Männer durch Appell an deren Ehre zu besonderer Tapferkeit anzuhalten. Dadurch hatten sie die angestammte Geschlechterordnung auf den Kopf gestellt.34 Nach dem Krieg wurden sie angehalten, im Rahmen der Lost Cause-Ideologie eine Hauptrolle beim Gedenken an den Krieg zu leisten. Dadurch wurde der Bezug der Frauen zur Familie bestärkt. 35 Mit Hilfe der Anti-Miscegenation-'Pwpaganda überzeugte man zusätzlich die weißen Frauen des Südens davon, dass sie besonders schutzbedürftig seien. Vor dem Krieg war diese Idee nur ganz am Rande von Bedeutung gewesen. Weiße Frauen hatten zwar in dem Ruf gestanden, zart, anlehnungsbedürftig und schwach zu sein, faktisch aber standen sie, und das war allgemein bekannt, auf den Plantagen durchaus ihren Mann. Angst um die Ehre weißer Frauen hatte man angesichts einer sozial verankerten weißen Überlegenheit im System der Sklaverei nur in seltenen Ausnahmefällen. Die Umerziehung der Frauen in der Nachkriegszeit gelang allerdings fast zu gut, da sich die in den United 32 33
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35
Baker, Affairs of Party, 235-238. Vgl. Martha Hodes, White Women, Black Men, Illicit Sex in the Nineteenth-Century South, New Haven 1997; Rachel F. Moran, Interracial Intimacy, The Regulation of Race and Romance, Chicago 2001. Wyatt-Brown, Shaping of Southern Culture, 211-212; Anne C. Rose, Victorian America and the Civil War, Cambridge 1997, 182-192. Karen Lynne Cox, Women, the Lost Cause, and the New South, The United Daughters of the Confederacy and the Transmission of Confederate Culture, Diss., University of Southern Mississippi 1998; Rollin G. Osterweis, The Myth of the Lost Cause, 1865-1900, Hamden 1973; Margaret Ripley Wolfe, Daughters of Canaan, A Saga of Southern Women, Lexington 1995, 81-144 und Glenda Elisabeth Gilmore, Gender and Jim Crow, Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896-1920, Chapel Hill 1996.
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Daughters of the Confederacy (UDC) zusammengeschlossenen Matronen des Südens durch die Kooperation der Veteranentreffen seit den 1880er Jahre bedroht fühlten. Sie, und nicht die Veteranen, wollten das Gedenken an den Lost Cause hüten. Zum zweiten sollten die Gesetze das Entstehen einer mulattischen Mischrasse verhindern, die in dem binären Rassencode der angelsächsischen Protestanten keinen Platz hatte. Vor dem Krieg war das nicht so wichtig, weil die Sklaverei als Unterscheidungsmerkmal ausreichte. Sexualkontakte zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen brachten in aller Regel als schwarz konnotierte Sklaven hervor. Umgekehrt war der Geschlechtsverkehr zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern eine Angelegenheit armer weißer Frauen, deren Klassenzugehörigkeit ihre Rassenzugehörigkeit zumindest relativierte. Diese Ordnung war nun verloren gegangen. Die Trennlinie musste schärfer gezogen werden, zumal den weißen Angelsachsen die Möglichkeit fehlte, analog zum lateinisch-romanischen Dreikastensystem, die Mulatten als eigenständigen Bestandteil der Gesellschaft aufzufassen. Gerade in Gebieten wie Louisiana, die von Angelsachsen und französischen Kreolen gleichermaßen bewohnt wurden, zeigte sich, mit welcher Vehemenz die Angelsachsen jede Relativierung des binären Codes bekämpften. Offenkundig bedrohte das lateinische Muster ihre Identität in einem in aller Regel nicht reflektierten Ausmaß. 36 Interessanterweise ließ auch die Zahl der von weißen Männern mit schwarzen Frauen gezeugten Kinder deutlich nach. Drittens - und dies war weniger rekonziliatorisch als vielmehr intern stabilisierend gedacht - erlaubte die Verquickung von Rassen- und gender-Ordnung die Anwendung demokratisch legitimierter, aber extralegaler rassistischer Volksgewalt von unten. Die imaginierte sexuelle Bedrohung durch die Schwarzen und die von der gesamten Nation geteilte Angst vor Rassenmischung diente den Apologeten des lynching dazu, ihre Ar37
gumentation darzulegen. Der Süden wurde zum Zentrum segregationistischer Gewalt, die zwischen 1865 und 1930 Tausenden von Schwarzen und Republikanern das Leben kostete. Anfangs, bis 1871, wurde die terroristische Gewalt politisch legitimiert, danach sexuell, obschon die Mehrzahl der 38 lynchings mit gemischtrassiger Sexualität und Vergewaltigung nichts zu tun hatte. Aber schon die seit 1893 ritualisierte Version der lynchings, in deren Verlauf weißen Frauen die Rolle der Anklägerin zukam und an deren Ende regelmäßig die Zurschaustellung der schwarzen Opfer (90 Prozent aller Opfer von lynchings waren schwarze Männer; vor 1865 waren fast alle Opfer weiße Männer gewesen) stand, belegen die Bedeutung von gender-Faktoren beim lynching als 36
Vgl. allg. Stephen J. Ochs, A Black Patriot and a White Priest, André Cailloux and Claude Pascal Maistre in Civil War N e w Orleans, Baton Rouge 2000; Caryn Cossé Bell, Revolution, Romanticism, and the Afro-Creole Protest Tradition, 1718-1868, Baton Rouge 1997.
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Grace Elisabeth Hale, Making Whiteness, The Culture of Segregation in the South, 1890-1940, New York 1998, 202-231.
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Daniel E. Sutherland, The Expansion of Everyday Life, 1860-1876, Fayetteville 2000, 233-234; siehe zum Ku-Klux-Klan v. a. Kathleen M. Blee, Women of the Klan, Racism and Gender in the 1920s, Berkeley 1991, 12-16.
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wichtigstem Mittel, die segregierte Rassenordnung aufrecht zu erhalten. Für einen längeren Zeitraum zwischen 1890 und 1915, dem Jahr des Auftauchens des neuen KuKlux-Klans, wurden die lynchings äußerst aufwendig inszeniert, um die Wiederherstellung der dreifachen Ordnung von Rasse, Geschlecht und sozial relevanter Ehre regelrecht zu feiern. Paradoxerweise verband sich diese öffentliche Zurschaustellung südstaatlichen Eigenbewusstseins mit den bizarr anmutenden Elementen einer materialistischen Konsumkultur, die man im Süden gemeinhin mit dem so lange verhassten Norden in Verbindung gebracht hatte. Nicht nur florierte der Handel mit offiziösen Erinnerungsfotos an die Tötung der angeblichen Vergewaltiger und Mörder, überdies existierte ein kaum minder umfangreicher, kommerzieller Handel mit Körperteilen, die man den Opfern vor oder nach ihrem Tod abgeschnitten hatte. Im Mittelpunkt dieses Handels standen die Genitalien der ermordeten schwarzen Männer, ein überdeutlicher Hinweis auf die sexuelle Motivation des lynchings. Offenbar ließen sich der Kampf um die Ehre der weißen Frauen und die Sozialordnung des Südens gleichzeitig zwanglos mit kapitalistischem Geschäftssinn vereinbaren. Die weltanschauliche Kombination von Ehre, Geschlecht und Rasse in ihrer rekonziliatorischen Funktion als weltanschaulicher Grundlage einer auf der white supremacy beruhenden herrenvolk democracy griff spätestens seit den 1870er Jahren. Moderate Republikaner und Demokraten nutzten sie, um die Radikalen, die Schwarzen und die Frauen aus dem politischen Geschäft zu verdrängen und ein Konzept von Amerika als einer wiedervereinigten und auf die Zukunft ausgerichteten Nation weißer Männer durchzusetzen. Entlang der hier vorgegebenen Linie konstruierte die Mehrheit der Amerikaner ihr Bild von der Vergangenheit der Vorkriegszeit und des Bürgerkrieges. Auf diese Weise blieb die Erinnerung an den Krieg, sieht man von den internen Debatten in der Historikerzunft einmal ab, erstaunlich statisch. Für den Süden bedeutete diese Entwicklung darüber hinaus, dass trotz der industrieorientierten New South-Kampagne 39 der 1880er Jahre, die agrarische Produktions- und Lebensweise, der Nährboden konservativ-rassistischer Herrschaft, für weitere 70 Jahre erhalten blieb. Erst mit den ökonomischen Resultaten des Zweiten Weltkrieges änderte sich das in den 1950er und 1960er Jahren. 40
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Edward L. Ayers, The Promise of the New South, Life after Reconstruction, New York 1992. Vgl. etwa Numan V. Bartley, The New South, 1945-1980, The Story of the South's Modernization, Baton Rouge 1995; Dewey W. Grantham, The South in Modern America, A Region at Odds, New York 1995; Pete Daniel, Lost Revolutions, The South in the 1950s, Washington, DC 2000.
SABINE KIENITZ
Der verwundete Körper als Emblem der Niederlage? Zur Symbolik der Figur des Kriegsinvaliden in der Weimarer Republik
Im Sommersemester 1920 hielt der rechtskonservative Soziologe und Nationalökonom Othmar Spann (1878-1950) in Wien eine Vorlesungsreihe über Gesellschaftstheorie und Nationalökonomie, die 1921 unter dem Titel Der wahre Staat, Vorlesungen über den Abbruch und Neubau der Gesellschaft veröffentlicht wurde.1 In einem argumentativen Dreischritt, so kündigte er in seiner Einleitung an, wollte er den Studierenden die nötigen gesellschaftswissenschaftlichen Grundbegriffe vermitteln, eine Kritik des aktuellen „Zeitgeistes" leisten sowie - als dezidierter Gegner von Demokratie und Marxismus - das Konzept einer ständischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der modernen Soziologie neu verankern. Das Bild, das der bekennende „Deutschösterreicher" und aktive Kriegsteilnehmer Spann hier von Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeichnete, entsprach im Grunde wohl der Haltung vieler Zeitgenossen, die die neue Friedensordnung nach den Versailler Verträgen als aufoktroyiert und ungerecht ablehnten und auf eine Wiederherstellung bzw. eine völkisch begründete Revision der .alten Ordnung' hofften. Ausgangspunkt seiner revanchistischen Überlegungen war die Situation der militärischen Niederlage bzw. deren negative politische Folgen, die dem „gesellschaftlichen Organismus" Deutschlands tiefe Wunden beigebracht hätten. Dabei hatte der verlorene Krieg in seinen Augen durchaus auch positive Auswirkungen. So sah er Österreich von der „undankbaren, zuletzt auch unlösbar gewordenen Aufgabe" entlastet, „eine Summe kleiner slawischer Völker zu einem großen Kulturstaate zusammenzuzwingen." Nun sei man eben „frei und befreit", um „glühenden Herzens in unser altes deutsches Heimathaus zurückzukehren."2 Andererseits aber konstatierte er eine „zweite offene Wunde am deutschen Volkskörper", die die Entente1
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Othmar Spann, Der wahre Staat, Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, gehalten im Sommersemester 1920 an der Universität Wien, Leipzig 1921. Trotz seiner völkischen Ideen wurde Spann von den Nationalsozialisten 1938 seines Lehrstuhls enthoben, verhaftet und in das KZ Dachau verschleppt. Spann überlebte, war aber aufgrund der erlittenen Misshandlungen dauerhaft sehbehindert. Er erhielt Lehrverbot. Spann, Staat, 100.
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Sabine Kienitz
Mächte - in seinen Augen „pazifistische Schwachköpfe und Völkerbundsstümper" mit den von ihnen beschlossenen Gebietsabtretungen der deutschen Nation geschlagen hatten. 3 Nicht nur die militärische Niederlage als solche, sondern vor allem die vertraglich erzwungene Abspaltung von deutschem Territorium und die „Unterjochung vieler Millionen deutscher Volksgenossen" als Folge davon stehe einem Frieden, wie ihn die Siegermächte „in wunderlicher Verblendung" propagierten, grundsätzlich entgegen. Im Gegenteil: Diese territorialen Einschnitte stellten in seinen Augen die zentrale Herausforderung an die Durchsetzungskraft und die Zukunft Großdeutschlands dar, das seine Kampf- und Leistungsfähigkeit nun erneut unter Beweis stellen und sich gewaltsam vom Joch der Fremdherrschaft befreien müsse. Spann plädierte daher ganz offen dafür, aktiv auf eine Remilitarisierung Deutschlands hinzuarbeiten und gezielt den Moment der Schwäche der politischen Gegner abzuwarten: „Das deutsche Volk muß sich bereithalten, es kann sich nicht Ruhe gönnen, und muß sinnen, was Pflicht und Ehre gebieten. Das deutsche Volk muß sich seinen politischen Körper, der jetzt verstümmelt ist, erst noch bauen." 4 Die organisch abgeleitete Metapher von der Entstehung eines „Volkskörpers", die Othmar Spann hier verwendet und zugleich durch das Bild des Bauens als selbstbestimmten Konstruktionsprozess entlarvt, also die Imagination eines politischen Kollektivs in Analogie zum menschlichen Organismus bzw. die Projektion des individuellen, physischen Körpers auf einen übergeordneten gesellschaftlichen „Körper" hat, wie die Historikerin Svenja Goltermann überzeugend gezeigt hat, speziell in Deutschland bis nach 1945 eine lange und zum Teil auch negative Tradition. 5 Unter Verweis auf die Arbeiten von Mary Douglas betont Goltermann dabei gerade die Reziprozität zwischen der Imagination der Nation als sozialer Körper einerseits und der kulturellen Konstruktion eines individuellen physischen Körpers andererseits. 6 Grundlage dieses kulturanthropologischen Ansatzes ist dabei nicht eine nur äußerlich bleibende „Homologie zwischen den Funktionsweisen des menschlichen und politischen Körpers", sondern vor allem der ständige, wechselseitige Transfer von Bedeutungsgehalten und Kategorien als zentralen Bestandteilen eines komplexen kulturellen Symbolsystems. Kennzeichnend für diese Deutungen sei eben, dass sie sich gegenseitig bedingen und wechselseitig beeinflussen und sich dabei auch als historisch variabel erweisen. 7
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Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Heinrich August Winkler, Weimar 1918-1933: Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 87-98; sowie den Text von Vanessa Conze in diesem Band. Spann, Staat, 101. Svenja Goltermann, Verletzte Körper oder „Building National Bodies", Kriegsheimkehrer, „Krankheit" und Psychiatrie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, 1945-1955, in: WerkstattGeschichte 24 (2000), 83-98. Vgl. dazu u. a. Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt a. M. 1993. Goltermann, Körper, 83.
Der verwundete Körper als Emblem der Niederlage?
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1. Der Krieg im Körper: Von „Einschreibungen" und Lesarten Die Frage stellt sich allerdings, wie tragfähig sich eine solche Körper-Metaphorik im konkreten historischen Kontext erweist. Denn die scheinbare schlüssige Überzeugungskraft der Analogie solcher Körperbilder mag doch allzu verführerisch sein. Auch die Kulturwissenschaftlerin Inge Baxmann, bei der ich den Verweis auf Othmar Spann und seine Vorstellungen vom deutschen Staat als einem durch die Folgen der Niederlage .verkrüppelten politischen Körper' entliehen habe, begründet mit eben diesem historischen Beispiel ihre Argumentation, dass es in sehr unterschiedlichen historischen Situationen offensichtlich immer „Körperbilder und Körpererfahrungen" sind, die „ein grundlegendes Wahrnehmungsraster für die Deutung politischer Situationen" bzw. „traditionell ein grundlegendes Deutungsschema für die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gesellschaften" 8 darstellen. Unter Verweis auf Spanns Formulierung geht Baxmann daher davon aus, dass die kollektiven Traumatisierungen durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges sich symbolhaft im Bild des verstümmelten (Soldaten) Körpers niedergeschlagen haben. Diese symbolische Qualität des kriegsbeschädigten invaliden Körpers habe eben entscheidend dazu beigetragen, dass die Zeitgenossen nach 1918 nunmehr auch die eigene nationale Gemeinschaft als einen sozialen .Körper' wahrnahmen, der durch die Kriegsniederlage .verletzt' und .verstümmelt' war und der der „Regeneration" und der symbolischen Heilung bedurfte. 9 Die leibhaftige Konfrontation mit den realen Verletzungen der deutschen Soldaten habe ebenso wie das Bild des verstümmelten Körpers zu einer Aktualisierung dieser traditionellen Körpermetapher geführt, die „im kollektiven Imaginären westlicher Kulturtradition" tief verankert sei und sich bis zu Piaton und Aristoteles zurückverfolgen lasse. Der Begriff des Körper-„Bildes" wiederum ist bei Baxmann nicht nur diffus-metaphorisch, sondern sehr konkret gemeint und bezieht sich auf das technische Medium Fotografie. Nicht das allgemein vorhandene gesellschaftliche Wissen um die Existenz der Kriegsverletzungen als solche, sondern gerade die massenhaft verbreiteten visuellen Repräsentationen der körperlichen Verunstaltung und Verkrüppelung der deutschen Weltkriegssoldaten seien eben der Ausgangspunkt für diese Selbstdeutung in nationaler Perspektive gewesen: „Die Fotos verstümmelter Körper führten in symbolischer Verdichtung die realen und imaginären Verletzungen der nationalen Gemeinschaft vor 8
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Inge Baxmann, Der Körper der Nation, in: Etienne François/Hannes Siegrist/Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion, Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1995, 353-365, hier: 354. Das „Regenerieren des gesamten deutschen Volkskörpers" und eine Rückkehr zu seinen deutschen Wurzeln, so Baxmann, habe auch Emst Bloch sich erhofft, allerdings hatte er dabei die russische Revolution im Blick und erhoffte sich eine sozialistische Lösung für Deutschland. Ernst Bloch, Vom Geist der Utopie, München 1918, in: ders., Gesamtausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt a. M. 1978, 296f. Zitiert nach Baxmann, Körper, 355.
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Augen." 1 0 In der leibhaftigen Figur des verwundeten Kriegsinvaliden wie auch in den bildlichen Repräsentationen seiner körperlichen Verletzungen habe man also permanent die zerstörerischen Folgen des Krieges und die symbolische Entwertung der Nation durch die militärische Niederlage gespiegelt gesehen. Der Krieg, so attestiert auch Goltermann, hatte sich in den menschlichen Körper für alle sichtbar „eingeschrieben". In ihrer Studie über die kulturell konstruierten Körperbilder der Versehrten deutschen Kriegsheimkehrer nach 1945 geht sie daher ebenfalls von der These aus, dass die psychisch und physisch verletzten Körper der Kriegsinvaliden des Zweiten Weltkrieges von den Zeitgenossen „als Zeichen des zerrütteten kollektiven Körpers" 11 gelesen wurden. Die Analogie scheint also naheliegend und die Deutung wirkt auf den ersten Blick durchaus überzeugend: Angesichts der einschneidenden territorialen, militärtechnischen und ökonomischen Eingriffe in die Souveränität des deutschen Staates nach 1918 schien eben der amputierte Kriegsbeschädigte für die Zeitgenossen das passende Symbol zu sein, um die kollektive Selbstdeutung als durch den Gegner .deformierte' und geschändete Nation in ein adäquates Bild zu setzen. Der kriegsbeschädigte, an seinen Gliedmaßen verstümmelte und in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkte männliche Körper konnte so als das plakative Emblem für Deutschland nach der militärischen Niederlage gelesen werden. Diese These wird auch in der Diskussion häufig formuliert, wenn es um den Vergleich zwischen Siegermächten und Verlierernationen nach 1918 und um die Unterschiede in diesen Ländern im Umgang mit den eigenen Kriegsversehrten geht. Gestützt wird sie vor allem durch den Blick auf das Nachbarland Frankreich. Aufgrund ihres militärischen Erfolges hatte die westliche Siegermacht offensichtlich keinerlei Probleme damit, den Leistungen sowie den körperlichen Verlusten ihrer kriegsbeschädigten Soldaten auch in einem öffentlich-repräsentativen Rahmen Ehre und Anerkennung zu zollen. Zwar schnitten die französischen Kriegsversehrten im Vergleich zu Deutschland auf dem ökonomischen Sektor schlechter ab, das heißt die Kriegsinvalidenrenten lagen deutlich niedriger und die staatliche Beschäftigungspolitik nahm auf das Argument der Kriegsbeschädigung kaum Rücksicht. 12 Zieht man jedoch als Gradmesser für die nationale Identifikation mit den Kriegsopfern und das Ausmaß des staatlichen Engagements weniger die finanzielle als die symbolische Kompensation heran und beschränkt sich auf die Frage der moralischen und ideellen Aufwertung der
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Baxmann, Körper, 355. Goltermann, Körper, 85. Den besten Überblick über die Unterschiede auf ökonomischem und rechtlichem Gebiet zwischen den Ländern Großbritannien, Deutschland und Frankreich bietet die Arbeit von Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: GG 9 (1983), 230-277; sowie Sophie Delaporte, Les gueules cassées, Les blessés de la face de la Grande Guerre, Paris 1996; für England vgl. Joanna Bourke, Dismembering the Male, Men's Bodies, Britain and the Great War, London/Chicago 1996.
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Kriegsinvaliden, 13 dann liegen hier die Unterschiede zwischen Verlierern und Siegern auf der Hand: So verzichteten die politischen Vertreter der jungen Republik in Deutschland als politische und moralische Konsequenz aus einem Krieg, von dem sie sich nachträglich zu distanzieren versuchten, bewusst auf die Inszenierung offizieller Rituale des Kriegsgedenkens und der Trauer. 14 Diese Ritual-Askese rief bei den deutschen Kriegsinvaliden allerdings Unverständnis und Empörung hervor, da sie sich um eine öffentliche Anerkennung ihrer Opfer-Leistungen betrogen fühlten und ihre physisch-materiellen Verluste entwertet sahen. Diese Haltung der staatlichen Vertreter bestärkte noch ihre eigene Wahrnehmung als Symbol der militärischen Niederlage. Sie sahen sich selbst als „ein Zeichen deutschen Elends und Unglücks", 15 da der deutsche Staat aufgrund des verlorenen Krieges im Zuge der Reparationsleistungen nun auch die Renten der französischen Kriegsbeschädigten zu finanzieren hatte. Im Unterschied dazu zelebrierte die Siegermacht Frankreich zum Beispiel die Ratifizierung der Versailler Verträge unter großer Beteiligung der Versehrten Kriegsteilnehmer. An vorderster Stelle in dieser politischen Inszenierung der deutschen Kriegsschuld gegenüber den französischen Kriegsopfern standen hier die sogenannten gueules cassées, die Gesichtsverletzten, an denen die deutsche Delegation in Versailles vorbeidefilieren musste. 16 Auch bei den offiziellen Gedenkveranstaltungen zum Waffenstillstand am 11. November am nationalen Mahnmal in Verdun marschierten die französischen Kriegsverletzten in den vordersten Reihen und trugen die Nationalflagge, - eine demonstrative Inszenierung nationalen Kriegsgedenkens und symbolischer Integrationsbemühungen, die in Deutschland undenkbar gewesen wäre. Im Gegenteil: Von der ersten politisch motivierten Demonstration der deutschen Kriegsbeschädigten im Dezember 1918 im Berliner Lustgarten bis hin zu den organisierten Protestmärschen der Invaliden in den späten 1920er Jahren richteten sich die kollektiven öffentlichen Auftritte der Invaliden durchweg gegen die Weimarer Republik und ihre politischen Ver-
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Vgl. dazu v. a. die Argumentation bei Deborah Cohen, The War Come Home, Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914-1939, Berkeley/Los Angeles/London 2001. Der Totengedenk- bzw. später sogenannte Volkstrauertag z. B. wurde gegen den Widerstand und ohne offizielle Beteiligung des Staates vom Bund deutsche Kriegsgräberfürsorge bzw. von militärisch organisierten Interessengruppen initiiert. Die Gedenkveranstaltungen zum Kriegsausbruch fanden unter Federführung der Parteien bzw. verschiedener Interessengruppen wie der „Niewieder-Krieg"-Bewegung statt. Die Initiative zur Errichtung eines Reichsehrenmals der Republik für die Toten des Krieges scheiterte und wurde erst von Hitler mit der Entscheidung für das Tannenberg-Denkmal abgeschlossen. Vgl. dazu Karin Hausen, The ,Day of National Mourning' in Germany, in: Gerald Sider/Gavin Smith (Hg.), Between History and Histories: The Making of Silences and Commemorations, Toronto/Buffalo/London 1997, 127-146; Sabine Behrenbeck, Zwischen Trauer und Heroisierung, Vom Umgang mit Kriegstod und Niederlage nach 1918, in: Jörg Duppler/Gerhard P. Groß (Hg.), Kriegsende 1918, Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999, 315-339. „Deutsche und französische Kriegsbeschädigte", in: Der Kriegsteilnehmer 9, 01. 05. 1922. Delaporte, Gueules cassées, 24.
