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German Pages 428 Year 2014
Anja Sieber Egger Krieg im Frieden
Kultur und soziale Praxis
Anja Sieber Egger (Dr. phil.) forscht und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: soziale Ungleichheit, Gewalt in Geschlechter- und Generationenbeziehungen, Migration und Bildung.
Anja Sieber Egger
Krieg im Frieden Frauen in Bosnien-Herzegowina und ihr Umgang mit der Vergangenheit
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Anja Sieber Egger Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1624-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Dank | 9 1. Zur Einführung: Krieg im Frieden | 13 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Ein Brückenschlag für den Frieden in Bosnien? | 14 Erkenntnisinteresse | 23 Projektrahmen | 28 Zum Aufbau der Arbeit | 33 Formale Anmerkungen | 35
T EIL I: M ETHODISCHE , THEORETISCHE UND HISTORISCHE
G RUNDL AGEN
2. Die Netzwerkanalyse und das biografische Interview | 41 2.1 Zur Netzwerkanalyse | 42 2.2 Zum biografisch-narrativen Interview | 61 2.3 Reflexion des Forschungsprozesses | 80
3. Nationalismus, Ethnizität und Gender in historischer Perspektive | 83 3.1 Historischer Rückblick bis zur sozialistischen Föderation Jugoslawien | 84 3.2 Sozialistisches Jugoslawien | 90 3.3 Desintegration Jugoslawiens und Bosnien-Herzegowinas | 108 3.4 Krieg im bosnischen Prijedor | 113 3.5 Strukturproblematik der bosnischen Nachkriegsgesellschaft | 124
T EIL II: V OM U MGANG MIT DER V ERGANGENHEIT 4. Die Interviewpartnerinnen und ihre Unterstützungsnetzwerke | 137 4.1 Die Auswahl der befragten Frauen | 137 4.2 Profil der Interviewpartnerinnen | 141 4.3 Die Unterstützungsnetzwerke der Befragten | 149
5. »Mein Beruf? Opfer.« Die Richterin Nusreta Sivac | 187 5.1 Falldarlegung: Von der Richterin zur Verfolgten | 188 5.2 Fallanalyse: Die Zeugin und ›Anwältin‹ der Opfer | 213 5.3 Fallkonklusion | 225
6. »Es wird nie mehr diese Freundschaften geben, nie mehr, nie!« Die Marktfrau Ena Begović | 227 6.1 Falldarlegung: Die Internvertriebene | 228 6.2 Fallanalyse: Leben als Angehörige eines Vermissten | 244 6.3 Fallkonklusion | 258
7. »Und ständig sagt man mir: Siehst du,was die Menschen aus deinem Volk gemacht haben?« Die NGO-Aktivistin Ljiljana Živković | 261 7.1 Falldarlegung: Die Domicilna | 262 7.2 Fallanalyse: Unbeteiligt von außen betrachten | 274 7.3 Fallkonklusion | 288
8. »Die Kluft zwischen uns vertieft sich.« Die Staatsangestellte Jelena Ivanović | 291 8.1 Falldarlegung: Im Krieg den Kinderschuhen entwachsen | 292 8.2 Fallanalyse: Idealisierung der multiethnischen Gesellschaft | 303 8.3 Fallkonklusion | 321
9. »Ich bin von allen dreien etwas: ein wenig Serbin, ein wenig Muslimin, ein wenig Kroatin!« Die Tanzlehrerin Miroslavka Sotivor-Borić | 325 9.1 Falldarlegung: Die Zugezogene | 326 9.2 Fallanalyse: Die Brückenbauerin | 340 9.3 Fallkonklusion | 352
T EIL III: D ISKUSSION DER N ACHKRIEGSPROBLEMATIK 10. Das mühselige Errichten einer neuen Welt – ein Resümee der fünf Fälle | 357 11. Unterschiedliche Differenzerfahrungen | 363 11.1 Verstärkte ethnische Zugehörigkeiten? | 363 11.2 Der Einfluss der Kriegs- und Migrationserfahrungen auf die (Re-)Integration in der Nachkriegszeit | 367 11.3 Viktimisierungstendenzen | 373
12. Vom Umgang mit der Vergangenheit | 383 13. Zusammenfassung | 393 Literatur | 399 Abkürzungsverzeichnis | 425
Dank
Bedanken möchte ich mich bei allen, die mich während der letzten fünf Jahre begleitet haben, die mich in kritischen Momenten unterstützt und mir immer wieder Mut zugesprochen haben, das Unterfangen Doktorarbeit zu Ende zu führen. Zuallererst gebührt den Interviewpartnerinnen ein großes Dankeschön. Ohne ihre Bereitschaft, mir aus ihrem Leben zu erzählen und ihre Erfahrungen mit mir zu teilen, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Es braucht Mut, Intimes aus dem eigenen Leben zu erzählen. Insbesondere wenn es sich um sehr schwierige, zum Teil höchst traumatische Erlebnisse handelt, die in den Gesprächen Thema waren. Ich bin mir bewusst, dass dies nicht selbstverständlich ist. Bedanken möchte ich mich aber auch bei denjenigen Personen, die mir in Bosnien-Herzegowina die nötige Unterstützung haben zukommen lassen, insbesondere: Anel Alisić, Ermina Bošković und Vedran Grahovac, die mir unverzichtbare Hilfestellungen ganz selbstverständlich anboten. Bei Tanja Bonjić, Amira und Mladen Grahovac, Emsuda Mujagić, Azra Pazalić, Fadila Memisević, Lejla Mujakić und Walter Müller möchte ich mich für die Hilfe und Bereitschaft bedanken, mich mit den nötigen Informationen auszustatten. Auch Prof. Dr. Gajo Sekulić von der Universität Sarajevo möchte ich danken, denn er ermöglichte mir den wissenschaftlichen Austausch während der Feldforschungszeit. Zurück in der Schweiz wurde die akademische Umgebung für das Fortschreiten der Arbeit wichtig. Bedanken möchte ich mich bei Prof. Dr. Hans-Rudolf Wicker, der die Arbeit von Beginn an unterstützt und begleitet hat und bei Prof. Dr. Heinzpeter Znoj, der mit seinem kritischen Weitblick stets für interessante Anregungen sorgte. Die äußerst kritischen und konstruktiven Stimmen zu den diversen Textentwürfen verdanke ich Nadia Baghdadi, Bettina Büchler, Serena Dankwa, Jan Egger, Eva Soom Ammann und Natascha Vitorelli. Ihre motivierenden Rückmeldungen waren für die unzähligen Überarbeitungen und Überlegungen zentral. Iudith danke ich für die sprachlichen Turnübungen und Tarik Kapić für seine Bosnischkurse und Übersetzungshilfen. Im Rahmen des Graduiertenkollegs »Gender: Scripts and Prescripts« der Universitäten Bern und Fribourg regten die kritischen Hinweise der beteiligten
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Trägerschaft, insbesondere der Professorinnen und Professoren Dr. Margret Bridges, Dr. Claudia Honegger, Dr. Brigitte Studer, Dr. Doris Wastl-Walter, Dr. Heinzpeter Znoj, der Leiterin des IZFG Dr. Brigitte Schnegg sowie der Koordinatorin Dr. Christa Binswanger zum Reflektieren und Weiterdenken an. Die Kollegiatinnen und Kollegiaten Nadia Baghdadi, Susanne Balmer, Nadine Boucherin, Bettina Büchler, Serena Dankwa, Magali Delaloye, Denis Hänzi, Andrea Hungerbühler, Miko Iso, Sara Landolt, Sonja Matter, Tanja Rietmann, Bernhard Schär, Katharina Thurnheer, Natascha Vitorelli, Merve Winter und Kathrin Zehnder begleiteten das Projekt von Beginn an und motivierten mich stets von Neuem. Erstere und letztere waren mir zudem eine unverzichtbare Unterstützung während allen Büro(un)zeiten. Den Mitgliedern der Analysegruppe MaGru sowie den Teilnehmenden der beiden Blockseminare mit Prof. Dr. Bettina Dausien und Prof. Dr. Paul Mecheril gebührt Dank für die unzähligen Analysestunden, die sie meinem Datenmaterial gewidmet haben. Besonders die MaGru und Jana Häberlein mit ihren spezifischen Bosnienkenntnissen wurden zu einem unverzichtbaren Gefäß, wenn scheinbar nichts mehr passte und der Arbeitsprozess ins Stocken geriet. Ohne die finanzielle Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF und der Kommission für Forschungspartnerschaften KFPE wäre die Doktorarbeit nicht zustande gekommen. Ein Stipendium für angehende Forschende erlaubte mir, während eines Jahres in Bosnien Daten zu erheben. Daran anschließend konnte ich mich dank einer Anstellung im SNF Förderungsprogramm Pro*Doc »Gender: Scripts and Prescripts« voll und ganz der Dissertation widmen. Bedanken möchte ich mich aber auch bei meiner Mutter Pia Sieber, meinem Vater Nik Sieber und seiner Lebenspartnerin Rosmarie Walthert sowie meinen beiden Schwestern Yetti und Moe Sieber, die mich stets mit großem Verständnis und Interesse unterstützt haben und auch während den schwierigen Zeiten ein offenes Ohr für mich hatten. Meinen Freundinnen gebührt zudem Dank, dass sie mich motiviert, aber auch immer wieder auf ein Leben neben der Dissertation aufmerksam gemacht haben. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Mathilde und John Egger, die mir die Möglichkeit eröffneten immer mal wieder in der Abgeschiedenheit der Berner Alpen in Schreibklausur zu gehen. Die Doktorarbeit habe ich aber nicht zuletzt auch im Andenken an meine Großmutter Ester Sieber-von Fischer geschrieben, die bis ins hohe Alter von 104 Jahren meine Forschungslaufbahn mit wachem Interesse begleitet hat. Last but not least danke ich meinem Ehemann Jan Egger ganz herzlich für sein Dasein während der vergangenen, sehr intensiven fünf Jahre. Er war von Beginn des Dissertationsprozesses an mein wohl kritischster und geduldigster Zuhörer und Leser. Ohne seine unermüdliche wissenschaftliche Unterstützung, seinen Scharfblick, sein Engagement und seine Motivation hätte diese Arbeit nicht die Form, die sie heute hat, und wäre ich nicht da, wo ich heute
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bin. Bis zuletzt war er auch immer darum bemüht, dass ich kulinarisch exquisit versorgt wurde und auch mein Zuhause stets ein Willkommenes blieb. Ihm ist die Arbeit von ganzem Herzen gewidmet.
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1. Zur Einführung: Krieg im Frieden
»Alles im Leben ist eine Brücke – ein Wort, ein Lächeln, das wir dem anderen schenken. Ich wäre glücklich, könnte ich durch meine Arbeit ein Brückenbauer zwischen Ost und West sein.« (Ivo Andrić, Literaturnobelpreisträger)1
Abbildung 1: Stari Most, Mostar – Juli 2005/© A.Sieber
1 | Siehe . Abgerufen am 18.3.2006.
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1.1 E IN B RÜCKENSCHL AG FÜR DEN F RIEDEN IN B OSNIEN ? Seit Juli 2004 steht sie wieder, die Stari Most2 (dt. Alte Brücke) in Mostar, im südlichen Bosnien-Herzegowina3. Während des bosnischen Kriegs im Jahre 1993 zerstört, soll dieser massive Steinübergang über den Fluss Neretva heute einen Schritt zur Aussöhnung der verfeindeten Gruppen symbolisieren (Schmidt 2004). Mit Abbildungen dieser Brücke – sei es die Alte, die in Zerstörung begriffene, die zerstörte oder die Neue – schmücken unzählige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler4 die Umschläge ihrer Publikationen, und alle wollen damit Ähnliches vermitteln: Brücken bauen hilft, die in Bosnien verfeindeten Gruppen einander anzunähern, und Brücken sollen demnach auch helfen, Grenzen zu überwinden. Auch die UNESCO hebt diesen Aspekt hervor, wenn sie die Aufnahme der Stari Most in die Liste der Weltkulturerbe begründet5: »The reconstructed Old Bridge and Old City of Mostar is a symbol of reconciliation, international co-operation and of the coexistence of diverse cultural, ethnic and religious communities« (UNESCO 2005). Sieht man aber beim Begehen 2 | Bosnische, kroatische oder serbische Begriffe, die wiederholend im Original benutzt werden, sind kursiv gesetzt, die deutsche Übersetzung in Klammern angegeben. Handelt es sich um Begriffe, die auf Deutsch verwendet werden, werden sie übersetzt und der bosnische, kroatische oder serbische Begriff in Klammern gesetzt. Da die einst gemeinsame Hochsprache Serbokroatisch oder Kroatoserbisch nicht mehr verwendet wird, braucht es neue Abkürzungen. Dazu orientiere ich mich an der Kürzelvergabe der internationalen Organisation für Normung, welche Kennungen für Namen von Sprachen (Sprachcodes) definiert. Bosnisch wird mit »bos.«, Kroatisch mit »hrv.« und Serbisch mit »srp.« abgekürzt (siehe dazu . Abgerufen am 21.9.2008). Da die Sprache mit der nationalen Identifizierung eng verflochten ist, bezeichneten einige der interviewten Frauen ihre Sprache als »naša jezik«, als »unsere Sprache« oder in Englisch als B/C/S Sprache, als Bosnian/Croatian/Serbian Language. Mit dieser Bezeichnung sind sie nicht gezwungen, sich national zu positionieren. 3 | Der Lesefreundlichkeit halber benutze ich in vorliegender Forschung abwechslungsweise die Bezeichnung Bosnien-Herzegowina und Bosnien, meine mit letzterem aber immer den gesamten Staat Bosnien-Herzegowina BiH (in Kyrillisch Босна и Херцеговина БиХ). 4 | In dieser Arbeit wird die geschlechterneutrale Schreibweise benutzt (Bsp. Teilnehmende). Wo diese Form nicht anwendbar ist, greife ich auf die offizielle Schreibart der Doppelnennung zurück: Einwohnerinnen und Einwohner. Immer wieder wird aber auch die männliche resp. die weibliche Schreibweise eingesetzt, dann sind ausschließlich Männer resp. Frauen gemeint. 5 | Wie die Stari Most in Mostar figuriert auf der Liste der Unesco-Weltkulturerbe auch die Mehmet-Paša-Sokolović-Brücke im ostbosnischen Višegrad, die als Ivo Andrićs »Brücke über die Drina« Weltruhm erlangte (UNESCO 2005, 2007).
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der Stari Most genauer hin, fällt auf, dass diese idealisierte Betrachtungsweise den gelebten Wirklichkeiten nicht standhalten kann. Die Brücke verbindet zwei Teile des bosniakischen, also des muslimischen6 Mostars miteinander. Sie verbindet aber nicht jene noch heute getrennten kroatischen und bosniakischen Stadtteile, die sich im Krieg aufs Schlimmste bekämpft haben. Nicht der Fluss mit seiner Brücke bildet die eigentliche Grenze zwischen den beiden Stadtteilen, sondern der etwas weiter westlich gelegene große Boulevard, wo noch heute unzählige Ruinen und Einschusssalven die Erinnerung an den Krieg und den Frontverlauf aufrechterhalten. Das relativiert die Stari Most als mögliche Verbindung zwischen den verfeindeten Teilen. Zweifel sind angebracht, ob die Brücke – ein mitunter auch von der internationalen Gemeinschaft eingesetztes Symbol für das multi-kulturelle, multi-ethnische und multi-religiöse BosnienHerzegowina – diesen Erwartungen gerecht werden kann. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Die Brücke dient dazu, je nach Standpunkt und Betrachtungsweise den Krieg, aber auch die Zukunft, in einer bestimmten Weise zu deuten. Gerade dadurch kann die neue Stari Most auch als Metapher für rivalisierende Interpretationen bezüglich der Frage nach Wahrheit und Erinnerung gesehen werden, nach unterschiedlichen Wirklichkeiten und Wahrnehmungen und nach dem Umgang mit der Vergangenheit. Es ist dieser Themenkomplex, der vorliegender Forschungsanlage zugrunde liegt. Während der gesamten Zeit, die ich mit dem Land und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern verbracht habe, sind mir immer wieder Brücken begegnet, reale und symbolische. ›Brücken bauen‹ ist eine Redewendung, die sich auf viele Lebensbereiche übertragen lässt. Die Interviewpartnerinnen verwendeten sie in den unterschiedlichsten Situationen. »Wir alle sollen das [die Erinnerungen an den Krieg, Anmerkung der Autorin] überwinden. Dazu bräuchten wir Brücken, damit wir das überwinden könnten«, meint etwa Jelena Ivanović7, deren Lebensgeschichte in Kapitel 8 vertieft dargelegt wird. Meist wollen die Interviewpartnerinnen mit der Referenz auf die Brücke verdeutlichen, wie das Zusammenleben der Menschen normalisiert und die unterschiedlichen Kriegserfahrungen zusammengebracht werden könnten. Es sind aber auch literarische Werke bosnischer Autoren, welche die Brücke als verbindendes Symbol einsetzen; das wohl bekannteste und zugleich auch dunkelste ist die »Brücke über die Drina« von Ivo Andrić, dem jugoslawischen Literaturnobelpreisträger des Jahres 1961 (1992 [1950]). Im erst kürzlich erschienen Bericht der UNESCO wird die Bedeutung der »Brücke über die Drina« ebenfalls hervorgehoben: 6 | Bis ins Jahre 1993 bezeichneten sich die bosnischen Muslime und Musliminnen als Muslime, ab 1993 deklarieren sie sich als Bosniaken. Ich benutze beide Begriffe synonym, d.h. bosniakisch ist hier die Bezeichnung für muslimisch. 7 | Zur Anonymisierung verweise ich auf die Ausführungen in Kapitel 1.5. Grundsätzlich verfremde ich die Gesprächspartnerinnen nach strukturhomologer Vorgehensweise.
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»The bridge […] also bears witness to important cultural exchanges between areas of different civilizations. […] Its symbolic role has been important through the course of history, and particularly in the many conflicts that took place in the 20 th century. Its cultural value transcends both national and cultural borders.« (UNESCO 2007)
Auch wenn Andrić in seinem Roman den kulturellen Austausch ins Zentrum rückt, zeigt gerade dieses Buch deutlich, welch zweideutiges Symbol die Brücke ist: Sie führt nicht nur von einer Seite auf die andere, um die gegensätzlichen Welten zwischen Ost und West zu verbinden. Sie steht gleichzeitig auch für Rivalitäten und für Trennungen zwischen den Menschen hüben und drüben (vgl. hierzu Sells 1998: 199ff.). In Zusammenhang mit diesem literarischen Werk erinnert das Symbol der Brücke unweigerlich auch an vergangene Kriege und Gewalttaten, die im Gebiet Bosnien-Herzegowinas stattgefunden haben: Auf der Lateinerbrücke in Sarajevos Stadtzentrum wurde am 28. Juni 1914 der österreich-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand vom Gymnasiasten Gavrilo Prinćip erschossen – und damit der Erste Weltkrieg ausgelöst. Etwas flussabwärts und knappe 78 Jahre später, am 5. April 1992, erschossen serbische Heckenschützen die Medizinstudentin Suada Dilberović, als sie auf der Vrbanjabrücke für den Frieden demonstrierte. Sie war das erste zivile Opfer des bis 1995 dauernden Bosnienkrieges. Im Andenken an sie wurde die Brücke nach ihr umbenannt. Die Stari Most in Mostar, die dreijährige Belagerung Sarajevos und das Massaker von Srebrenica sind zu weltbekannten Symbolen für den bosnischen Krieg geworden. In vorliegender Arbeit wird keines dieser drei Symbole im Mittelpunkt des Interesses stehen. Viel eher möchte ich die Leserinnen und Leser aus dem südlich gelegenen Mostar mit seinem mediterranen Klima und dem urbanen Zentrum Sarajevo in den unbekannten Nordwesten Bosniens führen, in die Region von Prijedor. Diese Gemeinde hatte zu Beginn des Krieges das traurige Privileg, eine systematische ethnische Säuberung der bosniakischen und kroatischen Bevölkerung zu erleben und Ort dreier Internierungs- und Konzentrationslager zu sein.
Die Fahrt durch ein zerstörtes Land Die Fahrt von Mostar in Richtung Prijedor führt durch ein gebirgiges Land mit vielen Seen und Flüssen, welche zum Wandern und Verweilen einladen würden – der Schweiz nicht ganz unähnlich. Doch die jüngste Vergangenheit verunmöglicht solch unbeschwertes Tun: Da viele Landschaftsteile noch immer vermint sind, können Spaziergänge und Wanderungen in den Tod führen. Die Ufer der Flüsse sind zudem oft von Abfall verunstaltet und lassen ein erfrischendes Bad in den heißen Sommermonaten nicht zu. So führt die Fahrt durch verwahrloste Ortschaften mit systematisch niedergebrannten und zerstörten Häusern, wel-
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che wie Geisterorte anmuten. Heute säumen noch zu viele Ruinen die Landschaft, als dass man nicht dauernd an den Krieg erinnert würde. Etwas belebter sehen die größeren Dörfer und Städte aus. Doch die abgenutzten Fahrbahnen mit den vielen großen Schlaglöchern erzeugen Staubwolken, die ganze Wohnquartiere einhüllen, was besonders während der heißen Sommermonate für die Bewohnerinnen und Bewohner unerträglich ist. Die Heimat der dortigen Menschen, »ihr Besitz, das, was ihre Herkunft ausmachte, alles ist bis auf die Grundmauern verwüstet und vernichtet, die serbischen Häuser von den Kroaten, die kroatischen von den Serben, am schlimmsten aber jene, die durch serbische und kroatische Bemühung zerstört wurden: die Häuser der bosnischen Muslime. Das ist gemeinsame Kriegsarbeit, Manufaktur der Destruktion, Fabrik des Bösen und des Wahnsinns.« (Ć osi ć 2007: 32f.)
Allgegenwärtig ist die äußerst große Armut der Menschen. Diese Kriegsfolge ist unübersehbar: Nebst zusammengeflickten, baufälligen oder nur halb renovierten Häusern bestimmen barfüßige Kinder, zerlumpte Bauern, Bettler und die zerstörte Infrastruktur das Bild der Ortschaften. Viele Menschen sind gezeichnet von der jüngsten Vergangenheit, und man sieht ihnen auch den heutigen Kampf ums (Über-)Leben an. So sind auch zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens noch immer viele Menschen Flüchtlinge im eigenen Land. Die Heimkehr in die Herkunftsorte ist nicht für alle möglich, viele mussten nach ihrer Rückkehr Zuflucht in Provisorien suchen. Andere sehen sich nach ihrer Rückkehr an den Herkunftsort in der Rolle der Minderheit, wo sie früher die Mehrheit waren. Der bosnische Krieg bewirkte eine massive demografische Umschichtung der Gesellschaft. Vor dem Krieg, im Jahre 1991, lebten rund 4,4 Millionen Menschen in Bosnien-Herzegowina. Seit 1996 hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR für das gesamte Land die Rückkehr von rund 700.000 Flüchtlingen und Internvertriebenen verzeichnet. Aber nur 150.000 dieser Menschen kehrten an Orte zurück, in welchen sie infolge der Kriegsereignisse nicht mehr zur ethnoreligiösen Mehrheit gehören. Diese Zahlen, aber vor allem auch die Fahrt in den Nordwesten durch die kriegszerstörte Landschaft und die Situation der dort lebenden Menschen erschüttern und lösen Fragen aus: Wie konnte ein solch grausamer Krieg entstehen? Wie konnten Menschen nach Jahren der Freundschaft, Nachbarschaft und Kollegialität über Nacht zu Feinden werden? Aber vor allem: Wie leben die Menschen heute – nach solch tiefgreifenden Kriegserfahrungen – zusammen? Wie gehen sie mit diesen Erfahrungen um und welche Brücken können sie in ihrem Alltag überqueren?
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Die Grenzen in der Landschaft – die Grenzen in den Köpfen Über die mittelbosnische Stadt Jajce – wo 1943 die juristischen Fundamente für das sozialistische Jugoslawien gelegt wurden – führt die Fahrt nach Prijedor durch die Städte Mrkonić Grad, Kljuć und Sanski Most.8 Es ist nicht der direkteste und schnellste Weg aus dem Süden nach Prijedor – dieser würde über Banja Luka, die Hauptstadt der serbischen Republik, führen. Doch die gewählte Route führt durch Ortschaften, in denen einige der Interviewpartnerinnen eine gewisse Zeit ihres Lebens verbracht haben, aus denen sie vertrieben worden sind oder wo sie nun, aus Prijedor stammend, in Provisorien leben. Einige der Interviewpartnerinnen warteten noch im Jahre 2005, gut zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens also, auf die Rückkehr in den Herkunftsort. Kurz nach Sanski Most, dem Ort, wo einige der Interviewpartnerinnen (provisorisch) wohnen, passiert man rechterhand ein großes Schild, auf welchem in kyrillischer Schrift »Dobro Došli u Republiku Srpsku« zu lesen ist und in lateinischen Lettern »Welcome to [sic!] Republic of Srpska«. Das Passieren dieses Schildes wird im Verlaufe der Feldforschung in den Jahren 2005 und 2006 für mich zur Gewohnheit, unzählige Male führt mich die Fahrt von Sanski Most nach Prijedor und zurück daran vorbei. Anders war es im März 1999, als ich dieses Schild zum ersten Mal passierte. Es war während der Zeit der Nato-Angriffe gegen Serbien (dem sog. Kosovokrieg). Alle warnten mich davor, die serbische Republik zu durchqueren. Denn damals war die Situation zwischen den beiden Landesteilen – der Föderation Bosnien und Herzegowina (FBiH, Federacjia Bosne i Hercegovine) und der serbischen Republik (RS, Republika Srpska)9 – noch sehr angespannt. Die Bewegungsfreiheit war zwar offiziell garantiert, im Alltag der Menschen aber keine gelebte Praxis. Das Schild hinterlässt jedoch nicht nur aufgrund dieser Geschichte einen merkwürdigen Eindruck. Es mutet seltsam an, in einem offiziell anerkannten Staat von einem anderen staatlichen Gebilde willkommen geheißen zu werden. Auch beim Verlassen Kroatiens heißt einen auf der bosnischen Seite der Grenze nicht der Staat Bosnien-Herzegowina willkommen, sondern die serbische Republik, und die Schilder weisen einem in kyrillischer Schrift den Weg an den Bestimmungsort. Selbst Ortskundige, die infolge des Krieges in der Fremde leben müssen, verlieren ob dieser Wegweiser gelegentlich die Orientierung. So beispielsweise der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, der in einem Reisebericht zu Bosnien-Herzegowina festhält:
8 | Siehe dazu die Karte unter . Abgerufen am 21.4.2009. 9 | Die Begriffe serbische Republik und Republika Srpska verwende ich in der Folge synonym.
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»Bisweilen weiß ich nicht genau, in welche Richtung wir eigentlich reisen, die Wegweiser, an denen wir vorbeikommen, haben eine seltsame Bestimmung, sie sind eher dazu da, die Gefühle der einzelnen Gegenden, durch die wir fahren, auszudrücken, als dass sie dem Reisenden helfen, sich zu orientieren und zurechtzufinden. […] [Wir] treffen […] meist auf die Aufschrift, dass wir Richtung Belgrad fahren. Was hat es für einen Sinn, eine weit entfernte Stadt anzukündigen – immer in kyrillischen Buchstaben –, die außerdem überhaupt nicht auf dem Weg liegt, es sei denn, man will damit eine heilige Zugehörigkeit zur serbischen Schlüsselmetropole demonstrieren?« (2007: 40)
Diese paradoxe, auf alle Seiten hin geltende »heilige Zugehörigkeit« ist symptomatisch für Bosnien-Herzegowina und seine heutige vertrackte Situation: Wie Annex 2 des Friedensabkommen von Dayton Ende des Jahres 1995 festhält, ist die Republik Bosnien-Herzegowina in die oben erwähnten zwei Landesteile – genannt Entitäten – aufgeteilt. Die Aufteilung eines Landes in kleinere Verwaltungseinheiten ist an sich nichts Unübliches. Beunruhigend ist allerdings die Tatsache, dass die beiden zweitgrößten Verwaltungseinheiten in Bosnien – nach der Einheit des Gesamtstaates – als Entitäten bezeichnet werden. Das lateinische Entitas10 steht für etwas Gesondertes, also etwas, das nicht mit dem Anderen in Verbindung gebracht wird, sondern gesondert vom Anderen existiert (vgl. dazu Križan 1996: 316; und Sieber und Scholer 2001: 127). Bosnien-Herzegowina besteht folglich aus der Entität Republika Srpska (RS), die sich nach Kriegsende über 49 Prozent der Fläche Bosnien-Herzegowinas erstreckt und mehrheitlich von Serbinnen und Serben bewohnt wird, und derjenigen der Föderation Bosnien und Herzegowina (FBiH), die in mehrheitlich kroatische und bosniakische Gebiete gegliedert ist. Diese Struktur ist das strikte Gegenteil der ethnoreligiösen Verwobenheit, wie sie vor den kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre vorherrschte. Damals waren die Menschen untereinander und miteinander über die Grenzen ethnischer Zugehörigkeiten hinweg vernetzt und standen in enger verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Verbundenheit (Malcolm 1996). Dieses ethnische Strickmuster war bestimmendes Merkmal Bosnien-Herzegowinas, und seit jeher wurde die bosnische, multiethnische Lebensweise und Toleranz gelobt. Während der sozialistischen Zeit galt Bosnien deshalb als das Herz Jugoslawiens (Maners 2000: 306) oder als der jugoslawische Vielvölkerstaat en miniature, als ein ethnisch bunt geflecktes Leo-
10 | Entität (neulat. entitas, von lat. ens, seiend) ist laut Handwörterbuch der Philosophie ein ontologischer Sammelbegriff, der alles Existierende bezeichnet. So werden Gegenstände, Eigenschaften, Prozesse usw. als Entitäten in einer Oberklasse zusammengefasst. Traditionell bezeichnet der Ausdruck das unspezifizierte Dasein von etwas, im Gegensatz zu Quidditas, dem allgemeinen, und Haecceitas, dem individuellen Sosein von etwas (2003: 325).
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pardenfell.11 Die Siedlungsräume vor dem Krieg waren so miteinander verzahnt, »dass kein goldener Schnitt denkbar ist, der die Völker voneinander ohne ein wesentliches Residuum trennen könnte, das heißt, ohne erneut Grundlagen zu späteren nationalen Auseinandersetzungen zu legen« (Brühl-Moser 1994: 187). Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre sieht die ethnische Landkarte Bosniens anders aus – die Gebiete sind nun mehrheitlich von jeweils einer Ethnie dominiert, die Struktur des Leopardenfells wurde zerstört, farbliche Zwischentöne sind verschwunden.12 Die mit dem Friedensvertrag festgelegten zwei Entitäten werden durch die Zone of Separation (ZOS) oder die Inter-Entity Boundary Line (IEBL) getrennt. Sie entspricht dem Frontverlauf von Ende 1995 und wurde im Friedensabkommen von Dayton festgelegt (Sieber und Scholer 2001: 129). Bis einige Jahre nach Kriegsende war diese Separationszone auch im realen Leben nicht zu übersehen: Entweder war sie gekennzeichnet durch unbewohntes Ödland mit Hausruinen und gesäumt von großen Abfallhalden, oder es wurden darin Märkte eingerichtet (wie der berühmt berüchtigte Arizona Market an der Strecke zwischen Tuzla nach Slavonski Brod), als Orte des Handels und der Möglichkeit, sich auf neutralem Boden zu begegnen (Palmberger 2005). Auch wenn diese Separationslinie über die letzten Jahre hinweg landschaftlich etwas verwischt wurde, ist die Grenze zwischen hüben und drüben immer noch deutlich erkenn- und erfahrbar: Nach dem Übertritt in die Föderation fallen der Besucherin zum Beispiel die unzähligen neu errichteten Minarette auf, und bei Betreten der Serbischen Republik weisen wie erwähnt Straßenschilder in kyrillischer Schrift den Weg. Wie ich in unzähligen Gesprächen während den Feldforschungen und den anschließenden langen Analysestunden feststellen konnte, sind die oben angesprochenen Entitätsgrenzen nicht nur auf den Landkarten und in den Landschaften präsent, sondern ebenso im Denken und Handeln der Menschen. Der Krieg führte zu zahlreichen Brüchen und Veränderungen im Leben der Bosnierinnen und Bosnier. So teilen die Traumatisierungen und die extrem krisenhaften Erlebnisse das Leben der Menschen in ein zeitliches ›vor, während und nach dem Krieg‹. Der Krieg hat aber auch eine neue gesellschaftliche Segregation zur Folge: Durch Flucht und Vertreibung mussten über 2,5 Millionen Menschen Heim und Hof verlassen und mit ihrem alten, gewohnten Leben brechen. Dadurch wurden während des Krieges 1,2 Millionen Menschen zu Flüchtlingen13 11 | Siehe dazu die Karte »Ethnic Composition in 1998« unter www.ohr.int/ohr-info/ maps/. Abgerufen am 14.10.2008. 12 | Siehe dazu die Karte »Ethnic composition before the war in Bosnien-Herzegowina (1991)« unter www.ohr.int/ohr-info/maps/. Abgerufen am 14.10.2008. 13 | Das UN-Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge, kurz: die Genfer Flüchtlingskonvention, definiert einen Flüchtling als Person, die »aus der begründeten
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und weitere 1,3 Millionen zu Internvertriebenen. Aus den serbisch kontrollierten Gebieten Westbosniens, zu denen auch der Forschungsort Prijedor zählt, flohen bis 1994 rund 450.000 Menschen, weitere 290.000 flüchteten aus Ostbosnien. In umgekehrter Richtung flohen rund 400.000 Serben aus kroatisch und muslimisch beherrschten in serbisch kontrollierte Gebiete. Ende 1995 hielten sich innerhalb Bosnien-Herzegowinas deshalb rund 2,7 Millionen Flüchtlinge auf, in Kroatien 463.000 und in Serbien 449.000 (Calic 1996: 128). In der Fremde, egal ob im Ausland oder im eigenen Land, mussten diese Menschen ihr Leben neu beginnen. Sie wurden mit anderen, unbekannten und ungewohnten Lebensstilen konfrontiert. Für diejenigen, die während des Krieges vor Ort bleiben konnten14 , änderte sich das alltägliche Leben genauso massiv und unvermittelt – auch wenn die Situation nicht zwingend lebensbedrohlich wurde. Der Alltag war schlagartig ein Leben im Krieg, ein Überleben unter großem Einfluss manipulativer Medien und einer neuen ultranationalistischen Regierung. Die Straßen waren nicht mehr von Marktständen und Flanierenden gesäumt, sondern von bewaffneten Soldaten und Panzer, und Artilleriegeräusche gehörten plötzlich zur alltäglichen Geräuschkulisse. Die Angst um die Angehörigen an der Front ließen die Nächte lang und unerträglich werden. Nichts und niemand war nach 1992 also mehr so wie vorher – wie dies die kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugrešić treffend festzuhalten weiß: »[…] dass der Krieg alles verändert hat und niemand mehr derselbe ist. Die Wirklichkeit, die er kannte, die Norm seines Lebens, Norm seiner Normalität war, ist verschwunden. An ihrer Stelle wächst […] eine neue Realität, werden neue Werte definiert, wird eine neue Welt errichtet, die zum Leben erwachen soll, […].« (1995: 135)
Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will« Artikel 1, A2 (UNHCR 1951, 1967). 14 | Diese Menschen werden in der lokalen Sprache als Domicilna oder Domaći bezeichnet. Für eine genauere Definition dieses Begriffs verweise ich auf Kapitel 4.1. Da eine genaue Übersetzung dieser beiden Begriffe nicht möglich ist, bediene ich mich nachfolgend der lokalen Begriffe, mehrheitlich dem Begriff Domicilna oder Domicilne im Plural (Singular: Domicilan (männlich), Domicilna (weiblich), Domicilno (sächlich). Plural: Domicilni (männlich), Domicilne (weiblich), Domicilna (sächlich)).
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Stereotype Kriegsbilder In den Köpfen vieler Menschen wie auch in der wissenschaftlichen Literatur sind Bilder des Bosnienkrieges hängengeblieben, welche stark von Geschlechterstereotypen und Ethnizität gekennzeichnet sind. Ich selbst werde beispielsweise ein ganz bestimmtes Bild nicht mehr los, das, so erscheint es mir zumindest retrospektiv, in den 1990er Jahren in der schweizerischen Presse zu sehen war. Es zeigt eine muslimische Flüchtlingsfrau, welche in ihren weiten Pluderhosen (bos./ hrv./srp. Dimjie), dem umgebundenen Kopftuch und in ungeschnürten klobigen Landarbeiterschuhen entlang eines stillgelegten Eisenbahngeleises ihre Heimat vor den Kriegswirren verlassen muss. Ihr Hab und Gut trägt sie zum Bündel geschnürt auf dem Rücken, an der Hand führt sie ein weinendes Kind mit sich. Bei der Recherche zur Forschungsarbeit ließ sich dieses Bild nicht mehr auftreiben. Dennoch ist es für mich von großer Aussagekraft, gerade weil es wohl ein Werk meiner eigenen Erinnerung an die damalige Zeit darstellt. Dem imaginierten Bild der Frau in Pluderhosen ähnlich, evoziert auch der Begriff ›bosnische Frau‹ bei vielen bestimmte Vorstellungen, welche von der weltweiten Presse – seien es Print- oder digitale Medien –, aber auch von vielen wissenschaftlichen Publikationen auf eine eindeutige Art und Weise vermittelt wurden (siehe u.a. Žarkov 1999, 2005): Die ›bosnische Frau‹ wird darin als Muslimin ruraler Herkunft, rückständig, ärmlich gekleidet und hilflos dargestellt. Die bosniakischen (also muslimischen) Frauen werden als Kriegsopfer gesehen und romantisiert in ihrer Sorge und Hingabe für die Familie. Durch die Nachrichten von den systematischen Vergewaltigungen während des Krieges wurde die muslimische Frau außerdem zu dem Opfer des Bosnienkrieges stilisiert (Helms 2003a; Kašić 2000; Spasić 2000; Žarkov 1997). Auch wenn heute bekannt ist, dass Männer und serbische Frauen ebenso Opfer von Vergewaltigungen wurden, überwiegt dieses einseitige Bild der bosniakischen Frau als orientalisiertes, exotisches, passives Opfer der Gewalt (Helms 2003a: 26). Es ist aber nicht nur dieses Opferbild, welches bestimmend ist. Ebenso wurden zwei sehr stereotype, männlich konnotierte Täterbilder vermittelt: einerseits der wilde, brutale und furchterregend gefährliche serbische Soldat und Paramilitär, andererseits der patriarchale, primitive muslimische Mann, der die von Gewalt betroffenen Frauen meidet und sie in der Nachkriegszeit aus der Gesellschaft verstößt. Besonders beeindruckend und feinfühlig wurde diese Thematik in »Grbavica – Esmas Geheimnis« aufgegriffen, dem prämierten Film der bosnischen Filmemacherin Jasmila Žbanić: Aus Angst vor gesellschaftlicher Repression sowie aus Unfähigkeit, über die gewalttätigen Ereignisse der Vergangenheit zu sprechen, klärt die Hauptdarstellerin ihre Tochter erst aufgrund einer Notlage darüber auf, dass sie nicht Kind eines Märtyrers und Kriegshelden ist, sondern Frucht einer Vergewaltigung in einem Gefangenenlager.
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Diese Bilder wurden zudem vor dem Hintergrund gemalt, dass der Balkan und damit auch Bosnien-Herzegowina rückständig, nicht zivilisiert und exotisch seien – ein Fremdkörper im europäischen Bewusstsein, und trotzdem irgendwie dazugehörend (prägnante Ausführungen zu den westlichen Repräsentationen von Osteuropa und dem Balkan sind bei Bakić-Hayden 1995; Bakić-Hayden und Hayden 1992; Todorova 1997; Žarkov 1995; Živković 2001 zu finden). Damit hängt auch die Vorstellung zusammen, die Länder des ehemaligen Jugoslawiens seien immer wieder von ethnischen Konflikten heimgesucht worden, die auf angeblich ›angeborenem‹ ethnischem Hass zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen basierten – Hass, der alle paar Generationen ausbreche und in einem Krieg gipfle (für eine ausführliche und kritische Darlegung dieses negativen Balkanbildes siehe Cohen 1998; Donia und Fine 1994; Gagnon Jr. 2004; Hayden 1996a; Parin 1993; Schlee 2006: Einleitung; Woodward 1995; Živković 2001). Diese kurze Herleitung der Stereotype verdeutlicht, dass in Zusammenhang mit dem Bosnienkrieg und dem Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens orientalisierte, exotische, aber auch ganz besonders ethnisierende und geschlechtertypisierte Bilder die Diskussionen bestimmen – bis heute sind sie mehr oder weniger intakt geblieben. Und es sind diese beiden Hauptthemen, die Ethnizität und das Geschlecht, welche die vorliegende Arbeit bestimmen.
1.2 E RKENNTNISINTERESSE Untersuchungsgegenstand vorliegender Studie ist die nach Dubravka Ugrešić benannte neu errichtete soziale Welt nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Jugoslawiens. Es soll erforscht werden, wie in der bosnischen Nachkriegszeit das gesellschaftliche Zusammenleben organisiert und ausgehandelt wird, und zwar vor dem Hintergrund der sozialistischen und der kriegerischen Vergangenheit sowie der politischen Instrumentalisierung ethnischer Zugehörigkeiten, wie sie nach wie vor existiert. »Der Krieg, der Sturz eines Staates und die Gründung der neuen, die Destruktion der einen Identität und Konstruktion einer neuen, die Veränderung der Sprache, die Zerstörung eines ideologischen und allgemeinen Wertsystems und die Errichtung eines neuen – all das ist ein Mahlwerk, in das der Bürger des ehemaligen Jugoslawien […] geraten ist.« [Hervorhebung der Autorin] (Ugrešić 1995: 216)
Dieses Mahlwerk verlangt nach einer sorgfältigen Untersuchung, welche die Aushandlungen zwischen den unterschiedlich betroffenen Menschen in den Blick nimmt. Dabei interessiert ganz besonders, wie die nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zutage tretenden Grenzziehungen und Differenzen zwi-
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schen ›uns‹ und ›den Anderen‹ neu verhandelt werden und welche Merkmale diese Verhandlungen situativ durchdringen. Als Inspiration dient dabei die aus der Intersektionalitätsdebatte bekannte Triade Race – Class – Gender (u.a. Crenshaw 1989, 1991; Knapp 2005), die jedoch auf vorliegende Forschungsanlage leicht umgemünzt wird15 . Nebst Gender sind zusätzlich die sozialen Kategorien Ethnizität und die Zugehörigkeiten aufgrund unterschiedlicher Kriegs- und Migrationserfahrungen sowie die damit verbundenen Opfer- und Täterrelationen von Interesse. Sie spielen eine wichtige Rolle für die Analyse der Nachkriegsproblematik. Die Fragestellung der Studie ist also motiviert von der Annahme, dass die Normen und Werte des bosnischen Vorkriegslebens durch die kriegerischen Auseinandersetzungen zumindest grundlegenden Änderungen unterworfen wurden und der Krieg direkt und massiv den Alltag der Betroffenen und ihre Sozialstruktur verändert hat. Langjährige diffuse Sozialbeziehungen, seien es zwischen-ethnische, nachbarschaftliche, freundschaftliche oder zum Teil auch verwandtschaftliche, sind zerbrochen. »Es war ein Erdbeben in den Freundschaften so vieler Leute, ein Bergrutsch, der Jahrzehnte gemeinsamen Lebens mit sich riss« (Ćosić 2007: 82). Während der Kriegszeit, aber auch nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens, bildeten sich neue Beziehungsgeflechte und neue Formen der Interaktion heraus. So kann man beispielsweise vermuten, dass die Art des Krieges Grund dafür ist, dass sich die Betroffenen in ihre Familien zurückzogen. Denn der bosnische Krieg zeichnete sich auch durch »kommunale Gewalt« (Scheper-Hughes und Bourgois 2004: 12) aus, das heißt auf Gewaltanwendungen, die sich in großer gemeinschaftlicher Nähe ereigneten (z.B. in langjährigen Freundschaften, Nachbarschaften oder kollegialen Beziehungen). Durch die Zerstörung dieser freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Netzwerke und mit dem Wegfall jeglicher staatlicher Sicherheiten wurden Verwandtschaft und Familie zum kollektiven Gefäß, aus dem man die Mittel zur Bewältigung der anstehenden Krisen schöpfte. Dadurch wurden die familiären Zusammenhänge kompensatorisch gestärkt. Es lassen sich aber auch andere Muster und Konstrukte der identitären Zugehörigkeit beobachten, die durch die Art des Krieges auflebten. So wurde die vormals supranationale jugoslawische Identität, welche fast 50 Jahre lang Wurzeln treiben konnte und 15 | Ob die Triade Race – Class – Gender auf andere Kategorien umgemünzt werden kann oder nicht, ist ein Diskussionspunkt der mittlerweile die Intersektionalitätsdebatte beherrscht (Büchler 2009). Da ich mich bloß vom Gedanken der Intersektionalität inspirieren lasse, das heißt davon dass unterschiedliche Kategorien in ihrer Überschneidung wirken, erlaube ich mir, diese Triade auf mein Forschungsanliegen umzumünzen. Denn nicht zuletzt erscheint mir das kontextspezifische Hinschauen und das Erfassen, welche Kategorien wie den Alltag von Menschen bestimmen, wichtiger, als das Festhalten an dieser auf eine Makrotheorie ausgerichteten Triade.
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den Menschen eine Orientierungshilfe bot, durch die Kriegsereignisse demontiert (Bringa 1995; Godina 1998). An ihre Stelle traten und treten neue bzw. alte identitäre Muster, die stark auf ethnonationalen Merkmalen und einer weit verbreiteten Opferperspektive beruhen (vgl. u.a. Šuber 2004). Letztere stellt eine der Perspektiven dar, durch welche die Menschen vor Ort ihre Kriegserfahrungen und Kriegserinnerungen deuten.
Die Frau als Friedensstifterin? Es wird in der Studie also von der Konstruktion und der Wirkungsmacht nationaler, ethnischer oder ethnoreligiöser Identifikation die Rede sein sowie von der Bedeutung der Opfer-Täter-Relationen für das gesellschaftliche Gefüge. In diesem intersektional angelegten Themenkomplex interessieren hier besonders die Sichtweisen und die Biografien von Frauen und deren Deutungen bei der Interpretation ihrer Kriegserfahrungen und -erinnerungen. Wie gehen die befragten Frauen mit ihrer (jüngsten) Vergangenheit um? Welche Bedeutung erhalten die unterschiedlichen Zugehörigkeiten und wie werden sie nach der Kriegserfahrung (neu) ausgehandelt? Frauen stehen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, weil sie in der Vorkriegszeit als intra- und interethnische Vermittlerinnen und Förderinnen von freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen fungierten (Bringa 1995; Iveković 1993; Sorabji 1989). Auch, weil sie im Krieg durch die ethnischen Säuberungen und den Auftrag, die eigene Ethnie biologisch und kulturell zu reproduzieren, zu Spielbällen der verfeindeten Gruppen wurden. Der mit dem Krieg aufkommende Nationalismus war stark vergeschlechtlicht16: »[…] the gendering of nationalist and populist discourses is instantiated through the imagination of the nation as a primarly or exlusively male community, in which women [were] represented as symbols, boundaries or reproducers of the nation – and the nation’s other.« (Sofos 1996: 75)
In der Literatur wird auch festgehalten, dass in erster Linie Frauen die Friedensbewegungen und die Hilfe für Notleidende organisierten (u.a. Iveković 1993; Nikolić-Ristanović 2000; Ramet 1999). Die Rollen der Frauen wurden einerseits auf die reproduktiven, nicht-politischen Aktivitäten reduziert (Weiblichkeit 16 | Wie Seifert (2001: 26) treffend festhält, eignet sich der englische Begriff gendered besonders gut, um einerseits den Umstand zu beschreiben, dass Kriege eng mit Geschlechterordnungen verknüpft sind und andererseits, dass Frauen und Männer von kriegerischen Auseinandersetzungen unterschiedlich betroffen sind und ihnen unterschiedliche Rollen und Positionen innerhalb der Gesellschaft zugewiesen werden. Ich benutze die deutsche Übersetzung ›vergeschlechtlicht‹.
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wurde mit Mutterschaft gleichgesetzt), andererseits wurden sie gerade dadurch als Trägerinnen der ethnischen Gruppen politisiert und damit zu strategischen Zielen der Kriegsführung. Wie oben angesprochen, wurden auch die Männer stereotypisiert: als gewalttätiger Krieger und Soldat, als aktiver Verteidiger des nationalen Territoriums. Interessant ist, wie sich diese essentialistischen Geschlechterbilder auch in der Nachkriegszeit fortsetzen, zum Teil auf paradoxe Weise. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Dayton intervenierte die internationale Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina mit dem Ziel, eine lebensfähige multi-ethnische, multi-religiöse und multi-sprachliche Gesellschaft zu etablieren (Hayden 2002; OSCE 1999). Gerade wegen ihrer vermittelnden Vorkriegsrollen, aber auch aufgrund der Vorstellung, sie seien passive Kriegsopfer und apolitische und anti-nationalistische (Haus-)Frauen und Mütter, die ethnischen Grenzen zu überwinden wüssten, förderte die internationale Gemeinschaft das Bild der ›friedliebenden‹ Frauen, wenn auch unter anderem Vorzeichen als während der Kriegszeit (Baines 2004; UNHCR-BIH 1997-1998)17. Die Frauen galten nun mehrheitlich als Personen, die sich nicht an der Umsetzung des radikalen Nationalismus beteiligt hatten. Deshalb identifizierte man sie als vielversprechende Schlüsselpersonen für zwischenethnische Versöhnung und Unterstützung der Minderheitenrückkehr und bestimmte sie für diese im Friedensvertrag festgelegten Aufgaben (Baines 2004: 97; Cockburn 1998; Cockburn et al. 2001; Helms 2003b). Die Frauen wurden dazu auserkoren, zentrale politische Ziele des Daytoner Friedensabkommens umzusetzen, während sie gleichzeitig von ebendiesen Organisationen in ihre häuslichen (Vorkriegs-)Rollen gedrängt wurden. So wie Gender also integraler Bestandteil des ethnischen Nationalismus während der Kriegszeit war, blieben die Geschlechtertopoi für die Nachkriegszeit und für das Ziel einer Annäherung der geteilten Gesellschaft bestimmend. Mit vorliegender empirischer Forschung sollen die konventionellen Bilder der Frauen als Kriegsopfer und als Friedensstifterin kritisch hinterfragt werden. Es gilt, die vielen verschiedenen Wege und Arten der ›Befriedung‹ zu dokumentieren.
Ethnische Zugehörigkeiten oder beyond Ethnicity? Mit Hilfe der gesammelten Daten sollen aber auch die Auswirkungen unterschiedlicher Zugehörigkeiten untersucht werden. Denn so, wie der bosnische Krieg als vergeschlechtlichter Krieg bezeichnet wird, spricht man in Zusammenhang mit diesem Krieg auch immer wieder von einem ethnischen oder einem ethnisierten Konflikt. Dies ist nicht zuletzt aufgrund des Kriegsziels der Entmischung ethnisch heterogener Bevölkerungen der Fall. Oft werden dabei 17 | Siehe auch Abgerufen am 22. April 2007.
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zwei konträre Argumente in die Diskussionen eingebracht: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die behaupten, der bosnische Krieg beruhe auf uralten Konflikten zwischen Bevölkerungsgruppen, »die sich seit Jahrhunderten immer wieder zerfleischt haben« (Hayden 2002: 237). Auf der anderen Seite wird behauptet, die serbischen, die kroatischen und die muslimischen (bosniakischen) Einwohnerinnen und Einwohner hätten in Bosnien seit jeher harmonisch zusammengelebt, bis ihre lokalen Gemeinschaften durch Konflikte zerrissen, die von politischen Eliten angestachelt worden seien (beispielsweise Denitch 1994; oder Donia und Fine 1994). Die vorliegende Arbeit wird nicht im Detail auf die Debatte eingehen, ob die bosnische Vorkriegsgellschaft tatsächlich so gewalttätig respektive so harmonisch war. Vielmehr interessieren die Auswirkungen des ethnisierten Krieges und der damit verbundenen Instrumentalisierung der Zugehörigkeiten auf die Menschen, die heute, in der problembehafteten Nachkriegszeit ihren Alltag zu bewältigen haben. Denn ganz ungeachtet der Frage, ob es sich um einen uralten oder um einen durch politische Parteien instrumentalisierten Konflikt handle, sind die Menschen und ihre sozialen Geflechte durch den ethnisierten und vergeschlechtlichten Krieg stark getroffen worden. Nicht nur haben sie mehrheitlich ihr Hab und Gut verloren, es zerbrachen auch langjährige Freundschaften – und das, weil die Beteiligten unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehörten. Mit den Worten des Schriftstellers Bora Ćosić (2007: 82) gefragt: »Wie ist es möglich, dass jemand eine langjährige Freundschaft abbricht, nur weil ihm eingefallen ist, dass wir verschiedenen ethnischen Gruppen angehören?« Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass in der Nachkriegszeit ein Konsens über die Formen des Zusammenlebens und eine alltagspraktische ›Normalisierung‹ im Sinne einer durchlässigeren Gesellschaft noch nicht zustande gekommen ist. Es sollen also die Herausforderungen und Schwierigkeiten beim sozialen Wiederaufbau in Bosnien-Herzegowina rekonstruiert werden, speziell für die im Nordwesten gelegene Gemeinde Prijedor. Dabei gilt es auch, den Wandel und die Persistenz dreier Zugehörigkeiten als gesellschaftliche Ordnungsmuster für die bosnische Nachkriegszeit zu diskutieren: der ethnisch motivierten, der geschlechtlichen sowie der Zugehörigkeiten zu Opfer- und Tätergruppen. In einem explorativen Sinn wird zunächst nach Brüchen und Krisen im Leben bosnischer Frauen gefragt. Dabei soll auch Gegenstand sein, wie – symbolisch gesprochen – Brücken und soziale Unterstützungen aussehen können, die beim Umgang mit Krisenerfahrungen helfen. Neben der Art und Weise, wie sich Grenzen mit Hilfe von Brücken überqueren lassen, werden genauso Grenzerfahrungen und Grenzwahrnehmungen thematisiert, die Abgrenzungsmechanismen zementieren helfen. Es geht um »Ort[e], wo sich eine allgemeine Zerrissenheit äußert« (Ćosić 2007: 78). So wird also auch gefragt, ob Brücken tatsächlich das geeignete Mittel darstellen, um eine Annäherung der zerrissenen Gesellschaft in Prijedor zu erreichen. Rivalitäten bezüglich der Frage nach
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Wahrheit und Erinnerung, nach unterschiedlichen Wahrnehmungen und Wirklichkeiten lassen sich – wie eingangs kurz umrissen – nicht einfach über die Konstruktion einer Brücke überwinden. Vielmehr kann gerade die vermeintlich verbindende Brücke Rivalitäten verfestigen und Symbol werden für einen Krieg im Frieden. In vorliegender Forschung sollen also die unterschiedlichen Umgangsweisen mit der jüngsten Kriegsvergangenheit und den Deutungen der Kriegserlebnisse rekonstruiert werden, ebenso die aktuellen geschlechter- und ethnisch basierten Opfer- und Täterrelationen aus der Perspektive serbischer und bosniakischer Frauen. Es handelt sich um ein Ringen um Wahrheit(en) und wie dieses Ringen das heutige Zusammenleben strukturiert. Denn es geht dabei immer um die »Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Vergangenheit und der Wir-Gruppe, zu der man gehört, [die] der Ausgangspunkt für individuelle und kollektive Identitätsentwürfe ist und dafür, für welche Handlungen man sich in der Gegenwart entscheidet – mit Blick in die Zukunft.« (Welzer 2001: 11)
1.3 P ROJEK TR AHMEN Die Lokalitäten in Bosnien-Herzegowina unterscheiden sich bezüglich Demografie, Geografie, Politik und Geschichte stark voneinander. Wie Jansen (2007: 207) betont, gab es deshalb nicht einen bosnischen Krieg, sondern unzählige lokal ausgerichtete Kriege. Daher sind auch die jüngsten Kriegserfahrungen verschieden, und es erscheint zwingend notwendig, die lokalen Begebenheiten im Detail zu beleuchten. Erst dann lassen sich ein ausbalanciertes Bild der Ereignisse während des Krieges aber vor allem auch in der Nachkriegszeit zeichnen und verallgemeinernde Schlüsse für die bosnische Nachkriegsgesellschaft ziehen. Die ethnografischen Daten für die vorliegende Forschung wurden während mehrerer Feldaufenthalte in den Jahren 2005 und 2006 erhoben. Damals wurden Interviews geführt und diverses anderes Datenmaterial gesammelt. Deshalb beziehen sich Analyse und Argumentation ausschließlich auf diese Periode. Die neusten Entwicklungen in der Region, wie zum Beispiel die im Jahre 2008 endlich ermöglichte Verhaftung des seit über zwölf Jahren gesuchten Flüchtigen Radovan Karađić oder die Auswirkungen der Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Februar 2008, können für die Argumentation nicht berücksichtigt werden. Nicht nur, weil sich die interviewten Frauen nicht darauf beziehen konnten: Es muss sich zuerst noch weisen, welche längerfristigen Auswirkungen die kosovarische Unabhängigkeit auf die Region hat und ob die Verhaftung von Karađić Serbien und Bosnien den nötigen Richtungswechsel bringen kann
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oder nicht. Denn solche langersehnten Fortschritte sind zwar durchaus hart erarbeitet, gleichzeitig aber auch äußerst fragil. Das wissenschaftliche Interesse an der Situation des Landes geht auf frühere Forschungsaufenthalte seit dem Jahre 1999 zurück. Damals hielt ich mich für meine Lizenziatsarbeit einen Sommer lang in der bosnischen Hauptstadt auf, um Interviews mit aus der Schweiz zurückgekehrten jugendlichen Flüchtlingen durchzuführen (Sieber und Scholer 2001). Seit dieser ersten Forschung kehre ich immer wieder nach Bosnien zurück, sei es für weiterführende Forschungen oder zur Pflege damals gewonnener Freundschaften. Für die Forschungsperiode 2005/06 ließ ich mich aber in einer mir bis dahin wenig bekannten Gemeinde nieder: Prijedor, im Nordwesten des Landes in der serbischen Republik gelegen, sechs Autofahrtstunden von der Hauptstadt Sarajevo, aber nur zwei von der kroatischen Metropole Zagreb entfernt.
Prijedor – der Forschungsort Abbildung 2: Prijedor mit dem Hügelzug Kozara – April 2005/© A. Sieber
Wie Mostar und viele andere bosnische Städte liegt auch Prijedor an einem Fluss – der Sana. Nach Banja Luka ist Prijedor die zweitgrößte Stadt der serbischen Republik. Sie leiht ihren Namen zugleich der politischen Gemeinde mit 112.000 Bewohnerinnen und Bewohner. Doch die Kleinstadt mit rund 65.000
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Einwohnerinnen und Einwohnern stellt keine Touristenattraktion dar, anders als etwa Mostar oder Sarajevo. Sie liegt am Fuße des waldigen Hügelzuges Kozara, ist aber von stillgelegter Industrie geprägt und für ausländische Besucherinnen und Besucher ein trostloses Pflaster. Vor dem Krieg war Prijedor eine im Aufschwung begriffene Industriestadt. Der größte Arbeitgeber war das Eisenerzbergwerk Ljubija-Omarska (Rudnik Ljubija)18. Daneben gab es vor Ort eine große Papier- und Zellulosefabrik (Celpak), eine Dachziegel- und Keramikfabrik (Keraterm) sowie eine Keksfabrik (Mira Čikota) und eine Kleiderfabrik. Die umliegenden Dörfer waren geprägt von intensiver Landwirtschaft. Die durch die grüne Flusslandschaft und den umgebenden Nationalpark Kozara geprägte Idylle trügt: Der Krieg der 1990er Jahre hinterließ in dieser Region massive Spuren sowohl in der Landschaft als auch an den Häusern und in den Seelen der Menschen. Der Alltag der Einwohnerinnen und Einwohner ist geprägt von den Kriegserlebnissen und den Kriegsfolgen wie Armut und Arbeitslosigkeit, begleitet von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Dennoch erkämpfen sich viele Menschen die Wiederherstellung einer gewissen Normalität. Dem durchreisenden Besucher mag es nicht unbedingt auffallen, doch der Forscherin erscheint diese erkämpfte Normalität als trostlose Szenerie, eine Art Pseudonormalität, die zu viele Risse und Ungereimtheiten durchziehen. Dieser fassadenhafte Eindruck weckte das Forschungsinteresse, einen Blick hinter die Kulissen in Prijedor zu werfen und einen vertieften Einblick in den Alltag der dort lebenden Frauen zu gewinnen – um die mannigfach verschiedenen und sich ähnelnden Arten des Umgangs mit der Vergangenheit zu untersuchen, die sich in Prijedor nach dem Krieg herausgebildet haben. Mehrere Gründe sprachen für die Wahl Prijedors als Forschungsort. Zum einen waren es die Kriegsereignisse, die Prijedor für das Forschungsinteresse 18 | Heute gehört das Bergwerk zum weltweit größten Stahlkonzern Mittal Steel. Da sich auf dem Gelände des Bergwerks in Ormaska das schlimmste der drei Konzentrationslager befand, geriet der Mehrheitsaktionär Lakshmi Mittal im Jahre 2005 in eine etwas unangenehme Lage. Einerseits besitzt die bosnisch-serbische Regierung 49 % des Bergwerks, und sie will es vollumfänglich dem Betrieb überlassen und die Ereignisse des Jahres 1992 aus dem Bewusstsein verdrängen. Andererseits gibt es die vorwiegend bosniakischen Überlebenden und Angehörige der Opfer, die auf dem Gelände des Bergwerks ein Mahnmal errichten wollen. Zudem werden auf dem Gelände Massengräber vermutet. Daher wollen besonders die Angehörigen der immer noch über 3.300 Vermissten aus der Region das Gelände nicht dem Betrieb überlassen, sondern die Bewilligung erhalten, nach Massengräbern zu suchen. Die vertrackte Situation, in die Mittal Steel mit der Übernahme des Konzerns geriet und die von Lakshmi Mittal angestrebte Lösung sind ein Beispiel eines gescheiterten Versöhnungsprojektes zwischen der serbischen und der bosniakischen Bevölkerung, über das nachfolgend noch berichtet wird (vgl. Kapitel 12).
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besonders aufschlussreich machten: Bereits im Jahre 1992, kurz nach Kriegsausbruch, war die Gemeinde in den Blick der Weltpresse geraten. Kriegsstrategisch wichtig gelegen, war die Region von den serbischen Kriegsherren in einer Nacht- und Nebelaktion eingenommen worden. Was danach in der Stadt und vor allem in den umliegenden mehrheitlich von muslimischen Bosnierinnen und Bosniern bewohnten Dörfern geschah, erschütterte die weltweite Öffentlichkeit nachhaltig: Die brutalen ethnischen Säuberungen, die nicht enden wollenden Flüchtlingsströme nach Westeuropa und die vom britischen Journalisten Ed Vulliamy im August 1992 aufgedeckte Existenz der drei Konzentrations- und Internierungslager ›Omarska‹, ›Keraterm‹ und ›Trnopolje‹ prägen seither das Bild der Region. Es sind vor allem die Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Sozialstruktur, die hier interessieren. Vor den kriegerischen Auseinandersetzungen lebten rund 42,5 Prozent Serbinnen und Serben sowie 44 Prozent Bosniakinnen und Bosniaken in der Gemeinde. Letztgenannte machten Ende des Krieges 1995 infolge der ethnischen Säuberungen noch ein Prozent der Bevölkerung aus, wohingegen sich der serbische Bevölkerungsanteil verdoppelt hatte (Donia 2002; Greve 1994). Doch Forschungsneugier weckte auch die Tatsache, dass die internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen die Region wegen der vielen Rückkehrenden als Vorzeigebeispiel für gelungene Rückkehrprogramme und Wiedereingliederungsprozesse anführten (um nur einen Bericht zu nennen: OSCE 2006). Präsentieren sich die gelungenen Rückkehr- und Reintegrationsprozesse tatsächlich so positiv wie in den Berichten internationaler Organisationen dargestellt? Nicht minder bestimmend war aber auch der Umstand, dass im Jahre 2005 – der geplante Zeitpunkt des längeren Forschungsaufenthaltes – bereits zum zehnten Mal eine Gedenkfeier zum Srebrenica-Massaker stattfinden sollte, die weltweite mediale, aber auch die wissenschaftliche Aufmerksamkeit also wohl dieser Kleinstadt im Osten Bosniens gelten würde. Bei Diskussionen um den Bosnienkrieg und seine sozialen und psychischen Folgen werden immer wieder Srebrenica, Mostar und Sarajevo als Beispiel angeführt. Daher beschäftigt sich vorliegende Forschung mit einer anderen Region des Landes.
Datenkorpus und Methode Ein zentrales Resultat meiner ersten Forschung in Bosnien-Herzegowina wies auf die Wichtigkeit sozialer Beziehungen für die (Re-)Integration der Nachkriegsgesellschaft hin (Sieber und Scholer 2001). Damit war der thematische Rahmen der vorliegenden Studie zum Voraus lose bestimmt. Wie oben dargelegt, ließ die Fragestellung Frauen von Beginn an als geeignete Befragtengruppe erscheinen. Nicht nur, weil Frauen als zwischen-ethnische Vermittlerinnen und Förderinnen von freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen für besonders geeignet galten, die gesellschaftliche (Re-)Integration zu begünstigen, sondern auch, weil sie durch die Darstellung als passive Opfer des Krieges
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für politisch unparteiisch und moralisch rein gehalten wurden. Damit drängte man die Frauen zwar in ambivalente Rollen, diese boten ihnen aber auch vielfältige Möglichkeiten, mit den gewalttätigen Ereignissen der Vergangenheit umzugehen. Nicht zuletzt war auch der Umstand relevant, dass ich als Frau einfacheren Zugang zur Lebenswelt der Frauen finden konnte. Die 3219 in die Studie eingeschlossenen Frauen unterscheiden sich voneinander hinsichtlich ihres sozio-ökonomischen Hintergrunds, ihres Alters, der ethnoreligiösen Zugehörigkeit20 und ihrer Kriegs- und Migrationserfahrungen. Besonders letzteres Unterscheidungsmerkmal hat sich im Laufe der Forschung als zentral erwiesen. Um die gesellschaftlichen Positionen der Frauen und ihre Art des Umgangs mit der Vergangenheit festzuhalten, bediente ich mich zweier verschiedener methodischer Zugangsweisen: Einerseits erhob ich anhand der sozialanthropologischen und ego-zentrierten Netzwerkanalyse (Schweizer 1996) die soziale Einbettung der Frauen, andererseits erfragte ich mit Hilfe des biografisch-narrativen Interviews (Helfferich 2005) die Lebensgeschichten der Frauen für die Zeitspannen vor, während und nach dem Krieg. Mit den Ideen der Grounded Theory und in Kombination mit der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, welche auf eine präzise Rekonstruktion des Falles sowie auf verallgemeinerbare analytische Schlüsse zielen, wurde das vorliegende Interviewmaterial analysiert. Das Vorgehen war dabei vorwiegend durch eine Methodentriangualation bestimmt (nach Strauss (1998), Dausien (2002), aber auch angeleitet durch diverse Forschungswerkstätten mit den Proff. Bettina Dausien, Paul Mecheril, Mechthild Bereswill und Ulrich Oevermann). Der gesamte Datenkorpus wurde hinsichtlich soziodemografischer Daten sowie der in den Interviews relevanten Thematik erschlossen. Auf dieser Basis wurden Kategorien gebildet und die Frauen anhand ihrer Kriegs- und Migrationserfahrungen sowie der im Interview zentralen Themen kategorisiert. Die angesprochenen Themen waren: Fragen der Zugehörigkeit; der Umgang mit der jüngsten Vergangenheit; die Rolle der Frauen im Versöhnungsprozess und ihre Aussagen hinsichtlich der gesellschaftlichen Integrations- resp. Segregationsproblematik. 19 | Von rund 50 geführten Gesprächen konzentrierte ich mich für die Interviews auf 32 Frauen, mit welchen ich biografisch-narrative Interviews durchführte sowie ihre Netzwerke erhob. 20 | Für die Situation in Bosnien-Herzegowina kann festgehalten werden, dass in der ethnischen Zugehörigkeit immer auch das religiöse Moment eingeschlossen ist. Für eine ausführliche Diskussion dieser Verschränkung verweise ich auf Mojzes (1994). Hier sei soviel gesagt: Dass die ethnische Zugehörigkeit eng mit der religiösen verflochten ist, zeigt sich auch in Alltagskonversationen, wenn Menschen die ethnischen und religiösen Terminologien synonym verwenden, ohne sich dessen bewusst zu sein (vgl. dazu Mojzes 1999: 74ff.) In vorliegender Arbeit werden die Begriffe ethnisch und ethnoreligiös verwendet.
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Die Resultate dieser rein deskriptiven Auswertung wurden für Auswahl und Einordnung der Einzelfälle benutzt. Die Einzelfälle wurden im Sinne des theoretical sampling ausgewählt, »demzufolge die Auswahl der Untersuchungseinheiten sich davon ableiten lässt, ob die ausgewählten Fälle das Wissen über den Untersuchungsgegenstand zu erweitern geeignet sind oder nicht« (Arni 2004: 17). Die Feinselektion und Auswahl der hier präsentierten Fälle geschah also entlang der aus allen Interviews relevanten Thematiken und hing nicht zuletzt auch von der Qualität der Interviews und der Möglichkeit ab, die Fälle komplementär darzustellen. Das Ensemble verschiedener Textsorten – narrative Interviews, Fragebogen der ego-zentrierten Netzwerkanalyse, wissenschaftliche Literatur, Zeitungsartikel, diverse informelle Gespräche, Feldnotizen und unterschiedliches Filmmaterial – erlaubt es zudem, das Erkenntnisinteresse aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Die ausgewählten Fälle sollen die Problematik der Prijedorer Nachkriegsgesellschaft in ihrer Ganzheit exemplifizieren. Zum forschungspraktischen Vorgehen gilt es noch eine Bemerkung anzufügen: Für die Erhebung der Daten und die Nachbearbeitung der Gespräche war eine Feldassistentin wichtig.21 Diese diente einerseits als Schlüsselperson für das Erreichen möglicher Interviewpartnerinnen, andererseits aber auch für allfällige Übersetzungsdienste. Ihre Sprachkenntnisse waren besonders bei der Durchführung der Interviews zentral. Ich beherrsche die lokale Sprache genügend um alltäglichen Konversationen zu folgen, aber zu wenig, um vertiefte, über mehrere Stunden dauernde Gespräche zu führen, die zudem so heikle Themen wie Krieg, Traumatisierung, Vergewaltigung etc. zum Inhalt haben. Sicherheitsübersetzungen waren deshalb immer wieder wichtig (siehe dazu auch Kapitel 2.2.3). Mit der Feldassistentin war es zudem ebenfalls möglich, die Erlebnisse nachzubearbeiten. Bedeutungsvoll für das Reflektieren meiner alltäglichen Erlebnisse war aber auch mein Wohnungspartner. Dieser arbeitete bei einer kleinen, lokalen Nichtregierungsorganisation und er hielt mich über die Aktivitäten der vor Ort tätigen Nichtregierungsorganisationen auf dem Laufenden.
1.4 Z UM A UFBAU DER A RBEIT Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Anschließend an diese Einführung folgen in Teil I zwei umfassende Kontextkapitel. Als erstes wird der methodisch-theoretische Zugang erläutert (Kapitel 2). In Zusammenhang mit der Kapital- und Ha21 | Finanziert wurden die Feldassistentin und die weiteren studentischen Hilfskräfte durch das Programm »Jeunes Chercheurs« von der Kommission für Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern KFPE und dem Departement für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza. Die Hilfskräfte waren mir ganz besonders bei der Transkription der Interviews eine große Hilfe.
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bitustheorie von Pierre Bourdieu werden die theoretischen Überlegungen zur Netzwerkanalyse sowie das methodische Vorgehen derselben vorgestellt. Die zweite angewandte Methode der biografischen Interviews wird mit der theoretischen Diskussion um ethnische und andere Zugehörigkeiten ergänzt. Eingeflochten in diesen Teil sind reflexive Überlegungen der Methodenkombination. Anschließend wird ein Rückblick in die Geschichte der Region vorgenommen (Kapitel 3). Im Besonderen benötigt die Diskussion des Forschungsgegenstandes einen Fokus auf die Zugehörigkeitspraxis, den nationalistischen Diskurs und dessen Auswirkungen auf die Region. In diesem Zusammenhang werden die vor dem jüngsten Krieg im sozialistischen Jugoslawien vorherrschenden Zugehörigkeiten vorgestellt wie auch die Geschlechterrollen zwischen traditioneller Gemeinschaft und sozialistischer Gesellschaft erschlossen. Darauf folgen die Darlegung des vergeschlechtlichten Krieges und zentrale feldspezifische Vorüberlegungen zur Nachkriegssituation. In Teil II werden die Grundlagen aller befragten Frauen sowie ihre Unterstützungsnetzwerke in ihrer Gesamtheit diskutiert (Kapitel 4). Es werden erste Annahmen formuliert, welche nachfolgend helfen sollen, die soziale Problematik der Prijedorer Nachkriegsgesellschaft zu fassen. Anschließend werden fünf ausgewählte Fälle in ihrer Fallgeschichtlichkeit rekonstruiert. An jede Darlegung der Fallgeschichte schließt sich ein Analyseteil an, in welchem die dem Fall zugeordnete Problematik analysiert wird. Grundsätzlich geht es bei der Präsentation der Fälle darum, die unterschiedlichen Arten und Weisen des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit zu diskutieren und daran den schwierigen und langfristigen sozialen Wiederaufbau der Nachkriegsgesellschaft zu erörtern. Eröffnet werden die Fälle mit dem Fall Sivac (Kapitel 5), eine Rückkehrerin, die aufgrund ihrer Erlebnisse und ihres professionellen Habitus die geeignete Person darstellen würde, den Versöhnungsprozess in der Gemeinde anzugehen. Dass ihr gerade wegen ihrer Kriegserlebnisse, aber auch wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ein beruflicher Wiedereinstieg versagt wird, stellt nicht nur für sie persönlich eine Tragödie dar, sondern auch für die gesamte Gesellschaft vor Ort. Auf Frau Sivac folgt die Internvertriebene Frau Begović (Kapitel 6), die als Kriegswitwe in der Nachkriegssituation mit ganz besonderen Hindernissen konfrontiert wird. Nicht zu wissen, was ihrem Ehemann während des Krieges widerfuhr, und ihn nicht gebührend beerdigen zu können, stellen eine große Belastung für die nun alleinerziehende Frau dar – ein Schicksal, das sie mit einem Großteil der bosniakischen Gemeinschaft in Prijedor teilt. Die zermürbende Ungewissheit über den Verbleib der Vermissten ist ein von Frau Sivac erkannter Umstand, für dessen Veränderung sie sich unermüdlich und unentgeltlich einsetzt. Ganz anders präsentieren sich die Fälle Živković (Kapitel 7) und Ivanović (Kapitel 8). Diese zwei Frauen blieben während der Kriegsjahre in Prijedor und üben nun in der Nachkriegszeit Kritik an der bosniakischen Art, mit der Vergangenheit umzugehen. Das Schweigen über
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die Geschehnisse ist ihrer Meinung nach der adäquate Umgang, denn schließlich seien alle zu Opfern der Ereignisse geworden. Damit thematisieren beide Frauen die gesamtgesellschaftliche Viktimisierung, die den sozialen Wiederaufbauprozess in der Gemeinde massiv erschwert. Mit Frau Sotivor-Borić (Kapitel 9) werden die fünf Fälle abgeschlossen. Anhand ihrer Lebensgeschichte wird diskutiert, wie Menschen trotz Schicksalsschlägen Bereitschaft zeigen, den zwischenethnischen Versöhnungsprozess voranzutreiben. Allerdings ist Frau Sotivor-Borićs Engagement, das über ethnische Gräben hinweg reicht, von ihrer eigenen Gemeinschaft scharf verurteilt worden. Folge davon ist nicht nur ein persönliches Scheitern, sondern ebenso ein Scheitern, das die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Im abschließenden Diskussionsteil III (Kapitel 10, 11 und 12) wird die anhand der fünf Fälle erörterte Nachkriegsproblematik in einen größeren Zusammenhang gestellt. Die aus den Fällen extrahierten Schlüsse werden anhand theoretischer Überlegungen diskutiert. In einer Zusammenfassung (Kapitel 13) wird ein Fazit der gesamten Arbeit gezogen.
1.5 F ORMALE A NMERKUNGEN In der vorliegenden Studie gebe ich so viel wie möglich in Form von Originalaussagen der Interviewpartnerinnen wieder. Dazu wurden die transkribierten Interviews von meiner Feldassistentin und mir ins Deutsche übersetzt. Mit diesen übersetzten Transkripten führte ich die Analyse der Interviews durch. Um der Lesefreundlichkeit willen wurden die übersetzten Originalaussagen korrekt eingedeutscht. Allfällige Sprichwörter oder Redensarten sowie wichtige lokale Termini werden im Original beibehalten. Zusätzlich zu den Interviewtranskripten wird für die Falldarlegungen auch auf Feldnotizen und Feldtagebücher zurückgegriffen. Wo aus diesen beiden Quellen zitiert wird, wird es in Fußnoten so vermerkt. Eine Folge des heterogenen Datenmaterials ist die Schwierigkeit, die unterschiedlichen analytischen Ebenen auseinander zu halten. Einerseits werden die Interviewpartnerinnen mit ihren eigenen Interpretationen wiedergegeben, andererseits trete aber auch ich selbst als Interviewerin, Zuhörerin, Nacherzählerin und Interpretin auf. Diese Ebenen sind im Besonderen für die Falldarlegungen schwierig auseinander zu halten. Diesem Umstand Rechnung tragend, sind die Fälle unterteilt: in einen deskriptiven Teil, der die Lebensgeschichte der Interviewpartnerin in ihren Worten darlegt, und in einen analytischen, in dem ich als Interpretin fungiere. Trotz der vielen Originalaussagen ist es mir ein zentrales Anliegen, Anonymität und Privatsphäre der einzelnen Informantinnen zu wahren und sie durch meine Interpretationen in ihrer Persönlichkeit nicht verletzt werden. Aus diesem Grund anonymisierte ich alle Interviewpartnerinnen vollständig und
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strukturhomolog, was auch die Veränderung wichtiger Strukturmerkmale zur Folge hat. Übertragen auf die Schweiz bedeutet das beispielsweise, dass der Geburtsort Luzern strukturhomolog zur katholischen Kleinstadt Fribourg wird. Mit dieser Anonymisierungsstrategie ist es in den Falldarlegungen allerdings nicht mehr möglich, Quellenberichte der Herkunftsorte offenzulegen. Die Ortsnamen der Gemeinde Prijedor sind jedoch keine Pseudonyme. Diese sind authentisch, weil ansonsten die sozialhistorische Analyse kaum möglich wäre und die entsprechenden Kontexte nicht einbezogen werden könnten. Mit der gewählten Anonymisierungsstrategie war eine der interviewten Frauen explizit nicht einverstanden. Es handelt sich um Frau Sivac, deren Fallgeschichte in Kapitel 5 ausführlich dargelegt wird. Trotz meiner Bedenken bezüglich ihres persönlichen Schutzes und der Forschungsethik bestand sie von Beginn an darauf, unter ihrem richtigen Namen zu erscheinen. Damit wollte sie die Identifikation ihrer Person ganz offensichtlich zulassen, denn es ist ihr ein zentrales Anliegen, dass die Welt erfährt, was ihr persönlich widerfahren ist. Wohl deshalb stellte sie sich am Internationalen Strafgerichtshof ICTY als Zeugin zur Verfügung und hatte vor unserem Interview bereits unzähligen Journalisten Fragen zu ihrer Kriegszeit beantwortet (u.a.Wesselingh und Vaulerin 2005). In der philosophischen Online-Zeitschrift Astérion publizierte sie zudem eine kurz gefasste Schilderung ihrer Kriegserlebnisse (Sivac 2004). Über die Gräueltaten zu sprechen, betonte sie mir gegenüber, sei so eminent wichtig, »weil ohne die lebenden Zeugen, die nachfolgenden Generationen über die schrecklichen Ereignisse nur noch spekulieren können.« Nicht ohne forschungsethische Bedenken komme ich ihrem ausdrücklichen Wunsche nach22 . Falls andere öffentliche Personen (wie Politikerinnen und Politiker) in den Falldarlegungen vorkommen, werden diese jeweils mit ihren Vor- und Nachnamen erwähnt. Trotz strukturhomologem Vorgehen ist aus einem für Bosnien-Herzegowina zentralen Grund die volle Anonymität der anderen Interviewpartnerinnen nur bedingt möglich. Die Ethnizität resp. die ethnischen Zugehörigkeiten der Informantinnen und Informanten sind aufgrund der mehrschichtigen Affiliation über Religion, Sprache (Vokabular, Aussprache, lateinisches oder kyrillisches Alphabet, Namen), geografische Positionen und Migrationserfahrungen, politische Mitgliedschaft etc. leicht eruierbar. Leserinnen und Leser, die mit Bosnien vertraut sind, werden wohl die ethnische Zugehörigkeit anhand der benutzen Pseudonyme leicht erkennen können. Doch weil vor Ort die Unterscheidungen nach ethnischen Kriterien immer noch als zentral erscheinen, war es mir wichtig, die ethnischen Zugehörigkeiten nicht zu verfälschen. Ich versuche allerdings, vorsichtig und wohlüberlegt damit umzugehen.
22 | Ich bin mir bewusst, dass durch das Erfüllen des Wunsches von Frau Sivac keine einheitliche Anonymisierungsstrategie mehr besteht.
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Für allgemeine Bezeichnungen orientiere ich mich an den Begriffen, wie sie in der gängigen Debatte und in der Verfassung verwendet werden.23 Dies allerdings im vollen Bewusstsein, dass diese Zuschreibungspraxis zum Krieg geführt hat und heute für die ethnische Trennung und die Unmöglichkeit einer Annäherung der verfeindeten Gruppen mitverantwortlich ist. So wird für die Mehrheit der als Serbinnen und Serben bezeichneten Bewohnerinnen und Bewohner Bosniens angenommen, sie gehörten der serbisch-orthodoxen Glaubensrichtung an, die Bosniakinnen und Bosniaken mehrheitlich dem Islam und die Kroatinnen und Kroaten der römisch-katholischen Kirche. Wo dies für die hier befragten Frauen nicht zutrifft, wird es vermerkt. Zum Schluss noch dies: Aufgrund meiner langjährigen Auseinandersetzung mit Bosnien-Herzegowina und der daraus entstandenen Vernetzung hatte ich schon immer mehr mit Bosniakinnen und Bosniaken zu tun als mit Serbinnen und Serben. Deshalb kann der Eindruck entstehen, ich sympathisierte mit der ›Seite‹ der muslimischen Bevölkerungsgruppe und betrachtete die ›Anderen‹ als die Schuldigen am Krieg und der heutigen Misere. Dieser sehr verbreiteten, aber nicht minder vereinfachenden und moralischen Sichtweise (Živković 2001: xxv) möchte ich mit dieser Arbeit entgegentreten und im Gegenteil aufzeigen, wie komplex, überlappend und veränderlich sich die Identifikationen und Zugehörigkeiten ausgestalten. Es wird von Opferbildern die Rede sein, von Opferidentitäten und davon, was diese Identifikationen bewirken oder verhindern können. Wie sich im Verlauf der Forschung herausstellte, ist Ethnizität bloß ein Merkmal dieser Zugehörigkeiten, und die Opferbilder können auf allen Seiten Gültigkeit haben.
23 | (The General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, Annex 4, Preamble: »[…] Bosniacs, Croats, and Serbs, as constituent peoples (along with Others), and citizens of Bosnia and Herzegovina hereby determine […]«).
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Teil I Methodische, theoretische und historische Grundlagen
In Teil I dieser Arbeit werden die methodischen, theoretischen und soziokulturellen Grundlagen der Studie vorgestellt. Zuerst kommen in Kapitel 2 die gewählten methodischen Rahmenbedingungen zur Sprache, die hauptsächlich mit zwei theoretischen Überlegungen verknüpft werden: Zum einen mit Pierre Bourdieus Habitus- und Kapitaltheorie, die richtungsweisend für das Erkenntnisinteresse ist, zum anderen mit dem verwendeten Konzept der Zugehörigkeiten. Kapitel 2 schließt mit einer Reflexion des methodisch-theoretischen Zugangs ab. Anschließend befasst sich Kapitel 3 mit der Geschichte der Region. Dabei interessiert in erster Linie die Herausbildung spezifischer Zugehörigkeiten, da sich diese bei der Analyse des Interviewmaterials für die Nachkriegszeit in Prijedor und den Umgang mit den vergangenen Ereignissen als zentral erwiesen haben. Ebenso werden Überlegungen zu den Geschlechterverhältnissen während der sozialistischen Zeit und dem vergeschlechtlichten Krieg angestellt. Abgeschlossen wird das Kapitel mit Aussagen zur Nachkriegsproblematik und zur Versöhnung.
2. Die Netzwerkanalyse und das biografische Interview
Ziel des Kapitels 2 ist es, die Forschung theoretisch-methodisch zu rahmen. Da ich mit zwei gänzlich unterschiedlichen Methoden gearbeitet habe – mit der sozialanthropologischen Netzwerkanalyse und den biografisch-narrativen Interviews – bedarf es einer etwas ausführlicheren Darlegung dieser beiden Ansätze und der Gründe, die für eine Kombination sprechen. Es geht in den folgenden Kapiteln aber nicht bloß um eine Darstellung der methodischen Triangulation und einer eingehenden Reflexion derselben, sondern auch um die Theorien, die mit den gewählten Methoden eng verknüpft sind oder sich für diese beiden Methoden anbieten. Im Folgenden verbinde ich die Netzwerkanalyse mit Pierre Bourdieus Struktur-Habitus-Theorie und die Methode der narrativen Interviews mit der Diskussion um Zugehörigkeiten. Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse sind beide Theorien für beide methodischen Ansätze richtungsweisend. Die Netzwerkanalyse bietet einen Rahmen, um die Sozialstruktur der Interviewpartnerinnen sowohl analytisch als auch theoretisch zu fassen. Kapitel 2.1 legt sowohl theoretische Überlegungen als auch das methodische Vorgehen und das begriffliche Instrumentarium dar, das bei der Analyse von Netzwerken verwendet wird. Bis vor kurzem wurde in der Netzwerkanalyse das Vermittelnde zwischen Struktur und sozialer Praxis vernachlässigt (vgl. grundsätzlich zu einer solchen Betrachtungsweise Dahinden 2005a). In Pierre Bourdieus Ausführungen zu Habitusformationen und Kapitaltheorien tritt der Habitus als vermittelnde Instanz zwischen sozialstrukturelle Zugehörigkeit und Alltagshandeln; daher drängt sich ein Blick auf seine Konzepte geradezu auf, um die erwähnte Vernachlässigung zu vermeiden. Drei in der Netzwerkforschung gebräuchliche Thesen sollen anschließend vorgestellt werden: die Kohäsion und das Handeln, die Stärke der schwachen Beziehungen sowie der Einfluss der Kognition auf die sozialen Beziehungen. Erste Überlegungen zu Grenzen und Schwierigkeiten der Netzwerkanalyse schließen Kapitel 2.1 ab. Für das Erkenntnisinteresse ist aber auch ein vertiefter Blick in die Lebensbedingungen der Frauen für die Zeitspannen vor dem Krieg – während des Krieges
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– nach dem Krieg/heute erforderlich (Kapitel 2.2). Während der Feldaufenthalte wurden mit biografisch-narrativen Interviews die Lebensgeschichten der Frauen erfasst. Zurück aus dem Feld galt es, die abgefragten Lebensgeschichten sowie die Sinnhaftigkeit dieser Erzählungen auszuwerten; die Vorgehensweise war dabei von der Grounded Theory und der rekonstruktionslogischen Sequenzanalyse beeinflusst (nach Strauss (1998), Dausien (2002) und Wernet (2000), aber auch angeleitet durch diverse Forschungswerkstätten mit den Proff. Bettina Dausien, Paul Mecheril, Mechthild Bereswill und Ulrich Oevermann). Auf diese Weise lassen sich Fragen nach unterschiedlichen Erfahrungen der Differenz vertieft thematisieren, ebenso die allgemeinen Auswirkungen dieser Erfahrungen auf den Umgang mit der Vergangenheit, die Rolle der Frauen für die Versöhnung sowie die Strukturproblematik der Nachkriegsgesellschaft. Da in dieser Arbeit Differenz- und Ungleichheitserfahrungen sowie unterschiedliche Zugehörigkeiten zentrale Momente darstellen, bieten sich nebst dem HabitusKonzept und den Kapitalformationen auch Konzepte der Zugehörigkeiten (belonging) als theoretisch-analytische Rahmung an (u.a. Christiansen 2006; Lovell 1998; Mecheril 2003; Yuval-Davis 2006). Mit dem Ansatz, dass unterschiedliche Zugehörigkeiten (Ethnizität, Klasse, Geschlecht etc.) nicht einzeln, sondern jeweils in ihrer Überschneidung wirksam werden (u.a. Anthias 2001; Crenshaw 1989; Klinger und Knapp 2005; Knapp 2005), lassen sich die in Bosnien-Herzegowina vorhandenen situativen, multiplen und sich andauernd verändernden Identifikationen und Zugehörigkeiten sinnvoll erfassen. Als Abschluss des Kapitels 2 folgt ein persönliches reflexives Fazit der gewählten Methoden und Theorien (Kapitel 2.3). Es ist mir ein großes Anliegen, sowohl die Problematik als auch das Befruchtende einer Kombination dieser beiden sehr unterschiedlichen Forschungsmethoden einer reflexiven Betrachtung zu unterziehen. Denn die Methodenlehre und diverse sozialwissenschaftliche Forschungen weisen vermehrt auf die Möglichkeit dieser Verbindung hin. Indes wird über ihre Fallstricke noch zu wenig reflektiert.
2.1 Z UR N E T Z WERK ANALYSE Die Netzwerkanalyse ist ein viel versprechender Ansatz zur Erläuterung sozialer Prozesse und sozialen Wandels in komplexen Gesellschaften, da mit dieser Art der Erhebung und Analyse die Formation, Reproduktion und Transformation sozialer Beziehungen erklärt werden kann (siehe dazu Emirbayer und Goodwin 1994; Hannerz 1980; Jansen 2003; Pappi 1987; Schweizer 1988b, 1996). Auch für die Untersuchung der Relevanz spezifizierter sozialer Beziehungen nach Krisensituationen bietet die Netzwerkanalyse einen geeigneten Rahmen. Entwickelt wurde die Netzwerkanalyse in den 1950er und 1960er Jahren von britischen Sozialanthropologen. In den 1980er Jahren rückte sie in Zusam-
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menhang mit der Kritik am Strukturfunktionalismus stark in den Hintergrund, kommt heute aber in der Sozialanthropologie und der Soziologie wieder vermehrt zur Anwendung als allgemeiner Forschungsrahmen zur Strukturanalyse flüchtiger wie auch verfestigter Beziehungen in Sozialsystemen (für eine ausführliche Darlegung der Entstehungsgeschichte siehe Jansen 2003: 37ff.; Schweizer 1988b) (für Netzwerkforschungen siehe u.a. Bott 1971; Dahinden 2005a; Diaz-Bone 1997; Hettlage et al. 2007; Schweizer 1988a; Serdült 2005). Die Begründer der sozialanthropologischen Netzwerkanalyse, die sogenannten Manchester-Anthropologen Clyde J. Mitchell, John A. Barnes, Elizabeth Bott und Arnold L. Epstein, prägten den Begriff des sozialen Netzwerks. In Abgrenzung zur Netzwerkmetapher der Alltagssprache1 definiert Mitchell Netzwerk im analytischen Sinn als »a specific set of linkages among a defined set of persons, with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used to interpret the social behaviour of the persons involved« (Mitchell 1969b: 2). Damit verstanden die Manchester-Ethnologen die Netzwerkanalyse als Ergänzung zu strukturfunktionalistisch geprägten Untersuchungen von verfestigten (Verwandtschafts-)Institutionen und zugleich als konstruktive Antwort auf die damals bereits aufkommende Kritik am Strukturfunktionalismus, welcher sozialen Wandel nicht befriedigend erklärte. Als besonders geeignet erschien damals die Netzwerkanalyse für die Untersuchung diffuser und schwach institutionalisierter sozialer Beziehungsgeflechte in komplexen und im Wandel befindlichen Gesellschaften. Der analytische Begriff des sozialen Netzwerks hat sich in der Folge als Schlüsselbegriff für die Erfassung und Darstellung schwach institutionalisierter ebenso wie stärker verfestigter Handlungsmuster erwiesen (Schweizer 1996: 37). Es wird unterschieden zwischen einem persönlichen Netzwerk und den Gesamtnetzwerken (Marsden 1990). Das persönliche Netzwerk zeichnet die Kontakte eines bestimmten Egos, einer befragten Person, auf. Das Gesamtnetzwerk hingegen erfasst eine Totale der Beziehungen einer ausgewählten Community. Letzteres hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Sie konzentriert sich daher auf die Erfassung der ego-zentrierten Netzwerke. In der Analyse ego-zentrierter Netzwerke interessieren die Einbettung einzelner Akteurinnen und Akteure in ein Beziehungsnetz und die daraus erwachsenden Chancen und Hindernisse für ihr Handeln. Grundidee ist es, die spezifischen sozialen Zusammenhänge anhand der Beziehungen sichtbar zu machen (Weiss und Thränhardt 2005). Denn für die Entwicklung und die Wandlung unseres Denkens und Handelns, für die Bildung der identifikatorischen Zugehörigkeit und die Erhaltung der Motivation, für die psychische Stabilität und die Lebenszufriedenheit sind soziale Beziehungen von zentraler Bedeutung. Intak1 | Zur Notwendigkeit dieser Abgrenzung vgl. Mitchell (1969a).
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te soziale Beziehungen vermitteln Geborgenheit, Halt und Vertrauen, zerstörte Beziehungen erzeugen Misstrauen, Unsicherheit und Desintegration. Jeder Mensch besitzt sein ganz persönliches Netzwerk, das aus Familienmitgliedern, Verwandten, befreundeten und benachbarten Personen, Kolleginnen und Kollegen etc. besteht und Zugehörigkeit und Verortung vermittelt. Mit der Netzwerkanalyse soll diese soziale Struktur empirisch erfasst und beschrieben werden. Netzwerke lassen sich als mögliche Ressource zur Versöhnung resp. als Ressource zur gesellschaftlichen Integration nach Kriegen betrachten; dies ist für vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung.2 Die Frage ist nun, ob sich Muster in der Analyse zeigen, die auf Unterschiede in den Vorkriegs- und Nachkriegsnetzwerken hinweisen und die Aufschluss über die soziale Verankerung der befragten Frauen geben können. Denn das Ziel der Netzwerkanalyse ist es, »soziale Beziehungen zu erfassen, das ihnen unterliegende Muster zu entwirren und das Handeln der Akteure aus der Struktur des umgebenden Beziehungsmusters zu erklären« (Schweizer 1996: 18). Das soziale Netz prägt also einerseits die Handlungen der Akteurinnen und Akteure, diese wirken aber ihrerseits konstituierend auf die soziale Verflechtung. Die Wichtigkeit der Netzwerkanalyse besteht denn auch darin, die Mikroperspektive der individuellen Praxis mit der Makroperspektive der Netzwerkstruktur zu verbinden. Auf diese Weise werden die Netzwerke zu einem Bindeglied zwischen Agierenden und Struktur.
2.1.1 Das Habituskonzept als Vermittler zwischen Struktur und Praxis Bei der Analyse persönlicher Netzwerke steht also im Vordergrund, dass Individuen in strukturierte Beziehungen eingebunden sind und dass soziales Verhalten nicht nur durch die Individuen generiert wird, sondern auch durch gesellschaftliche Strukturen (Emirbayer und Goodwin 1994: 1414). Damit werden Einschränkungen und Potenziale der Handlungsmöglichkeiten der Agierenden erfassbar. Diese Überlegungen können detailliert mit Pierre Bourdieus Habitus-
2 | Um bereits hier ein Beispiel zu geben: Rückkehrer/innen befinden sich etwa in der Republika Srpska oft in einer isolierten Situation, ohne vertiefte Kontakte zur Mehrheitsbevölkerung. Der Zugriff auf die eigene (meist ethnisch basierte) Gruppe bedeutet in dieser Isolation Identitätsbildung und das Fördern von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen. Indem die Zugehörigkeit zur eigenen Gemeinschaft bestätigt wird, können krisenhafte Situationen teilweise stabilisiert werden. Problematisch dabei ist, dass dies eine Antwort auf den äußeren Druck der restlichen Gesellschaft darstellt und die gesamte Gesellschaft durch solche Mechanismen weiter segregiert wird (vgl. Bös 1997; Schierup und Ålund 1986).
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konzept3 erweitert werden (siehe u.a. Bourdieu 1979 [1972], 1993 [1987]). Generell hält Bourdieu in seinen Ausführungen fest, dass zwischen der Struktur und dem handelnden Individuum eine Interdependenz besteht: Gesellschaftliche Strukturen beeinflussen die Handlungen der Individuen, die Individuen wiederum reproduzieren durch ihre Handlungen diese Strukturen. Die Akteurinnen und Akteure nehmen daher Einfluss auf den fortlaufenden Prozess des gesellschaftlichen Lebens – in vorliegendem Fall beeinflussen sie mit ihren Lebensweisen und Haltungen den Umgang mit der Vergangenheit und damit auch die Art und Weise, wie das Zusammenleben in der Nachkriegszeit gestaltet wird. Bourdieu hat zum Ziel, mit der Habitustheorie zwischen Struktur und Praxis zu vermitteln und aufzuzeigen, wie der Habitus zur Reproduktion der Ungleichheitsstruktur einer Gesellschaft beiträgt.4 Anders gesagt, geht es Bourdieu ausgehend von seiner Kritik am Objektivismus und der Entwicklung seiner Theorie der Praxis darum, den Prozess zwischen objektiven und einverleibten Strukturen zu fassen (Bourdieu 1979 [1972]). Diese Perspektive lässt sich mit 3 |Der Begriff des Habitus, dem die vielschichtige Bedeutung von Anlage, Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit, Lebensweise u.Ä. zukommt, hat eine lange philosophische und soziologische Tradition. Der Begriff findet sich bei so unterschiedlichen Autoren wie Hegel, Husserl, Weber, Durkheim und Mauss (Schwingel 1995: 54). Wahrscheinlich übte Marcel Mauss einen entscheidenden Einfluss auf Bourdieus Habituskonzeption aus, auch wenn dieser Mauss nie ausdrücklich erwähnte. Denn auch Mauss postuliert eine soziale Bedingtheit des Habitus, wenn er schreibt: »Ces ›habitudes‹ varient non pas simplement avec les individus et leurs imitations, elles varient surtout avec les sociétés, les éducations, les convenances et les modes, les prestiges. Il faut y voir des techniques et l’ouvrage de la raison pratique collective et individuelle, là où on ne voit d’ordinaire que l’âme et ses facultés de répétition« (Mauss 1985: 368). 4 | Zur kritischen Betrachtung des Habitusbegriffs verweise ich u.a. auf Mecheril (2003: 208f.) und Müller (1992). An dieser Stelle sei zur Kritik so viel angemerkt: Es wird die zu überwindende Dialektik von Struktur und Handlung angezweifelt, die problematische Starrheit des Habitusbegriff als nachteilig betont und kritisiert, dass Bourdieu über einen zu einseitigen Blick auf das menschliche Handeln als Strategie der Kapitalakkumulation verfüge. Es wird also die ökonomische Grundlage des Begriff kritisiert: »[…] erzeugt Bourdieu ständig die irrige Vorstellung, als ob die soziale Anerkennung eines Lebensstils und der in ihm verkörperten Werte auf demselben Wege zu erwerben sei wie ein ökonomisches Gut […]« (Honneth zit.n. Mecheril 2003: 208). Trotz aller Kritik erscheinen mir der Begriff des Habitus und Bourdieus Überlegungen für mein Erkenntnisinteresse geeignet. Ich verstehe den Habitus wie Mecheril (2003: 209) »als System, das sich dauernd verändern und entwickeln kann und nicht allein auf das strategische Kalkül beschränkt ist, sondern als totaler Zusammenhang verstanden werden muss; nach diesem Verständnis beinhaltet der Habitus materielle, kommunikative und identitäre Bedürfnisse und Kompetenzen«.
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der Formel Habitus-Struktur-Praxis auf den Punkt bringen (Müller 1992: 242f.). Habitusformationen werden dabei verstanden als »[…] Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen« (Bourdieu 1993 [1987)] 98, Hervorhebung im Original) (ähnlich bei Bourdieu 1979 [1972]: 165). Ein wesentlicher Gegenstand der Habitustheorie ist also die konstitutionstheoretische Problematik, wie Praxis zustande kommt respektive generiert wird. Unmittelbar damit verbunden ist die Frage, wie die sozialen Akteurinnen und Akteure im Alltag die gesellschaftliche Praxis wahrnehmen und erfahren und wie sie handeln. Der Habitus wird demgemäß zu einem System von Dispositionen, die sich eine Person im Laufe ihres Lebens aneignet. Er ist ein Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema, das gesellschaftlich bedingt und durch den Einbezug neuer Erfahrungen fortlaufend ergänzt und verändert wird. Maßgeblich wird der Habitus in der frühkindlichen Sozialisation geprägt, nicht aber darauf beschränkt. Damit ist der Habitus ein generatives Prinzip und somit »strukturierende Struktur«. Er kann aber auch ein reproduktives Prinzip sein und somit »strukturierte Struktur«, insofern die individuellen Praxisformen den sozial strukturierten Dispositionen gemäß gewählt werden. Anders gesagt, haben kulturelle und ökonomische Ressourcen Einfluss auf den Habitus, womit ähnliche Existenzbedingungen auch vergleichbare habituelle Strukturen schaffen. Der Habitus ist also eng mit einer (Klassen-)Zugehörigkeit verknüpft. Indikatoren dieser Zugehörigkeit sind der Beruf, die Berufsrolle und das sogenannte kulturelle Kapital, das durch Bildung, Ausbildung und Sozialisation erworben wird (detaillierter zu den verschiedenen Kapitalarten siehe Bourdieu 1983). Die Klassenzugehörigkeit, die nach Bourdieu besser mit dem Begriff des sozialen Raumes bezeichnet wird (Bourdieu 1985: 17f.), reicht allein jedoch nicht aus, um den Habitus zu bestimmen. Andere Faktoren wie Geschlecht, soziale Stellung, soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit determinieren den Habitus ebenfalls (Bourdieu 1993: 81). Die Konstitution des Habitus erfolgt also auch über die soziale Lage und die Stellung in der Sozialstruktur, d.h. durch die spezifische Stellung, die ein Akteur oder eine Akteurin innerhalb der Struktur der gesellschaftlichen Relationen inne hat (Schwingel 1995: 60). Diese Position kann anhand der Netzwerkanalyse empirisch erfasst und diskutiert werden. Der Zusammenhang zwischen Position und Lebensstil hingegen lässt sich meines Erachtens einfacher über die biografischen Interviews fassen. Denn es besteht, »[…] zwischen der Position, die der einzelne innerhalb des gesellschaftlichen Raums einnimmt, und seinem Lebensstil ein Zusammenhang. Aber dieser Zusammenhang ist kein mechanischer, diese Beziehung ist nicht direkt in dem Sinne, dass jemand, der weiß, wo ein anderer steht, auch bereits dessen Geschmack kennt. Als Vermittlungs-
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glied zwischen der Position oder Stellung innerhalb eines sozialen Raumes und spezifischen Praktiken, Vorlieben usw. fungiert das, was ich Habitus nenne, d.h. eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegen über der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt.« (Bourdieu 1989: 25)
Der Habitus ist also gesellschaftlich und zugleich auch historisch bedingt und wird dadurch zu einem Bindeglied zwischen der Geschichte und dem gesellschaftlichen Eingebundensein einerseits und dem konkreten Verhalten, Denken etc. von Individuen andererseits. Diese Feststellung ist für vorliegendes Erkenntnisinteresse von großer Bedeutung. Denn damit kann festgehalten werden, dass der Habitus »als Produkt der Geschichte […] individuelle und kollektive Praktiken [produziert], […]; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erwartungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.« (Bourdieu 1993 [1987]: 101)
Der Habitus ist also laut Bourdieu ein erworbenes System von Erzeugungen: »Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart. Diese Selbständigkeit ist die der abgehandelten und fortwirkenden Vergangenheit, die, wie ein akkumuliertes Kapital fungierend, Geschichte aus Geschichte erzeugt und damit die Dauerhaftigkeit im Wandel gewährleistet, die aus dem einzelnen Handelnden eine eigene Welt in der Welt macht.« (Bourdieu 1993 [1987]: 105, Hervorhebung im Original)
Es wird interessant sein zu sehen, in welcher Gestalt die erzählten Lebensgeschichten und erfassten Netzwerke als wirkende Präsenz den Umgang mit der Vergangenheit und die Segregation der Gesellschaft beeinflussen. Denn der Habitus bestimmt subjektive Handlungsoptionen und Denkmöglichkeiten, das, was »im Hinblick auf ein wahrscheinliches Zukünftiges getan oder unterlassen, gesagt oder verschwiegen werden muss« (Bourdieu 1993 [1987]: 99, Hervorhebung im Original).
Habitus und soziales Feld Im Bourdieu’schen Verständnis stellen die oben beschriebenen internen und einverleibten Habitusformationen aber nur die eine Seite eines komplexen Verhältnisses dar. Die andere Seite bilden die externen, objektiven Strukturen, d.h.
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die Strukturen sozialer Felder. Zwischen dem Habitus und dem sozialen Feld besteht folglich ein unauflösliches Komplementärverhältnis (Bourdieu 1985: 69). Die soziale Welt begreift Bourdieu als mehrdimensionalen Raum, dem verschiedene Unterscheidungs- bzw. Verteilungsprinzipien zugrunde liegen. In Bourdieu’schem Vokabular handelt es sich dabei um verschiedene Sorten von Kapital oder Macht, die Zugehörigkeiten und Zugänge regeln.5 In der vertikalen Dimension repräsentiert der soziale Raum den Status- und Prestigekampf verschiedener Berufsgruppen6, während die horizontale Dimension die Differenzierung in spezifische soziale Felder darstellt. Ein soziales Feld ist ein Raum, der durch spezifische Interessen definiert ist, eigene Ressourcen zum Ausdruck bringt und durch eine eigene Struktur geprägt ist. Eine solche Struktur funktioniert aber nur in einem geregelten Staatsgebilde. Kurz gesagt, ist ein solch geregelter Zustand dann gegeben, wenn ein Staat den Bürgerinnen und Bürgern Schutz und Sicherheit gewährt. In Bosnien-Herzegowina war diese Geregeltheit, die Schutz und Sicherheit vermitteln sollte, während der Kriegsjahre nicht gewährleistet. Erst heute kehrt ganz langsam ein Vertrauen in das staatliche Gebilde ins Bewusstsein der Bosnierinnen und Bosnier zurück. Es bleibt deshalb die Frage zu beantworten, wie sich die erlebten extremen Krisensituationen auf das Zusammenspiel zwischen der Praxis, den Handlungen und der Struktur ausgewirkt haben bzw. immer noch auswirken. Für vorliegende Forschungsanlage stellt sich also die Frage, was geschieht, wenn Situationen eintreten, in denen Handlungsroutinen nicht mehr funktionieren, weil im Habitus keine entsprechende Situationseinschätzung vorhanden ist (Wimmer 1995: 64). Grundsätzlich neigt der Habitus dazu, sich »vor Krisen und kritischer Befragung [zu schützen], indem er sich ein Milieu schafft, an das er soweit wie möglich vorangepasst ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen […]« (Bourdieu 1993 [1987]: 114, Hervorhebung im Original). Ist dies nicht möglich, treten Habitus und soziales Feld auseinander. Habituelle Erwartungsstrukturen werden systematisch enttäuscht oder gar zerstört, und die eingelebten und altbewährten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata werden in höchstem Masse in Frage gestellt (Schwingel 1995: 74f.). Mit anderen Worten: Wird der Habitus mit Verhältnissen konfrontiert, die sich von jenen seiner Entstehung auffallend stark unterscheiden und denen er nicht ausweichen kann, dann tritt eine Krise ein. Um einer solchen Krise zu begegnen, eignen sich die bekannten habituellen Deutungen und Handlungsmuster nicht mehr. Denn auch wenn jemand an diesen Deutungen und Mustern festhält und 5 | Eine ausführliche Vorstellung über die Konstruktion einer Theorie des sozialen Raumes vermittelt Bourdieus Vorlesung: Sozialer Raum und ›Klassen‹ (1985). 6 | In meinem Fall sind dies nicht zwingend Berufsgruppen, sondern, wie noch ausführlicher zur Sprache kommen wird, die unterschiedlichen Kriegs- und Migrationserfahrungen, welche determinierend wirken.
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seinem Habitus gemäß zu handeln versucht, wird er in einer Krisensituation wie einem Krieg mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Dieses Scheitern des Habitus führt zur erzwungenen Herausbildung neuer Handlungsmuster, welche die alten überlagern. Der bosnische Krieg und die dadurch ausgelösten Veränderungen der Lebensumstände stellten für die betroffenen Menschen eine solche Krisensituation dar. Die eingelebte Erfahrung der sozialen Vorkriegswelt und die ihr zugrunde liegenden habituellen Schemata wurden durch die Kriegserfahrungen in höchstem Masse in Frage gestellt. »Die Deckungsgleichheit der objektiven Strukturen mit den einverleibten« (Bourdieu 1993 [1987]: 50) war nicht länger gegeben. Es wird deshalb interessant sein zu sehen, wie die jeweils erlebte Krisensituation der Interviewpartnerinnen die Nachkriegszeit strukturiert. In diesem Spannungsverhältnis ist von besonderem Interesse, welche spezifischen strukturellen Kontexte für die Subjekte handlungsrelevant werden und welche Positionierungen und Handlungsweisen die Subjekte im Umgang mit ihrer Vergangenheit entwickeln. Was der Praxistheorie von Bourdieu fehlt, ist die präzise Diskussion der sozialen Beziehungsmuster, wie sie die Netzwerkanalyse laut Thomas Schweizer (1996: 142) leisten kann. In Schweizers Ausführungen ebenso interessant ist der Hinweis, dass Bourdieus Praxistheorie den Zeitbezug nicht ausreichend berücksichtigt. Schweizer verweist dabei auf drei zeitliche Aspekte, die für die Untersuchung von Struktur und Handlung mitgedacht werden müssen. Der erste Zeitaspekt, »das vergangenheitsorientierte Bemühen um Stabilität des Handelns durch Routine und Wiederholung« (Schweizer 1996: 144), widerspiegelt sich noch in der Habitusformation nach Bourdieu. Die zwei weiteren von Schweizer als wichtig erachteten Momente allerdings nicht mehr: Zum einen ist ein auf die Zukunft bezogener projektiver Aspekt zu nennen, der die Pläne der Akteurinnen und Akteure für ihr künftiges Handeln umfasst. »Der dritte Aspekt […] ist schließlich die praktische Beurteilung und Umsetzung zukunftsbezogener Pläne im Lichte der vergangenen Erfahrungen in der Gegenwart« (Schweizer 1996: 144). Diese zwei letztgenannten Punkte sind nebst der Habitustheorie für das Erkenntnisinteresse von zentraler Bedeutung, interessieren doch die Handlungsmöglichkeiten und gleichzeitig die Handlungsbeschränkungen der befragten Frauen vor Ort im Rahmen ihrer vergangenen Erfahrungen, ihrer gegenwärtigen Situation und ihrer zukunftsgerichteten Perspektive.
2.1.2 Das Sozialkapital: eine bedeutende Netzwerkressource Als ein weiterer Erklärungsrahmen für die Wichtigkeit der Beziehungsstrukturen und des Verhältnisses zwischen Praxis und Struktur bieten sich Bourdieus Ausführungen zu seinen Kapitalsorten an. Die analytisch und begrifflich unterscheidbaren Kapitalformen stellen das theoretische Kriterium zur Differenzie-
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rung der spezifischen Felder dar. Feld und Kapital definieren sich wechselseitig und gehören deshalb zusammen. Mit dem Begriff der Kapitalformen will Bourdieu die Lage der Klassen und der Individuen bestimmen. »Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld« (Bourdieu 1985: 10). Bourdieus Kapitalbegriff lehnt sich an Marx’ Kapitalkonzept an, erweitert es jedoch, um einen »Begriff des Kapitals in allen seinen Erscheinungsformen« (Bourdieu 1983: 184, Hervorhebung im Original) zu entwickeln: »Eine allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft muss sich deshalb bemühen, das Kapital und den Profit in allen ihren Erscheinungsformen zu erfassen und die Gesetze zu bestimmen, nach denen die verschiedenen Arten von Kapital (oder, was auf dasselbe herauskommt, die verschiedenen Arten von Macht) gegenseitig ineinander transformiert werden.« (Bourdieu 1983: 184)
In diesem Zitat kommt ein zentraler Aspekt des Bourdieu’schen Kapitalkonzeptes zum Tragen: die Konvertibilität der verschiedenen Kapitalsorten. Kapital kann dabei in drei grundlegenden Formen auftreten: in ökonomischer Form, unter der Bourdieu den materiellen Reichtum versteht; in kultureller Form, die als Bildungskapital betitelt und über die Höhe des Bildungsabschlusses operationalisiert werden kann; und in sozialer Form. Die eine Form kann in eine andere transformiert werden, wobei alle drei Formen dazu benutzt werden, die Position des Individuums in der sozialen Struktur zu festigen (ausführlich zu den Kapitalformen siehe Bourdieu 1983). Handlungschancen eröffnen sich den Individuen nicht nur durch materiellen Kapitalbesitz oder durch ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern vor allem auch durch ihre Einbettung ins soziale System. Anders gesagt: Den Überlegungen zur Netzwerkanalyse liegt immer auch der Begriff des sozialen Kapitals zugrunde, also die dritte Kapitalform nach Bourdieu.7 Das Sozialkapital ist gemäß Bourdieu »die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind« (Bourdieu 1983: 190, Hervorhebung im Original). Bourdieu beschreibt mit dem Begriff des Sozialkapitals Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Die Beziehungen gründen auf einem Austausch, in welchem materielle und symbolische Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind. Ein solcher Austausch zieht dauerhafte und langfristig nützliche Bezie7 | Mit dem Begriff des Sozialkapitals haben sich auch andere namhafte Soziologen auseinander gesetzt. So beispielsweise James Coleman (1988), dessen Ausführungen in der Rational-Choice-Theorie münden, hier allerdings nicht weiter zur Anwendung kommen sollen.
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hungen nach sich. Das Aufrechterhalten solcher Beziehungen bedarf allerdings ständiger Beziehungsarbeit, denn das Sozialkapital ist ein flüchtiges Medium. Zufällige oder oberflächliche Beziehungen müssen, wenn sie nicht verloren gehen sollen, in erlesene Freundschaften umgewandelt werden, was viel Zeit und Vertrauensarbeit kostet (Bourdieu 1983: 193). Die mit dem Sozialkapital einhergehende ständige Beziehungsarbeit führt bei den Beteiligten demnach zu fortlaufenden Verpflichtungen, wobei diese Verpflichtungen auf subjektiven Gefühlen wie Anerkennung, Respekt, Vertrauen, Toleranz und Zugehörigkeit beruhen. Wichtig für das Erkenntnisinteresse ist zudem die Aussage, dass »der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, […] sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab[hängt], die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht.« (Bourdieu 1983: 191)
Die Vorteile des sozialen Kapitals liegen neben dem Nutzen der Geselligkeit also in der Möglichkeit, weitere Ressourcen zu gewinnen. Soziales Kapital kann dementsprechend nicht von den Beziehungen losgelöst und beispielsweise mitgenommen werden. Bei einem Austritt aus einem Netzwerk geht es verloren. Zugleich wird auch das soziale Kapital der anderen Netzwerkteilnehmenden vermindert. Das soziale Kapital ist also ein Bindeglied zwischen Individuum und Kollektiv. Mit dem Kriegsausbruch in Bosnien ist der Verlust sozialer Beziehungen und sozialer Netzwerke in besonderem Ausmaß eingetreten. Praktisch alle interviewten Frauen verloren ihre sozialen Vorkriegsnetzwerke und damit die ihnen vertraute soziale Unterstützung, Verbundenheit und Zugehörigkeit. Aufschlussreich wird deshalb für vorliegende Forschung sein, wie sich der Verlust dieser Beziehungen auf die Nachkriegsgesellschaft auswirkt, respektive in welchem Ausmaß sich die Folgen der zerbrochenen Netzwerke als bestimmend für den Integrationsprozess der Nachkriegsgesellschaft herausstellen. Es wird interessant sein zu sehen, in welchem Kontext sich welche sozialen Beziehungen eher fördernd auf das soziale Handeln auswirken und wo eher limitierend. Für den Verlauf der gesellschaftlichen Integration ganz besonders interessiert die Rolle der Gruppensolidaritäten, welche auf Wir-Bildungsprozessen (Elwert 1989) und sozialen Schließungsprozessen beruhen.
2.1.3 Drei Momente sozialanthropologischer Netzwerkanalyse Aus dem bisher Gesagten erschließt sich, dass soziale Systeme nicht als eine Menge isolierter Akteurinnen und Akteure verstanden werden, sondern als eine Verflechtung der Beteiligten. Zentral für die Agierenden und ihre Handlungsoptionen sind die Habitusformationen. Die aus der Verflechtung entstandene
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Sozialstruktur wird mit Hilfe der Netzwerkanalyse beschrieben, wobei zugleich Aussagen zu den Handlungen der Akteurinnen und Akteure in dieser Struktur generiert werden. Für die Netzwerkanalyse und ihre Anwendung auf den Gegenstand dieser Arbeit lassen sich drei zentrale Momente aus der sozialanthropologischen Theoriebildung der Netzwerkanalyse herausarbeiten (nach Schweizer 1996: 110-152): der Einfluss der Kohäsion auf das Handeln, die Stärke der schwachen Beziehungen und die sozialen Beziehungen als Netzwerke der Bedeutungen.
Kohäsion und Handeln Die frühesten sozialanthropologischen Erklärungsversuche der ManchesterEthnologen Barnes, Bott, Mitchell und Kapferer befassten sich mit den Auswirkungen besonders eng geknüpfter, d.h. dichter und multiplexer Netzwerke auf das Handeln (Schweizer 1996: 114ff.). Multiplex ist eine Beziehung dann, wenn sie in mehrere Unterstützungsbereiche reicht. Barnes (1969: 75) hielt die idealtypische Unterscheidung fest, dass dichte und multiplexe Beziehungen mehrheitlich in tribalen Gesellschaften zu finden sind, uniplexe, lose geknüpfte Beziehungsnetze hingegen eher in städtischen, komplexen Gesellschaften. Heute sind sich die Netzwerkforschenden einig, dass eine Verdichtung der Sozialbeziehungen nicht davon abhängt, ob eine Gesellschaft tribal oder komplex ist. Vielmehr zeigt sich das idealtypische Charakteristikum eines multiplexen, dichten Netzwerks darin, dass jeder jeden kennt, die Akteurinnen und Akteure sich dadurch einfacher erreichen und auch intensiver miteinander interagieren können. Dadurch sind die Möglichkeiten zur Mobilisierung von Hilfe und Unterstützung groß. Als Konsequenz davon entstehen allerdings ein höherer Grad an sozialer Kontrolle, ein gewisser Zwang zur Konformität sowie ein höheres Solidaritätspotenzial. Der Idealtypus des uniplexen, losen Netzwerks zeichnet sich durch genau gegenteilige Charakteristika aus. Schwach geknüpfte Beziehungen bieten den Beteiligten Rückzugsmöglichkeiten, weil die Kontrolle immer nur einige wenige Akteurinnen und Akteure und nur ganz bestimmte Beziehungen erfasst. Schweizer (1996: 116) leitet daraus eine erste These ab, die für die Analyse vorliegender Netzwerkdaten übernommen wird: »Wenn ein soziales Netzwerk eine hohe Dichte von Beziehungen und/oder Multiplexität aufweist, dann herrscht dort ein hoher Grad an Konformität und Kontrolle des Handelns einzelner Akteure.« Die Dichte und die Multiplexität des Netzwerks haben also großen Einfluss auf das Handeln der Agierenden und die Spielräume, die sie ausloten können. Anders gesagt: Mit der Frage nach der Kohäsion, also der Frage nach besonders eng geknüpften, dichten und multiplexen oder uniplexen und losen Netzwerken lässt sich jeweils ein Erklärungsrahmen für das unterschiedliche Handeln der Akteurinnen und Akteure finden.
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Die Stärke schwacher Sozialbeziehungen Die beiden Soziologen Mark Granovetter (1973) und Reynolds Burt (1983) untersuchten die Gründe für das Handeln der Akteurinnen und Akteure anhand schwacher oder gar fehlender Beziehungen in der Überzeugung, dass Erklärungen, die nur starke Beziehungen ins Auge fassen, zu kurz greifen. Unter starken Beziehungen werden Beziehungen verstanden, die sowohl emotional als auch zeitintensiv sind und in welchen sich die Akteurinnen und Akteure vertraut sind. Meist sind dabei auch reziproke Erwartungen auszumachen. Verwandtschaftliche, aber auch freundschaftliche Beziehungen sind Beispiele für starke Beziehungen. Schwache Beziehungen hingegen sind durch das Fehlen ebendieser Komponenten gekennzeichnet. Beispiele hierfür sind Bekannte oder auch Arbeitskollegen, die untereinander nicht zwingend bekannt sind.8 Granovetter kommt zum Schluss, dass durch die starken, dichten und multiplexen Beziehungen dem Akteur oder der Akteurin ein negativer Nebeneffekt erwachsen kann: Durch die starken Binnenbeziehungen kapseln sie sich von der Außenwelt ab und sind daher schlecht ins Gesamtnetz eingebunden. Im Normalfall verfügen alle Menschen über ein Netzwerk, das aus einem Gemisch von starken und schwachen Beziehungen besteht. Deshalb entstehen kohäsive Teilbereiche, die jeweils durch schwache Beziehungen verbunden sind. Je mehr starke Beziehungen jemand aufweist, desto schwächer ist er ins Gesamtnetz eingebunden. Nach Dorothea Jansen (2003: 106) könnte man sogar sagen, dass die starken Beziehungen und das in ihnen enthaltene Sozialkapital der mechanischen Solidarität bei Durkheim entsprechen und die schwachen Beziehungen und das in ihnen enthaltene soziale Kapital eine Integration in die Gesellschaft über die organische Solidarität erlauben. Bei der mechanischen Solidarität geschieht die gesellschaftliche Integration durch gemeinsame Anschauungen und Gefühle und durch repressive Mechanismen der Abwehr gegen die Verletzung dieser Gemeinsamkeiten. Bei der organischen Solidarität treten hingegen kontraktuelle, vertragsmäßige Elemente in den Vordergrund. Grundsätzlich entsteht soziale Solidarität in der Erkenntnis, dass jeder auf je8 | Die Definition, was eine starke und was eine schwache Beziehung ausmacht, bleibt meines Erachtens dennoch unklar. Besonders schwierig wird es, wenn die Stärke einer Beziehung gemessen werden soll. Nach Granovetter (1973) eignen sich dafür die Fragen nach der Dauer der Beziehung und der Häufigkeit der Kontakte, nach Marsden (1990) sind es die Intensität oder Nähe. Eine Operationalisierung über die Dauer würde zu einer Überbetonung von verwandtschaftlichen Beziehungen führen, diejenige über die Häufigkeit zu einer Überbetonung von Routinebeziehungen, wie sie mit Kolleginnen und Kollegen oder Nachbarinnen und Nachbarn gepflegt werden. Für die vorliegende Forschung wurde deshalb mit einer offenen Frage die Qualität der Beziehung abgefragt, die interviewten Frauen konnten die Stärke und die Schwäche der Beziehungen selbst bestimmen.
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den angewiesen und deshalb verpflichtet ist, seine besonderen Fähigkeiten zur Förderung des Ganzen zu verwenden. Dazu sind die schwachen Beziehungen als Brückenbeziehungen wichtig, weil sie für die Mobilisierung unterschiedlichster Unterstützungsleistungen besonders vorteilhaft sind. Der Vorteil besteht darin, dass schwache Beziehungen zu einem breiten Spektrum von Menschen bestehen können, was die Vielfalt potenzieller Unterstützung erhöht. Mit vielen schwachen Beziehungen können Akteurinnen und Akteure ihre Chancen und Handlungspläne besser umsetzen. Daraus lässt sich eine zweite These, basierend auf Schweizer (1996: 120), ableiten: Starke Beziehungen spielen im sozialen Leben von Akteurinnen und Akteuren durchaus eine wichtige Rolle. Aber, und das kann Granovetter mit seinen Forschungen plausibel nachweisen, starke Beziehungen fragmentieren sehr stark, während schwache Beziehungen als mögliche Brücken zwischen unverbundenen Teilen dienen und die Integration in die größere Gesellschaft erleichtern können. Burt (1983) baut seine Ausführungen auf Granovetters Argument auf, jedoch mit einem etwas anderen Ansatz: Er formuliert, dies die dritte These, dass für die Menge und die Qualität sozialer Beziehungen nicht allein der direkte Kontakt entscheidend ist, sondern in gleichem Masse auch der indirekte. Die Unterschiedlichkeit der Beziehungen ist dabei entscheidend: Direkte Kontakte dürfen nach Burt nicht redundant sein, denn redundante Beziehungen sind solche, die auf indirektem Weg zu denselben Dritten führen und dadurch keinen zusätzlichen Informationsgewinn erzielen. Über nicht-redundante Beziehungen hingegen können Lücken im Gesamtnetz geschlossen werden. Um Informationen zu gewinnen und das Sozialkapital optimal nutzen zu können, brauchen Akteurinnen und Akteure eine möglichst hohe Anzahl nicht-redundanter Kontakte. Nur dadurch können sie unterschiedliche Bereiche des Gesamtnetzwerks erreichen und sich besser darin zurechtfinden. Kleine und dichte Netzwerke werden also auch hier wieder als homogener und dadurch geschlossener betrachtet als große Netze, die auf weniger dichten und eher uniplexen Beziehungen aufbauen und als Folge davon heterogen und offen sind. Wie erwähnt, umfasst das soziale Umfeld der meisten Menschen starke und schwache Beziehungen. Normalerweise bestehen die Netzwerke aus primären, also familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen, die vertrauensfördernd und wichtig für den unmittelbaren Schutz sind, sowie über Kontakte zum weiteren sozialen Umfeld, zu welchem die sogenannt sekundären Bindungen am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft zählen, über welche die Akteurinnen und Akteure Informationen erhalten, die im intimen Kreis nicht bekannt sind (Wicker et al. 1998). Durch die Kriegssituation in Bosnien-Herzegowina kam es besonders im sekundären Beziehungsfeld zu einem markanten Bruch und einer demografischen Umschichtung – sei es durch die Flucht oder durch die veränderte soziale Lage am Herkunftsort. Dementsprechend erweisen sich heu-
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te Bindungen zum sekundären Umfeld als vielleicht bedeutendster Faktor für den Prozess der gesellschaftlichen Integration in Prijedor.