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treter, die für eine unsolidarische bzw. unsoziale Renten- und Arbeitsmarktpolitik und die finanzielle Misere der deutschen Kriegsopfer verantwortlich gemacht wurden. 17 Trotzdem möchte ich die hier behauptete Eindeutigkeit der Emblematik des Kriegsinvaliden für die Niederlage in der Weimarer Nachkriegsgesellschaft in Zweifel ziehen und stattdessen die These von der Komplexität des Invalidenbildes bzw. die differierenden und zum Teil auch konkurrierenden Facetten seiner Deutung dagegen setzen. Die Frage ist, wie sich das Invalidenbild sowohl in der Kriegs- als auch in der Nachkriegsgesellschaft wandelte und wie sich bereits in den Jahren vor der militärischen Niederlage die Wahrnehmung und Deutung des Kriegsinvaliden im jeweiligen Interessenkontext veränderte.
2. Entwertungsprozesse: Vom Kriegshelden zum „lästigen Krüppel" Der Versuch einer kollektiven Heroisierung der deutschen Kriegsbeschädigten, die moralische Anerkennung ihrer Verdienste und die Überhöhung ihrer körperlichen Leiden als „Opfer" für das Vaterland lässt sich zwar für die ersten Kriegsmonate nachweisen. Allerdings währte diese Phase der nationalen Begeisterung und der symbolischen Inanspruchnahme der Kriegsopfer für propagandistische Zwecke insgesamt gesehen nur kurz. Der Prozess der Entwertung und der Stigmatisierung des Kriegsinvaliden setzte dagegen bereits 1915 ein und war mit dem Kriegsende 1918 längst abgeschlossen, also lange bevor die deutsche Niederlage und ihre politischen, militärischen und ökonomischen Folgen absehbar waren. Insofern wäre es eine unzulässige Verkürzung, die Desintegration der deutschen Kriegsbeschädigten als eine direkte Folge dieser Niederlage zu bewerten bzw. kausal an die Erfahrung der Niederlage zu binden. Die Folgen dieser Entwertung und Umdeutung der Kriegsverwundung hatte der österreichische Ingenieur Bernhard Schiller schon relativ früh vorausgesehen. Unabhängig vom Ausgang des Krieges mahnte er daher noch 1918 besondere Vorkehrungen für eine Kennzeichnung der Kriegsinvaliden als Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft an: „Wenn aber einmal der Krieg zu Ende sein wird und der Invalide mit seiner Uniform auch die sichtbare Legitimation seines Kriegsunglückes auszieht, dann wird die breite Masse, die schnell entflammt ist und ebenso schnell vergißt, nur die Widerwärtigkeit sehen, die der An-
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Vgl. dazu u. a. Ewald Frie, Vorbild oder Spiegelbild? Kriegsbeschädigtenfürsorge in Deutschland 1914-1919, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München/Zürich 1994, 563-580; sowie Sabine Kienitz, Körper der Erinnerung, Kriegsinvalidität und Identitätspolitik im öffentlichen Raum in den 1920er Jahren in Deutschland, in: Kathleen Canning/Kristin McGuire/Kerstin Barndt (Hg.), Weimar Publics/Weimar Subjects, Michigan 2003 (im Druck).
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blick eines Kriegsverletzten darbietet, und mancher bewunderte und bemitleidete Held wird zum lästigen Krüppel."18
Die Dekonstruktion des Kriegsbeschädigten war schon während des Krieges verbunden mit einer moralischen Polarisierung und der scharfen Trennung in den „guten", arbeitsamen und unauffälligen Invaliden, der nicht aus seinen Kriegswunden symbolisches Kapital zu schlagen versuchte, und den „schlechten" Invaliden, der sich auf seinen einmal geleisteten Verdiensten ausruhte und dann als „Schmarotzer und Parasit" der Gesellschaft zur Last fiele. 19 Die Zuschreibung als sozialer „Versager" und die Unterstellung, dass Kriegsbeschädigte grundsätzlich arbeitsscheu seien und ihnen der „gute Wille zu praktischer Arbeit" fehle, setzte sich schon 1916 im allgemeinen Bewusstsein ·. 20 der Öffentlichkeit durch. Wer sich in die Erwartung und das öffentliche Wunschbild des arbeitsfähigen, leistungsbereiten Kriegsteilnehmers nicht einfügte, wurde daher von einer Vielzahl von Kriegsbeschädigten-Ratgebern schon im Vorfeld als unmännliche 21
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„Drohne", als „drohnenhafter Mitesser im Volkshaushalt" stigmatisiert und ausgegrenzt als „unverbesserlicher Taugenichts, der keine Unterstützung verdient". 23 Auch der katholische Pfarrer Hermann Müßle beschränkte sich 1916/17 in seiner Schrift Wie sorgt das Vaterland für seine kriegsbeschädigten Heldensöhne? nicht auf eine positive Darstellung der organisierten medizinisch-technischen und sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge. In seinen öffentlichen Vorträgen war ihm dagegen der Appell an die Kriegsinvaliden zu Gehorsam und Dankbarkeit gegenüber den Vorgesetzten und Ärzten in den Invalidenanstalten ein zentrales Anliegen. Darüber hinaus plädierte er für Arbeitsamkeit und Pflichterfüllung dem deutschen Staat gegenüber. Und er zitierte den Direktor einer Magdeburger Kriegsbeschädigtenschule, der die moralische Dekonstruktion des Kriegsbeschädigten als einen schuldhaften Prozess der Selbstentwertung beschrieben hatte: „Auch die größten Verdienste im Krieg befreien nicht von der Pflichterfüllung im Frieden. Wer aber sich infolge seiner Kriegsleistungen seinen bürgerlichen Pflichten entzieht, der schändet seinen Ruhm und entblättert seinen Lorbeerkranz. Für jeden Kriegsteilnehmer ist Ar-
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Bernhard Schiller, Die Verwendung von kriegsverletzten Arbeitern in industriellen Betrieben, in: Mitteilungen des Vereins Die Technik für die Kriegsinvaliden 11 (1918), 648-675, hier: 650. Adolf Sellmann, Das Seelenleben unserer Kriegsbeschädigten, Witten 1916, 36. Vgl. dazu Kriegsbeschädigten-Fürsorge in Niedersachsen 7, 17. 12. 1917, 50f; sowie Sellmann, Seelenleben, 27-37, der verschiedene Typen der Arbeitsscheu bei Kriegsbeschädigten und deren .Heilung' beschrieb. Vgl. dazu Karl Gotter, Fürsorge für Kriegsbeschädigte, Berufsberatung, Ausbildung und Stellenvermittlung, Leipzig 1915, 6. Vgl. dazu Michael von Faulhaber, Das Hohe Lied der Kriegsfürsorge, Berlin 1916,19. Martin Ulbrich, Wie versorgen wir unsere Kriegsverstümmelten? In: Der Reichsbote 94, 20. 02. 1915, BuArch R 8034 11-2321.
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beit zunächst eine wichtige Arznei. Wer sie trotz günstiger Voraussetzungen ablehnt, begeht ein schweres Unrecht am Vaterlande."24
Darüber hinaus schürten die Behördenvertreter ebenso wie Mediziner und Neurologen durch typisierende Zuschreibungen und moralisierende Denunziationen schon früh das grundsätzliche Misstrauen der Bevölkerung gegen Kriegsbeschädigte, denen pauschal Schwindel und betrügerische Absichten unterstellt wurden. Die Publikationen der Kriegsbeschädigtenfürsorge warnten ebenso wie die Polizeiberichte in den Tageszeitungen das zivile Publikum bereits ab Januar 1915 systematisch davor, dem Aussehen und den Geschichten jener Vielzahl von amputierten, blinden und zitternden Männern Glauben zu schenken, die in grauer Felduniform und geschmückt mit dem Eisernen Kreuz auf den Straßen bettelten. So beurteilte der Tübinger Psychiater Robert Gaupp in einem Vortrag 1917 die Gruppe der ,Kriegshysteriker' als „Männer, die moralisch weniger auf festen Füßen stehen" und die sich eben aufgrund ihrer moralischen Unzuverlässigkeit dazu verleiten ließen, „aus ihrer schauerlich aussehenden Krankheit Kapital zu schlagen, zu betteln und unberechtigte Versorgungsansprüche zu stellen." 25 Als Konsequenz daraus forderten einzelne Experten wie der Theologe Adolf Sellmann bereits 1916, dass der Staat nicht nur wie in den Lazarett-Werkstätten mit militärischem Drill, sondern notfalls auch mit Arbeits- und Zwangserziehungsmaßnahmen gegen Kriegsinvaliden vorgehen sollte. 26 Diese symbolische Entwertung und praktische gesellschaftliche Ausgrenzung als „lästiger Krüppel" richtete sich nicht nur als allgemeiner Diskurs gegen eine imaginierte Gruppe von Kriegsinvaliden, sondern hatte ganz konkrete Auswirkungen auf den Alltag vieler Kriegsversehrter. Bereits während des Krieges skandalisierten sie in Zeitungsgeschichten und Leserbriefen ihre Erfahrungen der Missachtung als eine gezielte Form der Entwertung ihrer Kriegserfahrungen. Nach dem Krieg sahen sich die Invaliden dem kollektiven Vergessen und zugleich der Erfahrung des .sozialen Todes' preisgegeben. 27 Damit verlängerte sich ihre Selbstwahrnehmung als „Kriegsopfer" in den zivilen Nachkriegsalltag hinein und bestimmte letztlich wohl auch ihre ablehnende Haltung gegenüber der Weimarer Gesellschaft.
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Hermann Müßle, Wie sorgt das Vaterland für seine kriegsbeschädigten Heldensöhne? 2. Aufl., Karlsruhe 1917, 37. Vgl. dazu Robert Gaupp, Die Nervenkranken des Krieges, ihre Beurteilung und Behandlung, Ein Wort zur Aufklärung und Mahnung an weite Kreise unseres Volkes, Vortrag vom April 1917, o. O. 1917, 11. Sellmann, Seelenleben. Vgl. dazu Sabine Kienitz, Beschädigte Helden, Zur Politisierung des kriegsinvaliden Soldatenkörpers in der Weimarer Republik, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden, Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, 199-214.
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3. Zum historischen Vergleich: Das Bild des Leierkastenmannes nach 1870/71 Während der synchrone Vergleich mit Frankreich scheinbar eindeutig den Zusammenhang zwischen der militärischen Niederlage und der Abwertung des deutschen Kriegsinvaliden als Überbleibsel des verlorenen Krieges zu belegen scheint, zeigt gerade der diachrone Vergleich, dass historische Symbolisierungsprozesse nicht nach einem logischen Schema ablaufen. Die Ableitung, dass ein militärischer Sieg den überlebenden Kriegsopfern innerhalb der eigenen Nation automatisch Anerkennung garantieren und eine Niederlage folglich deren Entwertung nach sich ziehen müsse, ist auch aus dieser Perspektive nicht haltbar. So waren die deutschen Kriegsinvaliden des siegreich verlaufenen Deutsch-französischen Krieges von 1870/71 nicht nur sozial, sondern vor allem in ihrer symbolischen Bedeutung noch weitaus schlechter gestellt als die invali28
den Veteranen des Krieges von 1914/18. Der Sieg über Frankreich und der erfolgreiche Aufbau einer deutschen Nation trugen auch nachträglich nicht zu einer Aussöhnung mit den Kriegsbeschädigten bei. Im Gegenteil: Der stelzbeinige Leierkastenmann als Überbleibsel der Einigungskriege wurde schon ab 1879/80 als negatives Schreckbild konstruiert. So bestritt der Staats-Socialist in einem Artikel vom November 1879, dass das Drehorgelspiel des Kriegsinvaliden „ein ehrlicher Erwerb genannt werden" dürfte, und bezichtigte das „privilegirte, aller Aestetik [sie!] hohnsprechende Musikanten-Proletariat", diese „Kolporteure der schlechtesten Lieder in Ton und Wort" der gewerbsmäßigen Bettelexistenz. Auch seien die kriegsinvaliden Leierkastenmänner „unserem Volksleben nachgerade so gefährlich geworden, daß wir uns verpflichtet fühlen, sie der Aufmerksamkeit der polizeilichen Organe des ganzen Landes auf's Dringendste zu empfehlen, mit der Bitte, dies Unwesen thunlichst einzuschränken. Denn unser Volk kann von dergleichen Gift wirklich nicht mehr viel vertragen, wenn es nicht bald ganz sittlich bankerott werden soll." 29
Die Figur des Kriegsinvaliden nach 1870/71 wurde von den Zeitgenossen nicht als ein Symbol des Sieges „gelesen", sondern verkörperte eine moralische Niederlage der Kriegsbeschädigtenfürsorge und wurde von daher als eine Bedrohung für die Nachkriegsgesellschaft kriminalisiert und ausgegrenzt. Nach 1914 finden sich in der Publizistik der Kriegsbeschädigtenfürsorge, aber auch in den Tageszeitungen immer wieder warnende Hinweise darauf, dass die deutsche Gesellschaft ähnliche Auftritte der Weltkriegsinvaliden nicht dulden würde. So formulierte der Orthopäde und Leiter des Berli28
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Vgl. dazu Jakob Vogel, Der Undank der Nation, Die Veteranen der Einigungskriege und die Debatte um ihren „Ehrensold" im Kaiserreich, in: Karen Hagemann (Hg.), Nach-Kriegs-Helden, Kulturelle und politische DeMobilmachung in deutschen Nachkriegsgeschichten (MGZ 60, Heft 2), München 2001, 343-366. Philodemos, Sind die Drehorgelspieler und Bänkelsänger Gewerbtreibende oder Proletarier? In: Der Staats-Socialist 11, 1879. Zitiert nach GStA PK, HAI Rep. 77, Tit. 306a, Nr. 7, Bd. 2, Bl. 76.
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ner Oskar-Helene-Heims für verkrüppelte Kinder, Konrad Biesalski, schon 1915 in seiner Schrift Kriegskrüppelfiirsorge, ein Aufklärungswort zum Tröste und zur Mahnung das allgemein gültige Gebot: „Niemals wieder darf das unwürdige Bild des kriegsinvaliden Leierkastenmannes oder Hausierers auf unseren Straßen erscheinen!" 30 Ungeachtet der einzelnen Mahnungen, dass die Gesellschaft bei ihren Bemühungen um Disziplinierung und Integration der Kriegsinvaliden versagt hatte, wurde die Schuld an dem kollektiven Unbehagen generell den Kriegsbeschädigten selbst und ihrem Fehlverhalten zugeschrieben, weshalb alle Bemühungen darauf ausgerichtet waren, diese Männer zu diskreditieren und sie aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Im Rückgriff auf die Fehler der Vergangenheit identifizierte sich Hans Würtz, Mitarbeiter im Berliner Oskar-Helene-Heim und selbsternannter „Krüppelpädagoge", mit den nationalen Belangen und verlieh dem Kollektiv-Subjekt „Vaterland" in der Schrift Unsern Kriegsbeschädigten die eigene Stimme. Die Botschaft war im patriarchalen „Du" direkt an die Kriegsinvaliden des Ersten Weltkrieges gerichtet und eindeutig formuliert: „Deutschland will nicht wieder bettelnde Kriegsbeschädigte in den Gassen der Städte und auf den Landstraßen sehen! Es schätzt die Fähigkeiten und Kenntnisse, die du dir in deinem Beruf erworben, und es hat Ehrfurcht vor dem Helden in dir. Darum muß jetzt dein guter Wille zur Arbeit siegen!"31
Als positives Vorbild und .idealen' Invaliden wählten die Deutungseliten dagegen die Figur des Ritters Götz von Berlichingen „mit der eisernen Faust", der als Kriegsheld und als „Erfinder" seiner eigenen Armprothese öffentliche Anerkennung fand und sich von daher sehr viel stärker zur Überhöhung als „der Schutzheilige der deutschen 32 Kriegsbeschädigten" eignete.
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Konrad Biesalski, Kriegskrüppelfürsorge, ein Aufklärungswort zum Tröste und zur Mahnung, Leipzig u. a. 1915, 20. Hans Würtz, Dein Wille! In: Unsern Kriegsbeschädigten, Potsdam o. J., 7. Eberhard von Künßberg, Einarmfürsorge, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 10 (1917), 164-169, hier: 166; sowie Hans Würtz, Götz von Berlichingen und Wir! Ein Wort an die Wetterfesten im Waffenrock, in: Wegweiser für das werktätige Volk, Nr. 4, 1916, 49-68. BayHStA Stv. GenKdo II. A.K. Bd. 11. Vgl. dazu auch Sabine Kienitz, Der Krieg der Invaliden, Helden-Bilder und Männlichkeitskonstruktionen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Hagemann (Hg.), Nach-Kriegs-Helden, 367-402, hier: 387-391.
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4. (Um-)Deutungen: Der Kriegsinvalide als offenes Symbol Plausibler als die scheinbar eindeutige Emblematik der Niederlage scheint der Ansatz zu sein, dass der Kriegsinvalide als ein offenes Symbol zu begreifen ist, das je nach gesellschaftlichem Kontext für ganz unterschiedliche Interessen besetzt bzw. funktionalisiert werden konnte. Sowohl die Kriegs- als auch die Nachkriegsgesellschaft nutzte daher die Chance, sich über das Bild und die (Um-) Deutung des Kriegsinvaliden über sehr unterschiedliche Probleme zu verständigen und, so die Gegenthese, gerade über die Technisierung des Kriegsbeschädigten ein positives Selbstbild nach dem Ende des Krieges zu schaffen. So finden sich im Kontext des historischen Kriegsverlaufs viele Beispiele dafür, wie der kriegsbeschädigte Soldat noch zu Beginn des Krieges gezielt als Symbol für Männlichkeit und Heldentum und damit als Vorbild sowohl für den aktiven Soldaten als auch für die steigende Zahl von Kriegsbeschädigten inszeniert wurde. Herausragend ist hier die Figur des kriegsbeschädigten Leutnants Brunck, der 1915 aufgrund der ausführlichen Berichterstattung in Wort und Bild zu einem Beweis medizinischer und technischer Höchstleistungen und dabei auch zu einer Art „Medienstar" avancierte. Brunck war bereits im September 1914 an der französischen Front durch Granatbeschuss am linken Knie so schwer verletzt worden, dass das Bein bis zum Oberschenkel amputiert werden musste. Von dem Königsberger Chirurgen Heinrich Hoeftmann mit einer technisch perfekten Prothese ausgestattet, habe er sich, so die Presseberichte, bereits im Dezember 1914 zum Dienst an die Front zurückgemeldet. Illustriert wurden die Darstellungen dieses doppelten Heldentums mit einer ganzen Reihe von zum Teil großformatigen Fotografien, die den Leutnant in Uniform beim Aufsteigen aufs Pferd und damit, so suggerierten die Bilder, auf dem Weg ins Feld zeigten und die die Kriegstauglichkeit des Offiziers belegen sollten. 33 Zugleich diente der Kriegsbeschädigte den deutschen Experten der Kriegskrüppelund Invalidenfürsorge als Beleg für das Weiterleben und die weitgreifende historische 33
Vgl. dazu u. a. „Ein dienstfähiger Hauptmann mit künstlichem Bein", in: Vorwärts 09. 0 6 . 1 9 1 5 . Illustrierte Texte siehe Biesalski, Kriegskrüppelfürsorge, 23; Brettner, Es gibt keine Krüppel mehr! In: Die Gartenlaube 1915, 591. Hans Würtz, Der Wille siegt, Ein pädagogisch-kultureller Beitrag zur Kriegskrüppelfürsorge, Berlin 1915, lOf; Felix Krais (Hg.), Die Verwendungsmöglichkeiten der Kriegsbeschädigten in der Industrie, in Gewerbe, Handel, Handwerk, Stuttgart 1916, 43; Adam, Fürsorge für Kriegsbeschädigte, in: Reclams Universum Heft 39, 01. 07. 1915, 783-787, hier: 786; Brekenfeld, Ein Beitrag zur Mechanik der Beinprothese, in: Archiv für Orthopädie, Mechanotherapie und Unfallchirurgie 14 (1916), 85-94; Heinrich Hoeftmann, Behelfsprothesen, in: Zeitschrift für orthopädische Chirurgie 16 (1917), 596ff. Mehr Medien-Aufmerksamkeit erreichte nur noch der arm- und beinlose Drechslermeister, ein Zivilinvalide, der ebenfalls von Hoeftmann mit Prothesen ausgestattet worden war und dessen Leistungsfähigkeit im Arbeitsalltag demonstriert wurde. Vgl. dazu u. a. Konrad Biesalski, Kriegskrüppelfürsorge, 28-30.
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Bedeutung eigener, häufig als spezifisch preußisch definierter Traditionen. In der Historisierung der Invalidenfürsorge fanden die Verdienste Friedrichs des Großen besondere Würdigung, der als ein früher Mentor und damit quasi als ,Vater' der Kriegsinvalidenversorgung in Deutschland gefeiert wurde, da er mit der Gründung von Invalidenheimen zum Beispiel in Berlin und der Einführung eines Ehrensoldes schon frühzeitig die Verantwortung für „seine" kriegsinvaliden Männer übernommen hatte. 34 In der Abgrenzung gegen das Versagen der Ärzte und Behörden nach 1870/71 galt der moderne Kriegsinvalide zugleich als sichtbarer Beweis für den sozialen Fortschritt und das Verantwortungsbewusstsein des deutschen Staates im 20. Jahrhundert. Der moderne, durch die Ausstattung mit Prothesen als leistungsfähig dargestellte „Kriegskrüppel" stand zugleich für die Durchsetzung der neuen Idee, dass ein kriegsinvalider Soldat durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen „vom Krüppel zum Steuerzahler" und damit zu einem unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten „nützlichen Mitglied der Gesellschaft" gemacht werden konnte. Als positiv beurteilten die Experten dabei zugleich die Tatsache, dass der Invalide auch als Mann seiner gesellschaftlichen Aufgabe als Ernährer der Familie wieder nachkommen konnte. Die kriegsbedingten Verzerrungen der traditionellen Geschlechterordnung, so die Hoffnung konservativer Kritiker weiblicher Emanzipationsbestrebungen, sollten damit ein Ende haben. Der Deutungswandel des Kriegsinvaliden vom Versorgungsberechtigten hin zum Staatsbürger mit der Pflicht zu Arbeit und Selbstertüchtigung wurde schon während des Krieges an den Kriegsbeschädigten durchexerziert und diente dabei vor allem dem Ziel, die sozialen Unterstützungssysteme zu entlasten. Parallel dazu fungierte die Figur des Kriegsinvaliden und das Bild des verstümmelten, prothesenbewehrten Körpers für die Zeitgenossen vor allem aus dem linken politischen Lager als Symbol für das Grauen und die Zerstörungskraft des modernen Krieges, aber auch für die Kälte und Oberflächlichkeit der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, die ihre Kriegsopfer dem Vergessen preisgab. Zeitgenossen wie Joseph Roth sahen in den zerstörten Physiognomien und den zerfleischten Gesichtern die „Fratze des Großen Krieges" und überhöhten sie zugleich als „Denkmäler des Schreckens". Erich Kuttner, Redakteur des sozialdemokratischen Vorwärts und Vorsitzender des Reichsbundes für Kriegsbeschädigte und Kriegerhinterbliebene, plädierte z. B. dafür, die Gipsabdrücke der Kieferverletzten „in der Siegesallee vor der ruhmredigen Ahnengalerie Wilhelms" aufzustellen: „Man sollte sie der Jugend zeigen, damit sie lernt und erfährt was Krieg ist." 35 Den politisch rechtsgerichteten Zeitgenossen warf man dagegen vor, sie würden in ihrem aggressiven Revanchismus die Kriegsopfer vergessen, und dies sei eine „unauslöschliche Schmach für unser deutsches Volk, ein Schandmal, das nie vergehen würde." Während Kuttner nach einem Besuch in den Berliner Lazaretten 1920 in drasti34
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Vgl. dazu u. a. Wilhelm Haberling, Entwicklung der Kriegsbeschädigtenfürsorge von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Berlin 1918. Erich Kuttner, Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten, in: Vorwärts, Nr. 449, 09. 09. 1920.