Soziale Netzwerke als Netzwerke der Bedeutungen Mit den beiden ersten Ansätzen lassen sich strukturelle Erklärungen für die Muster sozialer Beziehungen suchen. Hingegen vernachlässigen sie die Einstellungen, Überzeugungen und kulturellen Bedeutungsmuster der Akteurinnen und Akteure schon fast sträflich. Aktuelle Erklärungsversuche konzentrieren sich deshalb darauf, wie man zwischen kulturellen Bedeutungen und sozialen Beziehungen einen Zusammenhang herstellen kann. Dazu werden die Sinnvorstellungen der Akteurinnen und Akteure in die Betrachtung einbezogen oder das, was weiter oben mit dem Habitus als Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema umschrieben wurde. Harrison White (1992: 17) ist einer der ersten Theoretiker, der das soziale Netzwerk als Netzwerk von Bedeutungen bezeichnet hat und darauf aufmerksam machte, dass Netzwerke auch immer ein Produkt sinnstiftender Erzählungen sind. Es müssen also jene Handlungsspielräume analysiert werden, die den Akteurinnen und Akteuren aufgrund der historischen Rahmenbedingungen, der strukturellen Einbettung in soziale Netzwerke und der kognitiven und kulturellen Bedeutungssysteme in der sozialen Praxis verbleiben: »Network analysis all too often denies in practice the crucial notion that social structure, culture, and human agency presuppose one another; it either neglects or inadequately conceptualizes the crucial dimension of subjective meaning and motivation – including the normative commitments of actors – and thereby fails to show exactly how it is that intentional, creative human action serves in part to constitute those very social networks that so powerfully constrain actors in turn.« (Emirbayer und Goodwin 1994: 1413, Hervorhebung im Original)
Mustafa Emirbayer und Jeff Goodwin, die ihre Aussagen auf den Überlegungen Whites aufbauen, halten fest, dass sowohl der subjektive Sinn als auch die objektiven sozialen, materiellen, politischen und historischen Rahmenbedingungen für die Analyse der Sozialstruktur in Betracht gezogen werden müssen. Folglich wirken bestimmte Denk- und Gefühlswelten, in die der historische Akteur, die historische Akteurin eingebunden ist, sowohl einschränkend als auch fördernd auf die sozialen Handlungen. Zentral ist, dass die Akteurinnen und Akteure dabei immer über einen Spielraum verfügen, dass also die sozialen und kognitiven Strukturen nicht vollständig einschränkend wirken. Auch diese neueren Erklärungsversuche wollen das Wechselspiel zwischen Netzwerkstrukturen und Handlungen erfassen.
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Zusammenführung von Fragestellung und Theorie Die drei vorgestellten Momente der sozialanthropologischen Netzwerkentwicklung sind für die Datenanalyse von großer Wichtigkeit. Zur Untersuchung der sozialen Netze werde ich sowohl die starken und multiplexen Beziehungen in ihrer Handlungsrelevanz betrachten als auch die schwachen und uniplexen Beziehungen. Ebenso sollen sowohl die Kohäsion, also die Zusammengehörigkeit, als auch die strukturelle Äquivalenz der Akteurinnen untersucht werden. So lassen sich die Stellung der Akteurinnen in ihrem sozialen Umfeld und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten und Einschränkungen des sozialen Handelns erfassen. Dabei wird primär von Interesse sein, welche Rollen die Netzwerke für den Integrationsprozess der Akteurinnen spielen respektive welche Rolle diese in der segregierten lokalen Gesellschaft in Prijedor einnehmen. Es sollen nebst den familiären und verwandtschaftlichen auch die freundschaftlichen, nachbarschaftlichen und flüchtigen Beziehungen in den Blick gerückt werden, um aufzuzeigen, welche Beziehungen für die Integration einer Gesellschaft förderlich sind und welche eher hinderlich. Da jedoch nicht nur Beziehungen für die (Wieder-)Eingliederung von Bedeutung sind, sondern auch Erlebnisse und Erfahrungen der interviewten Frauen, werden die Überlegungen zu Habitus und Krise und die Gefühls- und Denkwelten der Akteurin ebenfalls beigezogen. Es gilt also, verschiedene theoretische, und wie später gezeigt wird, auch methodische Erklärungsperspektiven auf soziales Handeln miteinander zu verschränken. Nebst der Untersuchung und Beschreibung des sozialen Netzwerks sind der Analyse drei weitere Faktoren hinzuzufügen. Zum einen gilt es die ›Umwelt‹ einzubeziehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Akteure Einfluss nimmt. Dazu zählen u.a. die politischen, sozialen, demografischen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie die zeittypischen Formen der sozialen und politischen Diskurse. Wie von White et al. (1992) betont, gilt es aber auch, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Vorstellungen und Überzeugungen sowie die speziellen Handlungspläne und kulturgeprägten Emotionen der Akteurinnen in die Überlegungen einzubeziehen. Als letzter Punkt sind die Interessen der Interviewpartnerinnen zu berücksichtigen. Sie hängen von der sozialen Lage, dem Habitus und den Sinnvorstellungen ab und stellen zugleich Dispositionen für die Handlungen dar, welche als erstrebenswert und aufgrund der Netzwerkstruktur als realisierbar erscheinen. Aus all diesen Einbezügen lassen sich schließlich die Handlungen der Akteurinnen erklären. Diese Ausführungen machen deutlich, dass neben der Netzwerkanalyse andere methodische Verfahren zu Anwendung kommen müssen. Bevor die dazu ausgewählte biografisch-narrative Erhebungsart vorgestellt wird, soll in Kürze das methodische Vorgehen für die Netzwerkanalyse thematisiert werden.
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2.1.4 Methode und Auswertung Mit der Methode der ego-zentrierten Netzwerkanalyse wurden während des Feldaufenthaltes in den Jahren 2005 und 2006 die persönlichen Netzwerke von insgesamt 32 Frauen erhoben. Da nicht nur die Momentaufnahme der heutigen Netzwerke interessierte, sondern ebenso eine Bestandesaufnahme der Vorkriegszeit, wurden für jede Frau zwei ego-zentrierte Netzwerke erfasst: eines aus der Zeit vor Ausbruch des Krieges und eines aus der Nachkriegszeit. Unter einem ego-zentrierten Netzwerk versteht man das um eine fokale Person – die Interviewpartnerin oder das Ego – herum verankerte Beziehungsnetz. Es handelt sich dabei um eine momentane Bestandesaufnahme der sozialen Beziehungen dieser Interviewperson. Zu diesem Netzwerk gehören nebst Ego die Bezugspersonen von Ego, genannt die Alteri; die Beziehungen zwischen Ego und den Alteri; und die Beziehungen zwischen den Alteri.9 Von Ego, respektive der Interviewpartnerin werden zusätzlich zu den Beziehungen die interessierenden Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Herkunft, höchster Bildungsabschluss etc. erhoben. Welche Attribute genau erfasst werden, hängt stark von der jeweiligen Forschungsfrage ab. Für vorliegende Arbeit zentral sind nebst Alter, Zivilstand, ethnoreligiöser Zugehörigkeit und Bildungsabschluss auch die Wohnorte der befragten Person vor, während und nach dem Krieg, die Fluchtund Rückkehrwege sowie die heutige berufliche Situation. Eine Besonderheit der ego-zentrierten Netzwerkanalyse ist die Gerichtetheit der Beziehungen. Das heißt, dass die Interviewpartnerin ihre Bezugspersonen als für sie wichtige Diskussions- und Unterstützungspartnerinnen und -partner bezeichnet; ob diese Kontaktpersonen die Interviewpartnerin ebenfalls als wichtige Beziehungsperson nennen würden, kann mit der Methode nicht erhoben werden. Die methodischen Instrumente, um die Daten der ego-zentrierten Netzwerke zu erheben, bestehen aus zwei unterschiedlichen Frageformularen. Das eine wird als Namensgenerator bezeichnet, das andere als Namensinterpretator. Mit dem Namensgenerator wird das Netzwerk erhoben. Ziel des Namensgenerators ist es, eine umfassende Liste von Kontaktpersonen bzw. Namen zu produzieren, die zum Netzwerk der Interviewpartnerinnen gehören, um somit das engere soziale Umfeld und die soziale Einbettung einer Person erheben zu können. 9 | In der Netzwerkanalyse werden oft sehr technokratische Bezeichnungen wie Alter, Ego, Knoten etc. für die Bezeichnung der involvierten Personen beigezogen. Dass dies nicht zwingend notwendig ist, zeigte Dahinden (2005a: 89) in ihrer Dissertation. Auch ich werde in den folgenden Ausführungen diese technokratischen Begriffe des Netzwerkjargons wenn immer möglich durch die in der Ethnologie bekannteren Begrifflichkeiten ersetzen: Ich werde von der Interviewpartnerin, der Gesprächspartnerin, der Informantin oder der interviewten/befragten Frau anstatt von Ego sprechen und von der Bezugsperson oder der Kontaktperson anstatt von Alter.
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Den einzelnen Fragen liegen folgende vier unterschiedliche soziale Dimensionen zugrunde, die anlehnend an den Fragekatalog von McCallister und Fischer (1978) entwickelt wurden: 1. Instrumentelle Unterstützung meint das Netz jener Menschen, die man um verschiedene Gefallen und Bitten angeht. Merkmal ist, dass dabei die Reziprozität eine zentrale Komponente darstellt, emotionale Nähe hingegen eine geringere Bedeutung hat. Gefragt wurden die Frauen nach der erhaltenen Unterstützung bei der Hausarbeit, beim Kinderhüten oder auch beim Finden einer Arbeitsstelle. 2. Emotionale Unterstützung deckt das Netz von vertrauten Personen und intimen Beziehungen ab. Es wurde nach Personen gefragt, die Unterstützung in persönlichen Angelegenheiten leisten können, die man kontaktiert, wenn man z.B. traurig ist oder sich über Probleme mit dem Ehemann oder der Schwiegermutter austauschen will. 3. Mit der Dimension der sozialen Partizipation wurden Besuchs- und Freizeitaktivitäten abgefragt. So z.B. mit wem respektive bei wem die Frauen öfters Kaffee trinken, wen sie besuchen oder mit wem sie ihre freie Zeit verbringen, sofern diese überhaupt vorhanden ist. 4. Die finanzielle Unterstützung beinhaltet die Frage danach, wer überhaupt eine solche Unterstützung leisten kann und ob bei dieser Unterstützungsdimension transnationale Beziehungen zum Tragen kommen. Die erfragten Situationen sind allesamt Indikatoren für bestimmte Kategorien der sozialen Unterstützung. Dabei lassen sich zwei Arten von Netzwerken unterscheiden (Bernard 1994): das Netzwerk des »emotional support«, das sich aus wenigen, dafür vertrauten Personen zusammensetzt, und jenes des »social support«, das aus Menschen besteht, welche man um einen Gefallen oder eine Bitte angehen kann. Der Namensgenerator ist typischerweise unlimitiert in seiner Anwendung, was bedeutet, dass die Interviewpartnerinnen auf jede Frage beliebig viele Bezugspersonen aus beliebig unterschiedlichen Lebenssphären nennen sollen und können (dazu zählen Nachbarinnen und Nachbarn, Verwandte, Freundinnen und Freunde, Arbeitskolleginnen und -kollegen etc.). Der zweite Erhebungsbogen dient dazu, die Charakteristika der Bezugspersonen zu erfassen. Deshalb wird er als Namensinterpretator bezeichnet. Dieses Formular liefert weitere Informationen über die Kontaktperson sowie über die Beziehungen zwischen den befragten Frauen und ihren Bezugsperson. Es fragt beispielsweise danach, in welcher Form die Gesprächspartnerin und die Bezugsperson miteinander interagieren (über die Nachbarschaft, Freundschaft, Verwandtschaft oder den Beruf etc.), mit welchen Mittel sie diese Beziehung pflegen (persönliche Kontakte, Telefonate, Briefe, E-Mails etc.) und mit welcher Häufigkeit sie das tun. Zugleich interessieren aber auch die absoluten Daten
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der Bezugspersonen wie Alter, Zivilstand, ethnische Zugehörigkeit, höchster Bildungsabschluss und die Aufenthaltsorte während der Kriegszeit. Zusätzlich zu diesen beiden Frageformularen wurde mit den Interviewpartnerinnen eine Tabelle ausgefüllt, die darüber Auskunft geben soll, ob die Bezugspersonen untereinander bekannt sind oder nicht. Diese Tabelle ist für die Berechnung der Netzwerkdichte zentral, wie gleich ausgeführt wird.
Die Auswertung der Netzwerk-Daten Für die Auswertung der Daten über die persönlichen Netzwerke sind verschiedene statistische Auswahlverfahren anwendbar (Schweizer 1996: 170). Im Folgenden werden die Konzepte und Verfahren kurz vorgestellt, die für die Auswertung der erhobenen Vorkriegs- und Nachkriegsnetzwerke ausgewählt wurden. Damit lassen sich auch die oben aufgeführten drei Momente der sozialanthropologischen Netzwerkanalyse überprüfen. Zugleich können einige für die Netzwerkanalyse zentrale Begriffe detaillierter betrachtet werden (zum Berechnen der Ego-Netzwerke siehe Jansen 2003: 105-110; Schnegg und Lang 2002: 26-35). Folgende Charakteristika und Konzepte wurden für die Auswertung beigezogen, die mit dem Programm SPSS berechnet wurde: 1. Umfang und Dichte des Netzwerks: Hierbei geht es um die Anzahl der genannten Bezugspersonen und die Dichte der Beziehungen. Die Dichte ist eine Maßzahl, welche die Kohäsion (Zusammengehörigkeit) des gesamten Netzes misst. Die Dichtewerte variieren zwischen 0 und 1, wobei 1 die maximale Dichte angibt. Wert 1 bedeutet also, dass in einem Netzwerk tatsächlich alle möglichen Beziehungen realisiert sind (Jansen 2003: 108f.). Generell geht man von Folgendem aus: Je größer das Netzwerk ist, desto größer ist auch die Unterstützung resp. das soziale Kapital, das Ego erhält. Kleine Netzwerke verfügen dementsprechend über ein kleineres Sozialkapital. Ebenso geht man davon aus, dass ein hoher Anteil Alteri (d.h. von Menschen, die sich nicht zwingend kennen und untereinander Beziehungen pflegen – ein Netzwerk mit einer geringen Dichte also) ein Netzwerk als Informationslieferant leistungsfähiger macht und seine mobilisierende, verändernde Wirkung auf das Individuum erhöht; die Relation wird als proportional betrachtet (Jansen 2003: 107). 2. Univariate Beschreibung: Die univariate Auszählung erlaubt es, einen genauen Eindruck der Befragtengruppe zu geben, also der Egos, ihrer Alteri und der zwischen ihnen existierenden Beziehungen. Ausgezählt werden die Personen und ihre Eigenschaften. Damit lässt sich beispielsweise festhalten, wie hoch das Durchschnittsalter der befragten Frauen ist, welchen Anteil die ethnoreligiösen Beziehungen ausmachen, wie viele der befragten Frauen verheiratet sind, wer wohin fliehen musste etc. In einem zweiten Schritt interessiert der Zusammenhang zwischen den Merkmalen der Interviewpartnerin,
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den Kontaktpersonen und den Beziehungen. Hierzu wird nach den sozialen Rollen (Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen etc.) gefragt, die den einzelnen Beziehungen zugrunde liegen. Das gibt Aufschluss über die Bedeutung der einzelnen Personengruppen, die Einbettung der Akteurinnen, die zugrunde liegenden Muster und darüber, ob Verwandte eine zentrale Rolle spielen oder ob diese Funktion eher die Nachbarn, die Freunde etc. übernehmen. 3. Multiplexität und Uniplexität der Beziehungen: In der Netzwerkanalyse wird zwischen uniplexen und multiplexen Beziehungen unterschieden. Multiplex ist eine soziale Beziehung dann, wenn sie zu einem gegebenen Zeitpunkt in unterschiedlichen Kontexten von Bedeutung ist, wenn also z.B. eine Bezugsperson sowohl im wirtschaftlichen als auch im Kontext emotionaler Unterstützung genannt wird (Schweizer 1996: 33). Anhand der Frage, in wie vielen Bereichen eine Beziehung zur Kontaktperson mobilisiert wird, lässt sich die Multiplexität, und somit die Wichtigkeit einer Bezugsperson für ein Netzwerk ableiten. Es wird von folgender Relation ausgegangen: Je höher der Wert der Multiplexität (für diese Untersuchung ist der maximale Wert vier), desto wichtiger ist eine Person für die soziale Unterstützung, da sie verschiedene Funktionen abdeckt. Eine uniplexe Beziehung ist dementsprechend auf nur einen Kontext spezialisiert, etwa auf eine Frauengruppe, wenn außerhalb der Veranstaltung keinerlei Kontakt gepflegt wird. Die Frage der Multioder Uniplexität spielt bei der Analyse persönlicher Netzwerke oft eine sehr wichtige Rolle. Denn die multiplexen und starken Beziehungen sind für die soziale Unterstützung zentral. Allerdings kann diese Art von Beziehungsnetzen stark fragmentierend wirken und den Egos zentrale Informationen vorenthalten. Dies kann zur Folge haben, dass sie schlecht in die größere Gesellschaft integriert sind. 4. Homophilie oder Homogenität: Das andere wichtige Konzept neben der Multiplexität ist die Homophilie sozialer Beziehungen. Sozialanthropologische und soziologische Netzwerkerhebungen der ersten Stunde machten bereits auf dieses Prinzip aufmerksam. Lazarsfeld und Mertons Studie (1954) ist diesbezüglich die klassische und wohl auch meist zitierte. Auf sie geht auch das Sprichwort »Birds of a feather flock together« zurück, das etwa dem deutschen »Gleich und gleich gesellt sich gern« entspricht und häufig zur Beschreibung des Musters der Homophilie beigezogen wird. Homophilie bezeichnet die Tendenz zu Beziehungen zwischen Personen, die eine überzufällige Ähnlichkeit in Merkmalen und Einstellungen aufweisen (Esser 1990: 185). Häufig sind soziale Beziehungen alters-, geschlechter-, bildungs- oder ethnisch homophil ausgestaltet. Laut McPherson et al. (2001: 420) ist Ethnizität der in vielen ethnisch diversen Gesellschaften bedeutsamste Gegenstand einer Homophilietendenz, gefolgt von den Geschlechterverhältnissen und der Sexualität, dem Alter, der Religion, der Bildung und der sozialen Klasse. Homophile Beziehungen resultieren in einem homogenen Netzwerk.
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Es ist deshalb anzunehmen, dass gerade in Gesellschaften, in denen bereits eine starke ethnische Trennung vorhanden ist, ethnisch homophile Netzwerke zur Verstärkung der gesellschaftlichen Segregation beitragen können. Gleichzeitig sind es aber genau diese Netzwerke, die zentrale Quellen sozialer Unterstützung für die Egos darstellen und Vertrauen vermitteln. 5. Funktion der Unterstützung: Anhand der Netzwerkanalyse lässt sich schließlich auch überprüfen, wer genau welche Funktionen der Unterstützung übernimmt. Fragen kann man etwa danach, welche Funktionen Nachbarn versus Nicht-Nachbarn oder Verwandte versus Nicht-Verwandte übernehmen. Damit erhält man Auskunft darüber, wer wen in welcher Situation um Unterstützung bittet. Es lässt sich also beispielsweise die Annahme überprüfen, dass Frauen eher für die emotionalen und sozialen Aufgaben zuständig sind, währenddem Männer eher instrumentelle Hilfe leisten. Diese Annahme widerspiegelt sich im Sprichwort »Men fix things and women fix relationships« (Wellman und Wortley 1990: 582). Mit der Netzwerkanalyse kann also die Sozialstruktur der interviewten Frauen in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen erfasst werden. Um aber die Erlebnisse und Erfahrungen, die Vorstellungen und Interessen sowie die Randbedingungen – das, was weiter oben als ›Umwelt‹ umschrieben wurde – fokussieren zu können und damit dem Anspruch der gesamthaften Betrachtung gerecht zu werden, soll eine weitere Methode angewandt werden, die es ermöglicht, die Bedeutungen der Netzwerke und der Handlungen über die Analyse der Netzwerke hinaus zu erfassen. Die weiter oben angesprochenen Überlegungen von Harrison White, Mustafa Emirbayer und Jeff Goodwin beinhalten dazu keinen Vorschlag; die Methode der biografisch-narrativen Interviews bietet sich aber an, um diese Lücke zu füllen. Sie dient nicht blass zur Rekonstruktion der Lebensgeschichten, sondern eignet sich auch dazu, die Überlegungen zum jeweiligen Umgang mit der Vergangenheit in ihrer Bedeutung zu diskutieren.
2.2 Z UM BIOGR AFISCH - NARR ATIVEN I NTERVIE W Die Lebensbedingungen der interviewten Frauen für die Zeitspanne vor dem Krieg – während des Krieges – nach dem Krieg/heute wurden mit der Methode des biografisch-narrativen Interviews erfasst. Die Analyse der Interviews zielt auf die inhaltsgetreue, subjektive Sinnrekonstruktion der Kriegs- und Migrationserlebnisse sowie auf die Bildung thematischer Kategorien, um die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien zu erfassen und die Strukturproblematik der Nachkriegsgesellschaft zu rekonstruieren. Nachfolgendes Unterkapitel stellt zuerst die gewählte Methode vor, um dann die damit in Verbindung gebrachten
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theoretischen Überlegungen zu fokussieren. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zum konkreten Vorgehen und zur Auswertung.
2.2.1 Biografie im Kontext des Erkenntnisinteresses Wie bereits dargelegt, geht diese Arbeit einer zweigeteilten Fragestellung nach: Wie gehen die ausgewählten Frauen in Prijedor mit ihrer Vergangenheit um? Wie wirken sich die Gewalterfahrungen auf das Zusammenleben und die sozialen Netzwerke in der Nachkriegsgesellschaft aus? Neben der Netzwerkanalyse kommt auch die Methode der Biografieforschung10 zur Anwendung. Letztere scheint sich am besten dafür zu eignen, in Erfahrung zu bringen, »wie und unter welchen Bedingungen es Subjekten gelingt, individuell bedeutsame Erlebnisse und Krisen […] im Kontext ihrer je besonderen Lebensgeschichte zu bewältigen« (Völter et al. 2005: 7). Die Biografieforschung verspricht Einsicht in bestimmte Milieus und in die Perspektive der Handelnden, währenddem die Netzwerkanalyse wie erwähnt zum Ziel hat, die soziale Struktur zu erfassen. Der Fokus auf die Biografie erscheint deshalb als geeignet, die Netzwerkanalyse zu ergänzen. Verstanden wird die Biografie als soziale Konstruktion, welche Muster der individuellen Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen in sozialen Kontexten zum Ausdruck bringt11 . Nebst dem individuell Biografischen kann die Biografie immer auch auf gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen verweisen. Von Bedeutung ist, dass Biografien nicht nur durch Erzählungen erzeugt werden, sondern auch durch Beschreibungen früherer und gegenwärtiger Lebenswelten sowie durch Argumentationen über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Die biografische Gesamtsicht ist deshalb eine latente Ordnungsstruktur der Erfahrungs- und Handlungsorganisation, ein Mechanismus, der den Blick sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die gegenwärtigen Handlungen und Zukunftsplanungen lenkt (Rosenthal 1995: 13). In dieser Logik geht Rosenthal von einer wechselseitigen Reorganisation von Erinnerung und Erzählung aus – eine wichtige Feststellung für die Forschungsanlage, da mit den biografischen Interviews gezielt Erlebnisse vor – während – nach dem Krieg erfasst und rekonstruiert werden sollen und die Erinnerung ein zentrales Moment der Erzählungen darstellt. Es muss also mitgedacht werden, dass biografische Erfahrungsaufschichtungen einen »aktiven 10 | Zur Geschichte der Biografieforschung vgl. Fuchs (1984: 95-135), Flick (2000: 175-186) und Strauss (1998). 11 | Die Biografieforschung sieht sich innerhalb der Soziologie einer breiten Kritik ausgesetzt. Es sei an dieser Stelle u.a. auf Bourdieu (1990), Niethammer (1990) und Rahkonen (1991) verwiesen. Für die Kritik an den Überlegungen von Alfred Schütze dienen u.a. Koller (1993), Bude (1985) und Jureit (1999).
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Prozess der Verarbeitung [darstellen], in dem Vergangenes und Zukünftiges, Erfahrung und Erwartung, Retrospektion und Prospektion dauernd ineinandergreifen« (Dausien 2000: 102). Lebensgeschichten werden folglich in einem bestimmten Rahmen und von einem je besonderen biografischen Standpunkt aus immer wieder neu ausgelegt und entworfen. Daraus folgt, dass die Art und Weise, »wie die biographischen Erfahrungen gedeutet und im Laufe der Zeit reinterpretiert werden, […] ebenso wie die Art und Weise ihrer Präsentation, sozial konstruiert« ist (Rosenthal 1995: 100). Eine Biografie ist also keine natürliche Tatsache – genauso wenig wie wir von Natur aus ein Geschlecht haben –, sondern ein soziales Regelsystem, das die Vergesellschaftung der Individuen steuert. Bettina Dausien präzisiert: »›Biografie‹ wird analysiert als eine soziale Konstruktion im Spannungsfeld von Struktur und Handeln, die bezüglich der Bedingungen ihrer Herausbildung und in ihren konkreten Formen an einen je spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontext gebunden ist.« (2000: 100)
Anhand dieser Aussage lässt sich festhalten, dass sich nicht nur die Netzwerkanalyse und damit in Zusammenhang die Bourdieu’schen Überlegungen eignen, Aussagen zur Dialektik von Handeln und Struktur zu entwickeln. Es ist auch möglich, dies mit dem Erfassen der Lebensgeschichten zu tun und somit die habitualisierten Handlungen zu erkennen, die als Ausdruck der jeweiligen Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata verstanden werden. Dementsprechend wird mit der Biografieforschung auch die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen individuellen lebensgeschichtlichen und kollektivgeschichtlichen Prozessen angestrebt: »Mittels der erzählten Lebensgeschichten wird es möglich, die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft sowie die Signifikanz von kollektiver und besonders familialer Vergangenheiten aufzuzeigen. Dabei ist zu betonen, dass sich sowohl die individuelle Geschichte eines Menschen als auch der deutende Rückblick auf die Vergangenheit aus der Dialektik zwischen Individuellem und Sozialem konstituiert.« (Rosenthal 2005: 61)
Folglich ist die Lebensgeschichte immer individuelles und soziales Produkt zugleich. Dadurch steht die Biografie auch in einer Wechselbeziehung zu anderen sozialen Regelsystemen wie Klasse, Geschlecht oder Ethnizität. Solche gesellschaftlichen Strukturmerkmale sind durchdrungen von Zugehörigkeiten, mit denen Differenzen und Vielfältigkeiten wahrgenommen, beschrieben und anerkannt werden können (Dausien 2000: 110). Daran anknüpfend lassen sich mit dem biografischen Forschungsansatz auch die Konstruktion unterschied-
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licher Zugehörigkeiten und Identifikationen als Prozesse sichtbar machen und analysieren. An dieser Stelle sei kurz auf den Begriff der Identifikation eingegangen. Rogers Brubaker (2007) vertritt die Sichtweise, dass der Begriff der Identität zu mehrdeutig ist und daher ersetzt werden muss. Er schlägt den Begriff der Identifikation vor (Brubaker 2007: 67-70), und dieser wird in der vorliegenden Arbeit für die Diskussion der Zugehörigkeiten verwendet werden. Bei diesem Begriff ist die Situations- und Kontextabhängigkeit zentral. Der Identifikation können zwei Eigenschaften zugesprochen werden: relational und kategorial. Bei der relationalen Identifikation identifiziert sich eine Person durch ihre Position im Beziehungsgewebe/Netzwerk (Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft etc.). Die kategoriale Identifikation verweist auf geteilte kategoriale Attribute (dazu zählen Rasse, Ethnizität, Sprache, Nationalität, Geschlecht etc.), welche bei der Analyse betrachtet werden müssen. Diese beiden Eigenschaften der Identifikation passen zu den gewählten Methoden der vorliegenden Forschung, welche sich anhand der biografischen Interviews eher der kategorialen Attribute annimmt und mit Hilfe der Netzwerkanalyse die relationale Identifikation erfasst.
2.2.2 Zugehörigkeit: Gleichheit und Differenz Mit ihren Biografien bilden die Interviewpartnerinnen nicht nur ihre persönliche Identität aus, sondern ebenso ihre soziale Identität, d.h. die Möglichkeit, zu »erkennen, dass sie über die Teilnahme an Interaktionen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen aufrechterhalten und dabei in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind« (Habermas zitiert nach Dausien und Mecheril 2006: 165). Das Dazugehören oder das Verstricktsein in soziale Gruppen muss als symbolische Darstellung eines Sachverhalts verstanden werden, denn erst durch die drei Akte Bezeichnung, Erfassung und Klassifikation entsteht überhaupt Zugehörigkeit. Eine Person ist also nicht an sich Mitglied einer Gruppe, sondern erst durch die Bezeichnung und durch das Gefühl, zu dieser Gruppe zu gehören. Der Glaube an Zugehörigkeit und die gefühlte Zugehörigkeit machen die Einbezogenheit in einen Wir-Zusammenhang erst aus (Brubaker 2007; Elias und Scotson 1993). Infolgedessen verweist Zugehörigkeit auf eine symbolisch-relationale Dimension und beinhaltet die zentralen Begriffe Verbundenheit und Grenzziehung: »Die Zugehörigkeit eines Elements zu Anderen zeigt ein Verwandtsein an, das […] durch Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen gekennzeichnet ist und in der implizit eine Distanz zu Elementen, für die andere Merkmale signifikant sind, angezeigt ist.« (Mecheril 2003: 120)
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Soziale Zugehörigkeit besagt also, dass Menschen ein praktisches und diskursives Zugehörigkeitsbewusstsein besitzen und vor diesem Hintergrund handeln. Zugleich verweist soziale Zugehörigkeit auf das Verhältnis eines Individuums zu einer sozialen Gruppe sowie auf das Verhältnis der sozialen Gruppe zum Individuum. Nebst der Verbundenheit ist ein weiteres Hauptmerkmal der Zugehörigkeit die Grenzziehung zwischen dem Verwandten und dem Nicht-Verwandten, eine Grenzziehung zwischen dem Wir und dem Nicht-Wir. Es geht dabei immer um Differenzen zwischen einem Innen und Außen, um ein Wir, das ihre Identität in der Differenz zu den Anderen konstruiert (Elwert 1989). Nach Elias und Scotson (1993) ist das Phänomen dieses Innen und Außen eine Universalie. Damit wird diese Zweiteilung zu einer Grundvoraussetzung für all jene kollektiven Identifikationen, die auf askriptiven Merkmalen beruhen und instrumentalisiert werden. Das Wir-Bild und das Wir-Ideal sind dabei immer eine Vermischung von Phantasien und realistischen Vorstellungen: »Ihre Eigenart tritt am schärfsten hervor, wenn Phantasie und Realität in Widerspruch zueinander geraten; dann wird nämlich ihr imaginärer Gehalt akzentuiert« (Elias und Scotson 1993: 44). Imaginär deshalb, weil sich in der Unterscheidung von Wir und Nicht-Wir das Bild eines prototypischen Mitglieds widerspiegelt (Dausien und Mecheril 2006: 174-180) und weil das, was die Wir-Gruppe als »Wir-Ideal« oder als »Gruppencharisma« (Elias und Scotson 1993: 46) annimmt, vielleicht eine längst vergangene Tatsache ist und damit zu einem Phantasiegebilde wird, das der Panzerung dient. Die Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe zeigt demnach den Prototyp in Reinform, den es so eigentlich nicht geben kann. Zur Herausbildung dieses Prototyps spielen der Mythos der Herkunft und die Geschichte der Wir-Gruppe sowie die Geschichte ihrer Beziehungen zu den Anderen eine zentrale Rolle. Zugehörigkeit muss demnach als Phänomen sozialer Integration und Vergesellschaftung verstanden werden, als Phänomen eines Wirs, das sich zwischen Phantasie und Realität seinen Platz gesucht hat und sich dauernd von den Anderen abgrenzen muss. Georg Elwert (1989) führt in seinen Überlegungen zur Bildung nationaler und ethnischer Wir-Gruppen aus, die Verheißung der Gemeinschaft liege darin, dass sie zum einen Gleichheit, zum anderen so etwas wie eine unverfälschte Anerkennung in Aussicht stelle: »Gemeinschaft bedeutet soziale Beziehungen, bei welchen als Austauschmittel für die Angelegenheiten dieser Gemeinschaft Geld ausgeschlossen ist und innerhalb deren die relative Gleichheit der Mitglieder angenommen wird« (Elwert 1989: 455). Der nach Ferdinand Tönnies (1991) definierte Begriff der Gemeinschaft als sozialer Zustand, der als gefühlsmäßige, teilweise sogar ethnische und blutsverwandtschaftliche Zusammengehörigkeit verstanden wird, scheint hier passend. Gemeinschaft ist eine Lebensform, in welcher der Mensch sich ungesondert eins weiß mit anderen, beruhend auf Neigung, Vertrauen, Liebe, intimen Banden und seelischer oder innerer Verbun-
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denheit. Darin äußert sich eine stark ausgeprägte Solidarität und Emotionalität. Ganz anders der Begriff der Gesellschaft, welcher eine umfassende Ganzheit eines dauerhaft geordneten, strukturierten Zusammenlebens von Menschen innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereichs bezeichnet. Nach Tönnies ist die Gesellschaft ein Typ menschlichen Zusammenschlusses, in welchem sich Menschen, die nichts miteinander zu tun hatten oder sich sogar feindlich gegenüber standen, durch (vertragliche) Übereinkunft miteinander verbinden. Der Zusammenschluss ist rein zweckbestimmt, und im Gegensatz zur Gemeinschaft fehlen in der Gesellschaft emotionale Beziehungen weitgehend. Anknüpfend an die Aussagen von Elwert und Tönnies zeigt sich, dass innerhalb einer nationalen oder ethnischen Gemeinschaft trotz vertrauensbasierter Zugehörigkeit ein Mangel an Stabilität herrscht. Dieser Mangel muss dauernd kompensiert, die Stabilität immerfort gemeinsam hergestellt werden. Gerade in krisenhaften Situationen wird dieser Mangel deutlich. Der schwache Kitt der Zusammengehörigkeit bricht, leicht können separatistische Gefühle wieder aufflammen. Es werden Zugehörigkeiten gestärkt, die auf bereits bestehenden Abgrenzungen zwischen einem Wir und einem Nicht-Wir beruhen. Alte Grenzen können reaktiviert oder gar neue geschaffen werden. Zentral dabei ist die Instrumentalisierung des Gruppencharismas, das der eigenen Gruppe wertvolle Eigenschaften zuschreibt und zugleich ermöglicht, das Nicht-Wir negativ wahrzunehmen: »Nicht wir – das besagt die Phantasie – haben diesen Menschen ein Brandmal aufgedrückt, sondern höhere Mächte, die Schöpfer der Welt sind; sie haben diese Menschen gekennzeichnet, um sie als minderwertig oder ›schlecht‹ kenntlich zu machen« (Elias und Scotson 1993: 32f.). Zugehörigkeiten werden also erfahren, verstanden und ausgehandelt. Sie sind immer ambivalent, widersprüchlich, unsicher, bedroht, fraglich und rational nicht fassbar; sie sind lediglich beschreibbar. Je nach Situation gestalten sich Zugehörigkeiten unterschiedlich, und je nach Individuum bestehen unterschiedliche formelle und informelle Zugehörigkeitsrealitäten. Derartige Realitäten werden allerdings erst durch Konzepte der Zugehörigkeit überhaupt erschaffen. Unter diesen Konzepten werden Formen der kollektiven Zugehörigkeitspraxis verstanden, die in- und exkludierend wirken, die also eine individuelle Zugehörigkeit ermöglichen oder eben nicht zulassen. Solche Konzepte »bilden exklusive Räume der Selbstdarstellung und -entwicklung aus […] und stellen Schemata der Verflechtung der je eigenen Geschichte mit der Geschichte des Zugehörigkeitskontextes zur Verfügung« (Mecheril 2003: 128). Diese Konzepte konstituieren Räume des Handelns und die Positionierung, in denen Individuen Zugehörigkeitserfahrungen machen. Solche Erfahrungen können positiv oder negativ sein. Positiv sind sie dann, wenn das Individuum sich selbst als zugehörig erkennt und gleichzeitig auch als zugehörig anerkannt wird (Mecheril 2003: 130). Negative Zugehörigkeitserfahrungen zeichnen sich durch das Gegenteil aus: Das Individuum wird nicht als zugehörig anerkannt und erkennt
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sich auch selbst nicht (mehr) als zugehörig. Durch solche positiven und negativen Zugehörigkeitserfahrungen bilden sich übergeordnete Strukturen des Handelns und des Befindens aus. Zugehörigkeitserfahrungen formieren also immer auch Zugehörigkeitsverständnisse. Die Zugehörigkeit ist Ausdruck und Instrument einer kodifizierten Ordnung, die Menschen symbolisch unterscheidet und ihnen im Zuge dieser Unterscheidung unterschiedliche Orte des Handelns und Selbstverständnisses zugesteht. Oder anders gesagt: die Zugehörigkeit ist ein vielschichtiger und komplexer Aspekt. Die Vielschichtigkeit zeigt sich ganz besonders in Verknüpfung mit der bosnischen Situation. So indizieren beispielsweise bereits die Namen der Bosnierinnen und Bosnier eine spezifische Art ihrer Zugehörigkeit: Die Vor- und Nachnamen weisen auf ein Distinktionssystem hin, das auf dem Merkmal Ethnizität beruht. Der muslimische Vorname kategorisiert eine Frau automatisch als Bosniakin, während ein serbischer Name sie zuerst einmal als Serbin bezeichnet.12 Um in den Worten von Dausien und Mecheril zu sprechen, sind also »Namensnennungen immer auch performative Reinszenierungen von Ethnizitätsunterscheidungen« (2006: 175). Mit der Namensgebung ist bereits ein in Bosnien zentrales Zugehörigkeitsmuster angesprochen, welches das alltägliche Leben nach ethnischen Gesichtspunkten strukturiert. Damit soll aber nicht automatisch vorausgesetzt werden, dass Ethnizität in der bosnischen Nachkriegsgesellschaft das einzig dominante Grundmuster für Zugehörigkeiten darstellt. Wie sich anhand der Falldarlegungen zeigen wird, wird die Ethnizität auch von anderen wirkmächtigen Zugehörigkeiten begleitet und durchdrungen. Dennoch sei in der Folge ein vertiefter Blick auf Ethnizität als Strukturierungsmerkmal der bosnischen (Nachkriegs-)Gesellschaft gerichtet. Dies nicht nur, weil ein Fokus der vorliegenden Forschung auf die Zugehörigkeitskonstruktion der Befragten gerichtet ist, sondern vor allem auch, weil Ethnizität sich in der Analyse der Interviews immer wieder als zentral herausgestellt hat und deshalb einer vertieften Untersuchung sowie theoretischen Situierung bedarf. 12 | Dass dies nicht nur in Bosnien-Herzegowina der Fall ist, zeigt ein anschauliches Beispiel aus Deutschland (Dausien und Mecheril 2006: 175): Ein italienischer Nachname evoziert bei einer Interviewerin die Annahme, die betroffene Person sei aus Italien nach Deutschland migriert. Ein Irrtum, wie sich herausstellt: »Woher kommst du?« – »Aus Essen.« »Nein, ich meine, ursprünglich?« – »Ich bin in Essen geboren.« »Aber deine Eltern?« – »Meine Mutter kommt auch aus Essen.« »Aber dein Vater?« – »Mein Vater ist Italiener.« »Aha …« In diesem Dialog zeigt sich ein schon fast typischer Mechanismus, dass ein Nachname die Zugehörigkeit selbstverständlich voraussetzt und (nicht nur) vom Interviewer unhinterfragt angenommen wird.
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Ethnische Zugehörigkeiten oder Beyond Ethnicity? Etymologisch geht der Begriff Ethnie (und mit ihm alle Ableitungen wie Ethnizität, ethnische Gruppe etc.) auf das Griechische zurück, das mit »Ethnos« alle nicht-hellenischen Völkerschaften bezeichnete. Heute wird »Unter Ethnie oder Ethnos […] in der Ethnologie eine Menschengruppe mit gleicher Kultur, gleicher Sprache, Glauben an eine gleiche Abstammungsgruppe und ausgeprägtem ›Wir-Bewusstsein‹ verstanden« (Kohl 1998: 270). Zentral ist das Wir-Bewusstsein der jeweiligen Gruppe, das den Glauben an eine gemeinsame Abstammung erzeugt. Max Weber formulierte in seinen Ausführungen zur ethnischen Gruppe: »Von der ›Sippengemeinschaft‹ scheidet sich die ›ethnische‹ Gemeinsamkeit dadurch, dass sie eben an sich nur (geglaubte) ›Gemeinsamkeit‹, nicht aber ›Gemeinschaft‹ ist […]. Die ethnische Gemeinsamkeit (im hier gemeinten Sinne) ist demgegenüber nicht selbst Gemeinschaft, sondern nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes Moment.« (Weber 2005: 307)
Einfluss in die sozialanthropologische Debatte fand dieser Gedanke in den 1960er Jahren, als Frederik Barth (1969) mit seinem wegweisenden Werk »Ethnic Groups and Boundaries« die Debatte um die Begriffe Ethnie, Ethnizität und ethnische Gruppe zu verändern vermochte. Im Gegensatz zur vorherrschenden essenzialistischen Auffassung betonte er, dass Ethnizität keine Frage der gemeinsamen Eigenschaften oder kulturellen Gemeinsamkeiten sei, sondern vielmehr eine der Klassifizierung und Kategorisierung, welche die Menschen vornehmen. Im Mittelpunkt von Barths Überlegungen findet sich der Begriff der ethnischen Grenze. Er machte deutlich, dass die Selbstdefinition einer ethnischen Gruppe immer nur in Abgrenzung zu einer anderen erfolgen kann. Hieraus folgt, dass es zur Herausbildung des ethnischen »Wir-Bewusstseins« immer einer Interaktion mit einer anderen sozialen Gruppe bedarf, die sich in bestimmten Grundzügen von der eigenen Gruppe unterscheidet. Welche Unterscheidungsmerkmale dafür herangezogen werden, hängt allerdings stark von der jeweiligen Situation, der Interaktionsart, dem Kommunikationspartner und der besonderen Interessen- und Konfliktlage ab. Hans-Rudolf Wicker hält fest, dass »die Stärke der neuen Doktrin [des ethnischen Grenzziehungsmodells, Anmerkung der Autorin] darin liegt, dass sie imstande ist zu erläutern, weshalb sich Gruppen innerhalb nationalstaatlicher Systeme, welche sich über ethnische Kategorien voneinander abgrenzen, nicht notgedrungen von der kulturellen Seite her stark unterscheiden müssen.« (1996: 379)
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Diese Aussage trifft meines Erachtens besonders gut auf die Situation im ehemaligen Jugoslawien zu, wo die Akteurinnen und Akteure bei der Verwendung von Kategorien einen erheblichen Spielraum besaßen und immer noch besitzen. So kann sich beispielsweise eine Muslimin aus Prijedor gegenüber einer Schweizerin als Bosnierin verstehen und sich damit auf die staatliche Zugehörigkeit berufen. In der Interaktion mit einer bosnischen Kroatin hingegen wird sie sich als Bosniakin (also als muslimische Bosnierin) bezeichnen und sich dabei in erster Linie auf ihre religiöse Zugehörigkeit beziehen, und das sogar dann, wenn sie sich nicht im eigentlichen Sinne als religiös versteht. Gegenüber einer Einwohnerin der Nachbarstadt jedoch wird sie zur Prijedorerin und rekurriert dabei auf die lokale Zugehörigkeit. Diese verschiedenen Arten der Zugehörigkeit, die sich je nach Situation und Interaktionsrahmen unterschiedlich gestalten, lassen sich fast ins Unendliche weiterdenken. Bereits daran zeigt sich die Vielschichtigkeit der möglichen Referenz auf Strukturierungsmerkmale. – Ethnische Gruppen konstituieren sich also durch einen Prozess wechselseitiger Fremd- und Selbstzuschreibungen und darauf, wo und wie die Konfliktlinien verlaufen. Wie bereits erwähnt, geht es dabei immer um ein ›Innen‹ und ›Außen‹, um die Abgrenzung des ›Wir‹ vom ›Nicht-Wir‹. Fazit des Gesagten ist, dass Barths Untersuchungen zum Fluktuationscharakter der ethnischen Grenze den Diskussionen um Ethnien als konstante Einheiten ein Ende bereitet haben. Der relationale und situative Charakter von Ethnizität steht seither im Zentrum des Interesses: Das ethnische Identifikationsbewusstsein konstituiert sich in Abgrenzung zu Anderen, ist fließend und stets veränderlich. Die neusten Diskussionen um den Begriff Ethnizität setzen bei diesen Überlegungen an. Sie erweitern Barths Aussagen um einige für die vorliegende Forschung zentrale Argumente. Brubaker (2007: 21), einer der Hauptvertreter der jüngeren Debatte, schlägt in der Tradition von Barth vor, Ethnizität als relationalen, prozessualen, dyamischen und wechselhaften Begriff zu betrachten, um diese Kategorie der Zugehörigkeit fassen zu können (siehe auch Jenkins 1994). Laut Brubaker muss allerdings dem Begriff der Gruppe entsagt werden, welcher im Barth’schen Denken noch tief verankert ist. Weil die Diskussion immer von abgegrenzten und einheitlichen Gruppen ausgegangen sei, so Brubaker, sei die gesamte Ethnizitätsdiskussion zum Stillstand gekommen (Brubaker 2007: 17). Das Problem besteht also darin, dass Gruppen grundsätzlich als gegeben betrachtet werden. Gruppen werden verdinglicht, indem beispielsweise unreflektiert von Serben, Kroaten und Muslimen im ehemaligen Jugoslawien gesprochen wird, so, als wären diese drei Gruppen gegen innen homogen und gegen außen stark abgegrenzt. Dass diese Gruppen in vorliegender Arbeit aber gerade nicht so verstanden werden, sondern als komplexe, je nach Situation und Kriterien unterschiedlich ausgehandelte Zugehörigkeiten, wird in nachfolgenden Ausführungen und besonders den Falldarlegungen ein Thema sein. Vorerst ist hier der Einfachheit und der Lesefreundlichkeit halber
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weiterhin von »Serbinnen und Serben«, »Kroatinnen und Kroaten« und »Bosniakinnen und Bosniaken« die Rede (siehe dazu auch Kapitel 1.5), allerdings in vollem Bewusstsein, dass der exzessive und manipulative Gebrauch solcher Bezeichnungen zum Krieg geführt hat und für die heutige ethnische Trennung mitverantwortlich zeichnet. Nach der Darlegung der Fälle und der Diskussion derselben wird es möglich sein – und das ist unter anderem auch ein Ziel der vorliegenden Arbeit –, diese Bezeichnungen aufzubrechen und die Rolle der festgelegten ethnoreligiösen Gruppen für die Unmöglichkeit einer Annäherung der verfeindeten Gruppen zu diskutieren. Mit Ethnizität meint Brubaker (2007: 22) also eine situative Kategorie oder ein diskursives Deutungsmuster. Ethnizität soll nicht auf wesenhafte Gruppen bezogen gedacht werden, sondern auf praktische Kategorien, kulturelle Redensarten oder kognitive Schemata. In der Auseinandersetzung mit Ethnizität soll die analytische Kategorie nicht die Gruppe als solches sein, sondern das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das bei Brubaker als Zusammengehörigkeitsgefühl Bezeichnete muss als variabel und zufällig betrachtet werden, um Momente kollektiver Solidarität in Betracht ziehen zu können. Brubaker betont, dass es wichtig ist, Kategorien und nicht Gruppen zu fokussieren, damit die mannigfachen Formen beleuchtet werden können, in denen Ethnizität (aber auch Rasse oder Nationalität) existieren und funktionieren. Erst dann wird es möglich sein, der Dynamik der Gruppenbildung mehr Platz einzuräumen und die Gruppenbildung als soziales, kulturelles und politisches Projekt zu sehen. Im Zusammenhang mit ethnischen Konflikten bedeutet das beispielsweise, dass oberflächlich betrachtet Gruppen als Protagonisten der ethnischen Konflikte erscheinen. Doch in Wirklichkeit werden diese instrumentalisiert von Organisationen wie Staaten, politischen Parteien, Militärs oder paramilitärischen Organisationen, die für den Konflikt verantwortlich sind. Gleiches lässt sich für den Begriff der ethnisch motivierten Gewalt sagen. Der vorherrschende Interpretationsrahmen bestimmt laut Brubaker (2007: 30) nach wie vor, wie Konflikte und Gewalt gesehen, interpretiert und repräsentiert werden. »Die Kodierungspraxis wird stark von dem vorherrschenden Deutungsrahmen beeinflusst. Gegenwärtig werden Konflikte eindeutig als ethnisch kodiert. […] Die ethnische Tendenz unseres Deutungsmusters führt dazu, dass wir das Auftreten ethnischer Gewalt überschätzen, indem wir ungerechtfertigt überall Ethnizität als Ursache vermuten und dadurch das Vorkommen »ethnischer Gewalt« aufblähen.« (Brubaker 2007: 134135)
In eine ähnliche Richtung argumentiert Günther Schlee (2006: 7-22), der moniert, der Terminus »ethnischer Konflikt« sei zu einer so selbstverständlichen
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Phrase geworden, dass niemand mehr zu fragen wage, was eigentlich genau das ethnische an ethnischen Konflikten sei. Meist wird vereinfachend vorausgesetzt, dass das Ethnische oder die Ethnizität die Quelle gewaltsamer Konflikte ist. Schlee führt aus, dass besonders in Zusammenhang mit den Vorkommnissen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zuweilen überbetont wird, dass das ethnische Moment die politische Fragmentierung generiert hätte und Ethnizität demnach als zeitkonstanter Faktor seit dem osmanischen und habsburgischen Reich bestehen würde. Die Ethnizitätsforschung hingegen geht davon aus, dass Ethnizität als eine Form sozialer Identifikation fortlaufend sowohl durch Selbst- als auch durch Fremddefinition bestimmt wird. Somit ist Ethnizität immer an das momentane Bewusstsein gekoppelt, das man von ihr hat. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Ethnizität ein prozesshaftes und relationales Ergebnis ist und nicht die Ursache ethnischer Konflikte sein kann. Deshalb sollte immer gezeigt werden, wie – innerhalb des Konfliktes – Ethnizität konstruiert wird. Es sind in diesem Sinne nicht Dinge in der Welt, sondern Blickwinkel auf die Welt, die interessieren, und dazu zählen ethnisierte Weisen des Sehens (und Übersehens), des Deutens (und Missdeutens) und des Erinnerns (und Vergessens) (Brubaker 2007: 31, 116-117). Wenn also in einem engeren Sinn die Macht unterschiedlicher Zugehörigkeiten und das Zusammengehörigkeitsgefühl studiert werden, so geht es in der vorliegenden Forschung immer darum, die Grenzen und Wirkungsweisen dieser Zugehörigkeiten und damit das Strukturproblem der Nachkriegsgesellschaft in Prijedor zu rekonstruieren. Spielräume des Aushandelns werden mit den Fallbeispielen sichtbar gemacht. In den Worten Rebekka Habermas’ geht es um ein Erschließen des Zugangs zur relationalen »Dynamik des Aushandelns« von ethnoreligiösen (und auch anderen) Verhältnissen (Habermas zitiert in Arni 2004: 9). Wie bereits angetönt, stehen mit der ethnischen Zugehörigkeit immer auch andere Kategorien in Verbindung. Beispielsweise ist das Ethnische mit der Kriegserfahrung eng verknüpft, aber auch mit dem Geschlecht. In ethnisch definierten Gemeinschaften nehmen Frauen oftmals den Status einer »symbolic border guard« ein (vgl. dazu Yuval-Davis 1996; Yuval-Davis 1997). Im anschließenden Kapitel 3 wird diese Thematik weiter ausgeführt. Hier sei nur so viel angemerkt: Die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien sind herausragendes Beispiel dazu, wie in Ethnisierungsprozessen einer Gemeinschaft auch das Geschlecht eine zentrale Rolle einnimmt. Den Menschen wurde die Aufgabe übertragen, bestimmte Geschlechternormen herzustellen, diese zu bewahren und sie fortzusetzen: so beispielsweise die Männer als Krieger, Soldaten und Beschützer der Nation und die Frauen als Mütter und Reproduzentinnen der Nation. Damit verkörpern beide Geschlechter auch die Identität derjenigen Gruppe, welcher sie als zugehörig erklärt wurden. Darin widerspiegelt sich der
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Mythos der natürlichen Geschlechterdifferenz, der die Lebenspraxis der Individuen nachhaltig bestimmt (Honegger 1991: IX). Der Mann gilt als prädestiniert für die geistige, kulturelle Arbeit, während die Frau in einer Einheit mit der Natur gesehen und auf die Mutterschaft festgelegt worden ist. Folglich dienen bestimmte Frauen- aber auch Männerbilder der Integration einer Gruppe sowie der gleichzeitigen Abgrenzung zu anderen, ethnisch definierten Gruppen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Hinblick auf den sozialen Wiederaufbau in Bosnien-Herzegowina nicht nur die Mechanismen der ethnoreligiösen, sondern damit in Zusammenhang auch andere Zugehörigkeiten wie Geschlecht oder auch die Kriegs- und Migrationserfahrungen betrachtet werden müssen. Die zentrale Frage dabei ist jeweils nicht, »ob ethnische [und andere] Trennlinien tatsächlich […] bestehen, sondern ob sie als solche verstanden [und gelebt] werden« (Calic 1996: 22) und welche Konsequenzen für die Betroffenen sowie die Sozialstruktur daraus entstehen.
2.2.3 Methodische Anmerkungen zum biografischen Inter view Wie einleitend für Teil I angetönt, bezeichne ich die von mir gewählte Methode für die Erhebung der Lebensgeschichten in Anlehnung an Cornelia Helfferich (2005: 24) als biografisch-narratives Interview. Die Vorgehensweise stellt eine Mischform dar, die am ehesten dem episodischen Interview gleicht, allerdings mit dem Fokus auf die Biografien oder Lebensgeschichten der interviewten Personen. Die Besonderheit des episodischen Interviews besteht darin, die Aufforderung zu einer Spontanerzählung mit dialogisch angelegten Nachfrageteilen zu verknüpfen: »Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Situationen, in denen der Interviewpartner Erfahrungen gemacht hat, die für die Fragestellung der Untersuchung relevant erscheinen« (Flick 2000: 124ff.). Für die Nachfrageteile entwickelte ich einen rudimentären Themen- und Fragenkatalog, der sich entlang der drei Zeitdimensionen vor dem Krieg, während des Krieges, nach dem Krieg orientierte. Die Gesprächspartnerinnen wurden um einen Lebensrückblick gebeten, der sowohl ihre Situation in der Vorkriegszeit als auch diejenige in der Nachkriegszeit umfasst. Ob und wie sie mir von ihren Erlebnissen der Kriegszeit erzählen wollten, überließ ich den Frauen. Die Interviews eröffnete ich mit einer kurzen Erklärung, warum ich mich für die bosnische Nachkriegssituation interessiere. Ich betonte, dass ich das Land aus der Zeit vor dem Krieg persönlich nicht kannte und mich deshalb auch für das Leben vor dem Krieg interessiere. Ich erwähnte in dieser Erklärung ebenfalls, dass mich ganz besonders die Situation der Frauen in der Gesellschaft beschäftige. Mit der anschließenden Aufforderung, mir aus ihrem Vorkriegsleben zu erzählen, gab ich den befragten Frauen den notwendigen Erzählstimulus,
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schränkte aber den Intervieweinstieg zeitlich auf die Vorkriegszeit ein.13 Bei einigen Frauen funktionierte dieser Stimulus einwandfrei, bei anderen kam die Erzählung kurz nach der ersten Antwort ins Stocken. Für diesen Fall konnte ich mit spontanen Fragen, geleitet vom Themen- und Fragenkatalog, an das Geschilderte anknüpfen. Falls es die Erzählung zuließ, formulierte ich in allen Interviews thematische Anschlussfragen nach folgendem Schema: »Können Sie mir über diese Zeit (oder dieses Ereignis) noch etwas mehr erzählen?« Unüblich an meiner Vorgehensweise war, dass ich alle Erzählungen gelegentlich für Sicherheitsübersetzungen unterbrach (das ist so im biografisch-narrativen Interview nicht vorgesehen). Ich bin der bosnischen Sprache kundig, allerdings wollte ich für die doch auch sehr heiklen Gesprächssituationen auf eine Übersetzung nicht verzichten. Erstaunlicherweise störten jedoch diese Unterbrechungen nur in wenigen Fällen den Erzählfluss. Dynamische Interaktionen zwischen den am Gespräch Beteiligten waren in der Regel problemlos möglich.
Schwierige Inter viewbedingungen Ein biografisch-narrativ ausgerichtetes Interview birgt gewisse Gefahren, insbesondere dann, wenn mit Menschen gesprochen wird, die unter den Auswirkungen einer Traumatisierung leiden.14 Es muss angenommen werden, dass viele 13 | Die Erzählaufforderung formulierte ich wie folgt: »Also, ich kenne Bosnien ein wenig, wie es heute ausschaut, weil ich seit 1999 immer wieder nach Bosnien gekommen bin und mich hier aufgehalten und mit Menschen gesprochen habe. Ich kenne aber Bosnien, also, ich kenne es nicht, wie es vor dem Krieg war. Können Sie mir ein bisschen ihr Leben schildern, wie es ausgesehen hat vor dem Krieg, damit ich mir ein Bild machen kann?« 14 | Die Literaturlage zu den Themen Traumatisierung und Posttraumatische Belastungsstörung PTBS ist schier unüberblickbar geworden und deckt neben psychologischen auch sozialanthropologische, historische und soziologische Perspektiven ab. Als Einstieg für eine vertiefte Auseinandersetzung verweise ich auf Judith Hermans Buch (1993) »Die Narben der Gewalt«. Zentral sind die Überlegungen von Hans Keilson (1979), der zwischen dem traumatischen Ereignis, dem Traumaerleben und der individuellen Traumareaktion unterscheidet und gleichzeitig alle drei Aspekte in einen engen Zusammenhang stellt. Damit konnte Keilson die Traumatisierung in ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext verankern. Das traumatische Erlebnis darf nicht als punktuelles Ereignis betrachtet werden, sondern ist als länger anhaltende Belastungssituation, als sequenzielle Traumatisierung zu verstehen. Ebenfalls soll auf David Bekker (1992, 1995, 2001) verwiesen werden, der sich im Besonderen mit den Auswirkungen der Kriegstraumatisierung und anderer Menschenrechtsverletzungen auseinander setzt. Becker betrachtet kritisch das Modell der Posttraumatischen Belastungsstörung PTBS, da es als Diagnosekonzept zwar die Folgen der Traumatisierung fokussiere, die traumatische Situation und das individuelle Erleben jedoch aus dem Blick verliere. Zur
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der von mir interviewten Frauen solche Auswirkungen zu ertragen haben15 . Symptome, die darauf hinweisen, wurden mir von den Betroffenen geschildert, oder ich konnte sie beobachten. Erzählt wurde mir beispielsweise von Angstzuständen, von Ruhelosigkeit und massiven Schlafstörungen, von wiederkehrenden Albträumen, oder mir fiel während der Gespräche auf, dass einige Frauen immer wieder die gleichen Erlebnisse referierten und damit in der Situation dieser Ereignisse verharrten. Fest steht, dass viele der von mir Interviewten infolge der Kriegserlebnisse und der prekären Nachkriegssituation heute noch nicht in einer gefestigten Gegenwart leben und den meisten deshalb auch eine positiv ausgerichtete Zukunftsperspektive fehlt. In solchen Situationen, so ist man sich in der Literatur einig, kann Erzählen positive Auswirkungen auf die Betroffenen haben. »It is crucial for those affected to be able to put into words that which they have experienced. Finding words can enable remembrance and coping, and it can give experience meaning and significance« (Swiss Red Cross 2005: 8). Nicht nur das Kommunizieren, sondern bereits das einfache Zuhören kann unterstützend wirken. Denn »Traumatisierte sind entscheidend auf das Eingehen der Umgebung angewiesen. […] es besteht eine tiefe und meist unausgesprochene Bedürftigkeit, dass überhaupt die Traumatisierung gesehen, dass sie anerkannt wird« (Müller-Hohagen zitiert nach Rosenthal 2002: 208). Wie auch in vielen meiner Gespräche deutlich wurde, hatten die Betroffenen ein großes Bedürfnis, über ihre leidvollen Erlebnisse zu sprechen. Sie wollten mit ihrem Leid und auch ihren Ängsten akzeptiert, anerkannt und angehört werden. Nach den Interviews begegneten mir die interviewten Frauen mit einer immensen Dankbarkeit für meine Bereitschaft, ihnen zuzuhören. Dass ich mich auch zehn Jahre nach Kriegsende für ihre Geschichten und Situationen interessiere, empfanden viele der Frauen als nicht selbstverständlich. Wie sie mir schilderten, leiden viele unter der Tatsache, dass die (nicht nur mediale) Aufmerksamkeit von Bosnien-Herzegowina auf andere Konfliktherde verschoben wurde und viele internationale Organisationen ihr Engagement vor Ort
sozialanthropologischen Sicht auf Fragen des sozialen Leidens verweise ich u.a. auf Das (2000, 2001) und Kleinman (1997). Auch in Zusammenhang mit Bosnien ist viel geschrieben worden, siehe u.a. Swiss Red Cross (2005), Moser (2005), Cullberg Weston (2001). 15 | Die Frage, ob die Menschen in Bosnien durch den Krieg traumatisiert wurden oder nicht, ob sie unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden oder nicht, will ich mit vorliegender Forschung nicht diskutieren. Viel eher möchte ich darauf hinweisen, wie die Betroffenen mir gegenüber ihre Leiden geschildert haben und welche Wege sie zur Bewältigung oder Integration dieser Leiden sehen. Für eine Diskussion des problematischen und weitverbreiteten Gebrauchs des Trauma-Begriffs und des Konzepts Posttraumatische Belastungsstörung PTBS verweise ich u.a. auf Wicker (2005).
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langsam auslaufen lassen. Sie fühlen sich deshalb in ihrer Not und mit ihrem Schicksal allein gelassen. Ein Interview mit möglicherweise traumatisierten Frauen erfordert besondere Sorgfalt, da bei der Gesprächsführung eine Retraumatisierung in jedem Fall verhindert werden muss. Laut Gabriele Rosenthal (2002: 211) gibt es einige unterstützende Fragen und Haltungen, die bei schwierigen Passagen in einem Gespräch hilfreich sein können (etwa, wenn beim Erzählen von schmerzhaften, belastenden Erfahrungen heftige Gefühle reaktiviert werden und die Erzählenden beispielsweise weinen). Bereits das Bewusstsein, dass eine solche Gesprächssituation von der Interviewerin einen erheblichen »Balanceakt zwischen der Unterstützung von Erzählungen über die traumatische Lebensphase und einer gleichzeitigen Zurückhaltung […]« (Rosenthal 2002: 209) erfordert, kann hilfreich sein. Folgende weitere Überlegungen, die mitunter auch für ›normale‹ Interviewsituationen ihre Gültigkeit haben, habe ich bei der Datenerhebung in Betracht gezogen (nach Rosenthal 2002): Grundsätzlich stellte ich mich darauf ein, dass biografische Interviews mit Menschen in akuten Lebenskrisen oder Gespräche mit Menschen, die erst kürzlich eine Traumatisierung erlitten haben, nicht vorhersehbar und planbar sind und von der Forscherin auch nicht in diese Richtung forciert werden dürfen (weshalb ein teilstandardisiertes Leitfadeninterview nicht das geeignete Instrument gewesen wäre [vgl. dazu Flick et al. 2000: 349ff.; Helfferich 2005: 24]). Das Ansprechen von Gewalterfahrungen bedarf eines überaus vorsichtigen Umgangs mit den Erzählaufforderungen und sorgfältig formulierter Nachfragen. Denn gerade beim Nachfragen muss darauf geachtet werden, dass die interviewte Person gedanklich nicht zu stark in ihre traumatische Vergangenheit abgleiten kann. Auf Fragen nach Details sollte deshalb wenn möglich verzichtet werden; geeigneter sind in solchen Gesprächen narrativ formulierte Nachfragen, die zum Weitererzählen auffordern und auch das Verbalisieren von Gefühlen ermöglichen. Nebst der Art der Fragen ist in belastenden Gesprächspassagen außerdem zentral, dass die Interviewerin stets signalisiert, dass sie die schwierige Situation ihres Gegenübers versteht und sich auf seine Gefühle einlassen kann. Beispielsweise sollen Erzählungen nicht bewertet werden, und die Interviewerin muss fortwährend ernsthaftes Interesse am Erlebten und am erfahrenen Leid aufbringen und den erlittenen Schmerz würdigen. Aufmerksames und empathisches Zuhören ist deshalb unabdingbar. Damit ich dem Anspruch des achtsamen Zuhörens auch gerecht werden konnte, zog ich für die Interviews eine Übersetzerin bei. Denn besonders schwierig ist der Umstand, dass traumatisierte Menschen in ihrem alltäglichen Leben immer wieder erfahren müssen, dass andere ihre Mitteilungen über die Gewalterlebnisse abwehren – ein rein sprachliches Nichtverstehen meinerseits hätte in einer solchen Situation leicht als Abwehr interpretiert werden können. Das Bedürfnis der Anderen, sich in der
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Begegnung mit Überlebenden dem Schmerz nicht auszusetzen, kann bei den Betroffenen Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit auslösen. Diese Erfahrung sollte weder durch die Haltung noch durch die Fragen der Interviewerin weiter verstärkt werden. An dieser Stelle muss aber auch betont werden, dass es nicht Ziel und Zweck eines biografisch-narrativen Interviews sein kann, den Betroffenen zu helfen, ihre Sprachlosigkeit aufzubrechen und ihre traumatischen Lebensphasen in ihre Lebensgeschichte zu integrieren. Das ist Ziel einer Psychotherapie und kann nicht die Aufgabe der Sozialwissenschaft sein. Ein maßgeblicher Unterschied zur Therapie zeigt sich bereits an der Initiative zum Gespräch. Währenddem für die Psychotherapie der Leidensdruck der Betroffenen das Gespräch initiiert, geht die Initiative für lebensgeschichtliche Interviews von den Forschenden aus und ist primär durch deren Fragen und Interessen bestimmt (vgl. dazu Jureit 1999: 51). Ein weiterer zentraler Punkt ist zu beachten: Erzählen die Interviewten über ihre traumatischen Erlebnisse, so gilt es, danach auf ein Themengebiet einzugehen, das ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Die Interviewpartnerin muss sich also »aus der belastenden Situation hinaus erzählen können«, womit klar ist, dass das Interview in keinem Fall unmittelbar nach der Schilderung eines belastenden Erlebnisses beendet werden darf. Im Hinauserzählen kann die Interviewpartnerin von der Interviewerin mit gezielten Fragen unterstützt werden. Nicht zu letzt bedarf gerade dieser Punkt eines guten Zeitmanagements seitens der Interviewerin. Zentral für diese Art von Interviews ist – als letzter hier ausgeführter Punkt – auch die Garantie, dass niemand anderes erfahren wird, dass genau die interviewte Person von diesen Erlebnissen berichtet hat. Dies gilt für alle Interviews, besonders aber für Gespräche mit traumatisierten Menschen oder Menschen in Krisensituationen. Für die gewählte Vorgehensweise waren also Transparenz und Klarheit in der Beziehung zwischen Forscherin, interviewter Person und Übersetzerin nötig. Da die befragte Frau Expertin ihrer eigenen Biografie ist, musste ich zu jeder Zeit ihre Intimsphäre und Erzählbereitschaft respektieren.
2.2.4 Analytisches Vorgehen Methodisches Hintergrundkonzept für die Analyse der Datenmaterialien ist eine Methodentriangulation, bei der es nicht um die Überprüfung vorab definierter Hypothesen geht, sondern in erster Linie »um die empirisch fundierte Gewinnung neuer Erkenntnisse und […] Lebenserfahrungen in einem je konkreten empirischen Feld« (Dausien 1994: 138f.). In den nachfolgenden Abschnitten des Kapitels soll das zweiteilige analytische Vorgehen dargelegt werden und mit den Überlegungen zu den Habitusformationen und den Zugehörigkeiten ergänzt werden.
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Themenzentrierte Analysestrategie für alle Inter views Alle erhobenen Interviews wurden zu Beginn mit Hilfe der Methode der Grounded Theory (Strauss 1996) einer ersten thematischen Auswertung unterzogen. Dabei ging es nicht um die systematische Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie (Dey 1999; Strauss 1996: 39). Vielmehr stand das konkrete methodische Kodierverfahren im Mittelpunkt des Interesses, um die inhaltlichen Schwerpunkte der Interviewpartnerinnen zu erfassen, die Interviews miteinander zu vergleichen und die Fallgruppierung und Fallauswahl vorzubereiten. Dieses Vorgehen – hier orientiert an demjenigen von Anselm Strauss und Juliet Corbin – fokussiert zwei zentrale Punkte: Zum einen sollen in den Daten grundlegende Prozesse entdeckt werden, die gesellschaftlichen Wandel bewirken, und zum anderen soll anhand der Methode das Zusammenspiel von Struktur und Handlung verständlich gemacht werden. Diese beiden Ausgangspunkte verlangen nach einer Vorgehensweise, welche die Fälle nach Ähnlichkeiten und Unterschieden analysieren kann. Da zu Beginn der Auswertungsphase primär die Themenanalyse der Interviews interessierte und nicht das Finden und Skizzieren einer theoretischen Leitidee, wurde nach den offenen und axialen Kodierschritten vorgegangen (nach Kelle 1997: 328; und Strauss 1996: 78-92). Damit wurde die Grounded Theory für die vorliegende Untersuchung zu einem Verwaltungstool für große Datenmengen, das eine Übersicht über das gesamte Datenmaterial ermöglichte. Mit Hilfe der erarbeiteten Kodes gelang es, die Fälle zu ordnen und die Auswahl der fünf Fälle vorzubereiten.
Vorgehen bei der Fallauswahl Die gewonnenen Themenfelder aus der oben beschrieben Analysearbeit boten eine gute Grundlage für die Gruppierung der Fälle nach unterschiedlichen Kriterien und Kategorien. Dieser Gruppierungsprozess war wichtig, um fallübergreifende Relevanzen und Gültigkeiten herauszuarbeiten und das Feld aus vielfachen Perspektiven beleuchten zu können. Danach galt es, anhand der Ideen des theoretischen Samplings die erhobenen Interviews für die Falldarlegung zu sortieren und auszuwählen (nach Strauss 1996: 148ff.).16 Zentrale Überlegung für die Auswahl der Fälle war, dass sie sich eignen müssen, um die komplexe Problematik der Prijedorer Nachkriegsgesellschaft in ihrer Breite zu exemplifizieren. Zuerst wurde der dichteste und auffälligste Fall ausgewählt – der Fall Sivac –, um ihn in der Folge mit anderen Fällen zu ergänzen. Leitend waren dabei insbesondere die aus allen Interviews eruierten relevanten Themen, die soziografischen Daten sowie die Frage, ob die Einzelfälle den Untersuchungsgegenstand erweitern helfen. Das Ziel der ergänzenden Fallauswahl liegt darin, den Untersuchungsgegenstand aus einer theoretischen Perspektive so breit wie 16 | Für das Auffinden und Auswählen der Interviewpartnerinnen siehe Kapitel 4.1.
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möglich ausleuchten und mit der intensiven Fallanalyse eine Tiefe (und nicht bloß statistische Repräsentativität) der Thematik erreichen zu können.
Feinanalyse der ausgewählten Fälle Für die Feinanalyse der ausgewählten Fälle wurde ein offenes und kombiniertes Vorgehen verwendet, das weder als induktiv noch als deduktiv bezeichnet werden kann. Vielmehr treffen darauf die Bezeichnungen Sequenzanalyse oder abduktives Vorgehen zu: »Entsprechend dem abduktiven Verfahren wird zunächst von den möglichen Lesarten über die Bedeutung einer Sequenz im Lebenslauf […] auf den möglichen weiteren Fortgang gefolgert. Erst dann werden diese ›Folgehypothesen‹ mit dem faktischen Fortgang kontrastiert.« (Rosenthal 1995: 214)
Die abduktive Logik ist der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik inhärent und führt zur Rekonstruktion erzählter und erlebter Lebensgeschichten17. Rekonstruktion deshalb, weil davon ausgegangen wird, dass das empirische Material nach Interpretationen verlangt und nicht einfach für sich selbst sprechen kann. Dieses rekonstruktive Vorgehen wird als »Konstruktion zweiten Grades« bezeichnet, da an Konstruktionen angeschlossen wird, die auf der Ebene der Alltagswelt bereits bestehen. Durch die Interpretation des Materials erfassen die Forschenden also nicht nur die Konstruktionen in den Erzählungen (erster Grad), sondern entwickeln daraus eigene theoretische Konstruktionen (zweiter Grad). In der gewählten Analyseart geht es demzufolge auch um das Einnehmen einer rekonstruktiven Analysehaltung (Dausien 2000: 105): »Dieser Begriff der Rekonstruktion meint keine ›Reproduktion‹, kein bloßes Nachvollziehen und Affirmieren alltagsweltlicher Ordnungskategorien und Sinnstrukturen, sondern eine reflexive, kritisch-analytische Rekonstruktion der Konstruktionsprozesse ›ersten Grades‹« (Dausien 2000: 97, Hervorhebung im Original). Lebensgeschichten sind demzufolge komplexe Konstruktionen der befragten Subjekte, die durch die Wissenschaftlerin unter bestimmten Fragestellungen und mit Hilfe bestimmter theoretischer Konzepte re-konstruiert werden. Wichtig ist, dass es dabei nie um die objektive Wahrheit gehen kann, sondern immer nur um die sozial konstruierte Darstellung derselben: »Eine Lebensgeschichte, die von einem konkreten Subjekt in einer konkreten biographischen und sozialen Situation ›konstruiert‹ wird, ist keineswegs ›frei erfunden‹, sondern bezieht sich auf ein gelebtes und erlebtes Leben und hat für das Subjekt Gültigkeit, die in hohem Masse handlungsorientierend ist.« (Dausien 1994: 145) 17 | Kritische Überlegungen zum Zusammenspiel erzählter und erlebter Lebensgeschichte finden sich u.a. bei Jureit (1999: 63-64).
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Mit diesem Ansatz und dieser Haltung ist es möglich, sowohl die subjektive Sicht auf die Welt und auf das Selbst wie auch die Handlungsorientierung und Handlungsbedingungen der Interviewpartnerinnen zu erfassen (Dausien 1994: 145f.). Die Handlungsbedingungen entsprechen dabei dem Faktor, der weiter oben für die Untersuchung und Beschreibung des sozialen Netzwerkes als relevante Ergänzung bezeichnet: Die Handlung des Einzelnen wird durch die ›Umwelt‹ (oder die kontextuellen Bedingungen) beeinflusst, welche aus den historischen, politischen, sozialen, kulturellen etc. Rahmenbedingungen sowie den politischen und sozialen Diskursen besteht. Zentral hierbei ist auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die wiederum von unterschiedlichen Faktoren durchdrungen wird. Diese unterschiedlichen Faktoren der Zugehörigkeit determinieren unter anderem den Habitus, der im Begriff der Handlungsorientierung Platz findet. Der Habitus als gesellschaftlich und sozial bedingtes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema beinhaltet materielle, kommunikative und identitäre Bedürfnisse und Kompetenzen der Einzelnen. Es ist schließlich der Habitus, der bestimmt, wie subjektive Handlungsoptionen und Denkmöglichkeiten aussehen, und es ist der Habitus, der vorgibt, was getan und gesagt oder unterlassen und verschwiegen wird. Der Habitus bildet also die Grundlage für die Beurteilung der sozialen Realität, der in ihr gegebenen Möglichkeiten und somit der Handlungspraxis selbst. Mit der Handlungsorientierung (dem Habitus) und den Handlungsbedingungen (der ›Umwelt‹) wird folglich das Zusammenspiel zwischen Praxis, Handlungen und Struktur beschrieben, welches ganz besonders durch die extreme Krisensituation beeinflusst wurde. Die durch den Krieg ausgelöste Krisensituation, in welcher die routinierten Handlungen nicht mehr greifen konnten, bestimmt bis heute den Alltag der befragten Frauen. Der Habitus muss sich an die Zwänge und Möglichkeiten anpassen, die für die veränderte Lebenssituation charakteristisch sind. Dadurch entstehen in der Kriegs- und der Nachkriegszeit neue Formen habitueller Schemata, welche die alten überlagern – ein Ablauf, der dem Ablagerungsprozess verschiedener Schichten in Sedimentgesteinen ähnlich ist, in welchen die darüber abgelagerten Sedimente die Grundstruktur formen und modifizieren (Wimmer 1995: 64). Zusätzlich muss der Zeitbezug berücksichtigt werden, um die Handlungslogiken im Lichte der vergangenen Erfahrungen, der gegenwärtigen Situation und der zukunftsbezogenen Pläne zu erfassen (Schweizer 1996). Nebst der Auswertung der sozialen Beziehungsgeflechte der befragten Frauen ist es mit dem abduktiven Analyseverfahren möglich, diese ›neuen‹ und dennoch alten habitualisierten Logiken zu erfassen und die Problematik der Nachkriegssituation in ihrer Zeitperspektive zu diskutieren. Konkret wurden die ausgewählten Interviews in Anlehnung an das abduktive Auswertungsmodell analysiert, das Bettina Dausien vorschlägt (2002: 177). In diesem Modell sind drei unterschiedliche Rahmungen zentral: die biografi-
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sche, die soziokulturelle und jene der Interaktion. Die ersten beiden können die eben beschriebene Handlungsorientierung (Habitus) und die Handlungsbedingungen (›Umwelt‹) erfassen und zusammenbringen. Denn zum einen ist es die biografische Rahmung, welche die Interpretation leitet. Dabei interessieren vorerst die expliziten Deutungen und impliziten Erfahrungsinhalte: Es geht um das, was erzählt wird, also um erlebte oder erinnerte Handlungen, um Ereignisse, Situationen und Ähnliches. Für die biografische Rahmung wird ebenso beachtet, wie erzählt wird. Es geht in diesem Schritt um die biografische Prozessstruktur der Erfahrungen, um den Habitus also, und seine narrative Rekonstruktion. Zum anderen gilt es in einem zweiten Schritt, auch die sozialkulturelle Rahmung oder die Handlungsbedingungen für die Interpretation des Textes zu berücksichtigen. Dazu werden beispielsweise die aktuellen Diskurse und die politischen Kontexte aus der Region gezählt oder auch die sozialkulturellen Praktiken. Zu guter Letzt wird aber auch der Interaktionsrahmen beachtet. Dieser besteht aus den zeitlichen und räumlichen Bedingungen, die während des Interviews vorherrschten. Bedacht werden müssen dabei die Interessen sowohl der Erzählerin als auch der Forscherin sowie das Machtverhältnis zwischen den am Interview Beteiligten (Dausien 2000: 105).
2.3 R EFLE XION DES F ORSCHUNGSPROZESSES Mit den beiden vorgestellten Methoden wurden für die vorliegende Untersuchung zwei unterschiedliche Perspektiven angewandt. Diese Disparität erfordert eine Reflexion. Denn auch wenn Frauen in ihren Schilderungen der Darstellung sozialer Netze und Beziehungen scheinbar mehr Raum geben und ihre Biografien stärker mit den Geschichten signifikant Anderer verweben als Männer (Dausien 1994: 151), ist die Kombination biografischer Interviews mit der Erhebung sozialer Netzwerke für vorliegendes Erkenntnisinteresse in zweierlei Hinsicht problematisch. Die Art der Erhebung (zwei sehr unterschiedliche Methoden miteinander zu verschränken) löste bereits während der Datenerhebung unter den Beteiligten Verwirrung aus. Nach teilweise sehr langen, auf die Narration ausgerichteten Interviews – die mitunter ja auch eine Belastung darstellen konnten – brachte die Netzwerkanalyse eine lange und eher mühsame Abfragerei von Namen, Rollen, Verbindungen, Daten und Fakten mit sich. Ganz im Gegensatz zum biografisch-narrativen Interview verhinderte die mit geschlossenen Fragebogen ausgerichtete Erhebung der Netzwerke jegliches Erzählen. Zudem steht und fällt die Netzwerkanalyse mit der Bereitschaft oder dem Vermögen der befragten Frauen, über ihre Bezugspersonen Auskunft zu geben. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass gerade über Personen, mit denen man in einer schwachen Beziehung steht, nicht viel Wissen vorhanden sein muss. Dies gilt
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im vorliegenden Forschungskontext noch ausgeprägter für die Erfassung der Vorkriegsnetzwerke, da diese aus der Erinnerung abgefragt und retrospektiv durch die Brille der Kriegserfahrung betrachtet wurden. Das Generieren eines Netzwerkes aus der Erinnerung kann deshalb eine mögliche Verzerrung zur Folge haben, beispielsweise hinsichtlich der genannten Bezugspersonen und ihrer ethnischen Zugehörigkeit. So werden möglicherweise nur noch Personen der eigenen Ethnie erwähnt, oder die ethnische Heterogenität wird im Gegenteil betont und Bezugspersonen werden nur deshalb genannt, weil sie der anderen Ethnie angehören. In Kapitel 4.3.3 wird diese Problematik ausführlicher thematisiert. Ein bedeutendes Hindernis in der Kombination der beiden Erhebungsinstrumente ist die daraus resultierende Überlänge der Zusammenkünfte. Die Interviewpartnerinnen waren nach den langen biografisch-narrativen Interviews meist erschöpft und zeigten wenig Interesse, auch noch an einer standardisierten Befragung teilzunehmen. Dies war an und für sich kein Problem, konnte ich doch die Befragung für die Netzwerke auf andere Termine verschieben und diese sogar über mehrere Termine hinweg verteilen. Viel mühseliger als die Länge erwies sich die Erhebung der Netzwerke an und für sich. Je mehr Namen mit dem Namensgenerator erfasst wurden, desto länger dauerte das anschließende Ausfüllen der Namensinterpretatoren. Bei durchschnittlich 14 genannten Personen der vorliegenden Netzwerkerhebung bedeutete das, dass im Schnitt 14-mal der gleiche Fragebogen ausgefüllt werden musste, um all diejenigen Attribute der Bezugspersonen zu erfassen, die von Interesse waren (biografische Hintergrundinformationen, die Art der Rollenbeziehung, der Aufbau der Beziehung und Fragen zur Kontakthäufigkeit). Diese Abfragerei entwickelte sich sehr schnell zu einer enorm aufreibenden, peniblen Angelegenheit, die kein Ende nehmen wollte und sowohl die Geduld der befragten Frauen als auch meine mächtig strapazierte. Auch wenn ich nach einer ersten Testphase die Erhebung der Netzwerke auf mehrere Termine verteilte, konnte dies die Mühsal höchstens lindern. Interpretativ nachteilig oder zumindest erschwerend wirkte sich ein weiterer bereits angetönter Umstand aus: Die alltäglichen Beziehungsstrukturen, die über die Netzwerkanalyse zum Vorschein kamen, wurden von den Interviewpartnerinnen nicht als Teil einer erzählenswerten Biografie betrachtet. Die Folge davon war, dass in den biografischen Narrativen zwar wichtige Bezugspersonen genannt wurden, diese in der Netzwerkerhebung aber nicht erschienen, und umgekehrt. Es war ziemlich willkürlich, an wen die Interviewpartnerinnen im Moment des Abfragens der Netzwerke gerade dachten. Öfters und nachträglich wollten deshalb die Frauen ihre Antworten ergänzen oder sogar Namen wieder gestrichen haben. In diesem Zusammenhang erwies es sich als Vorteil, dass ich die Netzwerkanalysen den biografisch-narrativen Interviews folgen ließ. Auf
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diese Art scheint zumindest das biografische Interview nicht von der Netzwerkanalyse und der sie begleitenden Unlust beeinflusst worden zu sein. Nebst der Kritik und einer gewissen Unzulänglichkeit der Netzwerkanalyse erwies sich die kombinierte Anwendung der deskriptiv-quantitativen und qualitativen Erhebungs-, Datenaufbereitungs- und Analysearten aber auch als spannende Herausforderung. Die beiden Methoden lassen sich durchaus auf interessante Weise und mit Erkenntnisgewinn miteinander verschränken, wie die folgenden Falldarlegungen und Diskussionen zeigen werden. Viele Informationen über das soziale Netz der befragten Frauen hätte ich über die bloße Erhebung mit biografischen Interviews in dieser Form nicht erhalten. Deshalb möchte ich mit Schnegg und Lang (2002: 48) festhalten, dass die Netzwerkanalyse nicht als Gegenmodell, sondern als Ergänzung zu anderen Methoden der Sozialanthropologie zu verstehen ist. Sie ist ein geeignetes Mittel, die Einbettung und das soziale Umfeld von Akteurinnen und Akteuren zu beschreiben und damit die biografischen Interviews zu erweitern. Auf der Grundlage der eingeführten theoretischen Aussagen und Begrifflichkeiten ist es nun möglich, detaillierte Einsichten in die Biografien und in die persönlichen Netzwerke der befragten Frauen zu geben. Die Kombination der beiden Methoden soll helfen, die Konsequenzen des Krieges zu erhellen, die sich für die soziale Praxis der befragten Frauen ergeben. Denn es interessiert ja, welche Auswirkungen die Kriegs- und Migrationserfahrungen auf den Umgang mit der Vergangenheit haben und wie diese Erfahrungen die heutige Gesellschaft beeinflussen. Zugleich soll anhand der Biografien und der sozialen Netzwerke die mit dem Krieg verbundene Krise in den Fokus gerückt werden – also die Krise, die sich auf die habitualisierten Handlungen wie auf das soziale Geflecht auswirkt. Bevor zu den Interviewpartnerinnen und den Falldarlegungen übergegangen wird, gilt es noch, einen Einblick in die Handlungsbedingungen zu geben. Dazu folgt ein historischer Rückblick, der schwergewichtig Nationalismus, Ethnizität und Geschlechterbeziehungen fokussiert.
3. Nationalismus, Ethnizität und Gender in historischer Perspektive
Um die nachfolgenden Biografien und Diskussionen einordnen zu können, bedarf es eines Rückblicks in die Geschichte der Region. Sie umfassend darzulegen, kann jedoch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein. Die Geschichte soll punktuell soweit rekonstruiert werden, dass sich die zentralen Aussagen der Materialanalysen erfassen und in die sozialanthropologische Diskussion einordnen lassen. Für vorliegende Forschung sind unter anderem Kenntnisse über die konkreten Lebensbedingungen und die damit zusammenhängenden Diskurse vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg erforderlich. Damit lässt sich die wechselseitige Konstitution von Diskursen und sozialer Handlungsrealität erfassen. Im Besonderen braucht es dazu einen Fokus auf den nationalistischen Diskurs, der von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Schwierigkeiten und auch Normalitäten ist, die das heutige Leben nach dem Krieg in Prijedor prägen (vgl. Friedman 1999: 1). Das Nachzeichnen dieses Diskurses und die weiteren Ausführungen beruhen auf Darstellungen anderer.1 Hier wird also eine bestimmte Lesart der Geschichte Bosniens konstruiert, die ihrerseits auf Konstrukten beruht und sicherlich keinen absoluten Wahrheitsanspruch stellen kann. Zusätzlich ist zu bedenken, dass jede Retrospektive auf die Geschichte als »self-serving rationalization« der Gegenwart zu betrachten ist (Halpern und Kideckel 2000: 15). Die Vergangenheit wird je nach Situation 1 | Viel ist zur Geschichte Bosniens und der Region geschrieben worden. Für meine Ausführungen konzentriere ich mich für die Zeit vor 1980 vorwiegend auf Noel Malcolms »Bosnia: A Short History« (1994 [2002]) und auf die Ausführungen von Lenard Cohens »Broken Bonds: Yugoslavia’s Disintegration and Balkan Politics in Transition« (1995). Für die Darlegung der Zeit nach 1980 ziehe ich zusätzlich Susan Woodwards »Balkan Tragedy« (1995) sowie Marie-Janine Cali ć s »Krieg und Frieden in Bosnien-Herzegowina« (1996) bei. Detaillierte und fundierte historische Abhandlungen sind u.a. zu finden bei: Bali ć (1992), Donia (1994), Friedman (1996), Lovrenovi ć (1998), Neweklowsky (1996) und Sundhaussen (1982, 1993).
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und Interessenlage von den involvierten Parteien unterschiedlich gedeutet und instrumentalisiert. Das gilt insbesondere für Konfliktlagen, in denen mittels Rekurs auf sogenannt historische Gegebenheiten eine Ethnifizierung motiviert wird. Gerade im vorliegenden Fall der unvereinbaren Haltungen von Konfliktparteien, die ihre Geschichte selbst und interessengeleitet schreiben, sollte man die self-serving rationalization im Hinterkopf behalten. Als Beginn der Geschichte Bosniens wird die im 7. und 8. Jahrhundert nach Süden gerichtete Migration der Slawinnen und Slawen betrachtet. Die heutigen Bosnierinnen und Bosnier, egal, welche Bezeichnungen sie sich selbst geben oder ihnen gegeben werden, stammen von den Slawinnen und Slawen ab, die zu jener Zeit in die bosnische Region eingewandert sind (Malcolm 1994 [2002]: 2). Das Land war und blieb ein Transitland an der geografischen Nahtstelle und im kulturellen Spannungsfeld zwischen dem römisch-katholisch geprägten Westen und dem griechisch-orthodoxen Osten Europas. Mit der Einwanderung der Slawinnen und Slawen nahm auch die Unterscheidung der Bevölkerung nach disparaten ethnoreligiösen Zugehörigkeiten ihren Anfang2 . Die nachfolgende Darlegung der Geschichte richtet deshalb ihr Augenmerk immer wieder auf die Herausbildung dieser Zugehörigkeiten.
3.1 H ISTORISCHER R ÜCKBLICK BIS ZUR SOZIALISTISCHEN F ÖDER ATION J UGOSL AWIEN Bekanntlich war die Region Bosnien während 400 Jahren durch das osmanische Reich besetzt. Während dieser Besetzung konvertierte die Mehrheit der bosnischen Bevölkerung zum Islam. Als möglicher Grund gelten die Etablierung einer privilegierten und urbanen Klasse islamischer Slawinnen und Slawen sowie das ausschließlich für Muslime geltende Angebot attraktiver Arbeitsmöglichkeiten in der osmanischen Administration (siehe u.a. Malcolm 1994 [2002]: 51-69). Der türkisch-islamische Einfluss hat auch über die religiöse Grenze hinweg Eingang ins Alltägliche gefunden und zeigt sich bis heute sowohl in Stadt- und Dorfbildern als auch in vielen Kulturgütern. Mitte des 19. Jahrhunderts begann die osmanische Vormachtstellung auf dem Balkan zu zerfallen. Der Hauptgrund wird in der Erstarkung einer nationalen und ethnischen Identität gesehen, die sich in Kroatien und Serbien entwickeln konnte. Beide Strömungen waren nationalistisch ausgerichtet und hatten nicht nur die Ambition, das osmanische Reich zurückzudrängen, sondern 2 | Es wird bewusst der Begriff ethnoreligiös benutzt, da damit die Verbindung der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, also die enge Verquickung der Religion mit der Ethnizität betont werden kann (siehe dazu Mojzes 1999). Für eine Diskussion der unterschiedlichen Zugehörigkeiten siehe Kapitel 3.2.1.
3. N ATIONALISMUS , E THNIZITÄT UND G ENDER IN HISTORISCHER P ERSPEK TIVE
strebten ebenso danach, die bosnischen Regionen und deren Bewohnerinnen und Bewohner ihren Herrschaftsbereichen einzuverleiben. Dabei zeichnete sich eine Verbindung der Kategorien Ethnie und Religion ab. Die kroatische Seite bezeichnete die muslimischen Bosnierinnen und Bewohner von da an als ›Kroaten muslimischen Glaubens‹, die serbische nannte sie ›nicht praktizierende Orthodoxe‹. Als Reaktion darauf entwickelte sich eine Abwehr der muslimischen Bosnierinnen und Bosnier gegenüber dem Serbischen und dem Kroatischen. In den 1870er Jahren lancierten Serbien und Russland gemeinsam einen Krieg gegen das osmanische Reich. Als Folge davon wurde Bosnien dem österreich-ungarischen Reich einverleibt. Diese Zeit brachte der Region einen enormen Entwicklungsschub, was sich vor allem im Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Fabriken niederschlug. Doch der Zerfall des osmanischen Reiches brachte nicht nur positive Veränderungen mit sich. Das politische Leben richtete sich verstärkt entlang ethnischer Linien aus: Die politischen Parteien der Region beanspruchten von da an die ausschließliche Interessenvertretung der kroatischen, der serbischen oder der muslimischen Bevölkerung. Die Entstehung eines nationalen Bewusstseins wurde durch die in Westeuropa inspirierte Suche nach dem ›authentischen Volk‹, der Nation, angeregt. Es ist das im 19. Jahrhundert in Deutschland entstandene primordiale Nationenverständnis, das von den südeuropäischen Staaten übernommen wurde. Im Gegensatz zur politischen Nation der französischen ersten Republik lehnte sich dieses Konzept an die primordialen Kategorien von Bluts-, Sprach- und Abstammungsgemeinschaft an. Es leitet die Grundlage der Vergemeinschaftung von der (meist auf Mythen beruhenden) Herkunft und Sprache ab und nicht von gemeinsamen Traditionen, Werten und Institutionen, wie das beispielsweise in demotisch-unitaristischen oder ethnisch-pluralistischen Nationalstaatskonzepten verstanden wird (vgl. u.a. Anderson 1996; Brubaker 1994; Calic 1996: 125, 126; Gellner 1991; Giordano 1999; Smith 2000). Die Folgen dieser Nationalstaatenbildung zeigten sich zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern Bosnien-Herzegowinas in der Entwicklung unterschiedlicher Zugehörigkeiten. Als Ein- und Ausschlussmechanismus der Zugehörigkeit dienten die Religion und die mythische Abstammung. Die Sprache3, die Geschichte oder die Traditionen, die sonst eine Orientierungshilfe für die Zugehörigkeiten und den Zusammenschluss in Wir3 | Zur Entwicklung der Sprachen und Dialekte siehe Calic (1996: 25ff.). So viel sei hier angefügt: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bedient man sich in Kroatien, Serbien, Montenegrino und Bosnien einer gemeinsamen Schriftsprache, genannt das Štokavische. Sie kann in drei regionale Varianten eingeteilt werden: IJe-kavisch oder Je-kavisch (Bsp. Mlijeko für Milch), E-kavisch (Bsp. Mleko für Milch) und I-kavisch (Bsp. Mliko für Milch). Wie die Analyse der Interviews noch verdeutlichen wird, spielt die Sprache für die Erkennung des Gegenübers und dessen Einteilung in serbisch, bos-
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Gruppen bieten, konnten den Zweck der Abgrenzung aufgrund eines Zuviels an Gemeinsamem nicht erfüllen. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass sich die orthodox und katholisch Gläubigen in Bosnien vermehrt über die bosnische Landesgrenze hinweg mit ihren religiös Gleichgesinnten verbunden fühlten und Anschluss an Serbien beziehungsweise Kroatien wünschten. Nur für die Musliminnen und Muslime, die sich trotz Niedergangs des osmanischen Reiches nach wie vor als Angehörige dieses übernationalen Gebildes verstanden (vgl. Džaja 1993: 159), waren die Frage nach der Nationalität sowie der Anschluss an ein anderes Land von geringer Bedeutung. Denn welchem Land in der Region hätten sie sich überhaupt anschließen können? Diese Situation führte dazu, dass die bosnischen Musliminnen und Muslime zum ersten Mal in der Geschichte zu einem Spielball zweier antagonistisch eingestellter Gruppen wurden: Die serbische war von der Idee eines Großserbiens ergriffen und sah Bosnien-Herzegowina als Teil davon. Ihre Mitglieder sprachen von den bosnischen Kroatinnen und Kroaten als ›Serbokatholiken‹ und von den Musliminnen und Muslimen als ›Serben muslimischen Glaubens‹. Ihr erklärtes politisches Ziel war der direkte Anschluss Bosnien-Herzegowinas an das Königreich Serbien. Die kroatische Gruppe hingegen stellte der serbischen ihre eigene nationale Ideologie entgegen und betonte den kroatischen und demnach katholischen Charakter Bosnien-Herzegowinas. Sie bezeichnete die bosnischen Musliminnen und Muslime als ›kroatische Muslime‹ und wollte diese mit Kroatien und Dalmatien in einem Großkroatien vereinigt wissen (vgl. Džaja 1993: 160ff.). Ein gewichtiges Erbe der Übergangszeit zwischen dem Zerfall des osmanischen Reiches und dem Einzug der österreich-ungarischen Administration ist also die nationalistisch und primär religiös ausgerichtete Orientierung eines großen Bevölkerungsanteils von Bosnien-Herzegowina. In der Folge spitzte sich innenpolitisch die Frage nach der nationalen und religiösen Zugehörigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner des Öfteren zu. Diesen Umstand erkannte die k. u. k. Administration unter Baron Benjamin von Kallay, der bereits 1878 diesem Trend etwas entgegenzusetzen versuchte: »To combat the infiltration of nationalism from neighbouring states, his administration fostered a regional patriotism called bošnjaštvo, a multiconfessional Bosnian nationalism […]« (Donia 2005: 62)4 . Mit diesem bosnisch-nationalen und nicht religiös bestimmten Bewusstsein sollte den antagonistischen Empfindungen wirkungsvoll und länniakisch oder kroatisch eine wichtige Rolle. Aufgrund der gesprochenen Variante kann das Gegenüber jeweils als bestimmtes ethnisches Gegenüber bezeichnet werden. 4 | Laut Saltaga (zit.n. Bringa 1995: 238, Fußnote 33) wurde der Begriff Bošnjak bereits 1166 zum ersten Mal erwähnt. Das national verstandene Konzept Bošnjaštvo konnte sich nicht als Alternative zu den serbischen und kroatischen Ideologien und als etwas genuin Bosnisches entwickeln. In osmanischen Quellen taucht der Begriff später wieder auf, diesmal allerdings zweideutig: Einerseits wurde er mit allen Einwohne-
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gerfristig begegnet werden (Banac 1994 [1984]: 306; Bougarel 1996a: 89; Maners 2000: 307). Dieser Versuch scheiterte jedoch bereits im Ansatz kläglich, nicht zuletzt, weil eine bosnisch-nationale Zugehörigkeit den Serbinnen und Serben als unvereinbar mit ihrem Verständnis des Nationalstaates erschien. Doch auch die Musliminnen und Muslime entwickelten eine distinktive Identität als Antwort auf das Angebot. Als Reaktion darauf führte die österreich-ungarische Besatzung den geografisch konnotierten Begriff Bosanac (Bosnier) ein, welcher alle Bewohnerinnen und Bewohner Bosnien-Herzegowinas ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit umfassen sollte. Gleichzeitig griffen die Besatzer den Begriff Bošnjak (Bosniake) wieder auf, diesmal aber ausdrücklich als Bezeichnung für die bosnischen Musliminnen und Muslime (Banac 1994 [1984]: 360f.).5 Nachfolgend diente die Religion als primäres und hartnäckig bestehendes Unterscheidungsmerkmal. Die serbisch- und kroatisch-nationalistischen Tendenzen blieben auch im Vorfeld des Ersten Weltkrieges virulent, obwohl bereits vor dem Krieg das Projekt eines einheitlichen Staates entstanden war mit dem Ziel, alle Südslawen (Jugo bedeutet Süden) in einem Staat zu vereinen. Doch erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eröffnete sich diesem neuen Staatengebilde eine Chance. Die Hauptvertreter der Idee waren Kroaten und Slowenen, während Serben dem Projekt eines südslawischen Staates von Beginn an ambivalent gegenüber standen – sie sahen ihren Einfluss in der Region schwinden. Serben vertraten folglich die Idee eines zentralisierten serbisch dominierten Staates, um die serbische Bevölkerung, die in verschiedenen Regionen lebte, zu vereinen. Kroaten und Slowenen hingegen empfanden diese Staatenidee als zu serbisch dominiert und propagierten einen Bundesstaat mit größerer Eigenständigkeit der Republiken. Diese Konfliktkonstellation hatte zur Folge, dass das ›Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen‹, dem das bosnische Gebiet einverleibt wurrinnen und Einwohnern der bosnischen Provinz in Verbindung gebracht, andererseits auch exklusiv mit den bosnischen Musliminnen und Muslimen. 5 | So viel sei hier bereits vorweggenommen: Der Begriff Bošnjak (wie auch das Konzept Bošnjaštvo) wurde in den frühen 1980er Jahren von säkularen Nationalisten erneut aufgegriffen mit dem Ziel, ihn als kommunalen, nicht religösen Begriff zu etablieren, sodass »[…] die ethnische Vergemeinschaftung nicht primär konfessionell, sondern nach dem Prinzip »Ein Staat – ein Volk« auch geographisch und genuin national fundiert ist« (Calic 1996: 30). Doch mit dem einsetzenden Zerfall Jugoslawiens wurde der Begriff zu einem streng islamisch konnotierten und dient seit diesem Zeitpunk zur Identifikation bosnischer Muslime (siehe auch Bougarel 1996b). Nachfolgend wird die Problematik solcher Zugehörigkeiten immer wieder zur Sprache kommen, da die Fragen nach Ethnizität und Nationalität die zwischenethnischen Beziehungen der Nachkriegszeit unvermindert bestimmen und für vorliegende Studie von großer Wichtigkeit sind.
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de, von Beginn an ein ebenso komplexes wie fragiles politisches Gebilde war. Es war ein Staat, der von Beginn an innenpolitische (ethnische, soziale und ökonomische etc.) Spannungen auszuhalten hatte (Calic 1996: 13). Erst 1939 wurde es möglich, nun unter dem Namen Jugoslawien, die Rivalitäten zwischen Kroaten und Serben im Rahmen eines Vertrages vorübergehend beizulegen. Als Folge beruhigte sich die politische Situation und es konnten zum ersten Mal Gefühle des »Jugoslawismus« entstehen (Malcolm 1994 [2002]: 136-156). Für Bosnien wirkten sich die Entwicklungen im Königreich im Besonderen auf die ethnische Zusammensetzung aus. Es lebten Deutsche, Ungarinnen und Ungarn, Roma, Jüdinnen und Juden neben bosnischen Orthodoxen, Katholikinnen und Katholiken, Musliminnen und Muslimen. Dabei ist zu betonen, dass sich diese Gruppen im alltäglichen Leben nicht markant unterschieden. Zwar existierten kleine regionale Unterschiede in der Sprache und größere in den religiösen Kulturen. Doch für die alltäglichen Zugehörigkeitsmomente waren die ökonomischen Unterschiede viel gewichtiger. Erst mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung des Königreichs durch die Deutschen wurden die altbekannten politischen Extreme wieder geweckt, womit das ethnische Moment als Hauptmerkmal der Zugehörigkeiten wieder überhand nahm.
Der Zweite Weltkrieg Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zerfiel das Gebiet des ersten Jugoslawiens in besetzte und annektierte Territorien, aufgeteilt zwischen Deutschland und Italien. Das Land lag für Hitler und Mussolini an einer strategisch wichtigen Schlüsselposition für die Eroberung des gesamten Balkans. Folge davon war eine Zerstückelung des ehemaligen Königreichs Jugoslawien, wobei Bosnien zum Territorium des »Unabhängigen Staates Kroatien (USK)«6 geschlagen wurde (Sundhaussen 1982: 72). Der USK wurde von der radikalfaschistischen Ustaša unter der Führung Ante Pavelićs beherrscht, welche bereits 1929 als terroristische Untergrundorganisation gegründet worden war und sich später ideologisch dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus anglich. Der faschistische Staat sah in seiner Gesetzgebung eine Diskriminierung der nichtkroatischen Bevölkerung vor, wobei besonders die ca.zweiMillionen Serbinnen und Serben vielfältigster Verfolgung ausgesetzt waren. Diese reichte vom Verbot der kyrillischen Schrift und der orthodoxen Glaubensgemeinschaft bis hin zur massenhaften Vernichtung im Konzentrationslager Jasenovac (Calic 1996: 52; Denich 1994: 374ff; Malcolm 1994 [2002]: 176ff.; Sundhaussen 1982: 72ff.). Serbische Bewohnerinnen und Bewohner Kroatiens und Bosniens wurden vom Terrorismus des Ustaša-Regimes und den Deportationen völlig überrascht. Es verging einige Zeit, bis sich Widerstand regte. Er organisierte sich in zwei unterschiedlichen Bewegungen. Die soge6 | Nezavisna Država Hrvatska, NDH.
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nannten Četnici7 formierten sich aus Resttruppen der ehemals jugoslawischen Armee und verfolgten das Ziel, die untergegangene Monarchie wiederherzustellen und das Gebiet von »fremden ethnischen Elementen« (Calic 1996: 53) zu säubern. Das Streben nach einem Großserbien wurde damals zum politischen Hauptgedanken der Četnici. Diese Ideologie diente als Rechtfertigung für die Ausschreitungen sowohl gegen die kroatische als auch gegen die muslimische Zivilbevölkerung. In der zweiten Widerstandsbewegung schlossen sich die kommunistischen Partisanen und Partisaninnen unter der Führung von Jozip Broz, genannt Tito, zusammen. Diese kämpften gegen den Faschismus, waren Anhänger der kommunistischen Ideologie und kämpften für die Diktatur des Proletariats. Zu Beginn rekrutierten sie mehrheitlich serbische Guerillamitglieder. In den späteren Phasen des Krieges wurden sie durch antifaschistische Kroaten und Kroatinnen sowie Muslime verstärkt, viele von ihnen stammten aus Bosnien. – Trotz ihrer kommunistischen Ideologie kooperierten die Partisanen lange Zeit mit den Deutschen, denn eine Befreiung durch die Alliierten hätte die Wiederherstellung der Monarchie zur Folge gehabt; das hätte dem Anliegen eines kommunistischen Systems grundsätzlich widersprochen. Erst 1943 änderten sich die Allianzen: Dank erfolgreicher Kämpfe der Partisanen und Partisaninnen ließen die Alliierten die Unterstützung der Četnici fallen und wandten sich den Partisanen zu. Damit stand der Gründung eines sozialistischen Staates nichts mehr im Weg. Der Zweite Weltkrieg war für Jugoslawien und alle seine Bewohnerinnen und Bewohner eine Katastrophe. Angehörige aller Nationalitäten und ethnischen Gruppen wurden Opfer von Umsiedlung, Vertreibung sowie Straf- und Vergeltungsaktionen. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren auf jugoslawischem Gebiet ihr Leben. Die meisten von ihnen wurden von Landsleuten umgebracht. Geschätzte 250.000 Menschen wurden zudem Opfer der Massenerschießungen nach Kriegsende oder kamen während der Internierung in den Konzentrationslagern um (Malcolm 1994 [2002]: 193). Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Angst und Misstrauen unter den Menschen weit verbreitet, ethnische und religiöse Grenzen verschärften sich. Vor diesem Hintergrund von Hass, Verlust und zugespitzter politischer und ethnischer Trennung machten sich die Partisanen daran, ein vereintes Jugoslawien aufzubauen und ein völlig zerstörtes Land zu modernisieren. Kein leichtes Unterfangen.
7 | etnik, von eta, dt. Truppe, Schar.
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3.2 S OZIALISTISCHES J UGOSL AWIEN 8 Nach Kriegsende sah sich die Kommunistische Partei KPJ mit drei Hauptproblemen konfrontiert. Zum einen war da die ›ethnische Frage‹, welche bereits in der Zwischenkriegszeit instrumentalisiert und politisiert worden war und sich durch die Kriegsereignisse zusätzlich verschärft hatte. Eng damit verknüpft war das zweite Problem: Die KPJ musste eine übergreifende nationale Identität (Godina 1998) erfinden, eine neue Version des Jugoslawismus, die die traumatischen Erinnerungen an den Krieg verdrängen konnte. Die dritte Herausforderung bestand in der Modernisierung und im Wiederaufbau des ökonomisch verwüsteten Landes. Dem ersten Problem begegneten Tito und seine KPJ mit der Etablierung einer Föderation aus sechs Republiken und zwei autonomen Regionen9 . Damit sollte die Macht unter den beteiligten ethnischen Gruppen aufgeteilt und gleichzeitig die Überlegenheit einzelner ethnischer Gruppen, insbesondere der serbischen, eingedämmt werden. Die Teilrepubliken waren nach dem Muster der sowjetischen Verfassung souverän. Ein Sezessionsrecht der Gliedstaaten bestand jedoch nur auf Papier, womit die föderalistische Ordnung faktisch unter das Machtmonopol der Partei fiel und dadurch zur Farce wurde (Sundhaussen 1993: 102)10. Der Hauptgedanke der ›Föderation‹ gründete im Jugoslawismus, der sich zum Sozialismus, zur nationalen Gleichberechtigung aller Bevölkerungsteile und zur Multinationalität bekannte. Alle Südslawinnen und Südslawen in einem Staat zu vereinen, das war der Grundgedanke hinter der zukünftigen jugoslawischen Staatsideologie. Für das jugoslawische Selbstbewusstsein war dabei nicht unbedeutend, dass es dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens BdKJ als einziger kommunistisch geführter Widerstandsbewegung in Europa gelang, aus eigener Kraft im antifaschistischen Kampf die politische Macht zu erlangen: »Diese gemeinsame Erfahrung […] bildete sowohl einen wichtigen Legitimationsstoff als auch einen alltäglichen Solidaritäts-Kitt« (Oevermann 2001: 120). In dieser Solidarität, die aus dem Nationalmythos des Partisanenkampfes hervorging, gründet die positiv konnotierte gesamtjugoslawische Identität. Eine solche zu bilden, war die zweite Herausforderung für den jungen Staat. Mit dem Grundsatz ›Gleichheit für alle‹ glaubten die Partisanen die nationale und 8 | Dieses trug nacheinander die offiziellen Bezeichnungen a) Demokratisches Föderatives Jugoslawien (1944/1945), b) Föderative Volksrepublik Jugoslawien (19451963) und c) Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1963-1991). 9 | Zu den Republiken zählten Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Makedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien, die beiden autonomen Regionen waren der Kosovo und die Vojvodina. 10 | Zur detaillierten Beschreibung des jugoslawischen Staatsmodells siehe u.a. Brühl-Moser (1994).
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ethnische Frage, die sie für ein Relikt der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft hielten, ein für allemal lösen zu können. Zugleich waren die nationale Frage und die der übergreifenden nationalen Identität für die Machthaber auch von taktischer Bedeutung. Die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs hatten sich ihrer Meinung nach nicht um Nationalitäten gedreht, es waren keine Kämpfe gegen Serben, gegen Muslime, gegen Kroaten geführt worden. Vielmehr hatte es sich aus Sicht der Partei um einen Krieg der Kommunisten gegen NichtKommunisten gehandelt. So gesehen, war der Zweite Weltkrieg ein anti-faschistischer Kampf und eine Revolution des Proletariats. Grob lässt sich die Zeitspanne von 1945 bis zum Tod Titos im Jahre 1980 in fünf Perioden einteilen (Cohen 1995: 26-38, vgl. die Übersichtstabelle bei Cohen auf Seite 27): (I) In der ersten Periode, die von 1945 bis 1952 dauerte, war das große Vorbild der sowjetische Kommunismus. Ungeachtet der föderalistischen Struktur Jugoslawiens wurde die Macht auf die kommunistische Partei hin konzentriert, mit dem übermächtigen Vorsitzenden Tito an der Spitze. Der Etablierung eines gemeinsamen Gefühls des Jugoslawismus dienten nicht nur das industrielle Wachstum sowie eine faire ökonomische Verteilung zwischen den Republiken. Die neuen Machthaber griffen auch zu repressiven Mitteln. Diese wandten sie insbesondere gegen die verschiedenen Glaubensrichtungen, mit dem Ziel, ethnische und religiöse Spannungen und das Herausbilden ethnisch-religiöser Gruppenidentitäten zu unterbinden. Die katholische Kirche wurde mit besonderer Härte behandelt, weil Mitglieder des Klerus während des Krieges mit der Ustaša kollaboriert hatten. Aber auch der Islam wurde unterdrückt, da man ihn als asiatisch und rückständig sowie der Modernisierung hinderlich betrachtete: Es kam zu Verhaftungen und Terrorprozessen gegen Imame und muslimische Intellektuelle, Scharia-Gerichte wurden aufgelöst, Koranschulen geschlossen und das Unterrichten von Kindern in der Moschee wurde unter Strafe gestellt (Malcolm 1994 [2002]: 195). Zahlreiche Sakralbauten wurden zerstört »und es war an der Tagesordnung, dass Gläubige tätlich angegriffen und misshandelt wurden« (Reuter 1992: 1451). (II) Mit dem Ausschluss aus der Kominform11 im Jahre 1948 erfolgte in der anschließenden Periode von 1953 bis 1962 eine Liberalisierung des politischen Systems, wobei der von den Partisanen vertretene Sozialismus moderatere For11 | Die Kominform war das von der Sowjetunion kontrollierte Bündnis osteuropäischer komunistischer Parteien. Der Bruch wird meist mit den Bestrebungen Belgrads nach einem eigenen Sozialismus erklärt. Neue Dokumente belegen nun aber, dass es vor allem eine machtpolitische Auseinandersetzung war, die sich an Albanien und der Frage nach dessen Stellung auf dem Balkan entzündet hatte (Perovi ć 2008).
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men annahm. Ohne Stalin musste den Sensibilitäten der einzelnen Gruppen mehr Gewicht eingeräumt werden, wodurch die lokalen Autoritäten an Macht gewannen. Ebenso realisierte die Führung, dass die Etablierung einer supranationalen Identität mehr Zeit beanspruchte als ursprünglich angenommen und diese Identität nur mit Hilfe von Ausbildungsreform und politischer Sozialisation gebildet werden konnte. Problematisch war zudem, dass eine Aufarbeitung der Ereignisse während des Krieges ausblieb (Basić 2007; u.a. Denich 1994; Duijzings 2007; Höpken 1999). Erinnerungen an die nationalistischen, zwischenethnischen Ausschreitungen wurden aus dem kollektiven Gedächtnis der Jugoslawinnen und Jugoslawen ideologisch verbannt. Es fanden keine Gerichtsverfahren und Prozesse zu den, im Namen der jeweiligen Nationalität verübten Kriegsgreuel, statt. Die Gewalt wurde primär als Gewalt zwischen Klassen verstanden (Höpken 1999). Es war, als hätte es im Zweiten Weltkrieg nur Kämpfe zwischen Partisanen und Faschisten gegeben, so Vesna Teršelić (2007: 55f.)12: »Der zweite Weltkrieg wurde auf dem Balkan eigentlich nie abgeschlossen. […] Was sich damals abspielte, wurde in der Tito-Zeit lange ausschließlich aus der Sicht der Sieger dargestellt: auf der einen Seite die heroischen Partisanenführer, auf der anderen Seite die faschistischen Kollaborateure […], so lautete die schematische Gegenüberstellung. Doch die historische Realität war weitaus komplexer.«
Um die Spuren der Vergangenheit zu übertünchen, führte der BdKJ eine offizielle Geschichtsdeutung ein und es wurden Denkmäler errichtet, die nur diese offizielle Geschichte versinnbildlichten – der ethnische Hintergrund der Opfer wurde verschwiegen, alle waren Opfer des faschistischen Terrors (siehe auch Duijzings 2007: 148). Damit schuf sich die offizielle Seite die Möglichkeit, die Vergangenheit entsprechend den eigenen aktuellen Sinnbedürfnissen zu rekonstruieren und nur diejenigen Ereignisse für die Nachwelt zu bewahren, die sie als erinnerungswürdig befand (Calic 1995: 54). Gleichzeitig unterband und tabuisierte die Partei die Diskussion über die Zahl der Kriegsopfer innerhalb der verschiedenen ethnischen Gruppen im Land, beschwor dagegen die von allen Jugoslawinnen und Jugoslawen erbrachten Opfer, unter dem Motto: je höher die Zahl, desto sakrosankter das Ergebnis. Diese Zahlen und die damit verbundenen Geschehnisse wurden dadurch zu Schlüsselereignissen für Gruppenschicksale und Gruppenidentitäten. »As the communists banned any discussion and reduced the complexities of the war to a simple conflict between Partisans and fascists, no real justice was done in the eyes of either Muslims or Serbs. Both sides felt that their own status as victims had not been fully recognized or truthfully represented, nor had the perpetrators been properly named and punished« (Duijzings 2007: 149). Vor allem im Krieg der 1990er 12 | Diese Argumentation findet sich auch bei Duijzings (2007).
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Jahre wurden die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs zur (Wieder-)Belebung von Opfermythen und Feindbildern eingesetzt, sowohl auf serbischer als auch auf muslimischer Seite (Duijzings 2007; Sundhaussen 1993: 94ff.). Die manipulierte Geschichtsschreibung während der sozialistischen Ära machte sich wieder bemerkbar, indem vormals Totgeschwiegenes für spezifische Interessenlagen geweckt und instrumentalisiert wurde. (III) Die Zeitspanne von 1963 bis 1971 kann als die Epoche eines pluralistischen Sozialismus bezeichnet werden. Die ökonomische Wachstumsrate erreichte Rekordhöhen, der Lebensstandard nahm kontinuierlich zu und die Politik des blockfreien Staates gewann international an Beachtung. Als wichtiger Partner der Alliierten nahm Jugoslawien eine zentrale Stellung im Kalten Krieg ein. Doch Wachstum und Wohlstand waren nur möglich, weil sich Jugoslawien im Ausland verschuldete. Diese Verschuldung zeigte bereits in den 1960er Jahren erste Auswirkungen: Eine hohe Inflation, eine inflexible Wirtschaft infolge einseitiger Investition in die Schwerindustrie und eine wachsende wirtschaftliche Unausgeglichenheit zwischen den Republiken belasteten den jugoslawischen Staat. Slowenien und Kroatien als die reichen Republiken im Norden standen den armen unterentwickelten Regionen im Süden wie Bosnien-Herzegowina und Kosovo gegenüber (Cohen 1995; Malcolm 1994 [2002]; Sundhaussen 1982). Aufgrund dieser Situation traten gegen Ende der 1960er Jahre vermehrt Konflikte zwischen den Republiken zutage, die sich nicht länger ignorieren ließen. Es wurden Forderungen nach mehr Dezentralisierung und Regionalisierung laut, die im Widerspruch zur von Tito propagierten Zentralisierung und Uniformität standen. Die Republiken verlangten nach mehr eigenen Machtbefugnissen. Diese Situation hatte eine Verlagerung der Problematik zur Folge: Die nationale Frage setzten die einzelnen Republiken vermehrt ein, um Unterstützung für ökonomische Programme zu gewinnen (Ramet 1992). (IV) Als Reaktion auf diese Ereignisse erlebte Jugoslawien eine kurze Periode der Re-Zentralisierung. Die Machthaber versuchten, den wachsenden ethnisierten Auseinandersetzungen mit Repression zu begegnen. Die nationalistischen Bewegungen wurden direkt angegriffen. Es gab Verhaftungen, Diskriminierung und Ausschlüsse wichtiger Führungspersönlichkeiten aus der kommunistischen Partei. Diese Unruhe gipfelte schließlich in der Verfassungsreform von 1974. Sie zielte allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Den Teilrepubliken wurden mehr Rechte zugestanden, und die zentralisierte Macht wurde stark zurückgebunden. Die Führung der BdKJ hoffte, damit die überall lauter werdenden nationalistischen Bestrebungen neutralisieren zu können. Folge dieser Verfassungsreform war aber ein politisches Patt. Die föderale Regierung wurde im Rotationsprinzip von Republik zu Republik weitergegeben, was in eine inkonsistente Politik mündete. Die regionalen Politiker benutzten die kurzen Perioden ihrer Macht, um
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ihre spezifischen Anliegen zu verfolgen. Dies zog Korruption, regionalen Chauvinismus und Konflikte zwischen den Republiken nach sich. Anstatt die Situation zu beruhigen, produzierte die neue Verfassung eine wachsende ökonomische Krise und eine Gesellschaft, die sich entlang ethnischer und regionaler Linien immer deutlicher fragmentierte (Denich 1994; Malcolm 1994 [2002]). (V) Die letzten Lebensjahre Titos waren davon bestimmt, dass die Republiken ihre Machtansprüche kontinuierlich festigten und der jugoslawische Staat immer mehr ins Wanken geriet. Es war Tito und seinen Mitstreiter nur noch bis zu einem gewissen Grad möglich, nationale und ethnische Konflikte zu unterdrücken. Nach Titos Tod mündete die Politik der Dezentralisierung in den endgültigen Zerfall des Vielvölkerstaates. Vor dem Blick auf die 1980er Jahre und die Desintegration Jugoslawiens soll ausführlicher auf die in Jugoslawien vorhandenen Zugehörigkeitskonzepte eingegangen werden. Ebenso gilt es, die Geschlechterrollen und die jugoslawischen Anstrengungen zur Gleichstellung der Geschlechter zu betrachten.
3.2.1 Jugoslawische Zugehörigkeitskonzepte »For almost 20 years I have been living in Belgrade, and among Serbs, I feel as a Serb, whereas in Croatia, I feel as a Croat. I am a Yugoslav and it cannot be otherwise.« (Tito zit.n. Godina 1998: 416)
Von Beginn an bot der Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) für die vorhandenen, sich zum Teil konkurrierenden Zugehörigkeitsmuster unter dem Motto Bratstvo i Jedinstvo (dt. Brüderlichkeit und Einigkeit13) eine willkommene Neuorientierung. Das Ziel der titoistischen Politik bestand darin, eine alle Nationalitäten und Republiksgrenzen übergreifende supranationale Identifizierung zu etablieren und dadurch den Einfluss des ethnischen Faktors gering zu halten (Eriksen 2001; Schlee 2006: 10f.); im Alltag ließ es sich allerdings nur bis zu einem gewissen Grad verwirklichen. Deshalb entstanden komplexe und sich überlappende identitäre Zugehörigkeiten, die für die Menschen bis vor Kriegsausbruch 1991 von zentraler Bedeutung waren (siehe auch Wilmer 2002: 83). Um diese mehrlagigen und komplexen Zugehörigkeitsgefüge zu charakterisieren, bringen Sorabji (1996) und Bringa (1995) das lokale Konzept der Nacija in Zusammenhang mit den Begriffen Narod, Narodnost und Nacionalnost in die 13 | Laut Wörterbuch wird Jedinstvo mit Einigkeit oder Einheit übersetzt (Jaki č und Hurm 1999: 291); auch in der deutschen Literatur ist die Übersetzung uneinheitlich: Cali ć benutzt Einheit (1996: 57), Ugreši ć (1995: 59) verwendet Einigkeit. Ich halte Einigkeit für aussagekräftiger und bediene mich deshalb dieses deutschen Begriffs.
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Diskussion ein (vgl. auch Friedman 1996). Bei diesen Begriffen handelt es sich um spezifisch jugoslawische Schlüsselkonzepte. Mit ihnen lässt sich die sozialistisch-föderative Nationalitätenpolitik im Kern erfassen. Anders als im westlichen Europa üblich, beinhalten sie keine Übereinstimmung von Nationalität und Staatsangehörigkeit (siehe u.a. Anderson 1996; Gellner 1991; Hobsbawm 2005). Da für die Übersetzung der damals noch serbokroatischen Begriffe14 im Westen ein präzises Vokabular fehlt, werden in vorliegender Studie die lokalen Termini verwendet (siehe dazu auch Bringa 1995: 25). Das Regime führte den Begriff Narod15 ein. Er stand für jene Südslawinnen und Südslawen, die innerhalb Jugoslawiens lebten und entsprechend dem Namen jener Republik bezeichnet wurden, in der sie wohnten. Dazu gehörten die Serbinnen und Serben in Serbien, die Kroatinnen und Kroaten in Kroatien, die Montenegrinerinnen und Montenegriner in Montenegro, die Sloweninnen und Slowenen in Slowenien und die Makedonierinnen und Makedonier in Makedonien. Als Ausnahme sind die Serbinnen und Serben sowie die Kroatinnen und Kroaten zu nennen, die ihren Wohnsitz in Bosnien-Herzegowina hatten: Sie bezeichneten sich nach einer Republik, in der sie nicht lebten. Dadurch stellte Bosnien-Herzegowina einen Sonderfall dar, denn diese Republik ließ sich nicht als nationale Heimat einer einzigen partikulären Narod definieren. In BosnienHerzegowina gab es deren drei – die Muslime und Musliminnen, die Kroaten und Kroatinnen sowie die Serben und Serbinnen –, und bei keiner verwies die Narod auf die Republik, in der sie lebte. Es gab also paradoxerweise für diesen Fall keine ideologische und institutionell konstruierte Zugehörigkeit, ›Bosnierin‹ blieb als bloß regionale Zugehörigkeit bestehen. Unter Umständen ist darin sinnlogisch ein Grund für die heutigen Schwierigkeiten der Zugehörigkeiten zu sehen. Gesichert ist jedenfalls die Tatsache, dass die Frage nach der bosnischen, aber auch nach der serbischen, kroatischen etc. Zugehörigkeit und der muslimischen im Speziellen während des gesamten Bestehens Jugoslawiens für hitzige Diskussionen sorgte. Der Terminus Narodnost bezeichnete diejenigen jugoslawischen Staatsbürgerinnen und -bürger, die innerhalb Jugoslawiens wohnten, sich aber zu einer Nation außerhalb des Vielvölkerstaates zählten. Diesem Begriff kommt der deutsche Terminus ›ethnische Minderheit‹ am nächsten. Zu den Narodnosti gehörten als größte Gruppen die Albanerinnen und Albaner in der Provinz Kosovo und die Ungarinnen und Ungarn in der Vojvodina. Diese Staatsbürgerinnen und -bürger 14 | Wie erwähnt, wird die serbokroatische Sprache heute als bosnische, als kroatische oder als serbische Sprache definiert. 15 | Dieser Begriff war beeinflusst von Stalins Nationendefinition: »A Nation is a historically formed and stable community of people which has emerged on the basis of a common language, territory, economic life and psychological make-up, the latter being manifest in a common shared culture« (zit.n. Bromley und Kozlov in Bringa 1995: 236).