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sehen Worten das Elend und die Menschenunähnlichkeit der Versehrten beschrieb, setzte Ernst Friedrich in seinem pazifistischen Büchlein Krieg dem Kriege! von 1924 die Fotografien von Kriegsbeschädigten als ein zentrales Mahnmal in seiner Anklage gegen die entfesselte Kriegsgewalt und nationale Allmachtsphantasien ein. Aus dieser Perspektive repräsentierten „Erinnern" und „Vergessen" demnach unterschiedliche politische Lager, die sich jeweils über die Wahrnehmung und den Umgang mit den Kriegsopfern abzubilden schienen. Und noch eine letzte Facette in der Vielzahl von zum Teil auch konkurrierenden Deutungen der Figur des Kriegsinvaliden muss hier genannt werden: Schon während des Krieges, aber gerade auch nach der militärischen Niederlage galt der deutsche Kriegsinvalide als das sichtbare Zeichen für die Überlegenheit deutscher Ingenieursarbeit und für das hohe Innovationspotential deutscher Technik. Die Prothetik als ein politisch relativ unverdächtiger Arbeitsbereich eignete sich damit zugleich als symbolisches Terrain, auf dem der verlorene Krieg auch nach 1918 noch einmal neu ausgetragen werden konnte und auf dem sich die Deutschen nun als technisch überlegen und damit in ihren Augen als .siegreich' erweisen sollten. Insofern war gerade der durch Prothesen gestützte, technisierte Kriegsbeschädigte weniger ein Emblem der Niederlage als ein wichtiges Symbol für den nationalen Wiederaufbau und die triumphale Überwindung der kriegsbedingten materiellen Zerstörungen.
5. Fazit Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und die deutsche Niederlage mündeten nicht in ein homogenes, eindimensionales bzw. symbolisch als eindeutig festgeschriebenes Invalidenbild, das die These vom Kriegsbeschädigten als Emblem der deutschen Niederlage rechtfertigen würde. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass es sehr unterschiedliche Lesarten des kriegsbeschädigten Körpers gab, die je nach Kontext differieren konnten und dabei auch durchaus in Konkurrenz miteinander standen. Die Figur des Kriegsinvaliden fungierte daher in sehr viel stärkerem Maß als ein offenes Symbol, das unterschiedlichen Interessengruppen als Medium der Deutung wie auch der Sinnstiftung zur Verfügung stand bzw. als solches genutzt wurde. Inwieweit das Körperbild des Invaliden quasi die direkte Vorlage für eine Deutung der nationalen Situation lieferte bzw. wie stark die Wahrnehmung der Kriegsbeschädigten nun auch die Vorstellung von einem .verkrüppelten politischen Körper' nach dem Krieg bedingte, muss daher eher in Zweifel gezogen werden. Sinnvoller als die theorieabgeleitete Konstruktion solcher sprachlichen Deutungsparallelen, die auf einer relativ dünnen Quellengrundlage aufbauen und möglicherweise ein .Oberflächenphänomen' im Sinne des Wortes darstellen, ist es dagegen, die zeitgenössischen Repräsentationen und „Bilder" in ihrem jeweiligen Quellenkontext zu interpretieren und dabei den konkreten Zusammenhang zwischen „Sinnstiftungsunternehmern" und den jeweiligen symbolisierenden
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Sabine Kienitz
Zuschreibungen zu suchen. Die wichtigere Frage jedoch, inwieweit der eigene Körper für die überlebenden Kriegsinvaliden nicht nur Symbol einer militärischen, sondern vor allem Sinnbild einer persönlichen Niederlage war, oder ob sie sich nicht allen persönlichen Verlusten zum Trotz doch auch als moralische Sieger eines verlorenen Krieges fühlten, - diese Frage läßt sich mit der vordergründigen Metaphorik des „Volkskörpers" nicht beantworten.
V. Mediale Bearbeitungen
GABRIELE HAUG-MORITZ
Zur Konstruktion von Kriegsniederlagen in den frühneuzeitlichen Massenmedien - das Beispiel des Schmalkaldischen Krieges
1. Einleitung Der Prozess der Niederlage der im Schmalkaldischen Bund verbündeten evangelischen Obrigkeiten gegen Kaiser Karl V. erstreckte sich über einen Zeitraum von fünf Jahren (Dezember 1546 bis November 1551).1 Der von Karl V. als Achtexekutionskrieg gegen den Kurfürsten von Sachsen und Landgrafen von Hessen geführte Krieg, der im Juni 1546 begann, verlief, nachdem sich die schmalkaldischen Bündner entschieden hatten, die beiden Bundeshauptleute militärisch zu unterstützen, aus strukturellen Gründen bis in den Herbst des Jahres 1546 zugunsten der Schmalkaldener. 2 Die den Krieg von Anbeginn begleitenden, sich seit Oktober 1546 intensivierenden Vermittlungsbemühungen (Kurfürsten von Brandenburg und der Pfalz, Herzöge von Bayern und Jülich-Kleve-Berg) zeitigten bis in den Juni 1547 keinen Erfolg. 3 Der entscheidende Wendepunkt des Krieges datiert auf Oktober/November 1546 (Beginn des sogenannten Sächsischen Krieges). Seit diesem Zeitpunkt sahen sich die schmalkaldischen Bündner durch das Eingreifen des mit Karl V. verbündeten Herzogs Moritz von Sachsen gezwungen, einen Zweifrontenkrieg zu führen - in Süddeutschland gegen den Kaiser, in Mittel- und Norddeutschland gegen die Truppen Moritz' und die1
Einen knappen Überblick (mit der älteren Literatur) zum Schmalkaldischen Krieg bieten Georg Schmidt/Siegrid Westphal, Schmalkaldischer Krieg (1546-1547), in: TRE 30, Berlin/New York 1999, 228-231.
2
Zu der seit 1535/37 kontinuierlich ausgebauten militärischen Infrastruktur des Schmalkaldischen Bundes vgl. Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (1530-1541/42), Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002, 389-503.
3
Vgl. Albrecht Pius Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede, Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530-1552, Göttingen 1982, 353-424; Sigmund Riezler, Die bayerische Politik im schmalkaldischen Kriege, in: Abhandlungen der Historischen Classe der königlich-bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 21, München 1898, 133-244, hier: 222224.
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Gabriele Haug-Moritz
jenigen des böhmischen und römischen Königs Ferdinand, dem Bruder Kaiser Karls V. Die Erschöpfung ihrer finanziellen Ressourcen, nicht eine militärische Niederlage gegen den Kaiser führte Ende November 1546 zum Rückzug vom süddeutschen Kriegsschauplatz (Abzug der Schmalkaldener von Giengen an der Brenz; Ende des sogenannten Donaufeldzuges). In der Folge kapitulierten - mit Ausnahme der Stadt Konstanz - zwischen Mitte Dezember 1546 und Ende März 1547 sämtliche süddeutsche Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes und ergaben sich dem Kaiser auf „Gnade und Ungnade", das heißt bedingungslos. Die Unterwerfung der süddeutschen schmalkaldischen Bundesmitglieder ging einher mit militärischen Erfolgen Kurfürst Johann Friedrichs in Mitteldeutschland: Bereits zur Jahreswende 1546/47 vermochte er die von herzoglich-sächsischen und böhmischen Truppen besetzten Teile seines Landes zurückzugewinnen. Im Laufe des Monats März 1547 gelang es ihm seinerseits, große Teile der Lande seines herzoglichen Vetters zu erobern. Von seinem hessischen Bündnispartner, der nach dem Abzug von Süddeutschland zu keinerlei militärischen Aktionen mehr in der Lage war, wurde ihm keine Hilfe zuteil. Die erfolgreiche Kriegführung des sächsischen Kurfürsten veranlasste den noch in Süddeutschland weilenden Karl V. zum militärischen Eingreifen in Mitteldeutschland. Am 13. April 1547 begann er, gemeinsam mit den Truppen Ferdinands und Moritz', den Vormarsch auf das Kurfürstentum. Nur elf Tage später, am 24. April 1547, unterlag der Kurfürst in der sog. Schlacht bei Mühlberg, die faktisch eher ein gescheiterter Fluchtversuch des Kurfürsten und seiner Truppen gewesen war, und wurde vom Kaiser, an der Wange leicht verletzt, gefangen genommen. 4 Bemühungen des ältesten Sohnes des Kurfürsten, Johann Friedrichs des Mittleren, von Gotha aus, Truppen zu sammeln, um das von Karl V. und seinen Verbündeten belagerte Wittenberg zu entsetzen (8. Mai 1547 Landtag in Gotha), scheiterten. Am 10. Mai 1547 verkündete Karl V. Kurfürst Johann Friedrich für das Vergehen des „crimen laesae maiestatis" die Todesstrafe. Mit der unter Vermittlung Kurfürst Joachims II. zustande gekommenen Wittenberger Kapitulation (19. Mai 1547), durch die die ernestinische Dynastie große Gebietsteile und die Kurwürde verlor, wurde die Todes- in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Die im Gefolge der Kapitulation vorgenommene Übergabe Wittenbergs (23. Mai 1547) besiegelte die Niederlage des Kurfürsten endgültig. Herzog (seit Februar 1548 förmlich investierter Kurfürst) Moritz von Sachsen war der politische Nutznießer der Niederlage seines Vetters.
4
Zur Mühlberger Schlacht vgl. die jüngst anlässlich ihrer 450. Wiederkehr erschienen Beiträge von Wieland Held, 1547 - Die Schlacht bei Mühlberg/Elbe, Entscheidung auf dem Wege zum albertinischen Kurfürstentum, Beucha 1997 sowie die Beiträge in ARG 89 (1998) von Heinz Schilling (Veni, vidi, deus v i x i t - Karl V. zwischen Religionskrieg und Religionsfrieden, 144-166), Günther Wartenberg (Die Schlacht bei Mühlberg in der Reichsgeschichte als Auseinandersetzung zwischen protestantischen Fürsten und Kaiser Karl V., 167-177) und Günter Vogler (Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Herzog Moritz von Sachsen: Polemik in Liedern und Flugschriften während des Schmalkaldischen Krieges 1546/47, 178-206).
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Die Entwicklung in Sachsen und die intensiven Vermittlungsbemühungen Herzog/Kurfürst Moritz' und Kurfürst Joachims II. von Brandenburg führten, obwohl die norddeutschen Truppen der Schmalkaldener im Mai 1547 vor Bremen (Schlacht bei Drakenburg) siegten, am 19. Juni 1547 in Halle an der Saale zur „deditio" Landgraf Philipps vor dem dort weilenden Karl V. und - gleich seinem schmalkaldischen Mithauptmann - zu dessen Gefangenschaft, die, wie auch im Falle des Kurfürsten, bis ins Jahr 1552 währte. Im Juni 1547 war damit das ursprüngliche Kriegsziel erreicht: Die beiden in der Achterklärung der Majestätsbeleidigung geziehenen Fürsten befanden sich in kaiserlichem Gewahrsam. Bis auf die Reichsstadt Konstanz in Süddeutschland (militärische Unterwerfung am 14. Oktober 1548) und die Freien Städte Bremen und Magdeburg hatten alle ehemaligen Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes kapituliert. Um den militärischen Sieg in politisches Kapital umzumünzen, eröffnete Kaiser Karl V. am 1. September 1547 in Augsburg einen Reichstag, der aufgrund der großen kaiserlichen Truppenpräsenz „geharnischter Reichstag" genannt wurde und wird (Abschied: 30. Juni 1548). Doch weder seinen Plänen, die Verfassungsordnung des Reiches umzugestalten (sog. Kaiserliche Bundespläne) noch seinen Bemühungen, den religiöskonfessionellen Gegensatz im Reich durch eine „Zwischenreligion" (Interim) a b zugleichen, deren Gültigkeit sich bis zum Abschluss des Konzils erstrecken sollte, war Erfolg beschieden. 5 Ein Grund, wenn auch sicherlich nicht der gewichtigste, für das Scheitern der religiösen Ausgleichsbemühungen des Kaisers war die von Magdeburg ausgehende heftige publizistische Opposition gegen das Interim (sog. Magdeburger Herrgottskanzlei). Nicht zuletzt die publizistische Initiative der Magdeburger dürfte es gewesen sein, die Karl V. im Falle Magdeburgs, im Gegensatz zu seinem Umgang mit dem ebenfalls noch nicht befriedeten Bremen, veranlasste, auf dem Augsburger Reichstag der Jahre 1550/51 die militärische Exekution gegen Magdeburg zu betreiben. Mit dem vom Reichstag beschlossenen militärischen Vorgehen gegen die Stadt Magdeburg wurde Kurfürst Moritz von Sachsen beauftragt. 6 Als am 9. November 1551 Magdeburg die Stadtschlüssel an Kurfürst Moritz übergab, war das letzte Mitglied des ehemaligen Schmalkaldischen Bundes unterworfen. Kurfürst Moritz aber, auch veranlasst durch die kaiserliche Politik gegenüber den unterworfenen Schmalkaldenern, schickte sich bereits an, den nächsten Krieg gegen den Kaiser vom Zaun zu brechen (sog. Fürstenaufstand). Der Schmalkaldische Krieg (1546/47) war die erste neuzeitliche militärische Auseinandersetzung im Reich, die nicht nur mit den Waffen ausgefochten wurde, sondern die auch vom Bestreben der Kriegsparteien geprägt war, die öffentliche Wahrnehmung des kriegerischen Geschehens mittels der neuen Printmedien in breitem Umfang zu 5
6
Vgl. Horst Rabe, Reichsbund und Interim, Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547/48, Köln/Wien 1971; Volker Press, Die Bundespläne Kaiser Karls V. und die Reichsverfassung, in: ders., Das Alte Reich, Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1997, 67-127 [Erstveröffentlichung: 1982], Vgl. Luttenberger, Glaubenseinheit, 500f„ 553-555.
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beeinflussen. Auch wenn „Erfahrung nicht in Sprache und Kommunikation aufgeht" 7 und auch, wenn die durch die Printmedien vermittelten Sinnstiftungs- und Deutungsmuster in einer komplexen Wechselwirkung mit den erfahrungsgenerierenden „alten" Menschenmedien stehen, so sind es gerade die „neuen" Medien, die mit ihrer Möglichkeit, räumliche und zeitliche Distanz rasch zu überwinden und Informationen dauerhaft verfügbar zu halten, neue Erfahrungsmöglichkeiten schufen. Versteht man unter Erfahrung die „[objektive] Wirklichkeit wie [...] deren [subjektive] Erkenntnis" 8 , so formten die neuen Massenmedien 9 dieses Wechselverhältnis grundlegend um. Sie veränderten (zumindest potenziell) die soziale Reichweite des „kulturellen Langzeitgedächtnisses" 10 und sie waren aufgrund der ihnen zugedachten kommunikativen Funktion „genötigt", die „Wirklichkeit" in einer Art und Weise zu kommunizieren, die deren „Erkenntnis" erlaubte. Sie sind daher von dem Kommunikationsprozess vorausliegenden Wertvorstellungen, Uberzeugungen und Sinnzuschreibungen ebenso geprägt, wie sie auf diese Einfluss zu nehmen suchen. Und so irrig es wäre, die Erfahrung von „Kriegsniederlage" in deren medialer Aufarbeitung in den Printmedien aufgehen zu lassen, so unerlässlich ist deren Analyse, wenn es um die „Erfahrung und Erinnerung" von Kriegsniederlagen geht.
7
8
9
10
Hubert Knobloch, Kommentar, in: Paul Münch (Hg.), „Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001, 333-337, hier: 334. Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel, Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.), Theorie der Geschichte, Bd. 5: Historische Methode, München 1988, 13-61, hier: 15. Die Printmedien wie auch die im Folgenden behandelten numismatischen Zeugnisse erfüllen sämtliche Definitionsmerkmale von Massenmedien, nämlich: das Fehlen einer personell definierten Empfängerschaft, technische Verbreitung, ihre indirekte (räumliche und zeitliche Distanz) und einseitige (ohne direkte gegenseitige Bezugnahme von Sender und Empfänger) Kommunikation gegenüber einem dispersen Publikum (vgl. Hans-Dieter Kubier, Mediale Kommunikation, Tübingen 2000). Zum Begriff Aleida Assmann/Jan Assmann, Das Gestern im Heute, Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten u. a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien, Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, 114-140.
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2. Die Niederlage der Schmalkaldener in den zeitgenössischen Medien 2.1 Die Quellen 11 Die Niederlage der Schmalkaldener war ein Geschehen, das in den ausgehenden 1540er Jahren und in der ersten Hälfte der 1550er Jahre in der ganzen lateinischen Christenheit medialen Widerhall fand.12 Im Vordergrund der folgenden Analyse aber stehen die im deutschen Sprachraum erschienen typographischen wie bildlichen Medien, welche die militärische Niederlage als aktuelles tagespolitisches Geschehen aufarbeiteten, d. h. in den Jahren 1547 bis 1552 erschienen sind. Außer Betracht bleibt die mediale, insbesondere publizistische Auseinandersetzung um das Interim. Wiewohl das Interim für die Wirkmächtigkeit der von den Protestanten unterbreiteten medialen Deutung der Niederlage von zentraler Bedeutung war, handelt es sich hier, wie allein schon der quantitative Umfang belegt, um einen zwar durch die Niederlage evozierten, ansonsten aber eigenständigen Diskussionsstrang.13 Unter diesen Prämissen stellt sich die Quellenlage wie folgt dar: Über die Niederlage der Schmalkaldener wurden insgesamt 34 verschiedene Texte publiziert.14 Sie liegen in 82 verschiedenen Ausgaben vor, d. h. durchschnittlich wurde jeder Text wenigstens einmal nachgedruckt. 33 dieser Texte wurden als Flugschriften publiziert, lediglich der .Kommentar' Luis d' Avilas (1552) besitzt den Charakter eines Buches. Eine Flugschrift ist eine sich mit aktuellen Problemen auseinandersetzende „aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, [...] nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d. h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d. h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet."15 Der Druck 11
Um den Anmerkungsapparat zu entlasten, werden im Folgenden die Quellen mit Kurztitel zitiert. Die genauen bibliographischen Angaben finden sich im Anhang. Zitate werden mit Seitenzahlen nur dann nachgewiesen, wenn moderne Editionen vorliegen, da die Vielzahl der zeitgenössischen Ausgaben und die unzuverlässige Paginierung der frühneuzeitlichen Nachdrucke der Publizistik Seitennachweise zum rascheren Auffinden des Zitates weitgehend wertlos machen.
12
Georg Voigt, Die Geschichtsschreibung über den Schmalkaldischen Krieg, Leipzig 1874 (Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 6). Alfred Katterfeld, Beiträge zur Geschichtsschreibung des Schmalkaldischen Krieges, in: FDG 21 (1881), 359-380. Die im Erscheinen begriffene Monographie zur Publizistik der Magdeburger Herrgottskanzlei von Thomas Kaufmann (Das Ende der Reformation, Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei" 1548-1551/52, voraussichtlich Herbst 2003) wird dies eindrücklich veranschaulichen. Vgl. hierzu und zum Folgenden die im Anhang gegebenen Nachweise. Hans-Joachim Köhler, Die Flugschriften, Versuch der Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Horst Rabe/Hans-Georg Molitor (Hg.), Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag,
13
14 15
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Gabriele Haug-Moritz
der Schriften gehorchte den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Flugschriften waren demzufolge billig und für die aktuelle Rezeption, nicht für die der nachfolgenden Generationen gedacht. Setzt man eine durchschnittliche Auflagenhöhe von 1 000 Exemplaren an, so dürften ca. 82 000 dieser Schriften gedruckt worden sein - eine im Vergleich zum Flugschriftenaufkommen während des Krieges niedrige Zahl (Juni 1546 bis Juni 1547 - niedrig angesetzt - ca. 300 000 Exemplare). 16 Fünf Texte sind in Latein verfasst, von denen zwei wiederum ins Deutsche übersetzt wurden. Von den 29 deutschen Texten sind die beiden, die sich mit der Schlacht bei Bremen befassen, in Niederdeutsch überliefert. Die Verfasserfrage ist für die anonym publizierten Texte nur schwer zu klären. Die von kaiserlicher Seite publizierten „Akten" und die namentlich bekannten Verfasser (Mameranus, Avila) 17 deuten auf eine große „Herrschaftsnähe" der Produzenten hin. Ein Sachverhalt, der auch für diejenigen gilt, die für die schmalkaldische Kriegspartei die Feder ergriffen: Es sind fürstliche Diener der in den Schmalkaldischen Krieg involvierten Obrigkeiten (Watzdorf) 18 und Theologen des Kurfürsten von Sachsen (Caspar Aquila, Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon, Johannes Pollicarius). Der Name Hans Baumann steht für solche Autoren, die selbst dem neu entstandenen Buchmarkt angehörten - Baumann war Buchdruckergeselle. 19 Ordnet man die Schriften der kaiserlichen oder schmalkaldischen Kriegspartei zu, indem man ihre Bewertungen bzw. die Auswahl der Inhalte, die kommuniziert werden, zum Maßstab macht, so sind 19 Schriften (in 51 Ausgaben) der kaiserlichen, 15 (in 31 Ausgaben) Schriften der schmalkaldischen Seite zuzuordnen. Im Vergleich mit der publizistischen Begleitung des Geschehens während des Krieges (3A „schmalkaldische" zu lA „kaiserliche" Drucke) hat sich das Verhältnis von kaiserlichen zu schmalkaldischen Drucken beinahe umgekehrt. Augsburg, Ingolstadt und München sind die wichMünster 1976, 36-61, hier: 50 und die Köhlersche Definition modifizierend, aber nicht grundsätzlich revidierend Johannes Schwitalla, Flugschrift, Tübingen 1999, 4-7 und Ulrich Rosseaux, Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (1620-1626), Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Berlin 2001, 74-79. 16
Eine weitgehend vollständige Zusammenstellung bei Oskar Waldeck, Die Publizistik des Schmalkaldischen Krieges, in: ARG 7 (1909/10), 1-55 und 8 (1910/11), 44-133; präzisierende Angaben demnächst bei Gabriele Haug-Moritz, „Geschwinde Welt", Studien zur medialen Aufarbeitung der Kriege im Reich der Reformationszeit (1542-1554) und zu zwei Teilaspekten jüngst Wolfgang Flügel, Bildpropaganda zum Ubergang der sächsischen Kurwürde von den Ernestinern auf die Albertiner, in: N A S G 67 (1996), 71-96; Vogler, Polemik; ders., Hans Sachs und die Schlacht bei Mühlberg 1547. Ein Lied, seine Quelle und seine Tendenz, in: Ulman Weiß (Hg.), Flugschriften der Reformationszeit, Colloquium im Erfurter Augustinerkloster 1999, Tübingen 2001, 215-231.
17
Zu deren Vita vgl. Voigt, Geschichtsschreibung, 574-585, 629-648; Katterfeld, Beiträge, 360-364, 372-380.
18
Zu Watzdorf vgl. Rochus von Liliencron, Die Historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Bd. 4, Leipzig 1869, 292, 324/Anm. 1. Ebd., 353/Anm. 1.
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tigsten Druckorte pro-kaiserlicher, Erfurt und Magdeburg pro-schmalkaldischer Schriften. Rasch verliert die Niederlage der Protestanten ihren „Marktwert": Nach einer Spitze im Jahr 1547 wird 1548 zur Niederlage noch sporadisch publiziert, danach erlischt offenkundig das Interesse weitgehend. Die Diskussion um das Interim wird zum beherrschenden Thema, ohne dass an den Zusammenhang mit der Niederlage der Schmalkaldener angeknüpft würde. Die Unterwerfung Magdeburgs wird demzufolge auch nicht mehr mit dem Schmalkaldischen Krieg, sondern „nur" noch mit dessen religiös-konfessionellen Folgen verknüpft. Was hinsichtlich zeitlicher Verteilung und inhaltlicher Parteinahme bei den Flugschriften zu beobachten war, gilt auch für die anderen beiden medialen Formen, in denen das Geschehen Niederschlag fand - illustriertes Flugblatt (vier von kaiserlicher und vier von protestantischer Seite) und Münzen/Medaillen (eine kaiserliche Münze, vier kaiserliche Medaillen). Was Flugschriften mittels Sprache und Schrift erreichen wollten, das Denken und Handeln der Zeitgenossen zu beeinflussen, strebten Münzen und Medaillen durch Visualisierung an. Während Flugblatt wie Flugschrift sich tendenziell an die zeitgenössischen Öffentlichkeiten insgemein wandten und in Material wie Aufmachung billigend in Kauf nahmen, rasch der Vergänglichkeit anheim zu fallen, kam den Medaillen eine grundlegend andere Funktion zu: Sie wurden, insofern sie wie die vier kaiserlichen Medaillen - aus wertvollem Material bestanden vom Auftraggeber, in unserem Fall Karl V., an Parteigänger und Standesgenossen, Gesandte, verdiente Getreue und Untergebene verteilt und sollten der „Erinnerung" des Geschehens 20
dienen. Stand so im illustrierten Flugblatt das Herrscherporträt, präziser: dasjenige des Kaisers, seines Bruders Ferdinand und des Kurfürsten von Sachsen im Vordergrund und findet sich nur ein illustriertes Flugblatt, das die Schlacht bei Mühlberg darstellt, so zeigen die Medaillen die militärischen „Heldentaten" des Kaisers: die Situation Süddeutschlands nach dem Abzug der schmalkaldischen Truppen aus Giengen, auf der Schaumünze erstmals als Sieg des Kaisers gedeutet, wohingegen die anderen drei Medaillen das Geschehen um die Schlacht von Mühlberg zum Gegenstand haben.