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hatten nur Rechte zur nationalen Selbstidentifikation, durften aber keine eigene Republik gründen. Eine Sonderstellung hatten in dieser Hinsicht die Musliminnen und Muslime in Bosnien-Herzegowina, da sie weder eine eigene Republik hatten noch sich zu einer Nation außerhalb Jugoslawiens zählten. Die im Westen synonym verwendeten Begriffe ›Staatsbürgerschaft‹ (engl. citizenship16) und ›Nationalität‹ wurden im multiethnischen, sozialistischen Staat nicht in diesem Sinne verwendet. Die Staatsangehörigkeit, genannt Jugoslovenski Identitet (Godina 1998: 416), war die supranationale Zugehörigkeit, welche durch das Konzept Nacionalnost ergänzt werden sollte: Alle Einwohnerinnen und Einwohner Jugoslawiens besaßen die supranationale jugoslawische Staatsangehörigkeit, aber niemand verfügte über eine jugoslawische Nationalität, denn dieser Begriff bezog sich auf die Zugehörigkeit zu einer Republik. Ein Jugoslawe, eine Jugoslawin konnte folglich bloß der serbischen, kroatischen, makedonischen etc. Nacionalnost angehören. Zwischen diesen beiden Identifikationskonstrukten bestand lange Zeit nahezu kein Konflikt. In Kombination mit dem wirtschaftlichen und politischen Zerfall sowie der wachsenden Unzufriedenheit barg diese Beziehung jedoch ein explosives Gemisch. Anhand der bosnischen Musliminnen und Muslime lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie komplex und auch verwirrend diese Zugehörigkeitskonzepte waren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand die überregionale Identität an erster Stelle. So vermied es die Regierung bewusst, zu thematisieren, was es denn genau heiße, in Bosnien-Herzegowina eine Muslimin oder ein Muslim zu sein. Um die ethnischen Differenzen auszumerzen, konstruierte man für die Musliminnen und Muslime eine paradoxe Zuschreibung: Sie konnten sich offiziell als muslimische Serbinnen bzw. Serben, muslimische Kroatinnen resp. Kroaten oder aber als national nicht deklarierte Jugoslawinnen bzw. Jugoslawen bezeichnen. Muslimische Bosnierinnen und Bosnier waren nicht vorgesehen. 90 Prozent der damals knapp 900.000 in Bosnien-Herzegowina wohnhaften Musliminnen und Muslime entschieden sich im Jahre 1948 für die dritte Möglichkeit. 1953 stand ihnen diese Option nicht mehr zur Verfügung, dafür konnten sie sich neu als ethnisch nicht deklarierte Jugoslawinnen bzw. Jugoslawen bezeichnen. Ab Mitte der 1960er Jahre gab es eine weitere Änderung der offiziellen Politik gegen16 | Umut Erel hat in ihrem Beitrag im Buch »Spricht die Subalterne Deutsch?« (Gutiérrez Rodríguez und Steyerl 2003: 108f.) das Konzept citizenship zentral verwendet. Sie bediente sich des deutschen Begriffs (Staats-)Bürgerschaft: »Ich beziehe mich hier auf ein Konzept der englischsprachigen Debatte, und zwar citizenship. Wörtlich lässt es sich als Staatsbürgerschaft übersetzen, hat allerdings die Bedeutungen die im Deutschen häufig mit Bürgerrechten in Verbindung gebracht werden. Das Konzept bezieht sich nicht allein auf die Beziehung von Individuen und Gruppen zum Staat, sondern räumt dem Begriff der Gemeinschaft und auch der Zivilgesellschaft eine wichtige Bedeutung ein. In diesem Sinne spreche ich von Bürgerschaft oder (Staats)bürgerschaft [sic!].«
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über den bosnischen Musliminnen und Muslime, welche sie in ihrem Zugehörigkeitsgefühl und der politischen Anerkennung stärken sollte. Zwei Gründe nennt Malcolm (1994 [2002]: 200f.) dafür: einerseits den Entscheid, die Politik eines starken‹ integralen Jugoslawismus fallen zu lassen, um an seiner Stelle die Identitäten der Republiken zu stärken (was sich, wie weiter oben ausgeführt, in der Revision der Verfassung von 1974 niederschlug) (Djurić-Kuzmanović et al. 2008: 267). Andererseits ermöglichte es der Aufstieg einer kleinen Elite muslimischer Herkunft in der Parteimaschinerie Bosnien-Herzegowinas. So konnten kommunistische und säkular-muslimische Gruppen eine muslimische Zugehörigkeit forcieren, die mehr national als religiös ausgerichtet war. Deutliche Zeichen einer politischen Anerkennung der Musliminnen und Muslime als Nation zeigten sich in den Volkszählungen ab dem Jahre 1961 (siehe nachfolgende Tabelle 1). 1961 wurde es möglich, sich als Muslim im ethnischen Sinne zu deklarieren. Damit waren die Musliminnen und Muslime zwar noch nicht als Nation anerkannt, aber immerhin als eine eigene ethnische Gruppe (verwirrenderweise mit einer religiösen Bezeichnung). Ab dem Jahre 1963 wurden sie offiziell als Narod betrachtet: Die Präambel der bosnischen Verfassung richtete sich nun an »Serben, Kroaten und Muslime«. Diese Entwicklung bewirkte einen markanten Anstieg des muslimischen Bevölkerungsanteils in der Volkszählung von 1971. Bis zum Kriegsausbruch 1991 entwickelten sich Musliminnen und Muslime zur zahlenmäßig stärksten Gruppe Bosniens (Calic 1996: 79). Tabelle 1: Die Volkszählungen und Zugehörigkeiten in der Republik Bosnien-Herzegowina (Calic 1996:44; Friedman 1999: 3) Jahr 1948
Muslime 788.403
Serben a)
1.136.116
Kroaten
Jugoslawen
Bevölkerung total
614.142
––
2.563.764
654.229
b)
2.847.459
1953
––
1.264.372
1961
c)
842.248
1.406.057
711.665
275.883
3.277.948
1971
1.482.430d)
1.393.148
772.491
43.796
3.746.111
1981
1.629.924
1.320.644
758.136
326.280
4.102.783
1991
1.950.829 43,7 %
1.369.258 31,3 %
755.895 17,3 %
239.834 7,7 %
4.364.574 100 %
891.800
Legende a) Bezeichnung »national nicht erklärter Muslim« b) Im Jahre 1953 stand die Option »Muslim als Nationalität« den Befragten nicht zur Verfügung, dafür die Bezeichnung »ethnisch nicht deklarierter Jugoslawe« c) Bezeichnung »ethnischer Muslim« d) Bezeichnung »nationaler Muslim«
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Die wechselnden Kategorien, auf die sich die Bewohnerinnen und Bewohner Jugoslawiens berufen konnten, hatten zur Folge, dass ein Bezug zu den vom Staat offerierten Kategorien fehlte. Deshalb war im Alltag das Konzept der Nacija (Mehrzahl Nacije) wichtiger. Auf dieses Konzept wurde Tone Bringa (1995) während ihrer Feldforschung aufmerksam: Immer wieder wurde sie gefragt, welcher Nacija sie angehöre. Bringas Antwort zu Beginn ihres Feldaufenthaltes war »Norwegerin«, bis sie verstand, dass man sie nicht bloß nach der nationalen, sondern zugleich auch nach ihrer religiösen Zugehörigkeit fragte. Die richtige Antwort wäre also jeweils ›protestantische Norwegerin‹ gewesen (Bringa 1995: 21). Nacija, ein Begriff aus der osmanischen Zeit, stand für die Zugehörigkeit zu einer ethnoreligiösen Gruppe. Auch wenn Religion als ein definierendes Merkmal der Nacija gelten konnte, waren die Nacija-Zugehörigkeiten im jugoslawischen Kontext auch soziale, kulturelle und damit auch nationale Zugehörigkeiten. Bei der serbischen und der kroatischen Bevölkerung BosnienHerzegowinas ist die Nacija serbisch-orthodox (bos./hrv./srp. pravoslav), womit auch die Zugehörigkeit zu Serbien betont wurde resp. römisch-katholisch (bos./ hrv./srp. katolik) und Kroatien. Bei den Musliminnen und Muslimen konnte die Nacija keine eindeutige Aussage über die nationale Zugehörigkeit machen. Sie wurden weiterhin sowohl als Nacija als auch als Narod als Muslime bezeichnet. Dieser Verwirrung begegneten die sozialistischen Machthaber mit zwei offiziell eingeführten Schreibweisen: Der Begriff Muslim mit großgeschriebenem M hatte Gültigkeit für die Narod, muslim mit kleingeschriebenem m stand für die Nacija (Bringa 1995: 10).
Multiple Zugehörigkeiten Es liegt nahe, dass ein derart komplexes Kategoriensystems eine ebenso komplexe Zugehörigkeitspraxis im Alltag zur Folge hatte. Bringa (1995: 37-84) stellt fest, dass sich die Bosnierinnen und Bosnier durch die unterschiedlichen Zugehörigkeitskonzepte und je nach Referenzrahmen anders identifizierten. Dazu war ein multipler Identifikationshorizont oder wie Godina (1998) sagt, eine multiple Identifizierungsmatrix aus folgenden Elementen relevant: Zum einen orientierten sich die Menschen an einer gesamtjugoslawischen Zugehörigkeit. Sie war im Alltag durch das Schulsystem, den Armeedienst, die Anstellungen in staatlichen Firmen etc. und nicht zuletzt durch die Figur Tito repräsentiert. Mit der Formel Bratstvo i Jedinstvo propagierte man offiziell einen kulturellen Pluralismus und ein bewusstes going beyond ethnicity. Im Gegensatz dazu zeichnete sich die regionale bosnische Umgebung durch den Identifikationshorizont des Dorfes oder des Quartiers ab. Das typisch Bosnische im Dörflichen, das sich aus dem Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ergab, war dabei bestimmendes Merkmal. Im Fall von Prijedor war das Typische die spezifische Mischung aus mehrheitlich muslimischen und serbischen Bewohnerinnen und Bewohnern, die sich einen
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gemeinsamen Lebensraum und den Alltag teilten. Freundschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen wurden durchaus über ethnoreligiöse Grenzen hinweg geschlossen, genauso wie in bestimmten Situationen diese Grenzen auch betont wurden. Für die Ein- und Ausschlussmechanismen spielten also auch symbolische Markierungen zwischen den Nacije und demzufolge auch solche innerhalb des Dorfes eine Rolle. Das Bewusstsein, unterschiedlichen ethnoreligiösen Gruppen anzugehören, war im Alltag stets vorhanden, wobei sich die Zugehörigkeit exklusiv Muslimisch-muslimisch, serbisch-orthodox oder kroatisch-katholisch gestaltete. Unterschiede zwischen diesen Zugehörigkeiten wurden bei Traditionen, Bräuchen und Begriffen deutlich. So zeigten sich Verschiedenheiten in der Zubereitung von Speisen und teilweise auch in der Bekleidung. Ein beispielhaftes Unterscheidungsmerkmal findet sich im Begrüßungsritual.17 Bis heute unterscheidet man zwischen neutralen Begrüßungsformeln und nacija-spezifischen. Ist man sich nicht sicher, welcher Nacija das Gegenüber angehört oder wenn man ganz sicher weiß, dass das Gegenüber einer anderen Nacija angehört, dann begrüßt man sich förmlich mit Dobar dan, Dobro jutro bzw. Dobar većer (dt. Guten Tag, Guten Morgen bzw. Guten Abend) oder leger mit Zdravo (dt. Hallo). Beim Verabschieden benutzt man Doviđenja (dt. Auf Wiedersehen) oder Ćao (it., dt. Ciao). Unter seinesgleichen passt man die Begrüßungsformel der jeweiligen Zugehörigkeit an: Wenn sich Musliminnen und Muslime gegenseitig besuchen, benutzen sie die eher ›inoffizielle‹ Grußformel Merhaba (dt. guten Tag). Formell wird Selam alejkum, Selamalejk, Selamunalejk (es gibt noch weitere Aussprachevarianten) benutzt. Diese religiöse Grußformel kommt aus dem Arabischen und heißt wörtlich »Friede sei mit dir«. Für die Verabschiedung wird die Formel Allahimanet angewendet, was in etwa mit »Ich übergebe dich Gottes Schutz« übersetzt werden kann. Mit dieser Verabschiedung wird dem Gast alles Gute gewünscht. Die katholischen Kroatinnen und Kroaten begrüßen sich oft mit Hvaljen Isus, was mit »Gelobt sei Jesus« übersetzt werden kann. Dies entspricht wiederum dem alltäglichen »Guten Tag«. Die orthodoxen Serben und Serbinnen grüssen sich mit »Pomoz’ Bog«18. Es bedeutet in etwa »Helfe Gott«. Die Antwort darauf ist »Bog ti pomog’o« und wird mit »Gott helfe dir« übersetzt. Diese unterschiedlichen Arten der Begrüßung haben die Funktion von Ein- und Ausgrenzungsmechanismen. Auch anhand der Namen wird, wie bereits weiter vorne ausgeführt, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie deutlich: Vor allem die Vornamen verraten dem Gegenüber die Zugehörigkeit zur jeweiligen Nacija. In der sozialistischen Zeit wurden den Kindern wohl deshalb des 17 | Diese Informationen gehen auf Gespräche vom 15. März 2005, 5. Juli 2005 und 23. Oktober 2006 zurück. 18 | Korrekterweise würde es Pomozi Bog heißen. In der gesprochenen Sprache wird das i weggelassen.
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Öftern westliche oder ›jugoslawische‹ Namen gegeben, um der Nacija weniger Gewicht zu verleihen: Tanja, Maja oder Boris waren häufige Vornamen, ebenso Dunja (dt. Quitte), Jadranka (Jadrana, dt. Adria) oder Jugoslav. Für die Zeit des sozialistischen Jugoslawiens waren also (mindestens) drei unterschiedliche Identifizierungshorizonte bestimmend, die den Alltag und das Zusammenleben der Menschen prägten. Diese Horizonte oder Möglichkeiten zur Identifikation vermischten und veränderten sich fortlaufend. Denn immer galt es, in der jeweiligen politischen Struktur eigene Strategien zu entwickeln, um familiäre, dörfliche oder regionale Werte und Normen zu erhalten, unter dem Motto: Sto sela, sto obićaja (dt. Hundert Dörfer, hundert Gepflogenheiten) (Donia 1998: 100).
3.2.2 Geschlechterrollen zwischen traditioneller Gemeinschaft und sozialistischer Gesellschaft Die oben beschriebene kulturelle und politische Praxis der ethnischen und nationalen Gleichstellung, die sich in erster Linie als sogenannter Top-down-Prozess auszeichnete, zeigte sich in ähnlicher Weise auch in Fragen der Geschlechtergleichstellung. Das folgende Kapitel beleuchtet die sozialistische Politik der Geschlechtergleichstellung vor dem Hintergrund des alltäglichen Lebens und der Geschichte, da sie eng mit der Politik der Zugehörigkeiten zusammenhängt, sich auf die Kriegszeit auswirkte und noch heute das soziale Leben in der Nachkriegszeit beeinflusst (siehe dazu auch Sieber 2009). Vor dem Zweiten Weltkrieg war auf dem Balkan die erweiterte Familie (genannt Zadruga) zentrales Charakteristikum der Haushalte und die übliche Lebensform der Frauen und Männer. Es handelt sich dabei um eine modellhafte Familienorganisation, in welcher mehrere Generationen zusammen leben, ein Mann die Macht innehat und die jüngeren Männer, Frauen und Kinder untergeordnet sind. Es sei eine Mehrfamilie, eine Familiengemeinschaft, in welcher die Mitglieder kein Eigentum hätten, sondern gemeinsam den Boden bewirtschafteten und sich den Entscheidungen des Hausvorstehers unterzuordnen hätten, schreibt die kroatische Sozialanthropologin Dunja Rhitmann-Auguštin (1987: 49). Sie betont allerdings, dass die Definitionsversuche der Zadruga eine Ideologisierung darstellten und es sich jeweils um ein Modell handle (Rhitmann-Auguštin 1987). Doch auch wenn der Begriff der Zadruga selbst eher auf nationale Mythen denn auf festgelegte und uniforme Familienstrukturen verweist (Todorova 1989; Vittorelli 2002) und etwa Karl Kaser (1995) und Maria Todorova (1989) fordern, man solle den Begriff aus diesem Grund vermeiden, konnten sich einige der Elemente dieses patriarchalen Verwandtschaftssystems bis heute halten. In Zusammenhang mit der Beziehungsstruktur der erweiterten Familie im Balkanraum wird auf die patrilineare Abstammung verwiesen (Denich 1974). Es
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sind in erster Linie hortikulturelle Gesellschaften und Pastoralisten, die dieses Verwandtschaftsprinzip kennen. In der Sozialanthropologie spricht man zudem davon, dass diese Gesellschaften das Prinzip des Brautpreises praktizieren (Collier und Rosaldo 1981)19 . Nach diesem Prinzip müssen mit der Eheschließung Objekte von der Familie des Bräutigams in die Familie der Braut übertragen werden. Ganz im Gegensatz zu den sogenannten Brideservice-Gesellschaften, in welchen der Bräutigam für eine bestimmte Zeit in der Familie der Braut arbeitet, um ihre bald fehlende Arbeitskraft zu ersetzen (Goody 1973). In den nach patriarchalem, patrilokalem und virilokalem20 Prinzip organisierten Familien werden die Frauen zwischen den Gruppen ausgetauscht (Denich 1974: 243-249; Kaser 1995: 188). Damit erfährt mit der Heirat das soziale Netzwerk der Frau einen Bruch. Sie kommt als Außenseiterin in die Familie des Ehemannes und muss sich dort der männlichen Autorität unterordnen (Denich 1976; Simić 1983). »Valued as sex objects, mothers and workers, wives were acquired by the exchange of gifts, labor, and favors between men, which was seen as a payment for the rights to enjoy and to appropriate the products of women’s labor, sexuality, and reproductive capacity. The indebtedness of the groom to those who made it possible for him to obtain a wife perpetuated the hierarchy and gerontocracy of the family.« (Woodward 1985: 237)
Die Arbeiten im Haushalt und in der Familie waren in der vorsozialistischen Zeit also idealtypisch geschlechtergetrennt, und die Unterordnung der Frauen unter alle männlichen Familienmitglieder sowie unter die älteren Frauen erschien als Wesensmerkmal einer scheinbar unumstößlichen Ordnung. Laut 19 | Collier und Rosaldo (1981: 279) halten in Zusammenhang mit den Geschlechterbeziehungen Folgendes fest: »Bridewealth people […] tend in their rituals and cosmology to display a preoccupation with female reproductive capacities; women are valuated as mothers, but feared for their polluting blood. Characteristically, men in their rituals stress the rejection of feminine qualities; femininity is threatening to maleness, and male adulthood requires rejection of childhood ties to a feminine world.« Weitere kritische Stimmen dazu bei De Jong (1998) und Moore (1990). 20 | Die Virilokalität stellte die ideale Wohnfolge besonders in der ländlichen Umgebung dar. Damit ist gemeint, dass die Braut nach der Eheschließung in die patrilineare Gruppe umsiedelt, also in den Haushalt des Bräutigams. Nach dem jüngsten Krieg hat sich dieses Muster verschärft, verunmöglicht doch die ökonomisch prekäre Situation vielen Paaren das Einrichten einer eigenen Wohnung. Dieses Heirats- und Wohnfolgemuster wird auch an den beiden unterschiedlichen Begriffen fürs Heiraten deutlich: Bei Frauen spricht man von udati se (dt. sich weggeben) und bei Männern von oženiti se (dt. sich befrauen).
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Aussagen Rhitman-Auguštins (1987) beeinflussten aber die Frauen im realen Leben auf verschiedene Arten die Entscheidfindungen in den Familien. Die Frauen verfügten über Eigentum und bildeten mit den anderen Frauen innerhalb der Familie eine »Frauen-Subkultur« (Rhitmann-Auguštin 1987: 52), die ebenso mit Macht ausgestattet war wie die Gruppe der Männer. »Ich meine, dass diese Beziehung in der Spanne zwischen zwei Grenzpunkten angezeigt wird. Der eine Punkt kennzeichnet die niedrige gesellschaftliche Stellung und das niedrige Ansehen der Frau. Der zweite Punkt wird durch die Eigentumsselbständigkeit der Frau und ihre Teilnahme bei der Geldwirtschaft sowie ihren impliziten Einfluss gekennzeichnet.« (Rhitmann-Auguštin 1987: 53)
Das hierarchische System dieser Verbindlichkeiten in der Idealkultur und die damit einhergehenden Pflichten konnten nur aufgrund der geschlechtersegregierten Lebenswelten zwischen Mann und Frau existieren. Dennoch, in den realen Lebenssituationen verfügten besonders die älteren Frauen über Macht21 . Sie hielten auf verschiedene Weisen bei bedeutenden Aktionen und Aktivitäten die Fäden in ihren Händen. Auch wenn die Frauen mit zunehmendem Alter im Haushalt informelle Macht gewinnen und sie mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt in den Genuss einer Ausbildung kamen, wandelte sich ihre Stellung bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nur minimal. Bloß für einen kleinen Teil der Frauen, beispielsweise für diejenigen, die in urbanen Zentren lebten, veränderte sich dank Bildungsreformen ihre Stellung in der Gesellschaft. Ansonsten wurde die Mehrheit der Frauen weiterhin gemäß patriarchaler Kodexe behandelt. Sie waren in der Regel weiterhin stark von der Familie abhängig und in diese eingebunden. Die Familie als Institution blieb mehr oder weniger unverändert bestehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg22 , in einer Zeit weit verbreiteter Unsicherheit, galt die Familie als Institution weiterhin als wichtige Stütze sozialer Stabilität. Sie war die bevorzugte Einrichtung, um für Kinder und Betagte zu sorgen. »The Yugoslav tends to view the family not as an entity isolated at one moment in time but rather diachronically as one stretching endlessly backward and for21 | Simi ć (1983) fürt dazu den Begriff »Cryptomatriarchy« ein, ein Begriff, der die zunehmende Macht und unter Umständen die zunehmende Dominanz der Frauen mit steigendem Alter beschreibt. 22 | Auf die Entstehung der Antifaschistischen Front der Frauen (AFŽ; Antifašisti č ka Front Žena) innerhalb der Partisanenbewegung und deren Einfluss auf die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse nach dem 2. Weltkrieg kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Für eine vertiefte Auseinandersetzung sei verwiesen auf JancarWebster (1978, 1990, 1999).
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ward, the generations flowing almost imperceptibly one into the next without sharp ruptures or discontinuities« (Simić 1999: 16). In der Verfassung von 1946 wurden Ehe und Familie als zentrale Elemente der Gesellschaft behandelt (Woodward 1985: 240ff.). Dieselbe Verfassung setzte die Gleichstellung der Geschlechter auf die politische Agenda23 . Frauen sollten im gleichen Atemzug wie die Arbeiterklasse emanzipiert werden: Sie erhielten das allgemeine Wahlrecht; bei Besitz- und Erbrechten wurden sie den Männern gleichgestellt; im zivilen Ehe- und Scheidungsrecht sollten sie gleichberechtigt sein; man führte eine großzügige Mutterschaftsregelung ein und schrieb einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt fest. Des Weiteren wurden religiöse Gesetze wie beispielsweise die Sharia abgeschafft und die Abtreibung legalisiert, womit auch das Recht auf freie Entscheidung über die Familiengröße eingeführt wurde (siehe Morokvašić 1986; Papić 1994; Ramet 1999; Woodward 1985). In Bosnien und anderen Regionen mit muslimischer Bevölkerung wurde das Tragen des Schleiers untersagt, um die Unterordnung und kulturelle ›Rückständigkeit‹ der muslimischen Frauen zu beseitigen (Helms 2003a: 51). Die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern und Familien nahm durch all diese Veränderungen stetig ab, ganz besonders auch durch die verbesserten Möglichkeiten der Frauen, sich auszubilden und in die Arbeitswelt einzutreten. Unterschiede zeigten sich jedoch je nach Herkunft der Frauen: Modernisierung und Urbanisierung brachten den ruralen und urbanen Frauen je nach ökonomischen Status unterschiedliche, teilweise nur geringfügige Entfaltungsmöglichkeiten (vgl. Denich 1976; Woodward 1985). Die Frauen in den Städten verfügten über bessere Ausbildungs- und in der Folge bessere Anstellungsmöglichkeiten und konnten auch auf größere familiäre Unterstützung für ihre Ausbildung zählen. Diese Frauen neigten auch dazu, Männer mit ähnlichem Bildungshintergrund zu heiraten, ließen sich bei Eheproblemen eher scheiden und bedienten sich, um ihre Unabhängigkeit zu betonen, des Doppelnamens mit Bindestrich. Das jugoslawische Ehegesetz sah für die Ehepartner das Recht vor, den eigenen Familiennamen zu behalten oder dem eigenen Namen denjenigen des Ehepartners hinzuzufügen. Die Kinder bekamen aber immer den Nachnamen des Vaters. Auch wenn nur wenige Frauen (und von den Männern kann man kaum sprechen (Rhitmann-Auguštin 1987: 58)) von diesem Recht Gebrauch machten, das Anzeigen der Ehebeziehungen über diese Schreibweise ist ein interessantes Beispiel für die Machtverhältnisse 23 | Die Staatsverfassung sicherte den Frauen kategorisch die Gleichheit zu, auch wenn sie das Verhältnis von Rechten und Pflichten der Geschlechter nicht gesondert behandelte. Artikel 154 im dritten Kapitel hielt fest: »Die Bürger sind in Rechten und Pflichten gleichberechtigt, ohne Rücksicht auf Nationalität, Rasse, Geschlecht, Sprache, Religion, Bildung oder Gesellschaftsstellung – Alle sind vor dem Gesetz gleich« (Rhitmann-Auguštin 1987: 55).
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in der Familie. Daraus ergab sich auch eine zentrale gesellschaftliche Veränderung: »Class differences among women are rapidly replacing the cultural divisions that formerly separated women of one region from another« (Woodward 1985: 255). Diese Beobachtungen sind wichtig, wenn man die Ereignisse des jüngsten Krieges in Zusammenhang mit der heutigen Nachkriegszeit bedenkt, welche mit erbitterten ethnischen Trennungen und erneuerten Generalisierungen in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen einhergehen (Helms 2003a: 51). Auf dem Land hingegen standen die Frauen durch die Veränderungen des sozialistischen Systems vor einer ganz neuen Situation. Arbeitsmigration war nun möglich, und viele Männer nutzten diese Option, was sich besonders auf die Lage der zurückgelassenen Ehefrauen negativ auswirkte (siehe Bringa 1995). Diese waren nun nicht nur allein für die Hausarbeit zuständig, es galt auch, die Arbeitskraft der Männer zu ersetzen. Mädchen wurden, besonders zu Beginn der sozialistischen Zeit, trotz Schulpflicht nach der vierten Klasse des Öfteren vom Schulunterricht ferngehalten. Grund dafür war nicht nur die Meinung, Mädchen benötigten als zukünftige Hausfrauen und Mütter keine Schulbildung, sondern auch, dass sie ab dem fünften Jahr die Schule in der nächst größeren Ortschaft hätten besuchen müssen. Dies weckte die Befürchtung, die Mädchen könnten mit Männern einer anderen Nacija in Kontakt kommen und ihren guten Ruf verlieren. Wenngleich diese Probleme mit der Zeit nachließen, zeigt sich daran deutlich die ungleiche Emanzipation urbaner und ruraler Frauen. Trotz dieser Unterschiede ist bemerkenswert, dass im Jahre 1984 aus 44 Prozent der Haushalte Frauen ständig erwerbstätig waren (Rhitmann-Auguštin 1987: 55). Die meisten dieser Frauen (über 70 Prozent) arbeiteten in der Industrie, etwa in der Textilproduktion, der Lederverarbeitung oder der Galanteriewarenherstellung. Durch den Eintritt ins Erwerbsleben außer Haus war die Heirat für Frauen nicht länger das einzige Mittel, sich eine Lebensgrundlage zu sichern und einen akzeptierten Platz in der Gesellschaft zu erhalten. »Instead of providing for a daughter by marriage into as good a family as they could manage or by dividing family property among sons and daughters […] parents could now continue her schooling beyond the obligatory elementary school. This undercut the patrilocality and virifocality of families. Kinship could reckon bilaterally, marriages could potentially be a property exchange among equals where bargainig over bride price and dowry disappears under the objective standards of schooling and income […].« (Woodward 1985: 244)
Doch die Gleichstellung der Geschlechter, gerade was Lohnfragen und einflussreiche Positionen anbelangt, war damit noch lange nicht erreicht. Je höher ein Berufsstand, desto niedriger der Anteil an Frauen: das war die Realität im jugos-
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lawischen Berufsalltag. Auch waren die Frauen mehr oder weniger abwesend in der Politik und bei politischen Entscheidprozessen: In Bosnien-Herzegowinas Politik und Parlament waren die Frauen mit bloß 2,9 Prozent vertreten (Papić 1994: 109). Zudem lag das durchschnittliche Monatseinkommen der Männer deutlich über jenem der Frauen. Umstände, die auch aus anderen Ländern nur zu gut bekannt sind. Ungeachtet dieser Entwicklungen veränderte sich der bisherige Arbeitsbereich der Frauen im Haushalt weder durch die rechtlichen Erneuerungen noch durch soziale Normen. Denn diese wandelten sich nur teilweise (Papić 1994). Die strikte Aufteilung von Hausarbeit und Zuständigkeiten nach Geschlecht blieb hartnäckig bestehen. »Trotz der sich durch die Berufstätigkeit der Mutter im Grunde veränderten Lebensweise, bewahrt die Familie die Elemente des Traditionalismus, die sich in der klassischen Rollen- und Arbeitsteilung bei Mann und Frau manifestieren. Die Sphäre des Kinderhütens, der Pflege und Sorge um die Kinder fällt neben den Arbeiten des gesamten Haushaltes mehr oder weniger in die Domäne der Frau.« (Č ernivec zit.n. Rhitmann-Auguštin 1987: 57)
Obwohl Wissenschaftlerinnen von einem Klima der Emanzipation im ehemaligen Jugoslawien sprechen, wurde also die Geschlechtersegregation aufrechterhalten (Seifert 2001). Das Stereotyp der Hausfrau, die sich um den Mann und die Kinder sorgt und sich um das störungsfreie Funktionieren des Haushaltes kümmert, hatte auch kurz vor Ausbruch des jüngsten Krieges immer noch seine fast unumstößliche Gültigkeit. Damit ging eine Doppelbelastung der Frauen einher, die nach Feierabend auch noch die Hausarbeit erledigen mussten. In den meisten Fabriken tolerierte man, dass Frauen beispielsweise wegen kranker Kinder der Arbeit fernblieben, aber eine ›schlechte‹ Führung des Haushaltes verzieh man ihr nicht (Rhitmann-Auguštin 1987: 58). Folglich konkurrierte mit dem sozialistischen Ideal der Wertegleichheit das patriarchalische Modell mit heroischen Werten und geschlechterspezifischen Verhaltensnormen, nach denen sich die Frau unterzuordnen hatte. Letztere wurden von beiden Geschlechtern aufrechterhalten. Rhitmann-Auguštin (1987) betont, dass sich auch Frauen stets bemühten, das traditionelle Familienmodell zu wahren. Die Familie blieb als Institution trotz Urbanisierung und Modernisierung bestehen, ebenso wie unterschiedliche moralische Maßstäbe für (erweiterte) Familienmitglieder und Aussenstehende: »Strict moral standards are applied in dealings among family members, extended kin, fictive kin, and a few close friends, but to a very few outside this circle« (Simić 1999: 18). Doch mit dem Eintritt der Frauen in Arbeitswelt und Politik sowie der aufkommenden Arbeitsmigration vieler Männer weitete sich das soziale Umfeld der Frauen von der Familie und der Verwandtschaft auch auf die Nachbarschaft und die weitere Um-
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gebung aus. Während der sozialistischen Zeit gewann im sozialen Gefüge des Dorfes und der urbanen Quartiere die in der Regel ethnisch gemischte Komšiluk (dt. Nachbarschaft) als ein zentrales Element des alltäglichen Zusammenlebens an Gewicht (Bringa 1995: 65-73, 85-95; vgl. auch Lockwood 1975). Eine besondere Form außerfamiliärer Beziehungen stellten die Hausfreunde (bos./hrv./srp. Kućni Prijatelij) dar. Damit sind freundschaftliche Beziehungen zwischen zwei Häusern resp. zwei Familien gemeint. Alle Familienmitglieder stehen dabei in einem freundschaftlichen Verhältnis. Oft unternahm man mit den Hausfreunden Ausflüge oder verbrachte den Urlaub zusammen. Für die Bewältigung des Alltags waren die Hausfreunde eher weniger wichtig, es sei denn, sie lebten in der unmittelbaren Umgebung. In diesen Situationen waren die Frauen der befreundeten Häuser zusätzlich gute Freundinnen und sogenannte erste Nachbarinnen (bos./hrv./srp. prvi Komšije). Die ersten Nachbarinnen wurden einander zu unverzichtbaren Bezugspersonen und Quellen vielfältiger sozialer Unterstützung. Bestandteil dieser Unterstützung waren stets die gegenseitige Gastfreundschaft und der rege soziale und materielle Austausch durch und über die Frauen, um im Dorf oder Quartier reziproke Verpflichtungen und Verbindlichkeiten zu besiegeln.24 Die Gastfreundschaft zwischen den Nachbarinnen und Freundinnen wurde besonders durch die obligaten Kaffeebesuche gepflegt. Der dadurch geschaffene soziale Zusammenhalt lokaler Gemeinschaften ging vorwiegend auf die Initiative der Frauen zurück.25 Die räumliche Nähe der Nachbarschaft und die von den Frauen initiierten reziproken Beziehungen waren aber nicht per se ein Hinweis auf ein harmonisches und friedvolles Zusammenleben vor dem Krieg. Im Gegenteil schildert die Sozialanthropologin Tone Bringa (1995) unzählige konfliktbehaftete Auseinandersetzungen zwischen Haushalten, die meist den Frauen und ihrem Drang zu Klatsch und Tratsch angelastet wurden. Ein anderer problembehafteter Aspekt der gesellschaftlichen Situation der Frauen war vor dem Krieg die oben angetönte ambivalente Stellung nach der Heirat (dies gilt teilweise noch heute). Einerseits waren sie für die Interaktionen der Haus24 | Auch Svetlana Slapšak von der Universität Ljubljana machte in einem Referat darauf aufmerksam, dass selbst unter härtesten ökonomischen Bedingungen niemand verhungerte. Das soziale Netzwerk insbesondere der Nachbarschaften war stets ein gut funktionierendes System, das auch ein Versagen des Staates ausgleichen konnte. Dies ganz im Gegensatz zu den USA, wo ein Versagen für die Einzelnen mitunter viel dramatischere Auswirkungen haben kann (Universität Fribourg, 2007, Referat zum Thema »Famille et Parenté dans les Balkans«). 25 | Diese Rolle und Funktion scheint zu erklären, weshalb die internationale Gemeinschaft und die lokalen Nichtregierungsorganisationen Frauen in der Nachkriegszeit für geeignet halten, Grenzen zwischen den verfeindeten Gruppen zu überwinden und sich dem Aufbau der zerrissenen Gesellschaft zu widmen.
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halte verantwortlich, was eine gefestigte Loyalität zu demjenem verlangte, den sie in der Nachbarschaft vertraten. Andererseits waren die Frauen aufgrund der virilokalen und patrilinearen Verwandtschaftstradition in ebendiesen Haushalten eigentliche Außenseiterinnen (siehe Bringa 1995; Olson 1990; Woodward 1985). Sie wurden als Fremde in die Familie des Ehemannes aufgenommen und mussten sich zuerst in der Rolle der Ehefrau, zukünftigen Mutter und nicht zuletzt Schwiegertochter als loyales Haushaltsmitglied bewähren. Die Unterordnung unter die männliche Familienautorität, die Schwiegermutter und unter Umständen auch die Schwägerinnen wurde durch unzählige symbolische und zum Teil auch rituelle Handlungen gefestigt; dazu zählte beispielsweise das adäquate Bewirten der Gäste mit Kaffee und Süßigkeiten (bei Bringa 1995; Denich 1976; Simić 1983). Ihr Ansehen im Haushalt konnte die Frau als Mutter von Söhnen und später als potentielle Großmutter verbessern und festigen (Simić 1999). Ethnografinnen und Ethnografen des jugoslawischen Raumes beschreiben ausführlich, wie die weibliche Sexualität vom virilokalen und patrilinearen Verwandtschaftssystem kontrolliert und überwacht wurde und Frauen trotz propagierter Geschlechtergleichstellung weiterhin als alleinige Verantwortliche für den Haushalt, die Gartenbewirtschaftung und die Erziehung der Kinder betrachtet wurden (Denich 1976; Erlich 1966; Halpern 1967 (1956); Olson 1990; Rhitmann-Auguštin 1987). Auch den Männern wurden bestimmte Rollen zugeschrieben, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit der Zadruga haben. Sie vertraten den Haushalt gegen außen und engagierten sich als autoritative Haushaltsvorsteher nicht in der »weiblichen« Hausarbeit (Simić 1969). Das Sprichwort »Žena je domaćin kuće a čovek je gost«– »Zuhause hat die Frau das Sagen, der Mann ist Gast«, beschreibt dieses Verhältnis treffend (siehe auch bei Halpern 1967 [1956]: 142).26 Die Hausarbeit erwies sich also als ausschließlich weibliches Betätigungswie auch Konkurrenzfeld. So wird der von Männern zubereitete Kaffee salopp als ›Kaffee mit Eiern‹ (bos./hrv./srp. Kafa s jajama) bezeichnet, ein Mann, der Frauenarbeit freiwillig erledigt, wird als Papučar (ugs. dt.: einer, der Hausschuhe trägt) gehänselt27. Diese traditionelle Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen resp. die alleinige Verantwortung der Frauen für den Haushaltsbereich und für die Interaktion zwischen den Haushalten befürworten die Frauen aber auch selbst. Die meisten Informantinnen argumentierten während der Feldforschung, ihr Einfluss im Haushalt sei zentral für die Familie und die Gemeinschaft, wie dies auch diverse Aphorismen verdeutlichen: Der Mann möge davon überzeugt sein, als Kopf des Haushaltes eine machtvollere Position einzunehmen als seine Frau, doch die Frau sei der Hals und damit die eigentliche Schaltstelle des Haushaltes. Denn ein Kopf ohne Hals könne nicht viel ausrichten: 26 | Gemäß Feldnotizen Nr. 1. 27 | Gemäß Feldnotizen Nr. 3.
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Nur dank des Halses ist der Kopf in der Lage, sich zu drehen, zu nicken, kurz gesagt, zu funktionieren. Das erfasst die weiter oben angesprochene Idealkultur, die im Widerspruch zur realen Lebenssituationen steht, im Kern. Ein anderer Aphorismus besagt, ein Haus stehe immer auf vier Pfeilern; drei davon verkörpere die Frau, einen der Mann. Verlässt der Mann das Haus, kann dieses also weiterhin stehen. Geht hingegen die Frau, dann gerät das Gebilde aus dem Gleichgewicht und kracht in sich zusammen.28 Auch wenn der jugoslawische Sozialismus den Frauen also gewisse emanzipatorische Verbesserungen brachte: Die Rhetorik der Geschlechtergleichstellung wirkte sich während der sozialistischen Ära kaum auf die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit aus (siehe Denich 1977; Seifert 2001: 29). Die patriarchale Geschlechterordnung, gemäß der allein die Frau für Haushalt, Familie und Sozialisation der Kinder verantwortlich ist, konnte sich in Jugoslawien halten. Wie in der Vergangenheit blieben die Allianzen der Verwandtschaft und die weiblichen Netzwerke zentrale Ressourcen für die Frauen und damit auch für das Überleben und Bestehen der Familien (Woodward 1985: 256). Durch die Ereignisse des Krieges in den 1990er Jahren sollte sich diese Geschlechterordnung noch verstärken.
3.3 D ESINTEGR ATION J UGOSL AWIENS UND B OSNIEN -H ERZEGOWINAS »Die Wahrheit ist in Scherben zerfallen wie ein Spiegel. […] In diesem Augenblick reden die Völker des ehemaligen Jugoslawien sich und anderen ein, dass alles Lüge war, was vorher war. Das hat es nie gegeben, sagen sie. Denn hätte es existiert, wäre es denn zu dem gekommen, was nachher geschah?« (Ugrešić 1995: 59, Hervorhebung im Original)
Tito hinterließ bei seinem Tod im Mai 1980 ein Land, das national bereits auseinanderdriftete und ökonomisch am Abgrund stand. Während der 1980er Jahre erlebte Jugoslawien eine ökonomische und politische Krise sondergleichen, welche das Land politisch und sozial destabilisierte. Die Auslandverschuldung nahm ein unermessliches Ausmaß an (20 Billionen $ im Jahr 1987), die Wirtschaftswachstumsrate fiel von den 6,1 % der Jahre 1973 bis 1979 auf 0,4 % zwischen 1980 und 1984 und die Inflationsrate stieg (Cohen 1995: 31). Die Nominallöhne der Angestellten sanken um 24 %, und der Lebensstandard fiel zurück auf den Stand der 1960er Jahre (Cohen 1995: 45). Besonders wichtig wurden in dieser von Unsicherheit geprägten Zeit die Stadt-Land-Beziehungen. Man könnte sogar sagen, die prekäre wirtschaftliche Situation habe die Subsistenzwirtschaft 28 | Gemäß Feldnotizen Nr. 4. Vgl. auch Helms (2003a: 48).
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revitalisiert: Landbesitzende konnten die schlimmsten Konsequenzen der Krise durch Gemüseanbau etc. besser abfedern als Landlose (Kolind 2005: 101). Auch zwischen den Ökonomien der Republiken zeigte sich ein großes Ungleichgewicht: Die beiden nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien wiesen viel kleinere Arbeitslosenraten sowie ein deutlich größeres BIP auf als die anderen Republiken und verfügten über wesentlich ›gesündere‹ Ökonomien. Mit dem wirtschaftlichen Zerfall äußerten diese beiden wohlhabenderen Republiken als erste ihren Missmut über die von Tito eingeführte finanzielle Umverteilungsstrategie, die die ärmeren Regionen im Süden (darunter Bosnien-Herzegowina) begünstigte (Ramet 1992: 136-176). Je länger, desto mehr beschuldigten sich die Republiken gegenseitig für die ökonomische und bald auch politische Misere, was zu einer Kultur der Schuldzuweisung und der Paranoia (Kolind 2005: 101) führte, die auch ganz bestimmte Feindbilder schürte. Vor Titos Tod hatte es sowohl externe Feinde (u.a. Stalin und seinen Kommunismus oder die westlich kapitalistischen Kräfte) als auch interne gegeben (in erster Linie die Nationalisten, aber auch Kapitalisten, Stalinisten, Demokraten und andere), gegen die man sich hatte ›verbrüdern‹ müssen. Besonders gegen die internen Feinde hatten Tito und sein Machtapparat Solidarität und Zusammenhalt im Vielvölkerstaat fördern und das komplizierte Bevölkerungsgefüge zusammenhalten können. Im Besonderen stellten seit jeher die internen Nationalisten eine große Gefahr für den Zusammenhalt Jugoslawiens dar, für die Aufrechterhaltung der inneren Solidarität, die Gleichheit der Nationen und Nationalitäten und die Integration aller Gruppen unter dem Motto der Bratstvo i Jedinstvo (dt. Brüderlichkeit und Einigkeit) (Godina 1998). Mit dem Wegfall der Integrationsfigur Tito und dem ökonomischen Zerfall gab es kein Rezept mehr, diese internen Feinde des gesamtjugoslawischen Systems in Schach zu halten. Die Unzufriedenheit der Menschen über die politische und ökonomische Führung des Landes äußerte sich in Massendemonstrationen und Streiks. Sie wurde vergrößert durch finanzielle Skandale, in welche Parteimitglieder und große jugoslawische Firmen verstrickt waren, was das Vertrauen in die staatlichen Strukturen noch mehr schwinden ließ.29 Mit dem wirtschaftlichen Zerfall 29 | Ein symptomatischer Wirtschaftsskandal jener Zeit ereignete sich 1987 in Bosnien-Herzegowina; er betraf den im Nordwesten gelegenen Agrarkonzern »Agrokomerc« von Fikret Abdi ć (Malcolm 1994 [2002]: 209ff.). Jahrelang hatten ungesicherte Schuldscheine im Wert von 875 Millionen Dollar das finanzielle Fundament der Agrokomerc gebildet, eines der größten Unternehmen und Arbeitgeber in Bosnien-Herzegowina. Aus Versehen flogen diese ungedeckten Schuldscheine auf und von einem Tag auf den anderen waren die Schecks aller 11.000 Arbeiter ungültig. Diese Betrügerei konnte in der Folge auf 200 Parteimitglieder in Bosnien und Kroatien zurückverfolgt werden (Donia und Fine 1994: 196-198).
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ging zudem ein ethnoregionaler Nationalismus einher, d.h. die überregionalen Konflikte übertrugen sich langsam und stetig auch auf die Mikroebene. Der Rückzug in die eigenen Familien und damit einhergehend auch in die entsprechende ethnoreligiöse Gruppe verstärkte sich. Eine gezielte Instrumentalisierung durch die von der Politik gesteuerten Medien ließ die ethnoreligiösen Merkmale Überhand gewinnen. »Jene Minderheit der Indifferenten, die bei den Volkszählungen Mercedes, Toshiba oder Indianer in die Rubrik Nationalität schrieben, diese Minderheit, die den Prozess der Demontage als vorübergehenden Maskenball betrachtete, täuschte sich gründlich.« (Ugreši ć 1995: 61)
Den ethnischen Nationalismus strebten besonders die serbischen und kroatischen Machthaber der damaligen Zeit an. Sie wollten ihre jeweils eigene Vorstellung eines zukünftigen eigenständigen Staatssystems verwirklicht wissen. Die kroatischen Machthaber peilten die Unabhängigkeit an, die serbischen wollten unter ›Jugoslawien‹ alle Serbinnen und Serben in einem Staat vereint wissen. Mit seiner ethnisch gemischten Bevölkerungsstruktur geriet Bosnien deshalb erneut zwischen die Mahlsteine serbischer und kroatischer Ambitionen – eine Stellung, die die kleine Republik im Herzen Jugoslawiens nicht mehr so schnell loswerden sollte. Sowohl Malcolm (1994 [2002]: 211) als auch Oevermann (2001: 121) verdeutlichen in diesem Zusammenhang, dass just zum Zeitpunkt des europaweiten sozialistischen Zerfalls die Vertreter der jugoslawischen Idee – diejenigen also, die im Zweiten Weltkrieg Seite an Seite mit Tito gekämpft hatten – aus dem aktiven politischen Leben ausschieden. Der »integrative gesamtjugoslawische Habitus« (Oevermann 2001: 121) war erschöpft und eine neue Generation, die sich in der kommunistischen Nachkriegshierarchie ihren Weg gesucht hatte, übernahm die Schalthebel der Macht. Diese Generation bestand aber aus bloßen Ideologen und Epigonen ohne eigene Erfahrung des Partisanenkampfes (Slobodan Milošević [*1941, †2006], Radovan Karadžić [*1945], Ratko Mladić [*1942]) oder aus ehemaligen Weggefährten Titos, die aber dem kommunistischen System kritisch gegenüberstanden und aufgrund nationalistischer oder religiöser Aktivitäten während der sozialistischen Zeit sogar Gefängnisstrafen absitzen mussten (Alija Izetbegović [*1925, †2003], Franjo Tuđman [*1922, †1999]). Die größten Profiteure der damaligen Situation waren unbestritten Slobodan Milošević30 und sein Gefolge. Milošević war ein kommunistischer Apparatschik, der das Präsidentenamt der serbischen Republik Mitte der 1980er 30 | Eine ausführliche Darlegung seines politischen Werdeganges, der erst im Jahre 1984 seinen Anfang nahm, findet sich u.a. bei Bieber (2005), Ramet (2005) und Ramet (1992).
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Jahre antrat. Sein Machtapparat bediente sich der Medien, um die öffentliche Meinung zu indoktrinieren und unter der serbischen Bevölkerung die Angst zu verbreiten, von den Anderen – besonders den Muslimen – gehe eine lebensbedrohliche Gefahr aus. Nun wurde die ›serbische Frage‹ nicht länger nur in Intellektuellenkreisen thematisiert, sondern zum Zugpferd des serbischen Populismus hochstilisiert. Unter Miloševićs Ägide forderten die Protagonisten Großserbiens unter Berufung auf das Nationalitätenprinzip die Herrschaft über diejenigen Territorien, die zu beträchtlichen Anteilen von Serbinnen und Serben besiedelt waren; dazu zählten die kroatische Krajina, Slawonien und große Teile Bosnien-Herzegowinas (Calic 1996: 74). Gleichzeitig wurde eine mythische Version der serbischen Geschichte verbreitet, welche die serbischen Kämpfe gegen die Türken in der Schlacht auf dem Amselfeld heroisierte. Vamik Volkan spricht in diesem Zusammenhang von einer »Reaktivierung des serbischen gewählten Traumas« und von der serbischen Propaganda, die sich noch vor Beginn der ethnischen Säuberungen und systematischen Vergewaltigungen darauf konzentrierte, »in den Köpfen der Serben die Idee zu entzünden, die Osmanen, die jetzt durch die bosnischen Muslime symbolisiert wurden, würden wiederkommen« (zit.n. Rosenthal 2005: 62). Innerhalb kurzer Zeit zeichnete man das Bild einer leidenden, aber glorreichen serbischen Nation (Bowman 1994; Šuber 2004). Um die Person Miloševićs konnte sich ein Kult spinnen, welcher ihn zum ersten starken Mann nach Tito emporhob und ihn dadurch für viele Menschen zu einer hoffnungsvollen Leitfigur machte. Für Milošević-Kritiker wurde es zugleich schwieriger, ihn und seine Politik öffentlich zu kritisieren (Ramet 1992: 228). 1989, während der Sechshundertjahrfeier zum Gedenken an die Schlacht auf dem Amselfeld, gab Milošević mit seiner später berühmten Rede31 den Anstoß, der das konfliktreiche Auseinanderbrechen Jugoslawiens unausweichlich werden ließ. Mit den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 sah sich Miloševićs Machtapparat zudem ermächtigt, militärisch zu intervenieren. Die slowenische Teilrepublik war aufgrund des geringen Anteils serbischer Bewohnerinnen und Bewohner kaum von Bedeutung, weshalb sich die serbische Armee nach 10 Tagen Krieg geschlagen gab und Slowenien in die Unabhängigkeit ziehen ließ. Ganz anders die Folgen der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens: Ziel der HDZ, der Kroatisch Demokratischen Gemeinschaft (Hrvatska Demokratska Zajednica) unter der Führung Tuđmans war die Errichtung eines unabhängigen Kroatiens, welches die Gebietsgrenzen des ehemaligen Ustašastaates (USK) umfassen sollte. Mit dieser Vorstellung konnten die alten Ansprüche Kroatiens auf die Bewohnerinnen und Bewohner Bosniens wiederbelebt werden. Die 31 | Miloševi ć richtete sich in seiner Rede an die serbische Minderheit im Kosovo mit dem Versprechen, dass »nobody, either now or in the future, has the right to beat you« (Ramet 1992: 227).
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Musliminnen und Muslime seien ursprünglich Kroaten und Bosnien-Herzegowina und Kroatien seien als eine untrennbare geografische und ökonomische Einheit zu betrachten (Bowman 1994: 155-157; Malcolm 1994 [2002]: 377-380). Tuđmans Gefolgschaft ging in Kroatien ähnlich vor wie diejenige Miloševićs in Serbien, denn auch in Kroatien verbreitete man über die Medien einen nationalistischen Diskurs, der ethnischen Hass und die Abgrenzung vom ethnisch Anderen hervorrief. Besonders einschneidend war der Beschluss der Machthaber, mit der neuen kroatischen Verfassung die serbische Bevölkerung in Kroatien, die zu Zeiten des Sozialismus den Kroatinnen und Kroaten gleichgestellt gewesen war, zu einer Minderheit zu degradieren. Der kroatische Staat wurde nunmehr auf der Basis der Souveränität einer ethnisch definierten Nation legitimiert. Angehörige anderer nationaler respektive ethnischer Gruppen konnten zwar Bürgerinnen und Bürger sein, hatten aber kein Wahlrecht mehr (Hayden 1996a). Nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens proklamierten die lokalen serbischen Einwohnerinnen und Einwohner in der kroatischen Krajina die Serbische Republik Kroatien, was eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den beiden Staaten Serbien und Kroatien unumgänglich machte. Einer der wenigen nicht-nationalistischen Politiker in der Zeit kurz vor dem endgültigen Zerfall Jugoslawiens war Ante Marković, der Präsident des damaligen föderativen Jugoslawiens, der unermüdlich an ökonomischen Reformen für das gesamte Gebiet festhielt. Sowohl Milošević als auch Tuđman hatten jedoch ein großes Interesse daran, den Einfluss Markovićs zu schmälern. Gemeinsam schafften es die beiden, unterstützt von ihrer jeweiligen Gefolgschaft, den moralischen Diskurs der Formel Bratstvo i Jedinstvo in einen zu Gewalt aufrufenden Diskurs des ethnischen, religiösen und nationalistischen Antagonismus zu transformieren. Visionen eines Großserbiens und eines Großkroatiens basierten auf ethnischer Homogenität und sollten durch die Ideologie der Vernichtung des ethnisch Anderen verwirklicht werden (Bowman 1994). Durch den serbisch-kroatischen Krieg in Kroatien geriet Bosnien-Herzegowina nicht nur ethnisch, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht zwischen die Fronten. Die Talfahrt der bosnischen Wirtschaft beschleunigte sich: Anfangs 1992 stieg die Inflationsrate im Vergleich zum Jahr 1991 um 31 %, die Lebensmittelkosten erhöhten sich um 36 %. Die Statistiken registrierten fast 30 % Arbeitslose, 240.000 Beschäftigte erhielten lediglich einen Mindestlohn von 50 D-Mark pro Monat. Da nur 15 % der für den Eigenverbrauch notwendigen Lebensmittel in Bosnien-Herzegowina selbst erzeugt wurden und Einfuhren durch ein kroatisch-serbisches Embargo sowie die faktische Verkehrsblockade von Kroatien unterblieben, war die Versorgung Bosniens bereits um die Jahreswende 1991/92 prekär: »Der Hunger ist nunmehr in unsere Heime eingezogen«, titelte die Sarajevoer Tageszeitung Oslobođenje (Calic 1996: 63-65). Bosnien-Herzegowina stand damit Ende der 1980er Jahre am wirtschaftlichen und sozialen Abgrund. Dass der Krieg von Kroatien nach Bosnien über-
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schwappte, war Folge der politisch verfahrenen Situation zwischen Serbien, Kroatien und den restlichen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens. Nachfolgend soll das Augenmerk auf Kriegsausbruch und -verlauf in der Gemeinde Prijedor liegen, dem Ort der Feldforschung. Darlegungen des Kriegsverlaufes für das gesamte Bosnien-Herzegowina finden sich u.a. bei Calić (1996), Donia (1994) oder Malcolm (1994 [2002]).
3.4 K RIEG IM BOSNISCHEN P RIJEDOR Die Opština (dt. Gemeinde, Bezirk) Prijedor war für die Umsetzung eines Großserbiens interessant, nicht nur aufgrund des relativ hohen serbischen Bevölkerungsanteils, sondern besonders auch wegen der geografisch-strategischen Lage. »The municipality is clearly located inside any corridor that Serbs would want to clear between Serbia proper and the Serbian-occupied Croatian Krajina« (Greve 1994; vgl. dazu auch Judah 2000: 199f.). Prijedor liegt am Rande der Banija – bekannt als das kroatische Gebiet von Karlovac nach Jasenovac – und wird als Teil der Bosanska Krajina bezeichnet. Die Grenzen dieser historischen Landschaft mit dem Namen Krajina (dt. Grenzland), der als osmanisches Relikt in die Geschichte eingegangen ist, sind allerdings unbestimmt. Laut Karger (1992: 1109) liegt die Region Bosanska Krajina zwischen »[den] nach Norden zur Sava gerichteten Täler der Flüsse Una, Sana und Vrbas, [der] Kalkgebirge und Weidehochländer zwischen ihnen sowie [der] Berg- und Hügelländer südlich der Sava.« Der Fluss Sava gilt als natürliche Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien. Die kroatische Krajina umfasst die Region entlang der Grenze des westlichen Bosnien-Herzegowinas, von der südlichen Stadt Knin (Lika) bis zum nördlichen Zentrum Karlovac und von Karlovac über die Banija nach Jasenovac.32 Dies sind Gebiete mit vorwiegend serbischen Mehrheitssiedlungen (Karger 1992: 1106). Östlich davon liegt die slawonische Krajina mit einer gemischt serbisch-kroatischen Bevölkerung, die bis an die Grenze von Serbien reicht (Hammel 2000: 24). Die kroatische Krajina umfasst Bosnien also in westlicher, nord-westlicher und nördlicher Länge. Sie wurde zusammen mit der bosnischen Krajina bereits zu Beginn des Krieges erobert und an das engere Serbien (den serbischen Norden und die Vojvodina) angeschlossen.
32 | Für eine Karte verweise ich auf . Abgerufen am 21.4.2009.
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3.4.1 Kriegsauswirkungen auf die Gemeinde Prijedor Bei der Volkszählung im Jahre 1991 erwiesen sich in der Opština Prijedor der muslimische und der serbische Bevölkerungsanteil als nahezu gleich groß (siehe nachfolgende Tabelle 2)33: Von den 112.470 Einwohnerinnen und Einwohnern bezeichneten sich am Vorabend des Krieges 44 % als Muslime, 42,5 % als Serben, 5,6 % als Kroaten, 5,7 % als »echte« Jugoslawen34 und 2,2 % wählten die Option »Andere« (Greve 1994: 3; Wilmer 2002: 60). Tabelle 2: Volkszählungen in der Gemeinde Prijedor, 1931-1991 (Donia 2002) Jahr 1931 1948 1953 1961
Serben
Muslime
Kroaten
Jugoslawen
Andere
Total
39.964
16.113
13.311
69.388
33.620
a)
6601
58.314
8283
b)
72.559
8681
90.729
18.093
40.487 48.169
22.687
c)
d)
39.190
11.192
23.789
1971
46.487
8845
1458
95.980
1981
45.279
42.129
7297
12.025
1684
106.730
1991
47.745
49.454
6300
6371
2600
112.470
Legende: a) Bezeichnung »national nicht erklärter Muslim« b) Im Jahre 1953 stand die Option »Muslim als Nationalität« den Befragten nicht zur Verfügung, dafür die Bezeichnung »ethnisch nicht deklarierter Jugoslawe« c) Bezeichnung »ethnischer Muslim« d) Bezeichnung »nationaler Muslime« Das zahlenmäßige Gleichgewicht zwischen der serbischen und der muslimischen Bevölkerung bestätigte sich auch in den letzten Wahlergebnissen vor dem Krieg: Die bosnienweiten nationalistischen Gewinnerparteien waren in Prijedor nur halb so erfolgreich. Robert Donia (2002: 4) führt dieses Resultat in seinem Hintergrundbericht an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICTY auf zwei Umstände zurück: auf die traditionelle 33 | Für die Entwicklung der ethnoreligiösen Zugehörigkeiten in der gesamten Vielvölkerrepublik Bosnien-Herzegowina sei auf Tabelle 1 verwiesen. Im Jahre 1991 waren von rund 4,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner 43,7 % Muslime, 31,3 % Serben und 17,3 % Kroaten (Calic 1996: 44). 34 | Dies waren mehrheitlich ethnisch gemischte Ehepaare und ihre Kinder, oder Einwohner/innen, die sich explizit als Jugoslawen bezeichnen wollten.
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Hochachtung der Prijedorer Gesellschaft für den Partisanenwiderstand und auf die starke Opposition des »linken Blocks«. Die Linken, bestehend aus unterschiedlichen Parteien35, hatten nach den Wahlen 30 der insgesamt 90 Sitze in der Versammlung und behinderten die nationalistischen Parteien in ihrem Vorhaben, wo immer sie konnten. Die Vertreter der Serbisch Demokratischen Partei SDS trieb diese Situation zur schieren Verzweiflung: »The problem is making the Serbs realize that they are of Serbian nationality, and not Yugoslavs«, wie der Präsident der SDS festhielt (Donia 2002: 7). Weil sich die Stimmen der serbischen Bevölkerung auf verschiedene Parteien verteilten, konnte die Muslimische Partei der Demokratischen Aktion SDA (die damals von Alija Izetbegović präsidiert wurde) gesamthaft mehr Sitze (deren 30) als die SDS (deren 28) erobern (Donia 2002: 2). Die Opština Prijedor war damit die einzige Gemeinde in der gesamten bosnischen Krajina, die noch nicht von Radovan Karadžić, dem Führer der bosnischen Serben und der SDS, kontrolliert wurde. Diesen Umstand zu ändern war von da an erklärtes Ziel der serbisch-nationalistischen Partei. Im Rahmen der unter Radovan Karadžić ausgerufenen »Autonomen serbischen Republik von Bosnien-Herzegowina36« begann die serbische Kriegspartei mit den Vorbereitungen zur Eroberung der Opština Prijedor auf allen Ebenen.37 Bereits im Verlaufe des Jahres 1991 konnten die Serben ihre Vormachtstellung durch den Aufbau einer Paralleladministration, das Einrichten einer ›serbisch-reinen‹ Polizei und die Übernahme der Medienlandschaft schrittweise konsolidieren. Bald waren 90 Prozent der wichtigsten Positionen in der Opština von nationalistischen Serben besetzt. Dazu gehörte beispielsweise der heutige Bürgermeister von Prijedor, Marko Pavić, der als Vertreter der SDS die Post- und Telefongesellschaft unter sich hatte. Die Propagandamaschinerie wurde in Prijedor, wie im ehemaligen Jugoslawien auch, über die Medien in Gang gesetzt (vgl. u.a. Iordanova 2001; Žarkov 1999): Radio und Fernsehen berichteten einseitig über Gefahren, die dem serbischen Volk durch die Muslime, Albaner, Slowenen und Kroaten drohten. Mit Referenz auf den Zweiten Weltkrieg und die damaligen Vorkommnisse im größten (Ustaša) Konzentrationslager Jasenovac nahe Prijedor wiegelten die großen Manipulatoren die serbische Bevölkerung in Prijedor gegen die nichtserbische auf. Der muslimischen Regierung wurde beispielsweise nachgesagt, 35 | Dazu zählten der Bund der Kommunisten-Sozialdemokratische Partei (SK-SDP Savez komunista-Socijaldemokratska stranka), die Allianz der reformistischen jugoslawischen Kräfte (SRSJ Savez reformskih snaga Jugoslavije), die Allianz der demokratischen Sozialisten (DSS Demokratski socijalisti č ki Savez) und die demokratische Allianz (SSO Demokratski Savez) (Donia 2002: 2). 36 | Bosanska Krajina Srpska Autonomna Oblast 37 | Die folgenden Ausführungen basieren in erster Linie auf den Unterlagen von Greve (1994), Donia (2002) und Wesselingh (2005).
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sie bestünde aus Extremisten und Fundamentalisten und wollte auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas einen islamischen Staat errichten. Der muslimischen Regierung wurde zudem die alleinige Verantwortung für die gesamte ökonomische Misere, die hohe Arbeitslosenrate und die Inflation zugeschoben. Die Medien stellten hingegen die Serben als von allen Seiten bedrohte Gruppe dar, die als einzige für ein ganzheitliches Jugoslawien einstünde. Dr. Milomir Stakić, nach der Übernahme Prijedors der neue serbische Bürgermeister, sprach von einer muslimischen Verschwörung und betonte die Gefahr, die angeblich von den Muslimen ausgehe: »In the first elections since the Second World War the Muslim Party won the election and were in power for one and a half years, and they took the opportunity it gave them to arm the most extreme parts of the Muslim population. This preparation had reached a culminating point […], when these armed groups put up barricades, and when they started shameful murders of the army of Bosanska Krajina and the police.« (Greve 1994: 65)
Mit der Verbreitung der Propaganda und der Manipulation ging eine massive Militarisierung der serbischen Bevölkerung einher. »Many non-Serbs, who saw truck-loads of weapons being distributed in their home areas to Serbs, were so frightened that they did not dare do believe what they saw« (Greve 1994: 20). Dass die muslimische Bevölkerung nicht wahrhaben konnte, was um sie herum geschah, wurde während der Feldforschung auch in Gesprächen immer wieder betont. Zwar war eine große Angst und ein wachsendes Misstrauen in der Bevölkerung vorhanden, die Hoffnung aber, dass Prijedor vom nahen Krieg in der kroatischen Krajina verschont bleiben würde, überwog bis zum tatsächlichen Kriegsausbruch.
3.4.2 Übernahme der Gemeinde Prijedor Mit materieller Unterstützung und Einheiten aus Serbien sowie den von der JNA (Jugoslawische Volksarmee) übernommenen Kommandostrukturen, Waffen- und Munitionsvorräten begannen die serbischen Truppen ihre militärische Offensive in Bosnien. Knapp einen Monat nach Kriegsausbruch in Sarajevo wurde die totale Übernahme in Prijedor eingeleitet. Die Serben konnten dank ihrer minutiösen Vorbereitungen am 30. April in einer 30-minütigen Aktion ohne Einsatz offener Gewalt alle strategisch wichtigen Posten der Stadt besetzen. In den Strassen und auf den Häusern wurden serbische Truppen postiert, die weiß-blau-rote serbische Flagge wurde auf allen offiziellen Gebäuden gehisst, serbisches Militär wie auch Paramilitär wurden zur Bewachung der Gemeindegebäude und Banken abkommandiert. Ein mysteriöser Krizni Štab (dt. Krisenstab), welcher von nun an das Sagen hatte, wurde stadtweit angekündigt,
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die Gemeinde wurde von da an als Srpska Opština Prijedor (dt. serbische Gemeinde Prijedor) bezeichnet. Der gewählte muslimische Bürgermeister Muhamed Čehajić wurde des Amtes enthoben, alle kroatischen und muslimischen Angestellten wurden von ihren Arbeitsstellen entlassen und ihre Bankkonti eingefroren. Nächtliche Schusssalven schürten ein Klima der Angst, die nichtserbische Bevölkerung erlitt massive Einschnitte in ihre Bewegungsfreiheit und Sicherheit. Um die umliegenden Dörfer zu erreichen, mussten plötzlich Passierscheine beantragt und Checkpoints überwunden werden. Ohne das Signieren ›freiwilliger‹ Besitzabgaben konnten keine Passierscheine beantragt werden und die Ausreise aus Prijedor war somit nicht möglich. Die Verschärfung der Situation zeigte sich aber auch daran, dass sich die nicht-serbische Bevölkerung als solche kennzeichnen musste. Alle Nicht-Serben mussten weiße Flaggen aus den Fenstern hängen und auf der Strasse weiße Armbänder als Kennzeichen tragen – ähnlich dem Judenstern zu nationalsozialistischer Zeit. Nur in Ausnahmefällen wurde von Widerstand der Serben und von einer Unterstützung der Leidtragenden durch die serbische Bevölkerung berichtet. Mehrheitlich war die serbische Bevölkerung von der Manipulation hypnotisiert und wurde in den Strudel des Wahnsinns gerissen. Die systematische Gewalt brach gegen Ende Mai 1992 aus. Lange Artilleriekolonnen bewegten sich auf der Hauptstrasse in Richtung Sanski Most. Unter diesen Truppen befanden sich auch Mitglieder der gefürchteten paramilitärischen Einheiten der ›Arkanovci‹, der Anhänger Arkans, sowie von Vojislav Šešeljs38 selbsternannten serbischen Četniks. Kurz darauf gingen die Dörfer und Weiler auf der linken Uferseite der Sana in Flammen auf: Bišćani, Risvanovići, Rakovčani, Hambarine und Čarakovo. Die Moschee in Hambarine wurde dem Erdboden gleichgemacht und die gesamte nicht-serbische Bevölkerung wurde vertrieben oder umgebracht.39 Die Dörfer standen unter serbischem Dauerbeschuss, und sie wurden von Paramilitär und den Truppen der JNA ausgeplündert (Greve 1994: 34). Es wurden alle Ortschaften im Umland Prijedors angegriffen, die mehrheitlich von muslimischen Bosnierinnen und Bosniern bewohnt waren. Hambarine, als größte Siedlung, wurde nach der ersten Übernahme in ›Petrovo Brdo‹ (dt. Peters Berg) umbenannt (Greve 1994: 35). Das Umbenennen der Ortschaften war eine damals verbreitete Praxis. Sie diente den
38 | Vojislav Šešelj (*1954) ist ein in Sarajevo geborener, serbischer nationalistischer Politiker. Er ist Parteigründer und Vorsitzender der Serbischen Radikalen Partei. Wegen seiner Rolle als Führer von Freischärlern und seiner mutmaßlichen Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen befindet er sich seit 2003 in Untersuchungshaft in Den Haag, wo er sich vor dem ICT Y verantworten muss. 39 | Im Folgenden ist hier vor allem von jenen Dörfern und Weilern die Rede, aus denen die befragten Frauen stammen.
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serbischen Kriegsherren dazu, ihre Dominanz in der Region festzuschreiben und die ethnische Säuberung voranzutreiben. Gleichentags, am 22. Mai, wurde in Ljubija, das südwestlich von Hambarine liegt, der Hauptplatz besetzt und eine Ausgangssperre verhängt. Die ersten Bewohnerinnen und Bewohner von Ljubija – Intellektuelle, Politikerinnen und Politiker, Ärztinnen und Ärzte und andere Mitglieder der Oberschicht –, wurden verhaftet und in den drei Lagern ›Omarska‹, ›Keraterm‹ und ›Trnopolje‹ interniert (Greve 1994: 35). Der Angriff auf die übrige Bevölkerung folgte etwas später. Nach Dauerbombardement verfrachtete man alle nicht-serbischen Bewohnerinnen und Bewohner in Busse, wobei die noch lebenden Männer von den Frauen und Kindern getrennt wurden. Letztere wurden in einem mehrheitlich serbisch besiedelten Gebiet Prijedors (Tukovi) interniert, in einem kurz vor Kriegsausbruch fertig gestellten Sportstadion. Kozarac auf der rechten Uferseite des Flusses Sana wurde nach gleichem Muster zerstört. Das Dorf mit seinen über 90 Prozent muslimischen Bewohnerinnen und Bewohnern, das wegen des verbreiteten Wohlstandes auch ›Kleine Schweiz‹ hieß, wurde innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Aufgrund von Todeslisten wurden Intellektuelle und Prominente aus Kozarac umgebracht oder in drei von den Serben errichtete Internierungslager verschleppt. Dušan Tadić, ein ehemaliger Nachbar der nun bedrohten Muslime aus Kozarac, war der Hauptdrahtzieher hinter den Todeslisten und Deportationen40. Auf Kozarac folgten die ›Säuberungen‹ des ältesten Teils von Prijedor Stadt, der Stari Grad, ein Quartier, in dem mehrheitlich Musliminnen und Muslime wohnten. Das Quartier wurde beschossen, und auch hier wurden die Häuser völlig zerstört. Vertrieben oder verschleppt wurden fast alle Bewohnerinnen und Bewohner muslimischer und kroatischer Herkunft, sofern sie nicht vorgängig aus der Stadt fliehen konnten. Frauen, die in Mischehen mit Serben lebten, blieben vorerst von den Bedrohungen verschont. Wurden die bosnischen und kroatischen Bewohnerinnen und Bewohner nicht direkt aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben, beorderte die serbische Regierung sie ins Hotel Balkan. Dort trennten serbische Soldaten Frauen und Männer, pferchten die Männer in Busse und brachten sie in die Lager ›Omarska‹ und ›Keraterm‹, die Mehrheit der Frauen mit ihren Kindern ins Lager ›Trnopolje‹. Im Lager ›Omarska‹41 , das die serbischen Kriegsherren in den Gebäuden des Eizenerzförderers Rudnika Ljubija eingerichtet hatte, wurden vorwiegend 40 | Dušan Tadi ć wurde im Juli 1996 vom ICT Y zu 20 Jahre Haft verurteilt, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Siehe Jergovi ć (1997) und . Abgerufen am 21.9.2008. 41 | Omarska ist der Name eines Dorfes, wird jedoch im landläufigen Jargon als Bezeichnung für das Todeslager verwendet, welches sich direkt neben dem Dorf Omarska befand. Dazu Greve (1994: 56), die Berichterstatterin der UNO: »Logor Omarska seems
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Mitglieder der Intelligenzija (Richter und Richterinnen wie eine der Interviewpartnerinnen, Lehrpersonen, politische Persönlichkeiten wie der ehemalige Bürgermeister der Stadt etc.) systematisch gefoltert und ermordet. Die Internierten waren jederzeit Hunger, Vergewaltigungen, Folter und Ermordungen ausgesetzt. Infolge der miserablen hygienischen Bedingungen litten sie unter diversen Krankheiten und massivem Gewichtsverlust. Die Überlebenden dieses Lagers leiden teilweise noch heute unter den Lagererlebnissen (siehe u.a. Zeugenberichte von Überlebenden Cigelj 2006; Hukanović 1998; Pervanić 1999). Abbildung 3: Das Fabrikgelände der Rudnika Ljubija in Omarska – Mai 2005/© A. Sieber
Das zweite Lager, genannt ›Keraterm‹, liegt in Prijedor Stadt an der Verbindungsstraße nach Banja Luka und prägt das Stadtbild von Prijedor durch seinen großen roten Kamin. In dieser früheren Keramikfabrik wurden die restlichen Männer interniert und unter ähnlich schrecklichen Bedingungen wie in ›Omarska‹ systematisch gefoltert und ermordet. Wegen Nahrungsmangel litten die Insassen unter Hunger und Dehydration. Krankheiten grassierten, und jede Nacht verschwanden Insassen spurlos. Das dritte Lager mit Namen ›Trnopolje‹ lag in einem Schulgebäude in Trnopolje, einem Prijedorer Vorort. Zu Beginn waren dort mehrheitlich Frauen, Kinder und alte Männer interniert, nach der to indicate that it was more than anything else a death camp.« Die Interview- und Gesprächspartner/innen sprachen während der Feldforschung jeweils von Logor (dt. Lager). Im Folgenden wird dieser Begriff in deutscher Übersetzung benutzt oder es wird mit den Anführungszeichen ›Omarska‹ auf das Lager und nicht auf das Dorf verwiesen.
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Schließung von ›Omarksa‹ und ›Keraterm‹ wurden Insassinnen und Insassen dieser beider Lager nach ›Trnopolje‹ verlegt. Das Lager gehörte zum Zuständigkeitsbereich von Slobodan Kuruzović42 , einem Mitglied des Prijedorer Križni Štab. Im Lager, das als offenes Gefängnis bezeichnet wurde, litten die Insassinnen und Insassen unter dauernder Angst vor Vergewaltigungen und Mord. ›Trnopolje‹ wurde als letztes der drei Lager geschlossen. Über die Anzahl der Gefangenen in diesen Lagern sind sich die Berichterstatter der UNO und die Journalisten weitgehend einig. Greve (1994: 47) und auch Wesselingh (2005) sprechen von 2000 bis 7000 allein in ›Omarska‹, darunter 37 Frauen (vgl. auch Gutman 1994: 143). In ›Keraterm‹, der Aussenstation von ›Omarska‹, waren bis zu 1500 Männer interniert, zu keiner Zeit Frauen (Greve 1994: 56). In die Räume von ›Trnopolje‹ wurden zeitweise bis zu 7000 Gefangene gepfercht (Greve 1994), mehrheitlich Frauen, Kinder und alte Menschen. Als anfangs August 1992 die Journalisten Roy Gutman von der us-amerikanischen Zeitung Newsday und Ed Vulliamy von der britischen Zeitung The Guardian die Existenz der drei Konzentrationslager ›Omarska‹, ›Keraterm‹ und ›Trnopolje‹ mit Bildern und Details publik machten, war die Weltöffentlichkeit zutiefst schockiert (Gutman 1993; Vulliamy 1992). Besonderes Entsetzen rief die Existenz von Vergewaltigungslagern hervor, in welchen die Opfer über längere Perioden (Massen-)Vergewaltigungen ausgesetzt waren. Die Berichte über die Existenz solcher Lager brachten Bewegung in die internationale Politik. Die bosnisch-serbischen Kriegsherren mit ihrem Führer Radovan Karadžić wurden unter internationalen Druck gesetzt, womit die internationale Gemeinschaft vorerst die Schließung von ›Omarska‹ und ›Keraterm‹ erwirkte. Viele der Gefangenen überlebten jedoch das Ende dieser beiden Lager nicht. Noch heute gelten über 3.300 Menschen aus der Gemeinde als vermisst. 228 Insassen aus ›Omarska‹ wurden kurz vor Ankunft der internationalen Beobachter mit Sondertransporten in die Berge (Vlašić) gebracht und dort ermordet. Die Lager sowie die ethnischen Säuberungen dienten der endgültigen Vertreibung der gesamten nicht-serbischen Bevölkerung: »What happened in Prijedor resembles genocide in that the aim for this criminal campaign was to destroy the Croat and Muslim communities of Prijedor. The crimes were committed to ensure that these two communities would no longer exist in Prijedor: their houses, their places of worship, were destroyed […]. The bodies of those who had 42 | Slobodan Kuruzovi ć war von Beruf Lehrer in der Stadt Prijedor. Er führte als stellvertretender Direktor eine Grundschule und waltete als Direktor von Radio Prijedor. Bis zu seinem Tod im Jahre 2005 lebte er unbehelligt in der Stadt und konnte sich dort unbestraft frei bewegen, trotz seiner Rolle während des Krieges (. Abgerufen am 15.10.2008).
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been executed were even hidden to make sure that none of these people would have any reason for coming back: no house, no mosque or church, not even a grave where they could mourn their relatives.« (Ankläger Nicholas Koumjian vor dem ICT Y in Den Haag, < www.icty.org/case/stakic/4>. Abgerufen am 21.4.2007.)
Der bosnische Krieg bewirkte, dass das Thema der Vergewaltigungen in Kriegssituationen auf die Agenda der internationalen Gemeinschaft und der Wissenschaft gesetzt wurde.
3.4.3 Der vergeschlechtlichte Krieg Nationalistische und ethnische Gefühle nahmen also, wie gesehen, nach Titos Tod im Mai 1980 und vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise stetig zu. Für das Thema vorliegender Studie besonders aufschlussreich ist aber auch, dass sich die Propagandamaschinerie nicht nur der Instrumentalisierung des ethnischen Selbst und des ethnischen Anderen bediente, sondern fast noch spezifischer der Frauen und Männer resp. der Geschlechterdifferenz (West 1997; Yuval-Davis 1997): »Notions of femininity and masculinity and norms of heterosexuality […] are the basic ingredients without which ethnicity could never have been produced, without which the process of production itself would have remained unintelligible. We would make little out of national myths, practices of ›ethnic cleansing‹ or stories about motherland, were they not conveyed through images of chaste maidens, refugee women, or brave soldiers.« (Žarkov 1999: 8-9)
Die Verbindung zwischen Nationalismus und Geschlecht lässt sich am Bosnienkrieg besonders deutlich nachvollziehen (siehe auch Verdery 1996; Wilmer 2002: 211-238). Die essentialisierende Konstruktion der Mütterlichkeit und der weiblichen Reproduktionsaufgabe sowie das männliche Pendant des starken Mannes, der die Frau und die Nation beschützen und verteidigen soll, waren für die Durchführung der nationalen Projekte in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens von großer Bedeutung und halten sich auch in der Nachkriegszeit hartnäckig (Bracewell 1995; Drakulić 1993; Jalušić 2004; Žarkov 2005). An dieser Stelle soll aber auch daran erinnert werden, dass sowohl die Kategorie der ›Frauen‹ als auch diejenige der ›Männer‹ komplexe, heterogene und vielfältige Kategorien darstellen, in denen beide Geschlechter sowohl als unterschiedliche Akteure auftraten, als auch unterschiedliche Symbole darstellen. Nicht alle Männer waren Soldaten, und es gab auch Frauen, die mit ihren politischen Stimmen die nationalistische Politik tatkräftig unterstützten. Es gab Soldatinnen und Täterinnen und als Journalistinnen unterstützten auch Frauen die Medienpropaganda der nationalistischen Regime wie (nicht alle) Männer es auch taten (Elsthain
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1995 [1987]; Kešić 1999: 188). Die Frauenbeteiligung am Krieg blieb allerdings ein verstecktes Phänomen. So waren es auch mehrheitlich Frauen, die ihre kritische Stimme gegen den Krieg erhoben und sich in Friedensbewegungen43 zusammen geschlossen haben. Es sind diese mehrheitlich von Frauen dominierten Friedens- und Antikriegsbewegungen, die das Bild der Feminisierung des Friedens und der Maskulinisierung des Krieges stärkten (Wilmer 2002: 218). Während die Männer als Soldaten, Politiker und aktive Verteidiger des nationalen Territoriums betrachtet werden, symbolisieren die Frauen die passive (feminine) Nation, deren Körper und Ehre von den Männern verteidigt werden müssen. Durch die Kriege der 1990er Jahre wurden in dieser Logik die Mütterlichkeit (über-)betont, die Frauen angehalten, viele Kinder zu gebären sowie die Abtreibungsrechte und diverse soziale Einrichtungen abgeschafft (dazu Bracewell 1996; Drakulić 1993; Mostov 1995). Auf diese Weise wurden die aktiven Rollen der Frauen auf ihre reproduktiven Aktivitäten reduziert, auf das Gebären und Erziehen loyaler Mitglieder der neuen Nationen (Yuval-Davis et al. 1989). Beide Körper, sowohl der männliche als auch der weibliche, fungieren durch die Symbolik als kulturelles Zeichen. Als Soldat repräsentiert der männliche Körper den Staat oder die Nation, der weibliche Körper wird zur symbolischen Repräsentation des Volkskörpers. Bezüglich des Volkskörpers denke man an die Helvetia als Symbolbild der Schweizerischen Eidgenossenschaft, an Marianne von Frankreich oder die Freiheitsstatue der USA. Dies bedeutet wiederum, dass die Gewalt, die an Frauen verübt wird, auf die Integrität der betroffenen Gruppe oder des Staates abzielt, und dass die Kriegsvergewaltigung an Frauen als symbolische Vergewaltigung des Volkskörpers verstanden werden kann (Seifert 1995). Vor diesem Hintergrund wurden die systematischen Kriegsvergewaltigungen der Frauen als Kontrollverlust (der Männer) über die weibliche Sexualität gedeutet, gleichzeitig als Demütigung, Beschmutzung und Verunreinigung der eigenen Nation und des nationalen Territoriums44 (vgl. Bracewell 1995; Mežnarić 1994; Yuval-Davis et al. 1989). Nach Hayden (2000: 32) erhält Vergewaltigung dann eine besondere Bedeutung, wenn die Ehre der (nationalen) Gruppe durch die Ehre der Frauen und die Männlichkeit der Männer bedingt ist. Durch die Vergewaltigungen der Frauen wird die Männlichkeit der Männer 43 | Wichtige Antikriegskampagnen, darunter auch die Organisation »Frauen in Schwarz« in Belgrad (Cockburn 1998; Mili ć 1993), wurden von Frauen wie Vesna Peši ć , Vesna Teršeli ć oder Nataša Kandi ć in Belgrad und Zagreb ins Leben gerufen. Letztere begründete bereits im Jahre 1992 in Belgrad das »Zentrum für Menschenrechte«, das sich der Aufklärung der Kriegsverbrechen annahm. Für eine Ausführung der Antikriegsbewegung in Belgrad wird u.a. auf Udovi ć ki (2000) und Wilmer (2002) verwiesen. 44 | Für die Diskussion über die Gewaltausübung an Männern sowie die starken Männlichkeitsstereotype in der Literatur über Bosnien siehe unter anderem Helms (2006) und van de Port (1998).
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verletzt oder sogar in Frage gestellt, da diese scheinbar nicht in der Lage sind, ihre Frauen ausreichend zu schützen. Die Körper der Frauen werden dadurch zu einem effektiven Kommunikationsmittel zwischen den in Konflikt stehenden männlichen Gruppen (Das 1995: 56; Seifert 1995).45 Die Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien wurden in einem »soziobiologischen« Verständnis (Borneman 1998) wahrgenommen: Die Vergewaltigungen verfolgten das Ziel, die Opfer zu schwängern, um die Gene ihrer ethnischen Gruppe zu verunreinigen. Damit wurde die Rolle der Frau als Reproduzentin der Nation sinnlogisch zu Ende geführt. »One woman reported being warned that her child would one day kill her, with the implication that the nationality of a child comes from the father while the mother is merely a carrying vessel.« (Helms 2003a: 72)
Aufgrund der patrilinearen Verwandtschaftsregel, die besagt, dass sich die Kinder mit den Vätern identifizieren, fand dieses Ziel verbreitete Anerkennung (Mostov 1995). Die Verflechtung von Nationalitäts-, Geschlechter- und Sexualitätsdiskursen ist somit ein effektives Instrument, die ethnische Kriegsführung voranzutreiben. Für Hayden (2000) wird Vergewaltigen in dieser Logik zu einer Methode, welche die zwischen-ethnischen Beziehungen für immer zu trennen sowie die Vorstellung eines zukünftigen gemeinsamen Lebens zu verunmöglichen vermag. Der vergewaltigte Frauenkörper ist demzufolge ein ethnischer und ein weiblicher Körper zugleich, in welchen die Bedeutungen der nationalen Verletzungen eingeschrieben werden (vgl. Žarkov 1995). »Thus rape defines the female body as the land on which it resides, and it separates the two, simultaneously. As such, rape marks the female body as ethnic territory. It is a founder of the new ethnic geography, remapped, renamed and reclaimed through the female body.« (Helms 2003a: 73)
Mit dieser neuen »ethnischen Geografie« wurde das europäische Ideal des Nationalstaates – eine Nation, ein Staat – ethnisch definiert (Anderson 1996; Borneman 1998; Gellner 1983; Hayden 1996b). Die Frauen in Bosnien-Herze45 | Hier soll keineswegs der Eindruck entstehen, die Vergewaltigungen im Bosnienkrieg stellten eine rein frauenspezifische Problematik dar. Diese Art sexueller Gewalt wurde häufig auch gegen Männer eingesetzt, die Auswirkungen auf die Männer sind bis anhin allerdings eher spärlich dokumentiert. Nach wie vor werden männliche Stereotype eher unkritisch diskutiert und Männer einzig als Täter und nicht als Opfer dargestellt. Zur ausführlichen Diskussion der Vergewaltigung von Männern siehe Žarkov (1995, 1997).
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gowina, und noch spezifischer die bosniakischen Frauen, wurden damit zu den Opfern und gleichzeitig zum Symbol der ethnisch bedingten Gruppenviktimisierung. Obwohl die Fakten und Zahlen rund um die Vergewaltigungen im Bosnienkrieg umstritten sind, deutet viel darauf hin, dass zumindest zu Beginn des Krieges in erster Linie muslimische und kroatische Frauen Opfer von Vergewaltigungen durch die Serben waren (Amnesty International 1993; Korać 1996; Stiglmayer 1993). Erst mit fortschreitendem Krieg erlitten auch serbische und kroatische (wie auch andere) Frauen und Männer Vergewaltigung. Auch wenn die nationalen Projekte der drei involvierten Gruppen auf unterschiedlichen historischen und geografischen Realitäten konstruiert wurden, sahen sich alle drei infolge ›ihrer‹ vergewaltigten Frauen als Opfer. Die internationale Gemeinschaft wie auch ein Großteil der wissenschaftlichen Literatur deuteten dieses Bild nach dem Krieg so, dass die Frauen als passive Opfer erschienen, und man sprach ihnen qua ihrer Opferrolle Verantwortlichkeiten ab. Damit wird eine Feminisierung der Opferidentität sichtbar, die ihr Gegenstück in der korrupten, gewalttätigen und männlichen (Täter-)Politik findet. Erst diese Konstruktion rückt die Frauen ins Zentrum der Bemühungen um den Wiederaufbau und kürt sie zu Trägerinnen des Versöhnungsprozesses. Den Frauen wurde also innerhalb der konkurrierenden Nationalismen höchstens ein Spielraum für ihr friedfertiges Potential und für anti-politische Aktivitäten zugesprochen. In Zusammenhang mit der feminisierten Opferidentität wird heute die den Frauen zugeteilte Rolle als zwischen-ethnische Konfliktvermittlerinnen und Friedensstifterinnen an der Basis ihrer Gesellschaft gefördert (vgl. Reimann 2000). Eine Zuschreibung, die eine höchst ambivalente Aufgabe für die Frauen und ihre Rolle in der Nachkriegsgesellschaft mit sich bringt. In den nachfolgenden Falldarlegungen und Fallanalysen wird diese Ambivalenz von Interesse sein.
3.5 S TRUK TURPROBLEMATIK DER BOSNISCHEN N ACHKRIEGSGESELLSCHAF T Im November 1995 wurde unter starkem Druck der USA in Dayton, im amerikanischen Bundesstaat Ohio, das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina ausgehandelt46. An den Verhandlungen nahmen die Republik BosnienHerzegowina, die Republik Kroatien und die Bundesrepublik Jugoslawien teil. Am 14. Dezember 1995 wurde das Abkommen von den damaligen Präsidenten dieser drei Staaten, Izetbegović, Tuđman und Milošević, unterzeichnet. Ironie 46 | Die Erläuterungen zum Friedensvertrag berufen sich vorwiegend auf Bose (2002) und Chandler (2000), auf die Artikel von Cox (1998), Krizan (1996, 1998), Schönfeld (1996) sowie auf die Lizenziatsarbeit von Sieber (2001).
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des Schicksals war, dass die Kriegshetzer nicht nur über die Beendigung des Krieges befanden, sondern gleich noch eine Staatsordnung für das Land nach dem Krieg aushandelten (Bildt 1998: 392). Mit dem Abkommen erfolgte eine staatlich-politische Neuordnung des kriegszerrütteten Landes. Die Unterzeichner erteilten damit den Interventionsmächten und internationalen Organisationen – allen voran der NATO, der UNO und der OSZE – die Vollmacht über den Staat Bosnien-Herzegowina, was einer weitgehenden Fremdbestimmung gleichkam (Križan 1996: 315).
Die Auswirkungen des Friedensabkommens von Dayton Der Friedensvertrag von Dayton stellt eine der kompliziertesten Verfassungen der Geschichte dar. Nicht nur, dass sie der internationalen Gemeinschaft mit dem sogenannten Hohen Repräsentanten47 weit reichende autoritäre Vollmachten einräumt, es sollte mit der Verfassung auch die ethnische Säuberung rückgängig gemacht und auf Basis demokratischer Strukturen eine kulturell pluralistische Gesellschaft wiederhergestellt werden. Das Resultat des Friedensvertrags wurde bereits früh nach deren Umsetzung als Parodie der Demokratie verspottet, weil »sich die internationale Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina mit der Unmöglichkeit konfrontiert [sieht], Demokratie in eine Region einzuführen, wo der Großteil der Bevölkerung dem Projekt seine Zustimmung verweigert« (Hayden 2002: 251). Ein Grund der Verweigerung liegt beispielsweise darin, dass der Vertrag regelmäßige Wahlen vorschreibt, die Ergebnisse dieser Wahlen vom Hohen Repräsentanten aber nicht beachtet und eingehalten werden müssen. Er ist befugt, demokratisch gewählte Minister, Richter, Bürgermeister etc. des Amtes zu entheben, wenn sie den demokratischen Ansprüchen der internationalen Gemeinschaft nicht entsprechen. Zudem kann er neue Gesetze erlassen, Gesetze gegen den Widerstand des Parlamentes durchsetzen und neue Behörden schaffen (prägnant dazu bei Hayden 2002). Aufgrund seiner weit reichenden Autorität drängt sich der Vergleich zwischen dem Hohen Repräsentanten und der ehemaligen Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens KPJ auf – beide vereinig(t)en den Großteil der politischen Macht auf sich, die lokalen Politiker und die Bürger hatten resp. haben keinen tatsächlichen Einfluss auf die Entwicklungen und deshalb auch wenig Interesse, sich politisch zu engagieren.
47 | Der Hohe Repräsentant wird von der internationalen Gemeinschaft ernannt. Er darf per Definition weder ein bosnischer Staatsbürger sein, noch der Kontrolle der Staatsbürger von Bosnien unterliegen. Zur Zeit der Feldforschung hatte der Brite Lord Paddy Ashdown das Amt inne, ihm folgte im Jahr 2006 der Deutsche Christian Schwarz-Schilling. 2007-2009 besetzte der Slowake Miroslav Laj č ák das Amt, seit 2009 Valentin Inzko aus Österreich.
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Der merkwürdige Sachverhalt, dass dem Großteil des Volkes ein Protektorat gegen seinen Willen aufgezwungen wird, zeigt sich auch am Spott, die Internationalen in Bosnien wollten eine »Multi-multi«-Bevölkerung etablieren (Feldnotizen 3, aber auch bei Hayden 2002). Die internationale Gemeinschaft verfolgt hartnäckig das Ziel, eine multi-ethnische, multi-religiöse und multisprachliche Identitätstoleranz durchzusetzen, und dies um jeden Preis. Ob aber dieses ›Multi-multi‹ auch sinnvoll für diejenigen ist, die darin leben, hinterfragen die Internationalen nicht. Eine besondere Stellung für die Umsetzung der ›Multi-multi-Identitätstoleranz‹ scheinen die Frauen einzunehmen. Von den Friedensverhandlungen in Dayton/USA waren sie ausnahmslos ausgeschlossen (Lithander 2000). Diese offizielle Nichtbeteiligung an der ›Friedensfindung‹, aber auch das scheinbare Unbeteiligtsein am Krieg und an nationalistischen Aktivitäten48 ermöglichen es heute, dass man den Frauen in der Nachkriegszeit eine moralische Makellosigkeit zuspricht und sie diese für sich selbst auch beanspruchen können. Aufgrund dieser Zuschreibungen scheinen sie am ehesten in der Lage zu sein, zentrale Aspekte des Friedensabkommens umzusetzen. Die im Friedensvertrag festgelegten Aufgaben der zwischenethnischen Versöhnung und der Unterstützung der Minderheitenrückkehr (OHR 1995: Annex 7) entsprechen dabei dem Frauenbild, das man bereits vor dem Krieg, aber besonders auch während des Krieges zeichnete. Viele der Interviewpartnerinnen bedienten sich des ›essentialistischen‹ Argumentariums, sie könnten als Frauen und Mütter, die in Nichtregierungsorganisationen ausschließlich mit anderen Frauen arbeiteten, humanitäre, apolitische und demnach ehrenwerte Arbeiten für den Wiederaufbauprozess leisten. Ganz anders als das die männerdominierte, schmutzige Politik tun könne. Diese Haltung widerspiegelt sich im oft gehörten Ausdruck Politika je kurva (dt. Die Politik ist eine Hure). Eine Lesart dieses Ausdrucks verdeutlicht, dass die Politiker käuflich seien. Eine andere hingegen, dass eine moralisch reine und sich korrekt verhaltende Frau im politischen Bereich nicht erwünscht ist (vgl. Helms 2007). Dadurch, aber auch durch das viel diskutierte Gendermainstreaming der internationalen und lokalen (Nichtregierungs-)Organisationen, wird den Frauen eine Schlüsselrolle für den Wiederaufbau des sozialen Geflechts zuteil (vgl. Baines 2004; Cockburn 1998; Cockburn et al. 2001; Helms 2003b). Eines der Hauptprobleme und größten Hindernisse des Friedensvertrags von Dayton ist sicherlich, dass er sich für die Etablierung eines funktionsfähigen, demokratischen Staates nicht eignet. Staatsbildungsprozesse waren 48 | Eine Ausnahme ist Biljana Plavši ć , ein Mitglied der bosnischen Vorkriegsregierung und spätere Präsidentin der Serbischen Republik, die am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag 2003 zu einer elf jährigen Haftstrafe infolge Kriegsverbrechen verurteilt wurde (Fall IT-00-39&40/1, . Abgerufen am 25.8.2006).
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deshalb auch im Jahr der Feldforschung immer noch unvollendet, öffentliche Institutionen funktionierten nicht befriedigend. Der Gesamtstaat ist bis heute schwach ausgebildet, dafür sind die mit dem Friedensvertrag implementierten zwei Entitäten, die serbische Republik RS und die Föderation Bosnien-Herzegowina FBiH, als zwei unabhängige Sub-Staaten stark. Diese beiden Sub-Staaten verfügen zudem über gänzlich unterschiedliche Strukturen. Während die Republika Srpska als zentralistisches System funktioniert, ist die bosniakischkroatische Föderation ein föderalistisches, in Kantone gegliedertes Gebilde. Auf beiden Staatsebenen (Gesamtstaat sowie die RS und FBiH) existieren deshalb unterschiedliche Administrationen und Parlamente und oft auch inkompatible Regelungen. Damit ist Bosnien nicht nur ein unüberschaubares, kompliziertes Gebilde, sondern ebenso ein träges und enorm teures, weil praktisch alles dreifach unterhalten werden muss. Eine Reform der Verfassung ist deshalb dringend notwendig (Fischer 2007). Im Jahre 2006 scheiterte jedoch der vorerst letzte Versuch, die Verfassung zu reformieren. Die dafür mitverantwortlichen bosniakischen Zentralisten (Muslime), die kroatischen Föderalisten, aber auch die radikal serbischen Nationalisten verunmöglichen mit ihrer Opposition dreierlei: eine Vereinfachung und Verbilligung der staatlichen Strukturen, die Stärkung des Gesamtstaates und die Überwindung der auf ethnischen Kriterien beruhenden Trennung der drei konstitutiven Gruppen (der serbischen, der kroatischen und der bosniakischen). Damit ist absehbar, dass die Ethnisierung der Politik und die Ethnisierung der sozialen Segregation bis auf weiteres zementiert werden (Sieber 2007). Diese Entwicklungen haben einen harscheren und nationalistischeren Ton der politischen Diskussionen zur Folge. Auch die Resultate der Wahlen im Jahre 2006 tendierten in diese Richtung. Obwohl die drei ethnopolitischen (Kriegs-)Parteien HDZ, SDA und SDS Stimmen verloren, konnten sich andere nationalistisch ausgerichtete Parteien durchsetzen. »Traditional hardliners were replaced by new, more fashionable nationalists« (Fischer 2007: XII). Die mit dem Friedensabkommen eingeführte Paradoxie besteht deshalb auch noch zehn Jahre nach der Unterzeichnung: Die internationale Gemeinschaft fördert die zwischen-ethnische Kooperation, währenddem die bosnische Politik die Trennung der konstitutiven Gruppen laufend festschreibt. Ein überethnischer Nationenbegriff hat sich deshalb nicht etablieren können, die konfliktgeladene Dynamik zwischen den ethnischen Gruppen hält an. Die Nationalstaatenbildung ist nach wie vor und primär ethnisch geprägt (Hornstein Tomić 2008). Als Ausweg aus diesem Dilemma gilt allen Seiten ein Beitritt zur Europäischen Union. Die Aussicht auf einen EU-Beitritt ist für die Entwicklung Bosnien-Herzegowinas enorm wichtig: »It can have an important psychosocial impact on the respective societies, which in turn can serve as an incentive for democratic reforms« (Fischer 2007: X). Um diesen Effekt zu zeigen, muss ein EU-Beitritt aber eine fassbare Option darstellen. Ein konkretes, transparentes Vorgehen sei-
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tens der EU mit glaubwürdigen und erreichbaren Zielen müsste mit den Vorstellungen der bosnischen Bevölkerung in etwa übereinstimmen. Die EU sollte einen ganzheitlichen Plan vorweisen, der sowohl die ökonomische Entwicklung als auch die Unterstützung der Zivilgesellschaft und den Aufbau der Institutionen beinhaltet. Auch wenn die EU bereits Anstrengungen in diese Richtung unternommen hat, ist das Engagement bis anhin noch zu wenig fortgeschritten und glaubwürdig (Fischer 2007: V-XIV). Allerdings hat jedes EU-Engagement auch seine Grenzen. Eine solche Grenze besteht ganz sicherlich darin, dass ein externer Beistand für die Konflikttransformation zwar eine gute Ausgangslage schaffen, die Transformation aber nicht umsetzen kann. Den sozialen Wiederaufbau muss die bosnische Gesellschaft selbst bewerkstelligen, das kann niemand anderer übernehmen. Gerade in dieser Hinsicht zeigen sich im Bereich der Politik in Bosnien bis anhin keine Fortschritte: Das Stichwort Versöhnung ist im Vokabular der politischen Entscheidträger in den Regierungen und Parlamenten zwar vorhanden, ein tatsächliches Engagement fehlt aber weitgehend. »Dealing with the past is still avoided at such levels, particularly as this relates to fact-finding and public debates that force politicians to deal with their own responsibility for past violence« (Fischer 2007: X). Diese Problematik zeigt sich beispielsweise daran, dass während der Feldforschungszeit Zahlen zu Kriegsopfern, Vertriebenen und Rückkehrerinnen und Rückkehrer nicht erhältlich oder derart unterschiedlich waren, dass dahinter Spekulationen vermutet werden müssen. Politische Manipulationen mit Hilfe solcher Zahlen sind an der Tagesordnung und den Bürgerinnen und Bürgern kein unbekannter Mechanismus, wurde er doch wie gesehen bereits nach dem Zweiten Weltkrieg von den damaligen Machthabern benutzt. Seriöse Untersuchungen über Opfer- und Vermisstenzahlen wären aber für den Umgang mit der Vergangenheit und das Verhindern neuer Mythen wichtig49 . Zudem gibt es für viele Leidtragende des Krieges weder staatliche Anerkennung noch Unterstützung, unter anderem, weil es keine offiziellen Opferkategorien gibt. Ganz besonders leiden darunter die vergewaltigten und gefolterten Frauen. Erst nach meinem Feldaufenthalt stellte sich diesbezüglich eine Veränderung ein. Der im Jahre 2006 an der Berlinale prämierte Film »Grbavica – Esmas Geheimnis« von Jasmila Žbanić wurde zwar in der serbischen Republik boykottiert, hatte auf gesamtstaatlicher Ebene aber immerhin zur Folge, dass vergewal49 | Laut einer Studie, die im Jahre 2007 vom unabhängigen Forschungs- und Dokumentationszentrums RDC durchgeführt wurde, sind im jüngsten Krieg 97.279 Personen umgekommen und nicht wie bisher angenommen um die 200.000. Etwas über zwei Drittel der Opfer sind Bosniakinnen und Bosniaken, etwa ein Viertel Serbinnen und Serben und rundachtProzent Kroatinnen und Kroaten. Rund 40.000 der Kriegsopfer waren Zivilisten und 57.000 Bewaffnete. Nur knapp 10 Prozent der Toten sind weiblichen Geschlechts (. Abgerufen am 24.06.2007).
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tigte Frauen offiziell als Kriegsopfer oder Kriegsinvalide anerkannt wurden. Ein kleiner Fortschritt in die richtige Richtung. Zusätzlich zum fehlenden politischen Willen zeigt sich aber auch in der Bevölkerung ein mehrheitliches Desinteresse am Umgang mit der Vergangenheit. Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen unternehmen zwar einzelne Anstrengungen in diese Richtung, sie fristen aber immer noch ein Nischendasein. Diese Problematik wird anhand der Falldarlegungen und -analysen ausführlich thematisiert.
Die Auswirkungen der Rückkehrmigration Das soziale Gefüge wird durch die aktuelle unsichere Situation in Region und Land weiterhin destabilisiert. Ganz besonders sind davon die Rückkehrenden in Minderheitenregionen betroffen. Eine solche Region stellt die Gemeinde Prijedor dar. Mit der großen Rückkehrwelle in den Jahren 2001 und 2002 sind je nach Schätzungen ein Viertel bis die Hälfte der bosniakischen Vertriebenen wieder an ihre Herkunftsorte zurückgekehrt50. Es sind die vor dem Krieg vorwiegend von muslimischen Bosnierinnen und Bosniern bewohnten Dörfer und Quartiere, die vom emsigen Treiben des Wiederaufbaus geprägt sind: Hambarine, Ljiubja, Rizvanovići, Rakovćani. Aber auch Kozarac, die ehemalige ›kleine Schweiz‹, gilt als Vorzeigebeispiel, wenn es um den Wiederaufbau eines dem Erdboden gleichgemachten Dorfes geht. Die Gemeinde Prijedor wurde deshalb als erfolgreiches Beispiel einer Minderheitenrückkehrerregion in die Diskussionen eingeführt (z.B. bei OSCE 2006). Im Vergleich zu anderen Regionen sind verhältnismässig viele Vertriebene in die Gemeinde zurückgekehrt, jedenfalls mehr als beispielsweise nach Srebrenica.51 Dafür kommen mehrere Gründe in Frage. Zum einen kann die geografische Lage der Gemeinde den Ausschlag geben: Prijedor liegt weiter weg vom Nachbarstaat Serbien als beispielsweise das grenznahe Srebrenica. Aufgrund dieser Lage scheint es einfacher, sich in Richtung Bosnien und der Föderation zu orientieren. Viele der Rückkehrenden lebten zudem während der ersten Jahre nach ihrer Rückkehr in Sanski Most, der nächst größeren Stadt in der Föderation. Kontakte zu diesem Ort sind aufgrund der Nähe einfacher aufrechtzuerhalten. Aber auch die demografische Struktur der Gemeinde kann ausschlaggebend für die ›erfolgreiche‹ Rückkehrbewegung sein. Vor dem Krieg waren viele Dörfer der Gemeinde ethnisch homogen. Die Rückkehr in ein Dorf, in welchem Menschen mit gleichem ethnischen Hinter50 | Wie bereits angesprochen, variieren die Zahlen zu den Rückkehrerinnen und Rückkehrern je nach Quelle: Vertreter/innen lokaler Nichtregierungsorganisationen und des UNHCR nannten zwischen 8000 und 25.000 Rückkehrer/innen. 51 | Laut dem UNHCR kehrten im Jahre 2002 rund 10.000 Bosniakinnen, Bosniaken, Kroatinnen und Kroaten nach Prijedor zurück, nach Srebrenica hingegen lediglich 600 Bosniakinnen und Bosniaken.
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grund und vor allem mit ähnlichen Kriegserlebnissen leben, scheint einfacher zu sein als die Rückkehr in eine gemischte Region. In diese Richtung deutet auch der Umstand, dass sich die Rückkehr in ethnisch gemischte Quartiere in der Stadt Prijedor weitaus schleppender gestaltete als beispielsweise jene nach Kozarac (Wesselingh und Vaulerin 2005: 93). Sicherlich ist aber auch von Bedeutung, dass zentrale Kriegsverbrecher aus der Region zur Rechenschaft gezogen wurden. Kriegsverbrecher aus der Gemeinde Prijedor waren unter den ersten, die von internationalen Truppen gefangen und vom ICTY angeklagt und verurteilt wurden – auch wenn sich einige immer noch (oder wieder!) frei in der Stadt bewegen können. Die Verhaftungen und Verurteilungen vermittelten den Rückkehrenden ein Gefühl der Sicherheit. Sicherlich war aber auch zentral, dass in den Jahren der großen Rückkehrwelle Nada Ševo das Amt der Bürgermeisterin übernahm – eine der wenigen politisch aktiven Frauen. Sie war kein Mitglied der nationalistischen SDS. »Nada Ševo had the courage to throw in her lot with largely Muslim parties to make Prijedor the ›town of return‹ and spread the theme abroad« (Wesselingh und Vaulerin 2005 : 95). Wie das UNHCR (2002) zudem zu Recht in einem seiner Berichte festhält, sind auch zentrale politische Figuren für die Förderung der Rückkehr relevant. Für die bosniakischen Rückkehrerinnen und Rückkehrer nach Prijedor fungieren Sead Jakupović und Muharem Murselović als Leitfiguren, aber während der Feldforschungszeit vor allem auch Azra Pašalić, die Vorsitzende der Gemeinderatsversammlung von Prijedor. Doch trotz dieser von der internationalen Gemeinschaft als erfolgreich bezeichneten Rückkehr und einer Normalisierung allein durch die Tatsache, dass der Krieg vorüber war, entwickelte sich die Situation in den Jahren vor 2005/06 eher wieder zum Schlechteren: Mit Marko Pavić wurde 2004 erneut ein SDS-Hardliner ins Amt des Bürgermeisters gewählt, der bei der Übernahme Prijedors im Jahre 1992 eine wichtige Funktion übernommen hatte.52 Damit wurden die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen erneut von großem Misstrauen, Angst und einem starken Gefühl der Unsicherheit geprägt. Unsicherheit und Misstrauens sind aber nicht zuletzt auch auf die »kommunale Gewalt« (Scheper-Hughes und Bourgois 2004: 12) während des Krieges zurückzuführen, die die vor dem Krieg zentralen Austausch- und Unterstützungsbeziehungen grundlegend zerstörte oder veränderte. Es wird deshalb je länger, je mehr auf die Notwendigkeit einer Versöhnung der kriegsversehrten Gesellschaft hingewiesen. Die Rückkehrbewegungen und die Demokratisierung der zerrissenen Gesellschaften allein reichen für die Versöhnung noch nicht aus. Dafür wären weitergehende Maßnahmen zu ergreifen: »While democracy compromise produces solutions regarding issues in conflict, reconciliation addresses the relationships between those who will have to implement those solutions!« (Bloomfield et al. 2003: 12). 52 | Bei den Wahlen 2008 wurde Marko Pavi ć in seinem Amt bestätigt.
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Ein Blick auf Begriff und Konzept der Versöhnung Versöhnung ist ein komplexes Konzept, das sich in den vergangenen Jahren im Jargon internationaler Geldgeber als Dachbegriff etabliert und sich zu einer der vier wichtigsten Kategorien des internationalen Engagements in kriegsversehrten Gesellschaften entwickelt hat: Nach der politischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Unterstützung folgt bereits die Versöhnung – noch vor der Herstellung von Sicherheit (Smith zit.n. Bloomfield 2006: 5). Trotz dieses Stellenwerts besteht aber über die Definition des Begriffs wenig Einigkeit, ebenso wie theoretische Konzeptualisierungen bis anhin nur schwach ausgebildet sind53 . Kritisiert wird von manchen Autoren die christliche Konnotation, die dieser Begriff mitbringe (Chayes und Minow 2003). Die Kritiker plädieren für den Begriff der Koexistenz anstelle der Versöhnung. Da in Bosnien aber vorwiegend von Versöhnung gesprochen wird, ohne damit das christliche Vergeben zu meinen, sondern viel eher die individuelle Verantwortung für Krieg und Gewalt, wird hier dieser Begriff verwendet. Meist wird mit ›Versöhnung‹ ein umfassender Prozess bezeichnet, der die Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Heilung beinhaltet (Bloomfield et al. 2003: 12). Uneinigkeit in der Definition besteht deshalb, weil Versöhnung sowohl das Ziel als auch den Prozess darstellt, der es erreichen soll. In vorliegender Arbeit wird Versöhnung als Prozess, als ein Projekt des Aufbruchs und des Weggangs von der Gewalt verstanden, nicht als Erreichen eines permanenten Friedens oder harmonischen Zustands (Borneman 2002: 282). Vereinfacht gesagt, geht es beim Versöhnungsprozess um die Heilung erlittener Verletzungen, Verluste und Demütigungen auf der individuellen, der interpersonellen und der gesellschaftlichen Ebene (Fischer 2008: 2-4). Es ist ein Abkommen zwischen Subjekten, der Gewalt zu entsagen. Als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden und zur Vorbeugung eines erneuten Gewaltausbruchs gilt ein konstruktiver Umgang mit der gewaltsamen Vergangenheit. In der Literatur wird betont, dass Versöhnungsprozesse besonders in Gesellschaften von Nöten sind, die von ethnopolitischer Gewalt heimgesucht wurden und in denen die Kontrahenten nach dem Konflikt auf engstem Raum weiterhin koexistieren und kooperieren sowie gemeinsam eine Zukunft gestalten müssen (Bloomfield et al. 2003: 12; Fischer 2008). Problematisch ist aber, dass in solchen Konfliktkonstellationen »Menschen oft gleichermaßen Gewalt erlitten wie auch selbst ausgeübt, verantwortet oder unterstützt haben – viele sind also gleichermaßen Täter und Opfer« (Fischer 2008: 3). Um einen Rückfall in die gewaltgeprägte Vergangenheit zu vermeiden, sind unterschiedliche Mechanismen gefordert: die Dokumentation, Offenlegung und Strafverfolgung 53 | Zu den Problemen und den Definitionsdilemmata siehe auch Bar-Siman-Tov (2004), Bloomfield (2006), Lederach (2002), Rigby (2001) und Pankhurst (1999, 2008).
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der Kriegsverbrechen, die Kompensation für erlittenes Unrecht, die öffentliche Auseinandersetzung mit individueller und politischer Verantwortung und die Anerkennung von Leid. Es braucht aber auch Maßnahmen, welche die Heilung, Verständigung und Vertrauensbildung begünstigen und den Wiederaufbau sozialer Beziehungen und des Gemeinwesens ermöglichen (Fischer 2008). Folgende Punkte sind laut Bloomfeld (2003) für die Versöhnung zentral: Es handelt sich um einen langfristigen und tiefgehenden Prozess, der seine Zeit braucht und deshalb schwer beeinflussbar ist. Er zielt auf die Veränderung im Verhalten, den Annahmen, Emotionen, Gefühlen, vielleicht sogar im Glauben aller Mitglieder der betroffenen Gesellschaft. Die Denkmuster, die zur Gewalt geführt haben, müssen also umfangreich angegangen und verändert werden. Es sind sowohl einzelne Individuen wie auch die Gemeinschaft als Ganzes davon betroffen und es gilt, dass sich alle bezüglich Vorurteilen, Einstellungen und negativen Stereotypen des Feindbildes hinterfragen. Der Einbezug der Vergangenheit für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft ist also zentral. Denn es ist nicht möglich, die Vergangenheit zu vergessen oder sie beiseite zu schieben und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Der beste Wille und die größten Anstrengungen für eine friedliche Zukunft nützen nichts, wenn weder die zerbrochenen Beziehungen angegangen werden noch die Gründe für den Bruch. Versöhnung ist deshalb kein Hindernis für eine funktionierende Demokratie, sondern die Voraussetzung für das langfristige Implementieren einer Demokratie. Versöhnung ist zudem nie etwas Theoretisches, sondern geschieht immer in spezifischen Kontexten. Die Thematik des Umgangs mit der Vergangenheit und der Versöhnung wird in Teil III ausführlicher diskutiert. An dieser Stelle ging es um eine erste Begriffsdefinition, vor deren Hintergrund die nachfolgenden Falldarlegungen und -analysen gelesen werden können.
Teil II Vom Umgang mit der Vergangenheit
Nach dem theoretischen, dem methodischen und dem historischen Rahmen der Arbeit soll zu Beginn des zweiten Teils die Untersuchtengruppe präsentiert werden. Kapitel 4.1 legt dar, nach welchen Kriterien die Interviewpartnerinnen ausgewählt wurden und durch welche Merkmale sie sich charakterisieren lassen (Kapitel 4.2). Betrachtet werden das Alter der 32 Interviewten, ihre ethnoreligiöse Zugehörigkeit, der Zivilstand, die Anzahl Kinder, der höchste Ausbildungsgrad, die Erwerbstätigkeit und damit verbunden auch die Arbeitslosenzahlen. Da die Erhebung in einer Nachkriegsgesellschaft stattfand, in der viele Menschen von Flucht und Rückkehrmigration betroffen waren, sind auch die Fragen einzubeziehen, wie viele und welche der Befragten vertrieben wurden und wer wohin zurückkehren konnte. Auf diese Präsentation folgt die Diskussion der Unterstützungsnetzwerke (Kapitel 4.3). Der Blick richtet sich also von den interviewten Frauen auf ihre Bezugspersonen. Es wird von Interesse sein, wer genau die befragten Frauen sozial unterstützt, ob es vorwiegend Frauen oder Männer, Freunde oder Verwandte etc. sind. Ebenfalls leitend sind die Fragen nach der Rolle, welche die genannten Bezugspersonen einnehmen, nach der Homogenität der Beziehungsnetze und nach der Rolle der transnationalen Beziehungen. Schließlich wird auch die Frage nach der Multiplexität relevant sein. Eingeflochten in dieses Kapitel ist eine Darlegung des Verwandtschaftssystems und insbesondere der Verwandtschaftsbegriffe, welche die interviewten Frauen benutzt haben. Abgeschlossen wird Kapitel 4 mit einer Synthese zu den Aussagen der Netzwerkanalyse. In den darauf folgenden Kapitel 5 bis 9 werden fünf Fälle in ihrer Fallgeschichtlichkeit rekonstruiert, um die unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Vergangenheit darlegen zu können. Zentrale Überlegung für die Auswahl der Fälle war, dass sie sich eignen, um die komplexe Problematik der Prijedorer Nachkriegsgesellschaft in ihrer Breite zu exemplifizieren. Die Richterin Sivac (Kapitel 5) eröffnet den Reigen. Sie ist eine Rückkehrerin, die mit ihren Erlebnissen, aber auch ihrem professionalisierten Habitus die geeignete Person darstellen würde, den Versöhnungsprozess in der Gemeinde anzugehen. Dass ihr dies versagt wird, stellt nicht nur für sie persönlich, sondern für die gesamte Gesellschaft vor Ort eine Tragödie dar. Auf Frau Sivac folgt die Internvertriebene Frau Begovi ć (Kapiel 6), die als Kriegswitwe in der Nachkriegssituation mit ganz besonderen Hindernissen konfrontiert wird. Es ist eine große Belastung für sie, nicht zu wissen, was ihrem Ehemann während des Krieges widerfahren ist, und darin lässt sich auch der Grund sehen, weshalb für Fau Begović eine Versöhnung nur bedingt möglich ist. Ganz anders präsentieren sich die Fälle der Frauen Živkovi ć
(Kapitel 7) und Ivanovi ć (Kapitel 8). Sie lebten während der Kriegsjahre in Prijedor. Für beide ist in der Nachkriegszeit das Schweigen über die Ereignisse der adäquate Umgang mit der Vergangenheit, insbesondere, weil ihrer Meinung nach alle zu Opfer der Geschehnisse wurden. Damit thematisieren beide Frauen die Problematik der gesamtgesellschaftlichen Viktimisierung, die den sozialen Wiederaufbauprozess in der Gemeinde massiv erschwert. Mit der Lebensgeschichte von Frau Sotivor-Borić (Kapitel 9) schließt Teil II ab. Anhand ihrer Ausführungen lässt sich die Schwierigkeit des zwischen-ethnischen Versöhnungsprozesses weiter verfeinern, da sie Anstrengungen in Richtung Versöhnung unternimmt, von ihrer Gemeinschaft aber schließlich daran gehindert wird. – Grundsätzlich geht es bei der Präsentation dieser Fälle darum, die unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit zu diskutieren und den schwierigen und langfristigen sozialen Wiederaufbau der Nachkriegsgesellschaft in seiner Breite zu erörtern. Die Fallkapitel sind wie folgt gegliedert: Einleitend werden jeweils die Umstände der Interviews umrissen. Ein erster Teil fokussiert dann die Lebensgeschichten der Frauen. In diesen Falldarlegungen lasse ich so weit als möglich die interviewte Person selbst sprechen, allerdings in vollem Bewusstsein, dass es sich hierbei bereits um meine Interpretation ihrer Lebensgeschichte handelt (vgl. dazu die Aussagen in Kapitel 2.2.4). Auch ist es anhand der biografischen Erzählungen der Interviewpartnerinnen nicht möglich die gesamte Wirklichkeit, in der sich diese ereigneten, abzubilden. Vielmehr sind es biografische Konstruktionen, die den individuellen Umgang mit der erlebten Gewalt darstellen (Jureit 1999: 13). Der zweite Teil eines Fallkapitels hat jeweils die Analyse der Lebensgeschichte und der erhobenen Netzwerke zum Inhalt. Die Schwierigkeit, unterschiedliche Grade von Interpretationen und Analysen in einen Text zu verweben, werden der Leserin und dem Leser in den Falldarlegungen und -analysen auffallen. Diese Schwierigkeiten waren bereits Gegenstand ausführlicher ethnologischer Diskussionen. Es wurde darüber debattiert, wie mit Datenmaterialien umgegangen werden soll und kann, und wo die Fallstricke ethnologischer Datenerhebung und -auswertung liegen. Es war Mitte der 1980er Jahre, als die Krise der ethnografischen Repräsentation virulent wurde und die als Writing Culture bekannte Debatte die Frage nach den Machtverhältnissen zwischen Schreibenden und Beschriebenen aufwarf (vgl. u.a. Berg und Fuchs 1999 [1993]; Clifford 1999 [1993], 2005). Diese Debatte kann hier nicht Teil der Diskussion sein. Festgehalten sei aber, dass jede Niederschrift sozialanthropologischer Datenmaterialien interpretativ ist, dass also – frei nach Clifford – die Sozialanthropologinnen ihre Gegenstände nicht repräsentieren, sondern erfinden. Das gilt auch für die nachfolgenden Falldarlegungen und Fallanalysen.
4. Die Interviewpartnerinnen und ihre Unterstützungsnetzwerke
Wie in der Einleitung zu Teil II beschrieben, widmen sich die nachfolgenden Kapitel der Kriterien für die Auswahl der Gesprächspartnerinnen (Kapitel 4.1), der Beschaffenheit der Auswahlgruppe (Kapitel 4.2) und generieren Aussagen zur Netzwerkanalyse des gesamten Samples (Kapitel 4.3). Die einzelnen Netzwerke und deren Bedeutung für das Erkenntnisinteresse folgen anschließend in den Falldarlegungen und -analysen (Kapitel 5 bis 9).
4.1 D IE A USWAHL DER BEFR AGTEN F R AUEN Bereits in Kapitel 1.2 wurde erwähnt, dass sich die Datenerhebung auf Frauen konzentrierte und die Männer als direkte Interviewpartner wegließ. Dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass während der Feldforschung keine Gespräche mit Männern stattgefunden hätten oder Aussagen, Meinungen und auch Sichtweisen von Männern nicht in die Datenerhebung und in die vorliegende Forschungsarbeit eingeflossen wären. Der Fokus auf Frauen hatte sowohl einen forschungspragmatischen als auch einen genderspezifischen Grund. Zum einen eröffnete sich mir als Frau der Zugang zur bosnischen Frauenwelt leichter als jener zur Männerwelt. Auf diese Erfahrung konnte ich aus früheren Forschungsaufenthalten in Bosnien zurückgreifen. Dies soll nun nicht die Vorstellung wecken, die bosnische Gesellschaft lebe strikt nach Geschlechtern getrennt. Das war weder während der sozialistischen Zeit der Fall, noch trifft es heute zu. So stellt auch Helms (2003a: 140ff.) in ihrer Dissertation über die Aktivitäten bosnischer Frauen-Nichtregierungsorganisationen fest, dass sich Männer und Frauen ungeniert in öffentlichen Räumen begegnen, sich die Arbeitswelt gemeinsam teilen und dass Kinder und Jugendliche geschlechtergemischte Schulen und Universitäten besuchen. Das trifft auch auf Prijedor zu. Trotzdem zeigt sich dort eine Tendenz, sich nach Geschlechtern getrennt zu sozialisieren. Frauen treffen sich auf dem Markt, suchen für ihr Nachmittagstreffen gemein-
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sam Konditoreien auf oder sehen sich zu Hause zum obligaten Kaffeekränzchen (siehe auch Bringa 1995), währenddem die Männer eher die Kafana1 (dt. Kaffeestube, Kaffeehaus) im Dorf oder der Stadt frequentieren. Dort wird geraucht, Zeitung gelesen, manchmal politisiert und diskutiert, Fußball geschaut und oft auch schon zu früher Stunde Alkohol konsumiert. Um den Kontakt zu potentiellen Gesprächspartnerinnen zu finden, hielt ich mich vorwiegend in Frauenräumen auf, welche sich mir durch Besuche auf dem Markt, in Konditoreien oder bei Einladungen zu Kaffeekränzchen eröffnet hatten. In der Sozialanthropologie ist es weit verbreitet, die Auswahl der Gesprächspartnerinnen bewusst vorzunehmen und nicht zufällig, wie es für statistisch repräsentative Forschungsarbeiten üblich ist. Dieses Vorgehen kombinierte ich mit den Ideen des nach Strauss und Corbin (1996: 148ff.) eingeführten Theoretical Sampling. In diesem Verfahren fällt man Entscheidungen über Auswahl und Zusammensetzung der Untersuchtengruppe schrittweise im Laufe der Datenerhebung und -auswertung und nicht wie bei statistisch angelegten Erhebungen zum Voraus. Der Umgang mit der Vergangenheit, aber auch die unterschiedlichen Mechanismen der Zugehörigkeiten lassen sich nicht einfach abfragen, sondern müssen aus dem Material rekonstruiert werden. Daher wurden die Interviews im Anschluss an die Durchführung zwar nicht transkribiert und vertieft analysiert, aber doch nachbereitet und im Hinblick auf die Auswahl weiterer Interviewpartnerinnen kontrastiert. Die Auswahl der Interviewteilnehmerinnen folgte zudem dem Kriterium der Differenziertheit der Untersuchtengruppe (vgl. Sutterlüty 2003: 28), um eine möglichst hohe Sättigung des Untersuchungsgegenstandes zu erreichen. So sollten sich die Frauen in Zivilstand, ethnoreligiöser Zugehörigkeit und Bildungsgrad voneinander unterscheiden und unterschiedlichen Alterskategorien angehören. Zudem sollten sowohl Frauen aus ruralen als auch aus urbanen Regionen vertreten sein. Aufgrund der Forschungsfrage mussten die Interviewpartnerinnen zudem über unterschiedliche Kriegs- und Migrationserfahrungen verfügen. Gesucht waren demgemäß Frauen, die zum Zeitpunkt des Interviews vor Ort lebten und einer der drei disparaten Kategorien Rückkehrerinnen, Domaći/Domicilne oder Vertriebene angehören. Diese Kategorien benutzten die Frauen in den Gesprächen selbst. Es handelt sich demnach um sogenannte emische Kategorien. Diese Kategorien werden im Verlauf der Arbeit immer wieder relevant. Hier sei vorerst eine erste Begriffsdefinition gewagt:
1 | Kafana bezeichnet das traditionelle bosnische Kaffeehaus, das einen Hauch sozialistischer Atmosphäre aufweist, währenddem die Kafi ć seine europäisierte und kapitalistische Variante darstellt. Besonders Zweiteres wurde während der Feldforschungszeit eher von jungen Menschen beider Geschlechter besucht, die Kafana suchten hingegen eher verheiratete, ältere oder arbeitslose Männer auf.
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Mit der Kategorie Rückkehrerinnen und Rückkehrer (bos./hrv./srp. Povratnik, Povratnići) sind Menschen gemeint, die während der Kriegszeit ihre Herkunftsorte verlassen mussten und irgendwann nach Kriegsende wieder dahin remigrieren konnten. In der lokalen Sprache sind es die Zurückgekehrten (bos./hrv./srp. Oni koji se vračaju, dt. Die, die zurückkehrten, gemäß Feldnotizen Nr. 2), unabhängig davon, ob es sich um sogenannte Internvertriebene oder um Flüchtlinge nach Genferkonvention handelte. Eine andere Kategorie bilden diejenigen Menschen, die während der Kriegszeit ihre Wohnorte nie verlassen mussten oder nicht verlassen konnten. Es sind die Dagebliebenen (bos./hrv./srp. Oni koji su uvijek bili tu, dt. Die, die immer da waren, gemäß Feldnotizen Nr. 2). Die befragten Frauen bezeichnen diese Kategorie mit den lokalen Begriffen Domicilna oder Domaći (siehe zur weiblichen, männlichen und sächlichen Schreibweise Kapitel 1.1). Laut Wörterbuch stehen beide für ›heimisch‹, ›inländisch‹, ›einheimisch‹, aber auch für ›Hausgenossen‹ und ›Familienmitglieder‹. Ihre Wurzel lässt sich von ›dom‹, dem ›Heim‹ oder ›Haus‹ ableiten (siehe Jakič und Hurm 1999). Umgangssprachlich wird nun der Begriff von der Familie auf die Gruppe ausgeweitet: Als Domicilna oder Domaći ist man Mitglied der heimischen Gruppe, derjenigen Gruppe, die auch während des Krieges vor Ort verblieb. Da es in der deutschen Sprache keinen Begriff gibt, der all diese Bedeutungen wiedergeben würde, werden im Folgenden diese lokalen Begriffe verwendet. Von einer dritten Kategorie sprechen die befragten Frauen dann, wenn sie von anderen Frauen berichten, die immer noch als Vertriebene (bos./hrv./ srp. Raseljeno Lice, wörtlich: ›entvölkerte Personen‹, wird für den technischen, englischen Begriff Internally Displaced Person benutzt) und/oder als Flüchtlinge (bos./hrv./srp. Izbjeglice) vor Ort leben. Umgangssprachlich werden beide Begriffe synonym verwendet. Streng genommen unterscheiden sie sich aber: Internvertriebene bezeichnet Personen, die gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden und innerhalb des eigenen Landes Zuflucht suchten. Ein Flüchtling hingegen muss gemäß dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, kurz: der Genfer Flüchtlingskonvention, die Grenzen seines Heimatstaates übertreten haben. Erst dann ist er völkerrechtlich durch die Konvention geschützt und ein Flüchtling2 . Der Friedensvertrag von Dayton unterscheidet in Artikel 1, Annex 7 zwischen Flüchtlingen und Internvertriebenen: »All refugees and displaced persons have the right freely to return to their homes of origin. They shall have the right to have restored to them property of which they were deprived in the course of the hostilities in 1991 […].« (OHR 1995)
2 | Siehe dazu die Flüchtlingskonvention unter . Abgerufen am 19.11.2008.