2.2 Voraussetzungen öffentlicher Kommunikation über die Niederlage Will man den auf die Öffentlichkeit zielenden Kommunikationsprozess über die Niederlage der Schmalkaldener verstehen, so ist zweierlei vorab zu klären: einerseits die sich durch die Niederlage für die schmalkaldische Kriegspartei grundlegend verändernden Kommunikationsbedingungen, andererseits die von kaiserlicher wie schmalkaldischer Seite während des Krieges gegebenen Deutungen des Geschehens, die - wie zu
20
Die numismatische Forschung vernachlässigt Fragen nach der funktionalen Seite der numismatischen Produktion weitgehend; vgl. vorläufig die knappen Anmerkungen bei Hugo Schnell, Martin Luther und die Reformation auf Münzen und Medaillen, München 1983, 13-33.
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Gabriele Haug-Moritz
zeigen sein wird - für die öffentliche Kommunikation über die Niederlage von entscheidender Bedeutung waren. a) Kommunikationsbedingungen: Dass die publizistische Offensive, die das Kriegsgeschehen von seiten der Schmalkaldener begleitete, nicht wirkungslos geblieben war, sondern die „Öffentlichkeit des Gemeinen Mannes" tatsächlich erreicht hatte, darüber gibt eine Flugschrift des Jahres 1548 Auskunft. Der Würzburger Arzt Walter Rinius begründet die Publikation seiner Flugschrift, einer nicht autorisierten deutschen Übersetzung des Mameranusschen „Iter Caesaris", damit, dass während des Krieges „der newenzeitung, gemeiner sag, flugreden, schrifftlichen und mündlichen, ein solcher hauffen aus unzelbaren opinionen und meynungen erwachsen, das sich [...] nit wenig zuverwundern." 21 Zentren der schmalkaldischen medialen Offensive während des Krieges waren Augsburg in Süd- und Wittenberg in Mitteldeutschland. Wurde Wittenberg nach dem Krieg direkt von Herzog/Kurfürst Moritz kontrolliert, so setzte der Kaiser nach dem Abzug der Schmalkaldener aus Süddeutschland als eine seiner ersten Maß22
nahmen in Augsburg eine kaiserliche Zensurkommission ein. Wittenberg und Augsburg schieden damit als Zentren protestantischer Druckproduktion aus 23 - mit der Folge, dass die öffentliche Kommunikation über die Niederlage primär eine Kommunikation der Sieger war. b) Deutungsmuster des Krieges: Die während des Krieges öffentlich gemachte Deutung des Geschehens 24 differierte in der Sicht der beiden Kriegsparteien fundamental. Die für die kaiserliche Kriegspartei argumentierende Publizistik stellte den Krieg als ein Geschehen vor, in dem der Kaiser sein ihm überantwortetes Amt wahrnahm, das Karl V. in seiner Achterklärung als ein solches vorstellte, das dem eines guten Hausvaters gleichkam. Um seine durch den „Ungehorsam" des sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen in Frage gestellte kaiserliche Autorität wiederherzustellen, habe er sich als ultima ratio entschieden, zu den Waffen zu greifen. Kurzum: In der kaiserlichen Deutung des Geschehens war der Krieg ein innerweltlich-politisches Geschehen, in dem um die rechte Art des politischen Miteinanders im Reich gerungen wurde. Die Schmalkaldener reagierten in ihren auf die „Öffentlichkeit der Herrschaftsträger" zielenden Veröffentlichungen, ihren Kriegsmanifesten und ihren von Theologen wie Juristen abgefassten gelehrten Abhandlungen auf diese Sicht des Krieges, indem sie ihre aus dem Spätmittelalter sich herschreibenden Libertätsvorstellungen zu einem in sich konsistenten Konzept der politischen Ordnung des Reiches fortentwickelten. Legitime Oberherrschaft im Reich wurde als Herrschaft vorgestellt, die sich an die ungeschriebenen wie geschriebenen Rechte gebunden betrachtete und respektierte, dass die 21
Rinius, Kurzer Auszug und eigentliches Verzeichnis, aii.
22
Hans-Jörg Künast, „Getruckt zu Augspurg", Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555, Tübingen 1997, 211. Für Augsburg vgl. den detaillierten Nachweis in ebd., 298. Hierzu demnächst Haug-Moritz, Geschwinde Welt.
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politische Ordnung des Reiches auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit der konsensual zustande gekommenen Rechte und Pflichten ruhte und nicht aus den mit dem kaiserlichen Amt verbundenen Rechten einseitig Verpflichtungen der reichischen Obrigkeiten zum Gehorsam konstruierte.25 In diese Perspektive gerückt, wurde das kaiserliche Vorgehen als das Vorgehen eines „tyrannus quoad executionem" gedeutet, der durch seine mutwillig vom Zaun gebrochene Fehde sich selbst seines Amtes entsetzt habe. In dem auf die Rezeption des .gemeinen Mannes' zielenden, quantitativ weit überwiegenden Teil der Publizistik aber trat die sich mit dem Krieg verknüpfende politische Programmatik ganz eindeutig hinter die religiös-konfessionelle Deutung des Geschehens zurück. Die schmalkaldische Kriegspartei stellte sich dem Volk Israel gleich, in dessen Geschicken das göttliche Heilshandeln Gestalt gewann. Gerungen wurde, so der einhellige Tenor der veröffentlichten Meinung, nicht um die rechte Art des politischen Miteinander im Reich, sondern der Konflikt mit dem Kaiser wurde als Kampf zwischen den Auserwählten und den Verdammten, zwischen Gott und dem Teufel, dem Guten und dem Bösen vorgestellt. Der Krieg kündete von dem in den Danielvisionen des Alten Testaments, dem 24. Kapitel des Matthäus-Evangeliums und der Offenbarung des Johannes prophezeiten letzten Gefecht zwischen den Anhängern Christi und denen des Antichrist. Der Antichrist aber, und hier rief die protestantische Publizistik das zentrale, bereits in den 1520er Jahren entwickelte protestantische Feindbild auf, das waren das Papsttum und seine Helfer: der Teufel, die katholische Geistlichkeit und nun auch der von der Geistlichkeit aufgehetzte und verführte Kaiser. Der Krieg war die letzte Bewährungsprobe, der nach der Unterwerfung des Antichrist und seiner Anhänger die Herrschaft Christi und der Gerechten folgen würde.
2.3 Deutungsmuster der Niederlage Die Aufarbeitung des Geschehens in den typographischen wie visuellen Medien ist, bei beiden Kriegsparteien gleichermaßen, personenzentriert und ereignisorientiert. Steht im Zentrum der protestantischen Publizistik und Grafik eine Person - Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (und seine Familie) - , so schenkt auch der Sieger dem Geschehen um die Niederlage seines mächtigsten Opponenten außergewöhnlich große Aufmerksamkeit, ohne jedoch, wie die Verlierer, die Niederlage (nahezu) vollständig auf die Person des Kurfürsten engzuführen. Neben den Liedern zu ,Lob und Ehre' Karls V. stehen solche Texte, Bilder und Medaillen, die, mit dem Gestus der objektiven Information entgegentretend, einerseits das gesamte Kriegsgeschehen rekapitulieren, andererseits den Akt der Unterwerfung, die deditio, zum Gegenstand haben.
25
Vgl. hierzu demnächst Gabriele Haug-Moritz, Widerstandsrecht im Schmalkaldischen Krieg, Zur Begründung des Widerstandshandelns in der protestantischen Publizistik der Jahre 1546/47, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Das Interim, Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte).
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Gabriele Haug-Moritz
Primär in den auf Visualisierung zielenden Medien, illustriertes Flugblatt und Medaille, treten die „Schlüsselereignisse" des Krieges entgegen: der Abzug der Schmalkaldener von Giengen und die Schlacht von Mühlberg. Die erfolgreiche militärische Aktion ist es, die der kaiserliche Sieger - hierfür steht das Medium Medaille - dem kulturellen Langzeitgedächtnis einschreiben möchte. Und auch die einzige aktuelle typographische Veröffentlichung, die den Anspruch erkennen lässt, den kaiserlichen Sieg im Gedächtnis der Nachfahren präsent zu halten, der 1548 erstmals in spanischer Sprache in Venedig publizierte, 1552 ins Deutsche übersetzte „Kommentar" Luis d' Avilas stellt den erfolgreichen Militärstrategen und Feldherrn Karl in den Mittelpunkt der Darstellung. Sowohl das Publikationsgebaren hinsichtlich der Kriegsdarstellung des kaiserlichen Vertrauten Avila - einem deutschen Druck stehen bis 1550 zehn in den spanischen wie burgundischen Erblanden des Kaisers veröffentlichte Ausgaben gegenüber 26 - wie auch die (zuvor geschilderte) Funktion, die Schaumünzen erfüllten, verweisen freilich auf einen entscheidenden Aspekt, der (unter anderem) zu erklären vermag, warum die von der kaiserlichen Seite angebotene Deutung der protestantischen Niederlage und die Stilisierung Karls V. zum ,Kriegshelden und Friedensfürsten' (Wohlfeil) im Reich so rasch in Vergessenheit geriet: Im Fokus gezielter kaiserlicher Erinnerungspolitik stand weniger die politische Öffentlichkeit des Reiches, denn diejenige seiner süd- und westeuropäischen Erblande. 27 2.3.1 Die Niederlage in der Deutung des Siegers - die Wiederherstellung der gottgewollten Ordnung Maß Karl V. dem Reich als „Erinnerungsraum" also offenkundig nachgeordnete Bedeutung zu, so nötigte ihn die politisch offene Konstellation nach seinem militärischen Sieg dazu, sich des Mittels zu bedienen, das seine Kriegsgegner während des Krieges so virtuos gehandhabt hatten - der Druckmedien - , um seine von den Schmalkaldenern handelnd wie publizistisch in Frage gestellte kaiserliche Autorität in einer Art und Weise zu retablieren, die seine Plänen einer Neugestaltung des politischen Miteinanders im Reich befördern musste. Und so wurde in der auf die aktuelle Rezeption angelegten medialen Aufbereitung des Krieges zwar auch die überlegene kaiserliche Kriegführung kommuniziert, aber sie wurde anders kontextualisiert. Weniger die Verherrlichung des Feldherrn Karl V. war ihr Anliegen, denn die Demonstration der Macht der gottgewollten obrigkeitlichen Ordnung wie sie sich im Kaiser personifizierte und im Gehorsam gegen den Kaiser zu konkretisieren hatte. Veranschaulichten die Schilderungen des Kriegsverlaufes ebenso wie die namentlichen Auflistungen der kaiserlichen Truppen-
26
Nachweis der verschiedenen Ausgaben bei {Catterfeld, Beiträge, 363.
27
Vgl. hierzu auch Rainer Wohlfeil, Kriegsheld oder Friedensfürst? Eine Studie zum Bildprogramm des Palastes Karls V. in der Alhambra zu Granada, in: Christine Roll u. a. (Hg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation, Festschrift für Horst Rabe, Frankfurt a. M. u. a. 1996, 57-96.
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28
führer bei Mameranus die überlegene Macht Karls V., so wurde in den Liedern der kaiserliche Gehorsamsanspruch postuliert29 und in den das Geschehen dokumentierenden, unkommentierten „Akteneditionen"30 konkretisiert. Die Lieder, die zum Teil als Kontrafakturen auf protestantische Kirchenlieder („Aus tiefer Not...") überliefert sind, geben zu erkennen, dass die öffentliche Kommunikation über die schmalkaldische Niederlage Freund wie Feind, Herrschaftsträger wie .gemeinen Mann' ansprechen sollte. Was die auf kollektiven Nachvollzug hin geschriebenen Lieder einfordern - „der obrigkait gehorsam laist, bei allen deinem leben"31 - , nimmt in den die „Fußfälle" des Landgrafen, Herzog Ulrichs von Württemberg und der Stadt 32 Frankfurt dokumentierenden Flugschriften und auch in den „Zeitungen", welche die Niederlage des Kurfürsten schildern,33 konkrete Gestalt an. Was die Schmalkaldener während des Krieges als kaiserliche Tyrannei gegeißelt hatten - aus .kaiserlicher Machtvollkommenheit' zur Achtexekution zu schreiten -, wird nun als von Gott dem Kaiser überantwortete Aufgabe vorgestellt. Als von Gott berufener Miles christianus „Recht wil ich fürn dem herrn sein schwert, auf diser erd, wils nit on ursach zucken, dann nur zur straf der bösen leut" - ist es „got [...], der für mich [sc. den Kaiser] ficht" 34 und der kaiserlichen Kriegspartei den Sieg verleiht. In das auf mittelalterlichen Traditionen aufruhende Bild der militia Christi35 fließen weitere zentrale Bestandteile der mittelalterlichen Herrscherdarstellung ein: wenn die Motivation zur Kriegführung in der Wiederherstellung von Friede und Gerechtigkeit verankert wird36 und auch, wenn die .guten' und ,bösen leut' entsprechend der tradierten literarischen Muster des guten und des schlechten Herrschers ausgestaltet werden.37 Die den Kaiser als guten Herrscher charakterisierenden Tugenden der humilitas und modestia - mit „demut ist er [sc. 28
Avila, Comentario; Mameranus, Catalogue expeditionis; ders., Catalogue omnium; Erzählung; Mameranus, Iter Caesaris; Rinius, Kurzer Auszug und eigentliches Verzeichnis; Baumann, Neue Zeitung; Neue Zeitung von Römischer Kaiserlicher Majestät Victori; Omnis potestas a deo; Praesidium Romani Caesariatus; Summarium.
29
Baumann, Ein neues Lied; Ein neues Lied zu Ehren Karls; Ein schönes neu gemachtes Lied; Ein schönes neues Lied von Karl.
30
Abdruck Herzog Ulrichs von Württemberg Schreiben; Urteil; Baumann, Verzeichnis der Artikel; Baumann, Fußfall. Ein schönes neu gemachtes Lied (Liliencron, Volkslieder, 365). Abdruck Herzog Ulrichs von Württemberg Schreiben; Baumann, Verzeichnis der Artikel; Baumann, Fußfall. Baumann, Neue Zeitung. Ein neues Lied zu Ehren Karls (Liliencron, Volkslieder, 346f.). Andreas Wang, Der „miles christianus" im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition, Bern/Frankfurt a. M. 1975. So lautet die Umschrift der kaiserlichen Medaille auf den Mühlberger Sieg „Discite iustitiam moniti" (Wieland Jung, Der Schmalkaldische Bund: numismatische Zeugnisse, 2 Teile, Kassel 1956; hier: Teil I, 67f.). Erich Kleinschmidt, Herrscherdarstellung, Zur Disposition mittelalterlichen Aussageverhaltens, untersucht an Texten über Rudolf von Habsburg, Bern/München 1974.
31 32
33 34 35
36
37
356 der Kaiser] kumen her" - werden kontrastiert mit der superbia"
Gabriele Haug-Moritz des Kurfürsten und 38
Landgrafen - „ubermuot nit bleiben mag, die hoffart muoß zerreißen". Nichtjuristisch (modern), sondern - wie schon während des Krieges von der kaiserlichen Seite praktiziert - moralisch wurde der Anspruch Karls V. auf Gehorsam begründet. Auf die eminente Bedeutsamkeit tradierter Wahrnehmungsmuster für die mediale Aufarbeitung von Sieg und Niederlage im Schmalkaldischen Krieg verweist auch die große Aufmerksamkeit, die man von seiten des Siegers dem mittelalterlichen Kriegsbeendigungsritual, der deditio, angedeihen ließ. 39 Die mediale Präsentation des Unterwerfungsaktes besitzt in der konkreten Kommunikationssituation verschiedene Dimensionen: 1. Sie rundet das Bild Karls V. als Inbegriff des guten Herrschers ab. Indem er die vom Unterlegenen aus „Müdigkeit und Gnaden" erflehte Verzeihung gewährt, vermag er zentrale Tugenden des guten Herrschers nicht nur handelnd zu demonstrieren, sondern auch sprachlich zu artikulieren. So etwa wenn er auf die Bitte um Vergebung artikuliert „Gott dem Allmächtigen zu Ehren, unnd aus angeborner Güte und Miltigkeit, und sonderlich zu verschonen Land und Leute, unnd des armen Mannes, die Ungnade fallen" zu lassen. 40 2. Darüber hinaus ist für das Ritual der deditio das Schuldeingeständnis und die untertänigst vorzutragende Bitte um Vergebung konstitutiv. So findet sich in der von den Vermittlern zwischen Karl V. und Landgraf Philipp ausgehandelten Kapitulation, die im Wortlaut publiziert wurde, das landgräfliche Eingeständnis, den Kaiser „zu dem aller höchsten un beschwerlichsten belaidiget [...] auch ander darzu [sc. zur Majestätsbeleidigung] verursacht" zu haben. 41 Die Anerkenntnis, das Verbrechen begangen zu haben, das der Kaiser in seiner Achterklärung als Kriegsgrund benannt hatte, reicherte die vom Kaiser während des militärischen Konflikts postulierte Legitimität der eigenen Kriegführung um den Aspekt ihrer Legalität an. Weit mehr noch aber als dieser Aspekt musste in einer Situation, in der die Schmalkaldener im Krieg dem kaiserlichen Anspruch auf Gehorsam ihr Recht, den Kaiser seines Amtes zu entheben, entgegengesetzt hatten,
38
Ein schönes neu gemachtes Lied (Liliencron, Volkslieder, 363f.).
39
Gerd Althoff, Das Privileg der deditio, Formen gütlicher Konfliktaustragung und -beilegung im 13. Jahrhundert, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter, Kommunikation in Krieg und Fehde, Darmstadt 1997, 99-125 und zu seinem Wandel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (demnächst) Barbara Stollberg-Rilinger, Knien vor Gott - Knien vor dem Kaiser, Zum Ritualwandel im Konfessionskonflikt, in: Gerd Althoff (Hg.), Zeichen - Rituale - Werte, Symbolische Kommunikation vom Mittelalter bis zur französischen Revolution, Münster 2 0 0 4 (im Druck). Barbara Stollberg-Rilinger danke ich herzlich, dass Sie mir den Aufsatz als Manuskript zur Verfügung gestellt hat.
40
Abdruck Herzog Ulrich von Württembergs Schreiben. Baumann, Fußfall.
41
Zur Konstruktion von Kriegsniederlagen in den frühneuzeitlichen Massenmedien 3.
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die in der Ausgestaltung des Rituals zu greifende symbolische Anerkennung dieses Anspruchs sein. Indem sich Fürsten und führende Vertreter der Magistrate dem Kaiser „in aller unterthänigkeit und Gehorsam"42 zu Füßen warfen, um Gnade baten und versicherten „umb solcher begnadigung mit allen den seinen höchster underhtenigkait danckbar zu sein unnd zu verdienen",43 bot der Akt der deditio dem Kaiser die Möglichkeit, die in seinen Augen zentralen Normen des politischen Miteinanders im Reich beispielhaft zu veranschaulichen.
Bezeichnend ist, dass die von Landgraf Philipp verweigerte symbolische Dimension des Unterwerfungsaktes nicht öffentlich gemacht wurde: Anstatt die Aufrichtigkeit des eigenen Schuldeingeständnisses in Bußkleidung und emotionalem Ausdruck (Tränen, Zerknirschung) zu unterstreichen, hatte der in schwarzem Samt mit roter Schärpe gekleidete Philipp durch .Hohnlächeln' das Ritual seines Verweischarakters beraubt.44 Die essentielle Bedeutung, die der handelnden Anerkennung des sakral überhöhten kaiserlichen Gehorsamsanspruches im Ritual der deditio mit seiner Parallelisierung des ,Kniens vor Gott' und des ,Kniens vor dem Kaiser' (Stollberg-Rilinger) zukam, zeigen gerade die auf Visualisierung zielenden Medien. Der sich unterwerfende, vor dem Kaiser kniende Kurfürst, der faktisch freilich weder zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme noch während seiner Gefangenschaft jemals vor dem Kaiser den Fußfall tat,45 wurde gleich zweifach ins Bild gesetzt: in einer flehendes Bitten ausdrückenden Körperhaltung im illustrierten Flugblatt46 und in einer Furcht und Erschrecken zu erkennen gebenden auf einer Medaille des Jahres.47 Festzuhalten ist: Die Art und Weise der medialen Aufbereitung der Niederlage der Protestanten durch den Sieger ist nur zu verstehen, wenn man sie vor der Folie der während des Krieges öffentlich gemachten Deutungsmuster der militärischen Auseinandersetzung betrachtet. Der Kaiser reagiert in seiner medialen, sich an die Öffentlichkeit des Reiches insgemein wendenden propagandistischen Offensive auf die Infragestellung seiner kaiserlichen Autorität, indem er zweierlei kommuniziert: seine „Macht" als Ausdruck und seinen „Gehorsamsanspruch" als Folge seines kaiserlichen Amtes. Kommunikationsinhalte wie Kommunikationsstil sind bestimmt durch die dem Kommunikationsprozess voraus liegenden Rollenerwartungen und Sinnzuschreibungen. Dem42 43 44
Abdruck Herzog Ulrichs von Württemberg Schreiben. Baumann, Fußfall. Erwin Preuschen, Ein gleichzeitiger Bericht über Landgraf Philipps Fußfall und Verhaftung, in: Julius Reinhard Dieterich (Hg.), Philipp der Großmütige. Beiträge zur Geschichte seines Lebens und seiner Zeit, Marburg 1904, 144-154, hier: 150.
45
Max Lenz, Die Schlacht bei Mühlberg, Mit neuen Quellen, Gotha 1879.
46
Max Geisberg/Walter L. Strauss (Hg.), The German Single-Leaf Woodcut, 1500-1550, 4 Bde., New York 1974, hier: Bd. 4, G 1330. Die Medaille aus dem Dresdner Münzkabinett ist abgebildet bei Karlheinz Blaschke, Politische Geschichte Sachsens und Thüringens, Ausstellungskatalog, [München 1991], 26.
47
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zufolge wird in dem auf die reichische Öffentlichkeit zielenden Teil der Kommunikation nicht das Bild des Triumphators und Kriegshelden in den Vordergrund gerückt, sondern Karl V. ist bestrebt, für seine politische Ordnungskonzeption zu werben, indem er sich selbst dem aus dem Mittelalter stammenden Idealtyp des „guten Herrschers" entsprechend stilisiert. Sich einem solchen Herrscher aber zu widersetzen muss moralisch verwerflich erscheinen. In welch hohem Maße die öffentliche Kommunikation über das aktuelle Ereignis Schmalkaldischer Krieg von sedimentierten Erfahrungen geprägt ist, zeigt sich auch darin, dass diejenigen Bestandteile der medialen Kommunikation sich besonders breiter Rezeption erfreuten (wie die Vielzahl der Ausgaben und die auf Visualisierung zielende Aufarbeitung des Geschehens zeigt), die den die Niederlage symbolisierenden Akt der deditio öffentlich kommunizieren. 2.3.2 Die Niederlage in der Deutung der Besiegten - das Martyrium des Kurfürsten Zollte der Sieger der Unterwerfung des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich des Älteren so große Aufmerksamkeit, 48 weil sich an seiner Niederlage besonders eindrücklich die kaiserliche Macht demonstrieren ließ, so liegen die Gründe, dass die Verlierer (nahezu) den gesamten Kommunikationsprozess über die Niederlage auf seine Person hin ausrichteten einerseits in der Bedeutung, die dem Kurfürstentum Sachsen und seinen Landesherrn für den reformatorischen Prozess zukam, andererseits im Kriegsgeschehen selbst. War doch Kurfürst Johann Friedrich der einzige der schmalkaldischen Bündner, der sich (wie selbst die pro-kaiserliche Publizistik herausstrich) in seinem Kampf für das wahre Wort Gottes „ritterlich"49 und „dapfer" 50 gegen den Kaiser gewehrt hatte und damit dem Ideal des adeligen Kriegers entsprach. Ein von Christensen 51 mit überzeugenden Argumenten auf den Sommer 1547 (zwischen Mühlberger Niederlage und Eröffnung des Reichstages) datiertes illustriertes Flugblatt veranschaulicht aufs trefflichste, wie beide Umstände - Kursachsens religionspolitische Bedeutung und der Kriegsverlauf selbst - die Fokussierung der Niederlage auf die Person des Kurfürsten beförderten. 52 Das Bild zeigt den Kurfürsten - umgeben von den seine weltliche Machtstellung dokumentierenden Wappen - in Rüstung mit gezogenem Schwert, in dessen Scheide das seit den 1520er Jahren ausgeformte Leitmotto der Protestanten (V[erbum] D [omini] M[anet] I[n] Efternum]) eingraviert ist. Zu seinen Füßen ihn anfeindende Monster und Tiere, die durch ihre Kopfbedeckung als Sinnbilder des katholischen Klerus - des, wie 48
49 50 51
52
Baumann, Ein neues Lied; ders., Neue Zeitung; Neue Zeitung von Römisch kaiserlicher Majestät Victori; Urteil; Baumann, Verzeichnis der Artikel. Baumann, Ein neues Lied (Liliencron, Volkslieder, 422). Neue Zeitung vom Römisch kaiserlicher Majestät Victori. Carl C. Christensen, Princes and propaganda, Electoral Saxon Art of the Reformation, Kirksville 1992, 7Iff. Geisberg/Strauss, Woodcut, Bd. 2, G 659; die zentrale Bedeutung des Flugblatts für den auf die Öffentlichkeit zielenden Kommunikationsprozess betont auch Flügel, Bildpropaganda, 78-81.