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Die Kombination von bewusster Auswahlstrategie und Theoretical Sampling (also eine quasi rollende Entscheidung, wen man als nächstes interviewen möchte und wie diese Person aufzufinden sei) hat zur Folge, dass in den drei Kategorien der Kriegs- und Migrationserfahrung nicht genau gleich viele Frauen vertreten sind (14 Rückkehrerinnen, zwölf Internvertriebene und sechs Domicilne). Dies gilt auch für die ethnoreligiöse Zugehörigkeit (zwei Kroatinnen, neun Serbinnen und 21 Bosniakinnen). Da es hier aber, wie bereits dargelegt, nicht um statistische Repräsentativität geht, sondern vielmehr um das Auffinden unterschiedlichster Umgangsweisen mit der Vergangenheit, wirkt sich dieser Umstand nicht nachteilig aus. Der Zugang zu den Frauen, welche sich der bosniakischen Bevölkerungsgruppe zugehörig fühlen, war relativ einfach. Aufgrund meiner früheren Forschungsarbeiten in der Region (u.a. Sieber und Scholer 2001) hatte ich bereits vor Aufnahme der Feldforschung Verbindungen, was den Zugang zu dieser Gruppe erleichterte. Zu Beginn des Feldaufenthaltes fungierte ein Bosniake als zentrale Schlüsselperson, der in einer lokalen Nichtregierungsorganisation arbeitete. Er vermittelte mir nicht nur meine Unterkunft, sondern auch die ersten Kontakte zu potentiellen Gesprächspartnerinnen und lokalen Frauenorganisationen. Von da an klappte das Schneeballprinzip: Die Interviewpartnerinnen vermittelten laufend weitere potentielle Gesprächspartnerinnen. Problematisch war allerdings, dass diese jeweils derselben Ethnie angehörten wie die Vermittlerin, das Vorgehen also keine Kontakte über die ethnischen Grenzen hinweg ermöglichte. Von verschiedensten Seiten erhielt ich Hinweise darauf, dass die Interviewpartnerinnen nicht wünschten, mir Kanäle zu Frauen anderer ethnischer Gruppen zu eröffnen. Dies sagt bereits einiges über die soziale Beschaffenheit der Region aus und bietet einen ersten, sehr rudimentären Hinweis auf die Art der gesellschaftlichen Segregation: Es zeigt, dass die interviewten Frauen über Kontakte über die ethnischen Grenzen hinweg verfügten, mir diese Kanäle aber nicht öffnen wollten. Klar ist, dass dies ein in der Sozialanthropologie übliches Problem bei der Auswahl von Interviewpartnerinnen und -partnern darstellt, weil Feldforschende nur über bestimmte Personen den Zugang zu weiteren Personen finden und andere mangels Beziehungen nicht kontaktieren können. Problematisch scheint dieser Umstand vor allem in stark konfliktbehafteten Forschungsfeldern zu sein, da stets die Gefahr besteht, dass man mit den zuerst kontaktierten Personen identifiziert wird und davon dann nicht mehr loskommt. Wichtig ist, dass man sich dieses Problems bewusst ist, und sich Gedanken darüber macht, wer gewählt wird, wer sich bereitwillig zur Verfügung stellt, wer als sogenannter Gatekeeper wirkt, und welche Perspektive sich einem damit eröffnet. Der Zugang zu Frauen, die der serbischen Bevölkerungsgruppe angehören, gestaltete sich also schon deshalb weit schwieriger als erwartet. Zur eher mühseligen Kontaktaufnahme kam hinzu, dass diese Frauen eine geringe Bereitschaft
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zeigten, aus ihrem Leben zu erzählen, und meinem Vorhaben, auch die Kriegszeit zu thematisieren, skeptisch gegenüberstanden. Viele wollten explizit nicht über diese Zeit sprechen, mit der Begründung, dass »der Krieg war und nun in die Zukunft geschaut werden muss. Ein Leben mit Blick in die Vergangenheit bringt uns keine Verbesserungen« (Diana, Prijedor Stadt). Diese Haltung, die eine spezifische Art des Umgangs mit der Vergangenheit zeigt, wird anhand der Falldarlegung noch im Detail betrachtet. Es ist aber auch eine andere Erklärung als jene explizite vorstellbar, weshalb die serbischen Frauen meinem Forschungsvorhaben skeptischer gegenüberstanden als die Bosniakinnen. Einiges deutet darauf hin, dass die bosnischen Serbinnen und Serben von der internationalen Gemeinschaft mehrheitlich als Aggressoren und einzig Schuldige am Krieg verurteilt werden. Das wiederum ruft eine Abwehrhaltung hervor, die auch auf mich – als Internationale wahrgenommen – übertragen wurde.
4.2 P ROFIL DER I NTERVIE WPARTNERINNEN In der folgenden Aufstellung gilt es nun zu klären, auf welchen Ausschnitt der Wirklichkeit sich die Auswahl der Untersuchten bezieht. Die folgenden Aussagen haben nicht für alle Frauen in der Gemeinde Prijedor Gültigkeit, denn es handelt sich bei vorliegender Studie ja nicht um eine statistisch repräsentative, sondern um eine qualitative Forschung.
Zu den Alterskategorien Das Sample der Studie umfasst 32 Frauen. Zum Zeitpunkt der Feldforschung beträgt ihr Durchschnittsalter 47,5 Jahre. Die Jüngste ist 21 Jahre alt, die Älteste 77. Für die Auswahl der Interviewpartnerinnen war allerdings nicht das Alter zum Interviewzeitpunkt ausschlaggebend, sondern das Alter im Jahre 1991 als das kriegerische Auseinanderbrechen Jugoslawiens nicht mehr aufzuhalten war. Die Frauen sollten den Kriegsausbruch mindestens im Grundschulalter miterlebt haben und damit auch noch eine Erinnerung – so verschwommen diese auch sein mag – an die Zeit vor dem Krieg aufweisen. Dieses Kriterium ergibt sich aus dem Vorhaben, Schilderungen zu den drei Perioden Vorkriegszeit, Kriegszeit und Nachkriegszeit zu erfassen. Das Durchschnittsalter kurz vor Kriegsausbruch 1991 im ehemaligen Jugoslawien beträgt für die Befragtengruppe 33,5 Jahre. Die Altersgruppe der zwischen 1951 und 1964 Geborenen – Frauen, die 1991 27 bis 40 Jahre alt waren – ist mit 13 Personen oder 40,6 Prozent am stärksten vertreten. Diese Frauen standen im reproduktionsfähigen Alter, waren also durch die Kriegsführung stark gefährdet. Das Gleiche gilt für die Altersgruppe der 19- bis 26-Jährigen, die mit sieben Frauen oder 21,9 Prozent die zweitgrößte Gruppe darstellt. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs machten
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diese beiden Gruppen zusammen, also Frauen, die 1991 19 bis 40 Jahre alt waren, knapp zwei Drittel der Befragten aus. Tabelle 3: Jahrgänge und Alterskategorien Alter im Jahr 1991
Alter im Jahr 2005
7 bis 18 Jahre: Jahrgänge 1984 – 1973 und jünger
(2005: 21 – 32 Jahre)
5
15,6 %
19 bis 26 Jahre: Jahrgänge 1972 – 1965
(2005: 33 – 40 Jahre)
7
21,9 %
27 bis 40 Jahre: Jahrgänge 1964 – 1951
(2005: 41 – 54 Jahre)
13
40,6 %
41 bis 60 Jahre: Jahrgänge 1950 – 1931
(2005: 55 – 74 Jahre)
5
15,6 %
Ab 61 Jahre: Jahrgänge 1930 und älter
(2005: ab 75 Jahre)
2
6,3 %
32
100,0 %
Total
Anzahl
Prozent
Zur ethnoreligiösen Zugehörigkeit Zwei Drittel meiner der Befragten bezeichnen sich als Bosniakinnen (deren 21 Frauen), etwas weniger als ein Drittel als Serbinnen (deren 9). Der forschungspraktische Grund für diese Unausgeglichenheit wurde weiter oben bereits dargelegt. Dass nur zwei Kroatinnen vertreten sind, widerspiegelt die ethnoreligiöse Zusammensetzung der Bevölkerung nach dem Krieg und lässt sich als Resultat der ethnischen Säuberung während des Krieges lesen: 1991 wurden von den insgesamt 6.300 Angehörigen der kroatischen Gruppe bis auf wenige Ausnahmen alle aus der Region vertrieben oder umgebracht (vgl. Donia 2002; Greve 1994; Wesselingh und Vaulerin 2005).
Zivilstand Die Befragten wurden so ausgewählt, dass die eine Hälfte mit und die andere ohne Ehemann lebt. Grund für dieses Auswahlkriterium war die Annahme, dass sich die Unterstützungssituation einer alleinstehenden Frau anderes präsentiert als diejenige einer verheirateten. Acht der befragten Frauen sind verwitwet, weitere drei sind ledig und fünf geschieden. Bei einer Frau lässt sich
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die Scheidung als direkte Kriegsfolge sehen. Die andere Hälfte des Samples ist verheiratet und wohnt mit dem Ehemann zusammen. Dies ist nicht selbstverständlich, lebten doch vor dem Krieg viele dieser Männer als Arbeitsmigranten im Ausland. Von den drei ledigen Befragten stellen zwei Kontrastfälle zueinander dar. Bei der einen Frau handelt es sich um eine ältere Serbin, die infolge ihrer Familienrolle (jüngste Tochter, Betreuung der Eltern) nie geheiratet hat, bei der anderen um eine ledige junge Serbin, die in einer Partnerschaft lebt und sich im heiratsfähigen Alter befindet. Für die verwitweten Frauen wurden zwei Unterkategorien gebildet, nämlich verwitwet (drei Frauen) und verwitwet infolge des Krieges (deren fünf), weil sich die gesellschaftliche Situation und Position einer jungen Kriegswitwe, die unter Umständen auch für Kinder zu sorgen hat, markant von jener einer älteren Frau unterscheiden kann, deren Mann bereits vor dem Krieg verstorben ist. Fünf Ehen der Befragtengruppe sind ethnisch gemischt. Dies macht auf alle noch intakten Ehen rund einen Drittel aus, was dem geschätzten Anteil Mischehen zu Vorkriegszeiten entspricht (Botev 1994). Folgende Paarungen sind vorhanden: eine Bosniakin mit einem Rom, eine Bosniakin mit einem bosnischen Serben, eine bosnische Serbin mit einem bosnischen Kroaten, eine kroatische Kroatin mit einem bosnischen Serben sowie eine bosnische Serbin mit einem Bosniaken. Letztere Ehe zerbrach im Erhebungszeitraum.
Anzahl Kinder Sechs der befragten Frauen sind kinderlos; davon sind drei ledig und je eine verheiratet, geschieden bzw. im Krieg verwitwet. Von den restlichen verheirateten Frauen haben alle ein oder zwei Kinder (sieben bzw. acht Frauen). Die vier geschiedenen Befragten müssen für ein oder zwei Kinder allein aufkommen, ebenso vier der fünf Kriegswitwen. Die älteren Witwen haben alle Kinder: die eine Frau zwei, die anderen beiden drei. Keine der Befragten hat mehr als drei Kinder. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Bezugspersonen der Interviewten: Die Mehrheit hat ein oder zwei Kinder; je ein rundes Zehntel hat keine bzw. mehr als zwei Kinder.
143
K RIEG IM F RIEDEN
100,00 % 15,6 %
32
6,2 % 2
37,5 % 12 6,2 %
3
Gesamt
15,6 % 5
50,0 % 16 9,4 %
8 2 Kinder
9,4 %
6,2 % 2 3 Kinder
5
2 3,1 % 1 3,1 % 1
9,4 % 3 21,9 % 7 1 Kind
25,0 %
37,5 % 12 6,2 % 2
18,8 % 3,1 % 1 3,1 % 1 3,1 % 1
3
9,4 % keine Kinder
Anzahl Kinder
3
ledig
verheiratet
geschieden
verwitwet
verwitwet infolge des Krieges
6
Gesamt
Tabelle 4: Anzahl Kinder und Zivilstand
Zivilstand
144
Höchster Schulabschluss Die Grundschule in Bosnien-Herzegowina dauert acht Jahre. Diese ist für alle obligatorisch. In der Praxis wird die Schulpflicht weniger streng befolgt. Nach Abschluss der Grundschule haben die Schüler verschiedene Möglichkeiten zum Besuch von Mittelschulen, genannt Srednja Stručna Sprema (SSS). Welche der
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Mittelschulen ihnen offenstehen, hängt vom Abgangszeugnis der Grundschule ab. Es gibt sowohl drei- als auch vierjährige Mittelschulprogramme. Dreijährige Mittelschulen sind in der Regel sogenannte Berufsschulen, in denen man theoretische wie praktische Seiten eines Berufes erlernt. Bei der VŠS, der Viša Stručna Sprema, handelt es sich quasi um einen Sonderfall der dreijährigen Mittelschule, die eigenständig eine Berufsausbildung vermittelt oder eine weitere Qualifikation eines Berufes anbietet. Daneben gibt es auch das Gymnasium. Die Visoka Stručna Sprema hingegen entspricht der Universität oder einer Fachhochschule. Von den Befragten haben neun Personen gar keine oder lediglich die Grundschule während vier bis acht Jahren besucht. Die meisten, nämlich 23 Frauen (72 %), sind jedoch in den Genuss einer Mittelschule mit Berufsausbildung oder einer höheren Ausbildung (Universität) gekommen. Dies widerspiegelt die gezielte Förderung der Schulausbildung von Frauen vor allem in ruralen Gegenden während der sozialistischen Zeit (vgl. Kapitel 3.2.2).
Arbeit Nach offiziellen Angaben beträgt die Arbeitslosenquote für Bosnien-Herzegowina im Jahre 2005 44,6 %3; die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Prijedor sprachen inoffiziell von 55 % bis 65 %. Zum Zeitpunkt der Befragung ging nur knapp ein Drittel des untersuchten Personenkreises einer bezahlten Arbeit nach. Der hohe Anteil an Arbeitslosen unter den Befragten von 65,6 %4 widerspiegelt die ökonomisch prekären Lebensverhältnisse vor Ort. Bezahlte Arbeit bedeutet hier, dass die Frauen mehr oder weniger regelmäßig eine Lohnzahlung erhalten und in manchen Fällen sogar mit Arbeitsvertrag angestellt sind. Im Bereich der Lohnarbeit zeigt sich beispielhaft, dass vieles in Bosnien noch nicht so funktioniert wie in anderen Ländern der Region, die den Übergang zur Demokratie konfliktfreier erleben konnten (beispielsweise Slowenien und Kroatien). Der monatliche Durchschnittslohn in der Republika Srpska liegt zur Zeit der Feldforschung um die 400 KM5 netto (oder ca. 200 €), in der Föderation etwas höher bei 525 KM (ca. 262 €) (siehe Agencija za Statistiku Bosne i Hercegovine 2004). Rentnerinnen beziehen eine Pension von rund 150 KM (ca. 75 €) pro Monat, wobei diese sehr unregelmäßig ausbezahlt wird. Zum Vergleich6 seien 3 | Siehe . Zuletzt abgerufen am 5.8.2008, Labour and Employment Agency of Bosnia and Herzegovina (2006) oder Oxford Research International (2007). 4 | Mitte der 1980-er Jahre lag die Arbeitslosenquote bei 14,1 % (siehe Körner 1990: 85). Zahlen für die Zeit kurz vor Kriegsausbruch waren nicht auffindbar. 5 | Die bosnische Währung heißt Konvertibilna Maraka (KM); 1 KM hat einen Wert von ungefähr 0,5 € . 6 | Neuste Zahlen sind zu finden unter . Abgerufen zuletzt am 5.8.2008.
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K RIEG IM F RIEDEN
hier die monatlichen Kosten eines vierköpfigen Haushalts angegeben, wie sie für das Jahr 2005 veranschlagt wurden: Miete rund 100 KM, Elektrizität, Wasser und Heizung 160 KM, Telefon 55 KM und Sonstiges 15 KM. Hinzu kommen Lebensmittelkosten von rund 470 KM. Insgesamt belaufen sich die monatlichen Grundkosten für einen Haushalt dieser Größe also auf 800 KM. Von diesen Kosten lässt ein Durchschnittslohn 350 KM ungedeckt. Um über die Runden zu kommen, verdingen sich daher viele Menschen in der Region als Taglöhner oder Aushilfen. Zusätzlich unterstützen sich die Nachbarinnen und Nachbarn gegenseitig. Währenddem z.B. Alma für Emsuda Vorhänge näht, hilft Emusda Alma beim Haushalten. Anhand der Netzwerkanalyse wird sich zeigen, dass zudem transnationale Beziehungen für die finanzielle Unterstützung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Ein Blick auf die Art der Tätigkeiten zeigt, dass keine der qualifizierten Interviewpartnerinnen einer bezahlten Arbeit nachgehen kann, die ihrer Ausbildung entspricht. Die meisten Frauen sind in unqualifizierten7 Arbeitsbereichen beschäftigt oder gar nicht erwerbstätig. Ein beliebtes Betätigungsfeld von Frauen ist die Freiwilligenarbeit in Nichtregierungsorganisationen NGO. Dadurch können sie unter Umständen in ihrem Berufsfeld arbeiten, werden aber in der Regel nicht dafür entlohnt. So engagiert sich zum Beispiel eine Umweltwissenschaftlerin in einer ökologischen NGO für die Einführung einer umweltgerechten Abfallentsorgung und die Reinigung der Flusslandschaften. Eine Richterin setzt sich als Präsidentin einer NGO für das Auffinden der Verschwundenen ein und bezeugt vor dem Haager Tribunal die Gräueltaten des Krieges, was sie selbst als »ihre Pflicht als ehemalige Richterin« bezeichnet (vgl. Fall Nusreta Sivac, Kapitel 5).
Herkunftsort Eines der zentralen Auswahlkriterien betrifft den Herkunftsort. Für diese Untersuchung als geeignet betrachtet wurden Frauen, die aus der Gemeinde Prijedor stammen (27 Personen) oder zum Zeitpunkt der Forschung als Internvertriebene in der Gemeinde lebten (deren fünf). Das Verhältnis im Hinblick auf ruralen und urbanen Herkunftskontext stellt sich folgendermaßen dar: Neun Bosniakinnen – 28,2 % der insgesamt Befragten – stammen aus der ländlichen Umgebung Prijedors (aus den Dörfern Kozarac, Ljubija, Rakovcani und Trnopolje). Die übrigen zwölf Bosniakinnen sowie alle Serbinnen und Kroatinnen (71,9 %) sind urbaner Herkunft, d.h. sie lebten vor dem Krieg in der Stadt Prijedor oder in Sanski Most.
7 | Unter qualifizierter Arbeit sei eine Anstellung verstanden, die den Abschluss der Berufsmittelschule (SSS) oder einer höheren Schule (VŠS und Visoka Strucna Sprema) voraussetzt. Als nicht oder schlecht qualifiziert gelten Frauen, die gar keine Schulbildung genossen oder lediglich die Grundschule besucht haben.
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Tabelle 5: Herkunftsort und ethnoreligiöse Zugehörigkeit Ethnoreligiöse Zugehörigkeit Wohnort vor dem Krieg
bosniakisch
serbisch
kroatisch
Gesamt
Kozarac
5
15,6 %
5
15,6 %
Ljubija
1
3,1 %
1
3,1 %
12
37,5 %
17
53,1 %
1
3,1 %
1
3,1 %
6
18,8 %
2
6,2 %
32
100,0 %
Prijedor Stadt Rakovcani Sanski Most
4 5
Trnopolje
2
Gesamt
21
12,5 %
1
15,6 %
1
3,1 % 3,1 %
6,2 % 65,6 % 9
28,1 %
2 6,2 %
Vertreibung oder Verbleib am Wohnort Fast vier Fünftel der Befragten (78,1 Prozent) wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben, während etwas mehr als ein Fünftel (21,9 Prozent) am Wohnort bleiben konnte. Bis auf die Ehefrau eines Serben wurden alle Bosniakinnen aus der Gemeinde vertrieben, ebenso die vier Serbinnen, die vor dem Krieg in Sanski Most gelebt hatten. Eine der Serbinnen wurde nicht vertrieben, sondern floh bei Kriegsausbruch nach Belgrad zu ihren Verwandten (vgl. Fall Sotivor-Borić, Kapitel 9). Die Kroatin, die am Herkunftsort verbleiben konnte, ist wie die Bosniakin mit einem Serben verheiratet. Tabelle 6: Verbleib am Herkunftsort und ethnoreligiöse Zugehörigkeit Ethnoreligiöse Zugehörigkeit Verbleib am Herkunftsort?
bosniakisch
nein
20
62,5 %
5
15,6 %
1
3,1 %
25
78,1 %
1
3,1 %
4
12,5 %
1
3,1 %
7
21,9 %
21
65,6 %
9
28,1 %
2
6,2 %
32
100,0 %
ja Gesamt
serbisch
kroatisch
Gesamt
Rückkehr Zwölf Bosniakinnen hatten bis zum Zeitpunkt der Forschung in ihre Herkunftsorte in Prijedor zurückkehren können, allerdings erst nach rund acht Jahren Aufenthalt in Sanski Most. Acht weitere Bosniakinnen lebten noch immer in Sanski Most: Entweder hatten sie ihr Haus am Herkunftsort noch nicht wieder
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aufbauen können, oder sie wollten bewusst nicht nach Prijedor zurückkehren und hatten sich ihr Leben in Sanski Most eingerichtet. Von den Serbinnen kehrte nur jene Frau an ihren Herkunftsort Prijedor zurück, die bei Kriegsausbruch nach Belgrad zu ihren Verwandten geflohen war (Fall Sotivor-Borić). Alle anderen Serbinnen lebten nach wie vor an ihrem Fluchtort. Es sind dies Frauen, die aus Sanski Most stammen, ihren Lebensmittelpunkt heute aber in Prijedor sehen. Nur fünf der 32 befragten Frauen mussten sich die Frage der Rückkehr nicht stellen, denn sie konnten an ihrem angestammten Ort verbleiben. Solche Flucht- und Rückkehrbewegungen führten zu einer Art Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Städten Prijedor und Sanski Most. Beide Orte galten vor dem Krieg als gemischte Regionen, die von der bosniakischen und der serbischen Bevölkerung dominiert wurde: Keine dieser beiden ethnoreligiösen Gruppen war in der Mehrheit (Golubic et al. 1993: 211). Durch den Krieg und die Kriegsführung hat sich dieses Bild drastisch verändert: Heute ist in Prijedor die serbische Bevölkerungsgruppe in der Mehrheit, in Sanski Most hingegen die bosniakische. Tabelle 7: Der Ort der Rückkehr und ethnoreligiöse Zugehörigkeit8 Rückkehr wohin? An den Herkunftsort Ethnoreligiöse Zugehörigkeit
In einen Warteraum, ohne Rückkehrwunsch
bosniakisch
Keine Rückkehr nötig
Gesamt
12
37,5 %
8
25,0 %
1
3,1 %
21
65,6 %
serbisch
1
3,1 %
4
12,5 %
4
12,5 %
9
28,1 %
kroatisch
1
3,1 %
1
3,1 %
2
6,2 %
15
46,9 %
5
15,6 %
32
100,0 %
Gesamt
12
37,5 %
Nach dieser Übersicht über die Merkmale der Untersuchungsgruppe können nun der Blickwinkel etwas verändert und die Bezugspersonen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden. Im nachfolgenden Kapitel sollen die Beziehungen zwischen den Interviewpartnerinnen und ihren Bezugspersonen sowie deren Charakteristika fokussiert werden. Dies wird generelle Aussagen zu den Unterstützungsnetzwerken der 32 Interviewpartnerinnen erlauben. Die 8 | Mit der Rückkehr in den Warteraum wird die Rückkehr an einen vorübergehenden Wohnort im Herkunftsland verstanden, der nicht dem ursprünglichen Wohnsitz entspricht (siehe Sieber und Scholer 2001).
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Deskription einzelner Vor- und Nachkriegsnetzwerke folgt wie erwähnt im Rahmen der Fallanalysen.
4.3 D IE U NTERSTÜT ZUNGSNE T Z WERKE DER B EFR AGTEN Die Erkenntnis, dass soziale Netzwerke nicht nur bei Migrationsentscheiden, sondern auch für Integrationsprozesse eine bedeutende Rolle spielen, hat in letzter Zeit in der sozialanthropologischen und soziologischen Migrationsforschung wachsende Aufmerksamkeit erfahren (u.a. Dahinden 2005a; Dahinden 2005b; Gurak und Caces 1992; Janssen und Polat 2006). Weniger Beachtung hingegen fand bis anhin das Integrationspotenzial sozialer Netzwerke für Gesellschaften, in denen durch die Rückkehr von Flüchtlingen Gruppen aufeinandertreffen, die von einem Krieg unterschiedlich betroffen waren. Das Gestalten einer gemeinsamen Zukunft sowohl in politischer als auch in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht steht dabei im Vordergrund. Gerade in Zusammenhang mit dem bosnischen Krieg, welcher die Gesellschaft nach ethnoreligiösen Kriterien spaltete und alte soziale Beziehungsmuster zerstörte, interessiert die Rolle des sozialen Kapitals bei gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen sowie sein Potenzial für ein allfälliges Überwinden ethnoreligiöser Grenzen. Anders gesagt: Das Sozialkapital verfügt für eine Nachkriegsgesellschaft9 über ein Integrationspotenzial, das in sich zwei Seiten beinhaltet. Die eine Seite besteht aus seiner überbrückenden, inkludierenden Wirkung. Damit ist die Fähigkeit angesprochen, entzweite Teile miteinander zu verbinden. Diese Seite kann sich auf einen Versöhnungsprozess günstig auswirken. Aber ohne die Abgrenzung nach Außen ist ein Einschluss logischerweise nicht möglich. Deshalb zeigt sich eine andere Seite, die eine einbindende resp. exkludierende Wirkung des sozialen Kapitals aufweist. Da ein Einschluss also gegen innen nur über Ausschluss funktioniert und damit trennt, kann sie eine Versöhnung behindern, nämlich dann, wenn Ein- bzw. Ausschluss auf der Zugehörigkeit zu einer der Konfliktgruppen beruhen und die jeweilige Gruppennorm eine Annäherung untersagt. Denn die Wirkung hängt davon ab, worin Ein- und Ausschlusskriterien bestehen und welches Verhalten gegenüber diesen speziellen ›anderen‹ erwartet oder wenigstens toleriert wird. Beide Seiten des Sozialkapitals beeinflussen also die Nachkriegsgesellschaften in ihren Versöhnungsprozessen (Badescu 2003; Pickering 2006; Stamm 2006; The World Bank 2002). Die positive Rolle des Sozialkapitals und die damit verbundenen sozialen Netzwerke fördern die gesellschaftliche Verbundenheit, das Vertrauen, die Diversität und die Verpflichtung, dass sich alle für ein gemeinsames Ganzes engagieren. Wie weiter oben dargelegt, sind es 9 | Dies gilt auch für Aufnahmegesellschaften, die sich nicht in einer Nachkriegssituation befinden. Hier soll aber explizit die Nachkriegsgesellschaft fokussiert werden.
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bekanntschaftlich basierte, eher lose geknüpfte Beziehungen und das in ihnen enthaltene Sozialkapital, welche Vielfalt und Öffnung begünstigen, da bei ihnen kontraktuelle Elemente im Vordergrund stehen und gemeinsame Anschauungen und Gefühle eher nachrangig sind. Über diese organische Solidarität erlauben sie die Integration in eine größere Gemeinschaft. Ganz anders das Potenzial starker Beziehungen, deren Sozialkapital der Durkheim’schen mechanischen Solidarität entspricht. Diese Art gesellschaftlicher Integration beruht auf dem Zusammenschluss Gleichgesinnter (gemeinsame Gefühle und kulturelle, sozioökonomische und ideologische Anschauungen) sowie auf repressiven Abwehrmechanismen gegen die Verletzung dieser Gemeinsamkeiten (Marsden 1987). Durch mechanische Solidarität bilden sich starke und dichte Beziehungsnetze aus, die allerdings auch auf Ausschluss der ›Anderen‹ beruhen und damit die gesellschaftliche Integration unterschiedlicher Gruppen nicht unbedingt erleichtern. Im Folgenden stellt sich deshalb die Frage, welche Arten von Sozialkapital sich für die Nachkriegsgesellschaft und deren Integration und Versöhnung als günstiger erweisen: sind es lose geknüpfte Netzwerke mit geringen Dichten, d.h. einem hohen Anteil an weak ties, die nicht redundante Informationen liefern, der Diversität offener gegenüber stehen und deshalb einfacher über ethnische Grenzen hinweg funktionieren? Oder sind es eher die eng geknüpften Netzwerke, deren Beziehungen auf großer Solidarität, Vertrauen und geteilten Normen beruhen und sich eher homogen ausgestalten? Um diese Fragen zu beantworten, werden die persönlichen Nachkriegsnetzwerke der Befragten nach Struktur, Zusammensetzung, Funktion und Multiplexität untersucht. Wie in Kapitel 2.1.4 bereits ausgeführt, wurden für vorliegende Forschung vier unterschiedliche Bereiche der Unterstützung abgefragt: der emotionale, der finanzielle, der freizeitbezogene und der instrumentelle. Sie sollten nebst familiären und verwandtschaftlichen auch freundschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen erfassen. Um Aussagen über die kriegsbedingten Veränderungen in den Netzwerken zu generieren, wurden sowohl Vor- als auch Nachkriegsnetzwerke erfasst. Da nachfolgend hauptsächlich das Integrationspotential des sozialen Kapitals für die Nachkriegsgesellschaft interessiert, stehen die Nachkriegsnetzwerke im Mittelpunkt. Die Berechnungen der Vorkriegsnetzwerke werden lediglich zur Kontrastierung oder Erklärung von Auffälligkeiten beigezogen.
4.3.1 Geschlecht und Rolle der Bezugspersonen in den Nachkriegsnetzwerken Für die Vorkriegsnetzwerke wurden mindestens sieben Bezugspersonen und maximal 37 genannt. Im Durchschnitt leisteten 14 Personen soziale Unterstützung, insgesamt bestand mit 462 Personen eine Beziehung. Betont sei hier, dass sich manche dieser 462 Personen keinem der vier abgefragten Unterstützungsbereiche zuordnen lassen, da die Interviewpartnerinnen auch die
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Möglichkeit hatten, nach der Befragung durch den Namensgenerator weitere wichtige Bezugspersonen einer Liste hinzuzufügen. Die Fragen des Namensgenerators allein führten zu ›nur‹ 367 Bezugspersonen. Für die Nachkriegsnetzwerke ergaben sich ähnliche Werte: mindestens fünf und maximal 37 Bezugspersonen wurden genannt, der Mittelwert lag bei 13. Gesamthaft wurden 426 Menschen genannt, den vier Unterstützungsdimensionen konnten aber ›nur‹ 342 Personen zugeordnet werden.
Bezugspersonen und Beziehungskategorie Diagramm 1 lässt für die Nachkriegsnetzwerke folgende Aussagen über die Art der Beziehungen zu: Verwandte sind mit 60,4 % (257 Bezugspersonen) am häufigsten vertreten. Freundschaften bilden mit 25,6 % (109 Bezugspersonen) einen markant geringeren Anteil der Beziehungen, und nachbarschaftliche machen an dritter Stelle bloß noch 7,3 % (resp. 31 Personen) aus. Die Interviewpartnerinnen konnten ihre Bezugspersonen allerdings mehrfach kategorisieren, beispielsweise eine beste Freundin auch als Nachbarin nennen. Sobald eine Interviewpartnerin eine Bezugsperson mehrfach kategorisierte, wurde sie aufgefordert, eine Beziehungskategorie zu priorisieren. In die Berechnungen einbezogen wurde nur die prioritär genannte Kategorie. Für die Vorkriegsnetzwerke unterscheiden sich die Zahlen nicht wesentlich, mit Ausnahme der Kategorie ›Personen aus Institutionen‹: Sie ist in der Vorkriegszeit mit 1.9 % deutlich schwächer besetzt als in der Nachkriegszeit mit 5.6 %. Dieser Umstand lässt sich darauf zurückführen, dass nach dem Krieg insbesondere Nichtregierungsorganisationen an Bedeutung gewonnen haben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Unterstützungsnetzwerke der Studienteilnehmerinnen vor allem aus Verwandten bestehen – sie spielen demnach für Unterstützungsleistungen eine herausragende Rolle. Verwandtschaftliche Netzwerke gewinnen vor allem in Krisen- und Kriegssituationen an Wichtigkeit, wenn staatliche Sicherheitsstrukturen zerstört werden und finanzielle sowie physische Ressourcen schwinden. Der Rückzug in familiäre und verwandtschaftliche Netzwerke und die Stärkung der eigenen Gruppenwerte dienen der kollektiven Bewältigung und sind logische Folge eines staatlichen Zerfalls, wie im ehemaligen Jugoslawien geschehen. Doch in der Nachkriegssituation, wenn die staatliche Infrastruktur größtenteils wiederhergestellt ist, können sich eng geknüpfte verwandtschaftliche Netzwerke in eine negative Ressource verändern, da sie stark einbindend funktionieren (negatives Sozialkapital). Dabei geschieht die Stärkung des ›Wir‹ weniger durch die Betonung des Gemeinsamen als vielmehr durch negativ wertende Zuschreibungen an die ›Anderen‹, das ›Nicht-Wir‹ also. Nach einem Bürgerkrieg beruhen diese Zuschreibungen auf den Kriegs- und Migrationserlebnissen. Negativ sind diese Beziehungen, weil sie verhindern können, dass andere Beziehungen über die Verwandtschaft und Familie an Wichtigkeit gewinnen können und sich die aus
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K RIEG IM F RIEDEN
der Kriegszeit bestehenden sozialen Gräben vergrößern können. Dadurch können Konflikte trotz negativem Frieden10 nicht transformiert werden, die aus der Kriegszeit herrührende Zweiteilung wird auch in der Nachkriegszeit verstärkt, und versöhnende Entwicklungen werden unterwandert. Diagramm 1: Die Beziehungskategorien
Unterstützung und Geschlecht Ohne Daten einer männlichen Vergleichsgruppe11 lassen sich keine Aussagen darüber generieren, ob sich die Beziehungsnetzwerke der Frauen größer oder kleiner ausgestalten als jene von Männern. Hingegen erlauben es die vorliegenden Daten, Aussagen über die Geschlechterzusammensetzung der Netzwerke 10 | Unter dem sogenannten negativen Frieden wird die Unterzeichnung eines Friedensabkommens verstanden, welches in erster Linie einen Waffenstillstand herbeiführt, also den Verzicht auf militärischer Gewalt, nicht aber einen Frieden mit Gerechtigkeit. ›Negativer Friede‹ umschreibt also in keiner Weise eine Situation, die mit Ideen der Harmonie, Kooperation und Integration resp. Formen sozialer Gerechtigkeit zu einem positiven Frieden führen könnte. Um beide Aspekte zu berücksichtigen, wurde in der Friedens- und Konfliktforschung der Begriff des Peace-Making in die Diskussionen eingeführt (Galtung 1985: 145f.). Auch wenn das Konzept des negativen und des positiven Friedens Kritik ausgesetzt war – beispielsweise weil es die Problematik der strukturellen Gewalt nicht erfasst –, dient die Unterscheidung vorliegender Argumentation. 11 | Die Begründung für die Auswahl der Befragungsgruppe findet sich in der Einführung und in Kapitel 4.1.
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von Frauen zu erzeugen: Weibliche Bezugspersonen treten in den Nachkriegsnetzwerken der Befragten grundsätzlich und deutlich häufiger in Erscheinung als männliche, nämlich mit 64,8 % (276 Personen) gegenüber 35,2 % (150 Personen). Damit kann man von einer generellen Tendenz der Geschlechterhomophilie in den Nachkriegsnetzwerken ausgehen.12 Vergleicht man Rollenbezeichnung und Geschlechterzugehörigkeit miteinander, entsteht ein differenzierteres Bild, und die Aussagen zu den Geschlechterhomophilie-Tendenzen lassen sich verfeinern. Wie in nachfolgender Tabelle 8 ersichtlich, sind weibliche Bezugspersonen in freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Relationen markant in der Überzahl: 73,4 % der Freundschaften und 80,0 % der Nachbarschaftsbeziehungen bestehen zu Frauen. Hier zeigt sich also eine deutliche Tendenz zur Geschlechterhomophilie. Die Interviewpartnerinnen unterstützen vor allem weibliche Bezugspersonen und erhalten zugleich ihre soziale Unterstützung mehrheitlich von Frauen. Diese weiblichen Netzwerke werden deshalb als zentral für den vor allem halboffiziellen und informellen Informationsfluss betrachtet. Damit lässt sich die These, dass Frauen als Förderinnen von Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen auch heute eine wichtige Rolle spielen, bereits an dieser Stelle zumindest teilweise bestätigen. In verwandtschaftlichen Beziehungen gestaltet sich das Verhältnis der Geschlechter ausgeglichener. Genannt wurden 59,6 % weibliche und 40,4 % männliche Bezugspersonen. Für welche der vier Unterstützungsdimensionen sich die Frauen in erster Linie an Verwandte wenden, wird weiter unten ausgeführt. Tabelle 8: Geschlecht und Rolle der Unterstützungsperson Geschlecht der Bezugspersonen Rolle der Bezugsperson
Frauen
Verwandt/e
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Freund/in Nachbar/in
Vertreter/in einer Institution
Männer
Gesamt
59,5 %
104
40,5 %
257
100,0 %
80
73,4 %
29
26,6 %
109
100,0 %
25
80,6 %
6
19,4 %
31
100,0 %
15
62,5 %
9
37,5 %
24
100,0 %
Arbeitgeber/in
1
100,0 %
1
100,0 %
weitere
2
50,0 %
2
4
100,0 %
Gesamt
276
64,8 %
150
35,2 % 426
100,0 %
50,0 %
12 | Das Bild für die Netzwerke vor dem Krieg sieht praktisch gleich aus: Frauen sind mit 64,9 % in der Mehrheit, währenddem die Männer 35,1 % der Bezugspersonen ausmachen.
153
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Die Beziehungsarten Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft lassen sich in unterschiedliche Rollen aufschlüsseln. Zuvor gilt es aber, anhand eines Überblicks das Verwandtschaftssystem zu fokussieren und einige Verwandtschaftstermini zu erklären. Die bosnischen B-egriffe unterscheiden sich von den schweizerischen und lassen sich teilweise auch nicht auf Deutsch übersetzen. Sie werden auch in den Diskussionen der Fallgeschichten auftreten.
4.3.2 Das Ver wandtschaftssystem In Bosnien herrschte lange Zeit ein für Europa einzigartiges Verwandtschaftssystem vor. Es entsprach dem System der unilinearen bzw. der patrilinear-agnatischen Abstammungsverwandtschaft, worin alle als Verwandte gelten, die vom selben Urahn abstammen. Verwandtschaftsgrade waren in diesem System nicht bekannt, alle waren gleich stark miteinander verbunden. Dadurch wurde beispielsweise der Cousin zum Bruder (Kaser 1995; 2001: 74ff.). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders durch die sozialistische Modernisierung wurde dieses Verwandtschaftsmuster in seinem Kern einigen Veränderungen unterworfen: Das unilineare System veränderte sich in ein bilinear-kognatisches. Neue Gesetzgebungen und die in den 1950er Jahren massiv einsetzende Abwanderung in die Städte unterstützten diese Veränderungen. Durch die neu eingeführte obligatorische Schulpflicht ergab sich zudem auch vermehrt die Möglichkeit, Freundschaften und Bekanntschaften außerhalb der Verwandtschaft zu pflegen. Die traditionelle Verwandtschaftsordnung löste sich also langsam auf, und es ließ sich eine Annäherung an das westeuropäische Verwandtschaftssystem beobachten. Die Geschwister wurden nun begrifflich von den Cousins und Cousinen getrennt, bilaterale Verwandtschaftsgruppen wurden zur Norm, und heute sind unabhängige Nuklearfamilien nichts Außergewöhnliches mehr. Alle drei ethnoreligiösen Gruppen in Bosnien-Herzegowina vertreten in der Regel die ethnoreligiöse Endogamie und die Exogamie zwischen kollateralen Verwandten ersten bis neunten Grades. Sowohl die Parallelcousinen- als auch die Kreuzcousinenheirat unterliegen bis heute einem Inzesttabu (Kaser 1995). Die genealogische Berechnung ist primär agnatisch (über die Seite des Vaters), Verwandte der mütterlichen Linie werden aber auch in die Exogamieregel einbezogen. Das Wissen über Verwandte des neunten Grades war allerdings bei vielen Menschen bereits vor dem jüngsten Krieg nicht mehr vorhanden. Viele kannten zwar ihre Cousinen und Cousins ersten und zweiten Grades, und vielleicht auch noch diejenigen des dritten. Darüber hinaus wussten aber nur noch wenige über ihre Verwandtschaftsbeziehungen Bescheid (Bringa 1995: 143-157; Lockwood 1973). Die Regel des neunten Grades wurde jedoch von allen Gruppen in Bosnien-Herzegowina befürwortet.
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Um die bosnischen Verwandtschaftstermini in Tabelle 10, aber auch in der Darstellung der Lebensgeschichten zu verstehen, bedarf es einiger Ergänzungen und Erklärungen. Bei der slawischen Verwandtschaftsterminologie handelt es sich um einen Mischtyp zwischen einem linealen Typ, in dem ein einziger Terminus für die Brüder und Schwestern von Vater und Mutter vorherrscht, und einem bifurkativ-kollateralen Typ, in welchem sich die Bezeichnungen für die Brüder von Vater und Mutter unterscheiden (Kaser 1995: 170). In der Auswertung der gesammelten Begriffe lassen sich zudem Unterschiede zwischen den ethnoreligiösen Gruppen von Prijedor feststellen. Das heißt, die bosniakischen Befragten bezeichnen Verwandte nicht zwingend gleich wie die Befragten serbischer Herkunft. Um das ganze Begriffssystem noch zu verkomplizieren, existieren auch Begriffe aus der sozialistischen Zeit, die keine ethnische Färbung aufweisen. Im Folgenden werden die am häufigsten angetroffenen Begriffe vorgestellt, die auf die Position der Bezugspersonen im Verwandtschaftssystem hinweisen und die Beziehung zu den befragten Frauen (Ego) verdeutlichen. Hier sei vorerst noch auf einen Geschlechterunterschied hingewiesen: Es hängt vom Geschlecht der Sprechenden ab, wie ein bestimmter Verwandtschaftstyp bezeichnet wird (Kaser 1995: 174). So werden begrifflich die Geschwister der Eheleute deutlich unterschieden; ist der Sprecher ein Mann, dann bezeichnet er den Bruder der Ehefrau als Šurjak und die Schwester der Ehefrau als Svastika. Ist die Sprecherin eine Frau, wie in vorliegender Forschung, dann ist der Bruder des Ehemannes der Djever und die Schwester des Ehemannes die Zaova (vgl. Kaser 1995: 175). Wenn nicht anders gekennzeichnet, gilt im Folgenden die Begrifflichkeit aus der Perspektive der befragten Frauen. Unter den denotativen (oder deskriptiven) Verwandtschaftstermini, welche auf lediglich eine Person im Verwandtschaftsgeflecht hinweisen, sind laut den Angaben der befragten Frauen in Prijedor folgende vorhanden13: Otac oder Tata (Vater), Muž (Ehemann), Brat (Bruder), Sestra (Schwester), Sin (Sohn), Kćerka (Tochter), Zaova (Schwester von Egos Ehemann), Djever (Bruder von Egos Ehemann), und Jetrva (Ehefrau eines Djevers).
13 | Vergleichbare Verwandtschaftsaufstellungen für Bosnien konnten bei Kaser (1995) gefunden werden. Bei Halpern (1967 [1956]: 155, 162, 134-165) finden sich ausführliche Angaben zum serbischen Verwandtschaftssystem. Das Serbische ist teilweise vergleichbar mit dem in dieser Forschung Angetroffenen.
155
156
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Abbildung 4: Jetrva und Djever
Der Bruder des Ehemannes ist Egos Djever, dessen Ehefrau Egos Jetrva. Für die Jetrva ist Ego ebenfalls eine Jetrva. Die Begriffe für die Bezeichnung der Onkel sind ebenfalls denotativ: Der Onkel väterlicherseits wird Stric (bosnj. Amidža)14 genannt, derjenige mütterlicherseits heißt Ujak (bosnj. Dajdža). Die Frauen der Onkel werden ebenfalls mit einem eigenen Namen besetzt. So heißen die Ehefrau des Stric (Onkel vs.) Strina (bosnj. Amidžinica) und diejenige des Ujak (Onkel ms.) Ujna (bosnj. Dajdžinica). Auch für die Nichten und Neffen gibt es denotative Begriffe, die deutlich machen, welche Position diese Kinder im Verwandtschaftssystem genau innehaben: Den Sohn ihres Bruders nennt Ego Bratić (abgeleitet von Brat, dem Bruder), die Tochter Bratišnja. Sind es die Kinder der Schwester, so bezeichnet Ego den Neffen als Sestrić (von Sestra, Schwester abgeleitet) und die Nichte als Sestrišnja. Schließlich gibt es auch deskriptive Begrifflichkeiten für die Schwiegereltern: Wenn Ego eine Frau ist, so benutzt sie für die Schwiegermutter den Begriff Svekrva. Ist Ego ein Mann, dann spricht er von seiner Punica. Das gleiche gilt für den Schwiegervater, den weibliche Egos Sveker nennen, männliche hingegen Punac. Folgende Begriffe sind klassifikatorisch, umfassen also mehrere und unterschiedliche Personen und weisen nicht mehr zwingend auf eine deutliche Position im Verwandtschaftsgefüge hin: Für die Tanten väterlicher- wie mütterlicherseits sowie deren Ehemänner werden die Begriffe Tetka bzw. Tetak benutzt. Der bosnische Begriff Snaha steht für die Ehefrau des Bruders (Schwägerin), für die Schwiegertochter (Ehefrau des Sohnes) oder für die Ehefrau des Cousins – Snaha bezeichnet demnach alle eingeheirateten Frauen. Gleiches gilt für den Begriff Zet, der für den Ehemann der Schwester (Schwager) gebraucht wird, aber auch für den Schwiegersohn oder den Ehemann der Cousine stehen kann. Die Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits werden ebenfalls gleich benannt: Djed oder Dedo für den Großvater, Nena oder Majka für die Großmut14 | Für gewisse Bezeichnungen existieren Termini, die nur von Bosniaken und Bosniakinnen gebraucht werden. Diese sind jeweils in Klammer und mit der Bezeichnung bosnj. angegeben.
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ter. Majka ist außerdem ein Begriff für die Mutter, die auch mit Mati bezeichnet wird. Für die Cousinen und Cousins gibt es bis zu vier unterschiedliche Begrifflichkeiten. Eine entspricht dem deutschen Terminus für Cousine bzw. Cousin, welcher eine genaue Zuordnung im System der Verwandtschaft nicht mehr zulässt, also ein klassifikatorischer Begriff ist. Es sind dies die männliche Form Nerođeni Brat (dt. der ›ungeborene‹ Bruder) und das weibliche Äquivalent Nerođeni Sestra (dt. die ›ungeborene‹ Schwester). Für die Kinder des Onkel mütterlicherseits und väterlicherseits werden aber auch denotative Begriffe gebraucht, die auf einen genauen Platz im Verwandtschaftssystem hinweisen – z.B. Strićevka, die Tochter des Onkels väterlicherseits (siehe nachfolgende Tabelle 9). Für die Kinder der Schwestern von Mutter oder Vater existieren ferner wiederum klassifikatorische Begriffe, die eine genaue Zuordnung zur Vater- oder Mutterseite nicht mehr zulassen. Auch mit diesen Bezeichnungen wird deutlich, dass die Verwandtschaft über die Männer funktioniert. Tabelle 9: Bezeichnungen für Cousinen und Cousins COUSINE
COUSIN
Die Kinder der Tante Nerođena sestra Nerođeni brat väterlicherseits Tetišnja Tetić (Tetka) Sestra po tetki (nur serbisch) Brat po tetki (nur serbisch) Die Kinder der Tante Nerođena sestra Nerođeni brat mütterlicherseits Tetišnja Tetić (Tetka) Sestra po tetki (nur serbisch) Brat po tetki (nur serbisch) Die Kinder des Onkels väterlicherseits (Stric, Amidža)
Nerođena sestra Strićevka Amidžišnja (nur bosnj.) Sestra po stricu (nur serbisch)
Nerođeni brat Strićević Amidžić (nur bosnj.) Brat po stricu (nur serbisch)
Die Kinder des Onkels mütterlicherseits (Ujak, Dajdža)
Nerođena sestra Dajdžišnja (nur bosnj.) Sestra po ujaku (nur serbisch)
Nerođeni brat Dajdžić (nur bosnj.) Brat po ujak (nur serbisch)
In der nachfolgenden Abbildung 5 sind die Begrifflichkeiten in der Darstellung des Verwandtschaftssystems ersichtlich.
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Abbildung 5: Das Verwandtschaftssystem
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Bevor die soziale Unterstützungsleistung wieder ins Zentrum rückt, ist ein weiterer Begriff zu erläutern: die Patenschaft, genannt Kumstvo, die als Strategie zur Erweiterung von Verwandtschaft, Freundschaft und Allianzen gilt. Auch wenn die Patenschaft ihren Ursprung in vorchristlicher Zeit hat, ist sie in ihrer heutigen Erscheinungsform in Bosnien stark vom Christentum geprägt (Kaser 1995: 258). Das Christentum sieht sowohl Taufpaten als auch Trauzeugen vor. Die dritte in Bosnien vorkommende Art, die Haarschneidepatenschaft15 , ist nicht kirchlich legitimiert. Bei den Serbinnen und Serben wählt der Pate beispielsweise den Namen des Kindes aus, bei den Musliminnen und Muslimen schneidet er dem Kind nach dem ersten Geburtstag zum ersten Mal die Haare. – Festgelegt wird, wer nicht Pate sein darf: Die Eltern dürfen nicht als Taufpaten fungieren. Trauzeugen hatten früher männlich zu sein (Hammel 1968: 5-8). Zwischen den Paten und den Getauften entsteht eine geistige Verwandtschaft, die früher ein Heiratstabu mit sich brachte. Dies galt nicht für die Trauzeugen. Heute scheint es verbreitet zu sein, dass auch Frauen als Trauzeuginnen fungieren – viele der befragten Frauen erwähnen sowohl ihre Kuma, die Trauzeugin, als auch ihren Kum, den Trauzeugen. Die Praxis brachte also weitreichende Abweichungen der ursprünglichen Formen zum Vorschein.16 Generell wird die Patenschaft als eine geeignete Strategie beschrieben, durch künstlich hergestellte Verwandtschaftsbeziehungen potentielle Feinde zu Freunden zu machen (Kaser 1995: 262f.). Dennoch, die Bedeutung solcher Beziehungen darf nicht überschätzt werden. Denn wie die Fallgeschichten zeigen, haben sich die Patenschaften in schweren Krisenzeiten als zu schwach erwiesen, um Konflikte auch tatsächlich vermeiden zu können.
Wer genau leistet soziale Unterstützung? Nach dem Einblick in die verwandtschaftlichen Begrifflichkeiten soll nun aufgeschlüsselt werden, welche Personen hauptsächlich soziale Unterstützung leisten. Bereits erwähnt wurde, dass sich die Unterstützungsnetzwerke der befragten Frauen zu einem großen Teil aus Verwandten zusammensetzen (60,4 %) und Freunde, Bekannte sowie Nachbarn einen geringeren Anteil ausmachen (34 %). Folgende Aussagen beschreiben die einzelnen Beziehungsarten nun detaillierter. Anhand Tabelle 10 lässt sich folgendes Muster festhalten: Am häufigsten nennen die Frauen ihre eigenen Geschwister, ihre Tochter, die Mutter und die 15 | Die Haarpatenschaft wurde mir gegenüber nur von bosniakischen Interviewpartnerinnen erwähnt: Es gibt keinen Taufpaten bei den Bosniakinnen und Bosniaken, dafür wird ein Pate ausgesucht, der dem Kind die ersten Haare schneidet und damit die Funktion des Taufpaten übernimmt (gemäß Feldnotizen Nr. 3). 16 | Ausführlich dazu bei Halpern (1967 [1956]), Hammel (1968), Kaser (1995) und Lockwood (1972).
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Tanten mütterlicherseits und väterlicherseits als unterstützende Personen. Als erste nicht konsanguine weibliche Verwandte wird die Snaha oder Jetrva genannt, also die Ehefrau des Bruders, die Schwiegertochter oder die Ehefrau eines Cousins. Dieses Muster – das primäre Aktivieren der konsanguinen Verwandten für soziale Unterstützung – verweist auf die Wichtigkeit der eigenen Verwandtschaftsgruppe, die über die Eheschließung hinaus erhalten bleibt. Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass die Frauen zwar durch die partrilineare und virilokale Verwandtschaftstradition einen Bruch in ihren Netzwerken erleiden, die Beziehungen zur eigenen Verwandtschaftsgruppe aber nicht abbrechen und diese vor allem auch nicht an Wichtigkeit verlieren (Bringa 1995; Halpern 1967 [1956]; Kaser 1995, 2001). Damit ist ein Prinzip angesprochen, das eine logische Folge der patrilinearen Verwandtschaftstradition ist: Das weibliche Netzwerk stellt die Verbindungen zu »fremdem« Blut her (Kaser 1995: 188), indem die Frauen mit anderen Frauen Beziehungen pflegen. Wie bereits verschiedentlich erwähnt, befinden sich die Frauen nach ihrer Heirat in einer ambivalenten Position. Durch die Heirat werden sie zur Außenseiterin in der Familie des Ehemannes, gegenüber der sie sich aber loyal zu verhalten haben. Gleichzeitig bleiben die Kontakte mit ihren eigenen Blutsverwandten und den mütterlichen Verwandten als wichtige Beziehungen bestehen. Damit können die Ehefrauen in ein Rollendilemma geraten: Soll ihre Solidarität der neuen Verwandtschaft gelten oder der eigenen Abstammungsgruppe? Nach der Heirat besteht der Kern des weiblichen Netzwerkes aus vier Kategorien von Frauen, die durch den Ehemann miteinander verbunden sind. Neben Ego als Ehefrau sind dies die Schwester des Ehemannes (also die Zaova), die Tochter und die Mutter des Ehemannes (die Svekrva). Damit besagt das System, dass die übrigen weiblichen Beziehungen für Ego an Wichtigkeit verlieren müssten, obwohl Ego eigentlich emotionalere Beziehungen zu ›ihren‹ Frauen aufweist (bspw. zur eigenen Schwester). Sie befindet sich deshalb in einer spannungsgeladenen Situation (vgl. Kaser 1995: 188f.). Ein ähnliches Muster kristallisiert sich auch in den Daten von Dahinden (2005a: 184) heraus. Sie hält fest, dass in ihrer Untersuchungseinheit die kosovo-albanischen Frauen enge Verbundenheiten mit ihrer eigenen erweiterten Verwandtschaft aufrechterhalten und sich diese Verbundenheiten erstaunlicherweise sogar in der Migrationssituation erhalten können. Damit weist sie auf die komplementären Netzwerkstrukturen von kosovo-albanischen Frauen und Männern hin. Das weibliche Netzwerk gilt dabei als logisches Gegenstück zum männlichen. »Frauen haben primär mit Frauen Kontakt. Sie fühlen ihren engsten Kontakt mit ihren Blutsverwandten, daneben jedoch auch – und dies ist ein gravierender Unterschied zur Männerseite – mit der eigenen Milchverwandtschaft, das heißt, mit ihren mütterlichen Verwandten.« (Kaser 1995: 188) Mit den hier vorliegenden Daten lässt sich keine entsprechende Aussage generieren, da keine Netzwerke von Männern erhoben wurden. Auch in vorliegen-
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der Forschung pflegen Frauen aber in erster Linie mit anderen Frauen Kontakt und fühlen sich ihren (weiblichen) konsanguinen Verwandten am engsten verbunden. Nebst der Schwester nimmt der Bruder in den Unterstützungsnetzwerken der Frauen eine zentrale Rolle ein. Diverse Studien thematisieren die Bedeutung der Geschwisterbeziehungen, die affektive Komponenten aufweisen und oft auch in Krisensituationen eine zentrale Rolle einnehmen (Dahinden 2005a: 195). Eine weitere Ausnahme von den primär weiblichen Beziehungen stellt die Beziehung zum Ehepartner dar. Der Ehemann nimmt besonders nach dem Krieg eine zentrale Stellung ein, wenn es um allgemeine soziale Unterstützung geht (dass dies nicht für alle vier Dimensionen der sozialen Unterstützung so sein muss, wird nachfolgend diskutiert). In der Kategorie der Freunde/Freundinnen und Bekannten erhalten die Interviewpartnerinnen vor allem von der besten Freundin soziale Unterstützung, aber auch von anderen nahen Personen des Freundeskreises. Betrachtet man die Anteile am Total der Nennungen, dann sind es sogar die Freunde und Freundinnen, die mit 13,6 % den größten Anteil stellen, während die Schwestern nur 7,3 % ausmachen. Auch in der Kategorie der Freunde/Freundinnen sind es mehrheitlich die Frauen, die soziale Unterstützung leisten (66,1 % Frauen zu 33,9 % Männern). Ersichtlich wird aber auch, dass die Nachbarinnen – es handelt sich mit 88 % der Genannten fast nur um Frauen – eine große Stütze im Alltag darstellen. Sie werden gleich häufig genannt wie die Schwestern.
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Tabelle 10: Genaue Rollenbezeichnungen der unterstützenden Personen17 Rolle der unterstützenden Person Schwester Bruder Tochter Snaha oder Jetrva (Ehefrau des Bruders, Schwiegertochter, Ehefrau des Cousins) Ehemann Mutter Tante (Tetka) ms, vs Cousine Sohn Zaova (Schwester von Egos Ehemann) Djever (Bruder von Egos Ehemann) Zet (Ehemann d. Schwester, Schwiegersohn) Schwiegermutter Cousin Vater Kum/a (Pate/Patin) Strina (Ehefrau des Onkels vs) Ehemann der Tante ms, vs (Tetak) Schwiegervater Großmutter Onkel weitere Verwandte Verwandte gesamt
Häufigkeit Prozent 31 7,3 % 29 6,8 % 22 5,2 % 22 17 16 16 14 12 9 7 7 7 7 6 5 4 4 3 3 3 13 257
5,2 % 4,0 % 3,8 % 3,8 % 3,3 % 2,8 % 2,1 % 1,6 % 1,6 % 1,6 % 1,6 % 1,4 % 1,2 % 0,9 % 0,9 % 0,7 % 0,7 % 0,7 % 3,2 % 60,4 %
Freundin/Freund Beste Freundin
58 30
13,6 % 7,0 %
Nachbarin Hausfreundin/Hausfreund Bekannte/Bekannter Freund, Liebe Arbeitskollege/Arbeitskollegin Freund/innen, Bekannte gesamt Vertreter/in einer Institution und andere
31 15 5 3 3 145 24
7,3 % 3,5 % 1,2 % 0,7 % 0,7 % 34,0 % 5,6 %
Total
426 100,0 %
17 | Der Einfachheit halber wird die Kategorie Cousine hier nicht weiter differenziert. Am meisten wurden die Cousinen mütterlicherseits genannt.
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4.3.3 Ethnische Homogenität Die Auswertung der Netzwerke weist auf eine latente ethnische Zweiteilung hin, ganz im Gegensatz zur Auswertung der lebensgeschichtlichen Erzählungen.18 In letzteren betonten die Interviewpartnerinnen mit Nachdruck die Multiethnizität der Gesellschaft, in welcher sie sich vor dem Krieg bewegt hatten. In der Netzwerkanalyse zeigen sich nun ethnisch weitgehend homogene Vorkriegsnetzwerke: Die Befragten nannten für alle vier Unterstützungsdimensionen vorwiegend Angehörige der eigenen Ethnie. Die 21 bosniakischen Interviewpartnerinnen gaben für die Zeit vor dem Krieg gesamthaft 312 Bezugspersonen an, wobei 84,6 % der Genannten den gleichen ethnischen Hintergrund aufweisen. Bloß 8,3 % bezeichneten sie als serbisch und 2,2 % als kroatisch. Das Bild der Nachkriegsnetzwerke sieht ganz ähnlich aus oder ist ethnisch sogar noch ausgeprägter homogen: Bei gesamthaft 306 genannten Bezugspersonen gehören 88,9 % wie die Interviewpartnerinnen der bosniakischen Gruppe an, 3,3 % der serbischen und 1 % der kroatischen. Bei den bosniakischen Interviewpartnerinnen kann man also sowohl für die Zeit vor als auch für jene nach dem Krieg von einem weitgehend homogenen ethnischen Unterstützungsnetzwerk sprechen. Bei den befragten Serbinnen zeigt sich die ethnische Färbung der Netzwerke weniger deutlich, dennoch ist das Resultat ein ähnliches. Allerdings könnte der direkte Vergleich zwischen den beiden ethnischen Gruppen einer Verzerrung unterliegen, weil sie nicht gleich groß sind und deshalb auch nicht über eine ähnliche Gesamtzahl von Bezugspersonen verfügen. Die zehn serbischen Interviewpartnerinnen nannten für die Zeit vor dem Krieg gesamthaft 116 Bezugspersonen, von denen sie 61,2 % als Serbinnen, 26,7 % als Bosniakinnen und 9,5 % als Kroatinnen bezeichneten. Für die Zeit nach dem Krieg ergibt sich ein ähnliches Bild: Von den 89 Bezugspersonen weisen 69,7 % einen serbischen Hintergrund auf, 24,7 % einen bosniakischen und 1,1 % einen kroatischen. Trotz der weniger hohen Anteile ethnisch homogener Beziehungen kann man also auch bei den befragten Serbinnen zumindest von einer Tendenz zur ethnischen Homophilie ausgehen. Wie groß die Unterschiede zwischen den einzelnen Befragten sein können, wird anhand der individuellen Auswertungen der Netzwerkanalysen in Zusammenhang mit den Lebensgeschichten deutlich. Zwei kritische Überlegungen seien den Aussagen zur ethnischen Homogenität angefügt. Zum einen schränkte die gewählte Methode die Nennung der Bezugspersonen (bewusst) ein. Wegen des Fokus auf soziale Unterstützung 18 | Für die folgenden Auswertungen werden nur Interviewpartnerinnen einbezogen, die einen serbischen oder einen bosniakischen Hintergrund haben. Die Gruppe der Kroatinnen wird hier nicht weiter betrachtet: Sie ist nur mit zwei Frauen vertreten, was auch der tatsächlichen demografischen Aufteilung entspricht – die Kroatinnen wurden bis auf wenige Ausnahmen aus Prijedor vertrieben und sind nicht zurückgekehrt.
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im Alltag enthielt der Namensgenerator nur Fragen, die helfen sollten, soziale Unterstützungsbeziehungen zu erfassen. Andere Beziehungen, wie beispielsweise die Beziehung zur Marktfrau, bei der sie jede Woche einkauften, oder diejenige zu den Lehrpersonen der Kinder, konnten die Frauen daher nicht nennen. Es wurde also ein bestimmter Beziehungstyp vorgegeben, und nur zu diesem Typ lassen sich auch Aussagen generieren. Anders gesagt, ist ein Unterstützungsnetzwerk definitionsgemäß analytisch abgegrenzt und erfasst nur unterstützende Beziehungen in Bereichen, die vorgängig als relevant bestimmt wurden (Dahinden 2005a: 95). Deshalb ist es durchaus denkbar, dass mit anderen Fragen und einem anderen Fokus als jenem der sozialen Unterstützung ethnisch heterogenere Beziehungsnetze hätten abgefragt werden können. Zum anderen ist bei den Auswertungen der Netzwerke zu bedenken, dass sich ein Teil der Erhebung stark auf die Erinnerung der befragten Frauen verlassen musste. Dies ist nicht ganz unproblematisch, weil die Erinnerung eine Verzerrung mit sich bringen kann. So darf man annehmen, dass aufgrund der Kriegsereignisse und des Kriegsziels der ethnischen Säuberung viele serbische Freunde und Bekannte in der Erinnerung gar nicht mehr präsent sind oder sich die Befragten aufgrund ihrer Erlebnisse nicht mehr an sie erinnern wollen. Interessant ist allerdings, dass die Lebensgeschichten wie eingangs erwähnt auf das genaue Gegenteil hinweisen. In den biografisch-narrativen Interviews berichteten die Frauen von einer multiethnischen Gesellschaft, von den unbelasteten Beziehungen zu allen Menschen, ganz egal, welcher Ethnie, Religion oder Nationalität diese angehörten. Daher wäre in der Analyse der Netzwerke ein ethnisch heterogeneres Muster zu erwarten gewesen.
4.3.4 Lokalität und Transnationalität in den Beziehungsnetzwerken Als nächstes interessiert, wo sich der tägliche Kontakt zu den Bezugspersonen primär abspielt: Sind die Beziehungen an territoriale Nähe gebunden oder können sie sich auch über nationale Grenzen hinweg erhalten und für die soziale Unterstützung relevant sein? Verschiedene jüngere Netzwerkuntersuchungen in der Migrationsforschung betonen die große Bedeutung der Lokalität für soziale Unterstützungsnetzwerke (Dahinden 2005a; Wimmer 2000). Die geografische Nähe der Akteure erleichtert die Kommunikation erheblich. Generell lässt sich für die hier erhobenen Netzwerke folgendes sagen: Zwar leben rund ein Viertel der genannten Bezugspersonen in unmittelbarer Nachbarschaft, aber mit 34,4 % Unterstützungspersonen im Ausland fällt der Anteil der letzteren deutlich höher aus als bei anderen Forschungen (z.B. Dahinden 2005a: 177). Da sich aber die Kriegs- und Migrationserlebnisse der befragten Frauen je nach ethnoreligiöser Zugehörigkeit stark unterscheiden, sollen auch für die Frage nach lokalen und transnationalen Beziehungen die ethnischen Merkmale unterschieden werden.
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Beziehungslokalität der bosniakischen Inter viewpartnerinnen Wie aus Tabelle 11 ersichtlich, bestehen die Netzwerke der Bosniakinnen nur zu 29,7 % aus Bezugspersonen, die wie sie in der serbischen Republik leben. Von diesen 91 genannten Bezugspersonen leben knapp ein Drittel im gleichen Haushalt wie Ego, ein Drittel in der Nachbarschaft und etwas weniger als ein Drittel in der gleichen Stadt. Rund 3,4 % der Bezugspersonen leben hingegen in der anderen Entität der Föderation Bosnien-Herzegowina. Mehrheitlich handelt es sich um Beziehungen zu Personen, welche mit den interviewten Frauen nach der Rückkehr nach Bosnien eine gewisse Zeit am gleichen Ort gelebt haben. Denn 90,5 % der interviewten Bosniakinnen konnten nicht direkt an ihre Herkunftsorte in der serbischen Republik zurückkehren. Sie mussten für bis zu acht Jahre in Provisorien Zuflucht suchen, welche in der Entität FBiH lagen. Ebenfalls in der Kriegs- und Migrationserfahrung kann ein Grund für den hohen Anteil transnationaler Beziehungen der bosniakischen Interviewpartnerinnen gesehen werden. 37,7 % der Beziehungen bestehen zu Menschen, die heute im Ausland leben: 8,2 % auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, 25,5 % in Westeuropa und 3,9 % in Übersee (USA, Neuseeland, Australien). Mehrheitlich handelt es sich um Beziehungen zu Angehörigen der eigenen Ethnie, die nach dem Krieg nicht in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. Von den Beziehungen der Bosniakinnen ist also weniger als ein Drittel lokal ausgerichtet. Bei Dahinden (2005a: 176) zeigt sich genau das Gegenteil. In ihrer Untersuchung zu albanischen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz ist die Mehrheit der Beziehungen lokal ausgerichtet, währenddem nur in 12,9 % der Fälle soziale Unterstützung über transnationale Grenzen hinweg beansprucht wird. Diese Forschung hat allerdings einen etwas anderen Fokus und ist deshalb nur bedingt mit der vorliegenden vergleichbar: Sie untersucht die Wirkung des sozialen Kapitals auf die Integration albanischer Migrantinnen und Migranten in der Schweiz. Vorliegende Untersuchung betrachtet genau die andere Seite, also diejenigen Beziehungen, die vom Herkunftsland ins Ausland reichen. Hier zeigt sich, dass das Beziehungsnetz der bosniakischen Rückkehrerinnen zu etwas mehr als zwei Dritteln regional oder international ausgerichtet ist. Lediglich ein Drittel der Bezugspersonen befinden sich vor Ort und können spontan für soziale Unterstützung angegangen werden. Diese geringe Lokalität lässt sich einerseits darauf zurückführen, dass viele der interviewten Frauen erst seit kurzer Zeit wieder in ihrer Herkunftsgemeinde leben (die große Rückkehrwelle in die Gemeinde Prijedor fand in den Jahren 2001 und 2002 statt) und sie deshalb ihre lokalen Beziehungsnetze erst aufbauen. Andererseits kann die geringe Lokalität auch auf die Segregation der Gesellschaft in Prijedor hinweisen, eine Gesellschaft, in der die Bosniakinnen eine Minderheit darstellen und mehrheitlich ethnisch homogene Beziehungen zu anderen Bosniakinnen pflegen (siehe Homogenität der Beziehungen weiter oben), ungeachtet des Aufenthaltsortes der Bezugspersonen. Die Art der Unterstützung scheint wichtiger zu sein als der geografische Aufenthaltsort der Unter-
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stützenden. Ganz zentral erhalten die Bosniakinnen finanzielle Unterstützung durch ihre transnationalen Beziehungen (siehe weiter unten). Tabelle 11: Wohnort der Bezugspersonen heute, bosniakische Interviewte
Häufigkeit Republika Srpska, Bezugsperson lebt
Prozent
91
29,7
28 1 30 24 8 91
30,77 1,10 32,97 26,37 8,73 100
Föderation Bosnien-Herzegowina
96
31,4
Ehemaliges Jugoslawien
25
8,2
Westeuropa
78
25,5
Restliche Welt
12
3,9
Weiß nicht
2
0,7
Verstorben
2
0,7
306
100
% % % % % %
Gesamt
im gleichen Haushalt im gleichen Haus in der Nachbarschaft in der gleichen Stadt/ im gleichen Dorf in der gleichen Entität (RS) Gesamt
Beziehungslokalität der serbischen Inter viewpartnerinnen Für die serbischen Interviewpartnerinnen zeigt sich ein etwas anderes Bild. Es entspricht eher einem ausgeprägt lokalisierten Netzwerk wie bei Dahinden (2005a): 64 % der Bezugspersonen leben heute in der Republika Srpska. Sie wohnen mehrheitlich im selben Dorf oder der gleichen Stadt wie Ego oder teilen sich mit ihr sogar einen gemeinsamen Haushalt und die Nachbarschaft. Dennoch, 36 % der genannten Beziehungen sind auch bei den Serbinnen transnational ausgerichtet – auf den ersten Blick ein unerwartet hoher Anteil, insbesondere, da diese Gruppe während des Krieges mit einer Ausnahme vor Ort blieb und dort heute die Mehrheit darstellt. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass sich mehr als die Hälfte der ›transnationalen‹ Beziehungen auf Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens beschränkt. Diese Beziehungen galten vor dem jüngsten Krieg noch nicht als transnational. Erst seit den Souveränitätserklärungen der jeweiligen Gebiete verbinden sie über nationale Grenzen hinweg. Lediglich 10,1 % der genannten Beziehungen reichen bei den serbi-
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schen Interviewpartnerinnen nach Westeuropa und 5,6 % in die restliche Welt, meist nach Übersee. Es zeigt sich also, besonders im Vergleich mit den befragten bosniakischen Frauen, eine deutlich lokale Ausrichtung der ›serbischen‹ Netzwerke. In Anbetracht der Kriegs- und Migrationserfahrungen der serbischen Interviewpartnerinnen ist dies nicht weiter erstaunlich. Die Mehrheit dieser Frauen verblieb während des Krieges vor Ort, eine migrierte innerhalb des ehemals jugoslawischen Gebietes. Tabelle 12: Wohnort der Bezugspersonen heute, serbische Interviewte
Häufigkeit Republika Srpska, Bezugsperson lebt:
Prozent
57
64.0
10 3 7 36 1 57
17,55 5,26 12,28 63,16 1,75 100,00
Föderation Bosnien-Herzegowina
4
4,5
Ehemaliges Jugoslawien
14
15,7
Westeuropa
9
10,1
Restliche Welt
5
5,6
89
100
% % % % % %
Gesamt
im gleichen Haushalt im gleichen Haus in der Nachbarschaft in der gleichen Stadt/im gleichen Dorf in der gleichen Entität (RS) Gesamt
Unterstützungsdimensionen transnationaler Beziehungen Interessieren die Unterstützungsdimensionen der transnationalen Beziehungen, so sind auch dabei die unterschiedlichen Kriegs- und Migrationserfahrungen zu berücksichtigen. Die Netzwerke der bosniakischen und der serbischen Interviewpartnerinnen sollen also gesondert betrachten werden. Für emotionale Unterstützung wenden sich die bosniakischen Interviewpartnerinnen vor allem an Bezugspersonen, die entweder in der Republika Srpska oder in der Föderation leben. Der Anteil dieser Personen beträgt 78,1 %. Im Ausland leben nur 21,7 % der Bezugspersonen, die emotionale Unterstützung leisten. Dies erstaunt nicht weiter, braucht es doch für emotionale Unterstützung den direkten Kontakt, welcher mit Menschen im Ausland aufgrund der horrend hohen Telefonkosten nahezu unmöglich ist. Gleiches lässt sich für die instrumentelle Unterstützung sagen: Nur 13,7 % der dafür genannten Bezugspersonen
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leben außerhalb der Landesgrenzen. Instrumentelle Unterstützung wie etwa die Hilfe im Haushalt oder am Haus erfordert die Anwesenheit der Person vor Ort. Etwas anders sieht es bezüglich sozialer Aktivitäten aus, zu denen auch Besuche zählen. Hier verteilen sich die Anteile gerade umgekehrt: 40 % der entsprechenden Beziehungen sind transnational, 34 % reichen in die Föderation und ›nur‹ 25,5 % der Besuchenden leben ebenfalls in der serbischen Republik. Auch dies könnte sich als Hinweis auf eine segregierte Gesellschaft lesen lassen: Weil die Bosniakinnen nach ihrer Rückkehr in der Minderheit sind, bevorzugen sie für ihre sozialen Aktivitäten immer noch mehrheitlich Menschen, die in anderen Regionen Bosniens oder im Ausland leben. Allerdings ist hier anzumerken, dass viele der Netzwerke erhoben wurden, als die Diaspora zu Besuch war. Dieser Umstand kann eine gewisse Verzerrung der Resultate zur Folge haben. Man darf annehmen, dass für die Dimension soziale Aktivitäten der Anteil transnationaler Beziehungen sonst weniger markant ausgefallen wäre. Die Unterstützungsnetzwerke der bosniakischen Befragten lassen sich besonders im Bereich der finanziellen Unterstützung als transnational charakterisieren. Damit sind die sogenannten Remittances (dt. Rimessen) angesprochen, die in letzter Zeit in den Transnationalismus-Studien, aber auch in der Diskussionen rund um Entwicklungszusammenarbeit einen wichtigen Platz einnehmen (u.a. Basch et al. 1994; Carling 2008; Gosh 2006; Horst 2007). Remittances werden von der IOM wie folgt definiert: »[…] migrant remittances are defined broadly as monetary transfers that a migrant makes to the country of origin. In other words, financial flows associated with migration« (International Organisation of Migration IOM). Vergleicht man vorliegende Untersuchung mit derjenigen von Dahinden (2005a:247f.), lässt sich folgender Unterschied festhalten: In Dahindens Studie spielen transnationale Beziehungen in Bezug auf die Einkommensquellen keine allzu große Rolle für die in der Diaspora lebenden Menschen – dies erscheint logisch, verfügen doch die in der Heimat Zurückgebliebenen über zu knappe finanzielle Ressourcen, als dass sie ihren Verwandten im Ausland Geld überweisen könnten. Für die Angehörigen im Heimatland hingegen sind die transnationalen, meist auf finanzielle Unterstützung ausgerichteten Beziehungen angesichts ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage nicht nur eine willkommene, sondern eine unentbehrliche Einkommensquelle. Die bosniakischen Befragten erhalten zu 59,3 % finanzielle Unterstützung aus dem Ausland – für die meisten sind es mitunter diese Unterstützungen, die ihnen den Lebensunterhalt ermöglichen. Damit zeigt sich eine finanzielle Abhängigkeit der in der Heimat Verbliebenen von den Verwandten im Ausland. Mit der Aufschlüsselung der vier Unterstützungsdimensionen lässt sich für die bosniakischen Interviewpartnerinnen sagen, dass sie mit Ausnahme der emotionalen Unterstützung vor allem Beziehungen in die Föderation oder sogar ins Ausland aktivieren. Damit ziehen sie Sozialkapital weniger aus lokalen Netzwerken als vielmehr aus transnationalen und solchen, die in die andere Entität reichen.
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Bei den serbischen Interviewpartnerinnen zeigt sich in allen vier Unterstützungsdimensionen eine deutliche Präferenz, sich an Menschen zu wenden, die in unmittelbarer Umgebung leben. Für instrumentelle Unterstützung befinden sich 91,7 % der Hilfeleistenden im direkten Umfeld. Bei den sozialen Aktivitäten sind es 64,9 %, bei der emotionalen Unterstützung 66,7 % und bei der finanziellen sogar 71,4 %. Es lässt sich bezüglich der finanziellen Unterstützung auch für die serbische Gruppe festhalten, dass Interviewpartnerinnen mit transnationalen Beziehungen diese hauptsächlich für finanzielle Unterstützung aktivieren. Dennoch, es zeigt sich bei den Serbinnen, dass sie vor Ort über ein stark lokalisiertes Netzwerk verfügen und das Sozialkapital insbesondere aus diesen lokalen Beziehungen generieren können. Besonders brisant werden die Aussagen zur Transnationalität und den finanziellen Unterstützungen, wenn Aussagen aus den biografischen Interviews dazu genommen werden. Die vor Ort verbliebenen Domicilna fühlen sich aufgrund der finanziellen Unterstützung, die die Zurückgekehrten erhalten, diskriminiert. Sie fühlen sich benachteiligt und machen diesbezüglich eine Ungleichheit zwischen den Bosniakinnen und sich selbst fest. Diese Ungleichheit schürt Gefühle der Eifersucht und kann für eine gesellschaftliche Segregation mitverantwortlich sein. Ein Kritikpunkt ist hier anzufügen: Die Erhebung der sozialen Netzwerke stellt eine Momentaufnahme dar, und zwar eine Momentaufnahme sozialer Beziehungen, wie sie vorgängig durch die Methode festgelegt wurden. Es kamen ausschließlich die im Fragebogen vorgegebenen vier Unterstützungsdimensionen zur Sprache. Es interessierte in erster Linie die soziale Unterstützung und nicht, ob die Beziehungen transnational oder lokal ausgerichtet sind. Zusätzlich ist zu bedenken, dass transnationale Beziehungen eine intensivere Pflege erfordern als die lokalen: Distanz und Trennung von den Bezugspersonen erschweren die Mitnahme des sozialen Kapitals ins Ausland, die Mitnahme des Sozialkapitals bei der Rückkehr ins Herkunftsland und das Aufrechterhalten dieser Beziehungen. Das ist aus eigener Erfahrung wohl allen bekannt: Mit dem Wegzug aus einem Ort gehen meist unbemerkt auch viele soziale Beziehungen verloren. Umso erstaunlicher ist es, dass die meisten bosniakischen Befragten ihre Beziehungen über die Grenzen hinweg aufrechterhalten können. Dies ist für die Gesellschaft und die soziale Vernetzung der Individuen von großer Aussagekraft.
4.3.5 Funktion der Bezugspersonen Um die Art der Beziehungen beschreiben zu können, soll nun aufgezeigt werden, wer genau welche Unterstützungsfunktion übernimmt. Dazu werden die sozialen Unterstützungsleistungen unterteilt in vier Bereiche: den emotionalen, den finanziellen, den instrumentellen und den Bereich der Freizeitaktivi-
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täten. Zudem sollen die Funktionen auch nach Geschlecht, Rollenkategorie und ethnischer Zugehörigkeit der Bezugspersonen betrachtet werden. Wie weiter oben festgehalten, leisten grundsätzlich mehr Frauen als Männer den Interviewpartnerinnen soziale Unterstützung. Dies zeigt sich auch in Tabelle 13 deutlich: Der Anteil weiblicher Unterstützender beträgt insgesamt 64,8 %, jener der männlichen 35,2 %. Aufgeschlüsselt nach der Art der Hilfeleistung verfestigt sich dieses Bild: In allen vier Dimensionen werden mehrheitlich Frauen genannt. Dennoch lassen sich bei genauer Betrachtung einige geschlechterspezifische Besonderheiten ausmachen. Tabelle 13: Funktionalität nach Geschlecht (gesamte Befragtengruppe) Geschlecht weiblich
männlich
Gesamt
Instrumentelle Unterstützung
56
59,6 %
38
40,4 %
94
14,4 %
Finanzielle Unterstützung
51
61,4 %
32
38,6 %
83
12,8 %
Emotionale Unterstützung
88
66,7 %
44
33,3 %
132
20,3 %
Soziale Aktivitäten
227
66,4 %
115
33,6 %
342
52,5 %
Gesamt
422
64,8 %
223
35,2 %
651
100,0 %
Wie in Tabelle 13 ersichtlich, ist der Anteil der männlichen Bezugspersonen im Bereich instrumentelle Unterstützung am höchsten. Für die Hilfe im und am Haus – dies betrifft in erster Linie größere Renovations- und Ausbesserungsarbeiten in den Häusern und Wohnungen wie Wände weißeln, Elektrisches installieren oder das Erledigen größerer Arbeiten um das Haus, in den Gärten und auf den Feldern – werden sogar mehrheitlich Männer angegangen. Ebenso nennen die Befragten mehrheitlich Männer, wenn es um Begleitung bei Behördengängen geht (66,7 %). Tabelle 14 zeigt außerdem, dass für instrumentelle Hilfe 69,1 % Verwandte angegeben werden und nur 21,3 % Personen aus Freundeskreis oder Nachbarschaft. Besonders der Ehemann nimmt bei der instrumentellen Hilfe eine zentrale Position ein, gefolgt von weiteren männlichen Verwandten wie Brüder und Onkel. Für die Vorbereitung religiöser Feste und anderer Anlässe jedoch greifen die Frauen eher auf die Hilfe anderer Frauen (sowohl verwandte als auch nicht verwandte) zurück.
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
Für den Bereich finanzielle Unterstützung beträgt der Männeranteil immerhin 38,6 %. Diese Männer sind mehrheitlich mit der befragten Frau verwandt (65,1 %). Nur in seltenen Fällen greifen die Interviewten für finanzielle Unterstützung auf Freunde oder Nachbarn zurück (27,7 %) (vgl. Tabelle 14). Dies ist nicht weiter erstaunlich, leidet doch die Mehrheit der Prijedorer Bevölkerung unter finanziellen Engpässen und wäre kaum in der Lage, anderen auszuhelfen. Wie im Kapitel zu Lokalität und Transnationalität bereits angesprochen, leben denn auch 59,3 % der finanziell Unterstützenden im Ausland. Bei der emotionalen Unterstützung beträgt der Frauenanteil zwei Drittel (66,7 %). Bei dieser Art der Unterstützung geht es um das Besprechen persönlicher Angelegenheiten. Es sind vertraute, dauerhafte und intime Beziehungen, die dabei zum Tragen kommen. 53,8 % dieser Bezugspersonen sind Verwandte, 40,2 % mit der Interviewpartnerin freundschaftlich und/oder nachbarschaftlich verbunden (siehe dazu Tabelle 14). Betrachtet man die genauen Rollenkategorien (also welche Verwandte und Freunde genau diese Unterstützung leisten), dann zeigt sich allerdings, dass die Freundinnen (18,2 %) und die beste Freundin (12,9 %) die meistgenannten Bezugspersonen für das Besprechen persönlicher Probleme sind. Erst auf diese freundschaftlichen Beziehungen folgt die erste weibliche Verwandte, die Tochter, die in 11,4 % der Fälle genannt wurde.19 Das gleiche Bild präsentiert sich, wenn die befragten Frauen andere Personen emotional unterstützen: Unter den Empfängerinnen und Empfänger emotionaler Unterstützung sind Freundinnen häufiger vertreten als Verwandte. In Anbetracht der oben angesprochenen ambivalenten Position, welche die Frau nach der Heirat in der Familie ihres Ehemannes einnimmt, erstaunt dies nicht. Gerade weil es immer wieder zu Konflikten mit dem Ehemann, den Schwiegereltern oder den anderen eingeheirateten Frauen kommen kann, brauchen die Frauen Vertrauenspersonen außerhalb der Familie. Um diesen Umstand weiter auszuführen, bietet sich ein Blick auf die sozialen Aktivitäten an, für welche die Besuchsaktivitäten der Interviewpartnerinnen abgefragt wurden. 52,53 % aller Bezugspersonen erfüllen eine Funktion im Bereich soziale Aktivitäten (siehe Tabelle 13). Zwei Drittel dieser Bezugspersonen sind weiblich und ein Drittel männlich. Bei 61,4 % handelt es sich um Verwandte und bei 33,9 % um Freundinnen, Freunde, Nachbarn oder Nachbarinnen (vgl. Tabelle 14). Der hohe Anteil weiblicher Bezugspersonen erstaunt nicht, weil die abgefragten Dimensionen insbesondere die Besuchsaktivitäten betreffen. Bereits in Kapitel 3.2 wurden die Gastfreundschaft und die damit verbundenen Kaffeebesuche unter den Frauen angesprochen (»Hajdemo na kafu!« – Gehen wir Kaffee trinken). Diese Besuchsmuster haben auch in der Nachkriegszeit ihre 19 | Zur Erinnerung: der Großteil der Frauen war beim Zeitpunkt der Interviews zwischen 33 und 54 Jahre alt, d.h. Probleme lassen sich nicht ohne weiteres mit Töchtern besprechen, da diese u.U. noch zu klein sind.
171
172
K RIEG IM F RIEDEN
Bedeutung nicht verloren. Tagtäglich besuchen sich die Frauen auf einen Kaffee. Diese Besuche stärken besonders die informelle Interaktion zwischen den Haushalten (Bringa 1995: 91f.): Man tauscht Informationen über die Familien und die Nachbarschaft aus, verfolgt mit großem Interesse, wer wen heiratet, welche Kinder auf die Welt gekommen sind und wie es den älteren Kindern in der Schule ergeht. Beliebte Themen bei diesen Besuchen sind aber auch immer wieder das Wohlergehen der Verwandten im Ausland und die allgemeine und belastende Situation in der Region, etwa die ökonomischen Schwierigkeiten, die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen und deren Wunsch zu migrieren. Zentral sind diese Besuche auch für die gegenseitige Unterstützung der Frauen. Denn hier können sich die Frauen über Probleme austauschen, die sie mit ihrer Schwiegerfamilie oder mit dem Ehemann haben. Wie bereits weiter oben ausgeführt, leben viele der Befragten durch die virilokale Wohnfolge nicht mehr in der Nähe ihrer vertrauten Bezugspersonen – eine Situation, die sie nun über die Unterstützung durch befreundete Nachbarinnen auffangen können. Es lässt sich also festhalten, dass Wellman und Wortleys Aussage »men fix things and women relationships« (1990: 528) auch für vorliegende Forschung Gültigkeit hat. Die befragten Frauen suchen emotionale und soziale Unterstützung vor allem bei anderen Frauen – es sind die Beziehungen zu diesen Frauen, die mit Vertrauen und emotionaler Nähe verbunden sind. Für praktisch ausgerichtete Unterstützungsleistung wenden sich die Befragten mehrheitlich an Männer. Für diese Beziehungen sind emotionale Nähe und damit auch eine hohe Intensität der Beziehung weniger bedeutend; sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass das Funktionale im Vordergrund steht. Um die intra-ethnischen Beziehungen genauer betrachten zu können, wurden die Interviewten nach Funktion und ethnischer Zugehörigkeit der Bezugspersonen gefragt und die Antworten nach ethnischer Zugehörigkeit der Interviewten betrachtet (siehe Tabelle 15 und Tabelle 16). Generell zeigt sich, dass die intra-ethnischen Beziehungen in allen vier Unterstützungsdimensionen (instrumentell, finanziell, emotional und bezüglich der sozialen Aktivitäten) den Hauptteil ausmachen. Bei den serbischen Frauen gehörten 77,7 % der Unterstützenden ebenfalls der serbischen Ethnie an, bei den Bosniakinnen zählten gar 89,57 % der Bezugspersonen zur eigenen ethnischen Gruppe.20 Folglich zeigt sich sowohl für die serbischen als auch für die bosniakischen Interviewpartnerinnen eine ausgeprägte ethnische Vergemeinschaftung oder, wie weiter oben bereits angemerkt, eine starke Tendenz zu ethnisch homogenen Beziehungen. 20 | Diese Zahlen unterscheiden sich leicht von jenen im Kapitel Ethnische Homogenität (Kapitel 4.3.3). Grund dafür ist, dass die Berechnung der Funktion nur diejenigen Bezugspersonen berücksichtigt, die auf einer der vier Unterstützungsdimensionen genannt wurden. Zudem waren für die Funktion der Bezugspersonen Mehrfachnennungen möglich, was bei den Aussagen zur ethnischen Homogenität nicht der Fall war.
71
65
54
210
400
instrumentell
finanziell
Soziale Aktivität
Gesamt
61,45 %
61,4 %
65,1 %
69,1 %
53,8 %
Verwandtschaft
emotional
Art der Unterstützung
212
116
23
20
53
32,56 %
33,9 %
27,7 %
21,3 %
40,2 %
Freundschaft & Nachbarschaft
33
13
6
7
7
5,07 %
3,8 %
7,2 %
7,4 %
5,3 %
Institutionelle Beziehung
1
1
0,16 %
0,3 %
Berufliche Beziehung
Kategorie der Rollenbeziehung
5
2
2
1
0,76 %
0,6 %
2,1 %
0,8 %
weitere
651
100,00 %
52,53 %
12,75 %
83 342
14,44 %
20,28 % 94
132
Gesamt
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
Tabelle 14: Funktion der Bezugspersonen nach Rollenkategorie (gesamte Befragtengruppe)
173
82
66
57
216
421
Instrumentelle Unterstützung
Finanzielle Unterstützung
Soziale Aktivitäten (Freizeit und Besuche)
Gesamt
89,57 %
87,8 %
89,1 %
90,4 %
94,3 %
bosniakisch
Emotionale Unterstützung
Funktion
14
8
2
2
2
2,97 %
3,3 %
3,1 %
2,7 %
2,3 %
serbisch
5
3
1
1
1,06 %
1,2 %
1,6 %
1,1 %
kroatisch
30
19
4
5
2
6,40 %
7,7 %
6,2 %
6,9 %
2,3 %
andere
Ethnoreligiöse Zugehörigkeit
470
246
64
73
87
100,00 %
52,34 %
13,62 %
15,53 %
18,51 %
Gesamt
174 K RIEG IM F RIEDEN
Tabelle 15: Funktion und ethnoreligiöse Zugehörigkeit der Bezugspersonen der bosniakischen Interviewpartnerinnen (Mehrfachnennungen möglich)
5
1
1
15
22
Emotionale Unterstützung
Instrumentelle Unterstützung
Finanzielle Unterstützung
Soziale Aktivitäten (Freizeit und Besuche)
Gesamt
15,83 %
21,1 %
6,2 %
5,9 %
14,3 %
bosniakisch
Funktion
108
52
14
16
26
77,70 %
73,2 %
87,5 %
94,1 %
74,3 %
serbisch
3
1
1
1
2,16 %
1,4 %
6,2 %
2,9 %
kroatisch
6
3
3
4,31 %
4,2 %
8,6 %
andere
Ethnoreligiöse Zugehörigkeit
139
71
16
17
35
100,00 %
51,08 %
11,51 %
12,23 %
25,18 %
Gesamt
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
Tabelle 16: Funktion und ethnoreligiöse Zugehörigkeit der Bezugspersonen der serbischen Interviewpartnerinnen (Mehrfachnennungen möglich)
175
176
K RIEG IM F RIEDEN
Aus den eben diskutierten Tabellen geht zwar hervor, welche Funktionen die Bezugspersonen einnehmen und dass sie mehrheitlich derselben Ethnie angehören wie die Interviewpartnerinnen. Wie bedeutungsvoll diese Beziehungen jedoch für die Befragten sind, ist noch nicht bekannt. Darüber können Berechnungen zur Multiplexität Aufschluss geben.
4.3.6 Multiplexität nach Geschlecht, Beziehungsrolle und ethnischer Zugehörigkeit Die Multiplexitätswerte geben darüber Auskunft, wie viele Funktionen derselben Bezugsperson zugeordnet werden können. Beispielsweise kann eine Schwester sowohl emotionale als auch instrumentelle Hilfe leisten und zusätzlich die Interviewpartnerin besuchen, also auch für soziale Aktivitäten wichtig sein. In einem solchen Fall liegt eine dreifache Multiplexität vor. Gemäß Literatur zur Netzwerkanalyse ist eine Bezugsperson für die Interviewpartnerin umso wichtiger, je höher der Multiplexitätswert der Beziehung ausfällt (beispielsweise Schnegg und Lang 2002; Schweizer 1996). Für vorliegende Untersuchung beträgt der Maximalwert 4, da vier Dimensionen sozialer Unterstützung erfasst wurden. 23 Fälle (5,4 %) haben einen Multiplexitätswert von 0. Diese Personen lassen sich keiner der vier abgefragten Unterstützungsdimensionen zuordnen. 51,65 %, also mehr als die Hälfte der genannten Beziehungen (oder 220 Fälle) sind uniplex. Das heißt, sie sind nur in einem der vier Unterstützungsbereiche aktiv. Zwei oder mehr Funktionen der sozialen Unterstützung erfüllen insgesamt 42,95 % der genannten Beziehungen, wobei die Bezugspersonen durchschnittlich in 1,52 Dimensionen aktiviert werden. Bezüglich Geschlecht der Bezugspersonen und Multiplexitätswert lässt sich das bereits gezeigte Bild der tendenziell homogenen Geschlechterbeziehungen bestätigen. Frauen sind sowohl in den uniplexen als auch in den multiplexen Beziehungen rund zweimal häufiger vertreten als Männer. Daraus lässt sich die Aussage ableiten, dass weibliche Bezugspersonen in den Netzwerken der Befragten nicht nur zahlreicher, sondern auch funktional wichtiger sind als männliche. Betrachtet man die Multiplexität der Beziehungskategorien, dann zeigt sich, dass die Verwandten nur knapp höhere Multiplexitätswerte aufweisen als die Bezugspersonen aus Freundeskreis und Nachbarschaft (siehe Diagramm 2). Die Verwandten erreichen einen Multiplexitätswert von 1,55, Freunde und Freundinnen einen von 1,54, und für die Nachbarn und Nachbarinnen beträgt er 1,53. Verwandte wurden zwar weit häufiger genannt als Freunde/Freundinnen
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
und Nachbarn/Nachbarinnen (60,6 % zu 32,7 %21); anhand der Multiplexitätsperspektive zeigt sich nun aber, dass alle drei Kategorien gleich bedeutend für die soziale Unterstützung sind. Funktional spielen also die verwandtschaftlichen Beziehungen keine zentralere Rolle, Freundschaften und nachbarschaftliche Beziehungen sind ebenso wichtig. Diagramm 2: Multiplexitätswerte nach Kategorien der Bezugspersonen Durchschnittliche Multiplexitätswerte
1.8 1.6 1.4 1.2 1 0.8 0.6 0.4 0.2 0 Verwandschaft
Freundschaft
Nachbarschaft
Institution
Arbeit
Weitere
21 | Diese Zahlen unterscheiden sich leicht von den weiter oben aufgeführten Angaben für Verwandte und Personen aus Freundeskreis und Nachbarschaft. Der Grund ist darin zu sehen, dass für die Multiplexität Mehrfachnennungen möglich sind.
177
9
140
72
33
4
258
1
2
3
4
Gesamt
60,6 %
80,0 %
61,1 %
58,1 %
63,6 %
39,1 %
Verwandtschaft
0
Multiplexität
109
1
14
36
50
8
25,6 %
20,0 %
25,9 %
29,0 %
22,7 %
34,8 %
Freundschaft
30
3
10
15
2
7,1 %
5,6 %
8,1 %
6,8 %
8,7 %
Nachbarschaft
24
4
4
13
3
5,6 %
7,4 %
3,2 %
5,9 %
13,0 %
Institution
1
1
Kategorie der Beziehung
0,2 %
0,5 %
Arbeit
4
2
1
1
0,9 %
1,6 %
0,5 %
4,3 %
weitere
426
5
54
124
220
23
100,00 %
1,17 %
12,67 %
29,11 %
51,65 %
5,40 %
Gesamt
178 K RIEG IM F RIEDEN
Tabelle 17: Multiplexität nach Kategorien der Bezugspersonen22
22 | Eine Multiplexität von 0 bedeutet, dass die Bezugsperson sich keiner der vier Unterstützungsdimensionen zuordnen lässt.
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
Besonders interessant ist nun die Frage, welche Verwandten und Freunde oder Freundinnen in besonders vielen Bereichen sozialer Unterstützung mobilisiert werden. In den Nachkriegsnetzwerken ist es die Tochter, die in den meisten Bereichen genannt wird. Es kann erstaunen, dass die Tochter für die emotionale Unterstützung so oft genannt wird. Doch beim Betrachten der Befragtengruppe zeigt sich, dass immerhin zwei Drittel der befragten Frauen eine Tochter, meist aber zwei oder mehr erwachsene oder wenigstens halbwüchsige Töchter haben. Die Tochter verfügt über einen Multiplexitätswert von 2,13, das heißt, sie wird durchschnittlich in zwei von vier Bereichen genannt. Aber auch der Ehemann zeichnet sich durch einen hohen Multiplexitätswert (1,94) aus. Wie weiter oben gesehen, ist er in erster Linie für instrumentelle Belange zuständig, während die Tochter vorwiegend emotional unterstützt. Mit beiden sind die Interviewpartnerinnen auch sozial aktiv, man besucht sich gegenseitig oder unternimmt etwas zusammen in der Freizeit. Von den Freunden und Freundinnen der Befragten zeichnet sich vor allem die beste Freundin durch einen hohen Multiplexitätswert (1,89) aus. Die anderen Freundinnen und Freunde (1,48) sind weniger wichtig. Dies gilt auch für die Strina (1,75), also die Ehefrau des Onkels väterlicherseits, den Bruder (1,72), die Schwester (1,68) und die Eltern (1,50). Erstaunlicherweise sind auch die Nachbarinnen (1,48) funktional weniger wichtig. Sie erreichen zwar den gleichen Wert wie die nichtbesten Freundinnen und Freunde. Die Schilderungen der Interviewpartnerinnen sowie die bisherigen Ausführungen zu den Netzwerken würden aber nahelegen, dass sich die Nachbarinnen gerade beim Betrachten der Multiplexität als besonders wichtige Personen herausstellen. Diese Abweichung ist unter Umständen darauf zurückzuführen, dass die Nachbarinnen vorwiegend für die instrumentelle Unterstützung angegangen werden, da also von den Interviewpartnerinnen als wichtig betrachtet werden. Die Analysen der Multiplexitätswerte bestätigen die weiter oben gemachten Aussagen zur ethnischen Homogenität und der nach ethnischen Kriterien zweigeteilten Gesellschaft. Wie sich an Tabelle 18 und Tabelle 19 ablesen lässt, bestehen uniplexe und multiplexe Beziehungen sowohl bei den serbischen wie bei den bosniakischen Interviewpartnerinnen vor allem zu Personen der eigenen Ethnie. Bei den Serbinnen sind dies 78,3 % der uni- und multiplexen Beziehungen, bei den Bosniakinnen sogar 89,9 %. Betrachtet man die Zugehörigkeit hingegen nur in Zusammenhang mit den multiplexen Beziehungen23 , dann nennen die serbischen Interviewpartnerinnen für die Aktivierung in zwei und drei Unterstützungsbereichen 47,2 % Angehörige der eigenen Ethnie24; bei den Bosniakinnen beträgt dieser Anteil für 23 | Diese Aussagen basieren auf anderen Berechnungen als diejenigen in Tabelle 18 und Tabelle 19. 24 | Die Serbinnen nannten niemanden, der oder die in allen vier Bereichen Unterstützung leistet.
179
K RIEG IM F RIEDEN
zwei, drei und vier Unterstützungsbereiche 45,5 %.25 Den genannten Zahlen zufolge gehören in beiden Gruppen mehr als die Hälfte der Bezugspersonen mit mehreren Funktionen einer anderen Ethnie an als die Interviewten. Damit lässt sich eine Tendenz zur ethnischen Homogenität kaum mehr bestätigen. Bei einem kurzen Blick auf die Tabellen fällt zudem auf, dass pro Multiplexitätsgrad die Anteile der Bezugspersonen anderer Ethnien sich erstens bei Serbinnen und Bosniakinnen unterscheiden und zweitens bei letzteren wesentlich kleiner sind, als es die genannten Summenanteile vermuten ließen. Darin wird ein Problem der ego-zentrierten Netzwerkanalyse an und für sich sichtbar: sind die Absolutzahlen nicht sehr groß, überzeichnen die Prozentangaben stark. Diagramm 3: Multiplexitätswerte der Beziehungen nach Rolle der Unterstützungsperson 2.5 Durchschnittlicher Multiplexitätswert
180
2
1.5
1
0.5
0 Tochter
Ehemann
Beste Strina Bruder Schwes- Mutter Freundin (Eheter frau d. Onkels vs.)
Vater
Freundin Nachbarin
25 | Weshalb es bei den Serbinnen maximal drei Unterstützungsbereiche sind und bei den Bosniakinnen vier erklärt sich mit dem Umstand, dass erstere niemanden in allen vier Bereichen nannten.
Multiplexität
8 2 1 11
1
2
3
Gesamt
0
14,9 %
7,7 %
11,1 %
21,1 %
bosniakisch
58
11
14
28
5
78,3 %
84,6 %
77,8 %
73,7 %
100,0 %
serbisch
1
1 1,4 %
7,7 %
kroatisch
4
2
2
5,4 %
11,1 %
5,3 %
andere
Ethnoreligiöse Zugehörigkeit
74
13
18
38
5
100,00 %
15,57 %
24,32 %
51,35 %
6,76 %
Gesamt
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
Tabelle 18: Multiplexitätswerte nach ethnoreligiöser Zugehörigkeit: Die Unterstützungspersonen der serbischen Interviewpartnerinnen
181
Multiplexität
17
132
87
33
4
273
0
1
2
3
4
Gesamt
89,9 %
100,0 %
89,2 %
92,6 %
85,2 %
100,0 %
bosniakisch
10
1
2
7
3,3 %
2,7 %
2,1 %
4,5 %
serbisch
3
1
2
1,0 %
2,7 %
1,3 %
kroatisch
19
2
5
12
6,2 %
5,4 %
5,3 %
7,7 %
andere
Ethnoreligiöse Zugehörigkeit
2
2
0,7 %
1,3 %
weiß nicht
307
4
37
94
155
17
100,0 %
1,30 %
12,05 %
30,62 %
50,49 %
5,54 %
Gesamt
182 K RIEG IM F RIEDEN
Tabelle 19: Multiplexitätswerte nach ethnoreligiöser Zugehörigkeit: Die Unterstützungspersonen der bosniakischen Interviewpartnerinnen
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
4.3.7 Synthese Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Betrachtet man die Beziehungskategorien nach Häufigkeit der Nennungen, erhält die Verwandtschaft ein herausragendes Gewicht. Man kann also bei vorliegenden Netzwerken generell von dichten, starken und solidarischen Beziehungsgeweben ausgehen. Diese Aussage hat auch Gültigkeit für die Netzwerke vor dem Krieg. Allerdings zeigte sich, dass sich durch die ethnisierte Kriegssituation das »bonding social capital« verstärkte (The World Bank 2002). Für die Bewältigung der Krise zu Kriegszeiten wurde dieses Sozialkapital bedeutender, weil andere Quellen sozialer Unterstützung (bspw. staatliche finanzielle Systeme, aber auch die Freunde, die zu Feinden wurden) versiegten. In der Nachkriegszeit bleibt dieses verwandtschaftlich ausgerichtete Kapital ebenfalls vorwiegend bestimmend für die soziale Unterstützung. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass obwohl die staatlichen Strukturen wieder in Stand gestellt sind, diese nur mangelhaft funktionieren – das Sozialwesen beispielsweise kann kaum ausreichend hohe Zuschüsse garantieren (ausführlicher wird dieser Punkt in Kapitel 11.2 diskutiert). Wie sich in den biografischen Interviews noch zeigen wird, ergibt sich dafür durch die Einbettung im verwandtschaftlichen Gefüge für die befragten Frauen ein Gefühl der Sicherheit und Verortung. Mit diesem Fokus kann eine erste vorläufige Aussage gewagt werden: In Prijedor besteht eine auf Verwandtschaftsgruppen basierende Gesellschaft, eine Gesellschaft mit Gruppen, die nach der intra-ethnischen kommunalen Gewalt während des Krieges nur lose in eine größere Form integriert ist. Dieses Bild lässt sich durch das Hinzuziehen anderer Kriterien allerdings etwas entschärfen. Gerade in Bezug auf die Multiplexität verlieren die Verwandten an Gewicht, und die Freunde und Nachbarn erweisen sich als ebenso zentrale Unterstützungspersonen. Noch deutlicher zeigt sich dies beim Blick auf die Geschlechterzusammensetzung der Netzwerke. Generell erhalten die befragten Frauen von mehr weiblichen Bezugspersonen soziale Unterstützung als von männlichen. Speziell die Freundinnen und Nachbarinnen, also mehrheitlich nichtverwandte Frauen, werden zu wichtigen Personen für die Bewältigung des Alltags. Aufgrund der ambivalenten Position der Frauen in ihren Schwiegerfamilien kann man annehmen, dass sich die Befragten innerhalb ihrer eigenen, meist weiblichen Blutsverwandtschaft, aber auch über verwandtschaftliche Netze hinweg mit anderen Frauen in der gleichen Situation solidarisieren. Durch diese Möglichkeit, Beziehungen zu anderen Frauen zu knüpfen, werden sie zu einem wichtigen Bindeglied zwischen verschiedenen Familien und Verwandtschaftsgruppen. Man kann daher vermuten, dass Frauen aufgrund ihrer spezifischen Rolle nach der Heirat tatsächlich wichtige Personen für den Versöhnungsprozess zwischen verfeindeten nichtverwandten Gruppen sind. Weib-
183
184
K RIEG IM F RIEDEN
liche Netzwerke stellen eine wichtige Möglichkeit dar, (schwache) Beziehungen über die Verwandtschaft hinaus aufzunehmen und zu pflegen. Dennoch, anhand der Netzwerkanalyse zeigt sich auch, dass die ethnische Zweiteilung der Gesellschaft nach wie vor sehr ausgeprägt ist. Die ethnische Homogenität bei 70 % und mehr Beziehungen spricht eine deutliche Sprache. Allerdings ist zu bedenken, dass die Netzwerke nur ganz bestimmte Beziehungen erfasst haben, nach denen explizit gefragt wurde. Es sind Unterstützungsnetzwerke, in denen sich hier eine ausgeprägte ethnische Homogenität resp. Segregation zeigt. Für andere Arten von Beziehungen und Netzwerken muss dies nicht unbedingt der Fall sein. Zusätzlich zur Ethnizität erlaubt auch die Betrachtung der transnationalen Beziehungen Aussagen über die Segregation der Gesellschaft. Die Beziehungen über geografische Grenzen hinweg spielen in erster Linie für die Unterstützung der bosniakischen Interviewpartnerinnen eine Rolle. Diese orientieren sich stark über ihren Wohnort hinaus: Wichtig sind Beziehungen zu Personen, die in der anderen Entität oder im Ausland leben. Bei den Serbinnen hingegen zeichnen sich die Netzwerke durch einen hohen Lokalitätsgrad aus. Sie beziehen ihre soziale Unterstützung also vorwiegend von Personen, die in ihrer unmittelbaren Umgebung leben. Die Frage nach der Transnationalität lässt auf eine unterschiedliche Integration der beiden Gruppen vor Ort schließen: Währenddem sich die einen für soziale Unterstützung eher auf Bezugspersonen verlassen, die sich außerhalb ihres Wohnorts befinden, holen sich die anderen ihre Unterstützung aus lokalen Beziehungen. Dieser Unterschied hängt eng zusammen mit den Kriegsund Migrationserfahrungen, mit der Ethnizität und den Mehrheitsverhältnissen an den Wohnorten. Es sind die Bosniakinnen, die bis auf eine Frau aus der Region fliehen mussten und sich, nach ihrer Rückkehr, von Prijedor weg orientieren. Man darf annehmen, dass sich die bosniakischen Frauen in Netzwerken bewegen, deren Mitglieder selbst über wenig lokales Sozialkapital verfügen. Die meisten sind ebenfalls Rückkehrende, die sich vor Ort neu orientieren und einleben müssen. Damit ergibt sich ein negatives Zugehörigkeitsgefühl zu Prijedor und den Bewohnerinnen und Bewohnern, die nicht zurückkehren mussten. Ein positives Gefühl der Zugehörigkeit entwickelt sich zu Gleichbetroffenen. Die Serbinnen hingegen, die mehrheitlich vor Ort verbleiben konnten, verfügen über langjährige funktionierende Netzwerke, die auch während der Kriegszeit soziale Unterstützung bieten konnten. Sie wenden sich für Unterstützung an Personen vor Ort, meist ebenfalls Serbinnen. Aufgrund der Aussagen aus der Netzwerkanalyse sind es weniger die Stärke oder die Schwäche einer Beziehung als vielmehr die ethnische Zugehörigkeit, die Kriegs- und Migrationserfahrung und die geografische Ausrichtung, die sich negativ auf die Annäherung der durch den Krieg getrennten Gesellschaftsgruppen auswirken. Wie sich allerdings mit nachfolgenden Fallgeschichten zeigen
4. D IE I NTERVIEWPARTNERINNEN UND IHRE U NTERSTÜTZUNGSNETZWERKE
wird, erweist sich diesbezüglich ein anderes Merkmal als ebenso, wenn nicht sogar zentraler. Es handelt sich um die problematische Opfer-Täter-Relation, die sich aus der Instrumentalisierung der ethnischen Zugehörigkeit während dem Krieg ergeben hat. Die Angehörigen der einen Ethnie wurden in Prijedor aufgrund des Krieges zur Opfer- und die anderen zur Tätergruppe. Dies hat wiederum zur Folge, dass die einen naheliegenderweise eher an der Aufklärung der Vergangenheit interessiert sind als die anderen. Die Zugehörigkeit zur Opferresp. Tätergruppe, die durch die ethnische Zugehörigkeit durchdrungen wird, scheint für die Annäherung der verfeindeten Gruppen ebenfalls ein Hindernis darzustellen. Dies ist eines der Themen der nun folgenden Falldarlegungen und -analysen.
185
5. »Mein Beruf? Opfer.« Die Richterin Nusreta Sivac
Schon mein erstes Zusammentreffen mit Frau Nusreta Sivac, das in einem warmen, verrauchten Prijedorer Restaurant während eines Schneetreibens stattfand, hinterließ einen bleibenden Eindruck und den Wunsch, mehr aus dem Leben dieser Frau zu erfahren. Frau Sivac ist eine derjenigen Personen, die der Krieg besonders hart getroffen hat. Als Bosniakin, Richterin und damit ehemaliges Mitglied der lokalen Intelligenzija geriet sie schon zu Beginn des Konfliktes ins Visier radikaler Gruppierungen, die Prijedor im Frühjahr 1992 ethnisch zu säubern begannen. Zwei Monate nach der serbischen Übernahme der Stadt kam sie in einer Massenverhaftungswelle in das berüchtigte Lager ›Omarska‹, wo sie während Monaten Schreckliches erlebte. Seither kämpft sie als äußerst engagierte und politisch agierende Person unermüdlich für die Aufarbeitung und Verurteilung der Kriegsverbrechen, die Suche, Exhumierung und Identifizierung der Vermissten und um die Anerkennung der Kriegsgreuel. Ein Jahr vor meinem eigentlichen Feldaufenthalt fand das erste Zusammentreffen statt. Es war dieses Treffen, das mich ermutigte, das geplante Forschungsvorhaben in Angriff zu nehmen. Da Frau Sivac – teilweise unfreiwillig – zu einer öffentlichen Person geworden war1 , gab sie Gerichten und Journalisten, aber auch mir bereitwillig und unermüdlich Auskunft über ihre Kriegserlebnisse. Aus diesem Grund konnte ich bereits in der Schweiz einiges an Material zu ihrer Geschichte zusammentragen, unter anderem einen von ihr selbst 1 | Frau Sivac war Zeugin am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICT Y in Den Haag. Aufgrund des Missgeschicks eines Verteidigers, der sie im Verhör bei vollem Namen nannte, wurde sie als Zeugin enttarnt und in Prijedor öffentlich angeprangert. Seither will sie, dass sie unter ihrem richtigen Namen genannt wird. Denn es ist ihr ein zentrales Anliegen, dass die Welt erfährt, was ihr persönlich widerfuhr. Ihrem ausdrücklichen Willen wird hier entsprochen, auch wenn die NichtAnonymisierung forschungsethisch nicht unbedenklich ist (siehe dazu Kapitel 1.5).
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verfassten Bericht über ihre Kriegserlebnisse (Sivac 2004), aber auch diverse Sekundärquellen (Blake 2002; Goodman 1997; Jacobson und Jelincic 1997; Von Mechow 2004; Wesselingh und Vaulerin 2003, 2005). Wenig bis nichts fand ich dagegen an Sekundärinformationen zu ihrer Lebensgeschichte vor dem Krieg. Viele Fragen blieben deshalb offen. Grund genug, mein Vorhaben, mit dieser Frau vertiefte, lebensgeschichtliche Gespräche zu führen, auch umzusetzen. Das eigentliche Interview fand an zwei aufeinander folgenden Tagen im heißen bosnischen Sommer 2005 statt, im schattigen Garten einer Nichtregierungsorganisation, deren Räumlichkeiten sich in unmittelbarer Nähe von Frau Sivac’ Wohnung befinden. Auf zwei Tage aufteilen musste ich das Gespräch, weil es von Anfang an nicht einfach war, im Terminplan dieser viel beschäftigten Frau ein längeres freies Zeitfenster zu finden. Es waren aber nicht nur diese von mir initiierten Interviewtermine, welche mir Einblick in ihr Leben verschafften. Wir stießen auch per Zufall im Quartiercafé oder auf dem Markt aufeinander oder fuhren gemeinsam zu Frauenzusammenkünften in umliegende Dörfer und Städte. Außerdem nahm ich an einer von ihr geleiteten Friedenskonferenz teil. An der Konferenz des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICTY in Prijedor, die zum Ziel hatte, der lokalen Bevölkerung die Funktion, Organisation und Arbeitsweise dieses Gerichts näher zu bringen, fehlte Frau Sivac ebenfalls nicht2 . Die Notizen über diese Begegnungen sowie die erhältliche Sekundärliteratur werden im Folgenden die Fallgeschichte, wo sinnvoll, ergänzen. In der berufsbezogenen Beziehung der Richterin zur Sozialanthropologin erwies sich Frau Sivac von Beginn an als wichtige Beraterin in vielen Dingen. Sie informierte mich über wichtige Anlässe, wies mich auf relevante Quellen hin und gab wichtige Anregungen zur Ergänzung meiner Forschungsfrage. Auch war sie eine der Ersten, die mir für die Zeit der Feldforschung wie selbstverständlich eine Unterkunft anbot. Diese Großherzigkeit und Großzügigkeit hat Frau Sivac bis zum Schluss meiner Feldforschung nicht abgelegt.3
5.1 F ALLDARLEGUNG : V ON DER R ICHTERIN ZUR V ERFOLGTEN Frau Sivac kam im Jahre 1951 als jüngstes von drei Kindern zur Welt. Ihr Vater war Jurist, ihre Mutter gelernte Verkäuferin. Als 1918 Geborener hatte der Vater den Zweiten Weltkrieg und den Aufstieg der Partisanenbewegung mitten in der Adoleszenz erlebt. Nach seiner Schulzeit hatte er Jurisprudenz studiert und war 2 | Die Konferenz des Internationalen Strafgerichtshof ICT Y fand am 25. Juni 2005 unter dem Titel »Bridging the Gap between the ICT Y and Communities in Bosnia and Herzegovina« in Prijedor statt. Näheres dazu auf in Kapitel 5.1.4. 3 | Zur Strukturierung der Fälle in eine Darlegung und Analyse siehe Einführung zum Teil II.
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danach in die bosnische Kleinstadt Prijedor zurückgekehrt, um im öffentlichen Dienst eine Stelle als Jurist anzutreten. Frau Sivac’ Mutter, geboren 1926, war in derselben bosnischen Kleinstadt aufgewachsen wie ihr zukünftiger Ehemann und hatte nach der obligatorischen achtjährigen Schulzeit die Berufsmittelschule besucht, um sich zur Verkäuferin auszubilden. Das war im ländlichen Bosnien jener Jahre eher ungewöhnlich. Wenn sie überhaupt zur Schule geschickt wurden, waren damals viele Mädchen und junge Frauen meist nach vier, spätestens aber nach acht Jahren gezwungen, die Grundschule zu verlassen, um im Haushalt oder auf dem elterlichen Hof zu arbeiten. Dass aber Frau Sivac’ Mutter trotz ihrer Berufsausbildung nicht erwerbstätig wurde, lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass der Zeitpunkt der Eheschließung – kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – mit dem Abschluss ihrer Ausbildung zusammenfiel. Entsprechend der klassischen Rollenaufteilung kümmerte sich die Mutter nach der Heirat ausschließlich um den neu gegründeten Haushalt. Der Ehe entsprangen drei Kinder: Frau Sivac hat einen älteren und einen jüngeren Bruder. Sie sagt, sie sei wohlbehütet aufgewachsen und habe – als einzige Tochter – vertrauensvolle Zuwendung erfahren. Die emotionale Bindung zur Mutter beschreibt Frau Sivac gar als »krankhaft eng.« Frau Sivac’ älterer Bruder kam 1947 zur Welt. Nach acht Jahren Grundschule besuchte er die technische Berufsmittelschule, eine Vorstufe zum Ingenieurstudium. Nach diesem Abschluss wechselte er das Berufsfeld und erlernte auf dem zweiten Bildungsweg den Beruf des Kameramanns, in welchem er bis zum Kriegsausbruch auch arbeitete. Nach Berufsabschluss heiratete er und wurde Vater einer Tochter und eines Sohnes. Anfangs des Krieges floh er mit seiner Ehefrau und den Kindern über Kroatien nach Deutschland, wo er heute noch lebt. Eine endgültige Rückkehr nach Bosnien ist für ihn nicht vorstellbar. Frau Sivac sagt, selbst ein Urlaubsaufenthalt in seiner Herkunftsstadt sei für ihn undenkbar. Er komme deshalb nie zu ihr auf Besuch. Zu tief säßen die Kriegserlebnisse in seiner Erinnerung, und zu groß sei sein Misstrauen der lokalen Bevölkerung gegenüber. Wenn der Bruder nach Bosnien-Herzegowina reist, treffen sich die Geschwister in Sanski Most, der nächsten Stadt in der Föderation, oder in Sarajevo, wo sich der Bruder eine (Ferien-)Wohnung gekauft hat. Dieser ältere Bruder spielt laut Frau Sivac bis in die Gegenwart eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Nicht nur, dass er sich in der Kindheit um die kleine Schwester gekümmert hat, er ist es gegenwärtig auch, der – gemeinsam mit ihrer Cousine – die dringend benötigte finanzielle Unterstützung leisten kann. Der jüngere Bruder wurde 1955 geboren.4 Er besuchte das Gymnasium, absolvierte danach aber weder ein Studium, noch erlernte er einen Beruf. Bei 4 | Frau Sivac nannte diesen Bruder in der Netzwerkanalyse nicht und kam auch im biografischen Interview nur punktuell auf ihn zu sprechen. Daher enthalten vorliegende Daten über ihn weniger Informationen als über den älteren Bruder.
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Kriegsausbruch floh auch dieser Bruder über Kroatien ins westliche Exil. Wie so viele andere Prijedorer fand er Aufnahme in Schweden. Eine endgültige Rückkehr an seinen Herkunftsort ist auch für ihn undenkbar. Für Frau Sivac ist dieser Bruder keine zentrale Person ihres Beziehungsnetzes, weder vor noch nach dem Krieg. Sie beschreibt ihre Beziehung zum älteren Bruder als intensiver, enger und verlässlicher als diejenige zum jüngeren.
Zu Frau Sivac’ (Berufs-)Biografie Als 1951 Geborene wuchs Frau Sivac in einer Zeit zum Teenager heran, in der die ethnoreligiösen Unterschiede keine explizite Betonung erfuhren. Es war eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, und das Werte- und Normensystem war stark sozialistisch und säkular geprägt (vgl. dazu Kapitel 3.2). Nach dem Besuch der Grundschule besuchte sie in Prijedor das Gymnasium und studierte anschließend Jurisprudenz5 . Mit dem Erlangen des Anwaltspatentes und der späteren Ausbildung zur Richterin überflügelte sie ihren Vater, den Juristen, in beruflicher Hinsicht. Bemerkenswert ist, dass sie wie ihr Vater nach der Ausbildung an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrte, wo sie anfänglich als Anwältin tätig war und später eine Stelle als Richterin antrat. Dadurch wurde sie an jenem Ort, wo sie einst Kind war, zu einer öffentlichen Respektsperson. Sie kehrte in die elterliche Wohnung zurück und lebte dort bis zum Tod ihrer Eltern. Ihr Leben vor Ausbruch des Krieges beschreibt Frau Sivac als gut und durchschnittlich, als Leben, wie es im sozialistischen Jugoslawien der 1980er Jahre die Norm war: »Wie mein Leben war? Verglichen mit dem, was dann passierte, war es halt einfach gut. Ich meine, wie es halt war. Wie bei den meisten Menschen, die hier auf diesen Gebieten lebten. Ich hatte eine Arbeitsstelle, ich hatte das allgemein Notwendige für die Existenz, vielleicht auch etwas mehr, wenn man die Arbeit bedenkt, die Arbeit, die ich machte.«
Wie sie erzählt, konnte sie einen Teil ihres Verdienstes in die ihr so wichtigen kulturhistorischen Bildungsreisen investieren. Diese Reisen, die sie durch ganz Europa führten, vermittelten ihr ein Gefühl der Freiheit. Sie erwähnt unter anderem die klassischen Bildungsdestinationen Griechenland, Italien, Spanien, Deutschland und die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Nach dem Tod beider Eltern – der Vater starb 1980, die Mutter 1986 – heiratete sie 1987 im Alter von 35 Jahren einen zwei Jahre älteren Bosniaken – für bosnische Verhältnisse eine reichlich späte Eheschließung. Sie hatte ihren Ehemann über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt. Er arbeitete als Sach5 | Ob Frau Sivac in Sarajevo, Zagreb oder Belgrad studierte, lässt sich aufgrund der Unterlagen nicht feststellen.
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bearbeiter im Bereich Verkehr in der öffentlichen Verwaltung. Für ihn war es die zweite Ehe. Mit seiner ersten Familie war er als Arbeitsmigrant in die Schweiz gezogen, wo seine erste Ehefrau und die beiden Kinder noch heute leben. Weshalb er Ende der 1980er Jahre nach Prijedor zurückkehrte, wird aus Frau Sivac’ Schilderungen nicht ersichtlich. Deutlich wird bloß, dass ihre Ehe von kurzer Dauer war. Bereits nach fünf Jahren wurde sie geschieden. Über die Ehejahre sowie den Grund der Scheidung ist Frau Sivac nicht viel mehr zu entlocken, als dass diese Verbindung der größte Fehler ihres Lebens gewesen sei, welchen sie sich bis heute nicht verzeihen könne: »Wir sind Feinde. Er hat versucht, mich anzusprechen, aber ich habe ihn für alle Zeiten gestrichen. Er ist der größte Fehler meines Lebens. Neben der Zeit in ›Omarska‹ ist er mein zweiter Albtraum.«
Die sozialen Vorkriegskontakte Neben den familiären Kontakten und ihrer kurzen Ehe erwähnt Frau Sivac im Interview zur Vorkriegszeit keine anderen konkreten Beziehungen. Sie schildert dafür umso deutlicher das soziale Gefüge der damaligen Zeit: »Natürlich hatte ich berufliche Kontakte, ich hatte aber auch private Kontakte, ist es so? […] ich hatte verschiedene Kontakte, mit allen. Mit Muslimen, mit diesen und jenen, ohne irgendwelche Einschränkungen, ohne Grenzen. Das ist heute ja wichtig zu betonen. Es war die nationale Unbegrenztheit. Ich hatte Kontakt mit wem ich wollte und wem mir passte. […] Was das betrifft, ich hatte also viele Kontakte, ich hatte viele Klienten, […] Ich hatte viele Freunde, ich hatte Kontakte – es ist interessant, ich hatte vielleicht mehr Freunde anderer Nacionalnost als solche, die meiner Nacionalnost sind. Was halt interessant ist: Was später passieren wird, nicht wahr?«
Frau Sivac unterhielt Kontakte über jegliche nationale Grenzen hinweg – das war die damalige Norm, die sie durch den Begriff Nacionalnost noch hervorhebt. Die gemeinsame Identifikation basierte auf der supranationalen Jugoslovenski Identitet (vgl. Kapitel 3.2.1), welche die nationalen Zugehörigkeiten verschwinden ließ. Im Zentrum einer Beziehung stand für Frau Sivac also der Mensch, ungeachtet seiner nationalen, ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit. Das zeigt sich auch an ihrem sozialen Beziehungsnetz. Nebst ihren verwandtschaftlichen Beziehungen zu zwei Cousinen und ihrer Mutter unterhielt Frau Sivac für die soziale Unterstützung kurz vor dem Krieg ausschließlich Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher nationaler und ethnoreligiöser Provenienz6. Es war vielmehr der Beruf, der für sie im Zentrum einer Beziehung stand. Dabei sticht besonders Svetlana Milojević heraus, Arbeitskollegin und darüber hinaus ihre beste Freundin. Die beiden hatten sich 1964 im Gymnasium kennengelernt und angefreundet – zu Beginn des Krieges 1992 bestand 6 | Siehe dazu die Darstellung ihrer Netzwerke, Kapitel 5.2.2.
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die Freundschaft also seit knapp 30 Jahren. Frau Sivac beschreibt rückblickend die Beziehung als sehr vertrauensvoll. Die beiden Frauen besuchten sich gegenseitig und unternahmen vieles gemeinsam. Sie konnten sich alles anvertrauen und waren füreinander da. Frau Milojević war also eine regelrechte Busenfreundin, mit der sie durch dick und dünn gehen konnte.
5.1.1 Der Krieg kündigt sich an Im Unterschied zu anderen Interviewpartnerinnen erzählt Frau Sivac, sie habe Veränderungen in der Region seit Mitte der 1980er Jahre wahrgenommen, und sie betont, dass sich der Krieg in Prijedor durch unterschiedliche Vorfälle deutlich abgezeichnet habe. »Das fing schon viel früher an, das leise Zerfallen Jugoslawiens, noch vor den 1990er Jahren auf diesen Sitzungen des Zentralkomitees des Kommunistenbundes.« Die bange Hoffnung, dass »wir es schaffen werden, die Veränderungen zu überstehen, diese Transitperiode, ohne einen Krieg«, wurde bereits ab Mitte der 1980er Jahre durch den politischen Aufstieg Slobodan Miloševićs untergraben. Frau Sivac beschreibt detailliert, wie Milošević vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise, in der sich Jugoslawien aufgrund der katastrophalen Auslandverschuldung befand, die Macht in allen Bereichen langsam übernehmen konnte (vgl. Kapitel 3.3). Die jugoslawische Volksarmee, welche er »von anderen [nicht-serbischen, Anmerkung der Autorin] Nacionalnosti säuberte«, die Kontrolle der Medien, um die Menschen zu »indoktrinieren und zu manipulieren«, und dann schließlich seine Wahl zum Präsidenten des zerfallenden Gesamtstaates: all das half gemäß Frau Sivac, seine Macht zu festigen. Endgültig zerschlugen sich Frau Sivac’ Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft, als sich im Sommer 1991 ein Großteil der jugoslawischen Volksarmee nach dem Blitzkrieg in Slowenien in die Region um Prijedor zurückzog. Zudem bot die jugoslawische Volksarmee JNA im gesamten ehemaligen Jugoslawien, aber zu ebendieser Zeit besonders stark in Bosnien-Herzegowina, in einer Generalmobilmachung Männer für den Krieg gegen Kroatien auf. Die anhaltende politische und wirtschaftliche Anspannung wirkte sich auch auf die lokalen zwischenmenschlichen Beziehungen aus, wie Frau Sivac festhält: »Unsere Meinungen über die Situation in den Nachbarländern waren verschieden. Wir fingen schon an, uns zu differenzieren, zu polarisieren auf einer nationalen Grundlage.« Begleitet wurde die Betonung der unterschiedlichen nationalen Zugehörigkeiten von einer totalen Blockade nichtserbischer Medien und der damit verbundenen gezielten Manipulation der Menschen. Laut ihren Schilderungen waren plötzlich nur noch Zeitungen aus Belgrad zu kaufen, der ehemals gesamtjugoslawische Sender ›YuTel‹ vermittelte nur noch die serbische Sichtweise und man hörte einseitige Berichte über unterschied-
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lichste Ereignisse, die oft mit den Vorkommnissen des Zweiten Weltkrieges in Verbindung gebracht wurden. Die gleichgeschalteten Medien, so konnte Frau Sivac beobachten, indoktrinierten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Freunde kontinuierlich: »Man spülte den Menschen die Hirne aus, man füllte sie mit total falschen Informationen. Das waren halt Vorbereitungen für das, was später hier passierte. […] Das war alles organisiert, nichts ist über Nacht passiert. Nur wussten nicht alle davon.« Zu Beginn versuchte sie diesem Umstand aktiv entgegen zu wirken, doch vergebens: »Wir versuchten es mit Argumenten, versuchten mit den Menschen zu reden, sie zur Vernunft zu bringen, aber es wurde nicht angenommen. Ich fühlte das auch bei meinen Freunden, dass sie nur noch das annehmen, was ihnen die Medien servieren- […] Schlimm war zu sehen, wie meine Freunde beeinflusst wurden, wie sich ihre Meinungen änderten und wie plötzlich alle erzählten, dass wir Muslime Pläne hätten, sie umzubringen.«
›Omarska‹: Der Albtraum schlechthin Aus Frau Sivac’ Perspektive, aus einem finanziell gesicherten, guten und intakten Leben heraus, erschien ihr das Ausmaß des Kriegsausbruchs als irreal und unfassbar, als ein markanter Bruch, der das alte gewohnte Leben mit einem Schlag zunichte machte: »Wir haben nicht einmal im Traum gedacht, was man uns zufügen, was halt passieren wird. Denn es war doch sozusagen ein gutes Leben, vor dem Krieg.« Dass sich die Lage so dramatisch und vor allem in dieser Geschwindigkeit zuspitzte, überraschte selbst Frau Sivac: »Ich verstand zu Beginn nicht, was vor sich ging. […] Ich konnte plötzlich kein Geld mehr von der Bank abheben, alles war blockiert, überall waren bewaffnete Männer«. 1992, kurz nach Ausbruch des Krieges in der Gemeinde Prijedor, wurde die damals 41-Jährige an ihrem Arbeitsplatz verhaftet und ins Lager ›Omarska‹7 abgeführt, das man in den Gebäuden und Räumlichkeiten des Eisenerzbeförderer Rudnika Ljubija eingerichtet hatte: »Alle Menschen, die nicht zur serbischen Nation gehörten, besonders die, die in staatlichen Strukturen arbeiteten wie ich, verloren ihren Arbeitsplatz. […] Anfangs Juni ging ich wie jeden Tag arbeiten, doch es gab eine Liste mit allen Persönlichkeiten, die verhaftet werden sollten. Ich stand auf dieser Liste, gemeinsam mit anderen Richtern.« Frau Sivac berichtet, die nationalen Zugehörigkeiten seien als Instrument der sozialen Trennung herangezogen worden, und in erster Linie habe man die Mitglieder der nicht-serbischen Elite und Intelligenzija aus dem Weg räumen müssen. Sie erzählt von Politikern wie dem damaligen Bürgermeister von Prijedor, Muhamed Čehajić, von ihren Kollegin7 | Siehe dazu . Abgerufen am 21.9.2009.
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nen und Kollegen aus dem Gericht, aber auch von ihr bekannten Anwälten, Ärztinnen, Akademikern, Intellektuellen und Kunstschaffenden, auf die sie im Lager ›Omarska‹ trifft. Mit 36 anderen gefangenen muslimischen8 und kroatischen Frauen musste Frau Sivac über zwei Monate lang Zwangsarbeit leisten. Kochen und andere ›Haushaltsarbeiten‹ hatte sie unter den unhygienischsten Umständen für die Wärter und die männlichen Gefangenen zu erledigen. Wie Frau Sivac erlitten viele der internierten Frauen grauenhafte Verhöre, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch und Folter. Bei einem Rundgang durch die Räume dieses Schreckensortes – der von den ehemaligen Internierten auch als Fabrik des Todes bezeichnet wird (bos./hrv./srp. Fabrika smrti) – erzählt Frau Sivac im Detail, wie ihre Tage und Nächte damals aussahen, und was sie alles miterleben musste. Einmal im Tag gab es für die Gefangenen eine dürftige Mahlzeit: ein Stück altes Brot mit wässrigen Bohnen und einem Salatblatt. Zwei Minuten hatten sie Zeit, die meist schon verfaulte Mahlzeit zu verschlingen. Die Frauen schliefen in zwei Zimmern, die direkt neben den Verhörräumen lagen. In der Nacht hörten sie die Schreie der Gefolterten, und jeden Morgen wurden zwei der Frauen abkommandiert, um die Verhörräume vom Blut zu säubern. Frau Sivac erlebte selbst Verletzungen, Demütigungen und lebensgefährliche Situationen und wurde auch Zeugin unzähliger Folterungen und Hinrichtungen anderer, zum Teil befreundeter Insassen. Darunter waren ihre drei engsten Arbeitskollegen. Besonders schlimm hallt in ihrer Erinnerung das sogenannte weiße Haus (bos./hrv./srp. Bjiela Kuća) nach. Dabei handelte es sich um ein kleines allein stehendes Gebäude auf dem Fabrikgelände, wo die Gefangenen buchstäblich abgeschlachtet wurden. Frau Sivac erzählt, sie erinnere sich immer noch sehr deutlich an die Schreie der Gefolterten und an die Leichen, die jeweils am Morgen vor dem weißen Haus lagen. Im Lager litt Frau Sivac sowohl körperlich als auch seelisch stark. Massiver Gewichtsverlust, Unterernährung und unzählige körperliche Leiden waren nur die äußeren Folgen dieses Aufenthaltes. Das verschmutzte Wasser, das sie während der Gefangenenzeit trinken musste, hatte eine spätere Operation der Gallenblase zur Folge und bereitet ihr auch gegenwärtig noch massive gesundheitliche Probleme. Nicht zu sprechen von den seit ihrer Freilassung immer wiederkehrenden Albträumen, die sie den Lageraufenthalt nicht vergessen lassen.
8 | Frau Sivac zur damaligen national-religiösen Zuschreibungspraxis: »[…] damals waren wir Muslime, es gab keine Bosniaken, wir haben uns nicht so deklariert.« (Vgl. Kapitel 1.2)
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Abbildung 6: Das weiße Haus (Bijela Kuća), Omarska – Mai 2005/© A.Sieber
Frau Sivac und weitere 31 der 37 Frauen waren unter den Gefangenen, die dank der journalistischen Berichte über die Existenz der Konzentrations- und Internierungslager am 3. August 1992 aus ›Omarska‹ ins Lager ›Trnopolje‹ verlegt wurden. Nach fünf Tagen Haft in ›Trnopolje‹ wurde sie freigelassen. Von diesem Zeitpunkt an wünschte sie sich sehnsüchtig, aus Prijedor fliehen zu können. Dazu benötigte sie allerdings Papiere, und dies wiederum verzögerte die Flucht aus der Stadt. Nach der Freilassung musste Frau Sivac eine Unterkunft finden. Ein schwieriges Unterfangen, zumal sie erfahren musste, dass die meisten ihrer muslimischen Freundinnen und Freunde, die nicht mit ihr in ›Omarska‹ interniert gewesen waren, nicht mehr vor Ort lebten. Ihre eigene Wohnung hielt die ehemals beste Freundin und Arbeitskollegin Svetlana Milojević besetzt. »Als ich aus ›Omarska‹ rauskam, hatte ich kein Geld, keine Arbeit, keine Wohnung, keine Freunde – sobald ich ins Lager gebracht worden war, zog meine beste
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Freundin in die Wohnung. Ich hatte nichts, konnte nirgendwo leben, hatte nichts anzuziehen. Aber na ja, bis dahin fiel es mir nicht so schwer, weil es für mich am wichtigsten war, dass ich aus dieser Hölle rausgekommen war, aus ›Omarska‹.« Eines Nachmittags im Herbst 1992 traf sie auf ihre ehemalige Freundin. Sie wurde von ihr auf einen Kaffee eingeladen. Was dann jedoch folgte, war ein Erlebnis der besonderen Art: Frau Sivac wurde der Kaffee in ihren eigenen Tassen serviert, die ehemalige Freundin trug ihre Kleider, und an der Wohnungstür stand der serbische Familienname Milojević. Diese Begegnung ließ das Vertrauen in die früheren Freundschaften endgültig zerbrechen. Was vielen anderen Interviewpartnerinnen in ähnlichen Situationen nicht gelang, konnte Frau Sivac während dieses Besuchs immerhin bewerkstelligen: Es gelang ihr, einige ihrer Familienfotos an sich zu nehmen. Alles andere musste Frau Sivac zurücklassen. Wie genau Frau Sivac ihre Flucht nach der Entlassung aus ›Trnopolje‹ organisierte, kann sie rückblickend nur noch schwer nachvollziehen. Ohne Hab und Gut, ohne finanzielle Mittel, körperlich sehr geschwächt, schlug sie sich während zweier Monate mehr schlecht als recht in Prijedor durch. Glücklicherweise traf sie ihre Cousine, mit welcher sie sich zusammenschließen konnte. Frau Sivac war zwar froh, noch am Leben zu sein, aber sie litt unter den gesundheitlichen Folgen des Lageraufenthaltes und der fortwährenden Angst, erneut interniert zu werden. Dank guter Beziehungen konnte sie sich zwei ihrer noch ausstehenden Monatslöhne besorgen und so mit etwas Geld die Flucht organisieren. Dazu musste sie allerdings zuerst offizielle Papiere der serbischen Kriegsherren unterzeichnen, mit denen sie den Verzicht auf ihr Vermögen festschrieb. Nur unter dieser Bedingung war es überhaupt möglich, den Passierschein für die Ausreise zu erhalten. Er garantierte ihr die für die Flucht erforderliche Bewegungsfreiheit, so dass sie die Checkpoints um die Stadt passieren und die Stadt hinter sich lassen konnte. Weshalb Frau Sivac als ehemaliger ›Omarska-Häftling‹ nicht mit anderen ehemaligen Insassinnen und Insassen einen Platz in einem Konvoi des Internationalen Roten Kreuzes IKRK bekam, weiß Frau Sivac nicht, und es lässt sich auch mit Hilfe weiterer Unterlagen zu ihrer Geschichte nicht schlüssig beantworten.
5.1.2 Die Flucht Im Oktober 1992, fast drei Monate nach der Freilassung aus dem Lager ›Trnopolje‹, war es endlich soweit. Frau Sivac konnte sich mit ihrer Cousine auf den Weg zur kroatischen Grenze machen. Die erste Station des sehr gefährlichen Fluchtwegs stellte die Stadt Bosanski Novi an der kroatisch-bosnischen Grenze dar. Aus Erzählungen wussten viele Flüchtlinge, denen Frau Sivac unterwegs begegnete, dass sich auf der anderen Seite des Flusses Una die UN Protection Force UNPROFOR aufhielt. Dies gab den Flüchtlingen Hoffnung auf Schutz.
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Ein weiterer gewichtiger Grund für die Wahl Bosanski Novis war für die beiden Frauen, dass dort die alte Schwiegermutter von Frau Sivac’ Bruder lebte, bei welcher sie Unterschlupf, frische Kleider, Nahrung, aber auch etwas Ruhe finden konnten. Sie waren dort in Sicherheit, doch Frau Sivac empfand die Situation trotzdem als sehr belastend: »Ich schämte mich vor dieser Frau. Wir aßen das Wenige, was sie hatte. Brot, Käse, und sie kochte auch. Sie teilte alles mit uns. Nichts hatten wir, mir war ja alles geplündert worden. Zum Glück hatte ich noch dieses serbische Geld [die zwei Monatslöhne, Anmerkung der Autorin], und wir konnten zumindest für die alte Verwandte und uns einige Nahrungsmittel kaufen.« Von Bosanski Novi aus versuchte Frau Sivac in Begleitung ihrer Cousine auf unterschiedlichste, sowohl legale als auch illegale Weise über den Fluss Una zu gelangen. An der Grenze zu Kroatien wurden sie jedoch immer wieder zurückgewiesen. »Die Männer an der Grenze lasen im Ausweis Namen und Nachnamen und schickten uns dann zurück.« Nach mehrmaligen Versuchen galt es für Frau Sivac und ihre Cousine, eine andere Möglichkeit für den Grenzübertritt zu finden. Sie mussten die Grenzwächter überlisten. Ein serbischer Bauer und Marktfahrer, der täglich die Grenze überquerte, half den beiden Frauen schließlich. Er gab sie als seine Gehilfinnen aus, womit sie die Brücke über die Una unverdächtigt und ohne Ausweiskontrolle überqueren konnten. Von dort aus fanden sie den Weg in die nahe gelegene und geschützte Basis der UNPROFOR. Kurz nach ihrer Ankunft organisierte die UNPROFOR einen Konvoi, der Frau Sivac und andere bosnische Flüchtlinge aus der serbisch besetzten kroatischen Krajina in Sicherheit bringen sollte. Die Fahrt im Konvoi war gefährlich, sie geriet immer wieder bedrohlich ins Stocken. Besonders riskant wurde es, als serbische Dorfbewohnerinnen und -bewohner mit erhobenen drei Fingern – dem Zeichen der Ćetnici – die Flüchtlinge beschimpften und den Konvoi mit Steinen bewarfen. Daraufhin verweigerte die serbische Grenzarmee oder das serbische Paramilitär – das wird aus Frau Sivac’ Schilderungen nicht klar – dem Konvoi den Übertritt nach Kroatien. Die Flüchtlinge waren gezwungen, eine Nacht in der serbisch besetzten kroatischen Krajina zu verbringen, in einer alten Kaserne in Petrinja, die von der UNPROFOR nur schlecht beschützt werden konnte. »Die Kinder weinten, es war kalt. Und ich, von dem ganzen Stress und allem, ich bekam einen Nierenanfall. Ich hatte höllische Schmerzen. Ich meinte, ich müsse sterben. Zum Glück gab es eine Frau dort, die mir Antibiotika geben konnte.« Die Nacht überlebten die Flüchtlinge trotz widriger Umstände, und am nächsten Tag gelangten sie dank Vermittlungserfolgen der UNPROFOR auf sicherem Weg nach Zagreb. Dort fand Frau Sivac schließlich in einem Zagreber Flüchtlingslager Aufnahme.
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Das Leben im kroatischen E xil Bereits kurz nach ihrer Ankunft im Flüchtlingslager an der Peripherie Zagrebs zeigte Frau Sivac einen offensiven Umgang mit den traumatischen Erlebnissen und deren Auswirkungen. Sie schloss sich mit Frauen aus Prijedor und anderen Teilen Bosniens in einer lose organisierten Frauengruppe zusammen, um die ankommenden Flüchtlinge aktiv zu unterstützen und etwas gegen das Elend zu tun. Überall traf Frau Sivac auf bedürftige Frauen und Kinder, die ob ihrer Erlebnisse hilflos und orientierungslos waren. Sie zu unterstützen, gab ihr das Gefühl, »für die Menschen nützlich zu sein, ich unterstützte die ankommenden Flüchtlinge in rechtlichen Fragen, die Ärztinnen Mevlida und Fatima untersuchten sie und verteilten Medikamente.« Viele der ankommenden Flüchtlinge waren sich noch nicht bewusst, dass Kroatien nun ein eigener Staat war und sie sich mit ihrer Ankunft bei der Polizei anmelden mussten. Darin und im Beantragen offizieller Aufenthaltsbewilligungen stand Frau Sivac mit ihrem juristischen Know-how den Flüchtlingen zur Seite. Wie sie sagt, war sie froh darüber, nicht untätig den Lageralltag bewältigen zu müssen und sich der rechtlichen Unterstützung anderer, hilfsbedürftiger Menschen widmen zu können, denn »das hat mir geholfen, all das durchzustehen, das alles.« Frau Sivac’ engagierte Frauengruppe vernetzte sich mit Frauen aus der lokalen kroatischen Bevölkerung. Manche dieser Beziehungen reichten in die Vorkriegszeit zurück und beruhten auf professionellem Austausch, andere wiederum konnten infolge der Hilfsbereitschaft einiger kroatischer Frauen neu geknüpft werden. Dank dieser guten Vernetzung vor Ort gelang es den engagierten bosnischen Frauen, ihre Gruppe als Nichtregierungsorganisation unter dem Namen Žene BiH (Frauen Bosnien-Herzegowinas) offiziell registrieren zu lassen. Als sich die Kämpfe zwischen der kroatischen und der bosnischen Armee in der Herzegowina zuspitzten und das Flüchtlingslager 1993 geschlossen wurde, konnte die Organisation nur aufgrund der guten Vernetzung und der Unterstützung einer befreundeten kroatischen Staatsbürgerin weiter existieren. Sie fand einen neuen Standort, damit die Organisation ihre Dienste und Unterstützungen weiterhin anbieten konnte. Die neuen Büroräumlichkeiten ließen dank ihrer Größe sogar einen Ausbau der Dienste und Tätigkeiten zu. Es war eine für Frau Sivac sehr wichtige Zeit, da sie große Unterstützung von den anderen Frauen erhielt, diese aber auch an andere weitergeben konnte: »Das war ein schönerer Teil meines Lebens. Mit dieser Zeit in Zagreb bin ich emotional sehr verbunden. Wir konnten uns wirklich gut entspannen, konnten uns unterhalten und da waren wir irgendwie glücklich und nützlich. Sowohl für uns selbst auch für die anderen war unsere Arbeit von großem Nutzen.« Aufgrund der guten Vernetzung mit anderen Organisationen wurde Žene BiH 1993 eingeladen, die bosnische Delegation in Wien an der UN-Weltkonferenz über Menschenrechte zu vervollständigen: »Ich ging auch mit und wir konnten als Delegation aus Bosnien dort mitreden. Wir protestierten gegen den Krieg,
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gegen das Töten der Menschen, gegen das Einkesseln der Städte wie Sarajevo.« An dieser Konferenz gelang es den Vertreterinnen der Žene BiH, zentrale Kontakte mit anderen, weltweit tätigen Frauenorganisationen zu knüpfen und bei der UNO Zuschüsse für ihre Arbeit zu erwirken. Damit ließen sich Projekte für Näharbeiten, vorübergehende Unterkunft für Neuankömmlinge, aber auch rechtliche, psychologische und medizinische Betreuung für traumatisierte Flüchtlinge organisieren und finanzieren. Für Frau Sivac persönlich war die ärztliche Betreuung besonders wichtig, die sie während ihres Zagreber Aufenthaltes erhielt: »Schon seit der Freilassung aus dem Lager hatte ich schreckliche Probleme mit der Galle, ich hatte immer große Schmerzen. Wahrscheinlich hätte mir die Galle platzen können.« 1994 musste sie ihre Gallenblase in einer Notoperation entfernen lassen. Sie wurde in einem Militärkrankenhaus behandelt, »ohne dass ich etwas bezahlen musste. Die Dienste im Krankenhaus waren sehr gut, aber trotzdem hatte ich ständige Angst, als ich da im Krankenhaus war. Denn das war während der Zeit, als die Konflikte zwischen den Kroaten und den Moslems am größten waren. Ständig sind Helikopter auf dem Dach gelandet und haben Verwundete gebracht. Aber niemand hat mir je ein Wort gesagt, ich hatte diesbezüglich keine Probleme.« Frau Sivac führt die gute Betreuung im Spital auf die Beziehung zu einer kroatischen Psychiaterin zurück, die sich für die Organisation Žene BiH einsetzte und deren Mann damals als Arzt in diesem Krankenhaus arbeitete. Dank ihres Engagements in der Organisation und des Besuchs der UNWeltkonferenz für Menschenrechte wurde Frau Sivac 1996 kurz nach Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton für eine zweimonatige Reise in die USA eingeladen, um, wie sie es nennt, »auf einer Tournee von meinen Erlebnissen zu berichten.« Als Hauptdarstellerin in zwei Dokumentarfilmen wohnte sie den Uraufführungen dieser Filme bei und stand im Anschluss daran dem Publikum Red und Antwort (u.a. Jacobson und Jelincic 1997). Es war auf dieser Reise, dass sie zum ersten Mal öffentlich über ihre Erlebnisse berichtete und erfuhr, wie es ist, Anerkennung zu erhalten. Dieses Schüsselerlebnis bestärkte sie in ihrer Berufung: Sie informierte die Welt über ihre Kriegszeit, legte Zeugnis ab mit dem Ziel, Gleiches in Zukunft zu vermeiden und eine Wiedergutmachung zu erwirken. Frau Sivac blieb bis zu ihrer Rückkehr nach Bosnien als Mitglied der Žene BiH aktiv. Ende 1996 entschied sie sich zur Rückkehr in ihr zerstörtes bosnisches Heimatland. Als Gründe nennt Frau Sivac, dass »alle unsere Mitglieder und Frauen, die in der Organisation [in Zagreb, Anmerkung der Autorin] arbeiteten, mit der Vorbereitung ihrer Rückkehr begonnen haben« und dass ihr trotz Bemühen kein anderes europäisches Land einen rechtlich anerkannten Aufenthaltsstatus zusprach. Obwohl Frau Sivac bereits kurz nach ihrer Ankunft im kroatischen Exil beim Flüchtlingshilfswerk der UNO (UNHCR) um Zuflucht in einem anderen Land angefragt hatte, erhielt sie vom UNHCR nie eine Antwort.
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5.1.3 Provisorische Rückkehr in den Warteraum Als sich Frau Sivac zur Rückkehr entschloss, kam die Gemeinde Prijedor aufgrund der politischen Lage nicht in Frage: Prijedor lag nun in der Entität Republika Srpska und wurde von den bosnischen Serben beherrscht. Eine passable Alternative bot sich ihr mit Sanski Most, der nächstgelegenen Stadt in der bosniakisch dominierten Föderation. Sie ließ sich provisorisch dort nieder, allerdings in der Vorstellung, bald in ihren Herkunftsort Prijedor heimzukehren – ein Wunsch, der so schnell nicht in Erfüllung gehen sollte. Mit diesem Begehren war sie bei Weitem nicht die Einzige. Sanski Most wurde zum Warteraum für viele Vertriebene aus Nordwestbosnien, die auf eine rasche Weiterreise und Rückkehr in ihre Herkunftsorte warteten. Diese Hoffnungen wurden allerdings immer wieder enttäuscht. Erst ab den Jahren 2001 und 2002 konnte eine große Mehrheit zurückkehren, ganze sechs Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens also. Manche Flüchtlinge warteten aber noch im Jahre 2005 (Zeitpunkt der Feldforschung) auf die Heimkehr in ihre nun serbisch dominierten Herkunftsorte in der Region Prijedor. In Sanski Most herrschten bei Frau Sivacՙ Ankunft äußerst chaotische Zustände. Für all die Zugezogenen reichten weder Wohnraum noch Infrastruktur aus. Der Wiederaufbau der Infrastruktur wie auch die psychosoziale Betreuung der vielen Kriegstraumatisierten kam erst zu jener Zeit ins Rollen. Es mangelte an allem, und die offiziellen Institutionen waren maßlos überfordert damit, den Flüchtlingen das Nötige zur Verfügung zu stellen. Das sei eine sehr große Belastung für all die Betroffenen gewesen, meint Frau Sivac. Die Mitglieder der in Zagreb gegründeten Žene BiH nahmen nicht zuletzt deshalb ihre Arbeit auch in Sanski Most sofort wieder auf und ließen die Organisation neu unter dem Namen Srcem do Mira (dt. von Herzen zum Frieden) registrieren, auch hier als NGO. Eine Namensänderung war angezeigt, weil es zu dieser Zeit bereits eine politische Partei gab, welche sich Žene BiH nannte. Weil nicht alle Frauen nach Sanski Most zurückkehrten ergab sich aber auch eine andere Zusammensetzung als in Zagreb. Mitglieder der NGO Screm do Mira waren nun ausschließlich Frauen aus der Gemeinde Prijedor. Die weibliche Dominanz führt die Präsidentin Emsuda Mujagić, eine enge Vertraute von Frau Sivac, in einem Gespräch darauf zurück, dass viele Männer abwesend waren; sei es, weil sie umgebracht worden oder verschwunden waren oder weil sie verschollen blieben. – Die Ziele der Organisation bestanden vorerst darin, die Frauen bei ihrem Rückkehrwunsch in die Herkunftsorte zu unterstützen; dazu leistete die NGO in erster Linie materielle und rechtliche Hilfe. Die Rückgabe der Häuser und Wohnungen in den Herkunftsgemeinden erschien zu dieser Zeit nahezu unmöglich. Denn ein Ziel der ethnischen Säuberungen hatte ja gerade darin bestanden, den zu vertreibenden Menschen die Lebensgrundlage endgültig zu entziehen, das Eigentum zu zerstören, die Häuser zu besetzen
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und damit für Rückkehrwillige unbewohnbar zu machen. Nebst Unterstützung und Motivation zur Rückkehr bot die Organisation den häufig stark traumatisierten Frauen und Kindern auch psychosoziale Betreuung und rechtliche Beratung durch Frau Sivac an. Frau Sivac, die sich von Beginn an in der NGO Srcem do Mira engagierte, blieb selbst bis ins Jahr 2002 in Sanski Most. Ganze sechs Jahre also, während denen sie auf ihre endgültige Heimkehr wartete und um ihre Wohnung in Prijedor einen erbitternden Kampf führte. Frau Sivac litt nicht nur unter den allgemein prekären Verhältnissen, dem Platzmangel und den ständig unsicheren Unterkunft in wechselnden Wohnungen, sondern auch unter zwischenmenschlichen Spannungen. Machtkämpfe unter den damaligen Einwohnerinnen und Einwohnern Sanski Mosts waren nichts Ungewöhnliches: »Es lebten viele verschiedene Menschen in Sanski Most. Das war ein richtiger Mix aus unterschiedlichen Menschen. Jeder mit seinem Trauma. Dazu kam das Problem, dass die Menschen, die die ganze Zeit in Bosnien waren, diejenigen Menschen, die im Ausland Zuflucht gesucht hatten, irgendwie nicht anerkannten.« Frau Sivac fühlte sich deswegen sehr ungerecht behandelt. Denn sie wusste, dass für sie nach der Freilassung aus dem Lager einzig die Flucht aus Prijedor gezählt hatte, egal wohin. Dass diese sie über die Grenzen Bosniens hinausgeführt hatte, hatte schlicht nicht in ihrer Entscheidungsmacht gelegen, denn »Wohin hätte ich aus Prijedor fliehen können? Nirgendwohin. Ich konnte nicht nach Travnik9 fliehen, weil ich keinen Platz in den Konvois von Prijedor nach Travnik fand. Die einzige Möglichkeit, die sich mir bot, war die Ausreise über Bosanski Novi nach Kroatien.« Frau Sivac erzählt aber auch vom belastenden Umstand, über so lange Zeit in greifbarer Nähe zum Herkunftsort gelebt zu haben, ohne ihn wirklich erreichen zu können. Die Grenze zwischen den beiden Entitäten blieb nach dem Friedensvertrag lange Zeit unüberwindbar (vgl. Kapitel 1.1). Aber auch die Öffnung dieser Grenze im Jahre 1998 vereinfachte die Rückkehr noch nicht. Nachdem die politischen Konflikte beigelegt worden waren, galt es, weiterhin die Sicherheit der Menschen bei einem Entitätsübertritt zu wahren. Zudem blieb die Rückgabe des Wohneigentums eine stark umstrittene Angelegenheit, was mit sich brachte, dass viele Rückkehrwillige wie Frau Sivac Wohnung oder Haus besetzt vorgefunden hätten.
Als Zeugin vor Gericht Bereits im Februar 1995 interviewten zwei Ermittlungsbeamtinnen des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICTY Frau Sivac zum 9 | Travnik ist eine Stadt in Zentralbosnien, die bereits zu Beginn des Krieges von den Muslimen beherrscht wurde und in welcher viele Flüchtlinge aus Prijedor während der Kriegszeit Schutz suchten.
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ersten Mal zu ihren Kriegserlebnissen. In den Zeugenstand gerufen wurde sie 1998, um im Prozess gegen Milan (Mico) Kovačević auszusagen. Als »Prijedorer Stadtmanager« während der Kriegszeit war er für die Aushändigung und Überstellung muslimischer Gefangener in das Lager ›Omarska‹ und für die Administration des Lagers verantwortlich (Human Rights Watch 1997). Geboren in einem Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs, leugnete er gegenüber den beiden Journalisten Ed Vulliamy und Roy Gutman die Vorkommnisse in ›Omarska‹ und bezeichnete das Lager als Sammelzentrum (vgl. Gutman 1993; Vulliamy 1996). Er war nebst Milomir Stakić einer der wenigen politisch Verantwortlichen, die in Den Haag wegen der ethnischen Säuberungen in Prijedor angeklagt wurden. Stakić, Vorsitzender des berüchtigten Krizni Štab, wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Verbrechen gegen das Kriegsrecht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Milomir Stakić, Milan Kovačević und Simo Drljaca galten als Organisatoren des Systems der Konzentrationslager und der dort verübten Tötungen. Drljaca wurde von britischen Stabilisation Force (SFOR) Soldaten getötet, als er sich seiner Festnahme widersetzte und Kovačević starb an einem Herzinfarkt in Den Haager Haft. Deshalb kam es nicht zur Fortsetzung der Verhandlung – Frau Sivac musste wieder abreisen, ohne dass sie gegen Kovačević hätte aussagen können (vgl. auch Sivac 2004; Wesselingh und Vaulerin 2005: 121ff.). Erst im Jahre 2000 ergab sich erneut die Chance, vor dem internationalen Gericht an der Aufklärung der Verbrechen mitzuwirken. Sie sagte im Verfahren gegen Miroslav Kvočka aus, den ehemaligen stellvertretenden Kommandanten des Lagers ›Omarska‹. Die detaillierte und öffentliche Zeugenaussage vor Gericht war ein sehr qualvolles und belastendes Erlebnis, wie sie sagt. Doch aufgrund ihrer eigenen Berufserfahrung habe sie um die Wichtigkeit des schriftlichen Festhaltens solcher Ereignisse bei Gericht gewusst und deshalb die Belastung auf sich nehmen wollen. Im ersten Augenblick war sie stolz auf ihre Aussage und empfand Erleichterung: »Es ist ein gutes Gefühl, die tatsächlichen Ereignisse vor Gericht bezeugen zu können und festzuhalten, was wirklich geschah.« Der Gang vor Gericht blieb für sie aber nicht ohne Folgen: Das minutiöse Wiedergeben der erlittenen Traumatisierungen und sexuellen Misshandlungen hatte eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge, welche sie lakonisch als ›Stress‹ bezeichnet. Nach den Aussagen vor Gericht musste sie während zweier Monate hospitalisiert werden. Dass man sie danach ohne professionelle psychologische Begleitung nach Bosnien zurückschicken würde, hatte sie im Voraus gewusst. Doch dass sie aufgrund ihrer eigentlich anonymisierten Aussage für lange Zeit mit Diskriminierungen und Drohungen würde leben müssen, ahnte sie zum Zeitpunkt der Aussage nicht. Zurück in Sanski Most, wurde Frau Sivac wieder in der Hilfsorganisation Srcem do Mira als Rechtsgelehrte eingesetzt. Diese Arbeit und auch ihr Wunsch, so schnell als möglich in die Gemeinde Prijedor zurückzukehren und ihre Woh-
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nung zurückzuerobern, ließen ihr wenig Zeit für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Kriegstrauma und den Folgen der Zeugenaussage. Als sie im Jahre 2002 erneut gezwungen wurde, aus einer ihrer unzähligen provisorischen Wohnungen in Sanski Most auszuziehen, weil die serbischen Besitzer die Wohnung von ihr zurückforderten, gab es für sie nur noch die Option, ihre eigene Wohnung in Prijedor zurückzugewinnen und die endgültige Rückkehr in die Wege zu leiten.
5.1.4 Der Kampf um Anerkennung nach dem Krieg Die ›große‹ Rückkehrwelle in den Jahren 2001 und 2002, mit der auch Frau Sivac nach Prijedor zurückkehrte, ging mit sozialen Konflikten und Spannungen zwischen den Domicilna (dt. den immer vor Ort Verbliebenen) und den Rückkehrerinnen und Rückkehrern einher. Vor allem die Sicherheitslage für rückkehrwillige Bosniakinnen und Bosniaken war von Beginn an prekär. Frau Sivac berichtet von diversen Gewaltausbrüchen, Bedrohungen und tätlichen Angriffen auf Rückkehrersiedlungen und sakrale Bauten. Die Sicherheitslage habe sich in den vergangenen drei Jahren seit ihrer Rückkehr etwas beruhigt, unschöne Szenen seien aber auch im Jahre 2005 immer wieder zu beobachten. Gewaltgeladene Situationen zeigen sich in Prijedor meist in Zusammenhang mit Fußball-Länderspielen der serbischen Nationalmannschaft. Doch Frau Sivac beobachtet weit subtilere Diskriminierungen im Alltag, so zum Beispiel das öffentliche Sichmokieren über die Muezzinrufe, die nach dem Wiederaufbau der Moschee im alten Stadtkern, der Stari Grad, seit dem Jahre 2005 auch in Prijedor Stadt wieder fünfmal täglich erklingen. Das Gefühl der Unsicherheit beschreibt Frau Sivac für sich und die anderen Zurückgekehrten als nach wie vor groß, besonders auch, weil sie mehrmals erfahren haben, dass die lokale Polizei nicht für ihre Sicherheit einsteht. In den Worten einer guten Freundin von Frau Sivac, die nur noch ferienhalber nach Prijedor zurückkehrt10: »Ich fühle keinen Hass, aber ich kann nie mehr sicher sein, ob das, was 1992 geschah, nicht plötzlich wieder geschehen wird – einfach so.« Nebst den allgemeinen Spannungen zwischen Domicilna und Zurückgekehrten war es für Frau Sivac der drei Jahre dauernde Kampf um ihre Wohnung, der ihr die Reintegration in die Herkunftsgemeinde erschwerte und sie immer wieder entmutigte. Die Wohnung war ja seit Frau Sivac’ Internierung im Lager ›Omarska‹ besetzt, und dies von ihrer ehemals besten Freundin und Arbeitskollegin Svetlana Milojević. Bereits von Sanski Most aus konnte Frau Sivac erste Abklärungen in die Wege leiten, der größte Teil der bürokratischen und äußerst aufreibenden Rückeroberungsprozedur kam aber erst nach der endgültigen Rückkehr auf sie zu. Zwischenzeitlich konnte sie in der Prijedo10 | Gespräch mit Frau Alihodži ć vom 16. Oktober 2006.
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rer Wohnung ihres älteren Bruders Unterschlupf finden, die zwar verwüstet, aber glücklicherweise nicht besetzt war. Verwüstung fand sie schließlich auch in ihrer eigenen Wohnung vor: »Ich hatte hier schrecklich große Behinderungen mit der Rückgabe meiner Wohnung. Meine Arbeitskollegin, die gar kein Recht dazu hatte, aber eine Domicilna ist, wohnte darin […] Dank der Unterstützung der internationalen Organisationen OHR und OSCE und der internationalen Polizei schaffte ich es, die Wohnung zurückzuerobern. Sie war in einem schrecklichen Zustand. […] Es war ein Schock, was sie mit der Wohnung gemacht hatte. Es war ein Schock. Die Wohnung war ein riesiges Chaos und ich konnte all meine persönlichen Dinge wie Briefe und Fotos nicht mehr finden. Sie weiß, was mir das bedeutet, weißt du, da gibt es Erinnerungen. […] Aber sie hat mich belogen. Sie hat alles zerstört und nichts ist mir geblieben …«
Dass sich ihre ehemalige Freundin gegen sie gewendet hat und dies auch nach dem Krieg noch weitertreibt, schmerzt Frau Sivac, und sie macht deutlich, dass das Vertrauen in diese Frau ein für alle Mal zerstört ist. Der Schock über den Zustand ihrer Wohnung und darüber, was eine gute Freundin ihr angetan hatte, war nur der Anfang der Schwierigkeiten, die mit der endgültigen Rückkehr an ihren Herkunftsort auf Frau Sivac zukamen. Auch wenn sie in den Interviews keine tätlichen Angriffe auf sich schildert, beschreibt sie deutlich, wie problembehaftet die Begegnungen mit den ehemaligen Nachbarinnen und Nachbarn sowie der Gemeinschaft vor Ort sind. Sie erzählt von unzähligen kleineren Diskriminierungen, die sich ganz konkret auf ihre Beziehungen mit Nachbarinnen, Nachbarn und ehemaligen Bekannten auswirkten. Niemand begrüßte die Rückkehrerin, alle wandten sich von ihr ab und verleugneten die Bekanntschaft. Es schien fast, als würde Frau Sivac etwas Aussätziges anhaften.
Die Enttarnung und weitere Diskriminierungserfahrungen Das einschneidendste und nachhaltigste Erlebnis für Frau Sivac ist aber, dass sie nach ihrer Rückkehr und der Rückeroberung der Wohnung öffentlich als Zeugin des ICTY enttarnt wurde. Dies, obwohl ihr das Gericht vollständige Anonymität zugesichert hatte, um Racheakte zu verhindern. Im Kreuzverhör nannte einer der Verteidiger sie unglücklicherweise bei vollem Namen. Auch wenn das Gericht diesen Lapsus aus allen Protokollen und Transkripten entfernte, kannten die am Prozess Beteiligten und das anwesende Publikum nun ihren Namen. Einer der Verteidiger des Angeklagten, »der in diesem Team war, hatte die Transkripte, und hat sogar darüber geredet, was ich in den Transkripten gesagt habe. Da gibt es keinen absoluten Schutz.« Es ist genau dieser Umstand, welcher die Integration von Frau Sivac in die Prijedorer Gesellschaft der Domicilna und in die Prijedorer Arbeitswelt nachhaltig erschwert. »Dann, eines
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morgens beim Verlassen meiner Wohnung sah ich, dass jemand in kyrillischen Großbuchstaben OMARSKA an die Wand geschmiert hatte.« Diese Sprayerei schockierte Frau Sivac und schränkte sie vorerst stark in ihrer Bewegungsfreiheit ein: »Ich verließ die Wohnung nur noch, wenn ich etwas einkaufen musste. Wenn ich auf dem Balkon Wäsche aufhängen musste, konnte ich es jeweils kaum erwarten, wieder reinzugehen. Ich hatte große Angst vor tätlichen Angriffen, Anschlägen und noch Schlimmerem als den Sprayereien.« Mit einem Lächeln meint sie aber, dass sie sich nicht allzu lange von diesen »Kindereien« habe beeinflussen lassen. Sie hat den ersten Schock überwunden und geht nun offensiv mit diesen erschwerenden Umständen um. Besonders durch ihr Engagement in der Hilfsorganisation Srcem do Mira, die nun auch in der Gemeinde Prijedor tätig ist, erhält Frau Sivac soziale Unterstützung von anderen Rückkehrerinnen und Rückkehrern. Als besonders zentrale Bezugsperson hat sich die Präsidentin der Organisation herausgestellt, eine engagierte Ärztin, die Frau Sivac bereits seit ihrer Zeit im Zagreber Exil kennt. Mit ihrem Engagement in der Nichtregierungsorganisation nimmt sie ihre bisherige Rolle als ›Anwältin‹ der Opfer, auch in einem nicht juristischen Sinn, weiterhin wahr. Öffentlich und unter ihrem richtigen Namen widmet sie nun ihr Leben den Opfern, der Wiedergutmachung und der Verurteilung der Täter. Gerade durch dieses Engagement, das auf Freiwilligkeit und nicht auf Lohnarbeit basiert, kann sie sich gut in der Gemeinschaft der Rückkehrerinnen und Rückkehrern mit anderen Frauen vernetzen, lokal wie auch international. Stolz erzählt sie von ihrem Engagement für die Organisation einer jährlichen Friedenskonferenz und ihrem Einsitz als Mitglied der bosniakischen Gemeinschaft in diversen Diskussionsforen (wie beispielsweise im lokalen Demokratieforum11). Zudem nimmt sie Teil an diversen Rundtischen, die sich der Situation in der Gemeinde Prijedor widmen. Im Juli 2005 reist sie nach Srebrenica, um an den 10-Jahres-Gedenkfeierlichkeiten teilzunehmen. Diese Teilname ist ihr besonders wichtig, weil sie sich mit den Angehörigen der Opfer dieses Massakers solidarisieren will. Sie erwähnt auch ihr Engagement für die Konzipierung von Ausstellungen, die zum Ziel haben, die Kriegsereignisse in Prijedor öffentlich zu machen – ein Engagement, das sie als besonders wichtig für die nachfolgenden Generationen erachtet. Dass immer noch viele Kriegsverbrecher unbestraft in Prijedor leben können und genau dies den Umgang mit den Kriegserlebnissen erschwert, ist für Frau Sivac ein belastendes Thema, das sie immer wieder betont. Sie macht mich bei mehreren Spaziergängen durch die Stadt hinter vorgehaltener Hand auf Personen aufmerksam, die während des Krieges Verbrechen begingen und heute noch immer zentrale gesellschaftliche und politische Positionen belegen. 11 | Siehe . Abgerufen am 5.5.2008.
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Der prominenteste ist wohl Marko Pavić, der seit 2004 als Bürgermeister der Stadt amtete und seit jeher als Mitglied der Serbisch Demokratischen Partei (bos./hrv./srp. Srpska Demokratska Stranka) SDS nationalistisches Gedankengut verbreitet. Frau Sivac kennt aber auch viele »kleine Verbrecher«, die sich frei bewegen können. »Ich sehe, wie diese ... aus ›Omarska‹ heute in der Stadt spazieren gehen, die, welche die Gefangenen befragt, gefoltert und getötet haben. Ich sehe all die Gesichter. Es wird mir davon übel.« Frau Sivac weiß, dass sich die Gräben zwischen ihr und ihren ehemaligen Bekannten vergrößern, solange die Verbrecher nicht als solche benannt und deren Taten auch nicht von den normalen Mitgliedern der Gesellschaft verurteilt werden. Solche Gräben ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft Prijedors.
Umgang mit den Diskriminierungen Wie geht nun Frau Sivac selbst mit all diesen diskriminierenden Erfahrungen und Erlebnissen um? Welche individuellen Formen der Bewältigung findet sie? Und was sagt ihre ganz persönliche Art des Umgangs über das Zusammenleben der lokalen Gemeinschaft aus? Diese Fragen waren Teil des Interviews, ebenso jene nach Frau Sivac’ Meinung zur Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen vor Ort und den Veränderungen im Vergleich zum Vorkriegsleben. Sie erklärt: »Jetzt ist es eine total andere Situation. Also, es hat sich sehr verändert, das ist jetzt ein großes Problem [lachen], ein großes Problem, großes. Wir haben zwar eine Kommunikation. Nehmen wir beispielsweise den Sektor der Nichtregierungsorganisationen. Wir haben die Kommunikation zwischen den Nichtregierungsorganisationen, aber das Problem ist — Es ist kein Problem, wenn wir von etwas sprechen, ich weiß auch nicht, wenn wir von der Zusammenarbeit reden, von den gemeinsamen Projekten. Aber es kommt immer zum Konflikt, wenn wir von der Gegenüberstellung reden. Wenn wir das erwähnen, was in Prijedor passiert ist. Da haben wir bis jetzt noch nie einen Dialog herstellen können.«
Mit der angesprochenen neuen sozialen Situation in der Nachkriegszeit verweist Frau Sivac auf die ethnischen Unterschiede, welche für sie vor dem Krieg keine große Bedeutung hatten oder zumindest aufgrund der gesamtjugoslawischen Identität nicht in dieser Deutlichkeit betont wurden. »Vor dem Krieg gab es eine total freie Kommunikation, wir waren gemischt, in allen drei Gruppen, in allen gesellschaftlichen Sphären, sowohl beruflich als auch privat. Heute ist die Situation aber ganz anders.« Frau Sivac schildert verschiedene Nachkriegssituationen, die ganz deutlich durch die ethnischen Unterschiede gekennzeichnet sind. Ihrer Meinung nach ist diese Situation nicht nur für sie, sondern für die gesamte Gesellschaft ein (dreimal betontes) großes Problem. Diese Problematik führt Frau Sivac detaillierter aus: Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass kei-
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nerlei Kommunikation existierte, sondern darin, wie sie geführt wird. Die zeitliche Perspektive ist dabei ihrer Meinung nach zentraler Angelpunkt. Ein Blick in die Gegenwart und in die Zukunft ist aus ihrer Sicht im Dialog zwischen den unterschiedlich betroffenen Gruppen wenig problematisch. Wird aber der vergangene Krieg thematisiert, dann kommt es zwischen ihr und ihrem (serbischen) Gegenüber unweigerlich zum Konflikt. Der Blick in die Vergangenheit und die Erinnerungen daran sind für Frau Sivac die Krux der Nachkriegszeit. Wichtig für sie ist aber nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, sondern das tatsächliche Ansprechen der vergangenen Kriegsereignisse. Sie wird nicht müde, diesen Umstand immer wieder zu betonen, denn sie weiß, dass sich nur damit eine Basis für die gemeinsame Zukunft finden lässt.
Konfliktbehaftete Vergangenheit Der vergangene Krieg ist sowohl implizit als auch explizit bei allen Begegnungen für Frau Sivac Thema: »Meistens mögen es die Anderen nicht, davon zu sprechen. Sie möchten halt darüber nicht reden und es kommt zur Leugnung der Dinge, die in Prijedor passiert sind. Damit man diesen Teil überspringt.« Wie Frau Sivac weiter ausführt, können sich immer noch zu viele Menschen in Prijedor durch Schweigen und Leugnen der Vorkommnisse vor Konfrontation und Schuldeingeständnis schützen. Das betrifft Frau Sivac doppelt, wie sie meint: nicht nur, weil sie als Opfer dringend eine Wiedergutmachung braucht, sondern auch, weil sie als Anwältin der Opfer tagtäglich gegen dieses Leugnen ankämpft. Deshalb ist es ihr wichtig, dass die Vorkommnisse in Prijedor beim Namen genannt werden. Sie bemerkt allerdings, dass die meisten ihrer serbischen Mitmenschen ihren Einsatz für die Aufklärung und Gerechtigkeit nicht gutheißen. Viele ehemals Bekannte würden sie mit Blicken strafen und jeglichen Kontakt mit ihr verweigern. Sie weiß, dass sie sich so verhalten, »weil sie wissen, dass ich überall darüber geredet habe, in den Medien und vor Gericht. Sie verurteilen das, die meisten meinen, dass ich das nicht hätte tun sollen.« Kurz nach ihrer Rückkehr waren es diese Verurteilungen und auch die Angst vor Repressalien, welche sie zurückhaltend in der Gemeinde agieren ließen. Doch mit der Zeit lernte sie, zur erlittenen Gewalt auch an ihrem Herkunftsort Position zu beziehen: »Und jetzt? Jetzt verheimliche ich das nicht mehr, ich erwähne, was mir geschehen ist. Ich schäme mich doch deswegen überhaupt nicht mehr. Ich bin Haager Zeugin und fertig. Und: Ja, ich werde es wieder sein, nicht nur in Haag, sondern auch vor dem Gericht in Bosnien-Herzegowina.« Dass sie mit ihren Aussagen und ihrer Haltung einen wichtigen Beitrag zur Versöhnung leisten kann, ist ihr eine große Genugtuung. Sie ist stolz darauf, und sie meint, dass sie es sofort wieder so machen würde, trotz aller damit verbundener Konsequenzen und des schmerzhaften Prozesses. Frau Sivac wägt bei der Reflexion über die verschiedenen Arten des Umgangs mit der Vergangenheit immer wieder die ihr vertraute Situation in Prijedor ab:
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»Ich finde halt, dass ohne die Konfrontation mit dem, was uns geschah, ohne die richtigen Geständnisse – nicht nur hier, sondern in allen Städten Bosniens –, dass wir nicht in eine gesunde Zukunft gehen können.« Sie stellt fest, dass sich die meisten der lokalen Serbinnen und Serben aber damit nicht einverstanden erklären und sich dem öffentlichen, politisch und medial geführten Diskurs »völlig unterwerfen« würden, einem Diskurs, der in die entgegengesetzte Richtung weist, jene der Negierung und Leugnung. Zur Illustration reflektiert sie eine Konferenz, welche der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien am 25. Juni 2005 in Prijedor unter dem Titel »Bridging the Gap between the ICTY and Communities in Bosnia and Herzegovina« veranstaltete. Im Theater von Prijedor versammelten sich an diesem Samstag in erster Linie die bosniakische Minderheit und die internationale Gemeinschaft – die serbische Bevölkerung blieb der unentgeltlichen Konferenz weitgehend fern. Immerhin war der bereits erwähnte amtierende Bürgermeister, Marko Pavić, zugegen. Die offizielle Teilnahme des Bürgermeisters war aber nicht etwa Anlass zu hoffen, die Wichtigkeit des Themas werde endlich von der Gesellschaft anerkannt. Im Gegenteil löste seine Teilnahme großen Unmut bei Frau Sivac aus. Entsetzt war sie darüber, dass sich Bürgermeister Pavić trotz Teilnahme einer tatsächlichen Auseinandersetzung geschickt entzog und die Plattform für die Verteidigung des von allen Seiten angeklagten serbischen Volkes missbrauchte. Er sprach zur Eröffnung der Konferenz, ließ jedoch bereits in seiner Einleitung erkennen, dass diese Konferenz »gegen sein Volk gerichtet ist und man dort nur eine Seite hört. Ob die Konferenz zu einer Ko-Existenz und gegenseitigem Vertrauen beitragen kann, bezweifle ich«12 . Unaufgefordert wies er den Vorwurf des Genozids weit von sich und der serbischen Bevölkerung und betonte in seiner Rede die oft gehörte Behauptung, die ›Anderen‹ seien schuld am Krieg und hätten Genozid begangen. Für Frau Sivac ist diese Haltung pure Schwindelei, wie sie sagt. Komisch mutete diese Verteidigung vor allem auch deswegen an, weil die Verantwortlichen der Konferenz bei ihrer Zieldefinition bereits vorgängig betont hatten, dass man das internationale Tribunal entmystifizieren und seine Arbeitsabläufe aufzeigen wolle und auf pauschalisierende Zuschreibungen von Opfer- und Tätergruppen verzichtet werden solle. Es ging dem Tribunal also nicht darum, die gesamte serbische Bevölkerung von Prijedor anzuklagen, sondern die einzelnen Täter beim Namen zu nennen und auf die Verbrechen in der Gemeinde aufmerksam zu machen. Nebst der erwähnten Verteidigungsrede, die im Grunde die Kriegsereignisse leugnete und jegliche Verantwortlichkeit der offiziellen serbischen Seite verneinte, ärgerte sich Frau Sivac auch über die kurze Anwesenheit des Bürgermeisters. Unmittelbar nach seiner Eröffnungsrede verließ dieser mit seinem Gefolge den Saal – eine auffällige Prozession, die keinem der Anwesenden entgehen konnte. Wie Frau Sivac 12 | Gemäß Feldnotizen Nr. 2, 25. Juni 2005, Übersetzung der Autorin.
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erzählte und auch von anderer Seite zu erfahren war, machte er sich auf in das Dorf Omarska, um dort die Glocken der serbisch-orthodoxen Kirche einzuweihen, derweil vor versammeltem bosniakischem Publikum an der Konferenz Videos von der Zerstörung Kozarac’ gezeigt wurden. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Kozarac, so betont Frau Sivac, müssten sich die selbst erlebte Zerstörung ihres Dorfes nicht als Video ansehen, um die Kriegstaten anzuerkennen. Anders verhalte es sich mit jenen Serbinnen und Serben, welche die Ereignisse noch immer negierten und leugneten. Für sie wäre es gut gewesen zu hören, »was die vom Tribunal sagen. Die, die kompetent sind. Stellen Sie sich vor, es gibt immer noch so viele Serben, welche die Konzentrationslager ›Omarska‹ und ›Keraterm‹ Sammelzentren nennen, obwohl das Tribunal eine klare Definition dessen gab, was dort geschah und wie man sie bezeichnen soll. Auch wäre es gut gewesen, wenn die Serben vom Tribunal gehört hätten, dass die Geschehnisse in Prijedor systematische Verbrechen waren und nicht isolierte Einzelverbrechen.« Die Teilnahme des Bürgermeisters über die gesamte Länge der Konferenz (während der er mit den in der Gemeinde ausgeübten Verbrechen konfrontiert worden wäre) wäre für Frau Sivac ein erstes offizielles Zeichen der Anerkennung gewesen.
Ihr Einsatz für eine Anerkennung der Schuld Frau Sivac weiß, dass »der Prozess der Gegenüberstellung sehr schwer, sehr komplex und sehr langwierig ist. Ich weiß, dass das nicht über Nacht geschehen kann. Denn es ist schwer für einen Menschen, dem jahrelang eingetrichtert wurde, dass die Muslime eine Gefahr darstellen und der Krieg ein bloßer Verteidigungskrieg war, plötzlich etwas anderes zu denken. Du kannst nicht plötzlich über Nacht sagen, sieh mal, das ist nicht so, sondern so. Das ist ein langwieriger Prozess.« Gleichzeitig macht sie klar, dass die Situation der Opfer und jene der Angehörigen der Vermissten eine klare Haltung gegenüber den Ereignissen erfordern. Frau Sivac und die anderen Opfer akzeptieren, dass die Annäherung ein langwieriger Prozess ist, doch sie drängen auch auf eine baldige und ausdrückliche Schuldanerkennung durch die andere Seite13 . Eine solche Anerkennung, so weiß Frau Sivac, ist für die serbischen Opfer genauso wichtig: »Ich werde es überall sagen und verurteilen. In Č elebi ć i14 hat es auch ein Konzentrationslager gegeben. Da hat man Serben gefangen gehalten, das hätte nicht passieren 13 | Wie sich in der Analyse noch herausstellen wird, ist dieser Widerspruch – die Langwierigkeit einer Annäherung und die geforderte rasche Anerkennung der Leiden – eines der Hauptprobleme der Annäherung der verfeindeten Gruppen. 14 | Dieses Lager befand sich in der Gemeinde Č elebi ć i in der Region Konjic in Zentralbosnien. Es existierte von Mai bis Dezember 1992. Bosniaken und bosnische Kroaten hielten dort mehrere hundert serbische Männer und Frauen gefangen. Laut UN-Be-
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dürfen. Aber nicht zu sagen, was hier passiert ist, das verstehe ich nicht. Es sind nicht nur die Serben, die das Geschehene hier nicht benennen. Es sind auch die Internationalen. Zum Beispiel gibt es eine hier tätige internationale Nichtregierungsorganisation. Ich verstehe, dass sie neutral und unparteiisch sein müssen. Das ist in Ordnung. Aber dass sie ihre Arbeit so ängstlich und beschämt machen, weil sie die Frauen serbischer Nacionalnost nicht verärgern wollen, das verstehe ich nicht. Man muss doch das klarer machen und energischer, denn da gibt es keine Kompromisse. Es ist nicht ein Marktplatz, wo gefeilscht werden könnte. Das ist meine Meinung.«
Für Frau Sivac steht außer Diskussion, dass der vergangene Krieg die Quelle jeglicher heutiger Konflikte und Streitereien darstellt und dass es deshalb einer direkten Konfrontation mit dieser Vergangenheit bedarf. Denn für sie und die anderen Opfer ist eine solche Konfrontation für die Gestaltung der eigenen Zukunft unabdingbar. »Ich meine, es ist schrecklich, es ist schrecklich zu hören, dass niemand von den Anderen über die Geschehnisse spricht und dass niemand zugeben will, was wir alles erlitten haben. Sie schweigen über die Vergangenheit und das Einzige was sie wollen, ist in die Zukunft schauen und weiter gehen. […] Auch habe ich noch nie jemanden aus einer Nichtregierungsorganisation gehört, der sagen würde, also ich schäme mich für das, was hier passiert ist. Ich habe bis heute noch keine Fortschritte bemerkt, alle schweigen. Außer der großen Ausnahme Mladen Grahovac 15.« richt wurden in dieser Einrichtung Menschen getötet, gefoltert, sexuell missbraucht, geschlagen und allgemein grausam und unmenschlich behandelt (siehe dazu oder . Abgerufen am 13.11.2008). 15 | Herr Grahovac war vor dem Krieg Direktor der örtlichen Pigmentfabrik Ferox und mit Frau Sivac bereits aus der gemeinsamen Zeit am Gymnasium befreundet. Während des Krieges konnte er mit einer kleinen Produktion den Betrieb der Fabrik aufrechterhalten und wurde deshalb nicht in die Armee eingezogen. Mit dem Fortschreiten des Krieges wurde auf Herrn Grahovac aber immer mehr Druck von Seiten der regierenden SDS ausgeübt, der Partei endlich beizutreten und ihre Werte und Normen zu vertreten. Herr Grahovac stellte sich öffentlich gegen den nationalistischen Diskurs der Partei und wurde deshalb nach Kriegsende im Jahre 1996 von seiner Arbeitsstelle entlassen. Wäre er Mitglied der Partei geworden, hätte er seine Arbeitsstelle, aber auch die Fabrik retten können. Nach seinem Weggang kollabierte der Betrieb und konnte bis heute nicht wieder aufgenommen werden. Herr Grahovac und seine Familie litten aufgrund seiner persönlichen und öffentlichen Stellungnahmen gegen die nationalistische Politik der SDS unter Schikanen ultra-nationalistischer Nachbarinnen, Nachbarn und anderer Bewohnerinnen und Bewohnern Prijedors. Politisch engagierte sich Herr Grahovac bis zu seinem Tod in der multiethnischen, demokratisch orientierten Par-
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Frau Sivac klagt an, dass die meisten Serbinnen und Serben die Schuld ausdrücklich von sich weisen und jeweils auf Ereignisse verweisen, die den Serben im Bosnienkrieg anderenorts geschehen sind. Aber Frau Sivac betont, dass »ich doch nicht wissen kann, was zum Beispiel in Sarajevo passiert ist, ich habe dort nicht gelebt. Aber ich lebte hier und ich weiß, was hier passierte. Genauso wie sie auch hier lebten und wissen, was hier war.« Frau Sivac hebt hervor, dass es einzelne klar benennbare Täter und Schuldige gibt. Eine moralische Verantwortung für die Kriegsereignisse tragen in ihren Augen aber alle serbischen Einwohnerinnen und Einwohner Prijedors: »Die Schuld kann individuell sein, […] individuell […]. Aber es gibt auch etwas, das moralische Schuld heißt. Verstehst Du? Die meisten Menschen waren Teil davon, vielleicht nicht direkt ein Teil des Verbrechens, aber sicher hielten sie sich im Kontext des Verbrechens auf.« Diese Verantwortung müssen ihrer Meinung nach alle wahrnehmen, ungeachtet des Grades ihrer Involviertheit in den Krieg.
Einmal Opfer – immer Opfer? Eine der größten Schwierigkeiten für Frau Sivac besteht darin, dass sie seit ihrer Rückkehr in die Herkunftsgemeinde keine Anstellung finden kann, die es ihr ermöglichen würde, die Verurteilung der Kriegsverbrecher gemäß ihren beruflichen Qualifikationen voranzutreiben. Die einzige Art und Weise, Einfluss zu nehmen, beschränkt sich auf ihr Engagement in der Nichtregierungsorganisation Srcem do Mira und auf die Unterstützung anderer lokaler Hilfsorganisationen. Zwar füllt dieses Engagement ihren Alltag vollständig aus, ihren Lebensunterhalt kann sie damit allerdings nicht verdienen. Genauso wenig wie sie ihr zentrales Anliegen angehen kann: die Verurteilung der Kriegsverbrecher. »Ich wollte halt wirklich, dass ich zurückkehre und meine Arbeit mache. Ich habe mich unzählige Male beworben, aber alle Bewerbungen waren immer negativ. Ich folgere aus diesen Absagen, dass das Problem ist, dass ich Opfer bin. Die Gesellschaft findet das scheinbar auch, dass ein Opfer sein ganzes Leben ein Opfer sein soll. Es scheint, dass man dem Opfer gar keine Rehabilitation anbietet. Und ich würde sehr gerne meinen Beruf wieder ausüben, ich würde liebend gerne etwas Professionelles machen, mich professionell engagieren.«
Dass die Gesellschaft ihr den Opferstatus für immer und ewig zuschreibt, scheint für sie nicht wirklich der wunde Punkt zu sein. Viel eher ist für sie problematisch, dass sie keine bezahlte Anstellung findet. Bereits in Sanski Most tei Naša Stranka (dt. unsere Partei). (siehe . Abgerufen am 3.11.2008). Er verstarb am 29. November 2009 in Prijedor. Informationen aus diversen Gesprächen mit Herrn Grahovac.
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wurde sie für die Stelle der Staatsanwältin vorgeschlagen. Das entscheidende Gremium allerdings lehnte ihre Kandidatur ab mit der Begründung, dass Frau Sivac nicht Mitglied der muslimischen Partei der Demokratischen Aktion (bos./ hrv./srp. Stranka Demokratska Akcjie) SDA werden wollte. In Prijedor führt sie die Nichtanstellung ihrer Person am Gericht darauf zurück, dass zu viele Menschen irritiert seien ob ihrer Bereitschaft, öffentlich über ihre Kriegserlebnisse zu berichten. Sie ist überzeugt, dass ein Verschweigen ihrer Erlebnisse im öffentlichen Raum ihre Chancen auf eine Wiederanstellung im angestammten Berufsfeld wesentlich erhöht hätte. Doch schon nur aufgrund des Berufsethos kommt für sie ein öffentliches Verschweigen nicht in Frage. Ebenso schätzt sie ihre Chancen als höher ein, hätte sie sich in einer (respektive der ›richtigen‹) politischen Partei engagiert. Doch Frau Sivac hebt mehrere Male in den Gesprächen ihre ausgeprägt apolitische Haltung hervor, die ihrer Meinung nach für die Ausübung ihrer Profession eigentlich von Vorteil wäre. Deshalb kann sie nicht verstehen, weshalb man ihr eine Anstellung verweigert. Ein weiterer Grund für ihr Nichtverständnis ist ihre Überzeugung, dass sie als Richterin »gerecht sein würde. Ich würde nur nach dem Gesetz arbeiten und es wäre mir überhaupt nicht wichtig, ob der Angeklagte Serbe oder Muslim ist. Das Gesetz würde zuvorderst sein, wenn ich über einen Rechtsstreit entscheiden müsste.« Sie ist den führenden politischen Kreisen, die eine zwielichtige Vergangenheit haben und damit auch keinerlei Interesse haben, eines ihrer ehemaligen Opfer auf den Richterstuhl zu lassen, ein Dorn im Auge: »Der Bürgermeister würde nur jemanden für das Richteramt auswählen, den er manipulieren kann« und sicher nicht eine Person, die bereits vor einem Internationalen Gericht gegen ranghohe (serbische) Prijedorer Kriegsverbrecher ausgesagt hat. Zumal ja auch bekannt ist, dass der Bürgermeister als Direktor der Post- und Telegrafengesellschaft bei Kriegsausbruch eine den Krieg unterstützende Rolle spielte. Es ist nicht nur Frau Sivac’ berufliche Identität, die sie im Kampf um Gerechtigkeit antreibt, sondern es sind besonders auch ihre eigenen Kriegserlebnisse. »Manchmal mache ich Spaß, wenn mich jemand fragt, was ich von Beruf bin: Opfer. – Und Ihre Mission? – Opfer. – Na, wie denn? Ich glaubte, Sie seien eine Rechtsgelehrte! [lacht].« Weil sich Frau Sivac also dazu bekennt, Opfer zu sein, wird sie nicht als unbefangen und neutral betrachtet und kann deshalb nicht ins Richteramt berufen werden. Gleichzeitig kann sie aber auch nicht in ihren Beruf zurückkehren, weil sie von der Gesellschaft keine Wiedergutmachung oder zumindest keine Anerkennung des Unrechts und der Bestrafung der Täter erfährt. Solange sie also keine Wiedergutmachung erfährt, kann sich auch Frau Sivac selbst nicht vom Opferstatus lösen. Zugleich wird sie aber von der Gesellschaft auf den Opferstatus festgeschrieben. Ironie des Schicksals ist, dass die Gesellschaft behauptet, es habe gar nichts Schlimmes stattgefunden. Damit gab es keine Opfer, was ein Festschreiben auf einen Opferstatus unmöglich machen würde.
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5.2 F ALL ANALYSE : D IE Z EUGIN UND ›A NWÄLTIN ‹ DER O PFER »Denn das Böse ist ein Mysterium, […] das Böse ist nichts Greifbares, das man besonnen und vernünftig erörtern könnte, das Böse ist ein metaphysischer Stoff, virtuelle Krebszellen, in jedem von uns ausgestreut.« (Ć osi ć 2007: 53)
In nachfolgendem Kapitel steht die Analyse und Rekonstruktion des Interviewmaterials von Frau Sivac im Mittelpunkt. Mit dem bereits vorgestellten Verfahren, das sich an die Grounded Theory und an die Sequenzanalyse anlehnt (vgl. dazu Kapitel 2.2.4), soll die Bedeutung dessen rekonstruiert werden, was Frau Sivac im Krieg widerfahren ist und welche Auswirkungen diese Erlebnisse auf ihre heutige Situation und ihren Umgang mit dem Vergangenen haben. In einem zweiten Teil des Kapitels werden Frau Sivac’ soziale Netzwerke analysiert. Es interessiert dabei, auf welche soziale Unterstützung sie zurückgreifen kann und welche Auswirkungen diese Beziehungen auf ihr soziales Kapital und ihre soziale Einbettung haben.
5.2.1 Der Kampf gegen das Vergessen Eine erste analytische Überraschung zeigt sich bereits beim Abhören der Interview-Bänder: Je nach Thema und erfragter Lebensphase sprach Frau Sivac in stark unterschiedlicher Art und Weise. Die Kriegserlebnisse und die eher persönlichen Erfahrungen schilderte sie mit einer sehr leisen, bedrückten Stimme und ließ dabei Details weitgehend vermissen. Sie sprach staccato, sehr schnell und zündete sich unzählige Zigaretten an. Das Zittern ihrer Hände und die kurzen Phasen konzentrierten Sprechens hatten bereits während des Interviews erkennen lassen, dass sie das Sprechen über die Vergangenheit aufwühlte. Beim Abhören der Bänder verstärkte sich dieser Eindruck. Sprach sie hingegen von der Gegenwart, nahm sie für die Schilderung der Aktivitäten eine energische Sprechweise an und illustrierte Erzähltes mit detaillierten Beispielen. Diese zwei unterschiedlichen Arten des Berichtens verweisen auf zwei gegensätzliche Seiten, welche Frau Sivac in sich vereinigt: Einerseits spricht die 54-Jährige stark traumatisierte Frau, die von der lokal ansässigen Mehrheitsbevölkerung (den Domicilna) als Opfer und Bosniakin ausgegrenzt wird. Andererseits spricht die Juristin und Richterin aus ihr, die unnachgiebig für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen kämpft. Bevor auf ihre Rolle für die Versöhnung und ihre Strategien für den Umgang mit der Vergangenheit vertieft eingegangen wird, sei nachfolgend Frau Sivac’ Herkunft und die Festigung ihres Lebensentwurfes vor dem Krieg analysiert.
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Die Zugehörigkeit zur lokalen Intelligenzija Frau Sivac stammt aus einem bildungsbürgerlichen Milieu. Bereits ihre Mutter verfügte über einen für die damalige Zeit hohen Bildungsabschluss. Dies ist aufschlussreich, war es doch im ländlichen Bosnien vor der sozialistischen Zeit nicht üblich, Mädchen und junge Frauen überhaupt zur Schule zu schicken (vgl. Kapitel 3.2 und Denich 1976: 13). Die Wichtigkeit der Bildung wurde also Frau Sivac in die Wiege gelegt, und so erstaunt nicht, dass das Vorbild der Eltern ihre Sozialisation und ihren Habitus nachhaltig prägte. Der spezifische Familienhintergrund und ihr Habitus mündeten in der Profession der Juristin, einem Beruf, der eine starke innere Haltung, Tüchtigkeit, ein Verständnis für Ethik sowie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verlangt. Die Analyse des Interviewmaterials lässt denn auch eine Frau zutage treten, die sehr gebildet, feinsinnig und geistig diszipliniert, aber auch hartnäckig ist und über ein reflektiertes Urteilsvermögen verfügt. Sie ist fortwährend um Gerechtigkeit bemüht. Das Aufwachsen in familiärem, aber auch gesellschaftlichem Wohlstand und Sicherheit ermöglichte es ihr, ihren Lebensentwurf bewusst zu festigen, und trug dazu bei, dass dieser in einer stark beruflich ausgerichteten Identifikation münden konnte. Nach Abschluss ihrer Ausbildung wurde sie als Richterin am Prijedorer Gericht Mitglied der lokalen Intelligenzija, welche unter dem wirtschaftlichen Zerfall Jugoslawiens wohl nicht direkt zu leiden hatte. Das mag Frau Sivac’ rückblickende, eher nostalgisch eingefärbte Sicht der guten Vorkriegszeit erklären. Auch die Konsolidierung des sozialistischen Systems, der ausgeprägte Säkularismus zu sozialistischen Zeiten und das gesellschaftliche bewusste Nichtbetonen des Religiösen treten aus dem Fall Sivac deutlich hervor. Sie wuchs in einer Gesellschaftsschicht auf, welche geradezu Träger des sozialistischen Patriotismus war. Nationalistisch-separatistisches Gedankengut und ethno-nationale Vorurteile waren ihr fremd, weshalb das Credo der titoistischen Nationalitätenpolitik – die Jugoslovenski Identitet (vgl. Kapitel 3.2.1, Godina 1998: 416) – zu einem der zentralen Narrative ihrer Falldarlegung wird. Im alltäglichen Vorkriegsleben wurden die ethnoreligiösen Grenzen nicht gelebt, oder die Ethnizität wurde zumindest nicht als Kriterium für Ein- und Ausschluss beigezogen, wie es Frau Sivac später erleben sollte. Bestimmend war die supranationale Zugehörigkeit, und die Vergemeinschaftung in der Vorkriegszeit beruhte explizit nicht auf ethnischen und religiösen Eigenschaften, sondern bediente sich anderer Strukturmerkmale. Dazu zählten in Bezug auf Frau Sivac’ Situation eher die soziale Herkunft, die soziale Stellung, welche beispielsweise durch die Berufsgruppenzugehörigkeit bestimmt wurde, und damit einhergehend auch sozioökonomische Merkmale. Es war also eine stark jugoslawisch geprägte Kombination von Attributen, oder eine multiple, intersektionale Zusammengehörigkeitsmatrix aus Berufsgruppe, Geschlecht, Herkunft und supranationaler Identität, welche für die Selbst- und Fremdidentifikation bestimmend waren.
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Aufgrund des eben Ausgeführten lässt sich erahnen, welche Katastrophe der Ausbruch des bosnischen Krieges im Jahre 1992 für Frau Sivac und andere Vertreterinnen und Vertreter ihrer Generation dargestellt haben muss. Der während der jugoslawischen Zeit gefestigte Lebensentwurf wurde aufs Brutalste zerschlagen. Doch wie sich in der Analyse der Nachkriegszeit zeigt, ist es Frau Sivac gelungen, für diesen auf Gewalt, Unsicherheit und Vertrauensverlust basierenden Bruch eine konstruktive Bewältigungsform zu finden. Indem sie in Dokumentarfilmen mitwirkt, unzählige Interviews gibt, ihre Erfahrungen selbst zu Papier bringt und den Ort des Schreckens immer wieder aufsucht, gibt Frau Sivac dem Ausmaß der Gewalt, mit dem niemand rechnen konnte, eine aussprechbare Form. Frau Sivac tritt heute öffentlich als Opfer auf, doch sie hat die Opferrolle in einer Weise umgedeutet, die ihrem angestammten Habitus und Beruf entspricht: Sie legt Zeugnis ab, wirkt dadurch an der Aufklärung der Verbrechen und der Verfolgung der Täter mit und tut dies auch stellvertretend für andere Opfer. Bezeugen und Fürsprache werden ihr zu Lebensinhalt und Berufung – so, wie es in der Vorkriegszeit als Richterin das Bemühen um Recht, Prävention und Wiedergutmachung war. Denn es geht ihr bei ihrem Engagement für die Aufklärung der Kriegsereignisse in erster Linie auch darum, die Grundlage für ein gesundes künftiges Zusammenleben zu schaffen.
In der Nachkriegszeit: Mit dem Herzen zum Frieden Der Falldarlegung für die Nachkriegszeit liegt manifest die Problematik der Opfer-Täter-Relationen zugrunde. Anhand der Ausführungen von Frau Sivac lässt sich aufzeigen, dass die beiden Seiten in Prijedor nicht zu einer Synthese zu bringen sind: Die eine Seite – die von Frau Sivac vertretene – will die OpferTäter-Relationen bedingungslos ausleuchten, während die andere sich dieser Diskussion entzieht. Aus Frau Sivac’ Perspektive zeigt sich bei den Anderen ein Schleier der Generalisierung, der die gegenseitige Annäherung behindert. Die jüngste Vergangenheit und der Umgang damit trennen also die beiden Gruppen. Sozial und geografisch, so zeigt sich in Frau Sivac’ Falldarlegung, sind Opfer und Täter in dieser Region allerdings auffallend stark miteinander verbunden. Dies ist ein Charakteristikum des Bosnienkrieges und seiner Folgen für den Aufbau der zerrissenen Gesellschaft: Wie in Kapitel 3.5 dargelegt, ereigneten sich während des Krieges viele Gewalttaten in großer gemeinschaftlicher Nähe, also zwischen Menschen, die sich kannten, in manchen Fällen seit vielen Jahren. Mit dieser »kommunalen Gewalt« (Scheper-Hughes und Bourgois 2004: 12) wurden die soziale Verwobenheit zerstört und zwischen den Menschen großes Misstrauen gesät. Beispielhaft ist die Erfahrung von Frau Sivac mit ihrer ehemals besten Freundin S. Milojević, worin sich ein direkter und äußerst schmerzhafter Vertrauensbruch offenbart. Die Zerstörung der persönlichen Habe durch Frau Milojević ist ein gezielter Angriff auf Frau Sivac’ Persönlichkeit und Zeichen der Missachtung. Das Vernichten der dokumentierten
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Erinnerungen zielt auf die Zerstörung der Identität und setzt den kriegerischen Akt der ethnischen Säuberungen fort, der auf die Vernichtung der anderen Gruppe zielte. Dass dieser Akt von der ehemals besten Freundin weitergeführt wird, unterstreicht die Tiefe der Gräben zwischen den Menschen in Prijedor und die Stärke der kollektiven Gruppenidentitäten, die sich über die persönlichen Beziehungen legen. Diese Opfer-Täter-Relationen lassen sich in keiner Weise neutralisieren und stellen die lokale Gesellschaft vor Probleme, die gelöst werden müssen, damit sie als Gemeinschaft »in eine gesunde Zukunft gehen« kann. Frau Sivac setzt sich deshalb für eine Kooperation ein. Sie verlangt, dass sich alle involvierten Parteien bereit erklären, das anzuerkennen, was in der jüngst vergangenen Zeit geschah. Sie fordert eine bedingungslose Ausleuchtung und Aufarbeitung der Ereignisse und eine Beteiligung aller vor Ort an diesem Prozess. Denn in ihren Augen gibt es auch eine »moralische Schuld«, die Verantwortung jener, die tatenlos zu- oder wegsahen. Frau Sivac kämpft trotz Stigmatisierung und Bedrohungen öffentlich für die Anerkennung der erlittenen Kriegsgräuel und dafür, dass aus den namenlosen Toten wieder Personen – Väter, Söhne, Ehemänner, Brüder –werden, um die man trauern kann. Durch ihr Engagement wird sie zur Anwältin der Opfer. Damit könnte man ihr allerdings eine gewisse Parteilichkeit vorwerfen. Doch ihre Haltung entkräftet diesen Vorwurf, denn Frau Sivac anerkennt, dass an anderen Orten in Bosnien-Herzegowina die Anderen, namentlich die Serben, Opfer des Krieges wurden, und fordert für diese Opfer die gleiche präzise Aufarbeitung der Ereignisse sowie die Verurteilung der dort involvierten Täter. Es geht ihr um Aufklärung und Bestrafung der Verbrechen, nicht um die ethnische Zugehörigkeit der Opfer und der Täter. Damit überwindet Frau Sivac die ethnischen Zuschreibungen zwischen den betroffenen Menschen, die für den Kriegsausbruch und seinen Verlauf von so zentraler Bedeutung waren. Die Täter müssen verurteilt werden, damit die Opfer ihre Erlebnisse verarbeiten können, egal, welcher Ethnie die Betroffenen angehören oder an welchem Ort sie den Krieg erlebt haben. In Frau Sivac’ sachbezogener Haltung und ihrem Einsatz widerspiegelt sich auch die berufliche Prägung ihres Habitus. Als Richterin hatte sie sich vor dem Krieg ohne Ansehen der Person um das Ausleuchten von Sachverhalten, das Anerkennen von Verantwortung, um Recht, Wiedergutmachung und Prävention zu bemühen, und so setzt sie sich auch heute für die Aufklärung und Aufarbeitung der Kriegsverbrechen ein und dafür, Gleiches in Zukunft zu vermeiden. Diese Haltung erweist sich nicht nur auf persönlicher Ebene als konstruktiv. Sie wäre auch auf gesellschaftlicher Ebene unverzichtbar für den Dialog zwischen den beiden Seiten und den Umgang mit der Vergangenheit. Dass nun gerade Frau Sivac keine Anstellung in der Gemeinde (bei Gericht oder in anderen Institutionen) findet, um die Aufarbeitung der Kriegsereignisse
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in offizieller Position und gesamtgesellschaftlichem Auftrag voranzutreiben, ist aufgrund des vor Ort geführten und offiziellen Diskurses zwar sinnlogisch, aber für sie persönlich schwer zu akzeptieren. Ihr Engagement verhindert es allerdings nicht. Statt als Richterin setzt sie sich als Zeugin vor dem Internationalen Gerichtshof und als Vertreterin einer Nichtregierungsorganisation entschieden für die Sache ein. An Frau Sivac’ offensivem, öffentlichem und sachbezogenem Umgang mit der Vergangenheit zeigt sich, dass es wichtig ist, Zeugnis über die Taten und Erfahrungen abzulegen (Das 1990: 392). Denn eine Überlebende wie Frau Sivac steht nicht nur vor der Herausforderung, Muster der Trauer und der Verarbeitung zu kreieren, um den Verlust ihrer einstigen Welt zu bewältigen. Sie steht auch vor der Herausforderung, Muster zu entwickeln, mit denen sie eine ›neue‹ Welt herstellen und dem neuen Zustand Sinn verleihen kann. Frau Sivac’ Strategie lässt sie als einen derjenigen Menschen erscheinen, die Herman (1993: 87) als überdurchschnittlich widerstandsfähig bezeichnet: Menschen, die in Stresssituationen jede Gelegenheit ergreifen, mit Anderen gemeinsam sinnvoll zu handeln. Dies im Gegensatz zu jenen Menschen, die durch traumatische Ereignisse gelähmt oder durch ihre Angst isoliert werden. Anhand der anschließenden Analyse der sozialen Netzwerke wird Frau Sivac’ besondere Stellung im örtlichen sozialen Geflecht weiter differenziert.
5.2.2 Vor- und Nachkriegsnetzwerke im Vergleich: Gescheiterte Reintegration Die Gestalt der Unterstützungsnetzwerke lässt Rückschlüsse auf das soziale Kapital zu, welches bestimmte Handlungsmuster begünstigt, andere wiederum ausschließt. Folgende Schwerpunkte sollen helfen, die Gestalt der Netzwerke von Frau Sivac zu beschreiben: a) die Größe und Dichte der Netzwerke, b) die Kohäsion, die mit Zusammengehörigkeit zu umschreiben ist (Schweizer 1996: 177), c) die Rollen der Bezugspersonen, also ob beispielsweise die Familienangehörigen wichtige Ressourcen sozialer Unterstützung sind oder ob diese Unterstützung eher Freunde und Bekannte übernehmen, d) die Homophilietendenzen und e) die Bedeutung transnationaler Beziehungen. Mit den folgenden Ausführungen soll aufgezeigt werden, welche Struktur das Unterstützungsnetzwerk der Rückkehrerin Frau Sivac annehmen kann, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wird.
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Abbildung 7: Vorkriegsnetzwerk Frau Sivac
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Abbildung 8: Nachkriegsnetzwerk Frau Sivac
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Die Gestalt beider Netzwerke Durch den Krieg verlor Frau Sivac nicht nur ihre Arbeitsstelle, sondern auch die Arbeitskollegen, die zu ihrem Netzwerk gehörten: Keiner der drei Männer überlebte die Internierung in ›Omarska‹. Neben anderen Freundschaften zerbrach die Beziehung zu ihrer langjährigen Busenfreundin Svetlana Milojević, die sich, wie bereits ausführlich dargelegt, mit Kriegsausbruch zur ärgsten Feindin mauserte. Angesichts des Verlustes der besagten Bezugspersonen und ihrer Arbeitsstelle zeigt sich also mit dem Krieg ein deutlicher Bruch. In der Gestalt und Kohäsion allerdings bleiben sich die beiden Netzwerke sehr ähnlich: Frau Sivac unterhält sowohl vor als auch nach dem Krieg im Vergleich zu den anderen Befragten ein kleines Netzwerk. Für das Vorkriegsnetzwerk nennt Frau Sivac zehn Bezugspersonen (durchschnittliche Netzwerkgröße für die Vorkriegszeit: 14 Personen), in der Nachkriegszeit nennt sie noch acht Bezugspersonen (durchschnittliche Größe der Nachkriegsnetzwerke: 13 Personen). Beide Netzwerke bestehen vor allem aus starken16, multiplexen17 und verwandtschaftlichen sowie freundschaftlichen Beziehungen. Diese Beziehungen verweisen auf ein inkludierendes, in sich geschlossenes Netzwerk mit hoher Dichte. Die Berechnungen bestätigen diese Annahme: Vor dem Krieg weist ihr Netzwerk eine Dichte von 0,81 auf (bei einem Höchstwert von 1), nach dem Krieg eine Dichte von 0,80. Die Bezugspersonen von Frau Sivac sind also praktisch alle miteinander bekannt und agieren auch miteinander. Die ethnische Struktur bleibt sich vor und nach dem Krieg ungefähr gleich: Bereits Frau Sivac’ Vorkriegsnetzwerk besteht überwiegend aus Beziehungen zu anderen Musliminnen und Muslimen. Zwei Freundinnen bilden die Ausnahmen: die in der Lebensgeschichte bereits erwähnte Svetlana Milojević und Frau D. Nach dem Krieg unterhält Frau Sivac aus bereits angeführten Gründen nur noch mit der Serbin Frau D. eine für die Netzwerkerhebung erwähnenswerte Beziehung. Alle anderen Bezugspersonen im Nachkriegsnetzwerk weisen dieselbe ethnoreligiöse Zugehörigkeit auf wie Frau Sivac, weshalb von einem ethnisch homogenen Netzwerk gesprochen werden kann. Im Gegensatz zum Merkmal Ethnie präsentiert sich das Netzwerk mit Blick auf das Alter als nicht homophil. Frau Sivac unterhält besonders vor dem Krieg 16 | Zur Erinnerung: Starke Beziehungen (strong ties) schaffen Solidarität und Vertrauen und sind Grundlage für sozialen Einfluss. Die Zahl der starken Beziehungen, die ein Akteur unterhalten kann, ist begrenzt, weil strong ties viel Zeit und Aufmerksamkeit verlangen. Mehrere strong ties führen oft zu einer Gruppe untereinander eng vernetzter Akteure, was wiederum zu sozialer Schließung führen kann. 17 | Wie in Kapitel 2.1 bereits ausgeführt, steht die Mulitplexität für Beziehungen, die in mehrere unterschiedliche Unterstützungsbereiche reichen. Je höher der Multiplexitätswert einer Beziehung, desto wichtiger ist gemäß Netzwerktheorie die Bezugsperson für die soziale Unterstützung, da sie verschiedene Funktionen abdeckt.
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für sie wichtige Beziehungen zu deutlich älteren Personen. Nach dem Krieg reichen die Jahrgänge der Bezugspersonen von 1939 bis 1962 – auch hier zeigt sich deshalb für das Merkmal Alter keine Homophilie.
Vor dem Krieg: Vorteilhafte berufsbedingte Kohäsion Das Besondere an Frau Sivac’ Netzwerk der Vorkriegszeit ist die starke Berufsbezogenheit: Alle befreundeten Bezugspersonen arbeiteten am gleichen Ort wie Frau Sivac oder waren zumindest in verwandten Berufen tätig. Die Gestalt dieser Art Netzwerk unterstreicht die Homophilietheorie nach Schnegg und Lang (2002: 39f.): »[Homophilie] liegt dann vor, wenn eine überzufällige Ähnlichkeit in Merkmalen und Einstellungen der Personen zu beobachten ist, die durch eine bestimmte Art von sozialer Beziehung verbunden sind« (vgl. dazu Kapitel 2.1). Besteht ein Netzwerk aus wenigen und mehrheitlich starken, multiplexen und dauerhaften Beziehungen, so kann dies laut Netzwerktheorie in einem inkludierenden, undurchlässigen Netzwerk resultieren, da die starken Beziehungen aufgrund von Mechanismen kognitiver Balance zu sozialer Schließung tendieren (vgl. Kapitel 2.1.4). Die starken Beziehungen verfügen aber auch über positive Komponenten: Sie schaffen Vertrauen und Solidarität innerhalb der Gruppe. Bei Frau Sivac lässt sich deutlich erkennen, dass ihr Vorkriegsnetzwerk in sich geschlossen war, denn sie verfügte lediglich im beruflichen Feld über mögliche Außen- respektive Brückenbeziehungen18. Innerhalb dieses Netzwerks waren alle Personen untereinander bekannt (gekennzeichnet durch die vielen gepunkteten Linien) und interagierten auch regelmäßig miteinander (was sich auch am hohen Wert der Dichte zeigt). Aus dieser Abgeschlossenheit erwuchs Frau Sivac zu jener Zeit aber kein Nachteil, die Netzstruktur führte weder zu mangelnder Integration noch zu Ausgrenzung. Der Grund dafür lässt sich in der Zusammensetzung des Netzwerks sehen: Frau Sivac verfügte über verwandtschaftliche und freundschaftliche, aber vor allem über die ›richtigen‹ berufsbedingten Beziehungen. Intensität und Länge der Beziehungen deuten auf eine positive soziale Einbettung im Vorkriegsnetzwerk. Laut ihren ergänzenden Aussagen während der Netzwerkerhebung hatte dieses enge soziale Beziehungsnetz Solidarität und Vertrauen unter den Verbundenen zur Folge.
Nach dem Krieg: Unvorteilhafte opfer- und kriegsbedingte Kohäsion Der Umstand weniger sozialer Beziehungen wirkt sich ganz anders auf Frau Sivac’ Nachkriegssituation aus. Das kleine Netzwerk mit vorwiegend multiplexen Beziehungen verdeutlicht Frau Sivac’ prekäre, in erster Linie finanzielle 18 | Hierbei ist zu bedenken, dass sich sporadische oder schwache Kontakte mit der Methode der ego-zentrierten Netzwerkanalyse nur schwer abfragen lassen.
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und berufliche Situation, wie sie bereits in der Falldarlegung aufschien. Ihre Bezugspersonen bringen einen geringen Umfang an persönlichen Ressourcen mit: Sie sind selbst arbeitslos und, wie sich in den Gesprächen gezeigt hat, von der Mehrheitsgesellschaft aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit ausgegrenzt. Man darf daher vermuten, dass sie die Interviewpartnerin bei der Suche nach einer Arbeitsstelle kaum unterstützen können. Die Auswertung der Netzwerkdaten fördert weitere Faktoren zutage, die diese Annahme belegen. Einerseits zeigt sich, dass Frau Sivac vor allem Vergemeinschaftung mit Gleichgesinnten sucht, mit Menschen, die während der Kriegszeit Ähnliches erlebt haben wie sie und sich heute für die Aufklärung der Kriegsereignisse einsetzen. In dieser Hinsicht zeigt sich ein Unterschied zu Dahindens Aussage (2005: 268), die eine erschwerte Wiedereingliederung auf die verwandtschaftlichen, starken, multiplexen und demnach dauerhaften Beziehungen zurückführt. Frau Sivac’ erschwerte Wiedereingliederung geht nicht auf einen zu hohen Anteil verwandtschaftlicher Beziehungen zurück, vielmehr zieht sie ihr soziales Kapital aus einem kleinen Netzwerk, das zwar aus multiplexen, jedoch mehrheitlich freundschaftlichen Beziehungen mit hohem Überlappungsgrad besteht. Die Bezugspersonen kennen sich untereinander und interagieren – mit Ausnahme des Bruders und Frau D. – alle intensiv miteinander. Das geteilte Engagement für das Auffinden der Verschwundenen und für die bedingungslose Anerkennung der Kriegsleiden verbindet Frau Sivac mit ihren Leidensgenossen. Dieser Umstand verweist auf eine mögliche Homophilietendenz: Auf der Basis eines geteilten Schicksals verbinden sich die Kriegsopfer und die Angehörigen in einer Gemeinschaft, die selbst einschließend funktioniert. In diesem Kontext erweist sich ein weiterer Aspekt für die Beschreibung von Frau Sivac’ Nachkriegsnetzwerk als bedeutend (vgl. dazu auch Dahinden 2005: 263). Es handelt sich um die Akzeptanz und die Haltung der Domicilna gegenüber den Rückkehrerinnen und Rückkehrern und vice versa. Diese Akzeptanz erweist sich als ein zentraler Faktor für den Zugang zu einem sekundären Feld und damit beispielsweise zu wichtigen Informationen über potentielle Arbeitsstellen. An Frau Sivac’ Fall sieht man deutlich, wie gerade die fehlende Akzeptanz die Reintegration in das angestammte Berufsfeld behindert. Frau Sivac’ im Vorkriegsnetzwerk ersichtliche Tendenz, berufsbezogenen Beziehungen einen zentralen Stellenwert einzuräumen, zeigt sich auch im Nachkriegsnetzwerk. Hier können sich die Beziehungen allerdings nicht mehr aus der Tätigkeit als Richterin und auch nicht im Rahmen einer anderen bezahlten Arbeit ergeben, denn eine Anstellung hat Frau Sivac nicht gefunden. Stattdessen resultieren sie nun aus dem ehrenamtlichen Engagement als Juristin in einer Hilfsorganisation. Auch in den Netzwerken zeigt sich also Frau Sivac’ Habitus, der, wie bereits in der biografischen Analyse dargelegt, auf einer stark berufsbezogenen Identifikation gründet und sie auch in ihrem Nachkriegsengagement antreibt.
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Vergeschlechtlichte emotionale Unterstützung In beiden Netzwerken zeigt sich, dass sich Frau Sivac in emotionalen Angelegenheiten mehrheitlich an Personen des eigenen Geschlechts wendet. Diese Tendenz ist so ausgeprägt, dass man von einer geschlechtlichen Homophilie ausgehen kann. Für die Zeit vor dem Krieg verweisen die multiplexen Beziehungen zur Mutter, den beiden Cousinen und zur besten Freundin Svetlana Milojević darauf, dass besonders diese Frauen Frau Sivac bedeutende Modalitäten sozialer Unterstützung zur Verfügung stellten. Dazu zählen die emotionale Unterstützung und die Besuchs- und Freizeitaktivitäten. Aber auch bei den uniplexen Beziehungen sind die Frauen in der Überzahl. Mit nur einem Arbeitskollegen unterhält Frau Sivac nebst der beruflichen Beziehung auch einen freundschaftlichen Kontakt, der mit gegenseitigen Besuchen vertieft wird. Frau Sivac pflegt vor allem Beziehungen zu Frauen, die ihr in emotionalen Belangen zur Seite stehen. Sie betont besonders ihre beiden Cousinen, mit welchen sie sich eng verbunden fühlt: »Es gibt nichts, was ich ihnen nicht anvertrauen würde!« Ihre Cousine N., die Tetišnja19, fällt in beiden Netzwerken auf. Mit der Soziologin unterhielt Frau Sivac bereits vor dem Krieg intensiven Kontakt. Es ist auch diese Cousine, mit welcher sie im Jahre 1992 von Prijedor nach Zagreb floh. Dort trennten sich die Wege der beiden Frauen, da Frau N. nach Schweden migrieren konnte. Sie kehrte zwei Jahre nach Kriegsende nach Bosnien-Herzegowina zurück, ließ sich aber in Sarajevo nieder. Der neue Wohnort der Cousine lässt die ehemals täglichen Kaffeebesuche heute aufgrund der geografischen Distanz nicht mehr zu. Die beiden Frauen halten aber die enge Beziehung durch täglichen Telefonkontakt und regelmäßige Besuche aufrecht. Die als S. bezeichnete Ehefrau von Frau Sivac’ Cousins mütterlicherseits, genannt Snaha20, lebt seit dem Krieg als Kriegswitwe in Schweden. Sie hat sowohl ihren Ehemann, also Frau Sivac’ Cousin (Tetić), als auch ihren Sohn im Lager ›Omarska‹ verloren. Zweimal im Jahr sehen sich die beiden Verwandten, wenn S. nach Prijedor zu Besuch kommt. Für Frau Sivac’ momentane Situation ist es sehr wichtig, dass die Snaha S. sie finanziell unterstützen kann. Die Geschlechterhomophilie zeigt sich auch an Frau Sivac’ Ausführungen zu ihrem Ehemann und Bruder. Die Beziehung zum Ehemann ist eindimensional und uniplex ausgestaltet. Frau Sivac nennt ihn nur auf die Frage nach Freizeit- und Besuchsaktivitäten, er war für sie also weder für die emotionale noch die instrumentelle oder die finanzielle Unterstützung wichtig gewesen. Dies spitzt ihre Bemerkung (»Er ist der größte Fehler meines Lebens«) noch 19 | Es handelt sich hierbei um die Cousine mütterlicherseits: bos./hrv./srp. Nero đ ena sestra, oder Tetišnja. 20 | Ehefrau des Cousins mütterlicherseits: bos./hrv./srp. Snaha, oder Žena od Nerođena brata, Žena od mog Tetica.
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zu. Ihren älteren Bruder erwähnt Frau Sivac bei der Abfrage des Vorkriegsnetzwerks interessanterweise gar nicht. Zur Erinnerung: Im biografischen Interview hat sie ihn als sehr wichtige Person präsentiert. Darin zeigt sich nun die bereits in Kapitel 2.3 beschriebene Besonderheit der vorgenommenen Methodenkombination: Die beiden Methoden generieren unterschiedliche Arten der Erzählung. Einmal geht es um Namen und Fakten, das andere Mal um Erlebnisse und Geschichten.
Finanzielle Unterstützung Als Richterin befand sich Frau Sivac vor dem Krieg in einer finanziell privilegierten Situation und war auf keine Unterstützung angewiesen. Ihre finanzielle Eigenständigkeit verlor sie allerdings mit dem Kriegsausbruch, als sie ihr gesamtes Vermögen verlor. Ihre Situation in der Nachkriegszeit präsentiert sich diametral verschieden. Erwerbslos und ohne familiäres und verwandtschaftliches Netzwerk vor Ort, ist sie auf externe Unterstützung angewiesen. Es erstaunt nicht, dass sie diese finanzielle Unterstützung von zwei Verwandten erhält, mit denen sie bereits vor dem Krieg enge Kontakte unterhielt. Bei diesen Verwandten handelt es sich um die oben erwähnte Snaha S. sowie den älteren Bruder, die beide im Ausland leben. Diese zwei familiären und transnationalen Beziehungen sind für Frau Sivac überlebenswichtig.
Instrumentelle Unterstützung und strukturelle Lücken Bereits im biografischen Interview machte Frau Sivac deutlich, wie eng und emotional die Beziehung zu ihrer Mutter war. Das äußert sich in der Multiplexität der Beziehung, die qualitativ mehrere, sich überlappende Ebenen umfasst. Mit ihrer Mutter besprach Frau Sivac vor dem Krieg zentrale familiäre Angelegenheiten und wandte sich an sie, wenn es um intensiven emotionalen Austausch ging. Neben dieser affektiven Beziehungskomponente übernahm die Mutter auch die Rolle einer instrumentellen Unterstützerin. Diese Beziehung lässt sich auf den gemeinsam geführten Haushalt zurückführen, wurde im Netzwerkinterview doch nach Unterstützung im Haushalt und bei der Vorbereitung religiöser Anlässe gefragt. Auf die Frage nach instrumenteller Unterstützung in beruflichen Angelegenheiten – also dem Beistand bei beruflichen Entscheiden und Problemen – nennt Frau Sivac für die Zeit vor dem Krieg die erwähnten drei Arbeitskollegen. Wie bereits bekannt, unterhielt sie mit einem dieser Kollegen auch eine freundschaftliche Beziehung. Im sozialen Nachkriegsbeziehungsnetz verfügt Frau Sivac über zwei nach dem Krieg geknüpfte Beziehungen instrumenteller Art. Es sind die Verbindungen zu Frau A. und Herrn M. Beide stehen als politisch Engagierte in der Öffentlichkeit und verfügen daher vermutlich über ein großes Netzwerk und soziales Kapital. Sie sind also aufgrund ihrer Position geeignet, um strukturelle
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Lücken in Frau Sivac’ Netz zu überbrücken und sie bei der Stellensuche zu unterstützen. Bis zum Zeitpunkt des Interviews blieb diese Unterstützung aber ohne Erfolg. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Frau Sivac’ Netzwerk soziales Kapital vorhanden ist, dieses allerdings auf die Gemeinschaft der Rückkehrerinnen beschränkt bleibt und deshalb die Integration in die gesamte Gesellschaft nicht fördert.
5.3 F ALLKONKLUSION Am Beispiel von Frau Sivac’ Nachkriegsnetzwerk zeigt sich die erschwerte Wiedereingliederung der Opfer in die Gesamtgesellschaft. Unterstützungsbeziehungen bestehen fast ausschließlich zu Angehörigen der eigenen Ethnie, wichtige Beziehungen zum sekundären sozialen Umfeld, die über die ethnisch segregierte Gemeinschaft hinausreichen, fehlen ganz. Gerade solche sekundären sozialen Beziehungen zu Angehörigen anderer ethnischer Gruppen, die sich am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft herausbilden, wären ein zentraler Faktor für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesamtgesellschaft. Wie sich in der Falldarlegung zeigt, handelt es sich hier nicht um einen freiwilligen Rückzug in die eigene ethnische Gruppe. Er ist Ausdruck der Spaltung der Prijedorer Nachkriegsgesellschaft, einer Spaltung nicht durch den vergangenen Krieg allein, sondern auch durch den heutigen Umgang mit dieser Vergangenheit: Die eine Gruppe, und mit ihr Frau Sivac, verlangt die rückhaltlose Aufklärung der Kriegsereignisse und sieht darin die Bedingung für eine gemeinsame Zukunft. Die andere, in Prijedor die Mehrheitsgesellschaft, verweigert sich einer solchen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und empfindet sich selbst als Opfer. Dies wiederum ist ihr nur möglich, weil keine Täter benannt werden. Die gesamtgesellschaftliche Viktimisierung verhindert die Überwindung des Täter-Opfer-Dilemmas und die Anerkennung des Unrechts. Sie lässt eine konstruktive gemeinsame Auseinandersetzung mit der kriegerischen Vergangenheit nicht zu und steht damit auch der gesamtgesellschaftlichen Integration entgegen. Frau Sivac’ Habitus und Ausbildung machen sie zur geeigneten Person, die Täter-Opfer-Relationen anzugehen. Dass sie dies nicht in ihrem Beruf und damit in gesamtgesellschaftlichem Auftrag tun kann, hat nicht nur für sie und ihre Integration schwere Folgen, sondern auch für jene der Prijedorer Gesellschaft. Denn durch die Marginalisierung solcher geeigneter Personen verbaut sich die Mehrheitsgesellschaft einen Schritt in Richtung Versöhnung. Aufgrund ihrer Situation – geschieden, keine familiären Beziehungen mehr vor Ort, Verlust vieler Freunde, in Opposition zur Haltung der Mehrheitsgesellschaft – wäre Frau Sivac prädestiniert, in eine soziale Isolation zu entgleiten.
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Dass dies nicht geschieht, ist ihrer guten Vernetzung in der Gemeinschaft der Rückehrerinnen und Rückkehrer zuzuschreiben. Diese wiederum lässt sich als Folge ihres Habitus sehen: Er äußert sich nicht nur in einer sachlichen Sichtweise, in der Tat und Umstände ausschlaggebend sind statt der ethnischen Zugehörigkeit, sondern ermöglicht es ihr auch, ihre Opferrolle umzudeuten in jene der Zeugin und Anwältin. In dieser Rolle engagiert sie sich für die Aufklärung der Kriegsverbrechen und die Hinterbliebenen der Opfer. Das Engagement führt zur oben erwähnten Vernetzung, und es prägt wie früher der Beruf als Richterin auch ihr privates Leben und Netzwerk. Sie ist nach wie vor passionierte Berufsfrau. Aufgrund dessen hat sich der Krieg zwar auf Frau Sivac’ Status und Integration in die Gesamtgesellschaft, auf ihre berufliche und wirtschaftliche Situation und auf die personale Zusammensetzung ihres Unterstützungsnetzwerks ausgewirkt. Drei zentrale Merkmale aus der Vorkriegszeit sind aber erhalten geblieben: Die Neigung, sich voll und ganz zu engagieren, der Gegenstand dieses Engagements – Recht und Unrecht – und die Ausdehnung der aus diesem Engagement entstehenden Beziehungen ins Privatleben. In der nächsten Falldarlegung wird die Lebensgeschichte von Frau Begović präsentiert. Als Kriegswitwe und alleinerziehende Mutter ist sie mit den Problemen konfrontiert, für deren Lösung sich Frau Sivac engagiert. Frau Begović hat zum Zeitpunkt des Interviews noch immer keine Hinweise über den Verbleib ihres Ehemannes. Sie vermisst auch die Anerkennung ihrer Kriegserlebnisse durch die ehemaligen Freundinnen, Freunde und Bekannten. Es sind diese beiden Punkte, unter denen Frau Begović besonders leidet und die ihrer Meinung nach ein Hindernis für den Versöhnungsprozess darstellen. Deshalb, aber besonders auch aufgrund spezifischer Erlebnisse mit ehemaligen Freunden und Freundinnen ist ihr Vertrauen in die ehemaligen Beziehungen seit dem Krieg zerstört: »Es wird nie mehr diese Freundschaften geben, nie mehr!«
6. »Es wird nie mehr diese Freundschaften geben, nie mehr, nie!« Die Marktfrau Ena Begović
Die 51-jährige Ena Begović lebt zum Zeitpunkt des Interviews in einer Siedlung für Internvertriebene in Sanski Most, 30 km von ihrem Herkunftsort Ljubija bei Prijedor entfernt. Sie wurde im Sommer 1992 aus ihrem Haus vertrieben. Damals sah sie ihren Ehemann zum letzten Mal – bis heute haben sich keine Spuren von ihm finden lassen. Frau Begović selbst verlor bei ihrer Flucht ihr ganzes Hab und Gut, konnte sich aber mit ihren Kindern nach Österreich in Sicherheit bringen. Bereits im Jahre 1996 kehrte Frau Begović nach Bosnien zurück. Allerdings konnte sie zu dieser Zeit aufgrund politischer Querelen und der damals noch geschlossenen innerbosnischen Entitätsgrenze IEBL nicht in ihre Herkunftsregion zurückkehren und wurde damit zur Internvertriebenen. Sie suchte – wie viele andere bosniakische Flüchtlinge auch – in Sanski Most Zuflucht, das in der bosniakisch-kroatisch dominierten Föderation liegt. Heute ist aus der provisorischen Unterkunft ihr Zuhause geworden, wo sie in äußerst prekären finanziellen Verhältnissen lebt. Sie konnte ein kleines Haus mit Garten kaufen und will heute unter keinen Umständen an denjenigen Ort zurückkehren, wo sie den Kriegsausbruch erlebt hat. Zum ersten Mal begegnete ich Frau Begović anlässlich eines Besuchs in einer Nichtregierungsorganisation, für die sie als Betagtenbetreuerin arbeitete. Im Rahmen dieser Anstellung nahm sie an einer wöchentlichen Diskussionsrunde teil, wo Arbeits-, aber auch persönliche Probleme besprochen werden konnten. Bei meinem Besuch war die Stellung der (Kriegs-)Witwen in der Gesellschaft und der Familie Thema. Frau Begović fiel mir als besonders ruhige Frau auf, die sich wohlüberlegt und ausgewählt in die Diskussionen einbrachte. Es waren diese durchdachten Diskussionsbeiträge und ihr Zivilstand als Kriegswitwe, die mein Interesse an ihrer Lebensgeschichte weckten. Gleichentags besuchte ich Frau Begović zu Hause. Sie empfing mich herzlich in ihrem Haus am Rande von Sanski Most und war sofort bereit, mir ausführlicher ihr Leben zu schildern. Bei Kaffee und Kuchen erzählte sie mir in einem längeren, dem
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Interview vorausgehenden Gespräch aus dem Leben ihrer älteren Tochter. Frau Begović zeigte großen Stolz auf ihre Erstgeborene, die in der Hauptstadt berufliche Erfolge feierte, und forderte mich auf, bei meinem nächsten Sarajevobesuch die Tochter anzurufen. Denn sie verkörpere das neue Bosnien, das Bosnien von morgen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels steht zunächst Frau Begovićs Falldarlegung, die auf den Interviewtranskripten beruht und ihre Ansichten und Aussagen wiedergeben soll. Die anschließende Fallanalyse fokussiert vorwiegend den problematischen Umgang mit der Vergangenheit. Die Diskussion ihrer sozialen Netzwerke vervollständigt das Analysekapitel.
6.1 F ALLDARLEGUNG : D IE I NTERNVERTRIEBENE Frau Begović kam im Jahre 1954 als jüngste von vier Töchtern zur Welt. Sie stammt aus einem bildungsfernen Milieu: Der 1896 geborene Vater war der älteste Sohn einer Bauernfamilie und übernahm ganz der Tradition entsprechend den Hof seiner Eltern. Die Schule hatte er nie besucht. Die Mutter, geboren 1924 in der Nähe von Sanski Most, stammte ebenfalls aus einer bäuerlichen Familie und war bereits als Kind in die Aufgabenbereiche einer Hausfrau und Bäuerin eingeführt worden – auch sie hatte keine Schule besucht. Mit der Heirat zog die Mutter in das Dorf ihres fast 30 Jahre älteren Ehemannes in der Nähe von Prijedor Stadt. Für Frau Begovićs Vater war es die zweite Ehe. Die erste Ehefrau war verstorben und hatte ihm drei Töchter hinterlassen. Mit der Eheschließung übernahm Frau Begovićs Mutter deshalb auch die Verantwortung für die Erziehung dieser drei Mädchen. Frau Begović wuchs folglich mit drei deutlich älteren Halbschwestern auf. Die älteste Halbschwester (geboren 1941) besuchte die Grundschule, erlernte aber nie einen Beruf. Als Frau Begović zehn Jahre alt war, heiratete diese einen Bosniaken, der als Arbeitsmigrant in Österreich lebte. Nach der Hochzeit folgte sie ihrem Ehemann nach Österreich und wurde Hausfrau und Mutter. Sie bekam zwei Söhne und eine Tochter und war zum Zeitpunkt des Interviews zehnfache Großmutter. Heute unterhält Frau Begović mit dieser Schwester nur einen losen Kontakt. Jedes halbe Jahr erhält sie von ihr einen Telefonanruf, Besuche der Schwester im Herkunftsland sind selten und unregelmäßig. Das letzte Mal besuchte sie Frau Begović im Jahre 2002. Anders gestaltet sich der Kontakt zur zweitältesten Schwester, die 1943 geboren wurde. Seit ihrer Rückkehr nach Prijedor hat die Beziehung deutlich an Intensität gewonnen. Die beiden Frauen besuchen sich und unterstützen sich gegenseitig in ihrem Alltag. Dennoch beschreibt Frau Begović die Beziehung zu ihrer zweiten Schwester als nur mäßig vertrauensvoll und eng. Diese Schwester
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ist ebenfalls verheiratet und hat vier Kinder: zwei Söhne und zwei Töchter. Während des Krieges floh sie zu ihren Kindern, die in Neuseeland leben. Frau Begovićs dritte Halbschwester (geboren 1946) steht ihr seit jeher am nächsten. Nach Auszug der beiden Ältesten waren es Frau Begović und ihre Lieblingsschwester, die im Elternhaus zurückblieben, und es ist diese Schwester, welche Frau Begović jederzeit um Rat angehen kann. Zugleich diente diese Schwester als ihr berufliches Vorbild: Sie besuchte, als erstes Kind der Familie Begović, nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit eine weiterführende Schule und bildete sich zur Konditorin aus. Auch Frau Begović ist Konditorin. Erst nach Abschluss der Berufsschule heiratete diese Schwester einen Mann serbisch-orthodoxer Herkunft. Diese erste Ehe blieb kinderlos und brach, wie Frau Begović ausführt, infolge des Krieges und der unterschiedlichen ethnoreligiösen Zugehörigkeiten der beiden Ehepartner auseinander. Nach der Scheidung musste die Schwester aus der Stadt fliehen, da sie vor serbischen Repressalien nicht mehr geschützt war. Diese Flucht unternahm sie gemeinsam mit Ena Begović, und es ist unter anderem auch dieses Erlebnis, welches die beiden Frauen noch näher aneinandergeschweißt hat: »Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Wir haben sehr viel miteinander erlebt. Unser Vertrauen ist sehr groß, die Beziehung zu ihr ist sehr eng.« Vor ein paar Jahren hat die Lieblingsschwester ein zweites Mal geheiratet, diesmal einen Bosniaken, der in Slowenien lebt. Auch wenn diese Heirat eine örtliche Trennung der beiden Schwestern bewirkte, tut das der Intensität der Beziehung keinen Abbruch. Die Schwester kümmert sich nach wie vor um Frau Begovićs Wohlergehen und unterstützt sie, wo immer es geht.
6.1.1 Ein nicht nur harmonisches Leben vor dem Krieg Wenn Ena Begović im Interview auf ihr Leben in der Vorkriegszeit zurückblickt, spricht sie nicht nur schöne Erinnerungen an, nostalgische Betrachtungen fehlen in ihrem Interview weitgehend. Eine Ausnahme unter den Interviewpartnerinnen, wie sich anhand der Interviewauswertungen herausgestellt hat. Mit knapp 17 Jahren heiratete sie einen gleichaltrigen Bosniaken aus Kozarac, einem Dorf etwas außerhalb Prijedors. Sie zog zu ihrem Ehemann und dessen Familie: »Das war damals der Brauch, dass ich mit ihm bei seinen Eltern wohnte.« Frau Begović schildert die Zeit in ihrem neuen Zuhause als sehr schwierig und belastend. Sie wurde von Heimweh nach ihrer Familie geplagt und fühlte sich von ihrer Schwiegermutter nicht willkommen geheißen. Obwohl Frau Begović in Prijedor noch die Berufsschule besuchte, um sich zur Konditorin ausbilden zu lassen, musste sie im Haushalt mitarbeiten. Doch das Schlimmste war nicht die Arbeitslast an sich: »Das Schlimmste war, dass meine Schwiegermutter nie mit meiner Arbeit zufrieden war. Immer hat sie rumgemeckert. Auch wenn sie es vielleicht gut meinte mit mir, hat sie sich
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immer wieder in meine Arbeiten eingemischt.« Bis zum Berufsabschluss, so Frau Begović, habe sie stark unter der doppelten Belastung durch Schule und Hausarbeit gelitten. Sie habe sich daher nach Abschluss ihrer Ausbildung keine Stelle gesucht, sondern sich voll und ganz der Hausarbeit gewidmet. Frau Begović bedauert, dass sich die Situation zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter trotzdem nicht entspannte. Noch schlimmer wurde es für Frau Begović nach der Geburt ihrer Tochter im Jahre 1974. Die ohnehin spannungsgeladene Beziehung verschlechterte sich aufgrund der nun anstehenden Erziehungsfragen und wirkte sich nach Meinung von Frau Begović auch auf die junge Ehe aus. Kurz nach der Geburt eröffnete ihr der Ehemann, er habe »eine andere gefunden«, und nach nur fünf Jahren Ehe ließ er sich von ihr scheiden. Sie musste aus dem Haus in Kozarac ausziehen und fand mit ihrer damals zweijährigen Tochter bei ihren Eltern Unterschlupf. Um sich ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können, suchte Frau Begović eine Anstellung als Konditorin. »Was für ein Glück, hatte ich die Ausbildung beendet. Auch wenn es damals eine große Belastung gewesen war.« Ein Jahr nach ihrer Scheidung fand sie in der Süßwarenfabrik Mira Cikota eine Anstellung als Konditorin und arbeitete dort bis zum Kriegsausbruch. Diese Fabrik, ein Ableger der jugoslawischen Josip-KrasGesellschaft mit Hauptsitz in Zagreb, war vor dem Krieg in ganz Jugoslawien berühmt für ihre Süßigkeiten und einer der Hauptarbeitgeber in Prijedor. Auch heute zählt sie als eine der größten Fabriken Bosnien-Herzegowinas zu den wichtigsten Arbeitgebern in der Gemeinde Prijedor. Sieben Jahre nach ihrer Scheidung lernte Frau Begović über ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Jagoda Babić einen neuen Partner kennen. 1987 heirateten sie – es war für beide die zweite Ehe. Ein knappes Jahr später wurde ihnen eine gemeinsame Tochter geboren. Die beiden Kinder des Ehemannes aus erster Ehe lebten bei ihrer Mutter in der Nachbarschaft, verbrachten aber auch viel Zeit bei Frau Begović. Frau Begovićs eigene Tochter aus erster Ehe wurde vom neuen Ehemann herzlich akzeptiert, und zu viert bewohnten sie im Dorf Ljubija ein großes Haus direkt am Fluss. Nun folgte eine Zeit, die Frau Begović als die glücklichste ihres Lebens bezeichnet: »Das Haus lag an einem wunderschönen Platz auf einer kleinen Halbinsel, umgeben vom Fluss. Wir arbeiteten beide, mein Mann als Automechaniker und ich in der Süßwarenfabrik. Es fehlte uns an nichts. Die Löhne waren gut und wir konnten normal leben. Wir hatten ein Auto, fuhren ans Meer in den Urlaub, machten Ausflüge mit unseren Hausfreunden1 .« Im Alltag fand Frau Begović wichtige soziale Unterstützung bei der Zaova, der Schwester ihres Ehemannes, welche in der unmittelbaren Nachbarschaft 1 | Wie in Kapitel 3.2.2 beschrieben, sind Beziehungen zu Hausfreunden freundschaftliche Beziehungen zwischen zwei Häusern. Die auf diese Art befreundeten Familien können, müssen aber nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen.
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mit ihrer Familie lebte. Ebenso wichtig war für Frau Begović eine alte Tetka (dt. Tante) ihres Ehemannes. Diese sei ihr wie eine Mutter gewesen, erzählt sie. Nebst der familiären Unterstützung konnte Frau Begović in der Vorkriegszeit aber auch auf ihren Freundeskreis und die Nachbarinnen und Nachbarn zählen: »Ich hatte viele Freunde. Serben, Kroaten und auch Muslime. Wenn jemand neu in die Gegend gezogen ist, dann haben wir sie besucht, alle. Ohne zu schauen, wer was ist. Das Gleiche gilt für die Besuche, wenn ein Kind geboren wurde. Die alltäglichen Zusammenkünfte kannten keine Grenzen der Nacionalnost.«
Frau Begović war eine passionierte Bergsteigerin und unternahm in ihrer Freizeit mit ihrem Bergsteiger-Club verschiedene Gipfelbesteigungen im gesamten Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Die Mitglieder dieses Clubs hatten alle unterschiedliche Bildungs- und ethnoreligiöse Hintergründe. Ausgeschlossen wurde niemand, wie Frau Begović nicht müde wird zu betonen. Sie weist auch auf ihren ethnisch gemischten Kollegenkreis am Arbeitsplatz hin. Bis zum Kriegsausbruch in Kroatien habe niemand in ihrem Freundes- und Kollegenkreis die Anspannung zwischen den Menschen bemerkt. »Erst Ende des Jahres 1991, als es in Kroatien schon Krieg gab, schickten sie uns Muslime und die Kroaten nach Hause – wir wurden auf die Warteliste gesetzt und nur die Serben konnten bleiben, um weiterhin zu arbeiten.« Dennoch, weder Frau Begović noch ihre Familie noch ihre Freundinnen und Freunde glaubten daran, dass der Krieg auch in ihrer Region ausbrechen würde: »Immer wieder sagten wir, dass es nicht möglich ist, dass so etwas auch hier passieren würde. Denn jede Familie war ja gemischt. Ich kannte keine Familie, in der es nur eine einzige Nacionalnost gab. Der Sohn meiner Schwester zum Beispiel war mit einer Serbin verheiratet. Und was jetzt? Soll er plötzlich auf seinen eigenen Schwiegervater schießen? Das konntest du schlicht nicht glauben.«
Doch dann verschwand der Betriebsleiter und Direktor der Fabrik Mira Cikota. Er wurde am Arbeitsplatz verhaftet und ins Lager ›Omarska‹ gebracht, wie Frau Begović später in Erfahrung bringen konnte. Grund für seine Verhaftung sei gewesen, dass er Katholik war. Die Leitung der Fabrik wurde gleichentags von Serben besetzt. Das seien Männer gewesen, die Frau Begović noch nie zuvor gesehen habe.2 Etwa gleichzeitig kamen bei ihnen im Dorf Flüchtlinge aus anderen, umliegenden Dörfern an, die von schrecklichen Vertreibungen berichteten. Das seien nun alarmierende Zeichen gewesen, die niemand mehr habe wegdiskutieren können. Die Anspannungen nahmen zu und ihr Mann und sie hätten 2 | Siehe . Abgerufen am 6.7.2008.
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nun darüber beraten, wie es mit der Familie weitergehen solle. Zur Umsetzung ihrer Pläne kam es allerdings nicht mehr.
6.1.2 Der Kriegsausbruch und das Verschwinden des Ehemannes Der eigentliche Angriff auf die breite Bevölkerung in den Vororten Hambarine und Ljubija erfolgte in der gleichen Art und Weise wie jener einen Monat früher auf die Ortschaft Kozarac (vgl. Kapitel 3.4, Kapitel 5 und Greve 1994: 41ff.): Frau Begović erzählt von dauerhaftem Bombardement, von Einschüchterungen durch serbisches Militär, aber auch davon, dass alle nicht-serbischen Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben und in Busse verfrachtet wurden, die Männer von den Frauen und Kindern getrennt. Letztere wurden in ein mehrheitlich serbisch besiedeltes Quartier Prijedors (Tukovi) gebracht, in ein kurz vor Kriegsausbruch fertig gestelltes Sportstadion. Ena Begović, ihre zwei Töchter sowie die Kinder ihres Ehemannes aus erster Ehe gehörten zu jenen, die im Sportstadion interniert wurden3 . Eigentlich, so Frau Begović, war das Lager ›Trnopolje‹ der Ort, an den »sie uns bringen wollten, aber weil dort alles überfüllt war, mussten wir im Stadion bleiben.« Bevor Frau Begović und die Kinder ins Stadion gebracht wurden, erlebten sie Gewalt und vor allem große Angst: »Auch unser Haus wurde durchsucht. Als die serbischen Soldaten 4 ins Haus stürmten, konnte sich mein Mann im Wald hinter dem Haus verstecken und sich so vorerst in Sicherheit bringen. Die Soldaten waren betrunken und belästigten mich, sie richteten ihre Gewehre auf mich und die Kinder – dreimal haben sie das getan und sie verlangten Geld und den Schlüssel zu unserem Wagen. Als ich ihn ihnen nicht geben konnte, zwangen sie mich, mich auszuziehen. Einen der Soldaten kannte ich, er ist auch aus Ljubija. Seine Augen werden mir immer in Erinnerung bleiben.«
Frau Begović betont, dass sie weder körperlich angegriffen noch vergewaltigt wurde. Trotzdem habe sie unter Schock gestanden. Die Männer hätten sie gezwungen, sich im Elternschlafzimmer mit den Kindern einzuschließen, während das ganze Haus nach ihrem Mann und nach Wertsachen durchsucht wurde. »Der eine sagte mir: ›Bleib da drin. Falls du rauskommst, bist du tot.‹ Ich hörte sie im Haus wüten. Es war ein großer Krach, doch plötzlich war es ruhig. Nur noch Ruhe. Aber ich hatte große Angst, die Türe zu öffnen, und blieb mit 3 | Aus den vorhandenen Interviewtranskripten geht nicht hervor, was mit der ersten Ehefrau von Herrn Begovi ć geschah und weshalb die Kinder aus erster Ehe zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs bei Frau Begovi ć waren. 4 | Aus dem Interviewmaterial lässt sich nicht eruieren, ob es sich um serbisches Militär oder um paramilitärische Einheiten handelte.
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den Kindern die ganze Nacht im Zimmer.« Als sich Frau Begović am nächsten Morgen aus ihrem Zimmer wagte, fand sie das Haus verwüstet vor, die Möbel demoliert, alle Schränke und Schubladen ausgeleert – ein riesiges Chaos, wie sie sagt. Auch die Nachbarhäuser waren verwüstet, teilweise sogar niedergebrannt worden. Mit den Kindern begann sie nach anderen Überlebenden, vor allem aber nach ihrem Mann zu suchen. Doch ihn konnte sie nirgends finden. Sie traute sich nicht, nach ihm zu rufen, weil sie nicht wusste, ob die Soldaten plötzlich wieder auftauchen und dann durch ihr Rufen auf ihren Mann aufmerksam würden. Aus Angst, dass die Soldaten wieder kämen, begab sie sich mit den Kindern auf den Hauptplatz von Ljubija. Dort traf sie auf viele andere Frauen und Kinder aus ihrer Nachbarschaft und dem Dorf, aber auch auf serbische Soldaten, welche die Wartenden in Busse verfrachteten. Auch Frau Begović wurde in einen Bus gezwungen, ohne dass sie Kleider oder andere persönliche Gegenstände aus dem Haus hätte mitnehmen können. Die Frauen und Kinder wurden ins Sportstadion nach Prijedor-Tukovi gebracht: »Es war Hochsommer, Juli. Es war unglaublich heiß und es gab nur wenige Schattenplätze im Stadion. Wir hatten Durst und Angst, vor allem auch, weil wir nicht wussten, was mit uns geschehen würde. Die Kinder litten an Durchfall, es war schrecklich.« Im Stadion traf Frau Begović auf ihre Lieblingsschwester und ihre Mutter. Sie war insbesondere froh darüber, dass sie nun Unterstützung für die Betreuung der vier Kinder hatte. Beunruhigt blieb sie allerdings darüber, dass sie keine Nachricht über den Verbleib ihres Ehemannes hatte. Im Sportstadion wurden die Frauen gezwungen, Papiere zu unterschreiben, mit denen sie den ›freiwilligen Verzicht‹ auf ihre Besitztümer bestätigten: »Für alles musstest du unterschreiben. Das Haus, die Wertsachen, einfach alles. Mit dem Papier sagte ich, dass ich alles den Serben schenke.« Nur durch diese Unterschrift konnte Frau Begović Plätze in einem Konvoi ergattern, welcher sie in bosniakisch-kroatisches Gebiet in Sicherheit bringen sollte – so jedenfalls die Versprechungen des serbischen Militärs. Doch während der Fahrt in Richtung Travnik wurden die Busse auf dem Berg Vlasić gestoppt und die Frauen, die Kinder und die wenigen alten Männer auf die Strasse gesetzt. Was nun folgte, war für Frau Begović der pure Albtraum: Es war Nacht, als die Flüchtlinge den ca. 30 km langen steilen Abstieg durch die Wälder des Vlasić-Gebirges in Angriff nehmen mussten. Die Flüchtlinge fanden keine markierten Wege und niemand kannte sich gut im Gelände aus, geschweige denn, dass die Flüchtenden zweckmäßig gekleidet gewesen wären. In ihrer sommerlichen Kleidung froren Frau Begović und ihre Kinder, das Schuhwerk taugte nicht zum Marsch im Gelände. Hinzu kam, dass die Flüchtlinge von den Serben ständig mit Granaten beschossen wurden. Nur mit viel Glück konnten Frau Begović, ihre Schwester und die Mutter alle vier Kinder sicher nach Travnik bringen, was nach Meinung von Frau Begović an ein Wunder grenzt. Viele ihrer Weggenossinnen und Weg-
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genossen überlebten die Flucht nach Travnik nicht. Ein schreckliches Erlebnis, wie Frau Begović betont. In der von der bosniakischen Armee kontrollierten Ortschaft Travnik waren Frau Begović und ihre Kinder vorerst in Sicherheit. Doch sie waren nicht die einzigen, die in dieser Kleinstadt Zuflucht suchten. Frau Begović schildert eindrücklich, wie die Notunterkünfte aus allen Nähten platzten und sie überall auf traumatisierte Frauen traf, die ohne Nachrichten von ihren Ehemännern, Vätern, Söhnen und Brüdern waren. Eine große Belastung, aber zugleich auch Antrieb, rasch eine Ausreisemöglichkeit zu finden, »um dieser Hölle zu entkommen.« Insbesondere dank der Unterstützung ihrer in Österreich lebenden ältesten Schwester konnte sie die Ausreise für alle Familienmitglieder organisieren. Ihren Ehemann allerdings musste sie im Ungewissen darüber, ob er überhaupt noch am Leben war, in Bosnien zurücklassen. Dies belastete sie sehr. Wie für viele andere Flüchtlinge aus der Region Prijedor war die erste Station auf dem Fluchtweg die kroatische Hauptstadt Zagreb. Dort fand Frau Begović vorübergehend bei der Schwester ihres Zet (dt. Schwager)5 Zuflucht. »Wir waren elf Leute in einer kleinen Wohnung, stellen Sie sich das vor. Meine Schwester und ihr Ehemann aus Neuseeland kamen, meine Mutter und die andere Schwester, ich mit den vier Kindern […] Das war zu viel für die kleine Wohnung von der Schwester meines Zets, die bereits mit ihren beiden Kindern dort lebte. Auf dem Boden hatte es kaum genügend Platz, dass sich alle hinlegen konnten. Es war zu eng und ich musste zusehen, dass ich so schnell als möglich von dort weggehen konnte.«
Sowohl ihre in Neuseeland lebende Schwester als auch die älteste Schwester in Österreich halfen dabei, die Weiterreise der Familie zu organisieren. Doch trotz Papieren und finanzieller Unterstützung misslang die Weiterreise nach Österreich im ersten Anlauf. Bereits an der slowenischen Grenze wurden die Flüchtlinge aufgehalten und nach Zagreb zurückgeschickt. Für ihre ältere Tochter suchte Ena Begović deshalb gemeinsam mit ihrem Zet aus Neuseeland eine andere Lösung zur Migration. Sie beantragten Papiere für ihre Ausreise nach Neuseeland, damit die Tochter ihre Ausbildung so schnell als möglich wieder aufnehmen konnte. Für die anderen Familienmitglieder ergab sich dank freundschaftlicher Verbindungen zu bosnischen Botschaftsangestellten im zweiten Anlauf doch noch die Möglichkeit, nach Österreich auszureisen. Während der ersten Tage im neuen Exil fand Frau Begović mit ihrer jüngsten Tochter, den Kindern des Ehemannes, ihrer Mutter und der Lieblingsschwester vorerst Unterschlupf bei ihrer ältesten Schwester. Danach mussten sie sich bei der Caritas als Flüchtlinge melden. Die Hilfsorganisation brachte 5 | Frau Begovi ć s Zet ist mit ihrer mittleren Halbschwester verheiratet. Das Ehepaar floh infolge des Krieges nach Neuseeland.