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die protestantische Polemik der Kriegszeit unablässig propagierte, Bösen und Teuflischen schlechthin - ausgewiesen sind. Die eine Krone tragende Schlange versinnbildlicht die „temporal authorities in league with the papacy".53 Der zeitliche Horizont, in den das Bild eingerückt wird, ist widersprüchlich: die Überschrift weist es als vor der Niederlage entstanden aus („wie er in seinem [sie!] feldleger ist gangen"), der auf der Höhe seiner Schulter angebrachte Psalm 34 („Der gerecht mus viel leiden") gibt zu erkennen, dass die Mühlberger Schlacht bereits verloren war. Das Flugblatt charakterisiert Johann Friedrich demnach als einen vor wie nach seiner Niederlage standhaften Kämpfer für das „wahre Wort Gottes". Gleich seinem kaiserlichen Widerspieler ist er der miles christianus, der den Ehrentitel „sub cruce militantis ab ecclesia saneta catholica (non Romana)" verdient 54 Wie schon das Bildprogramm des Flugblattes mit seinen „Zitaten", die an die bis in die 1520er Jahre zurückreichende protestantische Polemik gegen die alte Kirche anknüpfen, kenntlich macht, wendet sich die Kommunikation der Besiegten über ihre Niederlage primär an die selbst davon Betroffenen, allen voran an die Untertanen des unterlegenen Kurfürsten, die „alle tage [...] gleich, drey mal [...] für E.C.F.G. auch fur derselben Christliche Ehegemal und Söhne" zu Gott bitten.55 Nicht darum, die von Seiten des Siegers vorgegebene Deutung des Krieges zu widerlegen und einen Gegendiskurs zu etablieren (wie er in den Jahren nach 1548 im Kontext der Auseinandersetzung um das Interim stattfand), ging es in der Situation der Niederlage, sondern darum, den gerade für das sächsische Kurfürstentum desaströsen Ausgang des Krieges für die unmittelbar davon Betroffenen mit Sinn zu versehen. Für diese Deutung der intendierten Reichweite der öffentlichen Kommunikation über die Niederlage von Seiten der Verlierer stehen zum einen die Namen derer, die sich zu Wort melden, allen voran die der kursächsischen Theologen Melanchthon, Aquila und Pollicarius,56 zum anderen die Einbeziehung der gesamten kurfürstlichen Familie in den öffentlichen Kommunika57
58
tionsprozess und zum dritten die dominierende literarische Form - das Lied. Der Gesang von deutschsprachigen Liedern war seit dem Beginn der reformatorischen Bewegung Ausdruck des offenen Bekenntnisses zum neuen Glauben, so dass für die größtenteils als Kontrafakturen auf protestantische Kirchenlieder überlieferten Lieder auf den unterlegenen und gefangenen Kurfürsten der MacLuhansche Satz „the medium is the message" füglich Anwendung findet. Durch den Gesang der Lieder auf den gefangenen Kurfürsten gab man zu erkennen, dass man sich dessen Haltung zu eigen 53 54 55 56 57
58
Christensen, Princes, 78. Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel (Liliencron, Volkslieder, 432/Anm.). Aquila, Eine christliche Trostschrift. Ebd.; Pollicarius, Der XXXVII. Psalm; Melanchthon/Dietrich, Eine Trostschrift. Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel; ders., Ein neues Lied; Pollicarius, Der XXXVII. Psalm; Vier schöne Lieder. Nahezu die Hälfte der sich mit der Kriegsniederlage beschäftigenden Texte sind Lieder (vgl. Anhang).
360
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machte und wie dieser auch in der Niederlage treu zu seinem Glauben stand. Und das heißt überdies, dass allein schon die formale Seite der öffentlichen Kommunikation signalisierte, dass man entgegen der kaiserlichen Deutung des Geschehens auch in der Niederlage an der während des Krieges propagierten Sicht der militärischen Auseinandersetzung als einer Auseinandersetzung um den rechten Glauben festhielt. Der Kämpfer für den Glauben, der noch in der Niederlage an seinem Glauben festhält, das ist „ein martrer Jesu Christi", 59 in dem, so die sich aus dem Mittelalter herschreibende Auffassung, „die Kraft des Leidens Christi nicht nur in symbol. Repräsentation [wie in der Taufe] oder durch Übernahme seiner inneren Haltung gegenüber dem Tod, sondern ,per imitationem operis' wirksam ist."60 Und so wird das Verhalten des Kurfürsten in den Liedern mit all den Merkmalen versehen, die dem Kanon der „typischen Kriterien" des Märtyrers zugehören: 61 a) Sendungsbewusstsein - „darzu [s.c. zum Martyrium] er dann erweit von ihm [sc. Gott]" 62 oder „die seinen so versuchet er, got unser herr"; 63 b) Standhaftigkeit und die Bereitschaft, für seine Überzeugung zu sterben - die Todesbereitschaft, bewiesen durch den Blutzoll, den er während der Mühlberger Schlacht entrichtete (setzt „drumb zu gut, ehr, hals und bauch biß in den tod auch") 64 und in den Porträtdarstellungen durch die Betonung der von der Verwundung zurückgebliebenen Narbe herausgestrichen; 65 seine Standhaftigkeit durch die von ihm nach seiner Gefangennahme an den Tag gelegte Haltung (das „heilig creuz drumb führt und tregt, ihm aufgelegt nach gottes wolgefallen, bestendiglich und anders nit, ist zufrid darmit"); 66 c) der Umgang der Gegner mit ihm, die seinen Tod für rechtens erachten - bewiesen in dem öffentlich gemachten Todesurteil gegen den Kurfürsten 67 - und schließlich d) die Verehrung, die er bei seinen Anhängern für seine Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge Christi („des herrn bild bin ich worden gleich") 68 genießt.
59 60 61 62 63 64
Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel (Liliencron, Volkslieder, 432). E. Schockenhoff, Martyrium, in: LMA, Bd. 6, München/Zürich 1993, Sp. 353-355, hier: Sp. 354. Peter Gerlitz, Martyrium I, in: TRE, Bd. 22, Berlin/New York 1992, 196-202, hier: 197. Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel (Liliencron, Volkslieder, 432). Ein Trostlied (Liliencron, Volkslieder, 439). Ebd. (ebd., 437).
65
Geisberg/Strauss, Woodcut, Bd. 2, G. 664; Abbildung bei Flügel, Bildpropaganda, 82; vgl. auch ebd., 81-83.
66
Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel (Liliencron, Volkslieder, 432). Urteil. Vier schöne Lieder (Liliencron, Volkslieder, 429).
67 68
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361
Wer seinem Beispiel folgt („gibt uns ein beispiel allen")69 wird zwar nicht nach den Maßstäben der Welt entlohnt, doch ihm ist das „ewig heil" ebenso sicher wie denen, die am Kurfürsten Verrat begingen - von seinem herzoglichen Vetter Moritz bis hin zu dem Bauern, der den kaiserlichen Truppen den Weg über die Elbe wies - , die ewige Verdammnis („Gott ist ein rechter richter, dem falschheit nicht gefeit, er wirt wol die böswichter [...] wie sie verdienet han, bezalen mit helschem fewer"). 70 Wenn aber die Geschichte vom göttlichen Heilshandeln in der Welt geprägt ist, dann besteht auch die Möglichkeit, dass derjenige, der sein Vertrauen auf Gott richtet, auch auf Erden - wie das Beispiel Daniels lehrt - errettet wird.71 Dies mag sich „ein zeitlang verschieben und auffzihen, so wirdt es doch einmal kommen müssen [...]", denn: „Non dormitat neque dormitabit qui custodit Israel".72 Die exemplarische Christi-Nachfolge des Märtyrers, wie sie in den Liedern gefeiert wird, wird in der Gleichsetzung der „passio" des Kurfürsten und der Jesus Christi in einer Flugschrift auf die Spitze getrieben.73 Kurfürst Johann Friedrich ist Jesus Christus, wenn die Geschichte des Sächsischen Krieges entsprechend der Leidensgeschichte Christi (Matthäus 26, 1-28, 20) erzählt wird. Die „schmalkaldischen bundtsgenossen" werden zu „Jüngern" des Kurfürsten, wie Christus wird der Kurfürst von Judas/Herzog Moritz verraten, von Petrus/Landgraf Philipp verleugnet und ruft - durch die Wittenberger Kapitulation gekreuzigt - flehend zu Gott „Ely, Ely Lama asabathani, das ist, Mein Gott, mein Gott, wie bin Ich so gar von mänigklichen verlassen." Festzuhalten ist: Die Niederlage ist nicht Niederlage - bezeichnenderweise fällt dieses Wort in der protestantischen Publizistik nicht ein einziges Mal - , sondern Bewährungsprobe für die von Gott Auserwählten, personifiziert in Gestalt Kurfürst Johann Friedrichs. Nicht die von Deiten des Siegers als wieder hergestellt kommunizierte menschliche Ordnung, sondern die Niederlage als Bestandteil des göttlichen Heilshandelns auf Erden wird als richtiger Maßstab der Betrachtung des Kriegsgeschehens kommuniziert. Diese Form medialer Sinnstiftung erlaubt es, nahtlos an die von den Schmalkaldenern während des Krieges angebotene Deutung des Geschehens anzuknüpfen, d. h. ein System sich gegenseitig verstärkender Plausibilitäten zu schaffen. Sie ermöglicht zudem, die von Seiten des Siegers angebotene Deutung der Niederlage, ohne ihr inhaltlich entgegentreten zu müssen, zu negieren. Und schließlich besitzt die Auflösung des Irdischen in der Heilsgeschichte vor allem in Hinblick auf das von den Folgen des Schmalkaldischen Krieges am meisten betroffene Territorium, das Kurfürstentum, noch eine weitere Dimension: Die durch die Niederlage evozierte Herrschafts-
69 70 71
72 73
Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel (Liliencron, Volkslieder, 432). Vier schöne Lieder (Liliencron, Volkslieder, 426). Diese Parallele zieht das in den Kunstsammlungen der Veste Coburg verwahrte Porträt des Kurfürsten von Peter Gottlandt aus dem Jahr 1551 (abgebildet bei Christensen, Princes, 94 und Flügel, Bildpropaganda, 83). Pollicarius, Der XXXVII. Psalm. Passio; vgl. hierzu auch Schwitalla, Flugschrift, 44f.
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krise, die Fragen nach Schuld und Verantwortung hervorrufen musste und hervorrief, 74 ließ sich in die Apotheose des Landesherrn überführen. Damit aber wurde es möglich, die durch die Niederlage gefährdeten innerterritorialen Loyalitäten auf anderer Grundlage zu stabilisieren. Sieg oder Niederlage als Deutungskategorien wurden durch die religiöse Sinnstiftung ihrer wirklichkeitsprägenden Relevanz beraubt.
3. Ausblick: Die Deutung der Zeitgenossen in der Erinnerung der Nachfahren und die Zäsur des Dreißigjährigen Krieges Fragt man abschließend nach der Prägekraft der medial vermittelten Sinnstiftungsmuster als sedimentierte Kriegserfahrung für die Wissenshorizonte der frühneuzeitlichen Gesellschaft im Reich, so geschieht dies nicht in der Absicht, eine systematische Analyse zu liefern, sondern einige Grundlinien aufzuzeigen. 75 1.
Zielte die aktuelle mediale Auseinandersetzung mit dem Ereignis Schmalkaldischer Krieg auf die vielschichtigen zeitgenössischen „Öffentlichkeiten" insgemein, so verengte sich das Wissen über das Geschehen in der Folgezeit auf die von der Forschung als „Öffentlichkeit der Herrschaftsträger" und „Öffentlichkeit der Gelehrten" apostrophierte politische Öffentlichkeit des Reiches. 76 Der Wandel der medialen Form - von Flugblatt und Flugschrift zum Buch - , der Sprache - neben die vorrangig deutschsprachigen Veröffentlichungen tritt eine Vielzahl in lateinischer Sprache publizierter Texte - und der Textsorten - pointiert: vom Ereignisbericht der Flugschrift zur akademischen Dissertation - künden von diesem Sachverhalt. So weit der gegenwärtige Forschungsstand Aussagen erlaubt, sind es die typographischen Medien, in denen das Ereignis „Schmalkaldischer Krieg" erinnert wird. Die Ausnahme zu diesem Befund stellt ein vom ernestinischen Fürstenhaus 1609 nach dem (zuvor beschriebenen) Holzschnitt Cranachs des Miles christianus Johann Friedrich als Flugblatt pub-
74
Georg Mentz, Johann Friedrich der Grossmütige 1503-1554, Bd. 3: V o m Beginn des Schmalkaldischen Krieges..., Jena 1908, 560ff.
75
Vgl. auch die Beiträge von Andreas Klinger, Großmütig und standhaft, Zum ernestinischen Bild Johann Friedrichs im 17. Jahrhundert und Stefan Gerber, Landesherr, Reichsfürst, Märtyrer, Zur Rezeption des Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen im 19. Jahrhundert in: Joachim Bauer/Birgitt Hellmann (Hg.), Verlust und Gewinn, Johann Friedrich I. Kurfürst von Sachsen, Weimar 2003, 41-59 bzw. 60-83.
76
Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit, Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1526 bis 1618, Berlin/New York 1998.
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lizierter Kupferstich dar.77 Während das Flugblatt auf eine weitere Öffentlichkeit zielte, weist allein schon Format (146 χ 260 cm) und Ausgestaltung der (mutmaßlich) während des Dreißigjährigen Krieges entstandenen vier Tafeln mit „Szenen aus dem Leben Johann Friedrichs des Großmütigen" auf deren 78
2.
3.
Verwendung im höfisch-repräsentativen Rahmen. Auch wenn Entstehungsgeschichte und Verwendungszweck nicht aktenkundig belegt werden können, gehören sie in den unten noch genauer zu beschreibenden Zusammenhang der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschaffenen ernestinischen Memoria an den letzten Kurfürsten der ernestinischen Wettiner, Johann Friedrich.79 Die Form wie auch die Inhalte der von kaiserlicher Seite statthabenden medialen Präsentation des Geschehens im allgemeinen, des eigenen Sieges im Schmalkaldischen Krieg im besonderen, gerieten zwar nicht in Vergessenheit,80 sie fanden in der Folgezeit im Reich aber keinen weiteren medialen Niederschlag. Die Gründe sind zum einen in dem (zuvor skizzierten) kaiserlichen Kommunikationsverhalten nach seinem Sieg zu suchen, andererseits in der politischen Entwicklung des Reiches in den Jahren nach 1552, mit der die kaiserliche Deutung seines Sieges nicht vereinbar war. Lediglich zwei Straßburger Drucke aus den Jahren 1620 und 1630, das heißt in der Phase der erfolgreichen Kriegführung Kaiser Ferdinands II., rufen die bei Avila verherrlichten Heldentaten seines Vorfahren ins Gedächtnis. Es ist die von schmalkaldischer Seite vorgetragene Deutung des kriegerischen Geschehens der Jahre 1546/47, die im Reich erinnert wird. Zwei Stränge sind zu unterscheiden: zum einen derjenige, der sich mit dem Namen Johann Sleidans (1506-1556) verknüpft, der seine Reichsgeschichte zur Zeit Karls V. (,J)e statu religionis et reipublicae Carolo V. caesare Commentarli") primär aus straßburgisch-hessischem Blickwinkel schrieb und 1555 erstmals in Straßburg 81
publizierte; zum anderen derjenige, der sich als ernestinische Erinnerungspolitik beschreiben lässt und in der zweibändigen Darstellung des „Teutschen
77 78 79
80
81
Vgl. hierzu auch Flügel, Bildpropaganda, 81. Abbildung bei Klinger, Großmütig, 50f. Heinz Schilling, Aufbruch und Krise, Deutschland 1517-1648, o. O [Berlin] o. J., 214 weist irrtümlich für das Jahr 1593 eine Schaumünze auf den Schmalkaldischen Bund nach. Es handelt sich hier jedoch um eine 1543 geschlagene schmalkaldische Medaille auf die Eroberung BraunschweigWolfenbüttels (vgl. Jung, numismatische Zeugnisse, 25f.). Vgl. Andreas Klinger, Geschichte als Lehrstück - Friedrich Hortleders Darstellung des Schmalkaldischen Krieges, in: Der Schmalkaldische Bund und die Stadt Schmalkalden, Wechmar 1996, 101-111, hier: 104f. Zur Druckgeschichte des Sleidanschen Werkes vgl. Emil Van Der Vekene, Johann Sleidan [...] Bibliographie seiner gedruckten Werke [...], Stuttgart 1996, v. a. 146-304.
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Gabriele Haug-Moritz Krieges" von Friedrich Hortleder (1579-1640, seit 1616 Hofrat im ernestinischen Fürstentum Weimar) gipfelt. 82 Johannes Sleidans Darstellung der Reformationsgeschichte - 1545 von Jacob Sturm und Martin Bucer mit Unterstützung von Landgraf Philipp angeregt, als Auftragswerk des Schmalkaldischen Bundes begonnen, 1547 bis zum Bauernkriegsjahr 1525 gediehen und 1552 bis 1554 „without commission and without 83
subsidy" vollendet - gehört zu den erfolgreichsten Büchern der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Nachzuweisen sind für die Zeit zwischen 1555 und dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (neben englischen, französischen, niederländischen und schwedischen Ausgaben) 37 lateinische und 42 deutsche Auflagen des Werkes. Basierend auf Straßburger Archivalien, mündlichen Berichten des führenden Straßburger Politikers der Reformationszeit, Jacob Sturm, aber auch der zeitgenössischen Publizistik erzählt Sleidanus die Geschichte seiner Zeit und des Schmalkaldischen Krieges in einem ereignisgeschichtlich-chronologischen Abriss mit dem Anspruch, objektiv zu informieren. Folgerichtig enthält sich Sleidanus jeder expliziten Sinngebung. Die religiös-konfessionellen Deutungsmuster des Krieges in den Medien finden ebensowenig Eingang in seine Darstellung wie die Fokussierung der medialen Kommunikation auf den sächsischen Kurfürsten. In letztgenanntem Umstand schlägt sich sein städtisch-oberdeutscher Blickwinkel auf den Krieg nieder. Diese Perspektivierung hat auch zur Folge, dass Sleidanus seine Darstellung des Donaufeldzuges auf die nach dem Abzug von Giengen publizierte Rechtfertigungsschrift Landgraf Philipps 84 gründet, die für das militärische Desaster der Schmalkaldener nicht Landgraf Philipp, sondern die militärische Führungsstruktur des Schmalkaldischen Bundes - und damit per indirectum den Kurfürsten - verantwortlich macht. Allein in der der Sleidanschen Darstellung implizit zugrunde liegenden Vorstellung vom politischen Gefüge des Reiches der Rechtsbindung auch der kaiserlichen Gewalt - , wird deutlich, dass am Anfang seines Kommentars die förmliche Beauftragung durch die schmalkaldi85 sehen Bündner gestanden hatte.
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84 85
Friedrich Hortleder, Der Römischen Keyser und Königlichen Maiestete, Auch des Heiligen Römischen Reichs [...] Handlungen und Ausschreiben [...] von den Ursachen des Teutschen Kriegs Kaiser Carls des Fünfften [...], Franckfurt am Meyn 1617; ders., Der Römischen Keyser- und Königlichen Maiestät (...) Handlungen und Ausschreiben (...) Von Rechtmässigkeit, Anfang, Fort und endlichen Außgang des Teutschen Kriegs (...) Vom Jahr 1546 biß auff das Jahr 1558, Franckfurt 1617/18 (2. Aufl., Gotha 1645). Ingeborg Vogelstein, Johan Sleidan's Commentaries, Vantage Point of a Second Generation Lutheran, New York/London 1986, Zitat: 19. Gründlicher Bericht. Vogelstein, Sleidan, 59-64.
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Erweist sich die Darstellung des Sleidanus nur mittelbar den tagespolitischen Sinnstiftungsmustern verpflichtet, so knüpft die im ernestinischen Umfeld unmittelbar vor und während des Dreißigjährigen Krieges entstandene Publizistik direkt an die mediale Deutung des Geschehens des Schmalkaldischen Krieges an. Zwischen einem an Ausgleich mit den Habsburgern interessierten albertinischen Sachsen und den in der Union vereinten „radikalen" Kräften um Kurpfalz, bietet der Rekurs auf den Schmalkaldischen Krieg und die Person Kurfürst Johann Friedrichs den Ernestinen! die Möglichkeit, ihre in Hinblick auf die Wittenberger Kapitulation verfolgte Revisionspolitik historisch zu legitimieren und die führende Rolle des ernestinischen Sachsen in der Reformationszeit den Wissenshorizonten der Gebildeten einzuschreiben. Gewichtiger freilich als der Rückgriff auf die Memoria Johann Friedrichs d. Ä. (wenn auch unauflöslich miteinander verbunden) ist der Teil der ernestinischen Publikationstätigkeit, in dem die Forschung die Anfänge der sog. Reichspublizistik ausmacht - (u. a.) die große Quellenedition Friedrich Hortleders, Schüler des Dominicus Arumaeus.86 Hortleders Quellenedition stellt die bis heute umfänglichste Neuedition der 1546/47 zeitgenössisch publizierten typographischen wie visuellen Medien dar. Durch die Art seiner Quellenauswahl trug er eine Deutung der Reichsgeschichte der Reformationszeit (der Jahre von ca. 1528 1554) vor, die „in den stilleren Jahrzehnten nach dem Augsburger Religions87
frieden fast vergessen erschienen" war. Den öffentlichen Diskurs der Jahre 1546/47 seiner heilsgeschichtlichen Dimension (weitgehend) entkleidend, stellte er zweierlei in den Vordergrund: einerseits die - insbesondere nach dem Schmalkaldischen Krieg kommunizierte - herausragende Stellung des ernestinischen Fürstenhauses in Gestalt des letzten ernestinischen Kurfürsten, andererseits ein Verständnis der politischen Ordnung des Reiches wie er es schon seinem Schüler, Prinz Johann Ernst von Sachsen-Weimar, anlässlich von dessen Ehrenrektorat der Universität Jena 1608, in den Mund gelegt hatte: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und seine schmalkaldischen Bundesgenossen erscheinen als Vorkämpfer eines Verständnisses der Verfassungsordnung des Reiches, welche die kaiserliche „Herrschaft als eine vertraglich und gesetz88 lieh beschränkte erwiesen". Dass die Hortledersche Quellenedition gerade in der entscheidenden Phase der Westfälischen Friedensverhandlungen eine zweite Auflage erlebte (1645), erstaunt vor diesem Hintergrund nicht. Die Erinnerung an die mediale Aufarbeitung des Schmalkaldischen Krieges ist so ein wichtiger Baustein, der zu erklären vermag, warum es in der kriegerischen Auseinandersetzung des 17. Jahrhunderts gelang, in den westfälischen Friedensverträgen den Grundstein zu legen, den Konflikt um die „forma imperii" 86 87 88
Zur Hortlederschen Edition (vorläufig) Klinger, Geschichte. Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 8. Aufl., Münster 1998, 130. Klinger, Geschichte, 108f.
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im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend im Sinne reichsständischer Libertätsvorstellungen zu lösen. Mit der 1648 im Westfälischen Frieden geschaffenen Verfassungsordnung des Reiches und dem endgültigen Scheitern aller weiterreichenden politischen Ambitionen der ernestinischen Wettiner verlor der Schmalkaldische Krieg als sedimentierte Kriegserfahrung an Relevanz. Bis zum Ende des Alten Reiches erfuhr das Werk des Sleidanus noch eine deutsche (1771/73) und lateinische (1785/86) Neuauflage, die Hortledersche Quellensammlung wurde nicht mehr neu ediert. Die neu entstandene juristische Disziplin der Reichspublizistik diskutierte die politische Ordnung des Reiches zwar auch noch im Rückgriff auf 89
die Historie - hierfür stehen die im 18. Jahrhundert entstandenen juristischen Dissertationen zur Reichsgeschichte der Reformationszeit - , ihr vorrangiges Augenmerk aber galt dem 1648 vereinbarten juristischen Regelwerk. Der Schmalkaldische Krieg ging dem kulturellen Langzeitgedächtnis verloren betrachtet man den aktuellen Forschungsstand zu Dreißigjährigem und Schmalkaldischem Krieg, so gilt dieser Befund auch heute noch.