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Frau Begović in einer kleinen Ortschaft unter, in einem Kollektivzentrum, das nur Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina beherbergte. Dieser Umzug hatte zur Folge, dass sich Frau Begović von ihrer Mutter und der Lieblingsschwester trennen musste. Auch die Kinder ihres Ehemannes trennten sich von ihr – sie konnten nach Deutschland zu einem Onkel weiterreisen. Frau Begovićs Situation änderte sich also erneut: »Plötzlich war ich nur noch mit meiner jüngeren Tochter zusammen in diesem Kollektivzentrum. Das war eine ziemlich große Umstellung. Immerhin waren die anderen 120 Bewohner in diesem alten Hotel auch alle aus Bosnien. Das ist auch der Grund, warum ich die deutsche Sprache nicht gut gelernt habe. Denn ich war eigentlich die ganze Zeit nur mit unseren Leuten zusammen.« Frau Begović konnte in diesem Zentrum einen Kiosk eröffnen, wo sie den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft Säfte, Süßigkeiten, Zigaretten, Kekse und anderes verkaufte. Zudem strickte und nähte sie und fand später ein Einkommen als Raumpflegerin in Privathaushalten. Nach wie vor litt Frau Begović aber unter der Ungewissheit über den Verbleib ihres Ehemannes: »Das war für mich sehr schwer, das war am schlimmsten, dass ich nichts über meinen Mann wusste. Und schwer war auch, an all die Menschen in Bosnien zu denken. Ich konnte tagelang nichts essen, denn immer wenn ich mich hinsetzte, um einen Kaffee zu trinken, dachte ich daran, dass die Menschen in Bosnien nichts zu essen und zu trinken hatten, wissen Sie. Also, das war eine große Belastung für mich.« Nach einem Jahr Aufenthalt im Kollektivzentrum konnte Frau Begović bei der Caritas die Familienzusammenführung mit ihrer Mutter und der Lieblingsschwester beantragen. Die Hilfsorganisation fand für sie eine gemeinsame Wohnung. »Als wir dort einziehen konnten, wurde es für mich etwas leichter.« Die Ungewissheit über das Schicksal ihres Ehemannes quälte sie aber weiterhin. Sie erzählt, dass sie nächtelang nicht schlafen konnte, weil ihre Gedanken sie wach hielten. Daran habe auch die Anwesenheit ihrer Mutter und der Schwester nichts ändern können. Immerhin konnte sie sich vertrauensvoll an jemanden wenden und über ihre schlaflosen Nächte berichten. Wie sie sagt, fühlte sie sich nicht mehr ganz so einsam. Kurz nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton kündete die frisch verheiratete ältere Tochter Frau Begović ihre Rückkehr von Neuseeland nach Bosnien an. Ihr Ehemann hatte eine Anstellung bei einer internationalen Organisation6 in Sarajevo gefunden, eine Stelle, die ihm die Möglichkeit gab, sich für den sozialen Wiederaufbau seines Herkunftslandes zu engagieren. Anfang 1996 kehrte das Ehepaar nach Bosnien zurück. Auch die anderen Familienmitglieder von Frau Begović, die mit ihr in Österreich lebten, wollten so schnell als möglich wieder heimkehren. Deshalb, in erster Linie aber, weil sie 6 | Aufgrund der Anonymisierung bleibt diese Organisation hier ungenannt.
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noch immer keine Nachricht über den Verbleib und das Wohlergehen ihres Ehemannes hatte, kehrte Frau Begović ebenfalls nach Bosnien zurück.
6.1.3 Vom Umgang mit den Kriegsauswirkungen Wie bereits in der Fallgeschichte von Frau Sivac ausführlich dargelegt, war die endgültige Rückkehr in die Region Prijedor im Jahre 1996 für alle Flüchtlinge undenkbar, die Grenze zwischen den beiden Entitäten der Republika Srpska und der Föderation war noch blockiert. Wie Frau Sivac strandete deshalb auch Frau Begović mit ihrer jüngsten Tochter in Sanski Most, der Ljubija und Prijedor am nächsten gelegenen Stadt der Föderation. Es war eine turbulente Zeit in dieser vom Krieg schwer gezeichneten Stadt. Infolge der vielen Rückkehrenden war besonders der Wohnraum knapp. Doch Frau Begović hatte Glück. Für die erste Zeit fand sie beim Bruder ihres Ehemannes Unterschlupf, danach konnte sie in einer Rückkehrersiedlung am Rande von Sanski Most ein kleines Haus beziehen, das gerade genügend Platz für sie, ihre Mutter, ihre Schwester und die Tochter bot. Es war das Haus eines vertriebenen Serben, der nicht nach Sanski Most zurückkehren wollte. Der Platz war sehr knapp, doch die Frauen waren froh um dieses Dach über dem Kopf. Denn das Leben in einem Provisorium beschreibt Frau Begović als belastend, besonders für ihre Tochter: »Meine Tochter war circa vier Jahre alt, als wir Bosnien verlassen mussten. Bei der Rückkehr nach Sanski Most war sie acht Jahre alt. Sie sprach sehr gut Deutsch und wäre eigentlich am liebsten in Österreich geblieben. Dass sie von dort weg musste, reichte. Ich wollte ihr ein neues Zuhause geben und nicht in einem Provisorium wohnen. Die erste Zeit war für sie sehr schwierig, doch jetzt hat sie sich hier sehr gut eingelebt. Sie besucht die Schulen hier und hat eindeutig ihre Wurzeln hier geschlagen, nicht in Ljubija. Deshalb kehre ich unter anderem nicht dorthin zurück.«
Frau Begović schätzt sich zudem glücklich über die Zusammensetzung der neuen Nachbarschaft: Es wohnen Frauen in ihrer Umgebung, die während des Krieges Ähnliches wie sie erlebten und nun ebenfalls als Internvertriebene in Sanski Most ein Obdach gefunden haben. »Diese Frau hier gleich vis-à-vis, sie ist aus Prijedor, die nebenan ist aus Kozarac und die aus dem Haus dort hinten ist aus Rizvanovi ć i [ein Vorort Prijedors]. Alle haben ihre Ehemänner verloren, und auch sie wissen nicht, was mit ihnen passiert ist. Und sie alle wollen nicht dorthin zurückkehren, wo sie so Schreckliches erlebt haben, sie wollen hier wohnen bleiben.«
Diese Verbundenheit mit den Nachbarinnen und das gute Einleben ihrer Tochter, die inzwischen die Berufschule besucht, sind zwei der Gründe, weshalb für
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Frau Begović die Rückkehr nach Ljubija auch zum Zeitpunkt des Interviews keine Option darstellt. Es ist aber auch das soziale Umfeld ihres Herkunftsdorfes, das sie von einer Rückkehr abhält: »Alle meine früheren muslimischen Nachbarn leben nicht mehr dort. Es gibt ein paar Leute, die zurückgekehrt sind, aber die sind alle über 70 Jahre alt. Jugendliche, mit denen sich meine Tochter anfreunden könnte, gibt es fast keine mehr. Entweder sind die Häuser leer, oder sie sind verwüstet. Und hier habe ich eine wundervolle Nachbarschaft.« Haupthindernis für die Rückkehr in ihr Haus nach Ljubija stellt allerdings zum Zeitpunkt des Interviews ein Erbstreit dar. Seit 2001 streitet sie mit ihren beiden Stiefkindern um das Grundstück in Ljubija. Eine sehr schmerzhafte Erfahrung, wie sie betont: »Die Beziehung zu ihnen scheiterte nach meiner Rückkehr nach Bosnien, und wegen des Verschwindens meines Mannes. Ich habe jetzt niemanden mehr von der Seite meines Mannes, mit niemandem mehr aus seiner Familie habe ich Kontakt, denn alle gehen gegen mich vor Gericht. Es ist für mich sehr schlimm, dass sich seine Kinder gegen mich stellen. Sie sind so unverschämt, schrecklich. Ich ermöglichte ihnen mit meinem Ehemann den Besuch der Universität, ich kümmerte mich um sie während der Flucht – ich habe so aufgepasst auf die beiden Stiefkinder, habe ihnen viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und wie können sie jetzt vergessen, dass ich ihnen den Kopf gerettet habe? Und wegen der Flucht aus dem Haus habe ich ja gar keine Papiere mehr. Nichts, das beweist, dass das Haus mir gehört.«
Herrn Begovićs Überreste sind bisher nicht gefunden worden. Eine Aufteilung des Erbes wurde rechtlich erst möglich, als Frau Begović ihren Ehemann für tot erklären ließ. Doch dieser Schritt hat ihr große Mühe bereitet: »Niemand kann mir beweisen, dass mein Ehemann wirklich tot ist. Auf dem Totenschein, beim Ort der Beerdigung steht ein Strich, weil es diesen Ort nicht gibt. Aber in diesem Totenschein steht auch, dass er gestorben ist, nicht, dass er ermordet wurde – deswegen sage ich auch immer wieder, dass wohl im Jahre 1992 die Pest in Bosnien ausgebrochen ist und deshalb so viele Leute gestorben sind.« Aber auch sonst ist es für Frau Begović keine Option, das verwüstete Haus in Lijubja aufzubauen und bewohnbar zu machen. Ob die Kinder ihres Ehemanns plötzlich Anspruch auf das Haus erheben und sie zum Auszug zwingen würden, ist für sie ein zu großer Unsicherheitsfaktor. Ebenfalls fürchtet sie sich davor, dass ihre ehemaligen Nachbarn plötzlich wieder kommen und ihr alles wegnehmen könnten. Dafür ergab sich für sie die Möglichkeit, das Haus in Sanski Most dem serbischen Besitzer abzukaufen, der sich endgültig in Prijedor niederlassen wollte. Dank der finanziellen Unterstützung ihrer Schwestern aus Österreich und Neuseeland konnte sie sich diesen Traum erfüllen und sich endgültig in Sanski Most einrichten: »Es ist eine große Erleichterung, weil ich jetzt keine Miete mehr bezahlen muss. Nun haben meine Tochter und ich ein Dach
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über dem Kopf, das uns niemand mehr wegnehmen kann – egal, was passieren wird.« Eine Erleichterung ist für sie aber auch, dass sie dank des Hauskaufs in Sanski Most bleiben kann. Sie fühlt sich in dieser Stadt weit sicherer als in Prijedor, und sie ist ihr auch vertrauter: »Wenn ich heute durch Prijedor spaziere, dann habe ich immer das Gefühl, dass mich jemand auf den Kopf schlagen wird. Es ist nicht Angst, aber einfach eine Unsicherheit und der Gedanke, dass mir vielleicht wieder etwas angetan wird. Zudem leben in der Stadt Prijedor jetzt viele mir unbekannte andere Menschen. Das sind richtige Dörfler, so Bauerntölpel7 oder wie soll ich sie nennen? Früher sah ich viele schöne Menschen, wenn ich den Korso 8 entlang spazierte. Nirgendwo gab es einen schöneren Korso als in Prijedor und wir waren stolz auf unsere Stadt. Aber wenn ich jetzt hingehe und diese Bauerntölpel sehe, diese Gesichter, dann ist mir alles hässlich und fremd. Ich erkenne meine Stadt gar nicht mehr.«
In die Republika Srpska fährt sie deshalb nur noch, wenn sie ihre dort lebenden Verwandten besuchen will. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Schwester aus Neuseeland sind im Jahre 2005 nach Prijedor zurückgekehrt – in Frau Begovićs Elternhaus in der Nähe von Prijedor Stadt. Mit dem Hauskauf und dem endgültigen Sich-Niederlassen in Sanski Most konnte oder musste sich Frau Begović auch beruflich neu orientieren, denn sie fand hier keine Anstellung als Konditorin. Zurück in die Keksfabrik nach Prijedor wollte sie aus dem erwähnten Gefühl der Unsicherheit nicht. Glücklicherweise, so Frau Begović, habe ihr eine ihrer neuen Nachbarinnen eine Anstellung als Altenbetreuerin in einer lokalen Nichtregierungsorganisation vermittelt. Diese Anstellung trägt ihr ein regelmäßiges Salär ein. Weil es aber für die alltäglichen Ausgaben nicht ausreicht, arbeitet sie zusätzlich als Marktfrau. Sie hat sich auf Damenmode spezialisiert. Um Kundenstamm und Einkommen zu vergrößern, bietet sie den Interessentinnen auch Hausbesuche an. Ein »cleverer Schachzug«, wie sie verschmitzt meint. Denn es sind diese Hausbesuche, die sich finanziell, aber auch sozial, für sie besonders auszahlen. Wird Frau Begović in ein Haus gerufen, entwickelt sich der Kleiderverkauf zu einem regelrechten sozialen Ereignis: Die Frauen laden ihre Freundinnen und Nachbarinnen ein, treffen sich zu Kaffee und Kuchen und probieren gemeinsam die 7 | Im Original spricht Frau Begovi ć von Krkani. Dies bedeutet frei übersetzt Bauerntölpel oder Primitivling. Es wird gesagt, die Krkani seien roh und ungebildet. In keinem der konsultierten Wörterbücher findet sich dazu eine Übersetzung. 8 | Mit dem Begriff Korso wird die Prachtstraße einer Ortschaft benannt. Alle Städte und Dörfer, die ich in Bosnien besuchte, verfügen über eine solche Fußgängerzone im Zentrum, die besonders am Abend von Spaziergängern frequentiert wird. Die Menschen flanieren die Straße auf und ab unter dem Motto »Sehen und gesehen werden«.
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neusten Stücke aus Frau Begovićs Kollektion an. Die Kundinnen genießen diese Anlässe, können sie sich doch so von ihren Nachbarinnen und Freundinnen beraten lassen. Für Frau Begović selbst sind es diese Hausbesuche, die ihr über die letzten Jahre ein neues soziales Beziehungsnetz eröffnet haben: »Zuerst riefen sie mich zu sich nach Hause, und ich zeigte ihnen die Kleider. Manchmal kauften sie etwas, manchmal auch nicht. Dann, mit der Zeit, luden sie mich zum Kaffee ein und ich verkaufte ihnen die Kleider etwas billiger, dann luden sie mich auf Hochzeiten ein – und so haben wir uns langsam angefreundet. So hat sich das entwickelt.« Es sind vor allem diese neuen Beziehungen, die ihr heutiges soziales Unterstützungsnetzwerk bilden (vgl. dazu die Analyse ihrer Netzwerke). Frau Begović ist glücklich über den Umstand, dass sie sich ihre Freunde und Freundinnen selbst aussuchen kann. »Das war auch vor dem Krieg schon so: Leute, die mir nicht passen, die kann ich zwar begrüßen9, aber vertiefte Kontakte will ich mit ihnen nicht unterhalten.« Sie will den Umstand, dass sie selbst über ihre Freundschaften und Kontakte bestimmt, im Interview explizit festgehalten wissen. Denn es ist ihr wichtig, dass ihr ›Auswahlverfahren‹ nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit potentieller Freundinnen und Freunde zu tun hat. Es war ihr nie wichtig, wer Serbe, wer Muslim, wer Kroate war. »Wir saßen gemischt zusammen, umarmten uns und feierten – wir waren befreundet. Auch heute ist das noch so.« Vielmehr ist ihr wichtig, wie ein Mensch ist, »ob schlecht oder gut«, und wie er sich verhält: »Es gibt einfach verschiedene Leute. Zum Beispiel mag ich besonders die Menschen, die Wort halten. Es gibt Kunden, denen gebe ich die Ware und sie bezahlen mir diese in zwei, drei Raten. Bei ihnen muss ich gar nie nachdenken, ob sie mir die Ware wirklich bezahlen oder nicht. Aber es gibt auch andere Leute, die du richtiggehend verfolgen musst, denn sie versprechen dir hundert Sachen. Das finde ich sehr unangenehm. Ja, ich liebe bei den Menschen die Ehrlichkeit wenn ich ihnen vertrauen kann. Ich muss mich auf meine Mitmenschen verlassen können. Ich muss Nachbarinnen um mich haben, denen ich meinen Hausschlüssel anvertrauen kann, oder Nachbarinnen, die sich um meine Tochter kümmern, wenn es mir nicht gut geht.«
Gleichwohl räumt sie im Verlaufe unseres Gesprächs ein, dass sich mit dem Krieg in ihrem Beziehungsgeflecht einiges verändert hat – sowohl bezüglich des Vertrauens als auch in ethnischer Hinsicht: »Ja, mit den Serben von früher kann ich heute keinen Kaffee mehr trinken, mit denen kann ich keine Kontakte mehr haben. Denn was wäre das für ein Gespräch? Ich müsste mich auf den Krieg beziehen, müsste ehrlich sein, müsste es sagen und das ist schwie9 | Zur Bedeutung der Begrüßung siehe die Ausführungen in Kapitel 6.2.1.
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rig. Weil, da, im Herzen, gibt es einen Schmerz. […] Wegen dem Krieg sind diese Beziehungen abgebrochen, weil sie sich dort zeigten, wie sie tatsächlich sind. Ich hatte großes Vertrauen in sie und jetzt, jetzt ist da eine Grenze.«
Frau Begović erzählt von einer Erfahrung, die die Auswirkungen der kommunalen Gewalt auf das Vertrauen besonders gut verdeutlicht: »Wissen Sie, wenn ich jetzt die Freunde von früher treffe, dann mag ich sie eigentlich gar nicht sehen. Es macht mich wütend, dass sie damals nicht reagiert haben. 1992 haben die serbischen Freunde mich plötzlich nicht mehr gekannt, sie wandten sich von mir ab. Und heute? Heute kennen sie mich plötzlich wieder und tun so, als wären sie nicht schuldig. Aber wie kann jemand nicht schuldig sein, der 1992 das Gewehr getragen hat? Ich weiß, was war, und das macht ihnen Angst.«
Es sind besonders die ihr aus dem Vorkriegsleben bekannten Serben und Serbinnen, welchen sie heute bewusst aus dem Weg geht. Denn diese würden sich bloß noch bei ihr einschmeicheln wollen. Das Misstrauen gegenüber Bekannten aus ihrem Vorkriegsleben sitzt tief und wird durch verschiedene Ereignisse nach ihrer Rückkehr auch immer wieder gestärkt. Als ein Beispiel führt sie ihren ersten Kontakt mit der früheren Arbeitsstelle und den Behörden in der serbischen Republik an: »Als ich nach Prijedor musste wegen meinem Arbeitsbuch, war es sehr schwer. Ich musste zur Süßwarenfabrik gehen und dort mein Arbeitsbuch holen, damit ich die Arbeitsjahre nicht verliere. Ich wurde dort behandelt – ganz schlimm. Er sagte mir: »Marsch, raus hier, was willst du hier?« Mit diesen Worten sagte er es mir im Jahre 2000. Die Tränen liefen mir runter und alles kam mir wieder hoch. Aber ich wehrte mich und sagte, es sei nicht mehr das Jahr 1992 und er solle mir das Arbeitsbuch geben. Ich wollte nicht einfach so aufgeben. Zwei Monate habe ich gekämpft, bis ich das Arbeitsbuch dann tatsächlich bekommen habe.«
Ähnliches widerfuhr ihr, als sie nach dem Krieg ihr Elternhaus zum ersten Mal wieder aufsuchte. Es lebte eine serbische Familie im Haus, die sie aus ihrem Vorkriegsleben kannte und noch gut in Erinnerung hatte: Es waren ehemalige Hausfreunde ihrer Eltern, die 1992 mitsamt Familie ins Haus einzogen, kurz nachdem Frau Begovićs Mutter vertrieben worden war. Doch bis die Mutter im Jahre 2005 in ihr Haus zurückkehren konnte, brauchte es vier Jahre zähe Verhandlungen. Die ehemaligen Hausfreunde bestanden vehement darauf, das Haus zu besitzen, und wollten es nicht zurückgeben. »Über solche Erlebnisse kann ich schwer hinwegkommen. Das schmerzt zu sehr. Denn wissen Sie, die Großen gaben ihnen damals ein Zeichen und dann machten sie, was sie wollten. Niemand hat es vermeiden wollen, niemand hat uns geholfen oder sich auf
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unsere Seite geschlagen. Aber eigentlich muss man doch in Krisenzeiten zusammenhalten…« Dass sie von ihren früheren Freunden auf diese Weise verraten wurde, ist ein Grund, weshalb ihrer Ansicht nach die heutigen Beziehungen nie mehr so werden können wie vor dem Krieg: »Ich kann mit ihnen zusammenarbeiten, wenn ich muss, ich kann sie auch begrüßen, aber es wird nie mehr diese Freundschaften geben, nie mehr, nie. Es ist genau gleich, wie wenn in einer Ehe etwas zerbricht. Auch wenn sich die Eheleute wieder versöhnen, die Beziehung kann nie mehr so sein wie vorher. Zu vieles ist zerbrochen. Natürlich kannst du wieder reden, aber es ist alles irgendwie so lustlos – und distanziert. Das Vertrauen ist zugrunde gegangen.«
Anders sieht es im Knüpfen von Beziehungen zu ihr bis anhin unbekannten Serbinnen und Serben aus. Im alltäglichen Leben gibt es diverse Zusammentreffen. Es sind aber Begegnungen geschäftlicher Natur, denn solche ließen sich gar nicht vermeiden. Sie betreibt mit Serbinnen und Serben Handel, bestellt bei ihnen neue Kollektionen und holt bei ihnen ihre neue Ware ab. Doch sie betont, dass dies keine freundschaftlichen Beziehungen sind, sondern »rein Beziehungen fürs Geschäft«.
Die zermürbende Suche nach ihrem Ehemann Frau Begović spricht einen weiteren und zentralen Grund an, weshalb Vorkriegsbeziehungen nicht einfach so wieder aufgenommen werden können – es ist die mühselige Suche nach den Verschwundenen: »Wir alle suchen immer noch unsere Verschwundenen. Und wissen Sie, das Schlimmste ist, dass es die Anderen sind, die wissen, wo die Massengräber sind. Also sollen sie sagen, wo sie sind, damit wir uns beruhigen und die Vermissten beerdigen können, wie es sich gehört. Es wird immer noch verheimlicht, was sie gemacht haben. Aber ich weiß, dass es irgendwo diese Knochen gibt, nur weiß ich nicht wo. Aber: »He, du da, du warst damals da! Sag mir, wo die Knochen sind.«
Frau Begović wünscht sich inständig, dass »die Anderen« die Orte bekannt geben würden, an denen sie die Ermordeten verscharrt haben. Wie andere Angehörige von Verschwundenen vermutet sie zudem, dass es auf dem Gelände der Rudnika Lijubia, also dort, wo sich während des Krieges das Lager ›Omarska‹ befand, noch einige Massengräber gibt. Diese müssten aufgedeckt und ausgehoben werden, um die Verschwundenen mit Hilfe von DNA-Analysen identifizieren zu können. Besonders belastend findet Frau Begović zudem, dass ihr Mann und die vermissten Internierten Zivilpersonen waren und als Unschuldige irgendwo getötet und verscharrt wurden. Ganz im Gegensatz zu den serbischen Verschwundenen, »die Soldaten waren und an der Front verschwunden
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sind.« Die Ungewissheit über den Verbleib vieler Menschen und der damit verbundene Schmerz sind in Frau Begovićs Augen für ihre persönliche Situation, aber auch für das kollektive Zusammenleben ein besonders großes Hindernis. Es erschwert das Knüpfen neuer und das Wiederaufnehmen alter sozialer Beziehungen. Denn es ist nicht leicht für sie, Menschen zu begegnen, die im Krieg keine Angehörigen verloren haben, oder Menschen, deren Angehörige als Soldaten in Kriegshandlungen umkamen: »Auch wenn viele hier jemanden verloren haben, sind die Opfer nicht gleich Opfer. Weil, einer, der ein Gewehr hatte und jemand, der unbewaffnet war, das ist nicht dasselbe. Man sagt, der Mutter tut es gleich weh. Ja, es tut weh, aber es ist nicht dasselbe. Der eine nahm das Gewehr und ging los, um jemanden zu töten, der andere war unbewaffnet und hilflos. Das Schicksal ist nicht gleich. Auch für die Mütter nicht. Denn sie schickte ihn mit dem Gewehr los und sie wusste, dass er entweder wiederkommen wird oder nicht.«
Immer wieder gibt es Tage, an denen die Ungewissheit über den Verbleib ihres Ehemannes Frau Begović so belastet, dass sie sich zurückziehen muss. Sie verschanzt sich zuhause und will allein gelassen werden. »Ich lege mich hin, arbeite alles von Anfang bis Ende durch und weine es mir dann von der Seele. So kann ich die Unruhe etwas verringern.« Immerhin kann sie heute über die Erlebnisse und den Schmerz sprechen. Kurz nach Kriegsende und nach ihrer Rückkehr nach Bosnien konnte sie niemandem von ihren Empfindungen erzählen. Sie schildert, wie sie schon nur das Erzählen zuerst einmal lernen musste. In einer Frauentherapiegruppe wurde sie von einem Psychiater dazu angeleitet: »Er sagte uns, dass wir unsere Geschichte mit geschlossenen Augen erzählen sollen. Das war gut, denn so nahm ich die anderen Frauen im Raum weniger wahr. Gleichzeitig kam aber das Gefühl von damals zurück, all die Ängste […]. Ich sah es vor meinem inneren Auge, wie die Männer ins Haus eindringen, wie mein Mann flüchten musste und seither verschwunden ist […]. Beim Erzählen zitterten meine Hände, ich weinte und die Angst kam heraus. Das habe ich einige Male gemacht und mit jedem Mal ging es besser. Der Psychiater hat mir dabei geholfen, jetzt hat sich das alles etwas beruhigt.«
Frau Begović lernte mit der Zeit, immer mehr ins Detail ihrer Erinnerung einzutauchen und dann kam auch der Tag, an dem sie wieder nach Prijedor und Ljubija gehen konnte. »Ich trainierte mich, ging nach Prijedor, spazierte den Korso entlang, ich fuhr mit einem Auto die Strecke ab, von Prijedor auf den Berg Vlasić, den gleichen Weg, den uns die Serben gefahren haben.« Dennoch, die Erinnerung an ihren Mann, die Ungewissheit, was ihm genau geschehen ist, quält sie immer wieder. Deshalb wäre es ihrer Ansicht nach auch so wichtig, dass die Massengräber bekannt gegeben würden, die ermordeten Menschen
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identifiziert werden könnten und die Anderen anerkennen würden, welches Leid den Opfern und ihren Angehörigen widerfahren ist.
Frau Begovićs gesellschaftliche Stellung als Kriegswitwe Genauso belastend wie die Ungewissheit über den Verbleib ihres Ehemannes ist Frau Begovićs heutige Stellung als Kriegswitwe. Als alleinstehende und alleinerziehende Mutter habe sie heute überhaupt keine Sicherheit mehr in ihrem Leben; alles sei hundertmal schlimmer und schwerer als vor dem Krieg. Als Witwe trägt sie die ganze Verantwortung für das Bewältigen des Alltags allein und ist damit einer doppelten Belastung ausgesetzt. Da ihr der verdienende und unterstützende Mann an der Seite fehle und die Rente zu klein sei, müsse sie so viel arbeiten: »Hätte ich 500 KM Witwenrente10, dann müsste ich nicht mehr außer Haus arbeiten. Ich hätte mehr Zeit für meine Tochter und mehr Zeit für die Bewirtschaftung meines Gartens. Es ist eine große Belastung, dass ich so viel arbeiten muss. Ich arbeite in zwei verschiedenen Berufen, aber es reicht immer noch nicht, um alle unsere Ausgaben zu decken.« Zudem muss sie von ihrem mühsam erarbeiteten Verdienst mehr als die Hälfte als Steuern wieder abgeben. Für sich und ihre Tochter bleibt ihr zum Leben nur wenig mehr als das Existenzminimum. Diese Steuerlast empfindet sie als große Benachteiligung. Eine massive Erleichterung, so Frau Begović, wäre deshalb ein staatlicher Steuererlass für alleinerziehende Frauen: »Stellen sie sich vor, was das bedeuten würde, wenn ich fast 300 KM pro Monat mehr zur Verfügung hätte. Dann müsste ich nur noch einer einzigen Arbeit nachgehen und müsste nicht mehr rennen und rennen und rennen. Meine Beine tun mir weh und immer der Druck, ob ich etwas verkaufen werde oder nicht, und ob ich genug verdienen werde oder nicht. Das hätte ich dann nicht mehr.« Es ist aber nicht nur die finanzielle Belastung, die ihr das Witwendasein erschwert. Im Vergleich zu verheirateten Frauen fühlt sich Frau Begović trotz guter sozialer Einbettung in ihre Nachbarschaft und der Vergemeinschaftung mit anderen Kriegswitwen ausgegrenzt. Bei Besuchen von Ehepaaren fühlt sie sich immer überflüssig, »wie ein drittes Rad am Wagen.« Denn wäre ihr Ehemann dabei, dann würden sich die beiden Männer unterhalten und die Frauen hätten Zeit für ihre persönlichen Themen. Aber so, ohne ihren Ehemann, würden sie zu dritt zusammensitzen und ein Gespräch unter Frauen komme nicht zustande. Diese Besuche konfrontieren sie immer wieder mit der Tatsache, dass sie nun ihr Überleben allein sichern muss. Genau das sei für sie besonders bedrückend. Es ist ein gewichtiger Grund, weshalb sie sich lieber mit anderen Kriegswitwen sozialisiert. Zusätzlich fühlt sie sich von den Männern, aber auch 10 | Die Witwenrenten in der Föderation belaufen sich gemäß Auskunft der Interviewpartnerinnen im Jahre 2005 auf 180 KM. Diese Angaben decken sich mit denjenigen von Rathfelder (2006: 218).
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von den verheirateten Frauen ihrer Nachbarschaft beobachtet und kontrolliert11 . Immer wieder werde sie von einem Nachbarn gefragt, wohin sie beispielsweise am Abend zuvor allein gegangen oder weshalb sie erst so spät nach Hause gekommen sei. »Ja, die Leute sagen, es gehört sich nicht, dass ich als Witwe alleine unterwegs bin. Gleichzeitig kümmert es sie aber nicht, wie ich mein Geld verdiene und wie ich mein Kind ausbilden lassen und ernähren kann. Also, wie ich mein Leben alleine über die Runden bringe. Alles, was sie kümmert, ist, mit wem ich mich treffe.« Frau Begović leidet unter dieser Situation und der großen sozialen Kontrolle, denn in ihrer Lage kann sie gar nicht anders, als allein unterwegs zu sein. Der Zwang zu ständiger Rechtfertigung raubt ihr viel Energie und auch die Lust, andere als die beruflichen Kontakte zu pflegen. Viel lieber verbringt sie ihre wenige Freizeit zuhause und in ihrem schönen Garten; gelegentlich trifft sie sich auch mit anderen Kriegswitwen zu Kaffee und Kuchen.
6.2 F ALL ANALYSE : L EBEN ALS A NGEHÖRIGE EINES V ERMISSTEN »Mir fiel ein, dass manche grausamen Wunden auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht vernarben. Aus der Perspektive des Verletzten natürlich.« (Ugreši ć 1995: 19)
Die nachfolgende Analyse fokussiert vorwiegend Themen aus Frau Begovićs Schilderung der Nachkriegszeit: die Last der Ungewissheit über das Schicksal der Verschwundenen, die Freundschaften, die Ehe und die Begrüßung als mögliches Mittel zur Versöhnung. Diese Punkte verdeutlichen zum einen die Schwierigkeiten des heutigen Zusammenlebens. Zum anderen zeigen sie aber auch, wie Frau Begović Allianzen eingehen und Versöhnung fördern kann oder könnte und welche zukünftigen Möglichkeiten der Annäherung zwischen den beiden Seiten aus ihrer Perspektive denkbar sind. Mit diesem Fokus lassen sich die bei Frau Sivac angesprochenen Opfer-Täter-Relationen verfeinern und die anhand von Frau Sivac’ Ausführungen aufgestellte Annahme weiter diskutieren, weshalb die beiden Seiten in Prijedor nicht zu einer Synthese zu bringen sind (vgl. Kapitel 5).
6.2.1 Von der Last der Ungewissheit In Frau Begovićs Falldarlegung zeigt sich ein Thema, das auch Frau Sivac als zentrale Problematik der Nachkriegsgesellschaft immer wieder anspricht: die Ungewissheit über das Schicksal der Verschwundenen und die Ohnmacht, mit dieser Last umzugehen12 . 11 | Siehe dazu die Falldarlegung von Miroslavka Sotivor-Bori ć , Kapitel 9. 12 | In der Region Prijedor werden immer noch über 3.000 Menschen vermisst.
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Die Ungewissheit über den Verbleib ihres Ehemannes und der damit verbundene Schmerz stellen für Frau Begović ein großes Hindernis für das kollektive Zusammenleben dar und behindern ihren Alltag. Seit bald 13 Jahren begleitet sie nun dieser Schmerz und sie weiß, dass er sie immer wieder lähmen wird – so lange, bis bekannt sein wird, was ihrem Ehemann widerfahren ist und wo sich seine Überreste befinden. Diese Belastung ist auch Grund, weshalb sie auf einer Differenzierung der Opfer und deren Angehörigen beharrt. Eine Vergemeinschaftung mit Frauen, deren Angehörige als Soldaten und Krieger umkamen oder verschwanden, ist für Frau Begović nur insofern möglich, dass sie deren Schmerz verstehen kann. Die Situation, in der sich aber diese Hinterbliebenen befinden, ist in ihren Augen eine grundlegend andere als ihre. Deshalb müssen ihrer Ansicht nach die Opfer und deren Angehörige danach unterschieden werden, ob erstere an Kampfhandlungen teilnahmen oder nicht. Mit dieser Feststellung führt sie die in Bosnien fehlenden offiziellen Opferkategorien gleich selbst ein (vgl. u.a. Fischer 2008: 10): Die einen Opfer fielen an der Front und in Uniform. Auch wenn dieser Verlust schmerzhaft ist, hatten die Angehörigen doch jederzeit damit rechnen müssen, den Soldaten nie mehr zu sehen. Zudem erfuhren sie in der Regel immerhin, wo und wie er gestorben war, und konnten ihn beerdigen. Oft werden die gefallenen Soldaten sogar als Helden gefeiert, da sie für ihr Vaterland ihr Leben ließen, und ihre Hinterbliebenen sind meist stolz auf die Aufopferung für das Heimatland. Die andere Opferkategorie besteht aus den verschwundenen Zivilisten, die unbewaffnet waren und ermordet wurden und die noch heute an unbekannten Stellen verscharrt sind. Am Beispiel von Frau Begović wird deutlich, dass die Angehörigen ziviler Opfer erst nach deren Identifizierung und in rituellen Beisetzungszeremonien Abschied nehmen können und erst dies den notwendigen Trauerprozess ermöglicht. Solange die Liebsten verschollen sind, bleibt die Vergangenheit lebendig und erschwert nicht nur die Bewältigung des Alltags, sondern ebenso die Diskussion um die vergangenen Ereignisse. Allerdings fehlen Frau Begović das professionelle Wissen, die entsprechenden Beziehungen, die Zeit und die nötigen ökonomischen Ressourcen, um sich für die bedingungslose Ausleuchtung dessen einzusetzen, was mit den Verschwundenen geschah, und das Bekanntmachen der Massengräber und die Identifikation der Verschwundenen voranzutreiben. Ein solcher Einsatz ist in der Region Prijedor erforderlich, werden doch die Kriegsereignisse von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern nach wie vor geleugnet oder verschwiegen (siehe dazu die nachfolgenden Fälle Živković und Ivanović). Um dieses Leugnen und Schweigen zu brechen, braucht es wie gesehen Persönlichkeiten wie Frau Sivac, die als Anwältin der Opfer für deren Rechte einstehen kann und sich aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung zu wehren weiß. Dennoch, auch Frau Begović bleibt in ihrem Habitus verhaftet; nur dass dieser in ihrem Fall nicht der Habitus einer Richterin ist, sondern einer (sehr klug und stark wirkenden) Arbeiterin
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aus ursprünglich ländlich-bäuerlichem Milieu, die die meiste Zeit ihres Lebens in einem sozialistischen Land verbracht hat. Nachfolgend sollen nun Frau Begovićs eigene Reflexion über das soziale Nachkriegsgeflecht und ihre unerwartet positive Haltung gegenüber einer möglichen Versöhnung Thema sein.
Freundschaften Die Aussage »Es wird nie mehr diese Freundschaften geben, nie mehr, nie!« führt vor Augen, dass Frau Begović von ihren früheren Freundinnen und Freunden bitter enttäuscht und zutiefst verletzt wurde. Sie zeigten mit dem Kriegsausbruch ihr wahres Gesicht und führten mit ihrem Verhalten die heutige soziale Trennung herbei. Besonders wütend ist Frau Begović darüber, dass enge Freundinnen und Freunde nicht auf die bedrohliche Entwicklung vor Kriegsausbruch reagierten. Niemand unternahm etwas, um die Krise abzuwenden, keiner stellte sich auf Frau Begovićs Seite. Das Zitat, aber auch die Ausführungen zur Nachkriegszeit verweisen auf das Weiterbestehen und die Unüberwindbarkeit der durch den Krieg entstandenen Grenzen. Dies hat aus Frau Begovićs Perspektive ganz bestimmt Gültigkeit für ihre ehemaligen Freundschaften zu Serbinnen und Serben. Frau Begović erwartet, dass man in der Not zusammensteht, und sie ist ernüchtert über die Tatsache, dass sich diese Freunde und Freundinnen in der Krise des Krieges von ihr abwandten. Zusammenhalt in Krisenzeiten gehört für Frau Begović zu den Merkmalen einer Freundschaft, ebenso wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Offenheit ihre Basis bilden. Mit dem Kriegsausbruch ist jedoch genau dieses Fundament zertrümmert worden. Ehemals vertrauensvolle Beziehungen kehrten sich ins pure Gegenteil, Freunde wurden zu Gegnern. Misstrauen, Unehrlichkeit, Verschlossenheit und Zurückgezogenheit zerstörten die Freundschaften. Es sind diese Attribute, die das gesellschaftliche Gefüge bis heute prägen. Mit dem Bruch der Freundschaften verstärkten sich im Gegenzug die familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen; bei Frau Begović intensivierten sich im Besonderen die Beziehungen zu ihrer jüngsten Schwester und zur Mutter. Im Zusammenhang mit Freundschaften nennt Frau Begović zwei Eigenschaften, nach denen sie die Menschen einteilt: Loyalität und Solidarität. Zum einen gibt es (illoyale und unsolidarische) Menschen, die alles Mögliche versprechen und einen dann doch im Stich lassen. Zum anderen gibt es Menschen, die das Vertrauen rechtfertigen, die Wort halten und zu ihren Freunden stehen, wenn es ihnen nicht gut geht – Menschen, denen Frau Begović ihre Tochter anvertrauen könnte. Ein Missbrauch dieses Vertrauens führt zum Abbruch der Beziehung und verunmöglicht auch die Wiederaufnahme der Freundschaft. Damit wird die Loyalität zur Bedingung einer Beziehung. Es fällt auf, dass Frau Begović in ihren Aussagen nicht vordergründig das ethnoreligiöse Moment der Beziehungen betont. Sie rückt Persönlichkeit und Verhalten eines Menschen in den Mittelpunkt ihrer Aussagen. Damit verweist sie
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auf den vor dem Krieg vorherrschenden verinnerlichten Diskurs, der das Motto Bratstvo i Jedinstvo propagierte, ›Brüderlichkeit und Einigkeit‹. Ungeachtet der diversen Zugehörigkeiten galt es, den Menschen mit seinen guten und schlechten Seiten zu tolerieren und sich als Jugoslawe zu fühlen13. Mit der Instrumentalisierung der ethnoreligiösen Zugehörigkeit, die den Menschen kurz vor und vor allem während des Krieges aufgedrängt wurde, entsteht ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen der vertrauten jugoslawischen Grundhaltung und der Kriegs- und Nachkriegspraxis. Deshalb und aufgrund des Verhaltens sind es ihre serbischen Bekannten von früher, zu denen sie heute keinen Kontakt mehr pflegen will. Die Reserviertheit gegenüber neuen serbischen Bekannten könnte ebenfalls mit deren heutigem Verhalten zu tun haben, beispielsweise mit einer ausbleibenden Distanzierung von den Tätern und Zuschauern oder einer klaren Benennung des Geschehenen. Das ethnische Moment wird also bei Frau Begović erst in Zusammenhang mit dem Verhalten ihres Gegenübers relevant. Der Beziehungsabbruch zu den ehemaligen Freundinnen und Freunden enthält aber auch die Aussage, dass alles, was weniger als eine Freundschaft ist, doch noch möglich sein sollte. Ein rein funktionelles und pragmatisches Zusammenleben lässt sich also aufrechterhalten, auch wenn emotionale Bindungen nicht mehr möglich sind. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass Frau Begović beispielsweise in der Nachkriegszeit Geschäftbeziehungen zu Angehörigen der ›anderen‹ Gruppe unterhalten kann. Es sind aber Beziehungen, die sie neu knüpft und bis zu einem gewissen Grad auch entpersonalisieren kann. Es geht dabei nicht mehr um die affektive Beziehung zur Person, sondern um die Beziehung einer Sache wegen. Damit verweist Frau Begović auf einen gewissen Zwang, der (nicht nur) in ihrem Alltag vorhanden ist: Ökonomische und soziale, also strukturelle Gegebenheiten üben Druck auf Frau Begović aus. Um ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern, muss sie heute auch Kontakte zu den ›Anderen‹ pflegen. Darauf verweist sie nachdrücklich: »Ich kann mit ihnen zusammenarbeiten, wenn ich muss, ich kann sie auch begrüßen, aber es wird nie mehr diese Freundschaften geben, nie mehr, nie.« Vergesellschaftete Beziehungen sind also auch zu den ›Anderen‹ noch möglich, vergemeinschaftende aber nur noch zu nicht-Serben und nicht-Serbinnen. Nachfolgend soll die in der Aussage enthaltene Metapher der Begrüßung etwas genauer betrachtet werden.
Die Begrüßung Den Überlegungen zur Begrüßung seien einige generelle Aussagen zu den Aspekten einer Begrüßungshandlung vorausgeschickt. Ganz eindeutig ist die 13 | Das tatsächliche Vorhandensein »einer Tradition der Tolerierung, in der die Mitglieder der verschiedenen sozialen Gruppen ihre jeweiligen Unterschiede schätzen« (Hayden 2002: 239), ist in Zusammenhang mit Bosnien-Herzegowina umstritten (vgl. Kapitel 1.2).
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Begrüßung das Grundmuster von Interaktionen, die von Angesicht zu Angesicht stattfinden. Begrüßungsrituale stellen immer Eröffnungsprozeduren dar. Die Begrüßung stellt einen Kontakt her, der notwendigerweise reziprok sein muss. In der Regel leitet sie einen konkreten Kommunikationsablauf ein, sei es, dass zwei oder mehrere Gesprächspartner zum ersten Mal miteinander in Beziehung treten, oder dass sie eine schon früher geknüpfte Beziehung wieder aufnehmen. Der Austausch von Begrüßungshandlungen repräsentiert in »nahezu reiner Form die elementare Strukturiertheit von Sozialität«, wie Oevermann festhält (1983; Oevermann zit.n. Stegbauer 2002: 44). Der Austausch von Begrüßungshandlungen reproduziert damit die fundamentale Dialektik von Individuum und Gesellschaft: Sie bindet die sich Begrüßenden verpflichtend in einen Zusammenhang wechselseitiger Anerkenntnis und Rücksichtnahme sowie in sachbezogene Kooperationen ein. Begrüßungshandlungen haben also eine generative Regelstruktur, indem sie Reziprozitätsverpflichtungen hervorrufen, damit aber auch individuelle Autonomie ermöglichen. Auf diese Weise eröffnen sie den Beteiligten Handlungsspielräume. Denn der Begrüßte kann autonom darüber entscheiden, ob er das zur Reziprozität verpflichtende Angebot der begrüßenden Person annehmen will oder nicht, ob er also zurückgrüßen will oder nicht (vgl. Oevermann 1983). Doch was passiert, wenn eine Begrüßung nicht erwidert wird? Ganz eindeutig enttäuscht eine solche Verweigerung die Erwartung des Gegenübers und es ist durchaus möglich, dass sie ihm ein Gefühl der Missachtung oder Distanz vermittelt. Dies wiederum kann Unbehagen oder sogar Antipathien verursachen. Im schlimmsten Fall aber können solche Erwartungsenttäuschungen ein feindseliges Verhalten hervorrufen, mit der Folge, dass die Kommunikation abgebrochen wird oder abgebrochen bliebt (vgl. Auernheimer 2002). Es ist logisch nachvollziehbar, dass es in der Region Prijedor viele Menschen gibt, die sich aufgrund der vergangenen Ereignisse nicht mehr begrüßen und demnach auch keine Sozialität herstellen können. Gegenseitige Unterstützung und Anerkennung ist in diesem antagonistischen Feld nicht denkbar, eine Begrüßung der Gegner erscheint als unwahrscheinlich. Man kann sogar davon ausgehen, dass der extreme Fall, nämlich der des feindseligen Verhaltens, aufgrund der Kriegsereignisse im heutigen Bosnien weit verbreitet ist. Wenn nun Frau Begović sagt, dass sie ehemalige Freunde begrüßen kann, dann wird die Begrüßung in einem solch antagonistischen Umfeld zu einer ersten Form der Annäherung. Oder wie eine andere Interviewpartnerin sagte: »Samo sam mu rekla zdravo i da se možemo pozdraviti kao komšije ali tvoja ruka mi više ne treba«, was sinngemäß so viel bedeutet wie »Ich habe ihm lediglich ›Hallo‹ gesagt und dass wir uns als Nachbarn begrüßen können, ›aber deine Hand brauche ich nicht mehr‹.« Die Begrüßung beinhaltet nebst der generativen Regelstruktur und einer Reziprozitätsverpflichtung also auch ein mögliches Händereichen. Dieses Händereichen – wenn auch nur symbolisch gemeint –, kann als ein öf-
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fentliches Bekenntnis zu dieser Beziehung gedeutet werden. Und, das Händereichen stellt bereits eine Geste dar, die einen Schritt über das bloße Begrüßen hinaus geht und unter Umständen schon ein Verzeihen symbolisiert. Die Begrüßung zusammen mit dem symbolischen Händereichen würde damit zum zweiten Schritt in Richtung Versöhnung. Demzufolge wird das Begrüßungsritual als scheinbar banale Alltagshandlung zu einem Mittel der Annäherung verfeindeter Gruppen. Dass aber eine Begrüßung noch lange nicht zu emotionaler Nähe führen muss, ist Frau Begović besonders wichtig zu betonen. Mit dem Vergleich zu einer zerbrochenen Ehe erklärt sie, was sie damit genau meint.
Die zerbrochene Ehe »Es ist genau gleich, wie wenn in einer Ehe etwas zerbricht. Auch wenn sich die Eheleute wieder versöhnen, die Beziehung kann nie mehr so sein wie vorher. Zu vieles ist zerbrochen. Natürlich kannst du wieder reden, aber es ist alles irgendwie so lustlos – und distanziert. Das Vertrauen ist zu Grunde gegangen.«
Der Vergleich der zerstörten Freundschaft mit einer zerbrochenen Ehe erweist sich als überaus hilfreich, um die bosnische Nachkriegsproblematik zu fassen. Er beschreibt nicht nur die Beziehungen und Vorkommnisse auf individueller Ebene treffend, sondern kann auch als Bild für die Gesellschaft stehen. Die Ehe verweist auf ein fragiles Gebilde, das nicht nur zwei Menschen miteinander verbindet, sondern ebenso zwei Gruppen (Lévi-Strauss 1965 [1956]). Die Vermählten werden zu Objekten in einer größeren gesellschaftlichen Ordnung, beide Herkunftsfamilien gewinnen durch die Verbindung neue Verwandte. Durch Ehen entstehen also nicht nur Familien, sondern Familien können durch Ehen auch neue Verbindungen schaffen. Damit kann eine Ehe unter anderem dem Übergang von der Feindschaft zur Allianz dienen (Lévi-Strauss 1993 [1947]: 127)14 . Jede Eheschließung bricht also die Familien von Braut und Bräutigam auf, bildet zwischen ihnen einen neuen Bund und legt damit die Grundlage für eine dritte, neue Familie und Verwandtschaft. Von da an gelten bestimmte Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten, und ein gegenseitiges Vertrauen wird vorausgesetzt. Somit wird die Ehe zu einer Institution, die nach Zusammenarbeit der Beteiligten verlangt. Die ausführlichen sozialanthropologischen Diskussionen rund um die verschiedenen Formen der Eheschließung und der Ehe können hier nicht vertieft betrachtet werden. Das zu tun ist 14 | Auf die Diskussion weiterer Zwecke der Ehe und die Gabe in Zusammenhang mit der Diskussion der Allianzenbildung und der Ehe wird hier nicht eingegangen. Vergleiche dazu u.a. Lévi-Strauss (1993 [1947]), Mauss (1990), aber auch Bourdieu (1993 [1987]: 7-45).
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aber auch gar nicht nötig. Viel eher soll assoziativ Frau Begovićs Vergleich der gebrochenen Beziehungen mit einer zerbrochenen Ehe diskutiert werden. Auf die bosnische Gesellschaft angewendet, lässt sich die Ehe mit dem sozialistischen Gedankengut einer supranationalen Identität und der Idee Bratstvo i Jedinstvo vergleichen, der ›Brüderlichkeit und Einigkeit‹. Während den 50 Jahren sozialistischer Regierung wurden unter den Menschen gegenseitige Verpflichtungen, Vertrauen und Verbundenheit hergestellt – einem Ehebund nicht unähnlich. Diese Werte des Vielvölkerstaates verloren während der jugoslawischen Desintegration an Verbindlichkeit und brachen mit dem Kriegsausbruch endgültig auf. Es trat ein unmittelbarer Bruch ein, der sich auf ganz spezifische Ereignisse zurückverfolgen lässt. Und es sind genau diese Ereignisse, die verhindern, dass es jemals wieder so sein kann wie vorher – auch wenn die Beziehungen nach dem Ereignis weiterhin bestehen, neu als geschiedene Beziehungen. Wie in der Ehe kann es also auch in bosnischen Beziehungen keinen endgültigen Bruch geben – zu eng sind die Verflechtungen, in emotionaler wie in ökonomischer, sozialer und historischer Hinsicht. Auch wenn viele Menschen vertrieben und umgebracht wurden, die Verknüpfungen und die gemeinsamen Erinnerungen an andere, bessere Zeiten bleiben bestehen. Diesen Zusammenhang, dass die Beziehungen nach einem einschneidenden Ereignis trotz allem weiter bestehen, spricht Frau Begović im Eingangszitat mit dem Begriff der Versöhnung an. Sie referiert damit auf einen Kontrakt, den die Beteiligten nach ihrer Entzweiung eingehen. Eine Versöhnung ist nur zwischen beiden Parteien möglich – im Gegensatz zum Verzeihen, das auch unilateral möglich ist und weder ein Schuldgeständnis, eine zwingende Klärung der Schuldfrage noch eine andere Form der Kooperation des Anderen voraussetzt. Für eine Versöhnung müssen die Beteiligten also Bereitschaft für eine Kooperation zeigen. Damit ist ein eher funktionales Aufeinanderzugehen angesprochen. Denn Frau Begović macht auch deutlich, dass selbst nach einer Versöhnung die Beziehungen nie wieder so sein können wie vorher. Sich zu versöhnen setzt also keine auf Sympathie beruhende Beziehung voraus, und diese ergibt sich daraus auch nicht zwingend. Denn die Frage der Schuld muss bei der Versöhnung nicht notwendigerweise aus der Welt geschafft werden. Versöhnung im Sinne eines gemeinsamen Weitergehens ist auch möglich, wenn der Bruch bestehen bleibt. Der Vergleich mit einer gescheiterten Ehe steht demnach für eine pragmatische Versöhnung, die ein Begrüßen ehemaliger Freunde zulässt, aber keine emotionale Annäherung verlangt. Frau Begović präsentiert sich mit dem Vergleich zur Ehe als Versöhnerin der praktischen Art: Obwohl sie unter dem Verschollensein des Ehemannes stark leidet, tritt sie durch ihre Arbeit mit der Gegenseite in Kontakt; sie handelt dabei unter ökonomischem Zwang, doch in den geknüpften Allianzen und Beziehungen scheinen eine versöhnende Komponenten auf.
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Gleich anschließend kommen Frau Begovićs soziale Netzwerke zur Sprache. Anhand dieser Analyse wird deutlich, wie wichtig die sozialen Beziehungen zu ihren Freundinnen und Nachbarinnen für die Bewältigung ihres Nachkriegsalltags sind. Denn durch den Erbstreit nach dem wahrscheinlichen Tod ihres Ehemannes, fehlt ihr die nötige Einbettung in die affinale Verwandtschaft und damit auch ein wichtiger Teil des benötigten Sozialkapitals.
6.2.2 Vor- und Nachkriegsnetzwerke im Vergleich: Kriegsbedingte Kohäsion Abbildung 9: Vorkriegsnetzwerk Ena Begović
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Abbildung 10: Nachkriegsnetzwerk Ena Begović
Nachfolgend soll der Blick auf Frau Begovićs Unterstützungsnetzwerken gerichtet werden. Es interessiert dabei, welche Gestalt ihre Netzwerke vor und nach dem Krieg aufweisen: Welche Muster lassen sich ablesen? Wie hat sich der Krieg auf ihre sozialen Beziehungen ausgewirkt? Was sagen diese Netzwerke über Frau Begovićs Sozialkapital aus? Fokussiert werden die Größe und Dichte der Netzwerke, die Art der Beziehungen, die Multiplexitäten sowie die unterschiedlichen Homophilietendenzen.
Zwei große Netzwerke mit geringer Dichte In ihrer Größe unterscheiden sich die beiden Netzwerke von Frau Begović nur marginal: In der Vorkriegszeit verfügt sie über 20 Bezugspersonen, in der Nach-
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kriegszeit sind es 16. Beide Netzwerke zählen im Vergleich mit jenen anderer Befragter zu den größeren15 . Außerdem zeichnen sich Frau Begovićs Netzwerke durch eine geringe Dichte aus: Im Vorkriegsnetzwerk liegt deren Wert bei 0,29 (bei einem Höchstwert von 1), im Nachkriegsnetzwerk bei 0,31. Diese geringe Dichte bedeutet, dass die Bezugspersonen untereinander wenig verbunden, die Netzwerke lose geknüpft sind. Das besagt unter anderem, dass die soziale Kontrolle, die auf Frau Begović ausgeübt werden kann, nur einzelne Beziehungen erfasst. Netzwerke mit großen Dichten weisen größere Kontrollmöglichkeiten auf, da alle Beteiligten miteinander bekannt und verknüpft sind. Wie an ihrer Falldarlegung gesehen, fühlt sie sich besonders durch die Kontrolle der Nachbarschaft in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und beispielsweise nicht durch ihre Verwandten. Markant springen beim Vergleich der Netzwerke der Verlust ihrer Arbeitskolleginnen sowie der Wegfall der affinalen Verwandten ins Auge. Diesen Verlust sprach Frau Begović auch in ihrem lebensgeschichtlichen Interview an.
Die Vorkriegszeit: Typisches Netzwerk einer verheirateten Frau Frau Begovićs Vorkriegsnetzwerk entspricht einem klassischen Beziehungsnetzwerk einer verheirateten bosnischen Frau. Über die Hälfte ihrer Bezugspersonen in jener Zeit war gleich alt wie sie, 55 % waren wie sie verheiratet und hatten Kinder. Die Mehrheit ihrer Bezugspersonen waren Frauen (80 %) und ebenfalls die Mehrheit (80 %) gehörte wie sie der bosniakischen Ethnie an. Sie verfügte über freundschaftliche und verwandtschaftliche (8 resp. 12) Beziehungen, letztere umfassten konsanguine Verwandte und Angehörige der Abstammungsgruppe des Ehemannes, also affinale Verwandte. Die Beziehung zur zweiten Schwiegermutter war angespannt und konfliktbehaftet, wie die bereits beschriebene zur ersten Schwiegermutter. Obwohl die Schwiegermutter für die instrumentelle Unterstützung im Haushalt und für Besuchsaktivitäten genannt wurde und damit infolge der Multiplexität eine zentralere Position im Netzwerk erhält als viele Freundinnen und Freunde, beschreibt Frau Begović die Beziehung als schlecht und belastend: »Auch die zweite Schwiegermutter war mit mir nicht zufrieden. Zum Glück wohnten wir aber nicht im gleichen Haushalt. Das machte es etwas erträglicher.« Mit der Beziehung zur Schwiegermutter spricht Frau Begović ein zentrales, konfliktbehaftetes Beziehungsmuster zwischen bosnischen Frauen an, die sich einen gemeinsamen Haushalt teilen. Zwischen der Schwiegermutter und der eingeheirateten jungen Frau ergibt sich in der Regel durch den in Kapitel 3.2.2 beschriebenen Code strikter Loyalität ein hierarchisches Verhältnis, denn es ist die Schwiegermutter, die die eingeheira-
15 | Zur Erinnerung: Im Schnitt wurden vor dem Krieg 14, und nach dem Krieg 13 Bezugspersonen für die soziale Unterstützung aktiviert.
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tete Frau in ihrer Loyalität und in ihrem Tun kontrolliert. Wohnen die beiden Frauen nicht im gleichen Haushalt, ist eine entspanntere Beziehung möglich. Trotz der virilokalen Wohnsitznahme nach der Heirat – für die Frau bedeutet dieses Wohnsitzmuster in der Regel das Verlassen der eigenen Verwandtschaftsgruppe und unter Umständen auch das Verlassen des ihr vertrauten Dorfes, womit die Heirat zu einem Bruch in ihrem Netzwerk führen kann – blieben für Frau Begović die weiblichen konsaguinen Verwandten stets zentrale Quellen sozialer Unterstützung16. Nach dem Scheitern ihrer Ehe holte sich Frau Begović denn auch im Elternhaus die nötige Unterstützung. Gemäß Netzwerkansatz zeigt ein hoher Multiplexitätswert die besonders große Bedeutung der Bezugsperson an. Folgt man dieser These, dann gewinnen die weiblichen konsanguinen Verwandten in der Vorkriegszeit sogar noch an Gewicht: Mit ihren Töchtern besuchte Frau Begović regelmäßig ihre vor Ort lebende Schwester und die Mutter. Nebst der Freizeitaktivität waren diese Frauen auch für die emotionale Unterstützung wichtig. Zusätzlich unterstützten sie Frau Begović finanziell. Darüber hinaus wandte sich Frau Begović auch an ihre Mutter, wenn sie Informationen und Hilfe im Haushalt brauchte. Die Mutter weist also den Multiplexitätswert 4 auf, für die zweitälteste Schwester beträgt er 3. Beide Frauen erscheinen daher in Frau Begovićs Netzwerk als unverzichtbare Bezugspersonen. Von den affinalen Verwandten nahm der zweite Ehemann mit einer zweifachen Multiplexität ebenfalls einen wichtigen Stellenwert ein. Er führte die gröberen und handwerklichen Arbeiten im und ums Haus aus, unterstützte seine Frau also instrumentell, während Frau Begović sich der Pflege des Gemüsegartens und den Anpflanzungen widmete. Zusätzlich unternahmen die Eheleute in der Freizeit und in den Ferien Ausflüge. Im Vergleich mit der gesamten Untersuchungsgruppe gehört Frau Begović damit zu einer Minderheit. In den Vorkriegsnetzwerken wiesen immerhin 39,2 % der Ehemänner einen Uniplexitätswert von 0 (!) und 26,1 % einen Wert von 1 auf. Nur knapp ein Drittel der Ehemänner leisteten inzweioder mehr Bereichen Unterstützung. Erst nach dem Krieg nehmen die Ehemänner in Bezug auf die Multiplexität einen zentraleren Stellenwert ein. Dies kann auf die zerstörte Nachbarschaft und die damit fehlenden Beziehungen zurückgeführt werden. Nebst den Beziehungen zu ihren Verwandten pflegte Frau Begović in der Vorkriegszeit intensive Beziehungen zu drei Arbeitskolleginnen sowie zu ihren Freundinnen und Nachbarinnen. Insbesondere von ihrer besten Freundin und Arbeitskollegin Jagoda Babić erhielt sie wichtige soziale Unterstützung Diese beste Freundin war es auch, die Frau Begović mit ihrem zukünftigen zweiten 16 | Die Wichtigkeit der konsanguinen weiblichen Verwandten lässt sich mit den Ausführungen von Tone Bringa (1995: 98, 99, 119) bestätigen: Auch sie hält fest, dass die eigene Abstammungsgruppe ein Leben lang zentral bleibt.
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Ehemann bekannt machte. Seit Kindsbeinen waren Frau Babić und Frau Begovićs Ehemann eng befreundet. Das Vermitteln der Ehe führte zwischen den drei Beteiligten zu einer noch engeren Beziehung. Nach der Hochzeit waren sie oft zu dritt oder mit den beiden Töchtern der Eheleute Begović unterwegs. Die Freundin Jagoda Babić blieb ledig. Mit dem Ausbruch des Krieges zerbrach allerdings diese enge Beziehung: Frau Babić floh nach Kroatien zu ihren Verwandten und die Freundinnen verloren sich aus den Augen. Frau Begović hofft jedoch, dass sie den Kontakt bald wieder aufnehmen kann. In der Vorkriegszeit zeigen sich also folgende Merkmale ihres Netzwerkes: Frau Begović kann ihr Sozialkapital aus einer Mischung aus freundschaftlichen, kollegialen und verwandtschaftlichen Relationen beziehen, die mehrheitlich zu Frauen bestehen und sich sowohl stark als auch schwach ausgestalten. Die große Bedeutung des Ehemanns für soziale Unterstützung entspricht gemäß den vorliegenden Daten eher einer Ausnahme. Die Mehrheit der Beziehungen von Frau Begović bestanden zudem bei Kriegsausbruch seit vielen Jahren und waren bis dahin stabil. Abgesehen von vier Beziehungen, die erst in den 1980er Jahren geknüpft worden waren, bestanden ihre Beziehungen bei Kriegsausbruch seit mindestens 15 und maximal 38 Jahren. Praktisch alle ihre Beziehungen pflegte Frau Begović intensiv und regelmäßig – 45 Prozent ihrer Bezugspersonen sah oder hörte sie mehrmals die Woche. Damit verfügte Frau Begović über ein beständiges und intensives Unterstützungsnetzwerk; man darf annehmen, dass es ihr Halt, Vertrauen und die nötige soziale Einbettung vermittelte.
Die Nachkriegszeit: typisches Netzwerk einer Kriegswitwe Frau Begovićs Nachkriegsnetzwerk zeichnet sich durch ein Phänomen aus, auf das bereits bei Frau Sivac ansatzweise hingewiesen wurde. Obwohl Frau Begović nicht an ihren Herkunftsort zurückgekehrt ist, zeigen sich ähnlich gelagerte Probleme für ihre gesellschaftliche Integration wie bei Frau Sivac. Aufgrund des Zivilstandes scheinen beide Frauen eine gesellschaftlich marginale Position einzunehmen. Als Kriegswitwe und als Frau, die darüber hinaus mit ihren ehemals affinalen Verwandten in einem Erbstreit liegt, fehlt Frau Begović vor Ort zentrales Sozialkapital, das sie im Normalfall aus ihrer angeheirateten Verwandtschaft hätte ziehen können. Da sie aber bereits vor dem Krieg intensive Beziehungen zu ihren konsanguinen Verwandten gepflegt hat – und diese während ihren Ehen sogar wichtiger waren als die affinalen Verwandten –, fehlt ihr zumindest dieses emotionale Netzwerk und damit die Unterstützung durch diese Personen auch nach der Rückkehr nach Bosnien nicht17. Für die weitere soziale Unterstützung kann sie zudem auf diverse neu geknüpfte Beziehungen zurückgreifen – aufgrund der Ausführungen im biografi17 | Zur Erinnerung: diese Verwandten waren ja bereits auf der Flucht, im österreichischen Exil sowie für die Rückkehr zentrale Unterstützungspersonen.
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schen Interview erstaunt nicht, dass sie nach dem Krieg Beziehungen zu serbischen Kolleginnen und Freundinnen nicht wieder aufnehmen konnte. Doch sie konnte auch keine einzige ihrer freundschaftlichen oder kollegialen Vorkriegsbeziehungen zu Bosniakinnen aktivieren. Weshalb es für sie nicht möglich war, diese Beziehungen nach dem Krieg aufzunehmen, wird weder aus der Falldarlegung noch aus den Antworten zur Netzwerkerhebung klar. Anzunehmen ist, dass auch diese Bosniakinnen aus Prijedor fliehen mussten und der Kontakt deshalb abgebrochen wurde. Die neuen Nachkriegsbeziehungen zu Freundinnen und Nachbarinnen, die sich zumeist multiplex ausgestalten, lassen sich auf Gemeinsamkeiten in der Situation zurückführen: Die Freundinnen und Nachbarinnen sind wie Frau Begović Internvertriebene und Kriegswitwen. D.h. sie mussten wie Frau Begović auch, in Sanski Most ihr Leben neu einrichten und müssen ihren Alltag ohne Unterstützung eines Ehemannes und dessen Familie bewältigen. Bei Frau Begović zeigt sich deshalb am neuen Wohnort eine Vergemeinschaftung, die sich mit dem Motto »Aus dem Topf des geteilten Schicksals schöpfen« beschreiben lässt (vgl. Fall Sivac). Daneben erweist sich nun die geringe Dichte im Nachkriegsnetzwerk als Vorteil: Nicht alle Bezugspersonen sind miteinander bekannt und interagieren miteinander. Es handelt sich also um ein offenes Netzwerk, das Frau Begović den Zugang zu weiteren Kreisen und Bezugspersonen eröffnen kann. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf ihre soziale Einbettung aus, sondern auch auf ihre Tätigkeit als Marktfrau.
Homophilietendenzen Bezüglich des Zivilstandes, der Geschlechts- und der ethnischen Zugehörigkeit ist Frau Begovićs kollegial-freundschaftliches Netzwerk nach dem Krieg mehrheitlich homogen. Mit diesen Beziehungen kann Frau Begović die fehlenden affinal-verwandtschaftlichen Beziehungen und vor allem die verlorene Beziehung zu ihrem Ehemann abfedern. Was die Tendenz zu ethnischer Homophilie betrifft, so zeigen sich anhand von Frau Begovićs Fall typische Merkmale einer kriegsbedingten Verstärkung: Verfügte sie vor dem Krieg noch über ein Netzwerk, das zumindest aus vier Beziehungen zu Angehörigen anderer ethnischer Gruppen bestand – drei serbische Arbeitskolleginnen und eine Kroatin als beste Freundin –, besteht ihr lokales Netzwerk nach dem Krieg ausschließlich aus Bosniakinnen. Durch die Nennung zweier Mitarbeiter eines internationalen Hilfswerks, die ihr eine einmalige instrumentelle Unterstützung zur Verfügung stellten, und dem deutschen Freund ihrer Hausfreundin erscheinen zudem drei Personen, die keiner bosnischen Nacija angehören. Es sind drei schwache und transnationale Beziehungen. Bezüglich der Geschlechterhomophilie gleichen sich die beiden Netzwerke: Die Unterstützungsbeziehungen zu den Männern spielen in allen Unter-
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stützungsdimensionen eine untergeordnete Rolle. Sowohl in der Vor- als auch in der Nachkriegszeit sind Beziehungen zu Frauen mit rund 80 Prozent weit häufiger vertreten als jene zu Männern. Damit lassen sich beide Netzwerke als geschlechterhomophil bezeichnen. Ergänzend seien Merkmale angesprochen, die mithelfen, Netzwerke von verheirateten oder verwitweten Frauen zu charakterisieren: Vor dem Krieg wandte sich Frau Begović für instrumentelle Unterstützung an ihren Ehemann, mit den anderen drei Männern stand sie in lediglich losem Kontakt für Besuchsaktivitäten. Nach dem Krieg zeigt sich ein ähnliches Bild: Ihr lokales Netzwerk besteht ausschließlich aus Frauen; Männer kommen aus dem Ausland zu Besuch und werden von Frau Begović in erster Linie um diejenige instrumentelle Unterstützung gebeten, die früher der Ehemann leistete. Frau Begović wendet sich auch für finanzielle Unterstützung ausschließlich an Frauen. Dies war vor dem Krieg nicht anders. Die einzige Ausnahme stellt der Vertreter einer internationalen Hilfsorganisation dar, der Frau Begović im Rahmen eines Rückkehrprogramms finanziell wie instrumentell unterstützte. Auch für emotionale Unterstützung greift Frau Begović ausschließlich auf Beziehungen zu Frauen zurück. Damit verfügt sie sowohl vor als auch nach dem Krieg über ein klassisches Frauennetzwerk. Dazu passt das bosnische Sprichwort »Žene su da zbore a ljudi da tvore«, das sich sinngemäß übersetzen lässt mit »Die Frauen geben Rat und die Männer stehen mit Tat zur Seite«. Die Frauen sind also für die emotionalen und sozialen Aufgaben zuständig, während Männer die instrumentelle Hilfe leisten (vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 2.1.4). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich im Netzwerk nach dem Krieg eine kriegsbedingte Kohäsion präsentiert: Die Freundinnen, Nachbarinnen und Hausfreundinnen erlebten ein ähnliches Schicksal wie Frau Begović, verloren ihre Ehemänner und/oder andere Familienmitglieder, und leben heute als Internvertriebene im gleichen Quartier wie sie. Frau Begovićs Nachkriegsnetzwerk ist also lokal verankert, und es bietet ihr gerade aufgrund der Vernetzung mit anderen Kriegswitwen die nötige soziale Unterstützung für die Bewältigung des Alltags. In diesem lokalisierten Netzwerk ist auch eine Erklärung zu sehen, weshalb sie nicht an ihren Herkunftsort zurückkehren will: Dort müsste sie erneut ein soziales Netzwerk aufbauen und dies in einer Region, in der sie einen doppelten Minderheitenstatus hätte: als Bosniakin und als Kriegsopfer in einer Umgebung, in der nur noch wenige wohnen, die damals Ähnliches erlebt haben wie sie. Der Zugang zum wichtigen sekundären sozialen Umfeld öffnet sich Frau Begović aufgrund ihrer (Markt-)Arbeit relativ leicht, und es sind diese Geschäftsbeziehungen, in denen sie ethnische Grenzen überwindet, wenn auch ›nur fürs Geschäft‹. Sie erscheint also, obwohl Kriegswitwe und gesellschaftlich eher marginal positioniert, aufgrund der Vernetzung mit anderen weiblichen
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Internvertriebenen als in ihre Gemeinschaft gut integrierte Frau und zeigt Möglichkeiten auf, die Versöhnung über funktionelle Beziehungen zu fördern.
6.3 F ALLKONKLUSION Wie bei Frau Sivac zeigt sich auch in den Schilderungen und der Analyse der Netzwerke von Frau Begović eine kriegsbedingte Kohäsion. Nebst dem ethnischen Moment werden die Kriegs- und Migrationserlebnisse – in ihrem Fall die Vertreibung, der Verlust des Ehemannes, die Flucht und die Rückkehr – zu einem zentralen Moment der Vergemeinschaftung und des Ein- und Ausschlusses. Im Falle von Frau Begović wirkt sich diese Kohäsion allerdings nicht negativ auf ihre Eingliederung aus. Dies, weil sie nicht an ihren Herkunftsort zurückkehrte, sondern sich in einer bosniakisch dominierten Stadt niederließ, wo Menschen mit ähnlichen Kriegserlebnissen leben und mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Aufgrund dieser Vergemeinschaftung mit Gleichbetroffenen am neuen Wohnort ist sie gut integriert. Anders sähe ihre Situation bei einer Rückkehr an ihren Herkunftsort aus, denn dort gehörte auch sie zur Minderheit. Trotz der möglichen Vergemeinschaftung mit Menschen, die während des Krieges Ähnliches wie sie erlebten, verweist sie in ihren Ausführungen auf eine zentrale Schwierigkeit bei der Bewältigung ihres Alltags: Als alleinerziehende Kriegswitwe fühlt sie sich als von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Sie muss ihren Alltag in einer Gesellschaft allein bewältigen, in der der Ehemann in der Öffentlichkeit nach wie vor eine zentrale Rolle einnimmt. Als alleinstehende Frau leidet sie unter einer gesteigerten sozialen Kontrolle, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingrenzt und sie aus der Gemeinschaft ausgrenzt. Ein wichtiger Punkt ist in den Opfer-Opfer-Relationen zu sehen, die im biografischen Interview deutlich werden. Nach Art der Beteiligung am Krieg teilt Frau Begović die Opfer in zwei Kategorien ein: Die zivilen Opfer und deren Angehörige stellt sie den militärischen Opfern und ihren Angehörigen gegenüber. Mit dieser Einteilung fordert Frau Begović die Anerkennung des Unrechts, das sie als Zivile erlitt. Sie betont auch die Wichtigkeit einer ungeschminkten Aufklärung der Kriegsereignisse. Die Umstände über das Verschwinden ihres Ehemannes müssen geklärt werden, damit sie ihren Blick in die Zukunft richten kann. Denn die Ungewissheit über Leiden und Verbleib des Ehemannes verunmöglichen es Frau Begović, die zerbrochenen Beziehungen zu überwinden, das Opfer-Täter-Dilemma anzugehen und sich auf nicht-geschäftlicher Ebene anzunähern. Ebenso hat das ethnische Moment in der Beziehungsarbeit von Frau Begović durch die Kriegsereignisse Bedeutung erhalten. Währenddem Frau Sivac die über viele Jahre hinweg gewachsene Dominanz ethnischer Zugehörigkeiten dank ihres professionellen Habitus überwinden kann, gelingt das Frau
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Begović aufgrund der Kriegsereignisse nur bedingt. Die von ihr wahrgenommenen Zugehörigkeiten zu Täter- und Opferseite bleiben immer auch ethnisch bestimmt. Das Vertrauen in die Beziehungen zu Serbinnen und Serben, also der Täter- und Zuschauergruppe in ihrer Herkunftsregion, ist durch die Kriegserfahrungen gebrochen. Trotzdem erkennt Frau Begović die Unabdingbarkeit funktioneller zwischenethnischer Beziehungen für die Bewältigung des Alltags an und handelt auch entsprechend. Von solchen Beziehungen ist sie nicht zuletzt für die Ausübung ihres Berufes abhängig, und als Pragmatikerin unternimmt sie darin erste Schritte in Richtung einer Versöhnung – die schwachen und berufsbedingten Beziehungen gewinnen dadurch einen zentralen Stellenwert für das Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen vor Ort. Mit den zwei anschließenden Falldarlegungen wird der Fokus von den Rückkehrerinnen und den Internvertriebenen auf diejenigen Menschen verschoben, die während der gesamten Kriegszeit in Prijedor verblieben sind – es handelt sich um die ›anderen‹ Frauen, die von Frau Sivac und Frau Begović angeklagt werden, sich mit den Kriegsereignissen nicht konfrontieren zu wollen. Als erstes wird Frau Živković präsentiert, eine der älteren Interviewten. Ihr Umgang mit der Kriegsvergangenheit unterscheidet sich tatsächlich deutlich von den bisher kennen gelernten Forderungen nach ungeschminkter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. So vertritt Frau Živković die Haltung, man müsse den Blick von der Vergangenheit weg in die Zukunft richten und dürfe die Thematik der Täter-Opfer-Relationen nicht länger den Alltag bestimmen lassen. Damit wird die beim Fall Sivac angesprochene Schwierigkeit, die zwei Gruppen vor Ort zu einer Annäherung zu bewegen, fokussiert und von der ›anderen Seite‹ beleuchtet.
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7. »Und ständig sagt man mir: Siehst du, was die Menschen aus deinem Volk gemacht haben?« Die NGO-Aktivistin Ljiljana Živković
Erst gegen Ende meines Forschungsaufenthaltes lernte ich Frau Živković kennen. Mit ihren 65 Jahren gehört sie zu den älteren Interviewten. Während der gesamten Kriegszeit lebte sie in Prijedor. Weder ihr Ehemann noch ihr Bruder waren in der serbischen Armee. Darin sieht sie den Hauptgrund, weshalb sie während des Krieges ihre Anstellung als Lehrerin verlor und ihr Ehemann seiner leitenden Stelle enthoben wurde. Nach dem Krieg hat sie im Ehrenamt die Präsidentschaft einer Nichtregierungsorganisation angenommen, welcher sie noch heute vorsteht. Der Kontakt zu Frau Živković kam durch die Vermittlung einer anderen Interviewpartnerin zustande. Sie selbst schlug vor, dass wir uns in den Büroräumlichkeiten ihrer Nichtregierungsorganisation treffen sollten. Erst eine spätere Einladung zu Kaffee und Kuchen erlaubte einen flüchtigen Einblick in Frau Živkovićs Wohnräume. Dies sei hier betont, weil, wie an anderer Stelle noch ausführlicher zu Sprache kommen wird, die Ausstattung der Wohnungen und Häuser sowie die Einrichtungsgegenstände immer wieder Anstoß zu Neid und Eifersucht zwischen im Ort Verbliebenen und Rückkehrerinnen und Rückkehrer geben. Am Tag des Interviews führte Frau Živković meine Assistentin und mich durch die Büroräumlichkeiten der Organisation und ins Sitzungszimmer, wo das Gespräch stattfand. Es standen bereits Mineralwasser und Kekse für die Zwischenverpflegung bereit. Diese wurden auch benötigt, dauerte doch das Gespräch um einiges länger als geplant. Als Frau Živković für das obligate Kaffeekochen kurz das Zimmer verließ, konnte sich die Feldassistentin nicht mehr zurückhalten. Sie informierte mich ziemlich aufgeregt darüber, dass Frau Živković in ekavischer Sprache spreche, also so, wie man in Serbien rede, und folglich ganz eindeutig nicht aus Prijedor stamme. Die Assistentin meinte sogar
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den Belgrader Dialekt herauszuhören (zu den sprachlichen Unterschieden vgl. Kapitel 3.1, zur Rolle der Assistentin siehe Kapitel 1.3). Aufgrund dieser sprachlichen Unterscheide wuchs die Neugier auf die lebensgeschichtlichen Ausführungen von Frau Živković. Kaum zurück mit Filterkaffee und Tee, forderte Frau Živković mich dazu auf, mit dem Interview zu beginnen. Es blieb kaum Zeit, das Aufnahmegerät einzuschalten. Ihre erste Antwort auf die Erzählaufforderung1 lautete: »Wenn ich erzählen würde, was vor dem Krieg war, was während des Krieges und jetzt, ich glaube, ich würde dann zwei bis drei Tage erzählen. Deswegen werde ich zusammenfassen, was Ihnen nützen wird.« Mit dieser Antwort nahm Frau Živković eine Expertenrolle ein, die sie so schnell nicht mehr ablegen würde. Ein erster Teil dieses Kapitels legt Frau Živkovićs lebensgeschichtliche Daten und ihre Sicht der Nachkriegsproblematik dar. Dabei soll, wie bereits bei den vorangehenden Fällen, Frau Živković selbst zur Sprache kommen. Erst der zweite Teil rückt die analytische Betrachtung in den Mittelpunkt des Interesses.
7.1 F ALLDARLEGUNG : D IE D OMICILNA Im Jahre 1940 wurde Frau Živković als mittleres von drei Kindern im Osten Kroatiens geboren. Der Vater (Jahrgang 1921) und ihre Mutter (Jahrgang 1920) waren beide als Angehörige der serbisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft in kleinen Dörfern aufgewachsen, hatten sich auf dem Land kennengelernt, geheiratet und bekamen drei Kinder. Der Vater war ausgebildeter Elektriker mit Mittelschulabschluss. Die Mutter hatte während lediglich vier Jahren die Grundschule besucht und danach auf dem elterlichen Hof und im Haushalt gearbeitet. Im Erwachsenenalter und nach der Heirat arbeitete sie neben ihren Aufgaben als Hausfrau und Mutter zusätzlich als Hilfspflegerin, um das Haushaltsbudget der Familie aufzubessern. Infolge eines Arbeitsplatzwechsels des Vaters siedelte die Familie Mitte der 1950er Jahre mit der damals 15 Jahre alten Frau Živković und ihren zwei Geschwistern nach Prijedor um. Die Beziehung zu ihren Eltern beschreibt Frau Živković als angespannt. Der Vater sei der autoritäre Hausherr gewesen, dessen Gerechtigkeitssinn sie zwar geschätzt, vor dem sie sich aber auch immer gefürchtet habe. Die Beziehung zur Mutter war ebenfalls früh konfliktbehaftet, was Frau Živković rückblickend 1 | Wie in Kapitel 2.2.3 ausgeführt lautete diese wie folgt: »Also ich kenne Bosnien ein wenig, wie es heute aussieht, weil ich seit 1999 immer wieder nach Bosnien gekommen bin und mich hier aufgehalten und mit Menschen gesprochen habe. Ich kenne aber Bosnien, also, ich kenne es nicht, wie es vor dem Krieg war. Können Sie mir ein bisschen Ihr Leben schildern, wie es ausgesehen hat vor dem Krieg, damit ich mir ein Bild machen kann?«.
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bedauert. Den Grund für die angespannte Beziehung sieht sie in ihrem eigenen Drang nach Selbständigkeit und ihrer Weigerung, die Ratschläge der Mutter ernst zu nehmen und ihre Vorschriften zu befolgen. Der Vater starb 1984, die Mutter 1998. Letztere hatte die Zeit des Bosnienkrieges wie auch ihre letzten Lebensjahre in Belgrad bei der jüngsten Tochter verbracht. Frau Živković wuchs mit einem vier Jahre älteren Bruder und einer sieben Jahre jüngeren Schwester auf. Der Bruder, der die Wirtschaftsmittelschule abgeschlossen hatte, starb an einer Herzerkrankung mitten im Krieg, im Jahre 1993. Ein großer Verlust für Frau Živković, die nach eigenen Angaben stets eine vertrauensvolle und intensive Beziehung zu ihm unterhalten hatte. Auch zu ihrer Schwester pflegt sie seit Kindertagen ein inniges Verhältnis. Nach der Ausbildung zur Pharmazeutin blieb diese Schwester in Belgrad und heiratete einen dort ansässigen Ökonomen. Die Beziehungen zur Schwester und Schwager (bos./hrv./srp. Zet) sind für Frau Živković bis heute zentral, vor allem auch, weil sie von ihnen großzügig finanziell unterstützt wird. Aber mit ihrer Schwester könne sie auch seit jeher alles Schöne und Schwierige im Leben teilen, sie seien sich wie Mutter und Vater. Das Aufwachsen im Elternhaus Živković sei für sie und ihre Geschwister nicht leicht gewesen, weshalb sie einander seit jeher die zentrale emotionale Stütze gewesen seien.
Frau Živkovićs (Berufs- und Ehe-)Biografie Wie Frau Sivac wurde auch Frau Živković in der Blütezeit des Titoismus erwachsen und erlebte den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung dieser Zeit als junge Frau mit. Im Alter von 20 Jahren heiratete sie einen ebenfalls nach Prijedor zugezogenen Serben. Wie sie sagt, gründete die Eheschließung auf Liebe, welche bis heute ihre Beziehung bestimme: »Wir sind nun seit 45 Jahren verheiratet. Vielleicht sind wir nicht mehr ganz so verliebt wie zu Beginn, aber Verwandte sind wir ja auch nicht. Wir führen eine sehr gute Ehe!« Nach dem Abschluss der Mittelschule zog Frau Živković in den 1960er Jahren zu ihrem Mann nach Belgrad, der sich dort an der juristischen Fakultät immatrikuliert hatte. Sie selbst schrieb sich an der philosophischen Fakultät ein. Nach Abschluss der Universität kehrte das junge Ehepaar nach Prijedor zurück. Der Ehemann fand als diplomierter Jurist eine Anstellung in der Verwaltung von Prijedor. Kurz nach dem Umzug, im Jahre 1969, kam ihr erstes Kind zur Welt. Frau Živković nahm nach der Geburt des Sohnes und dem Mutterschaftsurlaub ihre Tätigkeit als Lehrerin an der örtlichen Oberstufe wieder auf. Auch nach der Geburt ihrer Tochter im Jahre 1978 übte sie ihren Beruf weiterhin aus, bis ins Jahr 1993. Frau Živković erlebte das Vorkriegsleben als angenehm und sicher. Die Arbeitslosenquote sei tief gewesen, das sozialistische System gut organisiert. Als besonders positiv hebt sie hervor, dass das Kollektiv über dem Individuum stand, die Entscheidungsmacht bei der Partei lag und, »obwohl keine Demokra-
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tie herrschte, trotzdem alles geordnet war. Alles wurde von oben serviert.« Trotz der vielen positiven Aspekte des sozialistischen Systems betrachtet Frau Živković aber gerade die Tatsache, »dass alles von oben serviert wurde«, als möglichen Grund für den jüngst vergangenen Konflikt und zugleich als eine gefährliche Grundlage für das neue Bosnien-Herzegowina. Durch das System hätten die Menschen nie gelernt, für ihr Tun Verantwortung zu übernehmen. Im Gegenteil: sie überließen alles den Parteifunktionären in der Annahme, dass diese die Dinge schon richten würden. Die einschneidenste Folge davon sei, dass bis heute niemand ein politisches Bewusstsein als Bürger entwickeln konnte und alle die Entscheide von oben abwarten würden. Über das Zusammenleben vor dem Krieg ist Frau Živković nicht viel Konkretes zu entlocken. Auch auf mehrmaliges Nachfragen hin lenkt sie ihre Erzählung immer wieder auf die Nachkriegszeit und auf ihr Engagement in der lokalen Nichtregierungsorganisation. Immerhin lässt sich an einer Stelle im Interview entfernt das soziale Gefüge der Vorkriegszeit erahnen, in welchem sie sich bewegte: »Vor dem Krieg haben wir uns hier unter uns sehr geliebt. Die meisten meiner Freundinnen waren Musliminnen. Auch wenn ich eigentlich gar nicht wusste, wer Muslim, wer Kroate, wer Serbe war. Zum Beispiel meine damalige beste Freundin Amira. Ich brauchte mit ihr keine angestrengt zwangslose und tolerante Kommunikation zu führen, wie wir es heute nötig haben. Wir haben einfach miteinander fantastisch kommuniziert, und wir feierten zusammen unsere religiösen Feiertage wie Bayram2, Ostern oder Weihnachten. Das war nicht gestellt, das kam alles von Herzen und es zählte nicht, wer welcher Religion angehörte.«
Nebst diesen Freundschaften unterhielten Frau Živković, ihr Ehemann und ihre Kinder auch enge Kontakte mit einer muslimischen Familie, die im gleichen Hochhaus in der unmittelbaren Nachbarschaft (bos./hrv./srp. Komšiluk) wohnte. Frau Živković bezeichnet diese Familie als ihre »ersten Nachbarn« (bos./ hrv./srp. prvi Komšija)3 . Sie führt detailliert aus, dass diese ersten Nachbarn im Alltag eine zentrale Rolle spielten und die Beziehung vertrauensvoll war. Sie lebten Tür an Tür, ohne dass diese je verschlossen gewesen wäre. Die Kinder der beiden Familien spielten miteinander, besuchten dieselbe Schule, und die Mütter waren sich im Alltag eine oft unverzichtbare Stütze. Diese gegenseitige Verbundenheit, aber auch die große Abhängigkeit, brachten so viel Nähe mit 2 | Bayram beendet als Fest des Fastenbrechens den Ramadan, die Fastenzeit. Bayram ist eine türkische Bezeichnung für religiöse wie auch für staatliche Feiertage; Beispiele für religiöse sind etwa das Opferfest oder das Zuckerfest. 3 | Mit diesem Begriff nennt Frau Živkovi ć wie bereits ausgeführt eine für Bosnien-Herzegowina zentrale soziale Kategorie.
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sich, »dass wir jederzeit auch Intimes austauschen konnten.« Die erste Nachbarin war auch Frau Živkovićs Berufskollegin, die Frauen teilten also nicht nur das nachbarschaftliche Leben, sondern konnten sich auch über berufliche Erfahrungen und Probleme austauschen. Infolge der engen Bande zwischen den beiden Frauen freundeten sich auch die anderen Familienmitglieder an. Besonders Frau Živkovićs Tochter und der Sohn der Nachbarn waren in der Zeit vor dem Krieg ein Herz und eine Seele. Aber auch die Ehemänner wurden Freunde. Das hatte zur Folge, dass man nicht nur den Alltag teilte und berufliche Themen besprach, man unternahm auch Ausflüge und verbrachte die langen Sommerferien gemeinsam an der adriatischen Küste. Frau Živković resümiert, dass sie vor dem Krieg weder mit dem politischen System noch mit ihrer Anstellung oder der nahen sozialen Umgebung unzufrieden war. Das Leben vor dem Krieg war schön und unbelastet, es war ein Leben, das sie sich heute von Herzen wieder zurückwünscht.
7.1.1 Alltag im Krieg Das schöne Vorkriegsleben, so Frau Živković, wurde anfangs der 1990er Jahre von einer großen Lawine überrollt, welche die Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens im Jahre 1991 ausgelöst hatten. Diese Lawine brachte Unglück ins Land, denn erst sie brachte die Zerstörung der Vielvölkerrepublik nach Meinung von Frau Živković überhaupt ins Rollen: »Die Kroaten haben als erstes die Serben verjagt, wissen Sie. Dort fingen die ethnischen Säuberungen an und nicht hier. Erst dann kam der Krieg nach Bosnien, von dort kam er über die Grenze. Und dann machten die Serben hier das Gleiche, das man ihnen dort angetan hatte.« Der Kriegsausbruch ist ihrer Meinung nach dafür verantwortlich, dass sich in ihrem Alltag alles verändert hat. Ihre ersten Nachbarn, mit denen sie eine vertrauensvolle Beziehung unterhielt, waren eines Morgens verschwunden. Ohne Abschiedsworte, ohne Ankündigung. Unvermittelt und völlig unerwartet stellten sich also in ihrem Freundeskreis radikale Veränderungen ein: »Die meisten meiner Freundinnen, Nachbarinnen, richtigen Freundinnen sind plötzlich von hier weggegangen, ohne dass ich von ihren Plänen etwas gewusst hätte – so, ja, ich mag diese Periode nicht, ich möchte mich auch nicht daran erinnern.« Eine Erklärung für den Kriegsausbruch findet Frau Živković ohne große Umschweife im sozialistischen System und im Gehorsam, der den Menschen während der fünfzig Jahre seiner Existenz beigebracht wurde. Bereits in der Schule habe man den Kindern eingetrichtert, dass sie Respektpersonen Folge leisten müssten und »sich keine eigene Meinung bilden« dürften. Dass das Ausbildungssystem gehorsame Menschen hervorbrachte, bezeichnet Frau Živković deshalb als großen Fehler. Auch sie als Lehrerin brachte ihren Schülern bei, auf die zu hören, die sie anführten: »Es reichte zu sagen, komm, tu dies
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und tu jenes, und man hat das ohne Nachdenken gemacht.« Der Gehorsam ist ihrer Meinung nach auch einer der Hauptgründe, dass es zum Krieg kommen konnte: »Wir haben uns hier wirklich geliebt. Aber wenn man einmal den Apfel der Zwietracht 4 zwischen euch geworfen hat und ihr euch zu hassen beginnt, dann ... Und die haben alles gegeben, dass wir uns zu hassen beginnen. So sagten die Führer der einen Gruppe, diese seien nicht gut, die Führer der anderen, jene seien nicht gut.«
Den Krieg beschreibt Frau Živković als ansteckende Krankheit: »Wir alle haben uns angesteckt und waren krank, ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der während des Krieges gesund und normal war oder gesund geblieben ist, was den Verstand betrifft.« Mit dem Kriegsausbruch geriet Frau Živkovićs Leben also durcheinander. Ihre Freundinnen, Freunde und Bekannten verließen die Stadt, die Lebensmittel wurden knapp, die Medienwelt und alle öffentlichen Stellen wurden von Menschen dominiert, die sie nicht kannte. Die Stadt veränderte sich von einem Tag auf den anderen, plötzlich prägten Soldaten, Artillerie und Panzer das Straßenbild. Frau Živković konnte im Zentrum der Stadt und in ihrem Quartier keine direkten Kämpfe beobachten, doch sie erzählt von täglichem Kriegslärm und davon, wie sie von ihrer Wohnung aus die umliegenden Dörfer brennen sah. Der Krieg hatte auch Auswirkungen auf ihr ganz persönliches Leben und Umfeld. Im Jahre 1993 verlor Frau Živković ihre Stelle und somit auch den Status einer Lehrerin in der ehemals sozialistischen Gemeinschaft: »Ich wurde gefeuert, weil ich mich den Vorkommnissen hier nicht angepasst habe.« Die Entlassung ist für sie noch immer ein harter Schlag. Nach mehr als 20 Jahren Unterrichten an der gleichen Schule wurde sie entlassen, obwohl »ich weiterhin dieselbe blieb. Was ich vor dem Krieg dachte, dachte ich auch während dem Krieg und auch nach dem Krieg.« Sie kann ihre Entlassung deshalb nur schwer verstehen. Im gleichen Jahr wurde zudem ihr Mann von seiner leitenden Juristen Position auf eine einfache Angestelltenstelle versetzt. Frau Živković erklärt sich diese Herabstufung damit, dass ihr Ehemann wegen seiner immer schlechter werdenden Gesundheit nicht in die Armee eingezogen werden konnte. Auch ihr Sohn wurde nicht in die Armee eingezogen. Er hatte die Stadt bereits 1991 verlassen, kurz nach der Heirat und zusammen mit seiner muslimischen Ehefrau, in erster Linie, um der serbischen Mobilmachung zu entgehen. Deshalb kämpfte nachfolgend kein Familienmitglied der engeren Familie Živković in der serbischen Armee. »Wissen Sie, niemand aus meiner Familie hat etwas zum
4 | Frau Živkovi ć bedient sich dabei der Redewendung »Neko ubi č aj jabuku razdora me đ u vas« (dt. den Apfel der Zwietracht zwischen euch werfen).
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Krieg beigetragen. Alle waren weg oder krank.« Sie sieht dies als den Grund für ihre Entlassung und die Degradierung ihres Ehemannes. Frau Živković erzählt, dass ihr in die Schweiz desertierter Sohn aufgrund der ethnisch gemischten Ehe und der damit begründeten Unmöglichkeit einer Rückkehr in die Kriegsregion den Flüchtlingsstatus zugesprochen erhielt. »Ich war erleichtert. Stellen Sie sich vor, wenn sie wieder nach Prijedor hätten zurückkehren müssen. Mein Sohn fand dann zum Glück auch eine Anstellung in einem Landwirtschaftsmaschinenbetrieb.« Auch Frau Živkovićs Mutter verließ bei Kriegsausbruch die Stadt Richtung Belgrad, wo sie Unterschlupf bei ihrer jüngsten Tochter fand. Von Frau Živkovićs Familie blieb nebst Ehemann, Tochter und Bruder einzig die Ehefrau des Bruders (bos./hrv./srp. Snaha) in Prijedor zurück. Infolge der Trennung vom Sohn, der Schwiegertochter und der eigenen Mutter und ohne all die früheren Hausfreunde und Bekannten brachen für Frau Živković und den Rest ihrer Familie schwierige Zeiten in Prijedor an. Nach ihrer Entlassung und der Degradierung des Ehemannes waren es besonders die finanziellen Umstände, die sie belasteten: »Ich meine, ich hatte ein aufregendes Leben während des Krieges [lachen]. Ich blieb ohne Arbeit, ohne Lohn und auch ohne Hilfe, die man über das Rote Kreuz bekam. Mein Mann hatte einen derart mickrigen Lohn, dass man davon knapp Streichhölzer kaufen konnte. Wir hatten ein wirklich schweres Leben.«
Nur dank der großzügigen finanziellen Unterstützung durch die Schwester in Belgrad und den Sohn in der Schweiz konnte Frau Živković ihren Vorkriegsalltag einigermaßen aufrechterhalten. Sie konnte trotz Nahrungsmittelknappheit in Prijedor genügend Lebensmittel für ihren Mann und ihre Tochter besorgen. Vom Hunger blieben sie deshalb weitgehend verschont. Aber der Kriegsalltag ging an ihr, wie an den anderen Frauen, nicht spurlos vorüber, wie sie unterstreicht: »Im Krieg haben die Frauen die größte Last getragen. Niemand hat die Frauen um diesen Krieg gefragt, die Männer zeigten ihren Egoismus. Für die Frauen war der Krieg am schwersten, denn eigentlich mussten die Frauen die ganze Verantwortung für die Familie tragen. Wir mussten kochen, wenn es keinen Strom und kein Wasser gab, wir mussten Holz schleppen, weil die Zentralheizung nicht mehr funktionierte. Also, wir Frauen mussten wirklich große Schwierigkeiten aushalten.«
Besonders einschneidend und schmerzhaft war für Frau Živković der Tod ihres Bruders im Jahre 1993: »Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, würde er sicher noch leben. Vor dem Krieg hatte er eine große Operation am Herzen, und im Krieg wurde er nicht angemessen behandelt. So hat halt jeder etwas Schlim-
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mes erlebt.« Als wären der Verlust ihrer Arbeitsstelle und der Tod des Bruders noch nicht genug, erkrankte 1994 auch ihr Ehemann an einem Herzleiden. »Er war ja schon vorher gesundheitlich angeschlagen, und dann diese Krankheit .... Diesen Teil des Krieges liebe ich nicht, ich möchte mich daran nicht erinnern, weil es eine sehr hässliche und schwere Zeit für mich war.« Lange wusste Frau Živković nicht, ob ihr Ehemann die schwere Erkrankung überleben werde. Zu dieser Sorge und der Pflege ihres Mannes kam hinzu, dass sie für die alltäglichen Arbeiten nun gänzlich auf sich allein gestellt war, und dies während einer längeren Strom- und Wasserausfallperiode. »Wir waren 45 Tage ohne Strom, und wir wohnen im fünften Stock, können Sie sich das vorstellen? Wir hatten auch viele Tage kein Wasser. Also, mein Mann, am Herz erkrankt, darf nichts nach oben tragen, und ich trage das Holz, das Wasser und alles, alles, was man zum Kochen braucht.« Im gleichen Jahr wurde Frau Živković Großmutter. Sobald der Gesundheitszustand des Ehemannes ihre Abwesenheit zuließ, reiste sie in die Schweiz, den Enkelsohn zu besuchen. Im Gegensatz zu bosniakischen und kroatischen Landsleuten stand es ihr als Serbin auch während der Kriegszeit frei, jederzeit ins Ausland zu reisen. So unternahm sie auch 1995 eine Reise in die Schweiz, diesmal in Begleitung ihrer Tochter, die gerade die obligatorische Schule beendet hatte. Frau Živković erhoffte sich, dass die Tochter in der Schweiz eine gute Ausbildung absolvieren könne, und ließ sie deshalb beim Sohn zurück. Doch die Tochter fand den Anschluss ans Gymnasium nicht. »Ich wusste zuerst nicht, warum das nicht ging. An der Sprache konnte es nicht liegen, weil sie bereits vor der Einreise Deutsch sprach. Erst später sagte man uns, dass ihr bosnischer Schulabschluss nicht anerkannt wurde.« Die Tochter fand eine Anstellung als Hilfskraft in einer Bäckerei und konnte so zumindest etwas Geld verdienen. 1997, ein Jahr nach dem offiziellen Kriegsende, kehrte die Tochter nach Prijedor zurück. Doch auch an ihrem Herkunftsort fand sie nun den Anschluss an eine weiterführende Ausbildung nicht mehr, ebenso wenig eine Arbeitsstelle – eine für Frau Živković sehr belastende Situation, wünscht sie sich doch für ihre Kinder in beruflicher und sonstiger Hinsicht nur das Beste: »Wissen Sie, dieser Krieg hat die Jugend gestört. Jetzt haben wir hier eine ganze Generation ohne wirkliche Ausbildung, so, wie meine Tochter.« Laut Frau Živković stellt diese Generation eine schwere Hypothek für das Nachkriegsbosnien und eine schlechte Basis für die Zukunft dar. Junge Menschen ohne reale Berufsaussichten und ohne sinnvolle Beschäftigung können aus ihrer Sicht auch nicht für eine Zukunft des Landes einstehen. Zu viele kennt sie, die das Land wegen fehlender Zukunftsperspektiven verlassen wollen, und von vielen weiß sie, dass dieser Mangel der Beweggrund für die Emigration war.
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Die Zeit nach dem Krieg: Freude über die Rückkehr der Freunde »Also, nach dem, was hier geschah, also, nach Ausbruch des Krieges gab es hier große Veränderungen unter den Einwohnern. Deshalb habe ich mich dann über das Kriegsende sehr gefreut, und über die Rückkehr meiner Freundinnen. Gleich nach Ende des Krieges begann ich auch mit der Arbeit in der Organisation. Das war gut.«
Trotz ihres Engagements in der Nichtregierungsorganisation ist für Frau Živković der Arbeitsplatzverlust noch immer besonders einschneidend. Nach dem Krieg galt sie plötzlich als zu alt, um wieder als Lehrerin ins Berufsleben einsteigen zu können. Man schickte sie in Rente. Die Mitarbeit in der Nichtregierungsorganisation hat ihr aber zu einem neuen Arbeits- und Betätigungsfeld verholfen, das ihren Nachkriegsalltag bis heute bestimmt. Zusätzlich unterstützt sie ihre Tochter beim Aufbau eines Schönheitssalons. Ihr Ehemann arbeitet noch immer in der öffentlichen Verwaltung, sein regelmäßiges Einkommen ist für die Familie überlebenswichtig. Als Domicilna lebte die Familie Živković während der gesamten Kriegszeit in der gleichen Wohnung. Darüber ist Frau Živković froh, doch scheint das Alter der Wohnungseinrichtung sie so sehr zu beschäftigen, dass sie bei meinem Kaffeebesuch mehrere Male auf die alten Möbel aus den 1970er Jahren hinweist, ja, sich sogar für die durchgesessenen Polster entschuldigt. Gerne würde sie die Stücke mit neuen, modernen Möbeln ersetzen. Doch die finanzielle Situation nach dem Krieg lässt dies nicht zu: »Wissen Sie, nach dem Krieg sind wir arm geblieben. Wer auch immer ehrlich war, wer mit ihnen nicht mitgespielt hat, der ist ohne irgendetwas zurück geblieben. Alle meine Freunde sind zurückgekehrt und sie alle sind jetzt die Reichen, und ich bin hier die Arme. Denn alles, was ich hatte, habe ich verbraucht, alle Reserven, alles.«
Diese Art und Weise, die vor Ort lebenden Menschen zu unterscheiden, zeigt sich in den Gesprächen mit Frau Živković immer wieder. Zugehörigkeitskategorien und Ein- und Ausschlusskriterien hängen in ihrer Argumentation meist mit Krieg und Migration zusammen. So beispielsweise auch, wenn es um die Thematik der Arbeitslosigkeit und der raren Arbeitsstellen geht – ein Thema, das sie sehr beschäftigt: »In Prijedor leben immer noch sehr viele Flüchtlinge aus der kroatischen Krajina und solche aus den Dörfern, die sicher nicht mehr an ihre Herkunftsorte zurückkehren wollen. Und wir Domicilna müssen mitansehen, wie an allen Ämtern und anderen Arbeitsstellen diese unkultivierten [bos./hrv./srp. nekulturni] Flüchtlinge angestellt werden. Meine Tochter kann keine Arbeitsstelle finden, keiner von uns kann eine Arbeit bekommen, aber diese Flüchtlinge haben einen Arbeitsplatz.«
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In diesen beiden Zitaten verweist Frau Živković auf unterschiedliche Kategorien der Zugehörigkeit – Linientreue vs. Flüchtlings- und Dagebliebenenstatus, Privilegiert vs. Nichtprivilegiert bzw. wirtschaftlicher Status und Zugang zum (staatlichen) Arbeitsmarkt. Nebst der Abgrenzung von unkultivierten Flüchtlingen und Rückkehrenden legt Frau Živković aber auch auf einen weiteren Unterschied zu den anderen Bewohnerinnen Prijedors Wert: Sie schildert sich selbst als atypische Frau für die Region, deren Mentalität nicht mit jener der lokalen Frauen zu vergleichen sei. Sie begründet dies damit, dass sie in Osten Kroatiens aufgewachsen sei und deshalb eine gänzlich unterschiedliche Erziehung als die Prijedorerinnen und Prijedorer genossen habe. Zudem habe sie einen Mann geheiratet, der wie sie ursprünglich nicht aus Prijedor stamme: »Ich und mein Mann, wir sind gleichberechtigt. So, wie es im Westen ist, so ist auch unsere Ehe. Er engagiert sich im Haushalt, unterstützt mich, ich bin in allen Bereichen meinem Mann gleichgestellt. Ja, wir haben eine sehr entspannte Familiensituation.« Dazu im Gegensatz steht ihre Beschreibung der Beziehung zwischen Mann und Frau in Prijedor: »Die Mentalität des Mannes von hier ist immer noch so, dass er eine Frau hat, die für ihn wäscht und bügelt, die auf seine Kinder aufpasst, die kocht – das ist ihre Rolle. Und dass sie ihm eine gute Geliebte ist. Und das ist im Westen doch nicht mehr so!«
Das soziale Gefüge und die Rückkehr der Freunde Das von Frau Živković angetönte neue soziale Gefüge in Prijedor ist auch durch die Rückkehr ihrer verlorenen Freunde bestimmt. »Während des Krieges sind nur ganz wenige geblieben. Ich finde, das ist für mich der größte Verlust, der Verlust meiner Freunde.« Wie sie bereits für die Kriegszeit ausgeführt hat, leben viele ihrer ehemals zentralen Bezugspersonen heute im Ausland. Ihr lokaler Bekannten- und Freundeskreis sei deshalb viel kleiner als früher. »Und jetzt? Ich sage Ihnen, jede Rückkehr ist für mich ein Gewinn. Ich bin zufrieden, dass die Freunde zurückkehren, weil ich dadurch wieder die Möglichkeit habe, sie zu sehen. Wir waren doch wirklich eng befreundet.« Oft bleibt es ihrer Erfahrung nach aber bei der anfänglichen Freude über die Rückkehr und dem ersten Wiedersehen. Denn das Wiederaufnehmen und Pflegen dieser ehemals engen Beziehungen gestaltet sich für Frau Živković in der Nachkriegszeit als nicht ganz einfach. Wie sie sagt, leiden zu viele Menschen an den Folgen des Krieges und können den ehemals besten Freunden nicht mehr vertrauen: »Wie viele dieser Freunde unverletzt geblieben sind, das weiß ich nicht. Ich sage, mich freut ihre Rückkehr, aber es bleibt trotzdem eine Kluft zwischen uns bestehen.« Zwischen den ehemaligen Freundinnen und Frau Živković wird nicht mehr viel Persönliches ausgetauscht, die Beziehungen haben an Vertrautheit und Intimität verloren. Besonders die Kriegsereignisse stehen laut ihren Aussagen zwischen ihnen. Das Sprechen über diese Ereignisse ist für Frau Živković
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auch persönlich schwierig: »Ja, es bleibt eine Kluft zwischen uns. Wir berühren zwar die Kriegsperiode, aber ich kann über diese Zeit noch nicht normal reden. Ich persönlich mag es nicht, wenn man darüber spricht. So ist das eben.« Damit spricht Frau Živković einen wunden Punkt an: Der Blick in die Vergangenheit und der Austausch über die Kriegserlebnisse ist diffizil und für alle Beteiligten mit viel Unsicherheit und/oder Schmerz verbunden. Frau Živković betont die Schwierigkeit eines adäquaten Umgangs mit der Vergangenheit gleich mehrmals im Interview, am prägnantesten wie folgt: »Jeder hat etwas Schlimmes erlebt. Ich mag aber über diese Periode nicht sprechen. Mir ist völlig klar, dass man diese Zeit nicht wegwischen kann. Aber wissen Sie, wenn Sie etwas nicht geplant haben ... Ich habe das nicht geplant, und auch keiner, der mir nahe steht. Ich nahm daran auch nicht teil, und doch hat mich alles getroffen.«
Der Umgang mit der Vergangenheit Wie sich in der folgenden zentralen und deshalb in ganzer Länge wiedergegebenen Interviewpassage zeigt, fällt es Frau Živković schwer, ihren Erinnerungen, ihrem Schmerz und ihrer Trauer über die vergangenen Ereignisse Ausdruck zu verleihen. Sie scheint hin- und hergerissen zwischen Verschweigen und Besprechen der Ereignisse. Folgendermaßen wägt sie die für sie in Frage kommenden Umgangsarten gegeneinander ab: »Mein Mann z.B. hat seinen Vater in Jasenovac 5 verloren. Seine Mutter hat nie erlaubt, dass man darüber redet. Auch sind sie nie nach Jasenovac gegangen. Jetzt stellen Sie sich vor, wie oft mein Mann davon geträumt hat, wo sein Vater ist und dass er vielleicht zurückkommt. Er sagt: ›Ich denke auch jetzt noch, dass er von irgendwo her kommen wird.‹ So, dass … Ich stelle mir die Frage, ob es nicht besser wäre, das, was geschehen ist, zu verschweigen, damit die Kinder nicht belastet werden, damit es die Mütter nicht ständig wiederholen? Sie wärmen es ständig auf und sie lassen es nicht zu, dass es jemand verschmerzt, wissen Sie? Im Westen gibt es eine Art, wie soll ich sagen, dass man schwere Traumatisierungen überwindet. Wenn eine Person einen geliebten Menschen verliert, dann schickt man sie auf eine Weltreise, um diesen Verlust zu vergessen. Damit die Person später wieder funktionieren kann. Aber Sie wissen ja, was man hier jetzt macht? Jedes halbe Jahr erinnern sich die Menschen, was passierte. Los, wieder und wieder! Die Mütter und Schwestern werden sich deswegen noch zerreißen. Stellen Sie sich vor, wie schrecklich das ist, und jedes 5 | Jasenovac war eines der gefürchtetsten Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges; hunderttausende Serbinnen und Serben wurden dort von den Ustaša hingerichtet. Jasenovac liegt in Kroatien an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina, rund 50 km Luftlinie von Prijedor entfernt.
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Jahr erlebt man das Schwierigste. Das ist für die Psyche nicht gut. Alle werden noch verrückt! Und wie können Menschen neben sich jemanden tolerieren, wenn sie jedes Jahr wiederholen, was passiert ist? Ständig, ständig wärmen sie etwas auf, was schon längst nicht mehr zum Aufwärmen ist. Das soll nicht in Vergessenheit geraten, das soll man nicht vergessen, überhaupt nicht. Aber man soll ermöglichen, dass man ein anständiges Leben führt. Menschen können doch nicht in ihren Traumatisierungen leben. Also, das ist meine persönliche Meinung... Und wenn ich die Mütter in Srebrenica sehe, jedes Jahr zwei bis drei Mal, wenn es Manifestation gibt, dann weinen die armen. Sie weinen aus vollem Herzen, sie weinen nicht gestellt, sie weinen aus vollem Herzen. Stellen Sie sich vor, wie es ihre Seelen zerreißt. Alle zwei bis drei Monate erleben sie ihre Traumatisierungen wieder. Wenn ich das sehe – ich sage, ich weiß nicht, wie lange diese Frauen es noch aushalten werden. Wie können sie es nur aushalten? So denke ich, es ist besser, das zu tun, was meine Schwiegermutter getan hat. Sie wollte es ihren Kindern nicht einmal erzählen, noch erlaubte sie, dass sie darüber sprachen. Und sie unterscheiden sich halt – mein Mann ist ein sehr fröhlicher Mensch, wissen Sie! Er ist sehr unterhaltsam, ein geselliger Typ.«
Die Frage nach dem adäquaten Umgang mit der Vergangenheit ist ein Dilemma, das sich durch alle Gespräche mit Frau Živković zieht. Sie bekundet Mühe, für die Anderen und ihre Arten des Umgangs Verständnis aufzubringen. Denn ihrer Meinung nach belastet das repetitive Ansprechen der Kriegsereignisse die gesamte Gesellschaft zu stark und sollte deshalb unterlassen werden. Gleichzeitig macht sie aber als Vertreterin einer lokalen Nichtregierungsorganisation, die stark von ausländischer Finanzierung abhängt auf eine andere Betrachtungsweise der Situation aufmerksam: »Also, jeder hat seine Wahrheit, die abstoßend war, nicht wahr? Jeder einzelne. […] Also, wenn wir wollen, dass es heute ein multiethnisches Jugoslawien in Bosnien gibt, dann müssen wir lernen, wie das ist, dass ich jemandem, der neben mir steht, erst mal nur zuhöre, jemandem, der seine Wahrheit erzählt, nur zuhöre. Das haben wir noch nicht gelernt, uns gegenseitig zuzuhören.« Die ›Anderen‹ sollten also auch ihre Sicht auf die Problematik zur Kenntnis nehmen. Dies fordert sie, obwohl sie weiß, dass »ein Trauma nicht betoniert werden kann. Das arbeitet ständig.« Denn trotz Verständnis ist sie der Überzeugung, dass »wir das Trauma langsam zuheilen lassen müssen. Wir müssen daran arbeiten, dass es zuheilt. Und dazu sollen wir nicht ständig in der Wunde stochern. Denn wie sollen wir zusammen leben, wenn jemand ständig in der Wunde stochert? Wenn das ständig ein Stein des Anstoßes ist? Dann stellt sich die Frage, ob man überhaupt zusammenleben soll.« Frau Živković hat die kontinuierlichen Schuldzuweisungen der Anderen satt: »Und ständig sagt man mir: ›Siehst du, was die Menschen aus deinem Volk gemacht haben?‹«
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Einerseits weiß Frau Živković also, dass manche traumatisierten Menschen viel Zeit brauchen, um mit den erlittenen Verletzungen und Verlusten leben zu lernen. Andererseits will sie von eben diesen Menschen nicht mehr beschuldigt werden. Denn wie sie sagt, weiß sie, was einzelne Menschen getan haben, und sie ist der Überzeugung, dass diese Leute für ihr Tun auch verurteilt werden sollen. »Aber hören Sie auf, mich da ständig dazuzuzählen. Sehen Sie, eine Zeitlang traf ich mit einem Bosniaken zum Kaffee und immer wieder hat er mir die Nase damit vollgestopft, was die Serben gemacht haben. Aber so geht es nicht. Du kannst nicht das ganze Leben davon sprechen, das muss eines Tages zu etwas geformt werden, zu einem geschlossenen Sack oder einem geschriebenen Buch oder zu – was weiß ich.« Frau Živković fühlt sich von den Anderen zum Erinnern der Ereignisse gezwungen. Um dem etwas entgegenzusetzen, erzählt Frau Živković von ihrer Arbeit in der Nichtregierungsorganisation. Dort führte sie bereits kurz nach Kriegsende Frauen mit dem Ziel zusammen, eine gute zwischenmenschliche Basis für das zukünftige Zusammenleben in Prijedor zu schaffen: »Gleich nach Kriegsende fingen wir an, an Projekten des Zusammenlebens zu arbeiten. Das bedeutendste Projekt für mich war der Ausbau des Vertrauens unter den Menschen. Aber ein solches Vertrauen sollte an den Beispielen des Guten geformt werden, das während der Kriegszeit getan wurde. Wir haben es so betrachtet, dass man auf dem Bösen, das geschah, kein neues Vertrauen aufbauen kann. So haben wir nur Geschichten mit guten Beispielen erzählt haben. Also das, was während des Krieges gut war. Denn, wissen Sie, es gab auch in einer so schwierigen Zeit Gutes.«
Die Organisation wurde bereits kurz vor Kriegsausbruch von ihr mitgegründet. Sie hat sich, wie Frau Živković betont, nie politisch engagiert und bezog auch während der Kriegszeit nie Stellung. Aufgrund der Situation war die Organisation in dieser Zeit nahezu inaktiv. Deshalb ist sie in Frau Živkovićs Augen wie geschaffen, den Versöhnungsprozess zu unterstützen. Zudem ist sie der Überzeugung, dass heute, zehn Jahre nach Kriegsende, die Basis zwischen den Menschen bereits so gut sei, dass der Blick in Richtung Zukunft gerichtet werden könne und das Erinnern des Krieges langsam ein Ende haben müsse.
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7.2 F ALL ANALYSE : U NBE TEILIGT VON AUSSEN BE TR ACHTEN Im Folgenden sollen insbesondere Frau Živkovićs Engagement in der Nichtregierungsorganisation, aber auch ihr persönlicher Umgang mit der Vergangenheit rekonstruiert werden. Auf diese Weise lässt sich die Thematik der OpferOpfer- und Opfer-Täter-Relationen, die mit den beiden ersten Falldarlegungen beleuchtet wurde, um eine weitere Perspektive ergänzen. Während die beiden vorangehenden Fälle symptomatisch für das Verlangen nach vollständiger Aufklärung der Ereignisse stehen, lässt sich anhand von Frau Živkovićs Ausführungen die andere Seite verdeutlichen, die den Blick von der Vergangenheit abwenden und ihn in die Zukunft richten will. Bereits die Einstiegssequenz ins Interview macht deutlich, dass sich Frau Živković im Gespräch als Expertin präsentiert und damit eine Distanz zwischen sich und der Prijedorer Bevölkerung aufbaut. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Art und Weise, wie Frau Živković im Interview auf die Fragen antwortet, und die Art der Vergleiche, die sie unentwegt anstellt: Gesamthaft gesehen, gibt sie wenig Persönliches preis und spricht lieber über die Situation ganz allgemein, über die Stellung der Frau in der Gesellschaft und über die allgemeinen Entwicklungen im multiethnischen Bosnien. Indem sie sich als Expertin präsentiert, schreibt Frau Živković sich selbst eine Außenposition zu. Dies kommt beispielsweise in jener Passage zum Tragen, in der sie ihre Ehe als gleichberechtigt darstellt und mit dem ›westlichen‹ und angeblich gleichberechtigten Ehemodell in Verbindung bringt, ganz im Gegensatz zu den Ehen diverser ihr bekannter Prijedorerinnen, die in Frau Živkovićs Beschreibung als ungleichberechtigt und nachteilig für die Frauen erscheinen. Anhand der Ehe und der patriarchalen Prijedorer Ehemänner betont sie ihre Zugehörigkeit zur westeuropäischen Moderne und nimmt Abstand von den vor Ort verankerten und von ihr als traditionell bezeichneten Geschlechterrollen. Bei Frau Živković zeigt sich also ein starkes Distanzierungsbemühen zu den Ereignissen und den anderen Einwohnerinnen und Einwohnern Prijedors. Dadurch kann sie einen neutralen Standpunkt einnehmen, einen, der auf Unbetroffenheit trotz gleichzeitiger Anwesenheit hinweist. Aus dieser Position ist es ihr möglich, das Geschehene zu beobachten, die Situation vor Ort zu analysieren und als Expertin Red und Antwort zu stehen.
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7.2.1 Die Zeit der Liebe – die Zeit des Hasses – die Zeit der Ernüchterung 6 Mit den drei Bezeichnungen – Zeit der Liebe, Zeit des Hasses und Zeit der Ernüchterung – fasst Frau Živković treffend die drei abgefragten zeitlichen Phasen zusammen. Mit der »Zeit der Liebe« bezeichnet Frau Živković die Vorkriegszeit. Ein passender Begriff für eine Ära, die sich durch Sicherheit, Wohlstand und vor allem auch intakte soziale Beziehungen auszeichnete und der Herstellung der gesamtjugoslawischen Identität diente. Frau Živković betont, dass in ihren sozialen Beziehungen damals nicht das ethnoreligiöse Moment, sondern die sozioökonomischen Merkmale und das Wohnen in unmittelbarer Nähe für die Vergemeinschaftung zentral waren. Besonders wichtig in der alltäglichen sozialen Unterstützung waren für sie die ersten Nachbarn und Hausfreunde. Mit diesen Begriffen bringt sie für Bosnien-Herzegowina zentrale soziale Kategorien ins Gespräch. »Erste Nachbarn« steht bei Frau Živković für eine sehr wichtige und vertrauensvolle Beziehung, in der sie die nötige Unterstützung für die Bewältigung des Alltags fand. Es war diese Beziehung, die ihr Verortung und soziale Einbettung bot. Umso erstaunlicher ist es, dass sie die Vertreibung ihrer engsten Freundinnen und Freunde und der ersten Nachbarn als »plötzliches Weggehen« bezeichnet. Erstaunlich, weil Frau Živković damit eine neutrale, emotionslose und gewissermaßen viel zu wertfreie Formulierung für das wählt, was vor Ort passierte. Denn gerade aufgrund der Nähe und Vertrautheit, die sich mit den ersten Nachbarn über die Jahre hinweg einstellte, hätte man eine andere Wortwahl für die Bezeichnung dieses Verlustes erwartet (bspw. ›sie mussten fliehen‹ oder ›sie wurden vertrieben‹). Weshalb sich Frau Živković diesen wichtigen Bezugspersonen gegenüber plötzlich so distanziert verhalten hat, ist auch den Nachbarn selbst bis heute unverständlich. Der nun erwachsene Sohn dieser Familie erwähnt in einem Gespräch sein Unverständnis darüber, »dass die Familie Živković nichts unternommen hat, um uns vor den serbischen Angriffen zu schützen und zu warnen. Das war für mich ein 6 | Die Bezeichnung dieser drei Zeiten erinnert an die Ausführungen des Ethnologen Ivan Č olovi ć . Er hält in seinem Buch »Das Bordell des Kriegers« (1994) den Unterschied fest zwischen einer Sprache der Liebe, die der (Wieder-)Herstellung der (serbischen) ethnischen Identität dient, und einer Sprache des Hasses, die zu einer Stärkung gegen die ›Bedrohung‹ von außen beiträgt. Die Sprache der Liebe zeigt alle Merkmale des ethnischen Zusammengehörigkeitsgefühls. Mit Stereotypen wird »das Bild der serbischen ethnischen Identität mit den Erfordernissen der neuen nationalistischen und populistischen Ideologie und Kriegspropaganda« in Einklang gebracht (Č olovi ć 1994). Die Sprache des Hasses ist laut Č olovi ć weit kreativer, weil sie auf mehrere miteinander verbundene Register zugreift: Beschuldigungen, Verurteilungen, Drohungen, Verwünschungen, Beschimpfung und Verspottung. Siehe auch Ugreši ć (1995: 82).
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großer Schock und ist mir bis heute unverständlich.« Der Sohn unterstellt Frau Živković mit der ausgebliebenen Warnung etwas Ähnliches wie Frau Begović ihren Nachbarinnen und Nachbarn unterstellt hat, nämlich exklusives Wissen. Die Serben und Serbinnen wären durch das exklusive Wissen durchs Band weg Eingeweihte und Mitwisser gewesen, die deshalb auch eine Warnung hätten aussprechen können. Es sind diese Vorkommnisse, die ein Wiederaufnehmen der Beziehungen heutzutage massiv erschweren und den Aufbau des Vertrauens mehr oder weniger verunmöglichen. Aufgrund von Frau Živkovićs Schilderung der engen und vertrauensvollen Beziehungen in der Vorkriegszeit erstaunt es zudem sehr, dass sie im Interview nichts Konkretes über die Veränderungen ihrer Beziehungen durch den Kriegsausbruch erwähnt, ja diese Veränderungen quasi negiert (die Freundinnen und Nachbarn waren »plötzlich weg«). Denn diese Veränderungen dürften ihr kaum verborgen geblieben sein; spätestens der Wegfall der Beziehungen wirkte sich spürbar auf Frau Živkovićs eigenes Leben aus und brachte auch in ihrem Alltag einschneidende Veränderungen mit sich. Auf die Zeit der Liebe folgt in den Worten von Frau Živković »der Krieg als die Zeit des Hassens und des Mordens«, was angesichts der Ereignisse durchaus als zutreffende Bezeichnung erscheint. Allerdings bleiben ihre Ausführungen zur Kriegszeit sehr dürftig und das, was sie erzählt, ist in erster Linie von Persönlichem und wenig Allgemeinem bestimmt. Ihr eigenes Schicksal während der Kriegszeit rückt sie damit in den Vordergrund. Für die Kriegszeit kommt also gerade die umgekehrte Art und Weise des Erzählens zum Tragen als für die Vor- und besonders die Nachkriegszeit. Zu diesen beiden Zeitperioden macht Frau Živković mehrheitlich verallgemeinernde Aussagen. Das Betonen des Persönlichen entspricht also nicht grundsätzlich ihrer Art des Erzählens, sondern ermöglicht es ihr, sich selbst als Opfer der Kriegszeit darzustellen. Für die Nachkriegszeit wählt sie den Begriff der Ernüchterung. Mit diesem Begriff zeigt sich eine realistische Einschätzung der Herausforderungen der Nachkriegszeit, insbesondere, was die Täter-Opfer-Relationen und das zukünftige Zusammenleben betrifft. Wie die meisten Interviewpartnerinnen berichtete auch Frau Živković von einer anfänglichen Euphorie unmittelbar nach dem Krieg, von einer großen Hoffnung auf Verbesserung und Veränderung der Lebenssituation. Die Hoffnungen beruhten auf dem Demokratisierungsprozess und der Unterstützung durch die Regierungen westeuropäischer und nordamerikanischer Länder sowie Japans. Heute ist diese Stimmung einer Niedergeschlagenheit gewichen. Die Menschen sind enttäuscht, weil sich ihre Situation in mancher Hinsicht eher zum Schlechteren entwickelt hat. In ihrer Einschätzung der drei zeitlichen Perioden ist Frau Živković Frau Sivac und Frau Begović ähnlich, allerdings zeigt sich in der Art der Betroffenheit ein markanter Unterschied: Während Frau Sivac und Frau Begović interniert und vertrieben wurden und Verluste unterschiedlicher Art erlitten, beschreibt sich Frau Živ-
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ković als Frau, die gerade wegen ihrer Nichtteilnahme am Krieg unter seinen Auswirkungen litt und nun als Opfer der Ereignisse einen adäquaten Umgang mit der Vergangenheit finden muss. Im Folgenden sei Frau Živkovićs Opferkonstruktion genauer ausgeführt, um eine derjenigen Problematiken anzusprechen, die das Zusammenleben vor Ort massiv erschweren: die Viktimisierung der gesamten Gesellschaft.
Der Zwang, sich an Vergangenes zu erinnern Frau Živković unterscheidet im Interview zwei verschiedene Arten des Umgangs mit der Vergangenheit: Einerseits erläutert sie ein Schweigen über das Geschehene (das vielleicht sogar als ein Verdrängen des Geschehenen bezeichnet werden kann), andererseits beschreibt sie ein repetitives und öffentliches Weinen und Klagen der Mütter und Schwestern (nie sind es die Ehefrauen). Sie zeigt eine ambivalente Haltung diesen zwei unterschiedlichen Umgangsweisen gegenüber und verweist damit auf die schwierige Suche nach einem geeigneten Weg zur Versöhnung der Menschen vor Ort. Anhand des Beispiels der Mütter aus Srebrenica7 führt sie diese Problematik weiter aus. Diese Mütter und Schwestern, die öffentlich weinen und ihre Toten beklagen, können darin als Sinnbild für Frauen verstanden werden, die auserkoren werden, die Trauerarbeit der Gemeinschaft zu übernehmen. Nie sind es die Männer, die mit dieser Art der Trauer in Zusammenhang gebracht werden (auch in den Medien werden in Zusammenhang mit diesem Anlass meist weibliche Trauernde gezeigt, was nicht weiter erstaunt, da es sich bei den Überlebenden von Srebrenica hauptsächlich um Frauen und Kinder handelt). Da Frau Živković ihre Argumentation rund um die Beisetzungszeremonien in Srebrenica knüpft, können die Trauernden auch als bosniakische Frauen bezeichnet werden. Es sind also Bosniakinnen, die sich von Frau Živković und ihrer Art der Trauer unterscheiden. Als Sinnbild für die bosniakischen Frauen stehen die Mütter und Schwestern aus Srebrenica aber auch, weil die Bosniakinnen und Bosniaken der Gemeinde Prijedor ebenfalls in wiederkehrenden Zeremonien ihrer Opfern gedenken und die seit der letzten Bestattung neu identifizierten Angehörigen beisetzen. Zur Zeit der Feldforschung fanden solche Anlässe alle zwei bis drei Monate statt, nicht nur in Prijedor, sondern auch in den umliegenden Dörfern. Diese Zeremonien und Gedenktage sind bestimmendes und verbindendes Merkmal der bosniakischen Gemeinschaft und zugleich ein Moment, das die ethnischen Serbinnen und Serben ausschließt. Frau Živković schweift aber in das weit entfernte Srebrenica, um die in ihren Augen belastende Art des Umgangs mit der Vergangenheit zu verdeutlichen. Damit muss sie die Ereignisse vor Ort nicht ansprechen. Das deutet auf ein Verdrängen oder Leugnen: Die Mehrheit der 7 | Srebrenica liegt in Ostbosnien; dort ermordeten das bosnisch-serbische Militär und das Paramilitär im Juli 1995 rund 8.000 Muslime.
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serbischen Gemeinschaft in Prijedor und ganz besonders die politischen Vertreter wünschen sich, die Ereignisse relativieren zu können oder sie bewusst zu verschweigen, wenn nicht gar zu leugnen (wie in Frau Sivac’ Ausführungen zur Konferenz des ICTY in Kapitel 5.1.3 zu sehen). Eine öffentliche Auseinandersetzung würde die Politiker und die Mehrheitsbevölkerung dazu zwingen, ihre eigene Rolle während des Krieges zu reflektieren und gewisse Zugeständnisse zu machen. Dieser Prozess ist noch nicht zu beobachten. Frau Živković kann zudem mit dem Verweis auf Srebrenica und dem Verschieben des Fokus von Prijedor weg ihre Expertenrolle stärken, weil sie mit den Ereignissen dort ja nichts zu tun hatte und demnach auch nicht als Schuldige bezeichnet werden kann. Allerdings symbolisieren die jährlichen Gedenktage in Srebrenica ebenso wie jene in Prijedor eine neue kulturelle Praxis, mit der Frau Živković unwillentlich konfrontiert wird und für die sie deshalb einen Umgang finden muss. Zu diesem Zweck bezieht sie die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die hohen serbischen Verluste in ihr Narrativ ein. In der damaligen Nachkriegszeit untersagten die machthabenden Kommunisten rund um Tito bewusst ein Betrauern der Opfer nach ethnischen Kriterien. Die Erlebnisse und Verluste des Zweiten Weltkrieges durften nicht öffentlich beweint werden. Gedenktage durften nur begangen werden, wenn sie in Zusammenhang mit den Partisanen und allen jugoslawischen Opfern standen. Diese Praxis stellt der Srebrenica-Gedenktag auf den Kopf, weil nun klar und deutlich benannt wird, wer im Sommer 1995 die Opfer und wer die Täter waren. Das Benennen der Opfer und Täter geschieht deshalb auf eine sehr ausschließende Art und Weise: Die Opfer-Täter-Relationen sind starr und die Zuschreibung der Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe wird festgeschrieben, denn die Musliminnen und Muslime sind die alleinigen Opfer des Krieges, während die Serbinnen und Serben allesamt der Tätergruppe zugeteilt werden. Dagegen wehrt sich Frau Živković, die mit dem Krieg nichts zu tun haben wollte und gerade deshalb ebenso zu seinem Opfer wurde. Nicht nur die Gedenkfeierlichkeiten in Srebrenica, die jedes Jahr weltweit mediale Aufmerksamkeit erhalten, sondern auch die in Prijedor zelebrierten lassen sich also als Symbol für den kollektiven bosniakischen Umgang mit der Vergangenheit verstehen. Damit stehen diese Feierlichkeiten in einem markanten Gegensatz zur sehr individualisierten Art und Weise, wie Frau Živkovićs Schwiegermutter mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und dem Verlust ihres Ehemannes umging und wie Frau Živković selbst mit der jüngsten Vergangenheit umgehen kann. Dieser Umgang besteht im Schweigen über die traumatischen Ereignisse und im Einnehmen einer zukunftsorientierten Haltung, die das Wohl der nachkommenden Generationen ermöglichen soll. Frau Živković stellt also zwei Umgangsweisen einander gegenüber: das kollektiv-öffentliche Gedenken und Klagen und das individuell-private Verschweigen. Darin zeigt sich, dass sie klar und differenziert die unterschiedlichen Um-
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gangsarten erkennt und reflektiert. Obwohl die Gedenkfeierlichkeiten und das öffentliche Weinen und Beklagen der Ereignisse nicht dem entsprechen, was sie bevorzugt, anerkennt sie diese Rituale als eine mögliche Art der Vergangenheitsbewältigung. Das Abwägen zwischen öffentlichem Gedenken und dem für sie adäquaten Schweigen ihrer Schwiegermutter stellen also die beiden Pole ihrer Überlegungen dar. Frau Živković begründet schließlich ihre eigene Haltung damit, dass durch das konstante »Aufwärmen« der Ereignisse die Trauer auf die Kinder externalisiert werde und somit die nachfolgenden Generationen belaste. Denn das Klagen, die Beisetzungen und die Gedenkfeiern zerrten das traumatische Ereignis immer wieder und in aller Öffentlichkeit an die Oberfläche und verhinderten somit ein Überwinden des Verlustes und die Rückkehr in die Normalität. Für die Begründung dieser Ansicht zieht sie zwei verschiedene Erklärungsrahmen bei: Zum einen den Umgang ihres eigenen Ehemannes, der den Verlust seines Vaters gerade durch das (von der Mutter bestimmte) Verschweigen verkraften konnte und trotz des tief verankerten und wohl auch belastenden Wunsches nach der Rückkehr des Vaters ein fröhlicher und geselliger Mann wurde. Er vergaß seinen Vater nicht, hielt ihn also schweigend in Erinnerung. Zum anderen verweist Frau Živković in ihren Ausführungen auf eine im Westen praktizierte Art, mit dem Verlust geliebter Menschen umzugehen: Sie ist davon überzeugt, dass man im Westen solche Verluste einfacher überwinde, weil die Betroffenen auf Reisen geschickt würden. Mit den wiederholten Verweisen auf die Bewältigungsstrategien des Westens und des Ehemannes bejaht Frau Živković folglich zwei Verhaltensweisen, welche mit Verdrängen und Beschweigen umschrieben werden können – der passende Begriff »beschwiegene Vergangenheit« wurde von Adorno geprägt und soll verdeutlichen, dass die Vergangenheit zwar beschwiegen werden kann, in den Köpfen der Menschen aber stets präsent bleibt (Adorno 1977). Dazu im Gegensatz steht, wie in den Fallgeschichten Sivac und Begović dargelegt, die Forderung nach bedingungsloser und öffentlicher Anerkennung der Opfer und der Taten und einem öffentlichen Erinnern des Vergangenen. Exemplarisch stehen sich also Opfer- und Täterseite gegenüber, und Frau Živkovićs Ausführungen machen deutlich, dass sie tatsächlich schwer zur Synthese zu bringen sind. Denn auch mit ihrer Frage »Wie können Menschen neben sich jemanden tolerieren, wenn sie jedes Jahr wiederholen, was gewesen ist?« oder mit der Aussage »ständig in der Wunde stochern« spricht Frau Živković die Unvereinbarkeit der beiden Umgangsarten an. Um in ihrer Terminologie zu sprechen: Der Prozess des Aufbrechens und das aktive Erinnern der Vergangenheit halten die Wunde offen, und sorgen damit dafür, dass sie weiterhin schmerzt, nicht heilen kann und das heutige Alltagsleben und den Blick in die Zukunft behindert. Unvollständig mutet ihre Argumentation an, wenn sie sagt, dass ein erlittenes Trauma »nicht betoniert« werden könne. Betonieren kann als Konservieren eines Traumas gelesen werden. Das Konservieren verunmög-
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licht ein Abheilen des Traumas, es bleibt als Trauma bestehen und es kann mit den Jahren nicht Vergangenheit werden. Aus ihrer Sicht hat aber genau das bei ihrem Ehemann funktioniert: er wünscht sich zwar manchmal noch heute, der Vater komme zurück, wie es halt ist, wenn man nach Jahren an einen lieben Verstorbenen denkt. Aber er blieb nicht in der Trauer verhaftet und brauchte seinen Vater auch nicht zu vergessen. Frau Živković selbst vertritt also die Auffassung, die erlittenen Traumata müssten geheilt werden. Folgt man ihrer Logik, dann heilt eine Wunde am ehesten, wenn man sie in Ruhe lässt. Dabei blendet Frau Živković allerdings aus, dass vor der Heilung die Wunde zuerst erkannt und versorgt werden muss. Denn die Trauernden weinen an den Gedenkfeierlichkeiten vermutlich nicht zum wiederholten Mal um längst beerdigte Angehörige, sondern können endlich die seit dem letzten Mal neu Identifizierten beklagen und bestatten. Wären von Anfang an alle Massengräber bekannt gegeben worden, wären die Verschollenen längst identifiziert, beerdigt und die Ungewissheit hätte ein Ende und die Angehörigen hätten sich ›beruhigen können‹, wie Frau Begović es ausdrückte. Laut Frau Živković soll es also ein Heilungsprozess sein, der die Wunden nicht wieder aufreißt, ein Heilungsprozess, der die Ereignisse nicht dauernd wieder aufleben lässt. Mit dieser Ansicht nimmt sie eine Position zwischen den von ihr beschrieben und auch kritisierten Umgangsweisen – der kollektiv-öffentlichen und der individuell-privaten – ein. Eine zusätzliche Komponente wird den verschiedenen Umgangsformen mit weiteren Aussagen aus Frau Živkovićs Interview hinzugefügt: Es sind die Aussagen dazu, dass sie den Krieg weder geplant noch unterstützt hat und dass sie als Frau während der Kriegszeit ungefragt die alleinige Verantwortung für die Familie tragen musste. Damit wird sie als Frau zum Opfer des von Männern begonnenen Krieges. Daraus spricht eine pauschalisierende ›Entpersönlichung‹ der Schuld: nicht Individuen, nicht Frau Živković, tragen Schuld am Geschehenen, sondern das Unpersönliche, repräsentiert in einem politischen respektive männlichen Kollektiv. Hierbei muss sicherlich bedacht werden, dass die Anderen sie immer wieder der Tätergruppe zuordnen. Die Aussage »Und ständig sagt man mir: Siehst du, was die Menschen aus deinem Volk gemacht haben?« deutet mit Nachdruck darauf hin. Ihre Zugehörigkeit zum Kollektiv, das Schuld am Krieg trägt, ist also eine von außen an sie herangetragene, währenddem sie selbst sich als Opfer der von Männern herbeigeführten Kriegsereignisse und deren Folgen empfindet. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Schwierigkeit pauschalisierender Zuschreibungen: Frau Živković weist darauf hin, dass nicht alle Serbinnen und Serben auch tatsächlich Täter sind und verdeutlicht, dass ganz besonders die Frauen Opfer der von Männern verübten Taten wurden. So, wie also Frau Sivac die Aufklärung der Verbrechen, egal, wer welcher Seite angehörte und eine Anerkennung der Opfer und ihrer Angehörigen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit fordert, verlangt Frau Živković, pauschalisierende Zuteilungen zur Tätergruppe aufgrund der Ethnie zu unter-
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lassen. Darin zeigt sich eine mögliche Gemeinsamkeit der beiden interviewten Frauen. Das deutet auf zweierlei, das in Kapitel 11 und 12 ausführlicher diskutiert wird: Zum einen zeigt sich das Phänomen einer gesamtgesellschaftlichen Viktimisierung. Alle in Prijedor fühlen sich als Opfer der Ereignisse. Verständlich, denn alle leiden unter den Folgen des Krieges. Doch wo nur Opfer sind, werden Fragen nach Verantwortung der ›eigenen Seite‹, nach der Rolle der politischen Führung und den Tätern im eigenen Umfeld verdrängt. Zum anderen spricht Frau Živković eine von vielen Seiten gelobte Toleranz an, mit der sich die Bosnierinnen und Bosnier in der Nachkriegszeit begegnen sollen, um eine Kooperation oder zumindest Ko-Existenz und gegenseitigen Respekt zu ermöglichen. Nebst den Zugehörigkeiten zur Opfer- und Tätergruppe zeigen sich bei Frau Živković aber auch andere Kategorien der Zugehörigkeit, die die Annäherung der vom Krieg unterschiedlich betroffenen Gruppen aus ihrer Sicht erschweren kann. Zum einen gibt es vor Ort Privilegierte und Nichtprivilegierte, womit sowohl der wirtschaftliche Status als auch der Zugang zum (staatlichen) Arbeitsmarkt angesprochen ist. Zum anderen sind es die Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die Flüchtlinge und die Dagebliebenen, die sich gegenüberstehen und die aufgrund ihrer Kriegs- und Migrationserlebnissen unterschiedliche Ressourcen für die Bewältigung ihres Alltags zur Verfügung haben. So sind aufgrund der Ausführungen von Frau Živković die Dagebliebenen nicht automatisch Sympathisanten der (einheimischen) Täter – also Linientreue – und die Flüchtlinge (resp. die Internvertriebenen) aus den umliegenden Dörfern und der kroatischen Krajina sind nicht automatisch Opponenten. Gut geht es in ihrer Sicht offenbar in erster Linie denen, die mit den Tätern fraternisierten oder ins Ausland flohen, während sie, die damals quasi vor Ort ausharrte, dafür noch heute bestraft wird. Wie bei den vorangehenden Fällen werden auch hier die sozialen Netzwerke im Detail untersucht. Dabei interessiert, inwiefern Frau Živković nach dem Krieg über ein tragbares soziales Netz für die Bewältigung ihres Alltags verfügt. Aufgrund der Ausführungen in der Lebensgeschichte kann man annehmen, dass sie viele Freunde und Bekannte verloren hat und heute nur noch über ein geringes Sozialkapital verfügt. Nachfolgend werden deshalb Gestalt und Dichte der Netzwerke, aber auch Geschlechter- und ethnoreligiöse Homogenität sowie die Wichtigkeit transnationaler Beziehungen für die Bewältigung ihres Nachkriegsalltags betrachtet.
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7.2.2 Vor- und Nachkriegsnetzwerke im Vergleich: Die Position »in-between« Abbildung 11: Vorkriegsnetzwerk Ljiljana Živković
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Abbildung 12: Nachkriegsnetzwerk Ljiljana Živković
Die Gestalt der Netzwerke Frau Živkovićs Vorkriegs- und Nachkriegsnetzwerk unterscheiden sich erheblich. Dies zeigt sich bereits beim Vergleich der Größe. Das Netzwerk vor dem Krieg enthält zwanzig Alteri, wovon elf mit Frau Živković verwandt sind und neun als Freunde, Freundinnen oder Bekannte bezeichnet werden. Für die Zeit nach dem Krieg nennt Frau Živković gesamthaft nur noch zwölf Bezugspersonen, verwandtschaftliche Beziehungen überwiegen und ein beachtlicher Anteil der Beziehungen ist transnational ausgerichtet. An nichtverwandtschaftlichen Beziehungen befinden sich in ihrem Nachkriegsnetzwerk lediglich vier: eine zu ihrer Haushaltshilfe, die zweite zu einer neuen Freundin und die dritte und vierte zu einem bereits vor dem Krieg befreundeten Ehepaar, zu dem nun aber
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keine starken, vertrauensvollen Verbindungen mehr bestehen. Diese nichtverwandtschaftlichen Beziehungen weisen keine affektiven Komponenten mehr auf und unterstützen Frau Živković weder finanziell noch instrumentell – mit Ausnahme der Haushaltshilfe, die für ihre Leistung aber entlöhnt wird. Da Frau Živković für soziale Unterstützung auf praktisch keine Freunde mehr zurückgreift, ihr Netzwerk also vorwiegend verwandtschaftlich ausgerichtet ist, wirkt das Netz eher geschlossen. Auch die Dichte gibt darüber Auskunft. Das Netzwerk vor dem Krieg ist eher lose geknüpft, der Wert der Dichte liegt bei 0,32. Der Grund dafür ist ebenfalls in der Zusammensetzung des Netzwerks zu sehen: Frau Živković nennt ungefähr gleich viele Verwandte wie Freunde, wobei einige Freunde nicht mit ihren Verwandten bekannt sind oder zumindest nicht in regelmäßigem Kontakt stehen. Damit ergeben sich in ihrem Vorkriegsnetzwerk zwei Subgruppen, die untereinander nur lose verknüpft sind. Für das Netzwerk der Nachkriegszeit liegt der Dichtewert deutlich höher, bei 0,65. Der höhere Wert ergibt sich aus der Tatsache, dass das Nachkriegsnetzwerk doppelt so viele Verwandte enthält wie Freundinnen und Freunde: Beziehungen unter Verwandten sind üblich, ihr relativ großer Anteil führt allerdings zur höheren Dichte; für den Fall von Frau Živković bedeutet der hohe Anteil an Verwandtschaftsbeziehungen, dass sie sich heute in einem inkludierenden Beziehungsverbund bewegt.
Emotionale Unterstützung Ein ähnliches Bild zeichnet sich ab, wenn die beiden Netzwerke spezifisch auf die emotionale Unterstützungsleistungen befragt werden: Während vor dem Krieg nebst der Kuma (dt. Trauzeugin), der Tochter und dem Ehemann auch zwei Freundinnen Frau Živković emotional unterstützen, sind es nach dem Krieg nur noch der Ehemann und die Tochter. Damit sind zentrale Unterstützungsleistungen, die in ein sekundäres Umfeld reichen könnten, nicht mehr vorhanden. Ehemann und Tochter stellen darüber hinaus im lokalen Netzwerk die einzigen multiplexen Beziehungen dar. Ansonsten holt sich Frau Živković ihre emotionale Unterstützung aus transnationalen Beziehungen. Im Nachkriegsnetzwerk zeigt sich bei ihr also ein vermutlich kriegsbedingter Rückzug in Familie und Verwandtschaft. Frau Živković verlor im Krieg sechs von sieben Freundschaften. Da sie vor Ort verblieb, hätte sie die Möglichkeit gehabt, neue lokale Beziehungen zu knüpfen. Auf den ersten Blick erstaunt es daher, dass ihr Nachkriegsnetzwerk lediglich eine neue freundschaftliche Beziehung enthält. Vor dem Hintergrund ihrer Fallgeschichte belegt es allerdings die Problematik, die Frau Živković selbst ansprach: Niemand aus ihrer Familie wirkte aktiv am Krieg mit, und sie selbst wurde entlassen, weil sie die serbische Propaganda nicht unterstützen wollte. Dass sie nur eine neue Freundschaft knüpfte, erscheint daher als Zeichen einer Abgrenzung von und/oder durch die Domicilna, die Frau Živković und ihren Ehemann möglicherweise als Verräter an der ›ser-
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bischen Sache‹ sehen. Freundschaftliche Beziehungen mit Zurückgekehrten wiederum konnte Frau Živković bisher weder auf der alten Ebene aufnehmen noch neu knüpfen. Ein Grund ist in der von ihr erfahrenen Fremdzuschreibung ›Serbin gleich Angehörige der Tätergruppe‹ zu sehen. Damit verweist Frau Živković auf eine Gleichsetzung der Täter-Opfer mit der ethnischen Zugehörigkeit und auf eine gleichzeitige Abwehr der Zugehörigkeit zur Tätergruppe ihrerseits. Auf diese Art und Weise scheint sie eine Position zwischen den Domicilna und den Rückkehrenden einzunehmen. Es erweisen sich also auch in diesem Fall die Kriegs- und Migrationserfahrungen für die unterschiedlichen Zugehörigkeiten (Täter-Opfer, Linientreue-Verweigerer, Dagebliebene-Zurückgekehrte, Domicilna-Flüchtlinge) als bestimmend.
Geschlechterhomophilie? Beim Blick auf die Geschlechterzugehörigkeit fällt auf, dass vor dem Krieg besonders die Beziehungen zwischen Frau Živković und ihren weiblichen Bezugspersonen ein dichtes Geflecht bildeten. Ganz anders die männlichen Bekannten und Freunde: Sie waren eher lose untereinander bekannt und weniger stark mit dem verwandtschaftlichen Netz verflochten als die Freundinnen. Auf diese Geschlechterunterschiede in ihrem Netzwerk weist Frau Živković selbst hin, wenn sie sagt, bei Hausfreunden und ersten Nachbarn seien für sie vor allem die Beziehungen zu den Frauen zentral für jegliche Unterstützungsleistungen gewesen. In ihrem Vorkriegsnetz kann aber deshalb noch nicht von einer Geschlechterhomophilie gesprochen werden. Gerade im Vergleich zu Frau Sivac, die ja über geschlechterhomophile Netzwerke verfügt, sind Frau Živkovićs Netzwerke heterogener ausgestaltet. In ihrem Vorkriegsnetz sind zwei Fünftel der Bezugspersonen Männer und drei Fünftel sind Frauen. Anders in der Nachkriegszeit: Hier sind zwei Drittel der Bezugspersonen Frauen, währenddem nur noch ein Drittel Männer für soziale Unterstützung genannt werden.
Das idealtypisch bosnisch-weibliche Netzwerk Ein weiteres Merkmal des Vorkriegsnetzwerks von Frau Živković präsentiert sich im sogenannt idealtypisch Bosnisch-Weiblichen: Sie verfügte vor dem Krieg nicht nur über eine ›gute‹ Mischung aus freundschaftlichen und verwandtschaftlichen, geschlechterheterogenen sowie ethnisch gemischten, starken wie schwachen Beziehungen, die ihr den Zugang zu unterschiedlichsten Unterstützungsdimensionen eröffneten. Doch eigentlich ist es die Darstellung der erweiterten familiären Beziehungen8 – wozu Frau Živković die eigenen Eltern sowie ihre Schwester, die Zaova (dt. die Schwester des Ehemannes), den Zet 8 | Die engere Familie, d.h. die Kernfamilie, umfasst die Ehepartner und die Kinder. Dies ist die kleinste Einheit der Gesellschaft, in der die Reproduktion und ein großer Teil der Sozialisation stattfindet.
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(dt. Schwager, in diesem Fall der Bruder des Ehemannes) und ihre Svekrva (dt. Schwiegermutter) zählt – die auf ein solch typisches Netzwerk bosnischer Frauen schließen lassen. Zwar verlässt Frau Živković ihre Herkunftsfamilie bei ihrer Heirat, die Beziehungen zu ihren konsanguinen Mitgliedern der Herkunftsfamilie werden aber beibehalten. Frau Živković nennt sie nicht nur für Besuche, sondern auch für instrumentelle und emotionale Unterstützung als wichtig. Die Beziehung zur jüngeren Schwester ist für sie diesbezüglich die zentralste. In Bezug auf das ›idealtypisch bosnisch-weibliche‹ Netzwerk sind es aber im Besonderen die Ausführungen über die Beziehung zur Schwiegermutter, die einen wichtigen und auffallend zentralen Stellenwert einnehmen. Ihre Schwiegermutter deckte zu ihren Lebzeiten nicht nur Unterstützung in instrumentellen Belangen (Hausarbeiten, Kindererziehung, Vorbereitung religiöser Feste etc.) ab, sondern war für Frau Živković auch eine wichtige Quelle emotionaler Unterstützung. Es ließe sich fast sagen, dass die Schwiegermutter eine neue oder zweite Mutter der jungen Ehefrau wurde. Frau Živković beschreibt das Verhältnis denn auch als »eine sehr gute und wertvolle Beziehung. Ich konnte ihr ganz viel Persönliches anvertrauen und als wir bei ihr lebten, waren das die zwei schönsten Jahre meines Lebens!« Darin unterscheidet sie sich von den meisten anderen Interviewpartnerinnen: Diese schildern die Beziehung zur Schwiegermutter als besonders angespannt, konflikt- und konkurrenzbehaftet, währenddem die Mutter die Vertraute bleibt, der man sich Rat in Erziehungsfragen sowie bei Problemen mit Ehemann und Schwiegerfamilie holt.
Ethnoreligiöse Homophilie nach dem Krieg? In ihrer ethnoreligiösen Zusammensetzung haben sich Frau Živkovićs Netzwerke grundlegend verändert. Vor dem Krieg waren es vorwiegend die Verwandten und die Familienmitglieder, die der gleichen Ethnie angehörten. Fast alle nichtverwandtschaftlichen Beziehungen waren hingegen ethnisch heterogen: Von den neun nichtverwandten Bezugspersonen gehörten nur eine der serbischen, aber je vier der kroatischen und der bosniakischen Ethnie an. Ganz anders in der Nachkriegszeit: Zu Nichtverwandten bestehen lokal nur noch vier Beziehungen. Davon reichen zwei zu einem bosniakischen Ehepaar in die Vorkriegszeit zurück, sind nun aber nur noch schwach ausgeprägt. Die beiden anderen nichtverwandtschaftlichen Kontakte sind ethnisch homogen und neu: eine freundschaftliche Beziehung zu einer Serbin und ein schwacher Kontakt zur serbischen Haushaltshilfe. Bei Frau Živković zeigt sich also eine besonders deutliche Veränderung in Richtung ethnisch homogenem Nachkriegsnetzwerk, während das Vorkriegsnetzwerk aus der ethnischen Perspektive diversifizierter, aber auch lokaler ausgerichtet war.
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Transnationalität Nach dem Krieg sticht nebst der ethnischen Homophilie die Transnationalität ins Auge. Von zwölf Beziehungen reichen fünf in andere Länder. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass Frau Živkovićs Beziehungen zur Schwester und deren Ehemann (bos./hrv./srp. Zet) erst mit dem Zerfall Jugoslawiens zu transnationalen Beziehungen wurden. Schwester und Schwager leben in Belgrad, das von Prijedor aus gesehen erst seit dem Krieg im Ausland liegt. Seit seiner Flucht aus Prijedor lebt auch der Sohn mit seiner Ehefrau im Ausland. Wie gesehen, ist dieser für die finanzielle Unterstützung relevant. Als weiteres auffallendes Merkmal erscheint in beiden Netzwerken die Kuma (dt. Trauzeugin), die Frau Živković auch als beste Freundin bezeichnet. Diese lebt seit dem Krieg im Ausland. Sie wurde durch ihre Rolle als Trauzeugin bei Frau Živkovićs Hochzeit zu einer Wahlverwandten, was einer künstlichen Erweiterung der Verwandtschaft entspricht. Mit dieser Kuma ist das in Südosteuropa zentrale Konzept der Patenschaft angesprochen, genannt Kumstvo (siehe Kapitel 4.3.2). Diese Beziehung ist mit großem Respekt verbunden, wobei üblicherweise ein sehr guter und enger Freund zum Paten gemacht wird. Alle Interviewpartnerinnen nannten den Trauzeugen als wichtige Person. Traditionellerweise fungiert er als Zeremonienmeister bei der Hochzeit und bleibt dem Ehepaar normalerweise ein Leben lang verbunden – normalerweise sei betont, da der Krieg viele dieser Patenschaften zerbrechen ließ. Nicht so bei Frau Živković. Sie konnte diese Beziehung sowohl über nationale Grenzen hinweg als auch über die Kriegszeit hinweg erhalten. Anhand der Ausführungen von Frau Živković zeigt sich in Bezug auf die Kumstvo eine Veränderung: Der Literatur ist zu entnehmen, dass früher ausschließlich Männer die Rolle des Trauzeugen einnehmen konnten. Bereits in der sozialistischen Zeit wandelte sich diese Vorschrift und ließ auch Frauen in dieser Rolle zu. Bei praktisch allen Interviewpartnerinnen war es die Kuma, hier die Trauzeugin, die ganz besonders im Vorkriegsnetzwerk eine zentrale Position im Beziehungsgewebe einnahm. Zusammenfassend lässt sich beim Vergleich der beiden Netzwerke von Frau Živković festhalten, dass ihr Netzwerk nach dem Krieg in mehrfacher Hinsicht auf eine geringe Integration deutet. Das Netzwerk ist erstaunlich klein und besteht mehrheitlich aus verwandtschaftlichen Beziehungen. Erstaunlich deshalb, weil anzunehmen wäre, sie verfüge durch ihre Arbeit in der NGO über viele schwache Beziehungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Dass das Bild von dieser Erwartung abweicht, könnte sich zumindest teilweise auf ihre Kriegserfahrung, die mögliche Stigmatisierung als Verräterin an der ›serbischen Sache‹ und eine entsprechend erschwerte Aufnahme von Beziehungen zurückführen lassen. Allerdings zeigt sich hier auch eine bereits angesprochene Problematik der Netzwerkanalyse: Der eingeschränkte Fokus der Fragen hat bei der Netzwerkerhebung möglicherweise dazu geführt, dass ins-
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besondere schwache Beziehungen, die Frau Živković über ihre Arbeit knüpfen kann, nicht erfasst wurden und deshalb ein verzerrtes Bild des Vorkriegs- wie auch Nachkriegsnetzwerkes entstand. Dennoch, mit der Netzwerkanalyse lässt sich festhalten, dass sich eine tatsächliche Veränderung des Beziehungsnetzes bzw. des Umfeldes ergeben hat. Die Tatsache, dass Frau Živković fast alle ihrer vertrauensvollen Freundschaften verlor, bis heute lediglich eine neue knüpfen und keine alten wiederaufnehmen konnte, verdeutlicht ihre eher isolierte Situation vor Ort.
7.3 F ALLKONKLUSION Anhand von Frau Živkovićs Ausführungen lassen sich für die Prijedorer Nachkriegsgesellschaft zentrale Punkte festhalten, die es zulassen, den Aussagen von Frau Sivac und Frau Begović weitere Diskussionsebenen hinzuzufügen. Frau Živković war durch den Krieg nicht direkt betroffen. Sie wurde weder vertrieben, noch hat sie in Kriegshandlungen Familienangehörige verloren. Unter anderem deshalb präsentiert sich ihre Umgangsweise mit der gewaltgeprägten Vergangenheit anders als jene von Frau Sivac oder Frau Begović. Frau Živković bringt selbst zwei unterschiedliche Umgangsweisen zur Sprache: zum einen das bewusste, kollektive, öffentliche und nach Auseinandersetzung verlangende Erinnern wie bei Frau Sivac, zum anderen die von ihr bevorzugte Umgangsweise im individuell-privaten Rahmen. Frau Živković nimmt dabei durchaus wahr, dass während des Krieges schlimme Dinge geschehen sind. Sie ist sogar davon überzeugt, dass alle Schlimmes erlebt haben und jede Seite ihre »abstoßende Wahrheit« habe, Verbrechen also auf allen Seiten begangen wurden. Da sie selbst an der Ausübung der Verbrechen nicht beteiligt war, ja unter Umständen erst im Nachhinein davon erfahren hat, lässt sich an ihrem Beispiel die Perspektive eines sogenannten Bystander erörtern9: Frau Živković hielt sich zwar in der Umgebung der Kriegstaten auf, konnte diese aber nicht verhindern. Ein Bystander befindet sich in einer zwiespältigen Situation: Einerseits drängen ihn Normen der Menschlichkeit und der Verantwortung zu einem Eingreifen, andererseits lähmen rationale sowie irrationale Befürchtungen jegliche Aktivität und Intervention. Mangelnde Hilfsbereitschaft oder fehlende Zivilcourage in einer so gefährlichen Situation wie dem bosnischen Krieg können Frau Živković wohl kaum zum Vorwurf gemacht werden. Ihre Sorge um die eigene Sicherheit und diejenige ihrer Familie waren vermutlich ausschlaggebend dafür, dass sie den Freundinnen und Freunden weder beistand noch sie vorwarnte. In den Zitaten äußert sie sich sogar dahingehend, als habe sie die Gefahr, die ihren 9 | Dies ist ein Phänomen, das ganz besonders in der Sozialpsychologie diskutiert wird. Siehe dazu u.a. Clarkson (1997).
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Freunden und Freundinnen drohte, überhaupt nicht wahrgenommen – diese waren einfach plötzlich weg. Von außen erscheint das, als habe sie die Gefahr komplett ausgeblendet. Zudem war bekannt, dass die wenigen Serbinnen und Serben, die sich gegen die serbische Propaganda stellten, selbst Repressionen und Bedrohungen ausgesetzt waren. Die Folge davon waren ein weit verbreitetes kollektives Nichthandeln und eine apathische Grundhaltung. Es sind diese Gründe, weshalb sich Frau Živković heute dagegen wehrt, zur Tätergruppe gezählt zu werden. Problematisch aus Sicht der kriegsbetroffenen Frauen ist allerdings die von Frau Živković und anderen Serbinnen und Serben inszenierte Selbstdarstellung als Opfer und ihr entsprechendes Verhalten in der Nachkriegszeit. Sicherlich haben alle Seiten nach einem solchen Krieg Gründe, sich als Opfer fühlen. Dennoch bestehen Unterschiede zwischen den Opfern, etwa darin, ob jemand wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zu einer Gruppe verfolgt wurde und dabei an Leib und Leben bedroht war oder nicht. Frau Živković fühlt sich zuallererst als Frau zum Opfer gemacht, das unter dem von Männern ausgerufenen und geführten Krieg zu leiden hatte, ohne um seine Meinung gefragt worden zu sein, und die gesamte Verantwortung für das Wohlergehen der Familie allein tragen musste. Diese Verantwortlichkeiten und die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis drängten sie in die klassische Rolle der Hausfrau, die ohne Unterstützung von dritter Seite für die Familie zu sorgen hatte. Zusätzlich musste sie Aufgaben übernehmen, die traditionellerweise den Männern vorbehalten waren. Allerdings eröffneten ihr diese Aufgaben nicht neue Handlungsspielräume, sondern erhöhten eher die empfundene Belastung. Ähnliches zeigt sich ihrer Meinung nach heute: Es obliegt den Frauen, den Trauerprozess der Gemeinschaft zu übernehmen und damit auch eine adäquate Umgangsweise mit den vergangenen Ereignissen zu finden. Die Männer werden mit dem emotional beladenen Trauer- und Versöhnungsprozess äußerst selten in Verbindung gebracht. Die traditionelle Rollenaufteilung – die Frau ist für die sozialen Kompetenzen wie Kommunikation, Trauer, Wohlergehen der Familienmitglieder etc. verantwortlich, der Mann hingegen ist für das technische Know-How wie zum Beispiel den Häuseraufbau zuständig – scheint auch in der Nachkriegszeit einmal mehr gefestigt zu werden. Die von Frau Živković geschilderte Beziehungsstruktur wird deutlich von unterschiedlichen Zugehörigkeitsmomenten durchdrungen: Täter-Opfer, Linientreue-Verweigerer, Dagebliebene-Zurückgekehrte, Domicilna-Flüchtlinge. Wie bei Frau Begović und Frau Sivac auch, zeichnen insbesondere die Kriegsund Migrationserfahrungen bei Frau Živković für diese Ein- und Ausschlüsse verantwortlich. Da Frau Živković während des Krieges in Prijedor blieb, gehört sie für die Rückkehrenden offensichtlich zu den Domicilna – sie nimmt den Status einer Dagebliebenen ein, die allzu oft und meist automatisch als Sympathisantin der serbischen Sache gegenüber betrachtet wird. Damit rechnen die
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Rückkehrerinnen und Rückkehrer sie der Tätergruppe zu. Allerdings zeigt sich, dass die Domicilna sie implizit des Kriegsverrats beschuldigen. Ihre schwierige Situation in der heutigen Gemeinschaft der Domicilna führt Frau Živković auf ihre Entlassung, die Entbehrungen während des Krieges sowie ihre heutige Erwerbslosigkeit und die Probleme ihrer Tochter bei der Stellensuche zurück. Dies sind Merkmale, die bei ihr einen Ausschluss erkennen lassen. Diejenigen Serbinnen und Serben – sei es die Zurückgekehrten, die Internvertriebenen oder die Domicilna –, welche die ›serbische Sache‹ vertraten und unterstützten, besetzen heute die raren Arbeitsstellen. Damit verweist sie auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, der die Menschen vor Ort in Privilegierte und Nichtprivilegierte einteilen lässt. Gleichzeitig mit dem Hinweis auf den Ausschluss durch die Domicilna grenzt sich Frau Živković aber auch von den Rückkehrerinnen und Rückkehrern ab. Es sind insbesondere die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Domicilna und den aus dem Ausland Zurückgekehrten, welche für Ein- und Ausgrenzungsmechanismen zwischen diesen beiden Kategorien zuständig sind. Damit lässt sich schließlich aussagen, dass es aus Sicht von Frau Živković offenbar denen gut geht, die mit den Tätern fraternisierten, oder denen, die ins Ausland flohen und ›reich‹ zurückkehrten. Auf diese Mechanismen wird anhand des nächsten Falles vertieft eingegangen. Im nächsten Fall wird eine der jüngsten Frauen der Untersuchtengruppe in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Frau Ivanović ist unverheiratet und lebte während der gesamten Kriegszeit in Prijedor. Sie verlor ihren Bruder im Krieg. Ein harter Schicksalsschlag, der ihre Einstellung gegenüber den ›Anderen‹ deutlich veränderte. Aufgrund der Kriegsereignisse beobachtet Frau Ivanović seit dem Kriegsende und seit der Rückkehr der Vertriebenen in die Region eine Vertiefung der Kluft zwischen den vom Krieg unterschiedlich betroffenen Gruppen. Das Phänomen der Viktimisierung, also der Selbstwahrnehmung als Opfer, lässt sich mit der Falldarlegung von Frau Ivanović weiter ausführen. Auch lässt sich aufzeigen, dass sich tatsächlich beide Seiten als Opfer der Ereignisse fühlen und dies eine zentrale Problematik der Prijedorer Nachkriegsgesellschaft im Hinblick auf einen möglichen Versöhnungsprozess im Kern erfasst.
8. »Die Kluft zwischen uns vertieft sich.« Die Staatsangestellte Jelena Ivanović
Jelena Ivanović ist eine der jüngeren Interviewten. Bei Kriegsausbruch in Bosnien stand sie als Teenager kurz vor Abschluss der obligatorischen Schulzeit. Ihr Bruder wurde zu Beginn des Krieges an die Front beordert, wo er kurz vor Kriegsende im Jahre 1995 fiel. Dieser Todesfall war für die Familie Ivanović ein weitreichendes Ereignis: Die Ehe der Eltern zerbrach, Jelena Ivanović selbst orientiert sich seit dem Tod des Bruders für soziale Unterstützung in erster Linie an ihren Freunden und Bekannten. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet die unverheiratete, kinderlose Frau in der öffentlichen Verwaltung. Wir trafen uns an einem ihrer freien Nachmittage in ihrer liebsten Kafić 1, die über einen Hinterhof mit den für die heiße Sommerzeit unverzichtbaren Sonnenschirmen verfügte. Da sie sich mit ihrer Mutter eine Mietwohnung teilte, wollte sie mich lieber nicht zu Hause empfangen. Nur zögerlich kam ich Frau Ivanovićs Wunsch nach, das Interview in einer öffentlichen Kafić durchzuführen. Gründe dafür gab es viele. Nebst dem verpassten Einblick in die Wohnverhältnisse und der Unmöglichkeit, weitere Familienmitglieder zu treffen, war es vor allem das Fehlen des ruhigen Ambientes privater Räume, das für Tonbandaufnahmen wichtig ist, eine Kafić aber nicht bietet. Der Lärmpegel in der Kafić ist in der Regel hoch, vor allem wegen der konstanten Beschallung mit sogenanntem Turbo-Folk, wie die serbische, nationalistisch gefärbte populäre Musik bezeichnet wird2 . Auf meine Bedenken hin bat Frau Ivanović den Besit1 | Zur Begriffserklärung siehe Kapitel 4.1. 2 | Im Turbo-Folk werden »Elemente des volkstümlichen Schlagers in ein poppiges Gewand verpackt« (Burkhalter 2004). Die traditionelle serbische Volksmusik ist kein Teil des Turbo-Folks und war es auch nie, das scheint serbischen Musikwissenschaftlern wichtig zu betonen. In den 1990er Jahren avancierte der Turbo-Folk zum medialen Ausdruck der Kriegs- und Mafia-Kultur Belgrads und Serbiens. Die Liedtexte sollten unter anderem die serbische Armee und die Paramilitärs zu Heldentaten anstacheln. Die Texte der heutigen Turbo-Folk-Lieder haben sich nur geringfügig vom nationalistischen
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zer der Kafić, die Musik leise zu stellen. Es waren jedoch nicht nur die Hintergrundgeräusche, die gegen ein Interview an diesem öffentlichen Ort sprachen. Es bestand auch die Möglichkeit, dass Jelena Ivanović Fragen zur Kriegsvergangenheit, aber auch zu persönlichen Beziehungen und ihrer Einschätzung der aktuellen Situation in diesem öffentlichen Raum zu wenig ausführlich beantworten könnte. Für Frau Ivanović schienen diese Bedenken indessen unbegründet zu sein, fühlte sie sich doch weniger bei ihrer Mutter als vielmehr in der öffentlichen Kafić zuhause, dem Treffpunkt ihrer Freunde. Dass der Interviewort Frau Ivanovićs Person und Lebensweise durchaus gerecht wurde, zeigt sich im Verlaufe der nachfolgenden Falldarlegung und -analyse. Doch es ist nicht nur der Ort, der das Interview von den anderen unterscheidet. Auch Frau Ivanovićs offene Art, mir zu begegnen, zeichnet sie aus: Sie kam neugierig auf mich zu und machte von Beginn an keinen Hehl daraus, dass sie sich mir, nicht nur aufgrund des Alters und des gleichen Zivilstandes, ähnlich fühlte. So war sie die einzige Gesprächspartnerin, die mich von sich aus duzte und sich nach dem Interview auch über mein Leben, meine Lebensumstände und meine Einschätzung der bosnischen Nachkriegssituation erkundigte. Es scheint, dass sich zwischen uns von Beginn an eine solidarische Beziehung einstellen konnte, die insbesondere auf der Zugehörigkeit zur gleichen Generation und dem gleichen Zivilstand fußte. Dies zeigt sich auch in Frau Ivanovićs direkter Ausdrucksweise, die bei der Übersetzung beibehalten wurde.
8.1 F ALLDARLEGUNG : I M K RIEG DEN K INDERSCHUHEN ENT WACHSEN Zum Zeitpunkt des Interviews war Jelena Ivanović 28 Jahre alt (Jahrgang 1977). Sie ist die Zweitgeborene eines serbisch-orthodoxen Lehrerehepaars urbaner Herkunft. Ihr Vater, geboren 1946, stammt aus einer größeren Stadt Mittelbosniens. Er wuchs dort während der titoistischen Blütezeit auf, nahm am wirtschaftlichen Aufschwung des sozialistischen Jugoslawiens teil und wurde durch den ausgeprägten Säkularismus der damaligen Zeit beeinflusst. Nach seiner Ausbildung zum Mittelschullehrer siedelte er wegen eines Stellenangebotes als Lehrer nach Prijedor um. Bis heute arbeitet er in seinem angestammten Beruf. Die Mutter, geboren inmitten der Kriegswirren des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1942, wuchs in einer Kleinstadt in der Nähe von Sarajevo auf. Auch sie absolvierte die Ausbildung zur Mittelschullehrerin und zog nach dem Abschluss nach Prijedor, um ihre erste Stelle anzutreten. Dort lernte sie ihren künftigen Erbe gelöst. Die alten Turbo-Folk-Lieder der 1990er Jahre sind zudem immer noch weit verbreitet und geniessen bei den jungen Menschen eine grosse Popularität (siehe Burk halter 2004).
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Ehemann kennen und die beiden heiraten kurz darauf. Frau Ivanovićs Mutter arbeitet bis heute als Lehrkraft an einer örtlichen Schule. Nebenamtlich ist sie Präsidentin einer Nichtregierungsorganisation3, in welcher sich Angehörige gefallener serbischer Soldaten zusammenfinden. Die Gründung dieser NGO geht auf die Initiative von Frau Ivanovićs Mutter zurück. Im Jahre 1973 wurde dem jungen Ehepaar das erste Kind geboren. Frau Ivanovićs vier Jahre älterer Bruder absolvierte nach der obligatorischen Schulzeit die Ausbildung an der elektrotechnischen Mittelschule. Danach fand er Aufnahme an der Militärakademie, um sich zum Offizier ausbilden zu lassen. Doch der Kriegsausbruch 1991 in Slowenien und Kroatien veränderte seine Berufslaufbahn. Die Ausbildungsgänge wurden unterbrochen, und er wurde zusammen mit den anderen Kadetten in die serbische Armee eingezogen und an der Front stationiert. Kurz vor Kriegsende, im September 1995, kam er an der Front ums Leben. Frau Ivanović selbst durchlebte ihre Adoleszenz in den späten 1980ern und den frühen 1990ern. Sie wuchs, wie sie betont, »mit den Muslimen auf, nicht wie die jüngeren Menschen, die im Krieg aufgewachsen sind und das multiethnische Leben gar nicht mehr kennen.« Inmitten der Kriegswirren beendete sie 1993 ihre obligatorische Schulzeit. Es war für sie eine schwierige Zeit, in die auch ihre Berufswahl fiel. Aufgrund des Krieges waren nicht alle Ausbildungsstätten erreichbar. Sie wählte eine Ausbildung, die sie in Prijedor absolvieren konnte: Elektrotechnik, wie seinerzeit ihr Bruder. Ob für die Berufswahl persönliche Präferenzen oder eher die eingeschränkte Bewegungsfreiheit infolge des Krieges ausschlaggebend war, lässt sich anhand des Interviewmaterials nachträglich nicht beantworten. Sicherlich war es zur jugoslawischen Zeit aber nichts Außergewöhnliches, dass Frauen aus westlicher Sicht eher männlich konnotierte Berufsfelder – wie beispielsweise Elektrotechniker oder Ingenieurberufe – wählten. Heute geht Frau Ivanović dem erlernten Beruf nicht mehr nach. Sie ist im öffentlichen Dienst tätig.
Das langsame Eintauchen in den Krieg Wie bei den meisten anderen Interviewpartnerinnen ist auch Frau Ivanovićs Rückblick auf das Vorkriegsleben nostalgisch gefärbt. Sie schildert das Leben vor dem Krieg als schöne, unbeschwerte und glückliche Zeit, sowohl für sie als auch für ihre Bekannten. Arbeitsplätze gab es in ihrem Umfeld genug, daher verfügten die Mitglieder ihrer Familie und die Angehörigen ihres Freundes- und Bekanntenkreises, wie sie sagt, über genügend finanzielle Ressourcen, um sich ein Leben in Wohlstand und Sicherheit leisten zu können. »Wir hatten hier vor allem Bergwerke, bei welchen die Menschen arbeiteten. Alle hatten eine Arbeits3 | Der Name dieser Nichtregierungsorganisation bleibt aufgrund der Anonymisierung ungenannt.
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stelle.« Ihrer Meinung nach ermöglichten die Schwächung des sozialistischen Systems in den 1980er Jahren und der Tod Titos eine erste Welle der wirtschaftlichen Privatisierung in der Region. Diese wirtschaftliche Veränderung bot den Menschen neue Freiräume und trieb den Aufschwung der von Schwerindustrie geprägten Stadt Prijedor voran. Sie weiß sich zu erinnern, dass die Menschen mit ihrem Leben und den Möglichkeiten, die sich ihnen damals boten, sehr zufrieden waren. Dennoch, nebst dem Schönen, Unbeschwerten und Sicheren der Vorkriegszeit erwähnt Frau Ivanović auch Schattenseiten: »Also, das war ein zweischneidiges Schwert. Das Geld ist wahrscheinlich auch aus anderen Gründen geflossen. Es scheint, dass sich schon damals ein langsames Eintauchen in die Welt des Krieges abzeichnete. Wahrscheinlich begann der Schwarzhandel mit den Waffen zu blühen, ebenso mit den Drogen ...« Dieses Eintauchen verdeutlicht Frau Ivanović auch damit, dass sich die Unterscheidung nach ethnischer Zugehörigkeit im Alltag allmählich bemerkbar machte: »Früher, vor dem Krieg, gab es keine Unterschiede zwischen den Menschen. […] Aber irgendwann in der 7. Klasse [ca. 1989, Anmerkung der Autorin] fragte ich meine Mutter, da ich in einem Quartier aufwuchs, das vorwiegend von Muslimen bewohnt war: ›Mutter, was sind wir eigentlich?‹ Aufgrund unseres Namens wusste ich schon, dass wir keine Muslime sind. Aber ich wusste nicht, was wir sonst sind. ›Sind wir eigentlich Katholiken? Oder Orthodoxe?‹ Meine Mutter hat mir geantwortet: ›Meine liebe Tochter, das ist nicht wichtig, wir sind alle Jugoslawen.‹ So war das Leben damals!«
Multiethnisches Zusammenleben vor dem Krieg Nicht nur die eigenen Eltern, sondern auch die ersten Nachbarn (bos./hrv./srp. prvi Komšije) und Hausfreunde (bos./hrv./srp. Kućni Prijatelji) bezeichneten sich laut Frau Ivanović als Jugoslawinnen oder Jugoslawen und teilten sich als solche einen einzigen Lebensraum inklusive der vielen alltäglichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. An mehreren Stellen im Interview bezieht sich Jelena Ivanović darauf, dass »alle zusammen beispielsweise die jeweiligen religiösen Feste der Anderen feierten« oder dass die Patenschaften (bos./hrv./srp. Kumstvo) normalerweise ethnisch gemischt waren. Für sie war das gemeinsame Begehen von Feiertagen ein ›Gradmesser‹ für das Funktionieren und die Güte des multiethnischen Zusammenlebens vor dem Krieg. In diesem Umfeld und mit dieser Tradition wuchs Jelena Ivanović bis in ihre Teenagerjahre auf. In dieser Zeit habe sie sich gut aufgehoben gefühlt. Aufgrund der demografischen Zusammensetzung des Quartiers und des Nachbarn- und Freundeskreises war sie mit den bosniakischen Bräuchen vielleicht sogar besser vertraut als mit den ›eigenen‹ serbischen: »Ich bin im Haus meiner Freundin aufgewachsen, die eine Muslimin ist. Und deshalb habe ich mehr Bumbara [dt. weiße Kalbsleber] gegessen als serbische Nationalgerichte. Ich meine, das war nichts Außergewöhnliches.« Ihr Freundeskreis bestand aus mehrheitlich gleichaltrigen mus-
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limischen Mädchen und Jungen aus ihrer Nachbarschaft und der Schule, die sie allesamt im Alter zwischen fünf und elf Jahren kennenlernte. Es sei wichtig für sie gewesen, ihre Freundinnen und Freunde in der Nähe zu haben. Sie beschreibt die Beziehungen zu ihnen als warm und herzlich und vor allem auch als sehr vertrauensvoll. Ebenso wichtig waren die ethnisch gemischten Beziehungen mit den Hausfreunden. Mit den Kindern der Hausfreunde ihrer Eltern war auch Jelena eng befreundet. Besonders nahe fühlte sich Frau Ivanović zwei Freundinnen, mit denen sie bis heute in Kontakt steht. Dass sie diese Kontakte über den Krieg hinwegretten konnte, führt sie auf die Zugehörigkeit zur selben Nacija zurück, der serbischen.
Ethnische Differenzen in der multikulturellen Gesellschaft Frau Ivanović unterstreicht immer wieder, dass der Alltag vor dem Krieg sowohl von gemeinsamen als auch von trennenden Merkmalen bestimmt war. Dabei waren diese Merkmale nicht nur ethnoreligiöser Art, sondern beruhten ebenso auf Alter, Geschlecht oder sozioökonomischen Kriterien. Die Bedeutung der unterschiedlichen Zugehörigkeiten illustriert sie besonders eindrücklich anhand der Heirat ihrer Tante, die gegen den Willen ihrer Familie einen Muslim heiratete und dadurch die gesamte Verwandtschaft in Aufruhr versetzte. »Das war das reinste Chaos, als meine Tante geheiratet hat. Ihre Eltern wollten sie davon abhalten, aber sie ist geflohen. Es war nicht nur das Problem, dass der Bräutigam ein Muslim war, er war auch einige Jahre jünger als meine Tante. Ich meine, das gibt es doch bei uns seit Jahren, diese Unterschiede. Das ist nicht erst durch diesen Krieg zum Vorschein gekommen.« Dass aber immer wieder die ethnoreligiöse Zugehörigkeit ins Zentrum der Ein- und Ausgrenzungen gerückt wurde, erklärt Frau Ivanović folgendermaßen: »Die Menschen in Prijedor hatten wunderschöne zwischenmenschliche Beziehungen. Aber das Problem war immer, dass uns der Kommunismus unterdrückte, was die Frage der ethnischen und nationalen Zugehörigkeiten anging. Sie haben uns aufgedrängt, dass wir Jugoslawen sind, dass es keine Muslime, keine Serben und keine Kroaten geben darf, dass wir also alle gleich sind. Dadurch hielt uns unser Kommunistenregime in einem Stand-by.« In dieser Aussage zeigt sich deutlich, dass Frau Ivanović die Unterdrückung ethnischer Zugehörigkeiten als nachteilig empfand. In ihren Ausführungen zum Leben während der Vorkriegszeit spielt Frau Ivanović wohl auch auf den symbolträchtigen Tod Titos an, obwohl sie damals erst drei Jahre alt war. Anno dazumal, im Mai 1980, sei das »50-jährige diktatorische Regime« in sich zusammengefallen, einem Kartenhaus ähnlich, und habe den Menschen endlich den Weg zur Ausübung ihrer Religion freigegeben: »Also, das hat in den Menschen geschwelt während 50 Jahren und als Tito starb, wurde die Nactionalnost in den Menschen geweckt. Sobald die Menschen wieder in die Moschee oder die Kirche gehen durften, gingen sie. Das einzige
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Problem bei uns war und ist immer noch, dass wir unterschiedlichen Religionen angehören!« Wie Frau Ivanović hervorhebt, hätten die einfachen Menschen die Entwicklungen der 1980er Jahre immer auch gewollt und unterstützt. Die Entzweiung, die aufgrund der Betonung ethnoreligiöser Merkmale einsetzte, wurde den Menschen also nicht bloß von außen – oder von den Politikern – aufgedrängt, sondern entsprach durchaus dem Willen der Betroffenen. In diesem Sinne betont Jelena Ivanović an anderer Stelle im Gespräch, alle Einwohnerinnen und Einwohner Prijedors hätten wohl geahnt, dass das Gebilde des ehemaligen Jugoslawiens und das Motto der Bratstvo i Jedinstvo die Desintegration nicht würden aufhalten können: »Ich hatte halt ein Vorgefühl, dass hier etwas geschehen wird. Nicht nur ich. Alle, die hier lebten, haben das einfach gespürt. Es lag in der Luft. Ich stand zum Beispiel in einem Briefwechsel mit einem Freund, der in Kroatien bereits ins Militär eingezogen worden war, und schrieb ihm, dass hier alles super sei. Aber dass ich trotzdem irgendwelche Spannungen in der Luft spürte. Und ja, dass ein Funke ausreichen würde, um uns alle zu verbrennen.« Trotz der ersten Berichte über den Krieg in Kroatien, die sie von ihrem dort stationierten Freund erhielt, und trotz der Befürchtungen ihrer Mutter wollte Jelena Ivanović vorerst nicht wahrhaben, dass die Kriegsereignisse auch Prijedor einholt. Mit allen Mitteln versuchte sie, ihren normalen Alltag aufrechtzuerhalten. Sie traf sich weiterhin mit ihren (muslimischen) Freunden im Park zum Amüsieren, Austauschen von Neuigkeiten und Comiclesen. Die Jugendlichen gingen dieser Freizeitbeschäftigung so lange nach, bis die ersten Gewehrsalven und Detonationen ihre unbeschwerte Jugend »innerhalb von 10 Minuten« beendeten.
8.1.1 Der abrupte Kriegsausbruch In den folgenden Tagen zeigte sich die Kriegswirklichkeit brutal an brennenden Häusern ihrer Freunde, an Leichen auf den Strassen und daran »dass die Menschen mit Konvois die Stadt verlassen haben und ich mehr oder weniger alleine zurückblieb. Ich fühlte mich, als habe mir jemand alle meine Freunde weggenommen, als habe man sie mir geklaut!« Jelena Ivanović schildert bildhaft, wie die einfachen Menschen im Vorfeld durch die Politik und die Kriegspropaganda manipuliert worden waren und es dadurch leicht zum Krieg kommen konnte: »Weißt du, hätte man die einfachen Menschen gefragt, wäre es nie zum Krieg gekommen. Aber es kamen Menschen, die politische Parteien gründeten und anstatt dass sie friedlich und demokratisch eine Wende herbeiführten, haben sie Waffen gekauft, haben also dabei verdient und sagten, wir sollen in den Krieg gehen, weil uns sonst die Muslime und Kroaten töten würden. Wir Menschen folgten blind dem Beispiel einiger weniger, wie Schafe in einer Herde. Ich glaube, wenn wir gebildeter gewesen wären, hätte so etwas nicht passieren können.«
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Zugleich verdeutlicht sie am Beispiel ihres Onkels, der sich zu Beginn des Krieges in Tuzla4 aufhielt, dass diese Verbrechen im Krieg nicht nur auf serbischer Seite begangen wurden: »Die Verbrechen gab es auf allen drei Seiten. Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der Genozid wurde von Menschen mit krankem Verstand ausgeübt, die auch früher schon krank waren. Und nun hatten sie die Gelegenheit, das zu machen, was sie schon immer tun wollten, ohne dafür verantwortlich zu sein. Also, das sind Psychopathen, die es überall auf der Welt gibt, und sie sind Serienmörder.« Mit diesen Ausführungen findet Jelena Ivanović für die schrecklichen Verbrechen, die in der Region geschahen, eine pathologisierende Erklärung.
8.1.2 Der Tod des Bruders als zentrales Kriegserlebnis Die Kriegsjahre bis September 1995 schildert Frau Ivanović als eine Zeit, in der sie mehr oder weniger ihrem gewohnten Vorkriegsalltag nachgehen konnte. Ihre Familie verfügte jederzeit über genügend Lebensmittel und sie konnte weiterhin die Mittelschule besuchen, ohne irgendwelchen Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. Nur ihre geliebten Musikstunden musste sie fallenlassen, da der Busbetrieb zwischen den beiden Städten Prijedor und Banja Luka wegen der Kampfhandlungen in den umliegenden Dörfern und Siedlungen eingestellt werden musste. Trotz dieser Einschränkung der Mobilität weist sie an unterschiedlichen Stellen im Interview darauf hin, dass sie während der heißen Sommermonate die Stadt auch verlassen konnte. Sie misst den Sommerferien an der montenegrinischen Küste oder der Zeit, die sie bei ihrem Großvater in Belgrad verbringen durfte, eine große Bedeutung bei. Denn es war diese Bewegungsfreiheit, die ihr eine Abwechslung von der doch auch belastenden Kriegszeit bot. Jelena Ivanović erzählt auch immer wieder davon, wie sie unter der Kriegssituation litt und diese nachhaltig ihren beruflichen und auch sozialen Werdegang beeinflusste. Ganz besonders vermisste sie ihren Freundeskreis und die vertrauten und engen Beziehungen: »Vielleicht wären unsere Lebenswege eh einmal auseinander gegangen. Aber es tut weh, weil das alles so plötzlich unterbrochen wurde. Ich meine, jemand ist einfach gekommen und hat uns getrennt. Dieser Jemand hat gesagt, sie müssen gehen und du musst hier bleiben.« Noch tiefere Spuren hinterließ bei ihr und ihrer Familie der Tod ihres Bruders. Er kam als Mitglied der serbischen Armee in Kampfhandlungen an der Front ums Leben, während der von der kroatischen Offensive Oluja ausgelösten
4 | Tuzla ist eine größere Stadt nördlich von Sarajevo, die während der Kriegszeit unter bosniakisch-kroatischer Besatzung stand. Bekannt wurde die Stadt durch die grossen Flüchtlingsströme aus dem Drinatal (Bratunac, Srebrenica, Žepa).
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Militäroperation Maestral5 im September 1995. »Er ist am 13. September umgekommen und der Krieg war am 21. November beendet. Ich meine, das Schicksal hat sich richtig über ihn lustig gemacht«, meint dazu Frau Ivanović lakonisch. Dieser Tod ist das zentrale Moment in Jelena Ivanovićs Biografie, dies zeigt sich nicht nur in der Art der Verarbeitung der Kriegsvergangenheit, sondern auch an der Reaktion der Familie auf den Verlust. Die größten Auswirkungen des Todesfalls hätten sich am Bruch in der Familie gezeigt, wie Jelena meint. Ihre Mutter sei mit dem Verlust nicht klar gekommen, sie sei in tiefste Depressionen gestürzt und habe sich »einfach in sich zurückgezogen«. Das führte in der Folge zum Bruch der elterlichen Ehe. Jelena Ivanović vermutet, dass sich ihre Eltern gegenseitig die Schuld am Tod des Bruders gaben. »Am Anfang war es sehr schwer. Die Eltern hatten einen schlechten Kontakt untereinander, sie klagten sich gegenseitig an, dass sie ihren Sohn nicht aus der Armee freigekauft hatten. Meine Mutter weinte nächtelang. Sie kann sich bis heute nicht damit abfinden, dass sie ohne ihren Sohn geblieben ist. Dieser Verlust sitzt tief, sie hat das ganz tief in sich vergraben.« Nach dem anfänglichen Schockzustand schloss sich die Mutter mit anderen Frauen, die ebenfalls ihre Kinder oder Ehemänner an der Front verloren hatten, in einer Selbsthilfegruppe zusammen, die sich später zu einer offiziellen Organisation entwickelte. Laut Jelena fand sie dort die nötige Unterstützung, Geborgenheit und Verständnis für ihre Trauer. Durch diese Art der Bewältigung fand die Mutter einen Weg aus den Depressionen und, so meint Jelena Ivanović, auch einen Weg, mit ihrer Trauer umzugehen. Durch den Verlust des Bruders veränderte sich aber auch ihre eigene Einstellung gegenüber den anderen Gruppen: »Als mein Bruder umkam, wurde in mir etwas Nationales geweckt. So in der Art: ›Daran sind die Muslime schuld, daran sind die Kroaten schuld, sie haben meinen Bruder umgebracht!‹ Und weißt du, so geht es ganz vielen Menschen.« Dieses ›Nationale‹, das die Kriegs5 | Im Zuge der kroatischen Militäroperation Oluja (dt. Gewitter) wurden mehr als 170.000 Serben aus Kroatien vertrieben, darunter auch die geschlagene paramilitärische Armee der Republik Serbische Krajina (Mappes-Niediek 1995). Diese Blitzeroberung durch die Kroaten schwächte auch die bosnischen Serben erheblich. Unmittelbar nach Beendigung der Operation Oluja und dem Fall der kroatischen Krajina begann die kroatische Armee gemeinsam mit bosnischen Regierungstruppen die im Abkommen von Split zwischen der bosnischen und der kroatischen Regierung vereinbarte Militäroperation Maestral (dt. Nordwestwind). Während dieser Militäroffensive schrumpfte das von Serben kontrollierte Territorium in Bosnien-Herzegowina von 70 % auf etwa 47 % (Calic 1996: 244). Die Operation Maestral wurde auf massiven Druck der internationalen Gemeinschaft allerdings nach wenigen Tagen gestoppt, da man eine Ausweitung des Krieges befürchtete. Die Operation Maestral wird trotz ihres Abbruchs als sehr grosser militärischer Erfolg gewertet und als Wendepunkt in den bosnischen Friedensverhandlungen gesehen (Calic 1996: 213, 242ff.).
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ereignisse weckten, wirkt bis weit in die Nachkriegszeit hinein und beeinflusst, wie sich nachfolgend zeigen wird, Frau Ivanovićs Art, mit der Vergangenheit umzugehen.
8.1.3 Das Verstärken ethnischer Grenzen in der Nachkriegszeit Jelena Ivanović arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews als Sachbearbeiterin im öffentlichen Dienst. Sie ist mit ihren 28 Jahren noch immer unverheiratet und kinderlos. Doch sie erzählt, sie lebe in einer Partnerschaft mit einem bosnischen Serben, der seinen Wohnsitz im westlichen Europa habe. Die Beziehung ist noch sehr frisch, weshalb Frau Ivanović über sie nicht weiter Auskunft geben will. Dafür informiert sie darüber, dass sie sich nun als Serbin fühle: »Seit dem Krieg weiß ich, dass ich Serbin bin, orthodoxe Serbin. Ich gehe nicht regelmäßig in die Messe, gehöre aber trotzdem zur orthodoxen Kirche.« Für Jelena Ivanović ist klar, dass der Krieg die gesamte und den Bewohnern ehemals vertraute Struktur zerstörte und damit das heutige Zusammenleben für alle Menschen untragbar gemacht hat. Sie stellt fest, dass die meisten langjährigen Beziehungen dem Druck des Krieges nicht standhalten konnten, und hält viele Menschen heute für »sozial orientierungslos und auch isoliert«. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges. Die Industrie der Stadt, erzählt sie, liegt mit Ausnahme des Bergwerksbetriebs Ljubija-Omarska seit Kriegsausbruch mehr oder minder still. Die Schließung mehrerer Fabriken und den damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen und regelmäßigen Einkommen bezeichnet sie als direkte Kriegsfolge. »Du musst wissen, alles hier ist stehen geblieben. Es ist ein Stand-by-System. Und weißt du, die meisten Menschen leben von den Erwerbsmöglichkeiten in der Saison, wenn die Diaspora kommt, oder von Unterstützungen durch die Diaspora. Viele junge Menschen auf der Strasse sind arbeitslos, sie haben keine Perspektive. Ich bin eine der wenigen Leute, die eine Arbeit haben.«
Die schwierige Wiederaufnahme früherer Beziehungen Jeweils während der Sommermonate, mit dem Eintreffen der Diaspora, hat Jelena Ivanović die Möglichkeit, ihre ehemaligen Jugendfreunde in Prijedor zu treffen: »Sie kommen zu mir zurück. Ich bin so glücklich, dass ich mit ihnen am liebsten 24 Stunden am Tag verbringen würde, und ich wünschte, wir müssten uns nicht mehr trennen. Doch dann gehen sie zurück und ich bleibe wieder allein. Ich meine, ich habe hier schon Menschen, mit denen ich befreundet bin, aber ich habe nie wieder eine Beziehung verwirklichen können wie mit den Freunden von damals.« Jelena Ivanović bekundet nicht nur Mühe, neue und vertrauensvolle Beziehungen zu knüpfen. Sie leidet ganz besonders darunter, dass ihre ehemaligen Freunde nicht mehr in ihrer Nähe leben und die Kontakte deshalb nur noch oberflächlicher Natur seien. Die Wiederannäherung der
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Freunde aus ihrer Jugendclique und das Wiederherstellen des Vertrauens gestalten sich in der Nachkriegszeit zögerlich und schwierig. Einen Grund dafür sieht Frau Ivanović in einer Kluft, die durch den Krieg und den damit einhergehenden Vertrauensverlust in Freundschaften und Beziehungen ganz allgemein entstanden ist. »Ich möchte dir zum Beispiel folgende Geschichte eines Jungen erzählen. Als er 10 Jahre alt war, hat man seinen Vater mitgenommen und umgebracht. Er weiß nicht, wo er umgebracht wurde, geschweige denn warum. Und er sagte zu mir: ›Jelena, mir fällt es schwer, mich mit jemandem zu entspannen, der orthodox ist.‹«
Ein oberflächliches Zusammensein ist laut Jelena Ivanović dennoch möglich, etwa bei gemeinsamen Feiern, bei Treffen in der Kafić oder in Bars oder bei anderen Freizeitvergnügen. Solche Tätigkeiten erlauben eine Annäherung über ethnische und andere Grenzen hinweg. Doch sobald sich eine Beziehung vertieft, enger und vertrauter wird und sich die Betroffenen häufiger treffen, stellt Frau Ivanović große Probleme und praktisch unüberwindbare Schwierigkeiten in den Begegnungen fest: »Ein Freund aus der Clique, der heute im Ausland lebt, sagte einmal zu mir: ›Jelena, es ist nicht mehr dasselbe wie früher. Warum? Du bist doch Serbin. Okey, mich stört das nicht, aber es stört meine Mutter, es stört die Leute um uns herum.‹ Ich darf ihn nicht nach Hause fahren, weil seine Nachbarschaft weiß, dass ich Serbin bin. Also, ja, es ist diese Kluft entstanden.«
Nicht nur an dieser Stelle im Interview umschreibt Frau Ivanović die Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen in Prijedor als Kluft und als Grenzen, die dem zwischenethnischen Zusammensein mit den Kriegsereignissen auferlegt wurden. Wie Kluft und Grenzen als Thema wiederkehren, erscheint auch immer wieder die Erklärung, Grenzen würden von außen gezogen. Weder Frau Ivanović noch ihre Freunde sind die Verursacher dieser Kluft, und sie sind es auch nicht, welche die Grenze aufrechterhalten. Im Gegenteil, sie würden sie gerne überwinden und wie früher Beziehungen zu denjenigen Menschen pflegen, die ihnen nahestehen – egal, welche ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeit sie haben. Deshalb sieht Frau Ivanović die Verantwortung für die Unmöglichkeit einer Annäherung bei den Älteren, den Mächtigeren und bei den Nachbarn oder den Angehörigen der anderen Ethnie, jedenfalls bei den ›Anderen‹. Das Knüpfen schwacher Beziehungen ist also möglich, wohingegen das Verlieben in einen Angehörigen einer anderen Ethnie aufgrund der Umgebung und der Reaktionen und Meinungen der Anderen heutzutage unmöglich sei: »Sie würden mich verurteilen, sowohl Meine als auch Seine. Wir können zu-
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sammen Kaffee trinken, wir können befreundet sein, aber verlieben? Die Menschen, die uns umgeben, erlauben das nicht.« Und an anderer Stelle: »M. und ich haben uns unterhalten und er hat irgendwann gesagt: ›Weißt du, Jelena, es ist nicht wegen mir. Du weißt, wir lieben dich und wir sind mit dir befreundet, aber die Menschen, die uns umgeben, sehen das nicht so.‹« Es sind aber nicht nur die Anderen, die einer Annäherung und der Vertiefung zwischenethnischer Beziehungen skeptisch gegenüberstehen. Auch bei ihr selbst zeigen sich nach einigem Hin- und Her-Überlegen Zweifel und Bedenken: »Ich bin orthodox und wenn ich mein Kind zur Welt bringe, dann möchte ich, dass es den Namen meines Bruders trägt. Aber wenn ich zum Beispiel mit jemanden verheiratet bin, der einer anderen Religion angehört, dann wird er sagen: ›Hallo, das will ich nicht! Ich will, dass mein Kind wie mein Vater heißt oder wie mein Bruder.‹ Verstehst du? Ich meine, unter uns ist das nationale Gefühl sehr stark.« Im Gespräch bezieht sich Frau Ivanović immer wieder auf die Bedeutung dieser nationalen respektive ethnoreligiösen Zugehörigkeit. Das »nationale Gefühl« offenbart sich beispielsweise auch in der Aussage, die heutigen Jugendlichen würden eine stärkere »nationale Ladung« in sich tragen als sie selbst. Die Begründung dafür sieht sie darin, dass diese Teenager ihre Kindheit und den Beginn ihrer Jugend in der Kriegszeit erlebten und nicht wie Frau Ivanović selbst in der Zeit vor dem Krieg zusammen mit Musliminnen und Muslimen aufwuchsen.
Die Allgegenwart des Krieges Der Krieg hat also seine Spuren nicht nur an den Häusern und in den Strukturen hinterlassen, sondern die Menschen selbst sind durch den Krieg gezeichnet – allesamt: »Überall sind Menschen, die verletzt worden sind ... Wenn du heute durch die Stadt gehst, kannst du nicht viel Glück an den Gesichtern der Menschen sehen. Du siehst, die Menschen sind traurig, als hätte ihnen die Trauer irgendwelche Masken auf die Gesichter gemalt.« Neben den materiellen Verlusten weist Jelena Ivanović auch auf Verluste von Familienangehörigen und Freunden hin, die schwer wiegen und im heutigen Alltag allgegenwärtig sind. Zudem zeigt sich ihrer Meinung nach eine große Enttäuschung über die allgemeine Situation im Land, über die politische und auch die wirtschaftliche Lage: Nach dem Krieg hätten die Menschen Hoffnung auf Besserung verspürt, überall habe Aufbruchstimmung geherrscht. Heute allerdings, zehn Jahre nach Kriegsende, sei diese Stimmung der Resignation und einem tiefgehenden Misstrauen in zwischenmenschliche Beziehungen gewichen. Dieses Misstrauen ist in Frau Ivanovićs Augen weit verbreitet. Misstrauen stellt sie aber auch gegenüber den politischen Entscheidungsträgern fest. Für die Menschen in der Region seien die Entwicklungen und Fortschritte zu langsam, denn zu viele verfügten heute über keine Existenzgrundlage und wüssten nicht, wie sie ihre Kinder ernähren und ausbilden lassen sollten. Viele hätten resigniert und empfänden Wahlen als unsinnig, weil sich so oder so an der Situation nichts ändere. Die Politiker
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hätten bis anhin keine merkliche Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen herbeiführen können und seien wohl auch in naher Zukunft nicht fähig dazu. Jelena Ivanović hat den Eindruck, dass nicht nur die tiefen Verletzungen und Kriegstraumata zur Entstehung der Kluft geführt haben, sondern die stockende Entwicklung in der Region sie zusätzlich vertieft. »Die Kluft zwischen den Menschen wird immer tiefer. Sie ist tief. Ich weiß nicht wie ich es dir erklären soll. Unter uns gibt es eine Leere, ein Loch so groß, und … Wir sind in diesen Abgrund gefallen.« Bei jeder Begegnung mit Menschen, die ihr früher nahestanden nimmt sie wahr, dass der vergangene Krieg implizit oder explizit Thema der Gespräche ist, dass also auch kein Weg an der jüngsten Vergangenheit vorbeiführt. »Erst kürzlich sah ich in Sanski Most eine ehemalige Freundin, die mit mir zur Musikschule ging. Wir feierten früher zusammen unsere Geburtstage und besuchten uns auch sonst zu Hause. Ja, wir waren eng befreundet. Ich habe sie gleich erkannt und habe sie begrüsst: ›Emina, bist du’s?‹ Und sie antwortete: ›Wer bist du?‹ – ›Ich bin doch Jelena aus ...‹ Doch sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging weiter. Und das ist das Ende der Geschichte. Weißt du, wie das einem Menschen weh tut? Du freust dich, jemanden wiederzusehen, und ich hätte hundert Fragen an sie gehabt, aber ... Das ist ein schwieriges Thema.«
Frau Ivanović sieht aufgrund der heutigen Situation keine oder nur wenig Hoffnung auf eine Überwindung der entstandenen Kluft und der unzähligen Verletzungen. Auf die Frage, wie sich ihrer Meinung nach trotz allem Pessimismus eine Besserung der Situation erreichen ließe, antwortet sie: »Wir alle sollten das überstehen, also bräuchten wir Brücken, damit wir das überwinden könnten, […] damit wir die Kluft überwinden könnten.« Diese Brücken sollen also zwei getrennte Teile verbinden. Doch die Frage, wie sie beschaffen sein sollten, ist für Frau Ivanović schwierig zu beantworten. Nach langem Überlegen meint sie: »Ich weiß es nicht. Nur, dass wir vergessen müssten, wer wir sind. Und dass wir vergessen müssten, was uns zugestoßen ist – aber das können nur wenige Menschen. […] Weil, weißt du, die Wunden sind schlimm, die Wunden sind groß und tief und diese Wunden bluten. Und ich weiß nicht, ob sie irgendwann einmal ganz heilen werden.«
Eine Möglichkeit der zwischenethnischen Annäherung sieht Jelena Ivanović, allerdings mit Vorbehalten, im Knüpfen neuer Beziehungen unter Menschen, die sich vor dem Krieg nicht kannten. Voraussetzung für eine solche Beziehung sei indessen das Bewusstsein der Beteiligten, sich gegenseitig nichts Böses angetan zu haben. Vertiefen lasse sich die Beziehung aber nur, wenn auch das Umfeld sie gutheiße. Im Verhalten des Umfeldes sieht sie ein wesentliches Problem der Nachkriegsgesellschaft: Es ist das Umfeld, welches das Knüpfen neuer zwi-
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schenethnischer Beziehungen verunmöglicht. Unter anderem deshalb glaubt sie, »dass wir es nie ganz überwinden werden. Wir werden den Schritt, uns zu vereinen, nicht machen können und das bedeutet auch, dass uns die Unterschiede zwischen uns wichtig sind, oder?« Die Allgegenwart der konfliktbehafteten Vergangenheit zeigt sich ihrer Meinung nach auch daran, dass sich die Menschen mit der immer gleichen Frage quälten: »Was wäre, wenn kein Krieg gewesen wäre, was wäre, wenn sie meinen Bruder nicht umgebracht hätten, wenn sie mein Haus nicht abgebrannt hätten?« Wer so etwas nicht habe erleben müssen, könne sich glücklich schätzen. Denn sie selbst verspürt nach wie vor eine große Wut über das Geschehene, wobei sich ihr Zorn, wie sie betont, gegen die gesamte Situation und nicht gegen bestimmte Menschen richtet. Kurz nach Kriegsende konnte sie mit dem Verlust ihres Bruders und dem Zorn ob der gesamten Situation auch noch weniger gut umgehen. Damals halfen ihr Gespräche mit Freunden. Heute jedoch »gibt es dazu keinen Grund mehr. Es ist passiert und das Leben geht weiter. Deshalb verschweigen wir oft auch diesen Teil. Denn wir alle müssen nun ein anderes Leben leben und wir müssen verstehen und akzeptieren, dass der Krieg war und dass das alles passiert ist. Es ist einfach so.« Ihrer Trauer um den Bruder räumt Frau Ivanović höchstens im stillen Kämmerlein Platz ein: Nur wenn sie alleine ist, sagt sie, kann sie den Tränen freien Lauf lassen und ihren Bruder betrauern. Mit ihren Eltern kann sie über ihre Trauer nicht sprechen, denn die Beziehung zu ihnen sei seit dem Tod des Bruders sehr distanziert und abgekühlt: »Wir reden selten über das, was geschah. Wir haben eine schlechte Beziehung. Ich mit meinen Eltern, die Eltern untereinander. Zwischen uns gibt es keine Kommunikation mehr.« Besondere Mühe bereitet es ihr, emotionale Nähe zu ihrer Mutter aufzubauen. Vielleicht auch deshalb, weil die Mutter immer wieder betone, sie habe im Krieg ihr einziges Kind verloren. Für die Mutter war und bleibt der Verlust ihres Sohnes eine große Belastung. Noch heute verbringe sie ganze Wochenenden auf dem Friedhof, was die Beziehung zur ihr nicht unbedingt vereinfache, wie Frau Ivanović feststellt. Beinahe fühle sie sich schuldig, nicht anstelle des Bruders gestorben zu sein.
8.2 F ALL ANALYSE : I DE ALISIERUNG DER MULTIE THNISCHEN G ESELLSCHAF T »Denn der Gram ist die Grundlage dieses Landes, seine Niedergetretenheit von den vielen Soldatenstiefeln und dann auch von jenem im eigenen Herzen erzeugten Gram, weil man nicht weiß, wohin wir sollen, auch nicht wie.« (Ć osi ć 2007: 51)
Die folgende Analyse konzentriert sich vor allem auf die Rekonstruktion von Frau Ivanovićs Einschätzung der Nachkriegsproblematik und die Besonderheit
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ihrer Netzwerke. Frau Ivanović eröffnet ihre Lebensgeschichte mit allgemeinen Ausführungen über die Auswirkungen des Krieges auf die heutige Gesellschaft. Bereits darin unterscheidet sie sich von den anderen Interviewpartnerinnen, die ihre Erzählungen fast ausnahmslos mit ihrem persönlichen Vorkriegsleben aufnehmen. Aber auch aufgrund ihres Alters und ihres Lebensstils zeigen sich im Vergleich zur Mehrheit der Untersuchten Besonderheiten. Frau Ivanovićs Aufwachsen in einem ethnisch gemischten Umfeld deckt sich mit dem vor dem Krieg noch vorherrschenden jugoslawischen Gedankengut. Ihr Habitus wurde vom Leitgedanken der ›Brüderlichkeit und Einigkeit‹ geformt, vom Wissen also, dass ethnoreligiöse Zugehörigkeiten anderen nicht zwingend entgegenstehen. Doch die Kriegserlebnisse und der Tod ihres Bruders führen zu einem grundlegenden Bruch dieser Haltung. Auch wenn sie noch Kontakt zu früheren Freunden sucht, die anderen Ethnien angehören, zeigt sich doch ganz deutlich, dass ihr Alltag heute von ethnoreligiösen Unterschieden bestimmt wird und es diese Unterschiede sind, welche die Entwicklungen vor Ort beeinflussen. Die Analyse ihres Falls legt das Schwergewicht auf einen Interviewausschnitt, an dem sich ihre Einschätzung der Nachkriegsproblematik beispielhaft diskutieren lässt. »X: Die Kluft zwischen den Menschen wird immer tiefer. Sie ist tief. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Unter uns gibt es eine Leere, ein Loch so groß, und ... Wir sind in diesen Abgrund gefallen. Wir alle sollten das überstehen, also bräuchten wir Brücken, damit wir das überwinden könnten. A: Brücken, ja. Und wie könnten diese Brücken aussehen? X: (Lachen) Ich weiß es nicht. Nur, dass wir vergessen müssten, wer wir sind. Und dass wir vergessen müssten, was uns zugestoßen ist – aber das können nur wenige Menschen ...«
Eröffnet wird die Sequenz mit dem Hinweis auf eine tiefe Kluft, die durch den Krieg zwischen den Menschen entstanden ist und nur mit einer Brücke überwunden werden könnte. Interessant dabei ist, dass die Kluft in Frau Ivanovićs Beschreibung nach wie vor tiefer wird, also auch noch zum Zeitpunkt des Interviews. Die Erklärung liegt nahe, dass die Menschen möglicherweise erst in der Nachkriegszeit Gelegenheit haben, überhaupt über das Geschehene nachzudenken. Denn während des Krieges und auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit galt es wohl einfach, zu überleben und die eigene Sicherheit und Existenz zu sichern. Doch besonders interessant ist, dass Frau Ivanović den Abgrund mit dem Begriff der Leere umschreibt. Frau Ivanović spricht nicht von Trümmern und Scherbenhaufen, die durch den Krieg entstanden seien und den Menschen heute das Leben erschweren, von Toten, zerschlagenen Lebensplänen und zerbrochenen Beziehungen. Sie spricht von einer Leere. Es scheint, dass Frau Ivanović mit Kluft, Abgrund und Leere treffende Worte für eine Situation findet, in
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der man den Boden unter den Füssen verliert und in einen Abgrund fällt. Mit der Kluft trennt sie die Gruppen, in den (leeren) Abgrund sind sie gefallen. Mit diesen Begriffen findet Frau Ivanović deutliche Worte, die Situation vor Ort zu umschreiben. So deutliche Worte, wie es die Situation erlaubt, ohne explizite Anklage gegen eine Gruppe zu formulieren, die man ungern angreift oder verletzt. Zum Beispiel will Frau Ivanović nicht die ältere Generation und damit die eigenen Eltern angreifen, die die Entwicklungen zumindest zuließen. Oder sie will auch ihre eigene Ethnie, die jene der Täter ist, nicht verunglimpflichen, wohl gerade weil sie von außen laufend auf die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe verwiesen wird. Frau Ivanović hat demnach die Wahl, entweder den Schuldigen anzugehören oder aber sich explizit von ihrer (offenbar neuen) Identifikationsgruppe zu distanzieren. Letzteres scheint für sie aber nicht möglich, weil sie grundsätzlich großen Wert auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe legt und mit einem Distanzeinnehmen alleine dastünde oder sich zumindest ›dazwischen‹ befände. Mit der gewählten Ausdrucksweise zeigt sich erneut das Opfer-TäterDilemma, dem sie sich – und wie gesehen auch Frau Živković, Frau Begović und Frau Sivac – ausgesetzt sieht. Offensichtlich ist das Ansprechen der Geschehnisse eine heikle Sache. Es ließe sich deshalb auch eine andere Lesart aus der Ausdrucksweise der ›Leere‹ ableiten: die Geschehnisse haben eine Ohnmacht und auch eine Überforderung zur Folge, die erlebten, bezeugten oder auch nur gehörten Gewalterfahrungen in Worte zu fassen und dem, was geschah, eine Bedeutung zuzuschreiben (Das 1990: 348).6 In einigen Interviews zeigte sich dieses Phänomen mehr oder weniger ausgeprägt. Es lässt sich festhalten, dass sich dieses Phänomen vorwiegend in Interviews mit traumatisierten Frauen herauskristallisieren ließ. Es ist auch eines, das aus der Traumaforschung wohl bekannt ist. In Frau Ivanovićs Schilderung zeigt sich die Lesart, traumatische Gewalterlebnisse seien schwierig in Worte zu fassen, nur dahingehend, dass sich das Ansprechen der Vergangenheit ganz besonders in ihrer Kernfamilie als Problem erweist. In ihrer eigenen Familie können der Tod des Bruders und der damit verbundene Schmerz nicht nur nicht angesprochen werden, sondern sie machen sich in der Familienkonstellation bemerkbar, wo sich neue Distanzverhältnisse einstellen: Die Ehe der Eltern zerbricht, Frau Ivanovićs Beziehung zu ihren Eltern wird durch den Tod ihres Bruders stark belastet und kühlt ab. Außerhalb der Familie zeigt sich die persönliche Betroffenheit durch den Tod des Bruders ebenfalls in neuen Verhältnissen. Frau Ivanović belegt Ein- und Ausgrenzungsmechanismen mit neuen Etiketts: Vom Zeitpunkt des Verlusts an sind diejenigen für den Tod des Bruders verantwortlich, die nicht zur eige6 | Darauf verwies Veena. Das ebenfalls in ihrem Vortrag im Rahmen der internationale Konferenz »A la recherche du genre« des Swiss Graduate Programme in Gender Studies in Genf, 18./19. Juni 2008.
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nen ethnischen Gemeinschaft gehören, die bosnischen Kroaten und Muslime also. In dieser Lesart wird die national-ethnische Zugehörigkeit durch den Tod des Bruders ausgelöst und ist vom diesem Zeitpunkt an zentral für die von Frau Ivanović erfahrenen Ein- und Ausschlüsse. Das entsprechende Zitat lässt sich aber auch dahingehend deuten, dass es sich bei der Ethnisierung um eine erste, vorübergehende Reaktion auf den Verlust des Bruders gehandelt hat, die sich dann durch das laufende Verwiesenwerden von außen über die Jahre hinweg zu einer Ethnisierung verstärkt hat. Vermutlich stellt die von Frau Ivanović erfahrene und beobachtete Ethnisierung eine Mischung aus den beiden möglichen Lesarten dar: einerseits ist es die national-ethnische Zugehörigkeit die durch den Tod des Bruders ausgelöst wird, andererseits ist es aber auch das Verwiesenwerden von außen, das eine Verstärkung erst ermöglicht. Fest steht, dass diese Art der ethnischen Ein- und Ausgrenzung bei Frau Ivanović anfangs Krieg noch nicht zu beobachten ist, sondern erst durch den Verlust ihres Bruders manifest wird. Vorher leidet sie zwar unter dem Verlust ihres Freundeskreises, begründet diesen aber noch nicht mit der ethnischen Zugehörigkeit. Damit bahnt sich eine unumstößliche Veränderung ihrer sozialen Wirklichkeit an, die mit dem Tod des Bruders einen Höhepunkt erreicht: Die ethnischen Markierungen, welche in der bosnischen Gesellschaft latent schon immer der Ein- und Ausgrenzung dienten – Frau Ivanović erläutert dies anhand des Aufruhrs in der Verwandtschaft nach der zwischenethnischen Heirat ihrer Tante –, werden durch die Kriegsereignisse und die Folgen des Krieges (dazu zählt u.a. das Verwiesen werden von außen zur Gruppe der Täter beispielsweise) zugespitzt. Die Mischung aus den extremen Kriegserfahrungen und deren Folgen reaktivieren die ethnischen Zugehörigkeiten und verstärken sie, was den Alltag bis heute prägt. Die Ausführungen zur Kluft in der Prijedorer Gesellschaft rückt aber noch ein weiteres zentrales Narrativ in Frau Ivanovićs Interview in den Mittelpunkt. Frau Ivanović verdeutlicht, dass die Prijedorer Bevölkerung aus zwei getrennten Gruppen besteht, die eine ethnische Markierung erfahren haben und nun einer Verbindung bedürfen. Sowohl sie als auch die anderen Befragten wissen, dass sich die im Krieg auseinandergerissene Prijedorer Bevölkerung im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft wieder zusammenfinden muss. Um eine solche Verbindung herstellen zu können, braucht es Hilfsmittel, welche Jelena Ivanović mit dem Bild der Brücke umschreibt.
8.2.1 Die Brücke als friedensstiftendes Symbol Die Brücke verdeutlicht die komplexe Situation vor Ort besonders gut, wie in der Einführung bereits angetönt (vgl. Kapitel 1). Daher soll ihrer Symbolik hier Platz eingeräumt werden. Die Brücke stellt ein Mittel dar, über Grenzen hinweg miteinander in Verbindung zu treten und ein Hindernis für längere Zeit
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überwindbar zu machen. Allerdings besteht durch eine Verbindung auf beiden Seiten auch die potentielle Gefahr einer Verletzung, jedenfalls dann, wenn es sich nicht um eine Zugbrücke handelt, die ein unverkennbares Machtgefälle beinhaltet. Ein Brückenschlag erfordert also auf beiden Seiten Bereitschaft und Signale dafür, mit offenen Händen – anstatt mit um Waffen geschlossenen Händen – aufeinander zugehen und die andere Seite empfangen und anhören zu wollen. Damit beinhaltet die Brücke einen Verzicht auf Feindseligkeiten und den Ausbau des Vertrauens. Auf diese Weise wird die Brücke zu einem Synonym für den in der Region benötigten Dialog anstelle der praktizierten polaren Unvereinbarkeit. Allerdings verweist eine Brücke auch auf den Graben, über den sie sich spannt. Dieser Graben bleibt immer sicht- und erlebbar. Sie lässt sich damit auch als Verbindung sehen, die man bei Bedarf wieder zerstören kann. Wie in der Einführung bereits dargelegt, ist die Brücke also ein zweideutiges Symbol, welches sowohl für das Verbindende als auch für das Trennende und Zerstörende steht. Die Auswirkungen dieses zweideutigen Symbols zeigen sich in der Analyse von Frau Ivanovićs Interviewmaterial: Ihrer Meinung nach ist die Voraussetzung für einen Brückenschlag das Wegradieren der Geschichte. Sie fordert, dass die Menschen zu beiden Seiten des Grabens die Kriegsereignisse überwinden, indem »wir vergessen müssten, was uns zugestoßen ist.« Allerdings darf man sich fragen, ob eine Brücke das Vergessen voraussetze oder ihm nicht vielmehr entgegenstehe. Wie es um das Vergessen tatsächlich bestellt ist, zeigt der weitere Verlauf von Jelena Ivanovićs Ausführungen.7 In der an das Vergessen anschließenden 7 | X: »Die Kluft zwischen den Menschen wird immer tiefer. Sie ist tief. Ich weiss nicht, wie ich es dir erklären soll. Unter uns gibt es eine Leere, ein Loch so gross, und … Wir sind in diesen Abgrund gefallen. Wir alle sollten das überstehen, also bräuchten wir Brücken, damit wir das überwinden könnten.« A: »Brücken, ja. Und wie könnten diese Brücken aussehen?« X: »(Lachen) Ich weiss es nicht. Nur, dass wir vergessen müssten, wer wir sind. Und dass wir vergessen müssten, was uns zugestossen ist – aber das können nur wenige Menschen. Ja ich… […] Ich betrachte doch junge Menschen, also Menschen, die da waren. Ich war 14 Jahre alt, als der Krieg anfing. Und ich kenne Menschen, die viel jünger sind als ich, ich kenne Menschen, die 4-5 Jahren jünger sind als ich, die in sich eine nationale Ladung tragen, eine viel stärkere als ich es trage. Weswegen? Deswegen, weil sie im Krieg aufgewachsen sind. Ihre Eltern, z.B. ihre Väter gingen in den Krieg. Sie sind nicht so wie ich z.B. mit den Moslems aufgewachsen. Ich sage z.B. jetzt meiner Mutter, es war einmal die Gelegenheit, wir führten ein Gespräch und ich sagte ihr: ›Mutter, was ist wenn ich mich jetzt in einen Moslem verliebe?‹Sie sagte: ›Mein Kind, was kann ich da tun, ich kann das doch auch nicht verhindern.‹ Das kannst du halt nicht verhindern, sie wie sie… sie ist eine Lehrerin, und ihr würde das nich so
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Passage vergemeinschaftet sie sich vorerst mit jener Seite, die vergessen kann und will und sich deshalb zu einem Brückenschlag in der Lage sieht. In dieser Vergemeinschaftung mit Gleichgesinnten zeigt sich auch, dass die andere Seite nicht vergessen wolle. Gemäß ihrer Logik reicht das, um den Brückenschlag unmöglich zu machen, zusätzliche Markierungen sind gar nicht erforderlich. Deshalb sind in diesen Äußerungen die beiden Seiten auch noch nicht ethnisch, religiös oder national markiert. Das ändert sich erst, sobald es um die konkrete Definition der beiden Gruppen geht, die Kriegserlebnisse und die nationale und ethnoreligiöse Zugehörigkeit werden nun zentral: »Ich kenne Menschen […], die in sich eine nationale Ladung tragen, eine viel stärkere als ich. Weswegen? Weil sie im Krieg aufgewachsen sind.« Die Kriegsereignisse sind hier insofern zentral, als beispielsweise die Kinder, die im Krieg aufgewachsen sind, das multikulturelle Zusammenleben, wie Frau Ivanović es noch erlebt hat, nicht erfahren durften. Gerade in diesem gemeinsamen Großwerden, ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit, sieht Frau Ivanović eine Möglichkeit zur Annäherung. Weil diese Möglichkeit heutzutage aber nicht mehr oder noch nicht wieder besteht, schließen sich ihrer Meinung nach die nachrückenden Generationen noch stärker über die gemeinsame nationale Zugehörigkeit zusammen. schwer fallen. Aber z.B. ich habe es gesehen, meine Bedenken, ich bin orthodox, und wenn ich meine Kinder zur Welt bringe, ich möchte, dass mein Kind einen Namen trägt, welcher mein Bruder getragen hat. Aber wenn ich z.B. jemanden heirate, der einer anderen Religion angehört, wird er sagen: ›Hallo, ich will das nicht, ich will, dass mein Kind wie mein Vater heisst, oder wie mein Bruder, verstehst du?‹ Ich meine, unter uns ist dieses nationales Gefühl sehr stark. Auch vor dem Krieg gab es das. Ich hab eine Tante, die vor 38 Jahren einen Moslem geheiratet hat, also deren Sohn ist jetzt 38 Jahre alt, er hat seine Familie. Und sie hat einen Moslem geheiratet, das war, ich meine, das war ein Chaos. Ihre Eltern gingen nach Kozarac, um sie abzuholen, sie ist geflohen, ich meine, das gibt es doch bei uns seit Jahren. Es ist nicht nur, dass das in diesem Krieg zum Vorschein kam. Ich meine, wir hatten ein normales, besseres Leben vor dem Krieg, als jetzt, und wer weiss, wie viele Jahre noch vergehen müssen, dass man das einfach-, Vielleicht die neuen Generationen, die jetzt kommen, damit sich jetzt alle, Ich sage zu Anel, ich hätte es gern- Ich weinte an einem Abend. Wir fingen mit der Geschichte an, halt über den Nationalismus, wie man mich betrachtet, wie sie jetzt ihre Nachbarn betrachten, weil sie mit mir befreundet sind, wie Enads Mutter das betrachtet, weil er mit einer Serbin befreundet ist, und ihr Mann getötet worden ist. Das ist halt nicht unter uns-, wir lieben uns, ich vergöttere sie. Ich fange zu weinen an und sage, ich hätte es am liebsten, dass sie alle hier zurückkommen, also, dass sie zurückkehren, egal was passieren wird, egal ob wir irgendwelche Beziehung haben werden. Sie sind einfach da, damit ich weiss, dass sie da sind. Damit ich jemanden habe, den ich mitten in der Nacht anrufen und sagen kann, ›hallo, ich brauche einen Freund‹. Ich meine…«
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Für die Ein- und Ausgrenzungsmechanismen der heutigen Gesellschaft ist nach Frau Ivanovićs Meinung also grundsätzlich das »starke nationale Gefühl« verantwortlich oder die »nationale Ladung«, die die Menschen mit sich tragen. Diese nationale Ladung – ein martialischer Begriff – habe der Kriegsverlauf gesteigert, und sie besteht auf beiden Seiten des Grabens: Der Krieg ist primär der eigenen Wir-Gruppe zugestoßen, für das erlittene Unrecht und Leid sind die Anderen verantwortlich. Gerade weil dies auf beiden Seiten Gültigkeit hat, können beide Seiten die Ereignisse auch nicht vergessen. Dies steht im Gegensatz zum oben beschriebenen Brückenschlag, für den das Vergessen nach Ansicht von Frau Ivanović notwendig wäre. Der Gegensatz lässt sowohl die komplexe Nachkriegssituation als auch die Konturen der WirGruppe ausgeprägter zutage treten. Es ist nicht zwingend die nationale resp. die religiöse Zugehörigkeit, welche zum exklusiven Kriterium für die Gruppenbildung wird, sondern Frau Ivanović differenziert das Wir für die Ausgestaltung der Gruppenzugehörigkeit sehr wohl8 . Beispielsweise spielt in ihrer Schilderung die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe eine Rolle, oder die Art und Weise, wie jemand sozialisiert wurde und in welchem Milieu jemand aufgewachsen ist. Hinzu kommen die unterschiedlichen und teilweise sehr individuellen Migrations- und Kriegserlebnisse, die ebenfalls bestimmend wirken. Trotz aller Differenziertheit zeigen sich in ihrer Argumentation jedoch ethnische Grenzen einer möglichen Vergemeinschaftung der beteiligten Gruppen. Besonders offenkundig wird dies beim Beispiel ethnisch gemischter Liebesbeziehungen oder gar Heiraten, spätestens aber bei der Namenswahl für das Kind eines solchen Paares. Bei beiden Beispielen stellt sich nach längerer Argumentation heraus, dass sie die Schranke des Akzeptablen überschreiten und in großen Problemen für die Beteiligten gipfeln würden. Frau Ivanović vermutet dabei nicht nur Probleme zwischen den Betroffenen, sondern auch eine fehlende Akzeptanz der Umgebung. Beziehungen über ethnische Grenzen hinweg scheinen also so lange unproblematisch zu sein, als weder Nähe noch verpflichtende Verbindungen entstehen. Sobald sich aber eine Allianz mit reziproken Verpflichtungen einstellen würde (wie beispielsweise bei einer Eheverbindung), wird das ethnische Moment zum Hauptkriterium des Ein- und Ausschlusses. Diese Mechanismen sind nun aber nichts Nachkriegsspezifisches, sondern waren, wie von Frau Ivanović beschrieben, bereits vor dem Krieg gängige Praxis. Ihre Ausführungen verdeutlichen prägnant, dass die ethnische Zugehörigkeit bereits vor dem Krieg ein Kriterium für Ein- und Ausschluss darstellte, 8 | Diese Differenziertheit bei der Gruppenbildung wird in den anderen Interviews, aber auch in der Literatur (u.a. Bringa 1995; Lockwood 1975) als ein aus der Vorkriegszeit bekanntes Muster aufgegriffen. Damals waren sowohl sozioökonomische Kriterien als auch das Herkunftsmilieu oder die Zugehörigkeit zu Stadt- oder Landbevölkerung entscheidend für die Vergemeinschaftung und Bildung von Wir-Gruppen.
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wenn sie auch nicht das einzige oder einzig wirksame war. Nach den Friedensverhandlungen und besonders durch die Präsenz der vielen Hilfsorganisationen verbreitete sich jedoch die Meinung, Bosnien-Herzegowina sei vor dem Krieg eine tolerante, auf multiethnischer Identität beruhende Gesellschaft gewesen, die nach dem Krieg wieder dorthin geführt werden solle. Die multi-ethnische, multi-religiöse und multi-sprachliche Identitätstoleranz sucht man seit Ende des Krieges herzustellen, wenn auch mit wenig Erfolg. Gerade weil die Ethnizität immer noch oder wieder hauptsächliches Abgrenzungsmerkmal ist (Hayden 2002).
Entpersonifizierte Schuld Was bei Frau Ivanović besonders auffällt, ist die Tatsache, dass ihre ethnische Gruppenzugehörigkeit offenbar bloß für die Anderen ein Problem darstellt, nicht aber für sie selbst – von außen wird sie immer wieder auf diese verwiesen. Sie reproduziert zwar in ihrer Erzählung die vorherrschenden (ethnischen) Gruppenzugehörigkeiten, kritisiert aber die Anderen, diese Positionierungen überhaupt vorzunehmen. So sind es beispielsweise die Anderen – die Erwachsenen oder die von außen kommenden ›Mächtigen‹ –, die für den Krieg und seine Folgen verantwortlich gemacht werden. Sie verweist deutlich auf ihr damaliges Alter. Mit diesem Verweis grenzt sie in den Zitaten nicht nur sich gegen die (Generation der) Täter ab, sondern auch die gleichaltrigen Freunde, ohne die bosniakischen davon auszunehmen. Doch in ihrer Sichtweise werden offenbar Opfer und Täter von vielen Leuten nach ethnischen Kriterien definiert, und sie und ihre Freunde scheinen sich dem nicht entziehen zu können. Für sie hat die Ethnie ihrer ehemaligen Freunde und Freundinnen ihren Bruder ermordet, für die ehemaligen Freunde und Freundinnen ist es ihre Gruppe, die auf die Täterseite gehört. Es scheint als helfe aus dieser Zwickmühle nur die Pathologisierung der Täter. Frau Ivanović macht »die da oben«, »die Politiker«, »die mit dem kranken Verstand« oder die »Psychopathen« verantwortlich für die vergangenen Ereignisse und die Schwierigkeiten beim heutigen Zusammenleben. Es sind immer die unspezifizierten Anderen, die Schuld an den Ereignissen tragen. Mit dieser Referenz zeigt sich eine Haltung, den Ereignissen mit Distanz zu begegnen und die Frage der Schuld zu entpersonifizieren. Auch wenn Frau Ivanović diese Haltung aufgrund ihres Alters zu Zeiten des Krieges nicht zum Vorwurf gemacht werden darf, zeigt sich doch anhand anderer Interviewanalysen, dass dies eine weit verbreitete Haltung ist. Gerade in einer Region wie Bosnien, wo die Gewaltausübungen während des Krieges als »kommunale Gewalt« (Scheper-Hughes und Bourgois 2004: 12) alles andere als unpersonifiziert war, wäre es wichtig – so auch die Forderung von Frau Sivac – die individuellen Täter und Taten beim Namen zu nennen. Es lässt sich anhand des Beispiels von Frau Ivanović aber auch noch auf einen anderen Mechanismus verweisen, der bereits in der Falldarlegung und -analyse von Frau Živković thematisch war:
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es ist derjenige der Selbstwahrnehmung als Opfer. Weil sie ihre Freunde und ihren Bruder verlor und ihre Familie ob der Kriegsereignisse zerbrochen ist, sie selbst als Jugendliche aber nichts gegen die Ereignisse ausrichten konnte, muss sie die Selbstwahrnehmung ›Opfer‹ nicht aufwendig konstruieren und begründen. Sie ist genauso Opfer der Ereignisse wie alle anderen auch. Darin zeigt sich das Phänomen der gesamtgesellschaftlichen Viktimisierung, das nur insofern problematisch wird, als diese Selbstwahrnehmungen gegeneinander ausgespielt werden. Frau Ivanovićs Ausführungen sind für die Fragestellung daher interessant, weil sie die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der Situation verdeutlichen: Frau Ivanović ist sich einerseits bewusst, dass es versöhnende Maßnahmen für eine gemeinsame Zukunft braucht. Dazu zählt sie das gemeinsame Aufwachsenlassen der Kinder unterschiedlicher ethnoreligiöser Herkunft, das Herstellen eines Dialogs über ethnische Grenzen hinweg und die Möglichkeit, emotionale Beziehungen über die ethnischen Grenzen, über die Nacija, hinweg zu knüpfen. Mit ihrem Verweis auf den Genozid oder der Geschichte des Zehnjährigen, dessen Vater man deportiert und umgebracht habe, ohne den Hinterbliebenen zu sagen, wo seine Überreste seien, anerkennt sie zudem die Kriegstaten explizit – eine Ausnahme unter den interviewten Domicilna. Andererseits ist es ihr nicht möglich, die Verantwortung der damals erwachsenen Serben – und somit auch ihrer Eltern – zu benennen. Die Forderung nach Toleranz steht damit der entpersonifizierten Schuld gegenüber. Im Folgenden wird nun die Struktur von Frau Ivanovićs Netzwerken untersucht und mit jenen der anderen Befragten verglichen. Anhand ihres Vorkriegs- und ihres Nachkriegsnetzwerks sollen die Stärke und Schwäche freundschaftlicher Beziehungen und damit in Zusammenhang die Unterschiede zwischen Netzwerken verheirateter und lediger Frauen diskutiert werden.
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Vor- und Nachkriegsnetzwerke im Vergleich: Gute Integration Abbildung 13: Vorkriegsnetzwerk Jelena Ivanović
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Abbildung 14: Nachkriegsnetzwerk Jelena Ivanović
Die Gestalt der Netzwerke Frau Ivanović verfügt im Vergleich mit den anderen Interviewpartnerinnen sowohl vor als auch nach dem Krieg über große Netzwerke, die lose geknüpft sind. Für die Zeit vor dem Krieg nannte sie 22 Bezugspersonen (Durschnittsgröße der Netzwerke vor dem Krieg 14), das Vorkriegsnetzwerk weist die geringe Dichte von 0,24 (Höchstwert 1) auf. Nach dem Krieg zeigt sich ein praktisch identisches Bild: Sie nennt 19 Bezugspersonen (Durchschnittsgröße 13). Die Dichte
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ihres Nachkriegsnetzwerkes weist nach wie vor den Wert 0,24 auf, ihre Bezugspersonen sind untereinander also nur lose verbunden. Diese relativ geringe Dichte ergibt sich daraus, dass Frau Ivanovic in der Netzwerkerhebung weniger Verwandte nennt als andere Befragte. Damit ist bereits auf ein Charakteristikum ihrer Netzwerke hingewiesen: Im Gegensatz zu den anderen Interviewpartnerinnen verfügt die junge Frau über viele schwache und freundschaftliche Beziehungen. Diese begünstigen das Knüpfen von Beziehungen über verschiedene Gruppen hinweg und eine Integration in die Gesamtgesellschaft.
Brüche in den Netzwerken Wie bei allen Interviewten hat sich auch Frau Ivanovićs Beziehungsnetzwerk mit dem Kriegsausbruch auf einen Schlag verändert: Die Mitglieder ihrer gesamten Jugendclique wurden aus der Region vertrieben, Frau Ivanović blieb als einzige ihres Freundeskreises in Prijedor zurück. Auch die enge, freundschaftliche Verbundenheit zu ihrer damals besten Freundin, nennen wir sie Emina, sowie deren Eltern (als Hausfreundin S. und Hausfreund A. in der Grafik bezeichnet) zerbrach durch den Kriegsausbruch und die erzwungene Flucht von Eminas Familie. Eminas Eltern waren vor dem Krieg die besten Hausfreunde der Familie Ivanović, die Kontakte waren regelmäßig und die Beziehung sehr intensiv. Die zwei Familien unternahmen an freien Wochenenden zusammen Ausflüge und verbrachten auch sonst ihre Freizeit gemeinsam. Doch auch für die alltägliche Unterstützung waren sich die beiden Familien stets eine große Hilfe: Die Mütter waren eng befreundet und halfen sich beim Kinderhüten gegenseitig aus. Jelena Ivanović meint dazu: »Ich habe früher öfter bei ihnen gegessen als bei meiner eigenen Familie. Die Beziehung war sehr intensiv. Emina war meine beste Freundin und ich durfte quasi dort aufwachsen. Eigentlich weiß die Mutter von Emina mehr über mich als meine eigene Mutter.« Der Kriegszeit konnte die Beziehung jedoch nicht standhalten: »Der Krieg hat uns voneinander entfernt«, sagt Frau Ivanović kurz und bündig. Haben sie sich vor dem Krieg tagtäglich gesehen, begegnen sie sich heute bloß noch zufällig in der Stadt, und das auch nur dann, wenn Frau Emina ihre Eltern besucht. Frau Emina selbst ist nach ihrer Flucht ins Ausland nicht an ihren Herkunftsort zurückgekehrt und plant das auch nicht. Bei der Betrachtung der Netzwerke von Frau Ivanović widerspiegelt sich nebst dem Einfluss des Krieges ein alterspezifisches Charakteristikum: Bei jungen Menschen sind Brüche in Beziehungen etwas Alltägliches. Jugendfreundschaften werden an einem Tag geschlossen und anderntags wieder abgebrochen. Dieses Umstandes ist sich auch die Interviewpartnerin selbst bewusst, wenn sie sagt, dass »unsere Lebenswege eh einmal auseinander gegangen« wären. Zu bedenken ist in dieser Hinsicht auch, dass sich ein beständiges soziales Netzwerk bei vielen Frauen erst nach ihrer Hochzeit etabliert, dann, wenn sie aufgrund der virilokalen Wohnfolge in Dorf, Haus oder Quartier der Schwieger-
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eltern neuen Wohnsitz nehmen. Die Heirat bedeutet aber nicht, dass die verheirateten Interviewten ihre engsten und besten Freundschaften aus der Kindheit verlieren. Bloß die Regelmäßigkeit der Kontakte kann durch die heiratsbedingte Distanz abnehmen – bei den Befragten sind also nicht Heirat und Wegziehen für den Beziehungsbruch mit Jugendfreunden verantwortlich, sondern ganz eindeutig der Krieg. Bei Frau Ivanović sah die relationale Identifikation vor dem Krieg allerdings etwas anders aus: sie verfügte als Jugendliche noch nicht über ein eigenes gefestigtes oder beständiges soziales Netzwerk. Man darf deshalb annehmen, dass der Kriegsausbruch in ihrem Netzwerk noch leichter zum endgültigen Bruch der nichtverwandtschaftlichen Beziehungen führen konnte als bei Netzwerken, die vor dem Krieg gefestigter waren. Ebenso auffällig an ihren beiden Netzwerken, aber ebenfalls typisch für die Alterskategorie »Jugendliche und junge Frauen« ist, dass Frau Ivanović sowohl vor als auch nach dem Krieg deutlich mehr schwache und freundschaftliche Beziehungen pflegt als verwandtschaftliche. Diese beiden Punkte werden unter der Thematik des Lebenszyklus weiter ausgeführt.
Lebenszyklus: Die junge und unverheiratete Frau Ivanović Typisch für die Netzwerke junger und unverheirateter Frauen ist ein hoher Anteil freundschaftlicher Beziehungen. Beträgt er vor dem Krieg noch etwa die Hälfte, ist er im Nachkriegsnetz auf 79 Prozent angewachsen, während die verwandtschaftlichen Beziehungen nur noch 21 Prozent ausmachen. Zudem fällt auf, dass Frau Ivanović für alle Formen der sozialen Unterstützung, sowohl vor als auch nach dem Krieg, die gleichen mit ihr verwandten Personen nennt. Es sind dies die Eltern, ihr Cousin und ihr Pate – die Beziehungen zu ihnen werden nachfolgend näher betrachtet. Nur mit der im Vorkriegsnetzwerk noch als wichtig erwähnten Tetka väterlicherseits (dt. Tante), die aufgrund ihrer ethnisch gemischten Ehe während des Krieges nach Kanada floh, hat sie heute keinen Kontakt mehr. Die Beziehung zu ihren Eltern schilderte Frau Ivanović im biografischen Interview wie gesehen als sehr distanziert, dies infolge des Todes ihres Bruders. Durch die Analyse ihres Netzwerkes zeigt sich nun aber eine andere Seite der Beziehung: Frau Ivanović unterhält zu ihren Eltern trotz geschilderter Distanz enge und multiplexe Beziehungen und erhält von beiden auch emotionale Unterstützung. Die Mutter übernimmt neben dieser affektiven Beziehung auch die Rolle der instrumentellen Unterstützerin. Dies lässt sich auf den gemeinsam geführten Haushalt zurückführen, wurde doch beispielsweise nach Unterstützungsleistungen im Haushalt oder bei der Vorbereitung religiöser Anlässe gefragt. Der Vater unterstützt Frau Ivanović heute emotional, instrumentell und bei Bedarf auch finanziell. Ganz im Gegensatz zur Vorkriegszeit, als der Vater nur um finanzielle Unterstützung angegangen wurde und aufgrund dieser uniplexen Beziehung als weniger zentrale Person erschien. Die väterliche
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Unterstützung in emotionalen Belangen aktivierte Frau Ivanović erst nach dem Tod ihres Bruders. Die Beziehung zum Vater hat sich also stark verändert, und aufgrund der Auswertungen der Netzwerkanalyse ist anzunehmen, dass sie an Vertrauen gewonnen hat. Mit ihrem Cousin9 , bei dem es sich um den Sohn des Stric (dt. Onkels väterlicherseits) handelt, unterhält sie sowohl vor als auch nach dem Krieg eine enge und affektive Beziehung. »Er ist die engste Bezugsperson in meinem Leben, ich liebe ihn am meisten auf der ganzen Welt.« Heute muss die Beziehung allerdings nationale Grenzen überwinden. Der junge Mann lebte bis 1993 in Prijedor. Dass er nicht ins Militär eingezogen wurde, verdankte er nur seinem Alter. Gleich alt wie Jelena, war er bei Kriegsausbruch noch minderjährig und wurde deshalb nicht für die Armee rekrutiert, wo ihn das gleiche Schicksal wie Jelenas Bruder hätte ereilen können. Im Jahre 1993 flohen er und seine Mutter dennoch aus der Stadt – aber nicht vor dem Krieg oder einem möglichen Militäraufgebot, wie man vermuten könnte, sondern vor dem alkoholabhängigen Vater resp. Ehemann, der Frau wie Sohn gegenüber immer wieder gewalttätig wurde. Heute lebt der Cousin mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern in der Schweiz. Diese Distanz beeinträchtigt die Intensität der Beziehung keineswegs, im Gegenteil: Jelena Ivanović telefoniert mehrmals pro Woche mit ihm, tagtäglich tauschen sie über SMS (Kurznachrichten) ihre Befindlichkeiten aus, und wenn er zweimal im Jahr nach Prijedor zu Besuch kommt, weicht sie nicht von seiner Seite. Er sei der Einzige, dem sie auch wirklich persönliche Dinge anvertrauen könne. Die Vermutung liegt nahe, dass ihr Cousin nach dem Verlust des Bruders zu dessen Ersatz avancierte. Damit wird dem Begriff für Cousin, Nerođeni Brat, dem ungeborenen Bruder, alle Ehre getan. Es lässt sich aber auch eine weitere Vermutung äußern: Der Cousin könnte vielleicht auch jene gleichaltrigen Vorkriegs-Freunde ›ersetzen‹, die in der Nachkriegszeit zu Besuch kommen, die Frau Ivanović aber immer dann auf ihre Zugehörigkeit zur Tätergruppe verweisen, wenn es nahe wird oder die Nähe bekannt werden könnte. Mit dem Cousin hat sie dieses Problem der Nähe und das Verwiesenwerden auf die Tätergruppe nicht. Die Verbundenheit zu ihrem Paten war trotz geografischer Distanz bereits vor dem Krieg stark, wenn auch damals die Beziehung noch nicht multiplex ausgestaltet war. Obwohl der Pate in der ehemaligen jugoslawischen Republik Slowenien lebt, gute vier Autostunden von Prijedor entfernt, sehen sich die beiden auch heute noch alle zwei Wochen. Die einzige Veränderung besteht darin, dass Jelena Ivanović nicht mehr ohne Visum zu ihm reisen kann. Da der Pate 9 | Bos./hrv./srp. Nero đ eni Brat (dt. ungeborener Bruder), auf Serbisch kann der Cousin auch Brat po Stricu genannt werden (dt. Bruder durch den Onkel). Siehe dazu die Ausführung zu den verwandtschaftlichen Termini und dem Verwandtschaftsmodell in Kapitel 4.3.2.
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für die Einreise nach Bosnien und in die Serbische Republik kein Visum benötigt, ist er es, der die Besuchsaktivität in erster Linie aufrechterhält. Für die soziale Unterstützung nach dem Krieg sind für Frau Ivanović aber hauptsächlich außerfamiliäre Beziehungen wichtig. Als besonders bedeutsam bezeichnet sie ihre Freundinnen, Freunde und Bekannten vor Ort. Frau R., nebst der bereits erwähnten Frau Emina eine weitere sehr gute Vorkriegsfreundin, nennt sie sowohl im Vorkriegs- als auch im Nachkriegsnetzwerk. Wie Jelena Ivanović ist auch Frau R. serbisch-orthodoxer Herkunft und zum Zeitpunkt des Interviews unverheiratet. Allerdings lebt sie seit geraumer Zeit mit ihrem Partner zusammen. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen im Alter von elf Jahren, in der Grundschule. Sie treffen sich zu Hause, hören zusammen Musik, schauen sich Filme auf DVD an und tauschen schöne Erinnerungen an ihre Kindheit aus. In ihren Gesprächen finden aber auch schwierige und belastende Themen Platz. Die Beziehung veränderte sich durch den Krieg in positiver Hinsicht. War sie vorher noch uniplex ausgestaltet, ist die Beziehung heute in unterschiedlichen Kontexten von Bedeutung: in den Bereichen Besuchs- und Freizeitaktivitäten und emotionale Unterstützung; die Beziehung ist also multiplex. Frau R. spielt in Frau Ivanovićs Alltag eine zentrale Rolle. Als zweite wichtige außerfamiliäre Bezugsperson nennt Frau Ivanović ihre Freundin Frau S. Die große Bedeutung dieser Beziehung zeigt sich nicht nur an der Multiplexität, sondern wird auch in Jelena Ivanovićs mündlichen Ausführungen deutlich: »Ich weiß nicht, wie ich dir diese Freundschaft beschreiben soll. Sie ist schlicht meine Superfreundin!« Kennengelernt haben sich die beiden Frauen im Jahre 1999 an einem Fest. Seit diesem Zeitpunkt sind sie praktisch unzertrennlich, auch wenn die Freundin ihren Wohnsitz wegen ihres Studiums von Prijedor nach Banja Luka verlegt hat. Das Verhältnis ist ungebrochen intensiv, dieser Freundin kann Frau Ivanović sämtliche Alltagssorgen und -freuden anvertrauen und sie auch »mit all meinen Dummheiten belasten.« Das männliche Pendent zu Frau S. ist Herr G. Mit ihm unterhält sie eine multiplexe Beziehung, die gleich alle vier Unterstützungsbereiche abdeckt. Wie erwähnt, ist gemäß Netzwerkforschung eine hohe Multiplexität Ausdruck großer sozialer Unterstützung, womit Herr G. zur zentralsten Figur in ihrem Nachkriegsnetzwerk avanciert – sie benennt ihn auch als besten Freund. Frau Ivanović zählt Herrn G. ebenfalls zur serbisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft, er ist zum Zeitpunkt des Interviews wie sie noch unverheiratet und lebt ohne Kinder und feste Partnerin in Prijedor. Kennengelernt haben sich die beiden bereits während der Kriegszeit, im Jahre 1993. Seit diesem Zeitpunkt sind sie unzertrennlich. Frau Ivanović kann sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen, denn sie kann ihm nicht nur persönliche Sorgen und Freuden anvertrauen. Nebst ihrem Vater ist Herr G. der Einzige, den sie um finanzielle Unterstützung angeht. Für Frau Ivanovićs Beziehungsnetz lässt sich zur Multiplexität also festhalten, dass nebst den Eltern die zwei besten Freundinnen und besonders Herr G.
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eine zentrale Position in ihrem Netzwerk einnehmen. Dass die Freunde mehr Unterstützung leisten als die Verwandten, lässt sich mit dem Lebenszyklus von Frau Ivanović resp. ihrem Alter und dem Zivilstand begründen. Es ist anzunehmen, dass sich erst durch eine allfällige Heirat diese Art der Unterstützung verändern wird: nach einer Heirat wird die affinale Verwandtschaft zentral, sowie die Nachbarn und besonders auch die (ersten) Nachbarinnen für die gegenseitigen Unterstützungsleistungen. Der Freundeskreis erfährt damit eine verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Ergänzung – wie das bei Frau Živković und anderen Interviewten beobachtet werden kann.
Homophilietendenzen für Alter und Zivilstand, nicht aber für Geschlecht Die Struktur der Unterstützungsnetzwerke wird auch durch den Anteil überzufälliger Ähnlichkeiten in Merkmalen und Einstellungen der Personen bestimmt, die durch eine bestimmte Art sozialer Beziehungen verbunden sind, d.h. den Grad der Homophilie. Beim Betrachten des Nachkriegsnetzwerkes von Frau Ivanović fallen folgende Homophilietendenzen auf: Frau Ivanović ist mehrheitlich mit gleichaltrigen Menschen befreundet, die wie sie noch unverheiratet und kinderlos sind. Die meisten ihrer Freunde befinden sich jedoch wie sie in einem Alter, in dem in Bosnien Ehestand und Elternschaft üblich wären, was die älteren Frauen der eigenen Verwandtschaft und Gemeinschaft des Öftern auch als selbstverständlich voraussetzen.10 Das Unverständnis älterer Frauen für die in ihren Augen späten Heiratswünsche von Frauen urbaner Herkunft kann sowohl auf einen Generationenkonflikt hinweisen als auch auf einen Konflikt zwischen ruralem und urbanem, oft mit Westeuropa verbundenen Lebensstil. Der Lebensstil der 28-jährigen Frau Ivanović verdeutlicht gerade aufgrund des Unverheiratetseins und der Kinderlosigkeit eine typisch urbane Lebensführung gut ausgebildeter junger Frauen. Diese Lebensführung hängt aber stark von den verfügbaren Ressourcen, der Familien- und der Haushaltsform sowie den Wertehaltungen der Eltern und der Verwandtschaft ab. Die gute Ausbildung der Eltern und besonders die Berufstätigkeit beider Elternteile ließen in ihrem Fall ganz spezifische Wertehaltungen zu. Es war Frau Ivanovićs Eltern wichtig, dass ihre Tochter einen soliden Beruf erlernt, um als Frau ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen. Eine solche Wertehaltung definiert in der Regel auch die spezifischen Lebensziele der Kinder, prägte ihre Mentalität und mündete in einen spezifischen Habitus (Müller 1992: 377). Man darf annehmen, dass dies 10 | So wurde auch ich selbst immer wieder mit der Bemerkung konfrontiert, dass ich doch in einem Alter sei, wo eine Frau schon längst verheiratet sein und sicherlich ans Kinderkriegen denken müsste. Nicht wenige der Interviewpartnerinnen schickten sich deshalb an, mir einen potentiellen Ehepartner zu suchen.
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auch bei Frau Ivanović der Fall war. Mit Hilfe der Analyse ihrer Netzwerke zeigt sich nun das Besondere an Frau Ivanovićs urbaner Lebensform. Charakteristisch an ihrem Nachkriegsnetzwerk ist die ausgewogene Mischung aus schwachen und starken Beziehungen zu Personen beider Geschlechter und einem relativ kleinen Anteil verwandtschaftlicher Beziehungen. Dadurch gleicht Frau Ivanovićs Netzwerk den Netzwerken junger Städterinnen in anderen Ländern. Sie hat Fremdsprachenkenntnisse, unternimmt Reisen ins Ausland und kleidet sich nach der neusten, von Italien beeinflussten Mode. In ihrer Freizeit trifft sie sich in Lieblingskafić, Discos oder Bars mit ihren Freunden und Freundinnen, die gemeinsam mit der Mutter bewohnte Wohnung dient ihr vorwiegend als Schlafplatz. In ihrem lokalen Nachkriegsnetzwerk fällt zum anderen aber auch die ethnische Homogenität auf. Das transnationale Netzwerk wird hier nicht näher diskutiert, weil diese Beziehungen abgesehen von der Beziehung zum Cousin und zum Paten bezüglich der Intensität einen untergeordneten Stellenwert einnehmen.11 Im lokal ausgerichteten Nachkriegsnetzwerk verlässt sich Frau Ivanović für soziale Unterstützung fast ausschließlich auf andere bosnische Serbinnen und Serben. Die zwei genannten nichtserbischen Bekannten, ein Brüderpaar (bezeichnet in der Grafik mit Freund An. und Freund D.), haben einen serbischen Vater und eine bosniakische Mutter. Im Fragebogen bezeichnete Frau Ivanović die beiden zuerst als orthodoxe Serben, erst bei den weiteren Ausführungen stellte sich heraus, dass sie eine bosniakische Mutter haben. Die Beziehungen zu diesen Bekannten sind laut Frau Ivanović schwacher Natur. Bei sozialer Unterstützung zeigt sich also eine deutliche Tendenz zu ethnischer Homophilie. Bezüglich der Geschlechterhomophilie unterscheidet sich Frau Ivanovićs Nachkriegsnetzwerk von den Netzwerken der älteren Befragten. Bei ihr überwiegt die Tendenz, für soziale Unterstützung auf das andere Geschlecht zurückzugreifen. Ganz anders die Netzwerke der anderen Interviewten (siehe beispielsweise die Fälle Sivac, Begović und Živković). Bei ihnen sind 64,8 % der Bezugspersonen Frauen, nur 35,2 % wenden sich an Männer (vgl. Kapitel 4.3.1). Noch deutlicher sieht es beispielsweise für die emotionale Unterstützung allein aus: Es zeigt sich, dass 66,7 % der angegebenen Bezugspersonen Frauen sind, der Männeranteil beträgt nur 33,3 %. Besonders ausgeprägt ist die Geschlechterhomophilie auch bei Freizeit- und Besuchsaktivitäten: In der gesamten Unter11 | Möglicherweise nannte Frau Ivanovi ć die transnationalen Beziehungen sogar nur deshalb, weil das Interview während einer Zeit durchgeführt wurde, in der die Mitglieder der bosnischen ›Diaspora‹ vor Ort sehr stark präsent waren und auch Frau Ivanovi ć ihren alten Freunden, wenn auch nur per Zufall, wieder begegnete. Gestärkt wird diese Vermutung dadurch, dass sie die Kontakthäufigkeit bei allen ›Diaspora-Mitgliedern‹ auf einmal im Jahr festlegte.
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suchtengruppe besuchen und empfangen Frauen mehrheitlich andere Frauen – Männer werden im Bereich soziale Aktivitäten wesentlich seltener genannt (66,35 % Frauen gegenüber 33.65 % Männern). Dies stützt die These, dass Frauen eine wichtige Rolle einnehmen, wenn es um die Pflege von Beziehungen zwischen Haushalten geht. Es sind besonders die Frauen, die sich gegenseitig besuchen und dabei Informationen jeglicher Art austauschen. Frau Ivanović stellt als Vertreterin der jungen Generation in dieser Hinsicht aber eine Ausnahme unter den Befragten dar – bei ihr präsentiert sich die Geschlechteraufteilung im Bereich soziale Aktivitäten geradezu entgegengesetzt: Sie verbringt ihre Freizeit hauptsächlich mit jungen Männern und will, wie sie betont, »mit den Frauentratschgeschichten« nichts zu tun haben. Dieser Umstand lässt sich aber auch auf ihren Zivilstand zurückführen – nach einer Heirat wäre sie fest ins Netzwerk der weiblichen konsanguinen und affinalen Verwandtschaft eingebunden. Es sind also die Bedeutung der freundschaftlichen Beziehungen sowie die nicht vorhandene Geschlechterhomophilie, welche Frau Ivanovićs soziales Netzwerk auszeichnen. Ebenso charakteristisch für Frau Ivanovićs Nachkriegsnetzwerk ist die eher lose Beziehungsstruktur zwischen Freundeskreis und Verwandtschaft. Beide Gruppen sind untereinander bekannt, sie unterhalten aber keine tieferen und weiterführenden Beziehungen.