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Notker Hammerstein, Jus und Historie, Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972.
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4 Anhang: Bibliographische Nachweise der Quellen
4.1 Zeitgenössische Medien (1547-1552) Die Nachweise werden entsprechend dem folgenden Raster gegeben: a) Titel (gekürzt) mit (Erst-)Erscheinungsjahr (nach Nachweis); b) Verfasser; c) Druckort/e [s. 1. = sine loco], Drucker, [Zahl = Ausgaben; keine Angabe = eine Ausgabe]; d) Nachdrucke (bibliographische Vollständigkeit wird nicht angestrebt); e) Nachweis; Kurztitel. 4.1.1 Kaiserliche Kriegspartei
a) Drucke 1. a) Abdruck Hertzog Ulrichs von Wirttenberg (...) schreiben an Rom. Kay. Maiestat umb friede; Warhafftiger auszug des Wirtenbergischen vortrage den (03. 01. 1547); Wie des (...) hertzogen von Würtemberg gesandte für Rom. Kay. Maiestat fuszfall gethan. Dergleichen auch wie sich die Stadt Franckfurt am Meyn dermassen kegen irer Kay. Maiestat verhalten, 1547; b) anonym; c) s. 1.; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, [Buch] III, [Kapitel] 53, 56, 61; e) Waldeck, Publizistik, ARG 8, 128. Kurztitel: Abdruck Herzog Ulrichs von Württemberg Schreiben 2. a) Comentario de la guerra de Alemaña ..., 1548; b) Avila y Zuniga, Don Luis de; c) Venedig 1548; dt.: Wolfenbüttel, 1552; weitere Ausgaben: Voigt, Geschichtsschreibung, 590ff.; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 81 (deutsch); e) VD 16, Bd. Bd. 1, A 45 IO90. Kurztitel: Avila, Comentario. 3. a) Catalogus expeditionis rebellium principum ... , 1550; b) Mameranus, Nicolaus; c) Köln; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 24 (deutsche Übersetzung); e) Bd. 12, M 411 Kurztitel: Mameranus, Catalogus expeditionis. 4. a) Catalogus omnium generalium, tribunorum, ducum .. totius exercitus Caroli V. ..., 1550; b) ders.; c) Köln; [2]; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 20 (deutsche Übersetzung); e) VD 16, Bd. 12, M 413, 414 Kurztitel: Mameranus, Catalogus omnium. 90
Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, Abt. I, Bd. Iff., Stuttgart 1983ff.
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5. a) Erzählung aller Fürnemsten, Obersten und Hauptleut deß Kaysers gantzen Heeres ..., 1548 [dt. Übersetzung von 4]; b) anonym; c) Ingolstadt - Alexander Weissenborn; d) - ; e) VD 16, Bd. 12, M 415 Kurztitel: Erzählung. 6. a) Iter Caesaris ..., 1548; b) Mameranus, Nicolaus; c) Augsburg - Philipp Ulhart 1547 u. 1548; Ingolstadt - Alex. Weissenborn 1548; Leipzig - Valentin Bapst 1548; [4]; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 1 (deutsche Übersetzung); e) VD 16, Bd. 12, M 437-440 Kurztitel: Mameranus, Iter Caesaris. 7. a) Kurtzer Auszug und eigentliche Verzeichnuß d. ganzen Histori aller Handlung, was sich kays. May. fürgenommen Kriegsrüstung halben ... verlauffen hat, 1548 [nichtautorisierte dt. Übersetzung von 6]; b) Walter Rinius; c) Würzburg - Johann Müller; d) - ; e) VD 16, Bd. 12, M 441 Kurztitel: Rinius, Kurzer Auszug und eigentliches Verzeichnis. 8. a) Ein new lied wie hertzog Johan Friederich ... erlegt und gefangen worden ist, 1547; b) Baumann, Hans; c) Augsburg - Narziß Ramminger; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 553 e) VD 16,2, Β 862 Kurztitel: Baumann, Ein neues Lied. 9. a) Ain new lied zu eren Römischer kayserl. majestat Caroli... Im ton zu singen: Mag ich unglück nit widerstan, 1546; b) anonym; c) s. 1. 1546 + s. 1. 1547, Augsburg - 1548 Philipp Ulhart; Freiburg - 1547 Stefan Graf; [4]; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 532; e) Liliencron, Volkslieder, Nr. 532/Anm. und VD 16, Bd. 10, Κ 45; 14, Ν 1289, 1315 Kurztitel: Ein neues Lied zu Ehren Karls. 10. a) Ein schön new gemacht lied zu lob und Eer von gott aufgesetzter obrigkait von jez schwebenden aufrürischen ... praktiken und kreigsleufen, Im ton: Aus tiefer not..., 1547; b) anonym; c) s. 1. - 2x 1547, Augsburg - 2x 1547 Heinrich Steiner; Augsburg 1547 Hans Zimmermann; [5]; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 538; Hortleder, Rechtmässigkeit III, 50; e) VD 16, Bd. 18, S 3581-3585 Kurztitel: Ein schönes neu gemachtes Lied. 11. a) Ein schönes newes Lied von Carolo ... und Philipsen ... sampt andern ungehorsamen ... Potentaten deß unglückhafftigen Schmalkaldischen bundts verwandten .... In der weiß wie die Schlacht von Pavia gesungen wirt, 1547; b) anonym [Hans Baumann]; c) Augsburg - Heinrich Steiner; d) - ; e) VD 16, Bd. 18, S 3658 Kurztitel: Ein schönes neues Lied von Karl.
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12. a) Newe Zeittung ... inn was gestalt... Hertzog Johann Friderich ... den 24.4. .. gefangen worden ist, 1547; weitere Ausgabe mit verändertem Titel: Ware und gründtliche anzeigung und bericht, inn was gestalt auch wenn wie und wo Hertzog Johann Fridrich ... gefangen worden ist, 1547; b) Baumann, Hans; c) 3x s. 1. 1547 + 1547; Augsburg 1547 Narziß Ramminger; Augsburg - 1547 Heinrich Steiner; Erfurt - 1547 Wolfgang Stürmer; Ingolstadt - 1547 Alexander Weissenhorn; Leipzig - 2x 1547 Valentin Bapst; München - 1547 Andre Schobsser 1547; [10]; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 69; e) VD 16, Bd. 2, Β 859-868 Kurztitel: Baumann, Neue Zeitung. 13. a) Newe zeyttung Von Römischer Keiserlicher Maiestat, und Hertzog Moritzen v. Sachsenn ... Victori und Überwindung wider Hertzog Johan Friderichen ... gründlicher Bericht, 1547; b) anonym; c) s. 1.; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, II, 69; e) VD 16, Bd. 14.Ν 952 Kurztitel: Neue Zeitung vom Römisch kaiserlicher Majestät Victori 14. a) Omnis potestas a Deo & qui potestati resistit, Deo resistit. Warhafftiger Bericht wie wunderbarlich Gott der allmechtig der Rom. Ksl. Maj. wid jre feind die Rebellen ... Sig ... verlihen ..., 1547; b) anonym; c) s. 1.; d) - ; e) VD 16, Bd. 21, W 703 Kurztitel: Omis potestas a Deo. 15. Praesidium Romani Caesariatus ex Evangelica et Apostolica scriptura ..., 1547; weitere Ausgabe mit verändertem Titel: De primatu, et excellentia Romani Caesariatus ... ex ipsis Ethnicorum Uteris, ca. 1550; b) anonym; c) s. 1.; [2]; d) - ; e) VD 16 Ρ 4560; Waldeck, Publizistik, ARG 7, 38f. Kurztitel: Praesidium Romani Caesariatus. 16. a) Summarium des Evangelischen, das ist Schmalkaldischen Kriegs ... in lustigen Reimen ... [enthält: Das ander Theile des Summarij, 1547; b) anonym; c) s. 1.; [5]; d) - ; e) VD 16, Bd. 20, S 10182-10186 Kurztitel: Summarium. 17. a) Urteil So Keiserliche Maiestat über den gewesen Churfürst von Sachsen decernirt und gesprochen hatt; Vertrag ...; Copey der abforderung des kriegsvolcks ...; Verzeigungs der gefangenen ..., 1547; b) anonym; c) s. 1.; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 70-72; e) Anna Amalia Bibl. Weimar: Aut. III (18) Kurztitel: Urteil.
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18. a) Verzeichnus der Artickel, so die Römisch Kaiserlich Maiestat Johann Friedrich ... und ... Philipp ... fürgehalten, unnd sie baide bemelte Fürsten diesselben Artickl geschworn ... Sambt dem Fußfall und begnadunge bemeltes Landgraven ..., 1547; b) Baumann, Hans; c) s. 1.; München - 1547 Andre Schobsser; [2]; d) - ; e) VD 16, Bd. 2, Β 873, 877 Kurztitel: Baumann, Verzeichnis der Artikel. 19. a) Warhafftige Beschreibung Welcher gestalt... Landtgraff Philipps zu Hessen seinen Fußfall den (19.) tag Junij dises 1547. Jars gethan ..., Zusampt et der Capitulation ..., 1547; b) Baumann, Hans; c) s. 1. - 4x 1547; Augsburg - 1547 Heinrich Steiner; Erfurt - 1547 Gervasius Stürmer; [7]; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 76; e) VD 16, Bd. 2, Β 869-872; 874-876 Kurztitel: Baumann, Fußfall. b) Bildquellen 1. Geisberg/Strauss, Woddcut, Bd. 3, G 942 - Karl V. in der Belagerung vor Wittenberg, Berlin 1547 (Meister MR) 2. ebd., G 943. - Ferdinand in der Belagerung vor Wittenberg, Berlin 1547 (Meister MR) 3. ebd., G 944 - Johann Friedrich in der Belagerung vor Wittenberg, Berlin 1547 (Meister MR) 4. ebd., Bd. 4, G 1330 - Schlacht bei Mühlberg, Nürnberg 1547 (Virgil Solis) c) Münzen/Medaillen 1. Jung, numismatische Zeugnisse, 57-59; Abb. 14 - Münze 1546 2. ebd., 59-62, Abb. 15 - Medaille 1547 (nach dem schmalkaldischen Abzug von Giengen an der Brenz) 3. ebd., 67f., Abb 19; (auch in: „Gotteswort u. Menschenbild". Ausstellungskatalog Schloßmuseum Gotha, o. O. o. J. [1994], Teil II, 4.12 (S. 16f.) - mit falscher Datierung) - M e d a i l l e 1547 (Mühlberg) 4. Jung, numismatische Zeugnisse, 67f., Abb. 20 - Medaille 1547 (Mühlberg) 5. Blaschke, Geschichte, 26 - Medaille 1549
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4.1.2 Schmalkaldische Kriegspartei
a) Drucke 1. a) Ein christliche Trostschrifft an den Churfürsten ..., 1547; b) Aquila, Caspar; c) Erfurt - 2x 1547 Gervasius Stürmer; Magdeburg - 2x 1547 Michael Lotter; [4]; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 80; e) VD 16, Bd. 1, A 256-259 Kurztitel: Aquila, Eine christliche Trostschrift. 2. a) Dialogus Nye gemaket von der Belagerung der Stadt Bremen unde Slachtinge vor der Drakenborch ..., [1547]; b) anonym; c) Magdeburg - Christian Rödinger d. Ä.; d) Bremisches Jahrbuch 1, 179ff.; e) VD 16, Bd. 5, D 1325 Kurztitel: Dialogus 3. a) Des Gefangnen Churfürsten rechter Titel, so ihm yetziger zeit von allen waren Christen ... billich gegeben wird zu Latein und Deudsch in ein Lied verfasst. Im thon mag ich unglück nit widerston etc. im Jar 1548 .. Noch ein christlich Lied von Hertzog Johann Friedrich zu Sachsen. Im thon die Sonne ist verblichen. Der Churfürstin zu Sachsen Lied .. Ach Gott mich tut verlangen Im thon Isbruck ich muß Dich lassen, 1548; b) Watzdorf, Peter; c) s. 1.; [2]; d) (teilw.) Liliencron, Volkslieder, Nr. 559, 563; e) VD 16, Bd. 21, W 1312, 1317 Kurztitel: Watzdorf, Des gefangenen Kurfürsten rechter Titel. 4. a) Gründlticher Bericht Wie sich der Krieg zwyschen Keyser Carlen ... und den Staenden Christenlicher verein ... erhaben und ... zuogetragen hat, 1547; b) Philipp, Landgraf v. Hessen; c) s. 1.; d) Christoph von Rommel, Philipp der Großmüthige von Hessen ..., Bd. 3: Urkunden ..., Gießen 1830, 139-159; hierzu: Voigt, Geschichtsschreibung, 696-698; e) Anna Amalia Bibl. Weimar: Aut III (77) Kurztitel: Gründlicher Bericht. 5. a) Ein new lied, den jungen Fürsten zu Sachsen ... und verlaßnen Fürstin ... zu ehren gestellt.... Im ton: Kehr wider, gluck mit frewden, 1547; b) Watzdorf, Peter; c) Erfurt Wolfgang Stürmer; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 565; e) VD 16, Bd. 21, W 1316 Kurztitel: Watzdorf, Ein neues Lied. 6. a) Ein new lied des frommen christlichen alten Churfürsten, Herzog Hans Friderichs des Elteren ... Im ton: Die Sonne die ist verblichen. ... Für die gelerten mit vier stimmen im ton des Lieds von Maximiliano: Wach auf in Gottes amen, 1548; b) Watzdorf, Peter; c) Erfurt - Gervasius Stürmer; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 558; e) VD 16, Bd. 18, W 1318 Kurztitel: Watzdorf, Ein neues Lied des Kurfürsten.
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7. a) Ein schön new lied von einem gefangen fürsten, In dem ton: O got verleih mir dein genad, 1549; b) anonym; c) s. 1.; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 561; e) ebd. Kurztitel: Ein Lied von einem gefangenen Fürsten. 8. a) Passio. Wie der Durchleuchtigst... Herr Johanns Friderich zu Sachssen ... bekriegt und gefangen ist worden, [1547]; b) anonym; c) s. 1.; d) - ; e) Thüring. Universitäts- und Landesbibl. Jena: 4 Bav 11 (14) Kurztitel: Passio. 9. a) Der XXXVII. Psalm ... Sybilla ... Und alle den jhren sampt allen betrübten Christen zu trost ..., 1547; b) Pollicarius, Johannes; c) Erfurt - Gervasius Stürmer; d) - ; e) VD 16, Bd. 16, Ρ 4045 Kurztitel: Pollicarius, Der XXXVII. Psalm. 10. a) Ein trostlied zu ehren dem gefangnen christlichen Churfürsten Hertzog Johans Fridrich ... Auf den ton: Mag ich Unglück nicht widerstan, 1548; b) anonym [Joachim Greff]; c) s. 1.; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 560; e) VD 16, Bd. 8, G 2990 Kurztitel: Ein Trostlied. 11. a) Ein Trostschrift für alle betrübten Hertzen in disen kümmerlichen zeyten im latein von Herrn ... Melanthon gestellet Und yetzund ... in Deutscher sprach gedruckt (Übersetzung Veit Dietrich), 1547; b) Melanchthon, Philipp; Dietrich, Veit; c) Magdeburg - 1547 Michael Lotter; Nürnberg - 1547 Berg-Neuber; Rostock - 1547 Ludowich Dietz ; [3]; d) - ; e) VD 16, Bd. 13, M 3635-3637 Kurztitel: Melanchthon/Dietrich, Ein Trostschrift. 12. a) Van der slachtinge vor Bremen, [1547]; b) anonym; c) s. 1.; [3]; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 566; Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 74; e) Liliencron, Volkslieder, Nr. 566 Kurztitel: Schlacht vor Bremen. 13. a) Vier schöne lieder, das erste des Churfürsten zu Sachssen, im Thon, ein newes lied wir heben an/das ander der Churfürstin, im Thon Isprug ich muß dich lassen/das drit Hertzog Johans Wilhelm/Das vierdt von des Churfürsten gefengnis/ Ein schöner Psalm in der weise, Ich ruff zu Dir Herr Jhesu Christ, 1548/49/51 [teilw. auch Einzelausgaben]; b) anonym [Paul von Newenstat]; c) s. 1.; Magdeburg; [6]; d) Liliencron, Volkslieder, Nr. 555, 557, 563, 564; e) ebd. Kurztitel: Vier schöne Lieder.
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14. Wie es uns zu Wittenberg in der Statt gegangen ist, in diesem vergangen Krieg ..., 1547; b) Bugenhagen, Johannes; c) Erfurt - 1547 Gervasius Stürmer; Wittenberg 1547; Wittenberg - 1547 Veit Creutzer; [3]; d) Hortleder, Rechtmässigkeit, III, 73; e) VD 16, Bd. 3, Β 9477-9479 Kurztitel: Bugenhagen, Wittenberg. 15. a) [Wie es Gott gefällt] Zwey schöne Newe Lieder deß frommen Johansen Friderichen von Sachsen, welche er in seinem Gefängknuß gedichtet hat. Im Thon: Mein Seel erhebt den Herren mein ..., um 1548; auch unter anderem Titel: Des fromen Fürsten Hertzog Hansen auß Sachsen Lied und Gedicht ... Ein ander hüpsch Lied ...; b) anonym; c) s. 1.; [2]; d) - ; e) VD 16, Bd. 22, W 2553 Kurztitel: Zwei schöne neue Lieder. b) Bildquellen 1. Geisberg/Strauss, Woodcut, Bd. 2, G 659 - Abconterfectung ... Johann Friedrichen, 1547 (Lucas Cranach d. J) 2. ebd., G 662 - Porträt Johann Friedrich, 1548 (ders.) 3. ebd., G 664 - Porträt Johann Friedrich, 1551 (ders.) 4. Kunstsammlung der Veste Coburg - Porträt Johann Friedrich, 1551 (Peter Gottlandt; Druck: Christensen, Princes, 94; Flügel, Bildpropaganda, 83) 4.2 Ausblick (1553-1800) Vgl. über die bei Schottenloher, Bd. 3, Nr. 41646, 41672-41697 genannten Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts hinaus: Luis de Avila, Bellum germanicum, hoc est ... Ludovici ab Avila et Zunniga ... commentarli de bello germanico a Carolo V.... gesto, Straßburg 1620. ders., Commentarla de Bello Germanico A Carolo V.... gesto, Straßburg 1630. Joachim Camerarius, Historia belli Smalcaldici, in: Burcardo Gotth. Struve (Hg.), Rerum Germanicarum scriptores varii..., Straßburg 1717, [457]-494. Etliche Schrifften des gefangenen und theren standhafften Bekenners Jesu Christi, Churf. Johann Friedrichs des ältern ..., s. 1. 1629. Carolus Renatus Hausen, Oratio de gravitate malorum, tempore belli Smalcaldici in Saxonia..., Regensburg 1762.
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Gabriele Haug-Moritz
Georg, Wilhelm Kirchmaier, Oratio Histórica ... Id est Bellum Smalcaldicum ..., Wittenberg 1755. D. Ludolf Godof. Mögen, Historia captivitatis Philippi Magnanimi..., Frankfurt/Leipzig 1766. Johannes Rosinus, Exempla Pietatis Illustrisi Hoc est, Vitae Trium Illustrißimorum ... Saxoniae Ducum [Kurfürsten Friedrich, Johann, Johann Friedrich] .., Jena 1602.
ROLF REICHARDT
Zwischen Satire und Heroisierung: Bildpublizistische Verarbeitung von Revolutionsniederlagen in Frankreich
1793-1871
Versteht man Revolutionen nach einem berühmten Ausspruch Robespierres als Kriege der Freiheit gegen ihre Feinde, 1 dann ist auch an sie die Frage nach Niederlagen und deren Mediatisierung zu richten. Dies freilich in spezifischer Weise, sind Revolutionen doch ideologisch besonders brisante Bewegungen; und wenn sie unterliegen, dann weniger dem äußeren Landesfeind als vielmehr dem innenpolitischen Gegner. Nach welchen Grundmustern Revolutionsniederlagen medial verarbeitet worden sind, lässt sich an Frankreich, dem .Experimentierfeld Europas', aus doppeltem Grund besonders gut beobachten: zum einen, weil hier von 1830 bis 1871 drei revolutionäre Bewegungen nach anfänglichen Erfolgen der Reaktion unterlagen; und zum anderen, weil die Formen dieser Vorgänge und ihre kollektive Wahrnehmung in erheblichem Maße vorstrukturiert wurden durch die prägende Erfahrung und die politische Kultur der .Mutterrevolution' von 1789 und 1793/94. Der verschlungene Prozess dieser Revolutionserinnerung vollzog sich nicht allein auf der Ebene der politischen Akteure und der Historiographie,2 sondern auch - breitenwirksamer - im Bereich der plurimedialen Publizistik, insbesondere der Druckgrafik, wie an drei unterschiedlichen Bildsorten gezeigt werden soll. 3 Die folgenden Beispiel-Reihen beginnen jeweils mit der Französischen Revolution, die abgesehen von Napoleons Staatsstreich zwar keine Niederlage, aber doch einzelne Rückschläge erlitt, welche bildpublizistisch verarbeitet wurden - nicht selten mit Vorbildwirkung.
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„La Révolution est la guerre de la liberté contre ses ennemis: la Constitution est le régime de la liberté victorieuse et paisible." Konventsrede vom 25. Dezember 1793 über die Grundsätze der Revolutionsregierung, in: Oeuvres de Maximilien Robespierre, Bd. X, Paris 1967, 274. Klaus Deinet, Die mimetische Revolution oder die französische Linke und die Re-Inszenierung der Französischen Revolution im neunzehnten Jahrhundert (1830-1871), Stuttgart 2001. Der folgenden Beitrag ist erwachsen aus dem Teilprojekt „Revolutionserinnerung in der europäischen Bildpublizistik (1789-1889)", das der Verfasser im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen" an der Justus-Liebig-Universität Gießen bearbeitet.
Rolf Reichardt
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1. Bilderkrieg der Karikaturen Revolutionsniederlagen bildkünstlerisch entweder triumphierend mit Spott und Hohn oder im Gegenteil mit bitterer Ironie zu kommentieren, war ganz unmittelbar die Sache der Karikaturisten. Anlass zu einem revolutionsfeindlichen Spottblatt gab beispielsweise der Pariser Volksaufstand vom 1. bis zum 4. Prairial des Jahres III nach dem Republikanischen Kalender (20.-23. Mai 1795). An diesen letzten journées der Revolution 4 umzingelten 20 000 bewaffnete Sansculotten den Konvent, um ihn zur Annahme ihrer zugleich ökonomischen und politischen Forderungen zu nötigen. Sie stürmten in den Sitzungssaal, übten Lynchjustiz an dem Abgeordneten Féraud, der sie aufhalten wollte, und pflanzten seinen Kopf auf eine Pike. Ihr zuvor plakatiertes Manifest, das der Schuhmacher Duval aus der Sektion Arsenal am 20. Mai im Konvent vortrug, gibt sich als unmittelbare Äußerung des souveränen Volkswillens in Gesetzesform: „Le peuple considérant que le gouvernement le fait mourir inhumainement de faim; que les promesses qu'il ne cesse de répéter sont rompeuses et mensongères; [...] Considérant que l'insurrection est pour le peuple et pour chaque portion d'un peuple opprimé le plus sacré des droits, le plus indispensable des devoirs, un besoin de première nécessité; [...] Le peuple arrête ce qui suit: Art.Ier. Aujourd'hui, sans plus tarder, les citoyens et les citoyennes de Paris se porteront en masse à la Convention nationale pour lui demander: I o Du pain; 2° L'abolition du gouvernement révolutionnaire dont chaque faction abusa pour ruiner, pour affamer et pour asservir le peuple: 3° Pour demander à la Convention nationale la proclamation et l'établissement, sur-lechamp, de la Constitution démocratique de 1793 [...]; 6° La convocation des assemblées primaires au 25 prairial prochain, pour le renouvellement de toutes les autorités [...]. VI. [...] Tout pouvoir non émané du peuple est suspendu. [...]
X. Le mot de ralliement du peuple est: Du pain et la constitution démocratique de 1793. Quiconque, durant l'insurrection, ne portera point ce mot de ralliement écrit à la craie sur son chapeau, sera regardé comme affameur public et comme ennemie de la liberté. [...]."
Konvent und Regierung reagierten mit eisigem Schweigen, mit der Mobilisierung von Militär und mit harter Repression: Verhaftung von 1 200 Sansculotten, standrechtliche Verurteilung von 36 Aufständischen zum Tode, Ausschluss armer Bürger aus der Nationalgarde, Auflösung der letzten Volksgesellschaften.
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5
Näheres bei Richard Cobb/George Rudé, Le dernier mouvement populaire de la Révolution à Paris, Les journées de Germinal et de Prairial an III, in: RH 214 (1955), 250-281; sowie bei Kare D. Tonnesson, La défaite des Sans-culottes: mouvement populaire et réaction bourgeoise en l'an III, Oslo 1959. Vgl. das Manifest: Insurrection du peuple pour obtenir du pain et reconquérir ses droits, abgedr. in: Philippe-Joseph-Benjamin Buchez/P.-C. Roux (Hg.), Histoire de la Révolution française, ou journal des assemblées nationales, Bd. 36, Paris 1838, 315-318 (Hervorhebungen in der Quelle).
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Auf diese entscheidende militärisch-politische Niederlage der Sozialrevolutionären Volksbewegung ging eine zeitgenössische Radierung recht genau ein (Abb.l). Sinnfällig argumentiert sie mit dem beliebten Vorher-nachher-Schema. Hatten in den Jahren zuvor pro-revolutionäre Bildflugblätter die Entmachtung der Privilegierten gefeiert, indem sie etwa den fetten Abbé des Ancien Régime mit dem abgemagerten Priester des Nouveau Régime kontrastierten, 6 so kehrt unsere Karikatur diese Waffe nun gegen die unterlegenen Revolutionäre selbst. Mit seiner .populären', groben Bildsprache passt sich das Blatt dem Gegenstand an. In Übereinstimmung mit anderen - zumal englischen 7 - Bildsatiren der Zeit verhöhnt es die Aufständischen des Prairial stereotyp als primitive, abgemagerte und zerlumpte Gestalten aus der Hefe des Volkes. Unmittelbar prangert das Feindbild die Sansculotten an, doch laut Unterschrift zielt es auch auf „den Jakobiner", also den radikalen Revolutionär überhaupt. Trotz ihrer holzschnittartigen Schlichtheit geht die kolorierte Karikatur recht genau auf die oben skizzierte Machtverschiebung ein. Auf der linken Seite steht ,£)er Jakobiner des 1. Prairial" mit seiner großspurigen, selbstbewussten Körpersprache für die machtvolle Massendemonstration am Beginn der journées révolutionnaires. Auf seinem Hut trägt er - verballhornt - die Losung des zitierten Manifests (Art. X), welche die Aufständischen auch auf ihre Fahne geschrieben hatten: „du Pint [Pain et la] Constitution de 93". Und mit der hochgestellten, über den Bildrand ragenden Pike, der symbolischen Waffe des Sansculotten, demonstriert er Kampfbereitschaft. Doch wie wirkungsvoll diese .Anmaßungen' unterdrückt wurden, zeigt sein Erscheinungsbild drei Tage später auf der rechten Seite des Blattes. Aus dem energisch ausschreitenden, herausfordernd blickenden und auf seinem Willen beharrenden Milizionär ist ein armseliger Tropf geworden geworden, der sich ängstlich zusammenkrümmt, den Hut mit gesenktem Blick fast flehend in den Händen dreht, die Pike verzagt zu Boden senkt und sogar versucht, seine zerlumpte Kleidung ,in Ordnung' zu bringen. Von einem so gründlich disziplinierten Sansculotten ist ganz offensichtlich keine Sozialrevolution mehr zu befürchten. Wurden Revolutionsniederlagen von den Siegern mit Spottbildern gefeiert, so provozierten sie auf der Seite der Besiegten anklagende Karikaturen. Ein Beispiel aus der Zeit des juste milieu mag das belegen. Es führt uns in die frühen 1830er Jahre, als republikanische Intellektuelle und aktive Teile der entstehenden Arbeiterschaft sich vergeblich gegen die Halbheiten der Julirevolution und gegen Einschränkungen der freiheitlichen Errungenschaften der trois glorieuses erhoben.
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Zwei Beispiele von vielen bei Klaus Herding/Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989, 64-65 und 107.
7
David Bindman, Sans-Culottes and Swinish Multitude, The British image of the Revolutionary crowd, in: Christian Beutler u. a. (Hg.), Kunst um 1800 und die Folgen, Werner Hofmann zu Ehren, München 1988, 87-94.
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Nach dem spontanen Pariser Arbeiteraufstand vom 5. und 6. Juni 1830, den Armee und Nationalgarde unter schweren eigenen Verlusten vereint niederschlugen, hatten die Aufständischen etwa 300 Tote und Verwundete sowie 261 Inhaftierte zu beklagen. Von letzteren wurden in einem Massenprozess elf zum Tode und 77 zu anderen schweren Strafen verurteilt.8 Schon vor Abschluss der Prozesse verkündete Innenminister Guizot am 16. Februar 1832 in der Pairskammer die Niederlage der wiedererwachten revolutionären Bewegung: „Les émeutes sont mortes, les clubs sont morts, la propagande révolutionnaire est morte; l'esprit révolutionnaire, cet esprit de guerre aveugle, qui semblait s'être emparé un moment de la nation, est mort. L'esprit de paix domine à sa place aujourd'hui dans la société toute entière."
Dem widersprach zwei Monate später eine Satire des oppositionellen Bildjournals La Caricature. Wo Guizot sozialen Frieden zu sehen meint, konstatiert der Lithograph Desperret (Abb. 2) brutale Unterdrückung und Friedhofsstille. Thront König Louis-Philippe doch als Kerkermeister mit Schlüsselbund gleich einem Goliath auf den puppenhauskleinen Käfigen, in denen die mit Jakobinermützen bekleideten Revolutionäre des Juniaufstands auf ihren Prozess warten. Schilder an den beiden unteren Käfigen nennen zutreffend die einschlägigen Pariser Gefängnisse: links - in Rot - Sainte-Pélagie für die republikanischen Regimegegner, wo aus anderem Anlass auch Daumier und Philipon, der Herausgeber der Caricature, zeitweise einsaßen; rechts - in Braun gehalten - das mehr den Karlisten und Radikalrevolutionären reservierte Gefängnis La Force, wo ein Häftling gerade trotzig die Devise „Vive la Liber[té]" an die Wand schreibt. Dagegen verweist der obere Käfig in bourbonischem Weiß auf die Zitadelle von Blaye, wo die Schwiegertochter des gestürzten Charles X., die Herzogin von Berry, nach einem gescheiterten Staatsstreich gegen die Julimonarchie inhaftiert war.10 Das Bild wirkt so anklagend, weil es Louis-Philippe, ohne sein Gesicht offen zu zeigen, unmissverständlich des Missbrauchs seiner Übermacht und des Verrats an eben der revolutionären Bewegung anklagt, welcher er sein Königtum verdankte. Dass bittere Karikaturen auf Revolutionsniederlagen die Sicht nicht nur der Besiegten, sondern auch der Sieger ausdrücken konnten, belegt schließlich ein Bildflugblatt zum Ende der Pariser Kommune am 28. Mai 1871, als das neue Comité de Salut Public nach blutigen Barrikaden- und Häuserkämpfen unter der Übermacht der Armee von Versailles endgültig zusammenbrach. Die mit dem Pseudonym Marcia signierte Lithographie von Renaux (Abb. 3) sucht die Ereignisse zu verarbeiten, indem sie deren 8
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Zum geschichtlichen Hintergrund Jean Lucas-Dubreton, La Grande peur de 1832 (le choléra et l'émeute), Paris 1832; Michel Löwy/Robert Sayre, L'insurrection des Misérables, Romanticisme et révolution en juin 1832, Paris 1992. Zitiert nach Thomas Bouchet, Le roi et les barricades, Une histoire des 5 et 6 juin 1832, Paris 2000, 109. Diese Angaben nach Susanne Bosch-Abele, La Caricature (1830-1835), Katalog und Kommentar, Bd. 1, Weimar 1997, 382f.
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Grausamkeit und Tragik ins Zeichenhafte entrückt. 11 Die gespenstige Totengestalt der Commune erscheint ambivalent, sie hat eine allegorische und eine revolutionsspezifische Bedeutung. Wie sie da vor schwarzem Hintergrund mit wehendem Leichenhemd, roter Fahne und Brandfackel auf ihrer Schindmähre davonsprengt, erscheint sie als Reinkarnation der Apokalyptischen Reiter. Zugleich erinnert sie aber auch an jenen „geheimnisvollen Fahnenträger", der 1832 mit seinem plötzlichen Auftritt den Pariser Juniaufstand ausgelöst hatte. 12 Der Zeitzeuge Heinrich Heine beschrieb ihn als „eine unheimliche Figur [...] auf einem großen schwarzen Klepper", weit sichtbar eine schwarz umrandete rote Fahne mit aufgesteckter Jakobinermütze tragend: „ein langer, magerer Mensch [...] mit einem langen Leichengesicht, starren Augen, geschlossenem Munde [...]."13 Wie Alexandre Dumas noch 1850 in seinen Memoiren bestätigte, wurde diese Figur bei der Pariser Massendemonstration am 5. Juni augenblicklich als Verkörperung der radikalen Revolution und aller ihrer Bluttaten verstanden: „cet homme, c'était le spectre de la première République; c'était 93 évoqué tout sanglant de la place de la Révolution; c'était le 10 août; c'étaient les 2 et 3 septembre; c'était le 21 janvier."
Die Übereinstimmungen dieser Schilderungen mit Rénaux' Darstellung der Commune fallen so sehr ins Auge, dass eine gezielte Anspielung nahe liegt. Soweit also in dem Blatt von 1871 die Erinnerung an die Symbolgestalt von 1832 mitschwingt, besiegelt Renaux' Lithographie mit der Niederlage der Pariser Kommune die der französischen Revolutionstradition überhaupt.
2. Märtyrerbilder der Revolution „Auch Niederlagen können zu zentralen historischen Bezugspunkten werden, vorausgesetzt, dass sie in eine martyrologische Erzählung des tragischen Helden integriert werden. Niederlagen werden dort mit großem Pathos und zeremonialem Aufwand kommemoriert, wo eine Nation ihre Identität auf ein Opferbewußtsein gründet, wo die Erinnerung an erlittenes Unrecht wachgehalten werden muß, um Ansprüche zu legitimieren und heroische Gegenwehr zu mobilisieren."
Diese Thesen Aleida Assmanns 15 werden durch die französische Druckgraphik zu Revolutionsniederlagen voll und ganz bestätigt, nur dass es hier nicht nur um nationale, 11
12 13 14 15
Ich folge hier der Interpretation von Raimund Rütten, in: ders. (Hg.), Die Karikatur zwischen Republik und Zensur, Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880 - eine Sprache des Widerstands? Marburg 1991, 457-458. Deinet, Die mimetische Revolution, 145-150. Heinrich Heine, Brief vom 7. Juni 1832, zit. nach Deinet, Die mimetische Revolution, 147. Zttiert nach Löwy/Sayre, L'insurrection des Misérables, 108. Aleida Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses, in: EWE 13 (2002), 183-190, hier 187.
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sondern auch um revolutionspolitische Identität geht. Gemeint sind zum einen heroisierende Ereignisstiche (siehe unten), zum anderen Kultbilder zur Erinnerung an Revolutionsmärtyrer. Was zunächst solche Märtyrerbilder betrifft, bietet der ,Fall Lepeletier' ein frühes und markantes Beispiel. Als der Montagnard Michel Lepeletier de Saint-Fargeau am 20. Januar 1793 von einem Royalisten erstochen wurde, weil er am Vortag im Konvent für die Hinrichtung Ludwigs XVI. gestimmt hatte, erregte dies revolutionäre Todesopfer die Gemüter aufs Äußerste und veranlasste den Konvent augenblicklich, den Ermordeten als revolutionären „martyr de la liberté" zu feiern. „Quel est donc le monstrueux pouvoir de la royauté, si, du fond des sa prison et de son agonie même, elle immolait encore les fondateurs de la République?" rief der Abgeordnete Marie-Joseph Chénier empört aus, und entwickelte im Namen des Comité d'instruction publique bereits nach zwei Tagen den Plan einer triumphalen Trauerfeier, die Augen und Ohren der Öffentlichkeit ansprechen sollte: „Que la superstition s'abaisse devant la religion de la liberté; que des images vraiment saintes, vraiment solennelles, parlent aux coeurs attendris; que le corps de notre vertueux collègue, découvert à tous les yeux, laisse voir la blessure mortelle qui a reçue pour la cause du peuple. [...] Le génie de David animera ces faibles esquisses, tandis que le génie de Gossec fera retentir les sons de cette harmonie lugubre et touchante qui caractérise une mort triomphale." 16
Die dementsprechend durchgeführten Feierlichkeiten des 24. Januar begannen auf der Place des Piques, vormals Place Vendôme. Dort diente der Sockel des gestürzten Reiterstandbilds Ludwigs XIV. als Kern einer aufwändigen Aufbahrung des Toten nach Plänen von Jacques-Louis David. Ihre ephemeren Teile haben sich nicht erhalten, sind aber in den zeitgenössischen Printmedien mehrfach überliefert. So illustrierte die Wochenzeitung Révolutions de Paris ihren ausführlichen Festbericht17 mit einer Radierung (Abb. 4), die von einem fliegenden Bildblatt18 bestätigt wird; und die Tageszeitung von Gorsas lieferte dazu eine besonders genaue Beschreibung - von den brennenden Weihrauchschalen und den letzten Worten Lepeletiers auf dem Denkmalsockel19 über die zum Défilé errichteten Treppen und die Bekränzung des Toten durch den Präsidenten des Konvents bis hin zum Totenbett: „Teile étoit la disposition du lit mortuaire: le pourtour des soubassemens étoit noir, parsemé de larmes; la partie supérieure du lit étoit relevée, & laissoit voir à découvert la blessure de Michel Lepelletier, dont la tête étoit posée sur un oreiller, dans l'attitude à peu près où il a expiré.
16
Archives parlementaires de 1787 à 1860, Première Série (1787 à 1799), Bd. 57, Paris 1900, 542.
17
Funérailles de Michel le Pelletier, in: Révolutions de Paris, n° 185 (19.-26. Januar 1793), 224-29. Vgl. die Aquatinta von L.-J. Allais, Exposition du corps de L. Michel Lepelletier sur le piedestal de la ci-devant statue de Louis XIV place des Piques le 2 4 Janvier 1793, Paris 1793 (Paris, BnF, Estampes, Coll. De Vinck, n° 5025). Die Inschrift lautet: „Je meurs satisfait / De répandre mon sang pour la Patrie; / Et j'espere que ma mort servira / A consolider la Liberté & l'Egalité."
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Derrière l'oreiller s'élevoit un ciprés. Pour rendre le spectacle plus pittoresque, l'on avoit placé sur le lit le fer que l'homicide avoit laissé dans la blessure, & que l'on avoit teint de sang frais."20 Der anschließend an diese Schaustellung ins Pantheon überführte Lepeletier, dessen 21
landesweite Verehrung eine Fülle von Grafiken, Gedenkfeiern und Büsten bezeugt, kann noch vor Davids Tod des Marat22 als das Modell der revolutionären Pietà gelten; zumal das Bild seines Leichnams über die Verbreitung im Druck noch prägender wirkte. Dazu trug ein für den Sitzungssaal des Konvents bestimmtes Werk von David selbst bei. 2 3 Es ist verschollen, aber durch einen Reproduktionsstich seines Schülers Anatole D e v o s g e überliefert (Abb. 5). Deutlicher als die vorgenannten Bilder zeigt das 1793 im Salon ausgestellte Blatt den aufgebahrten Helden: Mit seinem gestreckten Brustkorb, seinem zurückgelegten Haupt und seiner klaffenden Wunde erinnert er sowohl an antike Vorbilder 24 wie auch an Jesus nach der Kreuzabnahme, während das an einem seidenen Faden über ihm hängende Schwert (auf dem Stich nur angedeutet 25 ) nach Aussage des Künstlers auf die revolutionäre Krisensituation der Gegenwart verweist: „Voyez-vous cette épée qui est suspendue sur sa tête, et qui n'est retenue que par un cheveu? [...] cela veut dire quel courage il a fallu à Michel Le Peletier, ainsi qu'à ses généreux collègues, pour envoyer au supplice l'infâme tyran qui nous opprimait depuis si longtems, puisqu'au moindre mouvement, ce cheveu rompu, ils étaient tous inhumainement immolés."26 Antikische Heldendarstellung, christlich-ikonographische Tradition und revolutionäre Opferbereitschaft verbinden sich hier zu einem politischen Andachtsbild neuer Art, das den Märtyrertod zum Unterpfand des künftigen Sieges des Revolution stilisiert und sublimiert. Daran konnte Honoré Daumier anknüpfen, als er 1834 der Verbitterung der Republikaner über eine erneute Revolutionsniederlage Ausdruck verlieh. Angefeuert von der Société des Droits de l'homme, hatten republikanische Aktivisten in den Pariser Arbei-
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Le Courrier des départemens (3e série), n° 26 (26. Januar 1793), 401-406, hier 402. Allein die Sammlung De Vinck im Département des Estampes der Pariser Nationalbibliothek enthält über 40 Blätter (Bd. 30, Nr. 5018-5062) Jörg Traeger, Der Tod des Marat: Revolution des Menschenbildes, München 1986; Klaus Herding, Im Zeichen der Aufklärung, Studien zur Moderne, Frankfurt a. M. 1989, 71-94. Zum größeren Zusammenhang v. a. Thomas Crow, L'atelier de David: Emulation et Révolution, Paris 1995, 173-204. Vgl. u. a. die Darstellung Hektors in Davids klassizistischem Gemälde La Douleur d'Andromaque von 1783, dokumentiert bei Simon Lee, David, Paris 2002, 56f. Die vollständigere lasierte Vorzeichnung von Devosge befindet sich im Musée des Beaux-Arts von Dijon und ist reproduziert bei Jean-François Heim/Claire Béraud/Philippe Heim, Les Salons de peinture de la Révolution française, 1789-1799, Paris 1989, 187. Erklärung Davids bei der Übergabe seines Gemäldes im Konvent am 29. März 1793, zit. nach Daniel und Guy Wildenstein, Documents complémentaires au catalogue de l'Oeuvre de J.-L. David, Paris 1973, 50, Nr. 427.
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tervierteln Marais und Montorgueil am 13. April 1 8 3 4 dreißig Barrikaden errichtet, um den Kampf der aufständischen canuts
in Lyon zu unterstützen, waren aber bereits tags
darauf von der militärischen Übermacht auseinandergejagt worden. Dabei hatten Soldaten des 35. Regiments, die sich aus dem Hinterhalt angegriffen fühlten, in der rue Transnonain alle 19 Einwohner eines Hauses, lauter Arbeiter und Kleinbürger, getötet: 27 ein Massaker, das in der Presse und Bildpublizistik heftig diskutiert wurde. Während ein Ereignisbild schilderte, wie Soldaten eine Frau mit Säugling und einen wehrlosen Greis im Lehnstuhl mit blankem Bajonett niedermachen, 2 8 verarbeitete Daumier 2 9 das Geschehen zu einem berühmten Märtyrerbild (Abb. 6). V o n der Regierung sofort verboten und verfolgt, erregte die nicht in der Caricature,
sondern als letztes Blatt einer
Nebenserie veröffentlichte Lithographie um so größeres Aufsehen und veranlasste eine Reihe zeitgenössischer Kommentare - so von ihrem Verleger Charles Philipon 3 0 und noch eindringlicher - v o n Baudelaire: „À propos du lamentable massacre de la rue Transnonain, Daumier se montra vraiment grand artiste; le dessin est devenu assez rare, car il fut saisi et détruit. Ce n'est pas précisément de la caricature, c'est l'histoire, de la terrible et triviale réalité. - Dans une chambre pauvre et triste, la chambre traditionnelle du prolétaire, aux meubles banals et indispensables, le corps d'un ouvrier nu, en chemise et en bonnet de coton, gît sur le dos, tout de son long, les jambes et les bras écartés. Il y a eu sans doute dans la chambre une grande lutte et un grand tapage, car les chaises sont renversées, ainsi que la table de nuit et le pot de chambre. Sous le poids de son
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Vgl. als Quelle Auguste-Alexandre Ledru-Rollin, Mémoire sur les événements de la rue Transnonain dans les journées des 13 et 14 avril 1834, Paris 1834; siehe auch Philippe Vigier, Paris pendant la Monarchie de Juillet (1830-1848), Paris 1991,119-123. Daras, Une scène de la Rue Transnonain, Kreidelithographie, Paris 1834 (Paris BnF, Est., Coll. Hennin, n° 14542). Vgl. aus dem umfangreichen Daumier-Literatur insbesondere Rolf Zbinden/Juerg Albrecht, Honoré Daumier, Rue Transnonain, le 15 avril 1834; Ereignis, Zeugnis, Exempel, Frankfurt a. M. 1989; sowie dies., Honoré Daumiers „Rue Transnonain" - Das Ende der Überzeichnung, in: Rütten (Hg.), Die Karikatur zwischen Republik und Zensur, 131-143; Ségolène Le Men im Ausstellungskatalog: Daumier 1808-1879, Washington 1999, 177-178, Nr. 57. In: La Caricature, n° 204 vom 2. Oktober 1834 : „Cette Lithographie est horrible à voir, horrible comme l'action épouvantable qu'elle retrace. C'est un vieillard assassiné, une femme morte, un cadavre d'homme criblé de blessures qui gît sur le corps d'un pauvre petit enfant dont le crâne est fendu. Ce n'est point une charge, c'est une page sanglante de notre histoire moderne, page tracée par une main vigoureuse et dictée par une noble indignitation. Daumier, dans ce dessin, s'est élevé à une grande hauteur, il a fait un tableau qui, pour être peint en noir et sur une feuille de papier, n'en sera ni moins estimable ni moins durable. La boucherie de la rue Transnonain sera pour ceux qui l'ont soufferte une tache ineffaçable, et le dessin que nous citons sera la médaille frappée dans le temps pour perpétuer ce souvenir de la victoire remportée sur quatorze vieillards, femmes ou enfants."
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cadavre, le père écrase entre son dos et le carreau le cadavre de son petit enfant. Dans cette mansarde froide il n'y a rien que le silence de la mort."31
In der Tat handelt es sich nicht mehr um einen feierlich aufgebahrten edlen Helden wie bei David, sondern um den Leichnam eines Proletariers, der vor seinem Bett auf dem nackten Boden liegt und in seiner Kreatürlichkeit verstärkt an religiöse Vorbilder gemahnt: „Die Züge des Leidens auf dem toten Antlitz, die Neigung des Kopfes, die hilflos gespreizten Beine und die ausdruckssteigernde perspektivische Verkürzung erinnern an Märtyrer- und Christusdarstellungen von Rubens, zum Beispiel an die 1614 gemalte Pietà [...], deren Tradition sich wiederum bis auf Mantegnas toten Christus zurückverfolgen läßt [...]. Wie bei Rubens verklärt ein heller Schein den Leichnam, rückt ihn jedoch zugleich anklägerisch ins Licht. Daumier säkularisiert die überkommene christliche Gestaltungsweise des toten Christus in einer Art ,Umkehrungsaneignung', nutzt sie als würdesteigernde Ausdrucksform, um im Namen der Humanität und des Rechts der Unterdrückten zu protestieren."32
Und Daumier bestätigte diese .Demokratisierung' des revolutionären Freiheitsmärtyrers zur proletarischen Pietà, indem er angesichts der Verhaftung zahlreicher Mitglieder der Arbeitervereine und der republikanischen Gesellschaften die symbolträchtige Gefängnisszene des Moderne Galilée33 schuf.
3. Heroisierende Ereignisbilder oder der Mythos des Vengeur34 Nicht allein in Gestalt ihrer namenlosen Opfer, auch als militärisches Ereignis verlangt die Revolutionsniederlage nach bildlicher Verarbeitung. Welch große und nachhaltige Bedeutung dabei ein eher marginaler Vorfall gewinnen kann, zeigt der Untergang eines französischen Schlachtschiffs, der in den Medien größere Berühmtheit erlangte als der fast gleichzeitige Sieg der französischen Revolutionstruppen bei Fleurus. Am 1. Juni 1794 versenkte die englische Kriegsflotte unter Admiral Howe im Ärmelkanal das französische Schlachtschiff Le Vengeur, das den Auftrag hatte, den Hafen 31
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Charles Baudelaire, Quelques caricaturistes français (l.Okt. 1857), in: ders., Curiosités esthetiques, L'art romantique et autres œuvres critiques, hg. von Henri Lemaitre, Paris 1952, 265-289, hier 275. So Friedrich Gross in dem Ausstellungskatalog von Werner Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983, 570, Nr. 441. Kreidelithographie, in: La Caricature, n° 209 (6. November 1834), Taf. 436. Für den größeren Zusammenhang stütze ich mich vor allem auf Thierry Roquincourt, Le Mythe du Vengeur, in: Michel Vovelle/Raymonde Monnier (Hg.), Révolution et République, L'exception française, Paris 1994, 479-495; siehe auch Georges Bordonove, Les marins de l'an II, Paris 1974, 242-254 und 281-299. Darüber hinaus danke ich Raimund Rütten und Herbert Schneider für wertvolle Hinweise.
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von Brest für einen Lebensmitteltransport aus Übersee freizuhalten. Die Revolutionsregierung wusste diesen Verlust über einen Monat lang vor der Öffentlichkeit zu verbergen, bis der wortgewaltigste Redner des Wohlfahrtsausschusses, Bertrand Barère, die militärische Niederlage in einen Sieg der „vertus républicaines" über den englischen Krämergeist umdeutete. „Citoyens", rief er am 9. Juli den Abgeordneten im Konvent zu, „le Comité [de salut public] m'a chargé de faire connaître à la Convention des traits sublimes qui ne peuvent être ignorés d'elle ni du peuple français." Während Barère nun die überlegenen Manöver und Kanonensalven der Engländer nur knapp erwähnte und verschwieg, dass über die Hälfte der französischen Besatzung gerettet worden war, stilisierte er die sang- und klanglose Versenkung des Schiffs 35 zu einem patriotischen Fest, zum erhabenen Untergang der gesamten Mannschaft, die sich lieber für die Republik opfert, als vor den „elenden Sklaven von Pitt und George" zu kapitulieren: „Une sorte de philosophie guerrière avait saisi tout l'équipage [...]. Une résolution ferme a succédé à la chaleur du combat [...]. Tous les pavillons, toutes les flammes sont arborés; les cris de vive la République! vive la liberté de la France! se font entendre de tous côtés; c'est le spectacle touchant et animé d'une fête civique plutôt que le moment terrible d'un naufrage."
In dem Begeisterungstaumel, den diese rhetorische Carmagnole bei den Abgeordneten auslöste, beschloss der Konvent, dass eine Nachbildung des Vengeur mit den Namen seiner Mannschaft in der Kuppel des Pantheons aufgehängt werden und ein neues Schlachtschiff seinen Namen tragen sollte. Das Dekret gipfelte in dem Aufruf: „La Convention nationale appelle les artistes, peintres, sculpteurs et poètes, à concourir pour transmettre à la postérité le trait sublime du dévouement républicain des citoyens formant l'équipage du Vengeur, il sera décerné, dans une fête nationale, des récompenses aux peintres et aux poètes qui auront le plus dignement célébré la gloire de ces républicains."36 37
Obwohl die meisten dieser Beschlüsse nicht zur Ausführung kamen, begründete Bareres Rede einen langlebigen Revolutionsmythos. In Einzeldrucken und in der Presse vieltausendfach verbreitet, provozierte sie in Frankreich nicht nur über fünfzig patriotische Adressen, die im Konvent vorgetragen wurden, sowie eine ungewöhnliche Fülle 38 von Gedichten und Liedern, die mit Vorliebe das Attribut héroïque im Titel führten, sondern auch zahlreiche bildliche Darstellungen. Neben einigen anonymen Gemälden
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38
Das belegt insbesondere des Protokoll des Kapitäns Renaudin und seiner Offiziere vom 20. Juni 1794, abgedruckt bei Bordonove, Les marins de l'an II, 327-331. Archives parlementaires, Ire Série, Bd. 93, Paris 1982, 19-20. Weder fand ein offizielles Nationalfest statt (nur eine spontane lokale Feier am 4. August in Lormont) noch wurde eine Nachbildung des Vengeur aus Elfenbein im Panthéon aufgehängt; ein neues Kriegsschiff wurde erst 1803 Le Vengeur getauft und bereits 1805 in L'Impérial umbenannt. Näheres demnächst bei Herbert Schneider, Le mythe du vaisseau Le Vengeur de 1794 à 1951: textes - images - musique, in: Rolf Reichardt (Hg.), L'imaginaire de la Révolution française: médialités et interculturalité, Paris 2004 (in Vorbereitung).
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und Zeichnungen 3 9 variierte bis 1800 ein gutes Dutzend Blätter 40 die meist gleich bleibende Szene: in der Mitte, seiner Segeln und Masten beraubt, der sinkende
Vengeur;
umzingelt von der englischen Flotte und ihren Kanonensalven. D a s diesen .Seestücken' zugedachte Revolutionspathos kommt jedoch nur ganz zum Ausdruck, wenn die Darstellung w i e in dem erfolgreichen Stichwerk Tableaux 41
française
historiques
de la
Révolution
von Texten verdeutlicht wird. Der vierseitige Begleittext von François-Xa-
vier Pagès zu dem 99. Tableau
von Ozanne und Le Gouaz (Abb. 7), das auch als noch
großformatigeres Einzelblatt 4 2 verbreitet wurde, schildert zwar drastisch die militärisch aussichtslose Lage der Mannschaft des Vengeur
- aber nur, um wie Barère in seiner
Rede ihren Untergang desto emphatischer zu einem Fest mit republikanischen Fahnen und patriotischen Hochrufen zu stilisieren: „[...] tous montent ou sont portés sur le pont; tous les pavillons, toutes les flammes sont arborés: le pavillon principal est doué : les cris de Vive la république, vivent la Liberté et la France, se font entendre de tous côtés ; c'est le spectacle touchant et animé d'une fête civique, plutôt que le terrible moment d'un naufrage assuré. Nos héros ne délibèrent plus ; ils voient l'Anglais et la patrie, les fers ou la mort la plus honorable ; ils ne balancent point. Ils refusent de se rendre [...] et disparaissent engloutis dans l'abyme des flots." Zwei Blätter begannen jedoch damit, diese verbale Heroisierung zu visualisieren. Bereits um 1 7 9 4 imaginierte der Zeichner und Maler Louis Lafitte 44 ein Bild, das alles Schlachtengetümmel beiseite lässt und sich ganz auf eine Schlüsselszene konzentriert 39
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L'équipage du Vengeur coule au large de Brest (Versailles, Musée du Château), abgebildet bei Michel Vovelle, La Révolution française: images et récit, Bd. IV, Paris 1986, 130; La submersion du vaisseau Le Vengeur (Paris, Musée Carnavalet) und Position du vaisseau Le Vengeur, rasé comme ponton, au moment de son évacuation (Paris, Bibliothek des Musée de la Marine), beides abgeb. bei Bordonove, Les marins de l'an II, nach 161; s.a. ebenda die Zeichnung eines Augenzeugen: Délabrement du Vengeur, dans l'action du 1 Juin. Vgl. insbesondere die Sammlung Histoire de France im Kupferstichkabinett der Pariser Nationalbibliothek: Qbl, 1794 Janvier-Juin, Clichés M 102828-102830, M 102832-835, M 102837 und M 102839. Verschollen sind sowohl zwei Stiche, die ein gewisser Dumoulin aus Vevey und ein „citoyen Gazin" im Dezember 1794 bzw. im März 1795 an den Erziehungsausschuss des Konvents schickten (vgl. Roquincourt, 486), als auch zwei andere Blätter, die ein gewisser Pierre Joseph Vallaert und der Marinemaler Jean-Jacques-François Taurel (Fin héroïque de l'équipage du vaisseau le Vengeur) 1795 im Salon ausstellten. Vgl. Heim/Béraud/Heim, Les Salons de peinture de la Révolution, 355 und 364. Christoph Danelzik-Brüggemenn/Rolf Reichardt (Hg.), Bildgedächtnis eines welthistorischen Ereignisses, Die Tableaux historiques de la Révolution française, Göttingen 2001; Alain Chevalier/Claudette Hould (Hg.), La Révolution par la gravure: les Tableaux historiques de la Révolution française, une entreprise éditoriale d'information et sa diffusion en Europe (17911817), Paris 2002. Combat du Vengeur..., Paris: Le Gouaz [ca. 1800], Paris BnF, Est., Coll. Hennin, n° 11888. Zitiert nach der 4. Ausgabe: Tableaux historiques de la Révolutions française, Bd. II, Paris 1804, 399. Siehe auch Lafittes titellose Gouache zu demselben Thema, in: Paris, BnF, Est., Coli. Hennin, n° 11889.
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(Abb. 8). Auf dem sinkenden Schiff sammelt sich der Rest der Besatzung um einen Anführer; mit ausgestreckten Armen und trotzig emporgereckten Freiheitsmützen bekräftigen die Männer trotzig die Losung der radikalen Revolution auf dem sich neigenden Hauptmast: „La Liberté ou la mort". Vor dem Schriftzug „LE VENGEUR" am Bug des Schiffes wirken diese namenlosen Helden wie ein lebendiges Denkmal. Eine populärere, etwas spätere Darstellung45 blieb zwar bildsprachlich hinter Lafittes Expressivität zurück, stellte aber wie er die jubelnd untergehende Besatzung ins Zentrum und führte zugleich drei heroisierende Bildelemente genauer aus: das Hissen der Trikolore, das begeisterte Hochwerfen der Mützen und den Hochruf auf die Nation. Damit war für das 19. Jahrhundert eine doppelte Bildtradition des Vengeur-My\hos begründet, die sich mit der wieder auflebenden Revolutionserinnerung in den 1830er Jahren entwickelte. Ihren einen Strang bilden großformatige Ereignisdarstellungen der populären Druckgraphik. Sie erweiterten das Visuelle um eine auditive Dimension.46 So beschränkt sich um 1832 ein kolorierter Holzschnitt der Bilderfabrik von Pellerin in Epinal (Abb. 9) nicht darauf, die vorgenannte Szene in das Panorama einer Seeschlacht einzufügen, sondern geht so weit, Freiräume unter Wasser zu imaginieren, in denen die republikanischen Helden noch beim Ertrinken die Marseillaise gesungen hätten. Und auf einem Lyoner Kolportageblatt (Abb. 10) wird das dramatische Bild vom Untergang des Vengeur von neuen Versen des beliebten Protestsängers Charles Gille besungen, welche an die noch immer nicht eingelösten Versprechen des Konventsdekrets von 1794 erinnern: „Au Panthéon, sublime ouvrage, Un jour le peuple souverain En or gravera sur l'airain Tous les noms de son équipage. Son modèle, exemple d'honneur, Sera placé sous le portique. Car les fils de la République S'embrassaient sur le Vengeur."
Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts malte die Imagerie d'Epinal diese Tradition weiter aus, indem sie zum Panorama einer Seeschlacht mehrere Einzelszenen hinzufabulierte und das Ganze einrahmte mit einem Ereignisbericht und einem Revolutionslied von Rouget de Γ Isle (Abb. 11). Komplementär dazu führte der andere, künstlerisch anspruchsvollere Bildstrang die symbolträchtige Darstellungsweise eines Lafitte weiter. Schilderte um 1833 eine kolorierte Lithographie der Weißenburger Manufaktur Wentzel47 noch mit etwas steifem 45
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Combat du Va". Le Vengeur, anonyme Radierung, zwischen 1795 und 1815 (Paris, BnF, Est., Qb 1, janvier-juin 1794, Cliché M 103833). Näheres bei Schneider, Le mythe du vaisseau Le Vengeur de 1794 à 1951. Le Vengeur - Episode de Guerre de la République 1794. Kolorierte Lithographie, Wissembourg: Wentzel [1833], (Paris, Musée des Arts et Traditions Populaires, Inv.-Nr. 70.136.6 C.).
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Pathos,48 wie die Mannschaft des Vengeur lieber mit fliegenden Fahnen und dem Ruf „Vive la France! Vive la République!" untergegangen sei, als sich den Engländern zu ergeben, so nahm sich die gleiche Szene etwa fünf Jahre später in einem Pariser Blatt viel bewegter und dramatischer aus (Abb. 12). Den Mund zum Hochruf auf die Republik weit aufgerissen, die Arme begeistert ausgestreckt oder erschrocken verkrampft, richten die Helden des Vengeur ihren Blick teils starr, teils hoffnungsvoll auf eine für den Betrachter unsichtbare Erscheinung, als würden sie von ihr - so oder so - die Erlösung erwarten. Der anonyme Künstler dürfte diese gesteigerte Ausdruckskraft nicht zuletzt durch die kreative Adaption des berühmten Gemäldes Le Radeau de Méduse (1819) von Théodore Géricault erreicht haben, dem ein halbes Dutzend Reproduktionsstiche49 außergewöhnlich große Bekanntheit verschafft hatte: darunter ein in Paris nachgedrucktes und 1829 im Salon ausgestelltes Mezzotinto-Blatt des englischen Stechers Samuel William Reynolds (Abb. 13). Auch Géricaults Bild, das programmatische Werk einer neuartigen .Seelenmalerei', 50 gilt insofern einer Niederlage, als es auf einem notdürftig gezimmerten Floß die Restmannschaft des Flaggschiffs La Méduse in Szene setzt, das bei einer französischen Militärexpedition im Juli 1816 vor der Küste des Senegal gestrandet war.51 Abgesehen von dem Floß-Charakter des untergehenden Vengeur erscheint das Blatt von 1838 in dreifacher Hinsicht von Géricault inspiriert: Zum einen entspricht der von der ganzen Mannschaft allein zum Betrachter gewandte Revolutionär mit den angewinkelten Knien dem Sitzenden auf dem ,Heck' des MedusaFloßes, nur dass er nicht über die Niederlage nachsinnt, sondern sich den Todesstoß versetzen will. Zum anderen richten die Helden des Vengeur wie die der Méduse ihre Blicke und Bewegungen mit größter Intensität auf ein fernes Ziel, das freilich nicht als rettendes Schiff am Horizont identifiziert wird, sondern rätselhaft bleibt. Vor allem aber gleichen sich beide Bilder im Aufbau einer bewegten Menschenpyramide, die beide Male in einem Erkennungszeichen gipfelt, sei es ein Tuch oder die Trikolore. Diese expressive Sichtweise erwies sich als prägend. Denn nach der 48er Revolution52 und der Pariser Kommune,53 die jede auf ihre Art den Vengewr-Mythos weiter 48
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Ähnlich, wenn auch skizzenhafter, eine Kreidelithographie nach Mouilleron: Héroïsme de l'équipage du Vaisseau Le Vengeur (4 Juin 1794), Paris: Impr. Petit et Bertauts [ca. 1841-45], Paris, BnF, Est., Qb 1 Juin 1794, Cliché M 102836. Bis 1829 insbesondere durch die Nachstiche von Reynolds, Villain, Normand, Willaeys, Motte und Langlois. Sie sind dokumentiert bei Germain Bazin, Théodore Géricault, Etude critique, documents et catalogue raisonné, t.VI: Génie et folie, Le Radeau de la Méduse et les Monomanes, Paris 1994, 46-49 (Abb. 27-31) und 79 (Abb. 43-44). Siehe auch Klaus Heinrich, Floß der Medusa, Drei Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang, Basel 1995. Werner Hofmann, Das entzweite Jahrhundert: Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995, 566-590. Zu diesem damals heftig diskutierten Skandal Georges Bordonove, Le Naufrage de la Méduse, Paris 1973. Am 9. Februar 1850 erhielten die sieben noch lebenden Matrosen und Kanoniere des Vengeur das Kreuz der Ehrenlegion. Daran erinnerte Jules Claréties Artikel „Le Vengeur" in der ersten Nummer der gleichnamigen Zeitung, die am 27. Februar 1870 in Nîmes und Avignon erschien
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pflegten, war sie es, die schließlich in dem Republik-Denkmal von Louis Morrice offizielle Geltung erlangte. Am 14. Juli 1883 in Paris auf der Place de la République eingeweiht, bot das Monument auf seinem Sockel eine „Histoire de la Liberté" in Form von zwölf Hochreliefs mit Schlüsselszenen der Französischen Revolution. Unter ihnen nimmt Le vaisseau le Vengeur54 einen prominenten Platz ein, in enger Nachbarschaft mit La Bataille de Valmy, einem anderen Mythos der Revolutionserinnerung. Die bildpublizistische Umdeutung der Kriegsniederlage zu einem Sieg hat sich in einem staatlichen Bronzerelief verewigt.
4. Musterbilder und Bildmuster Wenn die oben gesammelten Beispiele, wie ich hoffe, für die historisch-politische Druckgraphik Frankreichs und ihre intermediale Vernetzung mit zeitgenössischen Reden, Manifesten und Liedern in etwa repräsentativ sind, dann lassen sich bei der bildsprachlichen Verarbeitung von Revolutionsniederlagen in unserem Beobachtungszeitraum hauptsächlich drei allgemeine Grundformen unterscheiden: 1.
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Ereignisschilderungen. Sie sind nicht so schlicht und .chronistisch', wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn anstatt realistische Bildreportagen zu liefern, imaginieren sie in der Regel dramatisierende Darstellungen; und sobald sie sich über das Schlachtenpanorama hinaus um Ausdruckskraft bemühen, verdichten sie sich in symbolträchtigen Szenen mit der Tendenz zum Heldenbild. Märtyrerbilder. In ihnen verschmelzen Elemente der antikischen, der christlichen und der popularen Ikonographie zur politisierten Figur des sich für die Revolution opfernden Freiheitshelden. Obwohl dieser säkularisiert ist und im 19. Jahrhundert proletarische Züge annimmt, bewahrt er eine gewisse Sakralität. Mehr noch als Davids Le Peletier kann Daumiers Rue Transnonain gerade aufgrund der brutalen Kreatürlichkeit des toten Blusenmanns als politisches Andachtsbild gelten.
So gründete Félix Pyat die Zeitung Le Vengeur und eröffnete die Startnummer vom 30. März 1871 mit einem Leitartikel, der denselben Titel trug: „Le Vengeur reparaît avec la Révolution. Il a quitté son pavillon de deuil: c'est la victoire. - Plus de crêpe à son mat! Il arbore aujourd'hui les nouvelles couleurs, les vives couleurs de la Révolution triomphante, de la Commune révolutionnaire, de la garde nationale de Paris. Il arbore le drapeau rouge, symbole du martyre des peuples[...]" Abgebildet bei Marie-Claude Chaudonneret, Le Mythe de la Révolution, in: Philippe Bordes/Régis Michel (Hg.), „Aux armes & aux arts!" Les arts de la Révolution, 1789-1799, Paris 1988, 313-340, hier 339.
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Karikaturen. Sie setzen die bildsprachlichen Mittel der charakterisierenden Übertreibung keineswegs nur spottend gegen die besiegten Revolutionäre, sondern vielleicht noch mehr satirisch und anklagend gegen die Unterdrücker der revolutionären Bewegung ein. Dabei bevorzugen sie populäre, unmittelbar sinnfällige Schemata wie die Gegensätze groß und klein, vorher und nachher.
Alle drei Bildsorten weisen, was die Revolutionsniederlagen betrifft, zwei gemeinsame Charakteristika auf. Formgeschichtlich gesehen betreiben sie eine Revolutionserinnerung, die nicht nur allgemein die einschlägigen Themen weiterträgt, sondern zugleich eindrückliche Bilderinnerung ist, und zwar auf doppelte Weise: einmal, indem sie die Vor-Bilder der .Großen Revolution' aufgreift, um sie weiterzuverwenden und den späteren Umständen anzupassen; aber auch, indem sie die Bildidee bekannter Kunstwerke wie des Hercules Farnese oder des Floßes der Medusa adaptiert, um mit deren Aura mehr Eindrücklichkeit zu erzielen. Ja, wie im Fall des reitenden Commw/ie-Gespensts von 1871 kann sogar ein Bild zitiert werden, das nur in Form einer Ekphrasis vorliegt. Funktional gesehen verfolgen die besprochenen Bilder den Zweck, die im Kampf unterlegenen Revolutionäre einerseits zu verspotten, andererseits aber zu trösten, indem sie ihre Niederlage zum moralischen Sieg umdeuten und ihre Toten zu heldenhaften Märtyrern und Wegbereitern einer besseren Zukunft verklären. Demgemäß unterliegt die mediale Darstellung und Kommentierung von Revolutionsniederlagen einer dichotomischen Schwarz-Weiß-Malerei, je nachdem, ob sie Fremd- oder Selbstbilder der Revolution und ihrer Protagonisten zeichnet. Der Befund, dass letzteres in unserem Untersuchungsraum deutlich überwiegt, dürfte sich aus der bis 1871 weitgehend regimekritischen Grundhaltung der französischen Bildpublizistik erklären. Darüber hinaus ist eine europäische Perspektive zu berücksichtigen, denn unter anderen bildpublizistischen Rahmenbedingungen und teilweise mit anderer politischer Ausrichtung waren die in Frankreich beobachteten Grundmuster auch im englischen und besonders im deutschen Kulturraum geläufig. So wiederholt sich das satirische Vorhernachher-Schema nicht nur in einer Londoner Karikatur Thomas Rowlandsons55 auf die endgültige Niederlage Napoleons, des Erben der Revolution, sondern auch in den Metamorphosen des Deutschen Michel, die Ferdinand Schröder 1849 in den Düsseldorfer Monatsheften publizierte56 und die ein anonymes Blatt des Stuttgarter Eulenspiegel
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Boney turned moralist, kolorierte Radierung, London: Ackermann, 1. Mai 1814, dokumentiert in: Hans Peter Mathis (Hg.), Napoleon I. im Spiegel der Karikatur, Zürich 1998, Nr. 67, 268f. Die Mode dreier Jahre, in: Düsseldorfer Monatshefte 2 (1848/49), 369-371, dokumentiert in: Bernd Grote, Der deutsche Michel, Ein Beitrag zur publizistischen Bedeutung der Nationalfiguren, Dortmund 1967, 48-51; siehe auch Ulrike Ruttmann, Wunschbild - Schreckbild - Trugbild: Rezeption und Instrumentalisierung Frankreichs in der deutschen Revolution von 1848/49, Stuttgart 2001, 305-306 und Abb. 7a-7c.
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dann zeitlich raffte und bildsprachlich komprimierte.57 Ferner erlebte der wie aufgebahrt hingestreckte Märtyrer der niedergeschlagenen Revolution seine Reinkarnation in 58
der Gestalt Robert Blums und wurde von der Stichfolge Trost für 1849 zu einer namenlosen Figur verallgemeinert.59 Und die allegorische Figur des Apokalyptischen Reiters von 1871 begegnet auch in Alfred Rethels bekannter Holzschnittfolge60 auf die deutsche Revolution von 1848/49 und gehört überhaupt zum festen Repertoire der medialen Verarbeitung von Kriegserfahrungen.61 Doch im Einzelnen zu klären, welchen Anteil französische Einflüsse an dieser transnationalen Bildsprache hatten und welche Rolle die ältere ikonographische Tradition dabei spielt, bleibt weiteren Forschungen vorbehalten.
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Eulenspiegel Nr. 13 (24. März 1849), 51. Vgl. insbesondere die anonyme Mannheimer Lithographie: Der tote Robert Blum mit Siegesengel, dokumentiert in dem Austellungskatalog: 1848/49 - Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, Nr. 360, 268/270. Johann Heinrich Schulz, Trost für 1849, Düsseldorf 1850, bes. das letzte Blatt der vierteiligen Folge: Begnadigt zu Pulver und Blei, dokumentiert bei Yasmin Doosry/Rainer Schoch (Hg.), Das Europa der Bilder, Bd. II: Michels März, Nürnberg 1998, 145, 144-145. Unter der Titelvariante Trost für 1848 und 49 wurde diese Serie von den Leipziger Spitzkugeln (Nr. 1, 1850, 1-7) seitenverkehrt kopiert. Alfred Rethel, Ein Totentanz aus dem Jahre 1848, Leipzig 1849, Blatt 6. Dazu u. a. die ausführliche Interpretation von Manfred Hettling, Totenkult statt Revolution: 1848 und seine Opfer, Frankfurt a. M. 1998,133-178 und 218-222. Vgl. Siegmar Holsten, Allegorische Darstellungen des Krieges 1870-1918, München 1976, 63-69 sowie u. a. die Abb. 187,194-196, 203, 215, 242-243 und 306.
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Abb. 1:
Der Jakobiner des 1. Prairial / Der Jakobiner des 4. Prairial. Anonyme kolorierte Radierung, [Paris 1795], 14,4 χ 19,8 cm (Paris, BnF, Est., Coli. De Vinck, n° 6464).
Abb. 2:
Auguste Desperret: [Ein Kerkermeister], Kolorierte Lithographie, Paris: Aubert 1832, 25,7 χ 22,6 cm, in: La Caricature n° 129 (25. April 1833), Taf. 267.
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Abb. 3:
Rénaux (alias Marcia): Der Abgang der Kommune. Kolorierte Kreidelithographie, [Paris 1871], 44,8 χ 30,5 cm (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Sammlung Trübner l 4 , Bd. VI, n° 6).
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Abb. 4:
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