Transnationale Beziehungen In den bereits präsentierten Netzwerken spielten transnationale Beziehungen eine Rolle; in Frau Ivanovićs Netzwerk zeigt sich nun eine neue Komponente. Frau Ivanović verfügt über ein Gemisch aus verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen ins Ausland, währenddem bei den anderen Frauen praktisch ausschließlich verwandtschaftliche Beziehungen über nationale Grenzen hinweg wichtig waren. Zusätzlich zeigt sich eine weitere Auffälligkeit und besondere Komponente an Frau Ivanovićs transnationalen Beziehungen: Sie bezieht aus dem Ausland keine finanzielle Unterstützung, sondern ausschließlich emotionale. Diese Form der Unterstützungsleistung über die Grenzen hinweg stellt eine wirkliche Besonderheit dar. Ebenso auffallend ist die Tatsache, dass sie keine Freundschaften mit Frauen aus ihrer Jugendclique über den Krieg hinweg retten konnte, währenddem einige der männlichen Bekanntschaften über den Krieg hinaus bestehen bleiben. Diese werden, wie ausgeführt, in erster Linie in den Sommermonaten gepflegt, wenn die Bekannten in ihrer Herkunftsstadt den Urlaub verbringen.
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Zusammenfassend Mit 19 genannten Bezugspersonen ist Frau Ivanovićs Nachkriegsnetzwerk relativ groß. Es besteht zu mehr als der Hälfte aus Freundschaftsbeziehungen zu Serbinnen und Serben. Beides deutet generell auf eine gute Integration in die serbische Mehrheitsgesellschaft vor Ort hin. Die freundschaftlichen Beziehungen weisen auf zentrale Relationen hin, die zum sogenannten sekundären sozialen Umfeld führen, also Bindungen am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft beinhalten. Bezüglich der bei der Netzwerkerhebung genannten primären, d.h. verwandtschaftlichen Beziehungen zeigt sich allerdings sowohl eine emotionale als auch eine soziale Isoliertheit. Hierbei weist Frau Ivanović in ihrem Nachkriegsnetzwerk ein Defizit auf, welches sie über ihre Freundschaften auszugleicht. Bei Frau Ivanović ist das für die Integration zentrale solidarische Gefüge der Nachbarschaften und Freundeskreise auch im Nachkriegsnetzwerk vorhanden. Offenbar sind soziale Beziehungen außerhalb der Familie auch in der Nachkriegsgesellschaft nicht in jedem Fall von Misstrauen und Eigennutzen geprägt. Im Falle von Frau Ivanović sei aber angemerkt, dass es sich hierbei um ein nach dem Krieg geknüpftes sekundäres und ethnisch recht homogenes Gefüge – jedenfalls bei den engen Freundschaften –, handelt, denn insbesondere der alte, ihr sehr vertraute Freundeskreis zerbrach durch die Kriegsereignisse. Im Vergleich mit Netzwerken anderer Befragter zeigt sich, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe in dieser Hinsicht von Bedeutung ist. Gerade ältere, unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen ohne primäre (familiäre und auch verwandtschaftliche) Einbettung leiden eher an sozialer Isolation als die jüngeren Frauen, die weitaus einfacher neue Beziehungen knüpfen können. Darauf weisen altersspezifische Erwartungen der Umgebung und unterschiedliche Verpflichtungen hin: Frau Begović beispielsweise hat für eine unmündige Tochter zu sorgen, und es zeigt sich bei ihr an den Ausführungen zur sozialen Kontrolle, dass das was bei einer jungen Frau toleriert wird, sich für eine ältere nicht schickt. Die Jüngeren können sich offenbar nach einem so starken Bruch, wie der Krieg sie in den meisten Netzwerken herbeiführte, in ihrer Beziehungsarbeit weitaus flexibler zeigen.
8.3 F ALLKONKLUSION Anhand von Frau Ivanovićs Falldarlegung und -analyse zeigen sich weitere zentrale Diskussionspunkte. In ihrer Lebensgeschichte lassen sich bei der Antwort auf die Schuldfrage auffällige Analogien zu Frau Živkovićs Schilderungen erkennen. Beide Frauen ringen auf die Frage nach den Kriegserfahrungen um ein Verständnis des Geschehenen vor dem Hintergrund kollektiver Deutungen.
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Gemäß dieser Deutungen wurden die Verbrechen auf allen Seiten ausgeübt, weshalb es keine eindeutig Schuldigen geben könne.12 Wie bei Frau Sivac gesehen, lässt sich aber die Anerkennung der Tatsache, dass auf allen Seiten Verbrechen verübt wurden, durchaus mit der Forderung nach Anerkennung für ausnahmslos alle Opfer von Gewaltanwendungen und der Benennung der Täter vereinbaren, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder nationalen Zugehörigkeit und dem Ort des Verbrechens. Auch wenn Frau Ivanović den Genozid ausdrücklich beim Namen nennt und die Kriegserlebnisse der anderen erwähnt, ohne sie zu verharmlosen, lässt sich ein Erzählmuster ablesen, das sie selbst als Unbeteiligte und Unschuldige hervorhebt. Bereits weiter oben wurde betont, dass sie aufgrund ihres Alters die Schuld am Krieg sicher nicht übernehmen kann. Darum soll es hier auch nicht gehen. Viel eher zeigt sich in ihren Ausführungen eine Verinnerlichung des gesellschaftlichen Diskurses, den sich bei Frau Živković bereits abzeichnete: Bei beiden Frauen schwingt in ihren Ausführungen eine latente Entpersonifizierung der Schuldfrage mit: Nicht das Individuum trägt die Schuld am Geschehenen, sondern das unpersönliche Kollektiv einer ethnisierten Gemeinschaft. Feststellbar ist die Schuld dann jeweils bei den ›Anderen‹. Darin zeigt sich eine ›selbstimmunisierende‹ Strategie des Umgangs mit der Vergangenheit. Wie bei Frau Živković findet sich bei Jelena Ivanović zusätzlich eine pathologisierende Erklärung für die Verbrechen. Es sind also nicht nur ›unpersönliche Andere‹, die den Krieg angezettelt haben, ihr Verhalten wird darüber hinaus auch als krankhaft bezeichnet. Der gleiche Mechanismus lässt sich in der Narration über die problematische Nachkriegszeit feststellen. Frau Ivanović macht sich nie selbst für die schwierige Situation verantwortlich. Sie bemerkt zwar, dass ein großer Graben durch die Prijedorer Gesellschaft verläuft, sie selbst und ihre Freunde sind indes für diesen Graben nicht verantwortlich. Es sind die ›Anderen‹ – die Älteren, die Mächtigen, die Politiker, die Nachbarinnen und Nachbarn –, die die Trennung herstellen und aufrechterhalten, sie und ihre Freunde würden die Kluft sofort überqueren. Eine Erklärung für das Wegschieben jeglicher Verantwortlichkeiten ließe sich darin sehen, dass Frau Ivanović von den ›Anderen‹ als Serbin und gleichzeitig als Täterin stigmatisiert wird. Das Verwiesenwerden von außen auf die Zugehörigkeit zur Tätergruppe wird damit für sie zu einem Problem, gegen das sie sich wehren muss. Gleichzeitig wird ihre Gruppenzugehörigkeit aber auch für die ›Anderen‹ zu einem Problem. Denn die Kategorie ›Serbin‹ scheint sie selbst nicht als unangebrachte Bezeichnung zu betrachten, noch stellt sie explizit fest, wie unsinnig es ist, diesen Kategorien eine dermaßen große Bedeu12 | In diesen Deutungen zeigt sich eine unlogische Argumentation, weil man Schuldige ja trotzdem benennen könnte, man bräuchte nur aufzuhören, Täter und Ethnie gleichzusetzen.
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tung zuzumessen. Sie relativiert die Kategorien also nicht und hinterfragt ganz allgemein die ethnischen Zuschreibungen nicht. Zwar problematisiert sie das Verhalten der anderen Leute, aber nicht zwingend die dahinter stehenden Klassifikationen. Trotz der Kritik und der Abwehr gegen eine Zuteilung zur Tätergruppe reproduziert sie also die Gruppenzugehörigkeiten durch ihre Erzählung und lässt in ihren Ausführungen eine Art Patriotismus für die eigene Gruppe erkennen. Indem sie die Schuld den ›Anderen‹ zuweist, kann sich die junge Frau als Person präsentieren, die sich für das (Wieder-)Aufnehmen zwischenethnischer Beziehungen engagiert oder diesen Beziehungen zumindest nicht abwehrend gegenüber steht. Dass sie mit ihrem Engagement nicht reüssieren kann, liegt wiederum allein am Verhalten ihres Umfeldes. Die ›Anderen‹ verhindern zwischenethnische Kontaktaufnahmen und verurteilen Menschen, die dennoch solche Kontakte pflegen. Aufgrund dieser Reaktionen aus dem Umfeld macht sie eine verstärkte Ethnisierung fest. Ihrer Meinung nach ist deshalb die Ethnizität nach wie vor das dominante Kriterium für Ein- und Ausschlüsse in der Gesellschaft vor Ort. Damit wird die betonte Differenzierung und Distanzierung von den ›Anderen‹ zu einem Mechanismus, der als Grundlage für den Segregationsprozesse zwischen den beiden ethnischen Gruppen dient. Mit der gleich anschließenden letzten Falldarlegung wird das von Frau Ivanović angesprochene symbolische Brückenbauen als Möglichkeit der Versöhnung in Prijedor detailliert untersucht. Frau Sotivor-Borić ist eine der wenigen Personen, die während der Forschung den angesprochenen Graben zwischen den vom Krieg unterschiedlich betroffenen Gruppen tatsächlich zu überwinden versuchte. Ihre eigene ethnische Gemeinschaft hinderte sie aber am Weiterführen des versöhnenden Engagements. Frau Sotivor-Borić wurde als Verräterin angefeindet, woraufhin sie ihr Engagement für die Vision eines gemeinsamen Bosnien-Herzegowinas beendete.
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9. »Ich bin von allen dreien etwas: ein wenig Serbin, ein wenig Muslimin, ein wenig Kroatin!« Die Tanzlehrerin Miroslavka Sotivor-Borić
Frau Sotivor-Borić hat die Kriegszeit nicht in Prijedor verbracht. Mit ihrem Sohn, aber ohne Ehemann, lebte sie während des Krieges bei Verwandten ihres Ehemannes in Serbien, von wo sie bereits im Jahre 1994 nach Bosnien zurückkehrte. Der Grund für die frühe Rückkehr war eine ernsthafte Erkrankung, welche ihre Mutter pflegebedürftig werden ließ. Aufgrund mangelnder Einkommensalternativen machte Frau Sotivor-Borić nach dem Krieg ihr Vorkriegshobby zum Beruf. Sie unterrichtete Kinder in traditionellem Tanz – ihrer Meinung nach ein geeignetes Mittel, um die im Krieg entstandenen Gräben zwischen den Menschen überwinden zu können. Doch mit ihrem Engagement eckte Frau SotivorBorić überall an. Ganz besonders leidet sie deshalb heute unter Angriffen der serbischen Gemeinschaft, die ihre Einstellung verurteilt und sie zur Verräterin stempelt. Frau Sotivor-Borić befindet sich deshalb ohne Einkommen in einer prekären finanziellen und später als geschiedene, alleinerziehende Frau auch in einer isolierten sozialen Situation. Die Gespräche mit Frau Miroslakva Sotivor-Borić fanden an zwei unterschiedlichen Orten statt: Das erste Interview führten wir auf ihren Wunsch in der Küche meiner Wohnung durch. Erst beim zweiten Gespräch, diesmal in ihrer Wohnung, wurde mir klar, weshalb sie diesen anfänglichen Wunsch geäußert hatte: Frau Sotivor-Borić und ihr Sohn wohnten in einer winzigen Eineinhalbzimmerwohnung, die ärmlich eingerichtet wirkte. Die Wände waren von Nikotin gelb verfärbt und es roch streng nach altem, abgestandenem Rauch. Kein Wunder, denn Frau Sotivor-Borić rauchte fast ununterbrochen, und überall in der kleinen Wohnung fanden sich überquellende Aschenbecher. Sie bot mir und meiner Feldsassistentin Platz auf einem durchgesessenen, schmuddeligen Sofa an und setzte sich selbst auf einen einfachen Küchenhocker. Das Sofa diente der alleinerziehenden Mutter auch als Bett. Ihr Schlafzimmer be-
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fand sich im Wohnzimmer. Dies allein ist für Bosnien nichts Ungewöhnliches. Immer wieder wurde ich in Wohnungen empfangen, wo die Eltern im Wohnzimmer auf Bettsofas schlafen, währenddem die Kinder ihre eigenen Spiel- und Schlafzimmer haben. Auch bei Frau Sotivor-Borić ist das Fallkapitel in zwei Unterkapitel gegliedert: An erster Stelle steht die Falldarlegung aus der Perspektive der interviewten Frau. Der zweite Teil analysiert die Falldarlegung und die Bedeutung der Aussagen mit Blick auf die Nachkriegsgesellschaft. Mit der Diskussion der Netzwerke und der Fallkonklusion schließt das Kapitel.
9.1 F ALLDARLEGUNG : D IE Z UGE ZOGENE Miroslavka Sotivor-Borić gehört mit Jahrgang 1969 in die zweitjüngste Alterskategorie der Untersuchten. Sie ist das jüngste von drei Kindern einer Arbeiterfamilie. Ihre Eltern – der Vater wurde 1930 geboren, die Mutter 1932 – stammen beide aus einem rural geprägten Umfeld und gehörten einer bildungsfernen Schicht an. Sie brachen beide nach nur vier Schuljahren ihre Ausbildung ab. Frau Sotivor-Borićs Vater arbeitete vorerst auf dem elterlichen Hof. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahm er, wie viele seiner Altersgenossen, eine Hilfsarbeiterstelle in einer der örtlichen Holzfabriken an. Die Mutter arbeitete nach den ersten vier Grundschuljahren ebenfalls auf dem elterlichen Hof und wurde in die zukünftigen Pflichten und Tätigkeiten einer Ehefrau eingeführt. Wie ihr künftiger Ehemann nahm sie im Erwachsenenalter eine Stelle in einer der örtlichen Holzfabrik an, allerdings als Köchin in der Kantine. Beide Eltern wuchsen in derselben Ortschaft auf. Dieser Ort nahe der kroatischen Grenze hat rund 8.000 Einwohnerinnen und Einwohner und ist auch Frau Sotivor-Borićs Geburtsort. Seit jeher wird die Ortschaft von Serbinnen und Serben bewohnt. Bei den Volkszählungen 1971 und 1981 deklarierten sich 88 % der Bewohnerinnen und Bewohner als Serbin oder Serbe, 1991 waren es gar 97 %. 1 Auch die Familie Sotivor bezeichnet sich als serbisch und als Mitglieder der serbisch-orthodoxen Kirche. Es war diese Religion, die nach Frau SotivorBorićs eigenen Angaben ihren Alltag und ihr Aufwachsen in einer mehrheitlich serbisch bewohnten Region bestimmten. Die Umgebung, in der Frau Sotivor-Borić aufwuchs, war für die monoethnische Zusammensetzung bekannt, ebenso für die Holzwirtschaft – ein Industriezweig, der bereits zu Zeiten der österreichisch-ungarischen Okkupation der Re1 | Da die genaue Quellenangabe die Anonymisierung der Ortschaft verunmöglichen und damit auch die Anonymisierung von Frau Sotivor-Bori ć gefährden würde, bleibt diese Quelle ungenannt.
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gion wichtiges Einkommen generierte. Bekannt ist die Ortschaft auch aufgrund der Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs, weil Tito und seine Partisanen in der Umgebung wichtige Siege erringen konnten. Während des Kriegs der 1990er Jahre blieb die Ortschaft bis 1995 unter serbischer Besatzung. Erst gegen Ende des letzten Kriegsjahres wurde die Gegend während der Militäroffensiven Oluja und Maestral2 von den Kroaten eingenommen und die serbische Bevölkerung wurde mehrheitlich vertrieben und umgebracht. Das Friedensabkommen von Dayton schlug einen Großteil der Gemeinde der Föderation FBiH zu und den Rest der serbischen Republik RS. Heute verläuft die Entitätsgrenze rund 10 km vom Ortskern entfernt. In die Schlagzeilen kam der Ort im Jahre 1998, als die Rückkehr der ehemaligen serbischen Bewohnerinnen und Bewohner von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet wurde3 . Dies ist einer der Gründe, weshalb sich die Rückkehrmigration der Serbinnen und Serben in diesen Ort stark verzögert. Heute ist die Kleinstadt mehrheitlich von kroatischen Bosnierinnen und Bosniern bewohnt. Frau Sotivor-Borićs Eltern heirateten 1956, zwei Jahre vor der Geburt ihres ersten Sohnes. Der zweite Sohn kam drei Jahre später im Jahre 1961 zur Welt. Frau Sotivor-Borić wurde 1969 als Nachzüglerin geboren, lernte allerdings nur im Säuglingsalter ein gemeinsames Familienleben mit Vater, Mutter und den Brüdern kennen: 1970 kam es nach 14 Jahren Ehe zur Scheidung. Positive Erinnerungen an den Vater sind – auch auf mehrmaliges Nachfragen – praktisch nicht vorhanden, hingegen einige negative. Kein Wunder also, beschreibt Frau Sotivor-Borić die Beziehung zu ihrem Vater als sehr schlecht und belastend. Den Grund für die bedrückende Beziehung sieht sie in erster Linie in der Weigerung des Vaters, für seine geschiedene Frau und die gemeinsamen drei Kinder Unterhalt zu zahlen. Noch heute will Frau Sotivor-Borić keinen Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen. Es reiche ihr zu wissen, dass er einer der wenigen Serben sei, die trotz angespannter Sicherheitslage an den Herkunftsort zurückkehrten, wo er nun seinen Lebensabend verbringe. Frau Sotivor-Borićs Mutter musste also ab dem Jahre 1970 mit drei unmündigen Kindern den Alltag ohne die Unterstützung ihres Ehemannes bewältigen. »Meine Mutter war alleinstehend und sie hat sehr schwer gearbeitet, um uns das Leben und die Ausbildungen zu finanzieren.« In ihrer Erinnerung verdiente die Mutter in der örtlichen Holzfabrik gerade genug, um das tägliche Leben zu bestreiten. Für die Finanzierung der weiterführenden Ausbildung aller drei Kinder reichte der Lohn aber nicht aus.
2 | Für die genauen Ausführungen zu dieser Militäroffensive siehe den Fall Ivanovi ć , Kapitel 8.1.2. 3 | Da genaue Quellenangaben die Anonymisierung gefährden würden, wird darauf verzichtet.
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Beide Brüder absolvierten die Mittelschule im Herkunftsort und schlossen sie laut Frau Sotivor-Borić mit Bestnoten ab. Danach trennten sich ihre Wege: Der Erstgeborene verließ das Elternhaus in Richtung Belgrad, als Miroslavka in die Grundschule eintrat. Er absolvierte dort seinen Militärdienst und schrieb sich danach auf Wunsch seiner Mutter an der Belgrader Universität für das Studium des Maschineningenieurs ein. Aufgrund der prekären finanziellen Situation der Mutter musste er selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Er suchte und fand diverse Einkommensmöglichkeiten, mit denen er sich das Studium selbst finanzieren konnte. Nach dem Abschluss fand er eine Anstellung in Belgrad, was ihn zum Verbleib in der jugoslawischen Hauptstadt bewegte. Dort heiratete er auch und bekam zwei Töchter. Die Beziehung zu ihrem älteren Bruder beschreibt Frau Sotivor-Borić als nichts Besonderes und nicht eng, der Altersunterschied zwischen ihnen sei zu groß. Auch die einmal im Jahr stattfindenden Familientreffen reichten für eine emotionale Annäherung der beiden Geschwister nicht aus. Der jüngere der beiden Brüder ist Frau Sotivor-Borić weitaus vertrauter. Er verließ die Herkunftsregion, als sie zehn Jahre alt war, um in Sarajevo zu studieren. Er blieb aber stets in engem Kontakt mit der Mutter und der kleinen Schwester. Laut Frau Sotivor-Borić wurde sie als einzige Tochter und Jüngste nicht nur von der Mutter vergöttert; auch der zweitgeborene Bruder kümmerte sich um das Nesthäkchen, wie sie erzählt: »Ich wünsche allen Frauen eine solche Mutter und einen solchen Bruder! Mit dem Bruder bin ich immer noch sehr eng verbunden. Er ist eine sehr große Unterstützung für mich. Fragen Sie mich nicht, was ich ohne ihn tun würde!« Der Jüngere der beiden Brüder absolvierte in Sarajevo die Schauspielakademie. Auch er musste seinen Lebensunterhalt während der Studienzeit selbst bestreiten, die Unterstützung der Mutter reichte knapp aus, die Studienmaterialien zu finanzieren. Nach Abschluss der Akademie arbeitete er als Theater- und Filmschauspieler und brachte es im damaligen Jugoslawien zu einigem Ruhm gelang. Als der Krieg 1992 ausbrach, half ihm ein befreundeter Regisseur aus der Stadt, und er konnte nach Belgrad fliehen, wo er noch heute lebt und in seinem angestammten Beruf arbeitet. Dank seiner Berühmtheit im Jugoslawien der Vorkriegszeit lebt er auch heute noch gut von seinen Engagements. Die beruflichen Werdegänge der Brüder lassen sich aus analytischer Perspektive als sozialen Aufstieg charakterisieren. Es kann angenommen werden, dass der ältere Bruder mit dem Besuch der Universität die Wünsche der Mutter erfüllt und dadurch dem jüngeren den Weg ebnet, einen künstlerischen Beruf zu ergreifen. Die Erklärung des sozialen Aufstiegs findet sich unter anderem in der Verbesserung des Bildungssystems und der Bildungsoffensive durch den Sozialismus (vgl. dazu Kapitel 3.2): Ungeachtet der Herkunft und des Geschlechts sollte es den Jugoslawinnen und Jugoslawen möglich sein, eine gute Ausbildung zu absolvieren – etwas, das auch Frau Sotivor Vorteile verschaffte.
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9.1.1 Die Studienzeit im multikulturellen Sarajevo Auch Miroslavka Sotivor zog nach Abschluss der Mittelschule aus ihrem Herkunftsort weg. Sie fand in Sarajevo beim jüngeren ihrer beiden Brüder Unterschlupf. »Ich bat meinen Bruder, mich an der Kunstakademie einzuschreiben, denn ich zeichnete leidenschaftlich gerne, ganz besonders Karikaturen. Das war mein größter Traum! Aber er ist nie in Erfüllung gegangen, weil mein Bruder sagte, es gäbe keine Ausbildung zur Karikaturistin und er meinte, dass ich im Tourismusbereich eher eine gesicherte Anstellung finden würde.« Ihrem Berufswunsch Karikaturistin trauert Frau Sotivor-Borić laut eigenen Angaben bis heute nach. Denn Zeichnen war seit jeher ihre Passion: Bereits im Kindesalter wurde die Lehrerin auf die zeichnerische Begabung der kleinen Miroslavka aufmerksam. Nicht ohne Stolz erwähnt Frau Sotivor-Borić, dass die Lehrerin sie aufforderte, beim Maskottchen-Wettbewerb für die Olympischen Spiele in Sarajevo 1984 mitzumachen. Auch wenn sie für die Gestaltung nicht auserkoren wurde, erinnert sie sich doch sehr gerne an diesen Wettbewerb und die Bewunderung, die ihr die Lehrerin und die Mutter entgegenbrachten. Auf Anraten ihres Bruders und ihrer Mutter schrieb sie sich also im Jahre 1987 an der Universität in Sarajevo ein, um Ökonomie und Touristik zu studieren. Damit kam sie nicht nur dem Wunsch ihres Bruders nach, eine solide Ausbildung zu absolvieren, sondern auch jenem der Mutter. Doch sie war nie mit Leib und Seele Studentin der Ökonomie: »In Sarajevo habe ich ein bisschen studiert. Viel spannender war für mich aber das viele Tanzen nebenbei.« Mit dem Tanzen spricht sie nicht etwa nächtelange Partybesuche an, sondern die Ausbildung zur traditionell bosnischen Tänzerin, welche sie neben dem Studium absolvierte. Schon bald begann sie, Kinder und Jugendliche in Volkstanz zu unterrichten. Damit konnte sie sich einen großen Anteil ihres Lebensunterhaltes selbst verdienen. Wie bei ihren Brüdern reichten die finanziellen Zuwendungen der Mutter nicht für den Lebensunterhalt aus. Zusätzlich zum Tanzunterricht arbeitete sie in der Jugendgenossenschaft und als Hilfskraft bei einer Zeitung. Obwohl sie ihre Enttäuschung nicht verbirgt, dass sie nicht ihren Traumberuf erlernen konnte, erinnert sich Frau Sotivor-Borić sehr gerne und mit viel Begeisterung an ihre Studienzeit. Es ist ein idyllisches Bild ihres Lebens im Vorkriegs-Sarajevo, welches sie im Interview zeichnet: »In Sarajevo war ich mit verschiedenen Menschen befreundet. Also mit Muslimen, Serben und Kroaten. Das war ein wunderschönes Leben, ein schönes Leben. Es war einfach super. Und wissen Sie, es war das pure Gegenteil von der Umgebung, wo ich herkomme. Dort gibt es keine Muslime, keine Kroaten, nur Serben. Und dann komme ich nach Sarajevo in eine gemischte Umgebung mit Muslimen, Kroaten und Serben. Ja, das Verhältnis damals war fantastisch. Aber es war auch alles so normal, ja, es war normal, dieses Verhältnis.«
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Für Frau Sotivor war damals alles noch in Ordnung. In der Stadt hätten drei unterschiedliche Gruppen gelebt, sie und ihre Freunde hätten aber nicht gewusst, wer welcher Gruppe angehörte. Gegenseitige Besuche über ethnische Grenzen hinweg waren ebenso an der Tagesordnung wie das gemeinsame Feiern von Hochzeiten und Begehen anderer Festlichkeiten. Der einzige Unterschied, den Frau Sotivor-Borić betont, war der Unterschied zwischen Mann und Frau. »Das war Bratstvo i Jedinstvo. […] Wir hatten damals noch keine Ahnung vom Krieg, von gar nichts hatten wir eine Ahnung! Alles war gut bis anfangs 1991 …« Während ihrer Tanzausbildung lernte sie ihren künftigen Ehemann kennen. Er war Musiker und begleitete die Tänzerinnen. Die beiden freundeten sich an, verliebten sich, und kurze Zeit später war sie schwanger. Mit diesem ungeplanten Kind begründet Frau Sotivor-Borić denn auch ihre Hochzeit und besonders den damit verbundenen Umzug in die Provinzstadt Prijedor, den Herkunftsort ihres Ehemannes. Im Mai 1991 wurde in Prijedor Hochzeit gefeiert, im Oktober 1991 kam der Sohn zur Welt. Besonders stolz ist Frau Sotivor auf die Tatsache, dass eine junge muslimische Freundin namens Azima aus Sarajevo die Rolle der Kuma (dt. Trauzeugin) übernahm. Mit der Heirat war die 22-jährige Frau aber nicht nur gezwungen, das ihr lieb gewordene multikulturelle Sarajevo, ihre dortigen Freunde und ihren Bruder zu verlassen, sondern auch ihr Studium abzubrechen. Infolge ihrer neuen Rolle als Mutter, aber auch infolge des Krieges, konnte sie das Studium nicht wieder aufnehmen.
Kriegsausbruch und E xil Mit den Schilderungen ihres Umzuges von Sarajevo nach Prijedor, der Eheschließung und der Geburt ihres Sohnes macht Frau Sotivor-Borić auf eine Veränderung in ihrem persönlichen Leben aufmerksam, welche mit der historischen Umbruchsituation in der Region zusammenfällt. Denn als sie nach Prijedor umzog, waren, wie sie mehrmals betont, die Zeichen in Slowenien und Kroatien bereits auf einen kriegerischen Konflikt gerichtet4 , der jugoslawische Zerfall hatte längst begonnen: »Man fühlte es irgendwie, ich sage nicht in der Luft, das sind Geschichten für kleine Kinder. Aber man fühlte, dass etwas passiert.« Auch ihre muslimische Trauzeugin meinte die Spannungen zu spüren: »Nach meiner Hochzeit hat sie mich angerufen und gesagt, dass es hier in Bosnien große Probleme geben könnte. Zu Beginn wollte ich es nicht wahrhaben.« Nach einigem Überlegen erzählt Frau Sotivor-Borić von einem Zwischenfall, der ihr besonders eindrücklich verdeutlichte, dass in Jugoslawien Merkwürdiges geschah: 4 | Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien, am 8. Oktober 1991 ratifizierten sie diese Erklärungen; siehe dazu Kapitel 3.3.
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»Auf dem unabhängigen Fernsehsender ›YuTel‹ [Yugoslavenka Televizjia, Anmerkung der Autorin] gab es vor dem Krieg eine Sendung, in die die Zuschauer anrufen konnten. Anfangs 1992 machten sie eine Umfrage, wer für und wer gegen Jugoslawien sei. Alle Zuschauer, die anriefen, sprachen sich für ein gemeinsames Jugoslawien aus. Ich hörte niemanden sagen, dass er für die Aufteilung des Landes sei. Doch eines Abends, als ich den Sender wieder einschaltete, war das Signet ›YuTel‹ verschwunden – es stand da nur noch ›Tel‹ auf dem Bildschirm. Ich rief beim Sender an und fragte die Frau: Wenn wir alle für Jugoslawien sind, weshalb steht nur noch ›Tel‹? Ich bekam keine Antwort, der Hörer wurde aufgelegt. Daran merkte ich, dass Ungutes im Gange war.«
Am 2. April 1992, vier Tage vor Kriegsausbruch in Sarajevo, verließ Frau SotivorBorić mit ihrem sechs Monate alten Sohn die bosnische Krajina und suchte in Belgrad bei ihrem älteren Bruder Zuflucht. Der Krieg in Prijedor selbst brach einen Monat später aus: »Die Scharmützel begannen aber schon vorher. Ich sah, was sich da vorbereitete und deshalb wusste ich, was geschehen wird. Ich verließ also Prijedor und ging nach Belgrad.« Weshalb Frau Sotivor-Borić nicht mit ihren Schwiegereltern zusammenblieb oder zu ihrem Ehemann reiste, wird aus den Schilderungen nicht klar. Ihr Ehemann hielt sich bereits vor dem Krieg als Arbeitsmigrant in Deutschland auf und verblieb während der Kriegszeit im westlichen Exil. Sicher ist, dass ihre konsaguin-familiären Beziehungen den Ausschlag für ihre Reise nach Belgrad gaben. »Die anfängliche Zeit in Belgrad ist mir nicht in guter Erinnerung. Sicher, meine Brüder sorgten sehr gut für mich. Aber in der Gesellschaft fühlte ich mich gar nicht willkommen, weil die Belgrader uns als lästige Flüchtlinge bezeichneten. Serbien musste für die Serben in Bosnien Hilfspakete liefern und als nun auch noch die Flüchtlinge ins Land strömten, beklagten sich die Leute, dass wir Flüchtlinge ihnen ihre Vorratskammern leeressen würden.«
Nach einem Jahr in Belgrad organisierte Miroslavkas Ehemann, dass seine Ehefrau mit dem gemeinsamen Sohn zu seinem Großvater umziehen konnte, der in einem kleinen Dorf in der Vojvodina lebte. Dieses Dorf wird seit Ende des Zweiten Weltkrieges von rund 270 serbischen Familien aus der bosnischen Krajina bewohnt, die mit dem Kriegsende dahin übersiedelten5 . Dort fühlte sich Miroslavka Sotivor-Borić deutlich besser aufgehoben als in Belgrad, weil »dort unsere Leute, die Leute aus Bosnien lebten. Sie hatten Verständnis für uns und unsere Situation und unterstützten uns.« Belastend in dieser Zeit war aber, dass ihre Mutter allein in Westbosnien zurückblieb. Dass sich ihre Familie zur schlimmsten Kriegszeit aber nicht in Prijedor aufhielt, war für Frau Sotivor-Borić immerhin eine Erleichterung: »Meine Brüder waren in Belgrad, mein Mann 5 | Wegen der Anonymisierung bleiben Ortsname und Quelle ungenannt.
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in Deutschland, meine Mutter in meinem Herkunftsort, sodass niemand aus meiner Familie in Prijedor war. Konkret nahm also niemand am Krieg teil.«
9.1.2 Rückkehr in den Krieg: Die Herkunftsstadt versinkt im Chaos Im September 1994 erhielt Miroslavka Sotivor-Borić die Nachricht, ihre in Bosnien zurückgebliebene Mutter sei schwer erkrankt. Obwohl sich das Land noch mitten im Krieg befand, entschloss sie sich, mit ihrem Sohn zur Mutter zu reisen. Dort pflegte sie ihre Mutter, bis sich diese soweit erholt hatte, dass sie ihren Alltag wieder allein bewältigen konnte. Frau Sotivor-Borić kehrte im November 1994 nach Prijedor zurück: »Ich habe während der ganzen Zeit in Serbien die Nachrichten verfolgt und wusste, dass es in Prijedor nie mehr so sein wird wie vorher. Aber dass es so schlimm ist, realisierte ich erst, als ich endgültig wieder nach Prijedor zurückkehrte. Es war das totale Chaos und nichts mehr von dem, was ich damals verlassen hatte, gab es noch.« Der Entscheid, nach Prijedor zurückzugehen, lag für Miroslavka Sotivor-Borić auf der Hand: Die Schwiegereltern lebten nach wie vor in der Stadt, und sie hatte die Möglichkeit, in ihrem Haus in die alte Wohnung zurückzukehren und auf die Rückkehr des Ehemannes zu hoffen. Trotz Chaos und Verwüstung war das Zentrum der Stadt weit weniger zerstört als die umliegenden Dörfer. Frau Sotivor-Borić traf, wie sie selbst betont, in ihrer Nachbarschaft sogar ein altes muslimisches Nachbarspaar wieder. Obwohl ihnen alles entwendet worden war, harrten sie in ihrer Wohnung der Dinge. Aber »es fehlte ihnen an allem, besonders an Lebensmitteln.« Frau Sotivor-Borić brachte den alten Leuten deshalb heimlich Nahrungsmittel: »Von meiner Familie war ja glücklicherweise niemand am Krieg beteiligt. Mein Ehemann war im Ausland, mein Schwiegervater zu alt und der Bruder meines Ehemannes war so krank, dass er nicht in die Armee eingezogen werden konnte. Glücklicherweise war also niemand aus der Familie im Krieg und ich konnte das alte Ehepaar unterstützen.«
Im September 1995, während der Militäroffensive Oluja und der anschließenden Operation Maestral, war aber auch das alte Ehepaar gezwungen, die Stadt zu verlassen. Weshalb die in Prijedor verbliebenen Muslime gegen Ende des Krieges vertrieben wurden, kann Frau Sotivor-Borić nicht erklären: »Ich weiß nicht, wer das war und warum. Es gab in den Nächten Provokationen, sodass sie selbst entschieden zu gehen. Sie hatten große Angst und schlossen sich in ihren Wohnungen ein. Wissen Sie, es war eine Zeit, die für alle schwierig war. Ja, es ist eine Tatsache, dass es für niemanden leicht war. In dieser Zeit gab es nichts Schönes. Wie auch immer du es drehst und wendest, von keiner Seite war es gut.« Aus anderen Erzählungen und diversen Berichten weiß man von den damaligen Ereignissen (Greve 1994; Wesselingh und Vaulerin 2005). Die von Frau
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Sotivor-Borić angesprochenen Provokationen übten die Paramilitärs unter Željko Ražnatović aus, der unter dem Spitznamen Arkan berühmt-berüchtigt war. Ziel dieser weit herum gefürchteten Tiger-Miliz (bos./hrv./srp. Dobrovoljačka Garda) war, die Gegend um Banja Luka inklusive der Gemeinde Prijedor von der restlichen muslimischen Bevölkerung zu säubern. Die Tiger-Miliz tauchte überall dort auf, wo in den Jugoslawien-Kriegen die grausamsten Massaker verübt wurden. Arkan selbst soll unter anderem bereits 1992 in Prijedor gesichtet worden sein, als die muslimischen und kroatischen Einwohnerinnen und Einwohner systematisch vertrieben wurden.6
9.1.3 Nachkriegszeit: Uner wünschtes Engagement Die Militäroffensiven Oluja und Maestral und der Vormarsch der kroatischbosnischen Armee zogen besonders Frau Sotivor-Borićs Geburtsort im Westen Bosniens in Mitleidenschaft. Die mehrheitlich serbischen Bewohnerinnen und Bewohner wurden aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben, die kroatische Seite plünderte und zerstörte, viele Menschen wurden verschleppt und umgebracht (Calic 1996). Frau Sotivor-Borićs Mutter, die sich noch vor Ort befand, verlor zwar Hab und Gut, nicht aber ihr Leben. Trotz ihres seit der Krankheit geschwächten Zustandes konnte sie im Mai 1995 zu ihrer Tochter nach Prijedor fliehen. Frau Sotivor-Borić und ihr nun vierjähriger Sohn lebten von da an zusammen mit ihrer Mutter in der Wohnung, die sich im Haus der Schwiegereltern befand. Allerdings war ihr die Mutter weniger Unterstützung denn Belastung, wie sich Frau Sotivor-Borić im Interview erzählt: Die gesundheitlich geschwächte Mutter wurde immer gebrechlicher und depressiver, verlangte nach immer mehr Pflege. Das bedeutete für Frau Sotivor-Borić nicht nur, dass sie ein Kleinkind allein zu betreuen hatte, sondern auch die Pflege ihrer Mutter allein übernehmen musste. Ihrer Ansicht nach kamen ihre Brüder in Belgrad für diese Aufgabe nicht in Frage. Sie hatten sich ihr Leben in Belgrad eingerichtet, wollten nicht nach Bosnien zurückkehren und die Mutter wollte unter keinen Umständen Bosnien verlassen. Zu groß war ihre Verbundenheit zu ihrem Herkunftsort. Ungefähr ein Jahr nach dem Umzug zu Frau SotivorBorić starb die Mutter: »Sie konnte es einfach nicht mehr aushalten, ihr Herz ist wegen des Heimwehs nach X. [dem Herkunftsort, Anmerkung der Autorin] und allem, was geschah, gebrochen. Am 1. April 1996 ist sie gestorben. Ihr Herz 6 | Zu Arkan und den verübten Greueltaten finden sich diverse Quellen. Siehe unter anderem: . Abgerufen am 30.7.2005; . Abge rufen am 30.7.2005; . Abgerufen am 30.7.2005; oder die Anklageschrift des UN-Tribunals: . Abgerufen am 30.7.2005.
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ist gebrochen und fertig.« Frau Sotivor-Borić hatte von da an niemanden mehr aus ihrer Blutsverwandtschaft in der unmittelbaren Umgebung, der sie hätte unterstützen können. Obwohl sich die Lage in Prijedor nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens beruhigte, folgten weitere belastende Jahre für Frau Sotivor-Borić. Es waren nicht nur die chaotischen Zustände in der Nachkriegszeit, die ihr zu schaffen machten. Es war besonders auch die soziale Isolation. Nach dem Tod ihrer Mutter lebte sie zwar weiterhin im Haus ihrer Schwiegereltern, doch sie war nun auf sich allein gestellt. Ihr Mann kam nur gelegentlich nach Prijedor zurück – er lebte und arbeitete nach wie vor in Deutschland. Mit dieser Beziehung auf Distanz kam Frau Sotivor-Borić je länger, je weniger klar. Im Jahr 2000 kam es zur Scheidung, ihr Sohn blieb in ihrer Obhut7. Damit zeigt sich ein weiterer Bruch in ihrer Biografie, welchen sie selbst jedoch nicht als sehr dramatisch wahrnimmt. Einzig dass sie die Wohnung im Haus ihrer Schwiegereltern verlassen und in die kleine Mitwohnung umziehen musste, in der das zweite Interview stattfand, erlebte sie als unschön, und natürlich auch die nun fehlende finanzielle Unterstützung durch den Ehemann. Infolge der Scheidung war sie nun gezwungen, ihren Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Finanzielle Unterstützung erhielt sie zwar vom Jüngeren der beiden Brüder, aber für das alltägliche Überleben reichte sie nicht aus.
Engagement für die Versöhnung Die finanzielle Not weckte bei Frau Sotivor-Borić aber Energie und Tatendrang, wie sie schelmisch meint. Eine für sie naheliegende Möglichkeit, Geld zu verdienen, war die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit als Tanzlehrerin. Nun reiste sie von Dorf zu Dorf und von Schule zu Schule, um Kinder dafür zu begeistern, bei ihr traditionell bosnischen Tanz zu lernen. Auf einer dieser Touren, erzählt sie, wurde sie auf der Hauptstrasse in der Nähe des Rückkehrerdorfes Kozarac von einem Polizisten wegen einer Geschwindigkeitskontrolle gestoppt. Es sei im Frühjahr 2000 gewesen, als gerade die große Rückkehrwelle nach Kozarac eingesetzt habe und die Wiederaufbauarbeiten im Dorf in vollem Gang gewesen seien. Die Schule sei damals noch nicht wieder in Stand gestellt gewesen, die Kinder wurden in Baracken unterrichtet. Während der Polizeikontrolle kam Frau Sotivor-Borić mit dem Polizisten ins Gespräch und brachte in Erfahrung, dass es den Rückkehrerkindern nebst einem Schulgebäude auch an jeglichen 7 | Mit einer Scheidung trennt sich die Frau von der Schwiegerfamilie und hat demzufolge auch keinen Anspruch mehr auf deren Unterstützungsleistungen. Die Kinder werden bei Trennungen in der Obhut der Mutter belassen, bei Scheidungen bleiben sie in der Familie des Mannes zurück (Bringa 1995: 47-50). Diese postulierte Norm ist jedoch nicht immer Praxis. Viele Frauen behalten auch nach einer Scheidung die Kinder in ihrer Obhut.
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Freizeitangeboten fehlte. Der Polizist riet ihr, sich an eine Rückkehrerin zu wenden, die im Dorf eine Nichtregierungsorganisation führte. »Niemand hat es gewagt, in die Ruinen nach Kozarac zu gehen. Dorthin, wo alles noch verbrannt war. Also, ich war die erste orthodoxe Person, die nach Kozarac gekommen ist, um mit den Kindern zu arbeiten. Ich war die erste, die eine Tanzschule eröffnete. Ich war tapfer, ja, aber ich brauchte auch viel Mut dazu. Denn ich musste ja auch an meinen Sohn denken und schauen, dass er später nicht unter den Folgen meiner Arbeit leidet.«
Die NGO-Leiterin war von der Idee des Tanzunterrichts begeistert und organisierte Kinder, die bei Miroslavka Sotivor-Borić den Unterricht besuchten. Ein Jahr später wurde Frau Sotivor-Borić mit den tanzenden Kindern eingeladen, an einer Friedenskonferenz in Kozarac aufzutreten. Diesen Anlass betrachtete sie als geeigneten Rahmen, Kinder aus ihren verschiedenen Tanzkursen, die sie in der Umgebung von Prijedor gab, in Kozarac im Kolo (dt. Kreis, Tänze im Kreis) zusammenzubringen. Ihr erklärtes Ziel war es, die serbischen und muslimischen Kinder im Kolo zu mischen, damit sie sich annähern könnten. »Ja, das war eine große Sensation. Viele Menschen waren von dieser Vorführung begeistert und davon, dass das im Jahr 2001 überhaupt möglich war.« Wie sie erzählt, war ein großer Antrieb für ihr Engagement der Wille, etwas für die Zukunft des Landes und die Zukunft der Kinder zu tun, denn »wir wissen doch alle, dass die Kinder morgen wieder zusammenleben müssen. Morgen kann sich zum Beispiel mein Sohn in eine Muslimin verlieben, oder sie sich in ihn. Und das soll doch möglich sein. Es war in den 1980er Jahren in Sarajevo so und ich wollte, dass das wieder so wird. Ich wollte mich für die Verbindung der Kinder einsetzen und für eine gegenseitige Toleranz. Und der Tanz ist dazu ein gutes Mittel.« Frau Sotivor-Borić wusste aber auch, dass es gut durchdachte Vorbereitungen für das Zusammenführen von Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft brauchte. Alle Beteiligten mussten sensibilisiert werden: »Ich habe den serbischen Kindern vor der Zusammenkunft gesagt: ›Hört mal, seid darauf vorbereitet, dass auch die Kinder aus Kozarac kommen und ihr alle zusammen tanzen werdet. Ihr werdet euch mit ihnen unterhalten. Redet zusammen über alles, fragt, was euch interessiert, aber beleidigt euch nur nicht.‹«
Es galt aber auch noch, eine andere Hürde zu überwinden: Die Eltern mussten ihr Einverständnis geben, dass ihre Kinder in anderen Dörfern gemeinsam Tänze aufführten. Für die Vorstellung an der Friedenskonferenz erhielt sie von den meisten Eltern dieses Einverständnis, wie sie mir mit Hilfe eines Briefes mit Nachdruck versichert.
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Die negativen Auswirkungen ihres Engagements Doch nach der Friedenskonferenz in Kozarac machten sich einige »von der Seite der Serben« bemerkbar, die Frau Sotivor-Borićs Engagement nicht zu schätzen wussten: »Zwei, drei Tage nach der Aufführung wurde hinter meinem Wohnhaus eine Bombe gelegt. Es geschah zum Glück nichts Schlimmes, nur ein Fenster ging in die Brüche. Aber die langfristigen Folgen davon sind für mich schwerwiegend: Ich gelte jetzt hier bei den Serben als die Schwärzeste und Schlimmste. Es wurde mir von einigen Serben als großer Fehler, als Hauptfehler angerechnet, dass ich mich in Kozarac so engagierte. Ja, mit meinem Engagement bin ich allen einen Schritt vorausgegangen und jetzt trage ich die Folgen davon.«
Obwohl Frau Sotivor-Borić den Bombenanschlag im Gespräch verharmlost, zeigen sich in der Analyse des Gesprächs Auswirkungen dieses Gewaltaktes in diversen Bereichen. Auch für ihr Engagement hatte er einschneidende Folgen: Sie brach die gemeinsamen Tanzaufführungen serbischer und muslimischer Kinder ab. Eine Zeitlang führte sie zwar noch getrennte Tanzkurse durch, doch dann wurden auch diese weniger, wie sie bedauert. Einen schwerwiegenden Grund dafür sieht Frau Sotivor-Borić nicht nur in ihrem Engagement, das einigen sauer aufstieß, sondern auch in den schwindenden finanziellen Ressourcen der Familien. Die Kursgebühren beliefen sich im Jahre 2001 auf 10 KM (5 €) monatlich, zeitweise unterrichtete sie einige Kinder aus sehr armen Familien sogar unentgeltlich. Doch mit steigenden Raummieten und Benzinkosten musste auch sie ihr Kursgeld erhöhen. Heute muss sie bereits 20 KM (10 €) pro Kind und Monat verlangen, damit die Ausgaben für die Kurse auch nur annähernd gedeckt sind. Ihre Lebenskosten wie beispielsweise die Wohnungsmiete und die Ausgaben für Lebensmittel konnte sie weder zu Beginn noch heute mit den Kursgeldern decken. Leider findet sie für ihr friedensförderndes Engagement auch keine finanzielle Unterstützung, wie sie enttäuscht feststellt. Anfragen für finanzielle Unterstützung bei der OSCE, der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa, und anderen internationalen Hilfsorganisationen blieben erfolglos. Das Engagement wurde zwar anerkannt und gelobt, doch »am Ende bleibt es bei den bloßen Worten und ich erhalte keine Unterstützung.« Eine bittere Erfahrung, wie sie betont. Für ihr Überleben ist sie also nach wie vor auf andere finanzielle Ressourcen angewiesen, »moralische Unterstützung ist wichtig, aber alleine nützt sie mir nicht viel, wenn auf allen Seiten das Geld fehlt. In den Schulen, bei den Kindern und den Eltern und bei den internationalen Organisationen«, wie sie anfügt. Nur dank der bereits mehrmals im Gespräch geschilderten großzügigen finanziellen Unterstützung des zweitältesten Bruders kann sie im Alltag überleben: »Er ist meine rechte Hand, meine ganze Unterstützung. Wenn ich ihn nicht hätte ... Er finanziert
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mich, schickt mir jeden Monat 100 KM für die Miete.« Zusätzlich versucht sie, ihr Zeichentalent in Einkommen zu verwandeln: Sie hat nach dem Krieg wieder begonnen, Karikaturen anzufertigen, und verkauft diese nun an Zeitungen und Zeitschriften. Gar nicht selten verdient sie damit 10 KM pro Karikatur. Darauf ist sie ganz besonders stolz. Eine dritte Erwerbsmöglichkeit besteht in den Fahrdiensten, die sie ihrer Nachbarschaft anbietet. Besonders die älteren Menschen, die im gleichen Wohnblock wie sie leben, schicken sie auf unterschiedliche Erledigungstouren. Seit ein paar Monaten plant sie zudem, die kürzlich zurückeroberte Wohnung ihrer Mutter in der Herkunftsgemeinde zu verkaufen. Mit diesem Erlös, so hofft sie, könnte sie sich eine Wohnung in Prijedor kaufen und wäre endlich von den Mietlasten erlöst.
Frau Sotivors Umgang mit der Vergangenheit Wie bereits weiter oben gesehen, ist das Engagement für die ethnische Vergemeinschaftung in der Region Frau Sotivor-Borićs zentrales Anliegen. Sie sagt, sie wolle die ethnische Trennung der Bevölkerung nicht einfach so akzeptieren und wolle zurückerobern, was sie in der Vorkriegszeit als so wunderbar empfand: Die Freundschaften ungeachtet der jeweiligen ethnischen Zugehörigkeiten und das Leben in einer einzigen Gesellschaft. In der Arbeit mit Kindern und dem Einüben der gemeinsamen traditionellen Tänze will sie diese Gesellschaftsform wieder zum Leben erwecken. Im Gespräch reflektiert sie die heutige und die vergangene Situation, indem sie die Gemeinde mit einem halbierten Apfel vergleicht und ihr Engagement des gemischten Tanzunterrichts mit dem Wunsch, die zwei Hälften des Apfels wieder zusammenzubringen: »Das, was einmal eins war und getrennt wurde, soll heute wieder zusammenwachsen.«8 Für Frau Sotivor-Borić ist dabei das aktive Engagement im Hier und Jetzt wichtig und weniger das Erzählen und Besprechen der Kriegsereignisse. Doch immer sei der Krieg das Hauptthema, obwohl dieser nun seit einiger Zeit vorbei sei. Frau Sotivor sieht ein ganz spezifisches Problem darin, wenn ›nur‹ über die Vergangenheit gesprochen wird: Das Sprechen allein verändert ihrer Meinung nach noch gar nichts. Den Worten müssen unbedingt Taten folgen: »Man kann kein Gespräch zwischen zwei Leuten anfangen, ohne dass der Krieg Thema ist. Also, zum Beispiel treffe ich eine ehemalige Nachbarin aus der Vorkriegszeit, begrüße sie und sage: ›Oh, ich erinnere mich an Sie aus der Zeit vor dem Krieg‹ und dann, paf, paf, paf, erzählt sie mir ihre ganze Geschichte, bis in alle Endlosigkeit. […] Also, wenn man nur redet und nichts tut, das ist dann – das ist nichts. Wenn nichts 8 | Vergleiche dazu die Ausführungen von Ljiljana Živkovi ć , Kapitel 7.1.1. Frau Živkovi ć sieht, ganz im Gegensatz zu Frau Sotivor-Bori ć , infolge des Zwietrachtsäens keine Möglichkeit mehr, den geteilten Apfel zu vereinen, sprich dafür, dass die Menschen nach dem Krieg wieder zusammenfinden können.
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realisiert wird, dann wird auch nichts passieren. Und wenn geredet wird, dann kommt es auch immer darauf an, was jemand erzählt. Ich beispielsweise erzähle ständig vom Zusammenführen der muslimischen und serbischen Kindern, also vom Positiven in der Nachkriegszeit.«
Es ist aber nicht nur so, dass Frau Sotivor-Borić von allen tatsächliche Taten verlangt. Sie weiß auch aus eigener Erfahrung, dass der vergangene Krieg eine emotionsgeladene Thematik darstellt, die sich nicht so einfach wegstecken lässt. »Auch bei mir gibt es die Tatsache, immer wenn ich vom Krieg erzähle ... Das habe ich schon allen erklärt: Die Emotionen kommen hoch. Einfach halt, man soll nicht zurückgehen und sich an all die schrecklichen Sachen erinnern, die geschehen sind. Im Prinzip ist es nicht, dass ich vergessen möchte. Sondern es ist einfach – wo immer ich den schrecklichen Sachen aus dem Weg gehen kann, versuche ich zu entkommen. Aber definitiv ist es so, dass der Mensch ohne Vergangenheit auch keine Zukunft hat, dessen bin ich mir bewusst. So dass – aber gut. Ich kann darüber sprechen, was Sie interessiert. Aber Sie müssen wissen, dass ich während des Krieges nicht da war.«
Im Reflektieren über den vergangenen Krieg und die Art und Weise, wie am besten damit umgegangen werden könnte, betont Frau Sotivor-Borić nebst den wichtigen Aktivitäten auch immer wieder, dass sie zwar Serbin sei, aber eben eine andere Serbin. Sie erklärt ausführlich, wie dieses Serbisch-Sein zu verstehen ist: »Ist die Erklärung nicht gut genug? Allein dadurch, weil ich da bin, wo ich bin und weil ich das mache, was ich mache? Denn jemand, der eine Serbin, ein Serbe ist, wie sie sich nennen, einige von ihnen deklarieren sich so, sie machen nicht das, sie machen etwas anderes. Damit das Übel größer wird, sie machen vieles schlimmer und schlechter.« Aber wenn ich mich morgen mit jemandem hinsetze und wir uns das erste Mal begrüßen und die Person fragt: ›Bist du Serbin?‹ Dann antworte ich ihr: ›Natürlich bin ich Serbin, aber ich bin keine Extremistin.‹ Die Familie meines Ex-Mannes ist es auch nicht. Die ehemaligen Schwiegereltern sind beide Lehrpersonen und arbeiteten vor dem Krieg in Kozarac 9. Also, von seiner Seite sind alle fair und korrekt und Meine sind auch so. Und die ganze Arbeit, die ich mache, können Serbinnen und Serben nicht machen. Das muss jemand machen, der ein Serbe, ein Muslim und ein Kroate ist, und ich bin all das. Ich bin all das. Ich meine, ich bin eine Bestätigung dafür. Denn wenn ich eine Serbin wäre, dann würde ich sagen, ›Serben, ich arbeite nur mit euch.‹ Ich bin von allen dreien etwas und irgendwie freut es mich, dass ich so bin, wie ich bin.«
9 | Zur Erinnerung: Kozarac war und ist ein mehrheitlich muslimisch besiedelter Vorort von Prijedor.
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Gesellschaftliche Stellung als alleinstehende Frau Ganz besonders ist Frau Sotivor-Borić aber auch damit beschäftigt, als alleinstehende und alleinerziehende Frau den Nachkriegsalltag zu bewältigen. Besonders belastend sei, dass sie auf keine tatkräftige Unterstützung aus ihrer Blutsverwandtschaft zählen könne: »Es ist dumm gesagt, aber als eine geschiedene Frau hat man immer wieder große Probleme. Beispielsweise geht an meinem Auto etwas Kleines kaputt, das im Normalfall der Ehemann reparieren würde, oder wenn der Ehemann nicht da ist, der Bruder oder ein Onkel oder so. Ich muss aber den Wagen zum Majstor 10 in die Garage fahren. Schon das Hinfahren ist problematisch, denn eigentlich würde es der Ehemann bringen und wenn ich da ankomme, dann spüre ich die Blicke auf mir und die Geringschätzung meiner Person. Sie fragen mich: ›Warum macht dir das nicht jemand zuhause?‹ Vor allem, weil ich ja auch immer das Problem habe, dass ich kein Geld habe, um die Reparaturen gleich zu bezahlen.«
Ein anderes Beispiel sind kleinere und größere Reparaturen in der Wohnung, die ihrer Meinung nach eigentlich typische Männerarbeiten wären. Dazu zählt sie das Weißeln der Wände oder das Montieren einer Lampe und Ähnliches. »Alleinstehende Mütter müssen für alles kämpfen, hier in dieser männerdominierten Gesellschaft. Sie muss zuhause Hausfrau, Mutter und Vater sein, am Arbeitsplatz eine Angestellte, die Kinder erziehen, also einfach alles, was man von ihr erwartet.« Die Kombination ›kein Ehemann‹, ›keine eigene Verwandtschaft‹ und ›kein Geld haben‹ empfindet Frau Sotivor-Borić als Nachteil. Des Weiteren findet sie es problematisch, dass sie in der Stadt bekannt ist und viele der Einwohnerinnen und Einwohner wissen, dass sie eine geschiedene Frau ist, und »dann geht die Geschichte los, besonders wenn ich kein Geld habe, um etwas zu bezahlen.« Dann schlagen ihr irgendwelche Männer vor, so schnell als möglich wieder zu heiraten, damit der Mann diese Tätigkeiten übernehmen könne. »Also wissen Sie, wenn die Frau kein eigenes ICH hat und ihre Ehre und ihren Stolz verliert, dann ist sie die Unterste und wird getreten und zerrieben.« Frau Sotivor-Borić betrachtet sich selbst als eine stolze Frau, die sich auch in solchen Situationen zu wehren weiß. Trotz aller Stärke leidet sie aber unter solch diskriminierenden Situationen und wünscht sich zur Unterstützung einen Mann an ihre Seite, denn: »Ich dachte, dass ich eine starke Frau bin. Aber je mehr die Zeit vergeht, desto mehr gerate ich in die Krise und – ich kann nicht mehr stark sein, weil mich die Verpflichtun10 | Mit Majstor werden Handwerker unterschiedlichster Provenienz bezeichnet, so auch ungelernte Handlanger, die sich heute als Tagelöhner verdingen und sich als Majstor anbieten.
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gen einholen, die Schulden, das Chaos ... Aber dieses Jammern ist auch vergeblich, ich werde mich schon wieder zurecht finden. Und schließlich habe ich meinen Bruder, der wird mir immer helfen, finanziell und auch sonst. Und wenn ich mich mit meiner Mutter vergleiche, die ja auch ohne Mann lebte und uns Kinder ausgehalten hat ... Es war auch damals schwer, aber man lebte irgendwie anders, vielleicht auch deswegen, weil sie ihre eigene Wohnung hatte und ihre geregelte Arbeit. Ja, es wäre alles anders, wenn ich eine eigene Wohnung hätte und meine Arbeit bezahlt würde.«
Mit dieser letzten Aussage spricht Frau Sotivor-Borić eine zentrale Problematik an, die sich in der kriegsversehrten Region deutlich bemerkbar macht. Es ist diejenige der hohen Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden ökonomischen Prekarität, unter der die Mehrheit der Bevölkerung zu leiden hat.
9.2 F ALL ANALYSE : D IE B RÜCKENBAUERIN »In jener Gegend Belgrads, liegt in der schattigen Francuska-Strasse das Haus der serbischen Schriftsteller und hinter dem Gebäude der Garten, in dem ich jahrzehntelang mit meinesgleichen gesessen habe, ohne daran zu denken, dass auch zwischen uns die Bombe der Uneinigkeit und Zwietracht fallen würde.« (Ć osić 2007: 84)
In der nachfolgenden Fallanalyse sollen nebst allgemeinen Aussagen zur Einleitung drei zentrale Punkte fokussiert werden, die die Diskussion der Nachkriegsproblematik erlauben: Erstens werden die Übergänge in Frau Sotivor-Borićs Biografie diskutiert, die sie selbst betont; dies im Hinblick auf ihre eigene Situation und diejenige des Landes. Zweitens wird ihre Sicht der Zugehörigkeiten im Hinblick auf die Opfer-Täter-Relationen dargelegt, und als dritter und letzter Punkt werden schließlich ihre Strategien im Umgang mit der Kriegsvergangenheit und der heutigen alltäglichen Unsicherheit reflektiert.
9.2.1 Die gescheiterte Versöhnung Bereits der erste Besuch bei Frau Sotivor-Borić hatte Diskussionen zwischen mir und meiner Feldassistentin zur Folge. Denn in den Augen der Assistentin macht eine ungebügelte Tischdecke Frau Sotivor-Borić zu einer tadelnswerten Hausfrau: Selten bis nie würde Frau Sotivor-Borić zu Hause Besuch empfangen, sonst hätte sie keine zerknitterte Tischwäsche, und sie hätte die Wohnung vor unserem Besuch geputzt. Etwas erstaunt ob ihren Bemerkungen, erfahre ich anschließend an den Besuch von der Assistentin mehr über die gesellschaftlich erwarteten Tätigkeiten der Hausfrau: Sie habe fleißig (bos./hrv./srp. vrjedna), gut (bos./hrv./srp. fina), sauber (bos./hrv./srp. čista) und ehrbar (bos./hrv./ srp. poštena) zu sein. Eine Hausfrau gilt dann als arbeitsam und zeigt das an-
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gemessene Verhalten, wenn sie beispielsweise die Wäsche bügelt oder die Gäste mit dem nötigen Respekt empfängt. Die in den Augen meiner Assistentin vernachlässigten Hausfrauenpflichten können aber auch Hinweise auf Frau Sotivor-Borićs prekären ökonomischen Hintergrund und ihren gesellschaftlichen Status geben. Aufgrund der Scheidung muss sie sich allein um Haushalt und Erziehung ihres Sohnes kümmern. Wie sie selbst immer wieder betont, fehlt ihr der Mann an allen Ecken und Enden. Nicht nur für die gröberen Arbeiten in der Wohnung vermisst sie seine Unterstützung, sondern ganz besonders auch im finanziellen Bereich. Die ungesicherte ökonomische Grundlage ist für Frau Sotivor-Borić heute ein bestimmendes Alltagsthema – und nicht mehr in erster Linie der Krieg. Bevor diese heutige Situation und die Einschätzung der Nachkriegssituation näher betrachtet werden, seien einige Gedanken zu Brüchen in ihrer Biografie angefügt.
Gebrochene Biografie – Gebrochenes Land Frau Sotivor-Borić hebt bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte wiederholt diverse erfahrene (Um-)Brüche hervor. Zum einen wäre der Umzug vom ethnisch homogenen Herkunftsort in die ethnisch heterogene Republikshauptstadt Sarajevo zu nennen. Sie wechselt vom kleinräumigen, schon fast intimen ländlichen Ort, indem sich alle auf die eine oder andere Weise kennen, in das anonyme urbane Großstadtmilieu, wo sie fern ihrer Mutter das Studentenleben in vollen Zügen genießen kann. Dort lernt sie Menschen unterschiedlicher Herkunft kennen, wobei sie ganz besonders die multi-ethnische Zusammensetzung Sarajevos hervorhebt. Mit diesem Umzug für das Studium stellte sich in ihrem Leben eine große Veränderung ein, die sie als so positiv erlebte, dass sie sich heute diesen Zustand wieder zurückwünscht. Zum zweiten zeigt sich ein markanter, ja fast abrupter Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter. Die ungeplante Schwangerschaft mitten in ihrer Studienzeit führte zur Heirat, wodurch sie von der Studentin zur Mutter und Hausfrau wurde. Im Abbruch des Studiums widerspiegelt sich ferner ein geschlechtsspezifisches Charakteristikum: Bei Frau Sotivor-Borić gelingt die soziale Mobilität im Gegensatz zu ihren Brüdern nicht. Die Brüder lassen sich zum Ingenieur bzw. Schauspieler ausbilden, zwei angesehene Berufe. Frau Sotivor-Borićs verhinderter sozialer Aufstieg hängt nicht nur mit dem Ausbruch des Krieges zusammen, welcher die Wiederaufnahme des Studiums nach der Geburt des Kindes verhindert, sondern kann ganz besonders auch auf ihr Frausein zurückgeführt werden. Es schien ihr angebrachter zu sein, das Studium abzubrechen und sich den Hausfrauen- und Mutterpflichten zu widmen – ganz der Tradition entsprechend, nach der die Hausarbeit als ausschließlich weibliches Betätigungsfeld gilt (vgl. Kapitel 3.2.2). Die Heirat hatte zudem auch zur Folge, dass sie ihrem Ehemann von Sarajevo in die Provinz folgte, womit die virilokale Wohnfolge umgesetzt wurde. Nach dem Umzug in die Provinz und mit der Mutterschaft verändert
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sich auch ihre Wahrnehmung und Einschätzung des Alltags. Dieser ist nun nicht mehr so schön und unbeschwert wie in Sarajevo. Noch heute trauert sie der Zeit in Sarajevo nach und idealisiert dementsprechend auch ihr Vorkriegsleben. In ihren Schilderungen weist Frau Sotivor-Borić außerdem auf den Übergang vom Status einer verheirateten Frau zu jenem einer geschiedenen hin. Infolge der Scheidung wird die Verbindung von Geschlecht, ökonomischer Situation und gesellschaftlicher Position thematisch. Nach der Scheidung kann Frau Sotivor-Borić nicht mehr auf die Unterstützung ihrer Schwiegerfamilie zählen, was sich im Besonderen auf ihre finanzielle Situation sowie auf ihre gesellschaftliche Position auswirkt. Als nun geschiedene Frau und ohne konsanguine Verwandte vor Ort muss sie jederzeit um gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung ringen. Prominent lässt sich in ihrem Interview aber auch ein Hinweis auf den Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft festmachen: »Ich weiß, woher ich komme, aber ich weiß nicht, wohin ich gehe!« Mit diesem, man könnte sagen: Sprichwort oder (Lebens-)Motto gibt Frau Sotivor-Borić eine eher unerwartete Antwort auf die Einstiegsfrage in das erste Gespräch. Unerwartet deshalb, weil sich die Frage ganz allgemein auf ihr Leben vor, während und nach dem Krieg bezogen hatte, und die Zukunft vorerst nicht ansprach. Aufgrund ihrer Antwort lässt sich festhalten, dass für Frau Sotivor-Borić der Blick in die Zukunft ein virulentes Thema ist, das sie umtreibt. Das Hingehen in eine unbestimmte Zukunft wird zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Schilderung. Das Vergangene ist für sie fassbar und erklärbar, das Zukünftige jedoch offen und unsicher. Dieser Übergang verweist auf drei Möglichkeiten: zum einen auf eine geografische Dimension – ›Ich kam aus dem Herkunftsort über Sarajevo nach Prijedor, aber ich weiß nicht, wohin ich nächstens ziehen werde‹ –, zum zweiten auf eine biografische Dimension – ›Ich kenne meine Vergangenheit, aber ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird‹ – und zum dritten verweist die Aussage auch auf ihre Position in der Gesellschaft: vor dem Krieg schien es sicher, wohin sie als verheiratete Frau gehörte und welche Funktion sie in der Gesellschaft einzunehmen hatte. Heute hingegen, aufgrund der Scheidung, ist die Frage der Position von großer Unsicherheit geprägt. Auf welche dieser Dimensionen Frau Sotivor-Borić anspricht, bleibt im weiteren Verlauf des Gesprächs unbeantwortet. Dessen ungeachtet verweist das Ansprechen dieses Übergangs auf eine ihrer Person übergeordnete Situation. Nämlich darauf, dass die Normalität im Land und der Gesellschaft nach dem Krieg noch nicht wiederhergestellt werden konnte: Das Land muss sich als Gesamtes vom bekannten Vergangenen zu einem unbekannten Zukünftigen entwickeln. Darin enthalten ist ein übergeordneter und doppelter Umbruch: von der sozialistischen Gesellschaftsform in die kapitalistische und von der Kriegs- in eine Nachkriegsgesellschaft. Die damit verbundene Unsicherheit verweist auf eine Krisensituation, in welcher sich
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das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner befinden, deren Ausgang zum Zeitpunkt des Interviews noch offen ist und Frau Sotivor-Borić umtreibt.
Ethnisierung der Nachkriegsbeziehungen und Idealisierung der Vorkriegsbeziehungen Auffallend an Frau Sotivor-Borićs Schilderung ist, wie sie durch den Wechsel von der ruralen zur urbanen Umgebung auch dem Thema ethnische Zugehörigkeit begegnete. Wie weiter oben beschrieben, geht dieser Wechsel einher mit dem Bruch zwischen ihrem ethnisch homogenen Herkunftsort und dem Eintauchen in das ethnisch heterogene Umfeld in Sarajevo. Sie betont, dass sie in der Großstadt mit verschiedenen Menschen eng befreundet war, sowohl mit Muslimen als auch mit Kroaten und Serben. Dabei fällt in ihren retrospektiven Ausführungen die Beschreibung der ethnisch gemischten Vorkriegszeit als ideales und idyllisches Zusammenleben auf, welches auf diese Art heutzutage nicht mehr zu existieren scheint oder zumindest problembehaftet ist, da es ansonsten keiner Betonung bedürfte. Das multiethnische Zusammenleben vor dem Krieg erscheint dabei als Normalität, die heute und in der Retrospektive nicht weiter hinterfragt wird. Indem sie die vor dem Krieg existierende Normalität betont, spricht Frau Sotivor-Borić die heutige, nach ethnischen Kriterien segregierte Gesellschaft des Nachkriegsbosniens an, welche das Abnorme darstellt. Aus dem Titelzitat »Ich bin von allen dreien etwas: ein wenig Serbin, ein wenig Muslimin, ein wenig Kroatin« wird zudem deutlich, dass sie selbst sich als etwas Viertes bezeichnet, das die drei anderen, also die Serbin, die Muslimin und die Kroatin, in sich vereinigen kann. Interessant dabei ist, dass Frau Sotivor-Borić als eine der wenigen aus der Befragtengruppe auf eine multiple Zugehörigkeit verweist, welche nun etwas detaillierter analysiert wird. Ein erstes Nachdenken über diese multiple Zugehörigkeit führt zum Konzept der supranationalen jugoslawischen Identität, der Jugoslovanka Identitet, welche in Kapitel 3.2.1 bereits ausführlich vorgestellt wurde und auch im Fall Sivac zur Sprache kommt. Damit ist ein Konzept angesprochen, welches zu Zeiten des sozialistischen Jugoslawismus etabliert wurde und die Idee der ›Brüderlichkeit und Einigkeit‹ formte. Auch wenn dieser Identifikationsrahmen ein konstruierter war, begleitete er doch die Menschen während rund 50 Jahren. Demzufolge ist diese supranationale Identifikation den Menschen vertraut und bis zu einem gewissen Sinn auch in diskursiven Identifikationsprozessen verinnerlicht (Bringa 1995; Godina 1998; Sorabji 2006). Obwohl oder gerade weil die Kriegsereignisse auf die Zerstörung dieser Identität zielten, trauern ihr Menschen wie Frau Sotivor-Borić nach. Frau Sotivor-Borićs Ausführungen beinhalten aber mehr als den bloßen Verweis auf das Konzept der Jugoslovenski Identitet. Sie bezieht sich in ihren Schilderungen immer wieder auf die drei Volksgruppen, die vor Ort vorkommen – die serbische, die muslimische und die kroatische. Sie selbst fühlt sich der
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Serbischen zugehörig, wobei sie innerhalb dieser Kategorie interessanterweise zwei Seiten des Serbisch-Seins unterscheidet: Es gibt zum einen diejenigen Serbinnen und Serben, die am Krieg teilgenommen haben, und zum anderen jene, die nicht aktiv mitgemacht haben. Erstere lebten während des Krieges nicht nur vor Ort, sie waren aktiv am Kriegsgeschehen beteiligt und sind ihrer Meinung nach Extremisten, die mit ihrem Tun den Krieg herbeiführten und auch in der Nachkriegszeit die Situation vor Ort kontinuierlich verschlimmern. Dieses stereotype Bild der serbischen Kriegsverursacher und -täter gehört nicht zu ihrer Vorstellung, wie eine Serbin oder ein Serbe sein soll. Denn die andere Seite des Serbisch-Seins ist die gute und korrekte Seite, zu der sie sich selbst zugehörig fühlt. Es war Frau Sotivor-Borić in den Gesprächen mehrmals wichtig zu betonen, dass weder sie selbst noch jemand aus ihrer Familie am Krieg teilgenommen hat – das ist ein oft beobachtetes Hauptmerkmal, mit dem unterstrichen wird, ob jemand zur guten oder schlechten Seite der Serbinnen und Serben gehört11 . Nebst dem Kriterium Teilnahme oder nicht Teilnahme am Krieg ist es Frau Sotivor-Borić aber ebenso wichtig hervorzuheben, dass das Serbisch-Sein und die Zugehörigkeit zur serbisch-orthodoxen Kirche nicht zwingend zusammen gehören. Diejenigen, die sie als »böse« Serbinnen und Serben bezeichnet, agieren ihrer Ansicht nach nicht im Sinne der Orthodoxie. Denn moralisch gesehen ist für Frau Sotivor-Borić die Religiosität, die Orthodoxie, ein wichtiger Teil des Guten. Mit diesen Ausführungen eröffnet Frau Sotivor-Borić ein Kategoriensystem, das sich nebst dem ethnischen Moment in die Extrempunkte Gut und Böse aufschlüsseln lässt. Hierzu passt das Motto »Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen«, das unter anderem und besonders in Zusammenhang mit der bosnischen Nachkriegsgesellschaft die Frage der Schuld resp. der Entschuldung enthält. Die Thematik der Zugehörigkeit löste bei allen Interviewpartnerinnen mit serbischem Hintergrund eine auffällige Reaktion aus, weil sie dadurch aufgefordert wurden, sich als etwas Bestimmtes zu bezeichnen oder sich zumindest einer bestimmten Gruppe als zugehörig zu erklären. Obwohl Frau Sotivor-Borić sich selbst verschiedentlich als Serbin benennt, will sie von der Interviewerin gerade nicht als Serbin gesehen werden. Darin schwingt eine Angst vor der Verurteilung als Täterin, als ›böse‹ Serbin mit, denn sie selbst will mit den Tätern nichts zu tun haben. Es kann aber auch vermutet werden, dass sich Frau Sotivor-Borić von anderen Serbinnen abgrenzen muss, um von Außenstehenden nicht als serbische Kriegstäterin stigmatisiert zu werden. Jedenfalls konstruiert sie sich auf diese Weise eine neue Position. Es ist die Position einer Serbin, Muslimin und Kroatin zugleich, die sie von derjenigen der Täterin und der extremen Serbin abgrenzt. Damit nimmt Frau Sotivor-Borić eine gesellschaftliche Position »dazwischen« ein, die auch dar11 | Ähnlich argumentiert Frau Živkovi ć (Kapitel 7).
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auf hinweist, wie problematisch das Sich-Zugehörig-Erklären überhaupt sein kann. Problematisch insofern, weil die Zugehörigkeit in all ihren Facetten zu einem Motor für die segregierte Gesellschaft werden kann und sich darin auch die Schwierigkeit offenbart, mit der Vergangenheit konstruktiv umgehen zu können. Mit diesen Ausführungen zeigt sich, dass vor Ort ein allumfassender Druck besteht, die Zugehörigkeiten zu ordnen. Frau Sotivor-Borić beschreibt das komplexe Verhältnis zwischen dem Zwang, sich im Feld vor Ort zu positionieren, und dem Zugehörigkeitsgefühl (feeling of belonging), für welches sowohl der Ort als auch die Praxis (das was getan wird) der entscheidende Faktor ist. Dabei schwankt sie zwischen einer essentialistischen Sichtweise (so sind die Serbinnen und Serben) und einer normativen Sichtweise (so haben die Serbinnen und Serben zu sein). Gleichzeitig schwingt in ihren Ausführungen die titoistische Vorstellung der Bratstvo i Jedinstvo mit – obwohl Serbin, ist sie »von allen dreien etwas« und deshalb prädestiniert für die Arbeit, der sie sich widmet. Damit belegt sie ihre Praxis mit ethnonationalen Kategorien und entwirft ein paradigmatisches Modell, wie Zugehörigkeiten im Nachkriegsbosnien geformt werden können: die guten und die schlechten Serben, Bosniaken oder Kroaten. Ganz deutlich versucht Frau Sotivor-Borić mit dem Strukturproblem der Nachkriegsgesellschaft umzugehen und die Seite der »guten« Serbin zu besetzen. Zentral für diese Argumentation ist ihre Position als Brückenbauerin, die mit dem Tanzunterricht ethnische Gräben überwinden kann und dadurch der Gesellschaft Gutes tut. Dadurch wird sie zu einer Ausnahmeerscheinung, die über spezielle Fähigkeiten verfügt und eine neue Vorstellung der zukünftigen Gesellschaft in Prijedor konstruieren kann.
Misslungene Versöhnung durch den Tanz Frau Sotivor-Borić ergänzt bezüglich Umgang mit dem Vergangenen die anderen präsentierten Fälle um eine weitere Perspektive: Während es bei Frau Ivanović beim bloßen Vorschlag für das Überwinden der entstandenen Kluft mit einer Brücke bleibt, schlägt Frau Sotivor-Borić diese Brücke konkret mit Hilfe ihres Tanzunterrichts. Derweil Frau Živković auf die Zwietracht verweist, die durch die Kriegsereignisse gesät wurde und verantwortlich dafür ist, dass die Menschen sich nicht mehr vertrauen können, bedient sich Frau Sotivor-Borić der Symbolik der multiethnischen Tanztradition, die eine altbekannte und für die Annäherung nötige Partnerschaft beinhaltet. An dieser Stelle sei zuerst die Bedeutung der Kreistänze zu jugoslawischen Zeiten kurz dargestellt. Maners (2000: 308) führt aus, dass zu jugoslawischen Zeiten Kolos (dt. Kreistänze) und andere, ethnisch assoziierte Tänze in multiethnische abgeändert wurden. Diese sogenannten Partisan Kolos waren beliebte Hilfsmittel der jugoslawischen Regierung, um ethnische Differenzen zu minimieren. Gleichzeitig verschwanden die aus der Zwischenkriegszeit bekannten Ballsaal Kolos der urbanen Bourgeoi-
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sie. Grund des Verschwindens war eine staatliche Kampagne gegen die Bourgeoisie und ihre Tänze mit dem Ziel, die Klassenunterschiede auszuradieren. Indem sich Frau Sotivor-Borić auf die jugoslawische Tradition der Partisan-KoloTänze beruft, greift sie ein Instrument auf, das ihr und vielen anderen bekannt ist, um zwischenethnische Begegnungen zu fördern. Ihre Motivation zeigt sich im Wissen, dass bereits vor dem jüngsten Krieg mit dem Tanz Grenzen überwunden werden konnten und damit heute etwas Bekanntes aus der früheren, idealisierten Gesellschaftsform zum Leben erweckt werden kann. Es ist ja auch diese frühere Gesellschaftsform, die Beziehungen über die ethnischen Grenzen hinweg ermöglichte, welcher Frau Sotivor-Borić heute nachtrauert. Mit ihrem Engagement kann sie die junge Generation in das Gedankengut dieser Gesellschaft einführen, das einst solche Beziehungen ermöglichte. Der Tanz wird somit zu demjenigen Instrument, das die »nationale Ladung«, welche die jungen Menschen in sich tragen (vgl. die Ausführungen von Frau Ivanović), spielerisch entschärfen kann. In der Berufung zur Tanzlehrerin lassen sich also nicht nur Aussagen zur Ethnizität, sondern ebenso zur Nationalität im Sinne einer zukünftigen, gemeinsamen Nation ausmachen. Im Umgang mit der Vergangenheit ist Frau Sotivor-Borić das aktive Engagement im Hier und Jetzt weit wichtiger als das bloße Erzählen und Gespräche der beiden Seiten über die Kriegsereignisse. Denn das Sprechen allein verändert ihrer Meinung nach nichts. Den Worten müssen unbedingt Taten folgen, wie sie das mit ihrem Tanzunterricht vorgemacht hat. Damit spricht Frau Sotivor-Borić etwas an, das von den Befragten ausschließlich die serbischen Bosnierinnen zum Thema machen: den Blick auf das Gute und das Positive und den Blick in die Zukunft, mit der gleichzeitigen Anerkennung, dass der vergangene Krieg Teil des heutigen Lebens ist, aber nicht zukunftsbestimmend sein darf. Ihrer Meinung nach müssen die Menschen für eine gemeinsame Zukunft den Kriegsereignissen entkommen, indem sie aktiv werden, sich für ein gemeinsames zukünftiges Leben engagieren und aufhören, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen. Nur darin sehen Frau Sotivor-Borić und die anderen serbischen Frauen eine erfolgversprechende Möglichkeit, die zerrissene Gesellschaft langfristig zusammenzuführen, ethnische und andere Differenzen zu überwinden oder zumindest zu lernen, mit den Differenzen gewaltlos umzugehen. Allerdings scheitert Frau Sotivor-Borić mit ihrem versöhnenden Engagement in höchstem Masse. Dazu trägt einerseits der offene Angriff gegen sie bei, welcher ihr allzu drastisch verdeutlichte, dass ihr Engagement von der lokalen serbischen Gemeinschaft nicht erwünscht wird: Es macht sie in den Augen dieser Gemeinschaft zur Verräterin an der serbischen Sache. Ihr Einsatz hat sogar eine Exklusion aus der Gemeinschaft zur Folge, wie anhand der anschließenden Netzwerkanalyse ausführlicher dargelegt werden kann. Andererseits scheitert sie aber auch aufgrund fehlender ökonomischer Ressourcen und finanzieller
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Unterstützung. Ihr Engagement wird weder von der bosniakischen noch von der internationalen Gemeinschaft ideell und/oder finanziell getragen, weshalb sie sich gezwungen sah, zumindest die zwischenethnischen Tanzanlässe aufzugeben. Es ist dieses Scheitern, das sie resignieren lässt und ihre finanziellen Probleme in den Vordergrund rückt.
9.2.2 Vor- und Nachkriegsnetzwerke im Vergleich: Fehlende Zugehörigkeit Abbildung 15: Vorkriegsnetzwerk Frau Sotivor-Borić
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Abbildung 16: Nachkriegsnetzwerk Frau Sotivor- Borić
Wie bei den anderen vorgestellten Fällen interessiert auch für die Situation von Frau Sotivor-Borić, wie sich die soziale Einbettung und das daraus resultierende soziale Kapital präsentieren. Nebst der Größe und Dichte der Netzwerke werden sowohl die Kohäsion als auch die Rollen der Bezugspersonen diskutiert. Zuletzt soll, wie bei den anderen Fällen auch, die Wichtigkeit transnationaler Bezie-
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hungen zur Sprache kommen. Ziel ist es, Aussagen über das ihr zur Verfügung stehende soziale Kapital zu generieren.
Die Gestalt der Netzwerke Vorkriegs- und Nachkriegsnetzwerk von Frau Sotivor-Borić unterscheiden sich rein optisch erheblich voneinander: in Größe, ethnischer Färbung, aber auch in der Lokalität der Beziehungen. Deshalb erstaunt nicht, dass sich auch nach den Berechnungen der Netzwerkdaten einige markante Unterschiede zeigen. Vor dem Krieg aktivierte Frau Sotivor-Borić 15 verschiedene Bezugspersonen für die soziale Unterstützung, was mehr oder weniger dem Durchschnittswert für die gesamte Befragtengruppe entspricht (dieser Wert liegt bei 14). Für die Zeit nach dem Krieg nennt sie gerade noch acht Bezugspersonen, die ihr soziale Unterstützung leisten. Ihr Netzwerk hat sich also um fast die Hälfte reduziert. Dies ist ein Hinweis auf ihre marginalisierte soziale Stellung und ihr eher geringes Sozialkapital, die Frau Sotivor-Borić in ihrer Lebensgeschichte bereits antönte. Beide Netzwerke verfügen über eher geringe Dichten. Der Dichtewert für das Netzwerk vor dem Krieg beträgt 0,41 (Höchstzahl 1), für das Nachkriegsnetzwerk 0,55. Diese geringen Dichten bedeuten, dass die Bezugspersonen untereinander wenig bekannt sind und nur gelegentlich miteinander interagieren. Im Vorkriegsnetzwerk zeigen sich zudem zwei unterschiedliche Beziehungskreise, die untereinander nur über die Kuma (dt. Trauzeugin) Azima verbunden sind, nämlich Freundinnen, Freunde, Kolleginnen und Kollegen aus Frau Sotivors Studienzeit und die Verwandten. Eine solche Zweiteilung kann als Charakteristikum von Beziehungsnetzwerken junger Leute gelesen werden. Nach dem Auszug aus dem Elternhaus werden neue Beziehungen geknüpft, die nicht mehr unbedingt mit der eigenen Blutsverwandtschaft bekannt sind. Typisch für ein Netzwerk einer jungen Frau ist zudem, dass sie über mehr Freundschaften (10 Personen) als verwandtschaftliche Beziehungen (deren 5) verfügt. Mit der Hochzeit und dem Wegzug aus Sarajevo verliert Frau Sotivor-Borić allerdings ihre Studienfreundschaften. Nur die zur Kuma gemachte beste Freundin begleitet sie in dieser Übergangsphase und bleibt auch nach ihrem Wegzug eine wichtige Bezugsperson. Kurz vor Kriegsausbruch verfügt Frau Sotivor-Borić deshalb nur noch über die Beziehungen zu ihren konsanguinen Familienmitgliedern und den neuen affinalen Verwandten. Außer einer Nachbarin, die instrumentelle Unterstützung leistet, hat Frau Sotivor-Borić also vor dem Krieg noch kein gefestigtes soziales Netzwerk in Prijedor. Damit fehlt ihr auch ein Netzwerk, das sie nach ihrer Rückkehr hätte reaktivieren können. Auf diese Weise lässt sich der augenauffällige Bruch in den Netzwerken auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen zeigt sich – wie bei den anderen Interviewpartnerinnen auch – der Kriegsbeginn als verantwortlich, zum anderen ist bei Frau Sotivor-Borić mit Hochzeit und Umzug zeitgleich auch in ihrem pri-
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vaten Leben eine Veränderung eingetreten, die ebenfalls zu einem Bruch der vorhandenen Beziehungen geführt hat.
Homophilietendenzen Was bei der Betrachtung der beiden Netzwerke besonders stark auffällt, ist die ethnische Zusammensetzung. Vor dem Krieg verfügte Frau Sotivor-Borić über ein ethnisch gemischtes Netzwerk, das sowohl Beziehungen zu ethnischen Serbinnen und Serben (46,7 %) als auch Kontakte zu Musliminnen und Muslimen (33,3 %), bosnischen Kroatinnen und Kroaten (13,3 %) sowie zu einer Kollegin enthielt, deren Eltern in einer Mischehe lebten. Diese ethnische Durchmischung ist nicht weiter erstaunlich, ruft man sich die Ausführungen in der Falldarlegung und Frau Sotivor-Borićs Aussage in Erinnerung, sie sei »von allen dreien etwas«. Die Heterogenität des Umfelds hat auch die habituellen Grundhaltungen dieser jungen Frau beeinflusst. Wohl deshalb erlebte sie ihr ethnisch heterogenes Vorkriegsnetzwerk als Ideal eines Beziehungsnetzwerkes, welches sie in der Nachkriegszeit vermisst. Ihr Nachkriegsnetzwerk besteht ausschließlich aus Beziehungen zu anderen (bosnischen) Serbinnen und Serben, ist also ethnisch homogen. Damit hat der Krieg sein Ziel der ethnischen Säuberung bei Frau Sotivor-Borić umsetzen können. Wie bei der Lebensgeschichte aber gesehen, ist es nicht nur der Krieg, welcher für diese ethnische Homogenität verantwortlich ist. Auch die fehlende finanzielle und moralische Unterstützung für Frau Sotivor-Borićs Engagement in der Nachkriegszeit tragen dazu bei. Sie fühlt sich von der bosniakischen Gemeinschaft ebenso im Stich gelassen, wie von den Internationalen. Niemand kann oder will ihr Tanzprojekt mitfinanzieren und moralisch mittragen. Da diese Unterstützung ausblieb, brach sie auch diejenigen Beziehungen ab, die sie zu Beginn des Tanzprojektes knüpfen konnte. Dies ist aber nur eine mögliche Erklärung, weshalb Frau Sotivor-Borić nun ausschließlich mit Serbinnen und Serben Beziehungen pflegt. Auch ohne Tanzstunden könnte sie Beziehungen mit bosnischen Musliminnen und Muslimen unterhalten, und seien es transnationale. Es ist anzunehmen, dass sie das Pflegen der Beziehungen über die ethnischen Grenzen hinweg aufgrund des Bombenanschlags schlicht nicht mehr wagt. Sowohl vor als auch nach dem Krieg lässt sich keine ausgeprägte Geschlechterhomophilie beobachten. Mit ca. 60 % weiblichen und 40 % männlichen Bezugspersonen haben beide Netzwerke nur eine leichte Tendenz, das gleiche Geschlecht für soziale Unterstützung anzugehen. Schlüsselt man die Unterstützung in die vier Unterstützungsdimensionen auf, lässt sich das Bild folgendermaßen verfeinern: Vor dem Krieg zeigte sich eine Tendenz zur Geschlechterhomophilie lediglich im Bereich der emotionalen Unterstützung. Frau Sotivor-Borić verließ sich für diese Unterstützung mehrheitlich auf andere Frauen. Finanzielle Unterstützung hingegen leisteten mehrheitlich Männer, und zwar ihr Ehemann und ihr Schwiegervater. Für instrumentelle Unter-
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stützung wurden nur wenig mehr Frauen angegeben wie Männer angegeben. Für die Zeit nach dem Krieg präsentiert sich die Aufschlüsselung etwas anders: Die Männer sind in drei von vier Unterstützungsdimensionen als Bezugspersonen in der Mehrzahl. Damit lässt sich festhalten, dass bei Frau Sotivor-Borić nach dem Krieg die Tendenz zu beobachten ist, sich für die Unterstützung eher auf das andere Geschlecht zu verlassen. Dieser Umstand war bereits bei Frau Ivanović zu beobachten, dort noch ausgeprägter. Weshalb sich in der Geschlechterzusammensetzung der Netzwerke eine Veränderung einstellt, wird aus Frau Sotivor-Borićs Ausführungen nicht ersichtlich. Es ist anzunehmen, dass aufgrund der Scheidung andere Männer wie ihre Brüder an Wichtigkeit gewonnen haben. Nicht ganz so auffällig wie die ethnische Einfärbung hat sich die geografische Ausrichtung der Netzwerke verändert. Während vor dem Krieg die Beziehungen stark lokal ausgerichtet waren, enthält Frau Sotivor-Borićs Nachkriegsnetzwerk zumindest zwei transnationale Beziehungen, nämlich diejenigen zu Brüdern. Dies ist ein Umstand, der bei allen Interviewpartnerinnen zu beobachten ist: Währenddem sich vor dem Krieg nur einzelne Personen aus den Netzwerken im Ausland aufhielten, sind es nach dem Krieg deutlich mehr und vor allem deutlich zentralere Beziehungen (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 4.3.4). Auch bezüglich der Multiplexität zeigen sich markante Veränderungen zwischen den beiden Netzwerken. Vor dem Krieg verfügte Frau Sotivor-Borić über Beziehungen zu wichtigen Unterstützungspersonen, die zwei oder drei Formen der Unterstützung leisteten. Damit verfügte sie über einen Kern an Unterstützungspersonen, die sowohl über einen verwandtschaftlichen als auch einen freundschaftlichen Hintergrund verfügen. Das bedeutet, dass sie ihr soziales Kapital von Personen erhielt, die wiederum selbst über ihre eigenen Netzwerke über Sozialkapital verfügten. Das Sozialkapital war in diesem Sinne für Frau Sotivor-Borić größer als nach dem Krieg. Heute stellt die Freundin A. mit einer dreifachen Multiplexität die zentralste Person ihres Unterstützungsnetzwerkes dar: Frau Sotivor-Borić nennt sie sowohl für Besuchs- und Freizeitaktivitäten als auch für emotionale und instrumentelle Unterstützung. Was früher der Ehemann im Netzwerk war, ist heute die Freundin A. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Frau Sotivor-Borićs heutiges Netzwerk deutlich an sozialem Kapital verloren hat. Sie verfügt nur noch über wenige Beziehungen, die ihr soziale Unterstützung bieten können. Dies hängt nicht nur mit dem Krieg und den daraus erfolgten zwischenmenschlichen Trennungen zusammen und damit, dass sie nach der Hochzeit ihr neu geknüpftes soziale Netzwerk nicht vertiefen konnte, sondern ebenso mit ihrer gesellschaftlichen Stellung als geschiedene Frau in der Nachkriegszeit. Ihre konsanguinen Verwandten leben nicht vor Ort und auf die Unterstützung der ehemaligen Schwie-
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gerfamilie kann sie nicht mehr zählen. Damit hat sie einen wichtigen Anteil an möglichen Unterstützungsbeziehungen verloren, die ihr das alltägliche (Über-) Leben erheblich erleichtern könnten.
9.3 F ALLKONKLUSION Wie anhand der Netzwerkanalyse deutlich wurde, hatte Frau Sotivor-Borić nach ihrer Hochzeit und vor dem Kriegsausbruch nur wenig Zeit, ihre soziale Einbettung zu festigen. Die neu geknüpften und deshalb noch wenig vertrauensvollen Beziehungen sowie der Krieg, ihre Zeit im Exil, aber vor allem auch die Scheidung in der Nachkriegszeit haben auf ihre heutige gesellschaftliche Situation einen großen Einfluss. Nicht nur muss sie als alleinstehende und alleinerziehende Frau ihren Alltag in der Nachkriegszeit ohne Ehemann bewältigen. Infolge der schwachen Ausbildung ihres Vorkriegsnetzwerks sind ihr auch nur wenige freundschaftliche und noch weniger verwandtschaftliche Beziehungen geblieben, über die sie heute Unterstützung erhalten kann. Nur wenige Beziehungen reichen sowohl ins primäre als auch ins sekundäre Umfeld. Sie erscheint deshalb als marginalisierte und isolierte Person, die weder in der lokalen Gemeinschaft noch in ihrer Verwandtschaft eingebettet ist. Immerhin kann sich Frau Sotivor-Borić aufgrund dieser marginalisierten Position gewisse Handlungsspielräume schaffen, um sich aktiv der Annäherung der zerrissenen Gesellschaft zu widmen. Was bei Frau Ivanović also noch als Gedankengang Eingang in die Interviews gefunden hat, setzt Frau Sotivor-Borić in die Tat um: Sie wird aktiv und versucht mit Hilfe des Tanzunterrichts, eine Brücke zwischen die verfeindeten Gruppen zu schlagen und auf künstlerischem Weg die Menschen einander anzunähern. Es ist nicht pure Selbstaufopferung für eine gute Sache, die sie dazu antreibt, sondern viel eher die finanzielle Not, unter der sie nach ihrer Scheidung leidet. Dennoch, mit dem Unterricht in traditionellem Tanz scheint sie sich eines geeigneten Mittels zu bedienen, zwischenethnische Gräben überwinden zu können. Geeignet erscheint es nicht nur wegen der Tradition des Tanzes, sondern auch wegen der Zusammenarbeit mit den Kindern. Die meisten der Interviewpartnerinnen bezeichnen die Kinder als die Zukunft des Landes und es ist deshalb sinnvoll, auch dort mit der Annäherung der ehemals verfeindeten Gruppen zu beginnen. Mit dem Tanzunterricht wurde Frau Sotivor-Borić deshalb zu einer Versöhnerin der praktischen und zukunftsgerichteten Art. Allerdings musste Frau Sotivor-Borić bereits seit Beginn ihres Engagements gegen Widrigkeiten kämpfen. Nicht nur die Widerstände finanzieller Art wirkten sich auf ihre Arbeit und ihre Motivation aus; ganz besonders einschneidend für ihr friedensförderndes Engagement war die unmissverständliche öffentliche Warnung in Form eines Bombenanschlags.
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Was bei der Fallanalyse von Frau Živković vorerst also nur angedeutet wurde, zeigt sich am Beispiel von Frau Sotivor-Borić nun ganz deutlich: Ihr Engagement und ihre Einstellung haben sie in den Augen vieler zur Verräterin an der serbischen Sache gemacht. Dies äußert sich beispielsweise in Mord- bzw. einer Bombendrohung. Die Folgen dieser Drohung zeigten sich in einer Änderung sowohl ihres Engagements als auch ihrer Einstellung gegenüber der Nachkriegsproblematik. Ihre Ansicht, dass alle über alles sprechen sollen, wich der Haltung, dass es nicht gut sei, dauernd über die Vergangenheit zu sprechen. Wie Frau Živković propagiert auch sie seither, dass nur das Positive aus der Vergangenheit betont werden soll und dass vor allem den Worten endlich Taten folgen müssen. Dies hat zur Folge, dass sie selbst deutliche Unterschiede in Fragen nach der Zugehörigkeit herstellt. Nicht nur, dass sie sich als Serbin allgemein ›einfach‹ von den Anderen abgrenzt, sie macht innerhalb der Gruppe der Serbinnen und Serben auf zwei unterschiedliche Seiten aufmerksam: Die eine Seite des Serbisch-Seins, von der sie wegen ihres friedensfördernden Engagements bedroht wurde, wird ihrer Ansicht nach von Extremisten verkörpert, die eine ultranationalistische Sichtweise vertreten und sich gegen jegliche Versöhnungstendenzen stellen. Die andere Seite des Serbisch-Seins, zu der sie sich zugehörig fühlt, wird durch diejenigen Menschen verkörpert, die nicht aktiv am Kriegsgeschehen teilgenommen haben. Damit unterstreicht sie Frau Ivanovićs Aussagen, dass nicht alle Serbinnen und Serben wie selbstverständlich der Tätergruppe zugerechnet werden dürfen. In ihrem Erzählmuster, das sie als Unbeteiligte und Unschuldige hervorhebt, zeigt sich also die Angst, von den ›Anderen‹ als Täterin und ›extreme Serbin‹ stigmatisiert zu werden. Auch Frau Sotivor-Borić wehrt sich gegen diese Stigmatisierung, indem sie sich selbst als Opfer der Ereignisse sieht. Damit wäre erneut die Viktimisierung angesprochen, die ein Hindernis für die Versöhnung vor Ort darstellt. Im anschließenden Teil III wird diese Problematik diskutiert und mit den theoretischen, methodischen und historischen Ausführungen der vorangehenden Kapitel in Zusammenhang gebracht.
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Teil III Diskussion der Nachkriegsproblematik
In der vorliegenden Arbeit wurden anhand fünf unterschiedlicher Lebensgeschichten die Vielfalt von Kriegserfahrungen und die unterschiedlichen Umgangsweisen mit diesen Erfahrungen analysiert. Teil III wird deshalb mit einem Resümee dieser fünf Fallgeschichten eröffnet (Kapitel 10). Anhand der biografisch-narrativen Interviews ließen sich sowohl individuelle und nicht zu verallgemeinernde Darstellungen als auch verallgemeinerbare Erinnerungs- und Umgangsmuster herausarbeiten. Letztere legen ein ganzes Spektrum an Sinndeutungen offen, die in nachfolgenden Kapitel 11 und 12 diskutiert werden. Zwei Hauptstränge leiten diese Diskussion: Zum einen wird auf die Thematik der unterschiedlichen und sich überschneidenden Zugehörigkeitspraktiken Bezug genommen, zum anderen wird der Umgang mit der Vergangenheit fokussiert. Wie bereits mehrfach angesprochen, sind es hauptsächlich drei Kategorien, die für Ein- und Ausschluss resp. Zugehörigkeiten relevant sind und die Annäherung der zerrissenen Gesellschaft erschweren: die ethnoreligiöse Zugehörigkeit, die Kriegs- und Migrationserfahrungen sowie die Viktimisierung. Mit diesen drei Merkmalen der Zugehörigkeit wird ein intersektionales Muster erkennbar, das das soziale Beziehungsgeflecht der Nachkriegsgesellschaft durchdringt und für den Umgang mit der Vergangenheit bestimmend ist. Wie genau sich dieses intersektionale Muster herausbildet, wird in Kapitel 11 ausgeführt. Auf der Diskussion über die Zugehörigkeiten aufbauend, sollen im letzten Teil dieses Teils III die sehr heterogenen Arten der Erinnerung an die gewaltgeprägte Vergangenheit im Hinblick auf die Strukturproblematik der Nachkriegsgesellschaft betrachtet werden.
10. Das mühselige Errichten einer neuen Welt – ein Resümee der fünf Fälle
In Bosnien-Herzegowina und im Speziellen in der Gemeinde Prijedor sind mannigfaltige Kriegsfolgen zu beobachten. Wie die Falldarlegungen gezeigt haben, ist eine Bedeutende, wenn nicht sogar die Bedeutendste, darin zu sehen, dass die Lebenswelten, in welche die Interviewpartnerinnen vor dem Krieg integriert waren, so nicht mehr existieren. Es sind indessen nicht nur demografische Umschichtungen, die durch den Krieg erfolgten. Der Krieg wirkte sich auch auf die Beziehungen aus, weil sich radikale Brüche in den Lebensschicksalen ergaben. Dazu zählen beispielsweise Ausbildungsunterbrüche, erzwungene Abbrüche beruflicher Werdegänge und veränderte Statuspositionen aufgrund der Kriegserfahrungen und/oder des veränderten Zivilstandes. Solche Brüche beeinflussen die relationale und kategoriale Identifikation (zur Definition siehe Kapitel 2.2.1) sowie die subjektiven Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühle dauerhaft. Unter anderem ist es auch der Habitus als gesellschaftlich und sozial bedingtes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema, der bestimmt, welche subjektiven Handlungsoptionen und Denkmöglichkeiten vor dem Hintergrund der Kriegserlebnisse in Frage kommen. Hinzu kommen kontextuelle Bedingungen (die soziale Umwelt, Kapitel 2.1.4), die das jeweilige Handeln sowie das Knüpfen und Pflegen von Beziehungen und die Grenzziehungen zwischen Gruppen beeinflussen. Auf dieser Grundlage entstehen neue Erfahrungsaufschichtungen, die die Aushandlung der Zugehörigkeiten resp. die sozialen Beziehungen in der Nachkriegszeit fortlaufend bestimmen. Durch den Krieg haben sich also die objektiven Bedingungen von Praxis grundlegend geändert. Ganz besonders interessierte für die vorliegende Arbeit die Organisation des sozialen Lebens nach dem Krieg, d.h. welche Arten des Umgangs und welche Mechanismen der Differenzierung zwischen der ›Wir-Gruppe‹ und den ›Anderen‹ sich bei den einzelnen Interviewpartnerinnen zeigen. Anhand der ego-zentrierten Netzwerkanalyse ließen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Vorkriegs- und Nachkriegsnetzwerken feststellen und die Tendenzen zu
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ethnischer Homogenität der Unterstützungsnetzwerke verdeutlichen. Mittels der biografischen Interviews konnten ›neu-alte‹ identitäre Muster aufgedeckt werden, die u.a. auf ethnoreligiösen Merkmalen, der Kriegs- und Migrationserfahrung und auf einer weit verbreiteten (individuellen wie auch kollektiven) Viktimisierung beruhen. Diese drei dominanten Tendenzen wirken als überschneidende Achsen der Differenz auf das soziale Geflecht und auf die je individuellen Positionen ein (vgl. dazu u.a. Klinger und Knapp 2005; Knapp 2005). Die daraus entstehenden situativen Zugehörigkeitsmomente und die damit verbundenen sich verändernden Ein- und Ausgrenzungsmechanismen rücken damit in den Blickpunkt des Interesses. Wie in den Falldarlegungen deutlich wurde, herrscht in Prijedor eine segregierte Gesellschaft und eine ausgeprägte Rivalität bezüglich Wahrheitsdiskursen und individuellen wie kollektiven Erinnerungen. Bevor in den anschließenden Kapitel 11 und 12 auf die daraus entstehenden Problematiken eingegangen wird, sollen in Kürze die wichtigsten Punkte der Fälle resümiert werden. In ihrer Erzählung verdeutlicht die ehemalige Richterin Nusreta Sivac (Kapitel 5) verschiedene Phasen der Ein- und Ausgrenzung für die Zeiten vor, während und nach dem Krieg. Im Krieg erfährt sie sowohl Ausgrenzung und Diskriminierung als auch einen Statusverlust, den sie als entwürdigend erlebt. Heute steht sie für die Gruppe der lokalen Bosniakinnen und Bosniaken, die im Krieg ähnliche Verfolgung erlebten wie sie. Zudem steht sie als exponierte Vertreterin für die Gruppe der Zeugen und Zeuginnen bzw. der Opfer und ihrer Angehörigen. Ihr beruflicher Habitus ermöglicht es Frau Sivac, sich der Gerechtigkeit zu widmen, sich im Kampf gegen das Vergessen zu engagieren und die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse rational fassen. Die Hindernisse für die Annäherung der verfeindeten Gruppen nennt sie unverblümt beim Namen: Verbreitete Polarisierung statt Dialog, gesamtgesellschaftliche Viktimisierung und die sich nach wie vor oder wieder auf freiem Fuss befindenden Kriegsverbrecher. Diese drei Faktoren stellen in ihren Augen die zentralen Probleme für einen konstruktiven Umgang mit der Vergangenheit dar. Bezüglich ihrer individuellen Lebensgeschichte fällt die Fähigkeit auf, Distanz zur erlittenen Traumatisierung aufzubauen. Dies ermöglicht ihr nicht nur das Finden einer inneren Stabilität, sondern auch die Rationalisierung der Kriegsgeschehnisse, um sich vor einer Retraumatisierung zu schützen. Ihre Identifikation wird primär durch ihr Engagement für die Sache bestimmt. In diesem Engagement liegt eine individuelle und nicht zu verallgemeinernde Entwicklung, die aber dennoch zeigt, wie nachhaltig die Verfolgungserfahrung den Umgang mit der Vergangenheit zu beeinflussen vermag. In Ena Begovićs Erzählung (Kapitel 6) überlagern die Kriegsereignisse sämtliche Lebensphasen. Die Konfrontation mit der Vergangenheit stellt für sie eine dauernde Belastung dar. Die Trauer über den Verlust ihres Ehemannes und die damit verbundene Belastung gehört deshalb zu den Hauptmerkmalen ihrer all-
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täglichen Praxis. Für die Bewältigung des Alltags in der Nachkriegszeit ist es für sie zentral, sich mit Menschen zusammenzuschließen, die Gleiches erlebt haben. Das Auffangen der verfolgungsbedingten Diskontinuität in der Vergemeinschaftung mit anderen Kriegswitwen und Internvertriebenen ist für Frau Begovićs relationale Identifikation1 bestimmend – ein Muster, das sich auch in anderen Interviews feststellen lässt. Die Wichtigkeit eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das auf Kriegs- und Migrationserlebnissen beruht, zeigt sich auch in ihren Ausführungen zu den unterschiedlichen Opferkategorien. Nach Art der Beteiligung am Krieg teilt Frau Begović die Opfer in zwei Kategorien ein: Die zivilen Opfer und deren Angehörige stellt sie den militärischen Opfern und ihren Angehörigen gegenüber. Letztere erhalten die notwendige Anerkennung, werden sogar als Helden gefeiert, wohingegen für erstere die Anerkennung des erlittenen Unrechts noch erkämpft werden muss. Nur mit einer solchen Anerkennung bleiben ihrer Ansicht nach die Traumata nicht privates Leid und sie könnte sich »endlich beruhigen«, d.h. sie könnte den Krieg Vergangenheit werden lassen. In Anbetracht dieser bis anhin unerfüllten Forderungen erstaunt es, dass in den Interviews mit Frauen wie Frau Begović Äußerungen des Hasses, der Wut, aber auch der Rache ausbleiben. Dieses Ausbleiben stellt eine mögliche Dimension der Art und Weise dar, wie mit der Kriegsvergangenheit umgegangen werden kann. Bei Frau Begović fällt aber auch noch eine andere, ebenfalls häufig angetroffene Art des Umgangs auf: der Versuch, die traumatischen Erlebnisse durch berufliche (Über-)Aktivitäten zu kompensieren. Auch wenn es primär die ökonomische Prekarität ist, die nach dieser beruflichen Aktivität verlangt, wird die Arbeit zu einem zentralen Bestandteil des Lebens nach dem Überleben. Konträr zu Frau Sivac und Frau Begović stehen Frau Živković und Frau Ivanović. Letztere weisen in ihren Erzählungen für die Nachkriegszeit Kontinuitätslinien auf, d.h. sie können in der Nachkriegszeit unmittelbar an ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen. Auch ihr Umgang mit der Kriegszeit tendiert in diese Richtung: Sie plädieren beide für einen Blick in die Zukunft, um die schmerzhaften Erfahrungen überwinden und zu einer gemeinsamen Zukunft finden zu können. Im Interview mit Frau Živković (Kapitel 7), einer vor Ort verbliebenen älteren Gesprächspartnerin, zeigt sich eine Verdrängung der Kriegsereignisse, mit welcher sie Distanz zum Geschehenen aufbauen kann. In ihrer Argumentation schwingt latent eine Aufrechnung der Schuld mit, mit der sie sich, wie Adorno (1977: 557) es in seinen Ausführungen zur Aufarbeitung der Vergangenheit nennt, von der ›Selbstbesinnung dispensieren‹ kann. So, als ob das, was den 1 | Zur Erinnerung: Unter relationaler Identifikation wird die Positionierung in einem Beziehungsgewebe wie der Nachbarschaft, der Verwandtschaft oder der Freundschaft verstanden (vgl. Kapitel 2.2.1).
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Serbinnen und Serben in anderen Städten, Dörfern und sogar in einem anderen zeitlichen Rahmen angetan wurde, die jüngsten Verbrechen in Prijedor abgelten bzw. mit diesen aufsummiert und verrechnet werden könnte. Diese Deutung befreit Frau Živković von der Aufgabe, sich mit dem konfliktbehafteten Vergangenen zu konfrontieren. Zusätzlich zeigt sich in ihrer Argumentation eine ausgeprägte Selbstwahrnehmung als Opfer des von Männern gemachten Krieges. Diese Selbstcharismatisierung als Opfer zeigt sich auch in anderen Interviews, da allerdings in Zusammenhang mit dem ethnisch Anderen. Dies spiegelt sich auch in der verbreiteten politischen Haltung vor Ort. Nach wie vor fehlen die politische Anerkennung der Kriegsgeschehen sowie die öffentliche Unterstützung und Förderung lokaler Versöhnungsprozesse. Damit zeigt sich in Frau Živkovićs Interview eine Bedeutungskonstruktion im Spannungsbogen zwischen kollektiven Sinnangeboten und individuellen Erlebnissen. Besonders auffällig ist zudem, dass Frau Živkovićs Familie zu den zentralen Integrationsmomenten in der Selbstrepräsentation gehört. Damit ist ein verallgemeinerbarer Faktor angesprochen, wie es sich in und kurz nach einer solchen Krisensituation einstellt: der Rückzug in die eigene Familie. Doch im Gegensatz zu anderen Interviewten verfügt Frau Živković über ein intaktes und vertrautes familiäres Bezugssystem, das ihr während der Kriegszeit erhalten blieb. Dies ist für die Bewältigung des Nachkriegsalltags von zentraler Bedeutung. Das Interview mit Jelena Ivanović (Kapitel 8), einer jungen unverheirateten Domicilna, knüpft an Frau Živkovićs Ausführungen an. Auch bei Frau Ivanović zeigt sich ein emotionales Distanznehmen zu den Kriegsgeschehnissen. Dieser Umstand ist sicher auf ihr Alter bei Kriegsausbruch zurückzuführen. Dennoch zeigt sich in ihrem emotionalen Distanznehmen eine verstrickte Situation, aus der kein Ausweg zu führen scheint, weil die beiden Haltungen nicht vereinbar sind: die einen Frauen wie Frau Ivanović und Frau Živković wollen vergessen, die ehemaligen Opfer wie Frau Sivac und Frau Begović können solange nicht zur Tagesordnung übergehen wie die Verbrechen nicht anerkannt werden. In den Ausführungen von Frau Ivanović sind es für die Unmöglichkeit des Zusammenlebens immer die undefinierten ›Anderen‹, die verantwortlich gemacht werden. Dies ermöglicht es Frau Ivanović, in ihren Schilderungen bedrohliche Elemente der Erinnerung auszusparen. Dies ist nun aber nicht dahingehend zu deuten, dass sie die Kriegsereignisse vergessen würde. Vielmehr offenbart sich in Frau Ivanovićs Äußerungen die Notwendigkeit, sich vor den als traumatisch erfahrenen Erlebnissen (u a. dem Tod ihres Bruders oder den Verlust der Freunde) zu schützen. Allerdings zeigt sich in dieser Haltung den Kriegsereignissen gegenüber ein aufschlussreicher Mechanismus, der einer Annäherung der verfeindeten Gruppen entgegensteht: Die Zugehörigkeit zur eigenen, ethnischen Wir-Gruppe wird nicht in Frage gestellt, ebenso wie die dahinter stehenden Kategorisierungen als gegeben betrachtet werden. Dadurch zeigt sich eine Sichtweise, die auch einen Patriotismus für die eigene Gruppe vermuten lässt. In
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ihrer Erzählung produziert und reproduziert Frau Ivanović ihre serbische Identität unter dem vermeintlichen oder tatsächlichen Mythos einer anhaltenden Bedrohung, in welchem die Serbinnen sich als Opfer der Geschichte und der Geschehnisse charismatisieren – ein bekannter Topos, der die nationalistischserbische Argumentation wie ein roter Faden durchzieht (Šuber 2004). Damit verschärft sich der Identitätskonflikt zwischen den vom jüngsten Krieg, aber auch von der älteren Geschichte unterschiedlich betroffenen Gruppen. Eine dritte Umgangsweise mit der jüngsten Vergangenheit zeigt sich in der Fallgeschichte von Frau Sotivor-Borić (Kapitel 9). Sie versuchte eine Annäherung der ehemals verfeindeten Gruppen in die Wege zu leiten, indem sie ethnisch gemischte Tanzkurse anbot. Als Tanzlehrerin wurde sie damit zur Versöhnerin der praktischen Art. Allerdings konnte ihr Engagement im antagonistischen Umfeld von Prijedor nicht von langer Dauer sein. Ihr Einsatz für die zwischenethnische Annäherung trug ihr den Ruf der Verräterin an der serbischen Sache ein. Dies ist für sie persönlich umso schwerwiegender, als sie sich bereits durch ihre relationale Position als geschiedene und alleinerziehende Mutter am Rande der Gesellschaft befindet. Verkompliziert wird ihre Position noch dadurch, dass sie vor dem Kriegsausbruch ihr Selbstbild weder als junge Mutter noch als frisch Verheiratete festigen und in der damals neuen Umgebung auch keine tragenden sozialen Beziehungen knüpfen konnte. Mit der Scheidung in der Nachkriegszeit und dem Verlust der affinalen Familie wird sie zu einer isolierten Person, ohne tragendes Unterstützungsnetzwerk. Ganz besonders interessant wird ihre Position im Hinblick auf den Umgang mit der Vergangenheit. Ihre gesellschaftliche Position resp. ihre relationale und auch kategoriale Identifikation ermöglichen es ihr, die komplexe Zugehörigkeitsstruktur zu erkennen. Denn sie ist »von allen dreien etwas«, wie sie prägnant ihre Position reflektiert. Dies dient ihr auch als Motto für ihr versöhnendes Engagement. Die Fallgeschichten verdeutlichen, dass der Krieg nicht nur die Sicherheit, die persönliche Integrität, die Heimat und das soziale Geflecht angriff, sondern die Erinnerungen der Betroffenen unterschiedlich formte. Es lässt sich festhalten, dass in der Gesellschaft deshalb zwei konträre Sichtweisen über den Krieg und die Art und Weise des Umgangs mit der Vergangenheit verankert sind. Zwar lassen sich auch Positionen zwischen diesen beiden Sichtweisen finden, doch die Mehrheit der befragten Frauen scheint in getrennten Parallelwelten gefangen zu sein. Die interviewten Frauen, die während dem Krieg nicht verfolgt wurden, relativieren die Kriegserinnerungen und –erfahrungen der ehemaligen Opfer und Angehörigen der Opfer. Damit anerkennen sie weder eine individuelle noch eine kollektive Täterschaft. Stattdessen zeigt sich wiederholt eine Charismatisierung als Opfer, mit der die Geschehnisse während des Krieges verdrängt oder auch legitimiert werden. Bei den Bosniakinnen, die während dem Krieg verfolgt wurden, zeigen sich eine Politisierung als Opfer und eine Betonung der eigenen Kriegserfahrungen, um die Anerkennung und Aufarbei-
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tung der Kriegsgreuel, die Aufklärung über den Verbleib der Vermissten und die Verurteilung der Kriegsverbrecher zu erkämpfen. Mit ihren Argumentationen festigen die Interviewten die Parallelwelten und führen dadurch den Krieg in der Nachkriegszeit weiter, als einen Krieg im Frieden. In der Prijedorer Gesellschaft ist es also durch die kriegerischen Handlungen, aber auch durch die Ereignisse in der Nachkriegszeit zu sozialer Segregation gekommen. Diese soziale Spaltung wird hauptsächlich durch die erwähnten drei Zugehörigkeitsmomente bestimmt: die ethnische Zugehörigkeit, die Kriegs- und Migrationserfahrungen und die Viktimisierungsformen. Bevor diese Zugehörigkeitsmomente fokussiert werden, gilt es die Rolle zu betrachten, die der Friedensvertrag von Dayton für die Ein- und Ausgrenzungsmechanismen spielt (siehe Kapitel 3.5). Dieser Vertrag schreibt die ethnische Trennung und die Zweiteilung des staatlichen Gebildes in die Entitäten Republika Srpska und Föderation Bosnien-Herzegowina fest. In der Bevölkerung lässt sich aufgrund dieses Verfassungspapiers sogar eine Dreiteilung (serbische, kroatische und bosniakische Bosnierinnen und Bosnier) ausmachen. Die Trennung wird durch unzählige Symbole festgeschrieben. Der Umstand, dass auch im Jahre 2005, zehn Jahre nach dem offiziellen Kriegsende, an Stelle der bosnischen Flagge die serbische am Gerichtsgebäude in Prijedor gehisst wird, spricht für sich und verweist darauf, dass die dominante Gruppe Prijedor als serbisch betrachtet. Gleiches lässt sich anhand des in der Einführung erwähnten, in kyrillischer Schrift gehaltenen Willkommensschildes der serbischen Republik sagen: Bosnien ist faktisch zweigeteilt, und das »Multi-multi« und der Anspruch auf die Herausbildung einer pluralistischen Gesellschaft sind ein von aussen auferlegter Zustand, der in Prijedor keine Realität ist. Mit dieser Feststellung reiht sich vorliegende Untersuchung in die jüngeren Bosnienforschungen ein, die aus ihren Daten und den politischen Rahmenbedingungen eine gesellschaftliche Segregation ableiten (u.a. Helms 2003a; Jansen 2002; Kolind 2005; Pickering 2006). Es handelt sich um eine Segregation, die sich kaum verändern lässt, solange keine Verfassungsreform zustande kommt, die ethnische Zugehörigkeit nach wie vor mit jener zur Täter- bzw. Opfergruppe gleichgesetzt wird und die politischen Diskurse weiterhin auf Polarisierung gerichtet bleiben (Hayden 2002; Sieber 2007).
11. Unterschiedliche Differenzerfahrungen
Im nachfolgenden Kapitel sollen diejenigen Kategorien diskutiert werden, die für die Herausbildung des sozialen Geflechts und die gesellschaftliche Segregation verantwortlich sind und den Umgang mit der Vergangenheit beeinflussen. Persistenz und Wandel der ethnischen und vergeschlechtlichten Zugehörigkeiten sind dabei ebenso zentral wie die Zugehörigkeiten zu den Gruppen Opfer – Täter, Beklagte – Ankläger, Linientreue – Verweigerer, Dagebliebene – Zurückgekehrte, Dagebliebene – Flüchtlinge und andere mehr. Die Grenzerfahrungen und Grenzwahrnehmungen, die anhand der fünf vorgestellten Lebensgeschichten herausgearbeitet wurden, werden nun anhand der ethnischen Zugehörigkeit (Kapitel 11.1), der Kriegs- und Migrationserfahrungen (Kapitel 11.2) sowie der Viktimisierung (11.3) diskutiert.
11.1 V ERSTÄRK TE E THNISCHE Z UGEHÖRIGKEITEN ? Bereits für die Konzeptualisierung vorliegender Forschung wurde davon ausgegangen, dass es sich bei den auf Ethnizität beruhenden Bezeichnungen »Bosniaken und Bosniakinnen, Serben und Serbinnen, Kroaten und Kroatinnen«, die auch in der bosnischen Verfassung verankert sind, um essentialisierende und einschränkende Kategorien handelt. Anhand der vorgestellten Falldarlegungen wurde aber auch deutlich, dass es gute Gründe gibt, gerade nicht auf den Gebrauch dieser Kategorien zu verzichten. Der Sozialanthropologe Stef Jansen (2002: 86) hält dazu prägnant fest: »If I cannot do without those essentializing concepts, this is because the ›nation‹, after all, is essentialized (or imagined as essential) […]. Through a wide range of small limited acts of essentialization on the part of their own and other people, ›the Serbs‹ and ›the Croats‹ were continually consolidated as nations.«
Vorliegende Forschung wurde in einem regionalen Kontext durchgeführt, in welchem die Zuschreibungen »bosniakisch« (oder »muslimisch«), »serbisch«
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und »kroatisch« nicht nur dominant im sprachlichen Gebrauch sind, sondern auch einen wesentlichen Einfluss auf das alltägliche Leben ausüben. Deshalb wäre eine Ablehnung dieser Bezeichnungen ethnografisch nicht vertretbar, theoretisch unkritisch und politisch nicht respektvoll. Anknüpfend an diese Feststellung werden nachfolgend Persistenz und Wandel ethnischer Fremd- und Selbstzuschreibungen in Prijedor diskutiert. Denn die dargestellten und analysierten Fälle haben ja auch darauf hingewiesen, dass Ein- und Ausschlüsse aufgrund ethnischer Merkmale auch nach Ende des Krieges in Bosnien üblich sind. Was Jansen (2002) für seine Forschung in Kroatien anführt, gilt auch für Prijedor: Eine Erklärung für eine solche Persistenz ethnischer Gemeinschaft ist sicherlich darin zu sehen, dass sich die Ethnizität auf vorgestellte Gemeinschaften im Sinne von Benedict Anderson (1996: 11-18) bezieht. Merkmale wie Sprache, Religion, historische Schicksale einer Gruppe oder Herkunft können dazu je nach Situation unterschiedlich relevant sein. In vorliegender Forschung konnten nebst den ethnischen Zugehörigkeiten, die in manchen Fällen sehr dominant in Erscheinung traten, insbesondere Ein- und Ausschlüsse aufgedeckt werden, die sich auf die jeweils erlebte Kriegs- und Migrationzeit zurückführen lassen. Diese neue Segregation lässt mitunter das ethnische Merkmal in den Hintergrund treten. Die Interviewpartnerinnen sprachen in diesem Zusammenhang unter anderem von folgenden unterschiedlichen Zugehörigkeiten: Tätern – Opfern; Beklagten – Angeklagten; Linientreuen – Verweigerern; Dagebliebenen – Zurückgekehrten; Einheimischen – Flüchtlingen; Privilegierten – Verarmten; Serben/Serbinnen – Bosniaken/Bosniakinnen; Kulturni – Nekulturni; Jungen – Alten. Je nach Orientierungsrahmen und auch je nach Erleben der Kriegs- und Migrationzeit stehen andere Ein- und Ausschlusskriterien im Vordergrund. Gleichzeitig wird die Ethnie aber auch zu einer Form der Vergemeinschaftung, die die Herausbildung von Unterschieden zu anderen geradezu fordert (Werbner 1997). Entscheidend ist also bei ethnisierten Gemeinschaften nicht der Inhalt oder die Form, sondern dass die Ethnie ein geeignetes Mittel zur Funktion und Aufrechterhaltung von Grenzen darstellt. Die ethnische Zugehörigkeit wird zur Interessendurchsetzung instrumentalisiert und mobilisiert. Die Differenz zwischen den Gruppen erfolgt immer über gegenseitige Zuschreibungen, was bedeutet, dass auch die (ethnischen) Grenzen immer von zwei unterschiedlichen Seiten her konstruiert werden. Ethnische Zugehörigkeit stellt also einen Prozess der Wir-Gruppenbildung dar, der dynamisch ist und je nach Interessenlage unterschiedliche Elemente beinhaltet. Wie bereits Barth (1969) festgehalten hat, gilt es deshalb, die Konstruktion und Rekonstruktion solcher Grenzen zu analysieren. Zusätzlich müssen aber auch die Umstände untersucht werden, in denen die ethnische Gruppe zur wichtigsten Identifikationsmöglichkeit und Ethnizität zur fundamentalen Identifikationsstrategie werden. Damit ist die in Kapitel 2.1.4 erwähnte soziale Umwelt gemeint. Nebst den politischen, sozialen, demografischen und kulturellen Rahmenbedingun-
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gen wirken sich auch die Vorstellungen und Überzeugungen sowie die speziellen Handlungspläne, die kulturgeprägten Emotionen und die Interessen der involvierten Akteure und Akteurinnen auf die Ein- und Ausschlüsse aus. Diese individuellen Faktoren hängen von der spezifischen sozialen Lage, dem Habitus und den Sinnvorstellungen der Akteurin oder des Akteurs sowie vom jeweiligen Gegenüber ab. Mit dem Zerfall Jugoslawiens und dem Kriegsausbruch wurden insbesondere die ethnoreligiösen Zugehörigkeiten gestärkt, die gemäß unterschiedlichen Autoren latent immer schon vorhanden waren (u.a. Bringa 1995; Eriksen 2001; Lockwood 1975; Sorabji 1989). Dies zeigt sich unter anderem an den in Kapitel 3.2.1 beschriebenen komplexen, multiplen, jedoch immer flexiblen Zugehörigkeitspraktiken, die vor dem Krieg vorherrschten. Es gab nie eine ausschließliche und polarisierende Kategorie der Identifikation, und es ließen sich vor dem Krieg auch nur mit Einschränkungen Regionen finden, in denen eines der staatstragenden Völker Bosniens die absolute Mehrheit stellte. Der Identifikationsrahmen wies immer überlappende ethnische, nationale, ökonomische, altersspezifische und soziale Dimensionen auf. Generationenzugehörigkeiten, die soziale und die geografische Herkunft und die sozioökonomischen Ressourcen wirkten ebenso auf das soziale Geflecht ein wie das Ethnische. Es war also schon seit jeher ein Nebeneinander- und Miteinanderleben von Menschen mit unterschiedlichen Zugehörigkeitserfahrungen, das das soziale Geflecht in Bosnien formte und die den Begriff des Leopardenfells für Bosnien treffend erscheinen lässt (vgl. Kapitel 1). Gemeinsames und Trennendes war also charakteristische und gelebte Alltagspraxis (Bringa 1995). Deshalb unterschieden sich die Vergemeinschaftung und die lokalen Identitäten auch je nach Gegenüber (vgl. dazu Kapitel 3.2.1). Dieser Mechanismus zeigt sich in den Interviews auch in der wiederholten Betonung, die ethnischen Zugehörigkeiten hätten im Alltag vor dem Krieg eine untergeordnete Rolle gespielt, solange es beispielsweise nicht um die kleinräumige Abgrenzung zwischen zukünftigen Familienmitgliedern oder der Nachbarschaft gegangen sei. Eine Eheschließung über ethnische Grenzen hinweg bedeutete eine große Herausforderung für die Aushandlung gemeinsamer Anschauungen. Denn sobald eine gewisse Nähe und Intimität in der sozialen Beziehung eintrat und Fragen des Vertrauens und der Loyalität zentral wurden, zeigten sich nebst weltanschaulichen Merkmalen auch ethnische als wichtig für Ein- und Ausschlüsse. Die häusliche, oft auch die nachbarschaftliche Sphäre und teilweise sogar die engen Freundschaften waren also schon immer mehrheitlich monoethnisch ausgestaltet – was auch die vorliegenden Netzwerkanalysen verdeutlichen. Der öffentliche, oft regional ausgerichtete Bereich hingegen wurde von allen geteilt, ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit (Eriksen 2001: 55; Lockwood 1975).
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Dennoch, stereotype Vorstellungen über die ethnischen Eigenschaften der jeweils ›Anderen‹ waren während der viel gelobten Zeit des Sozialismus auch gelebte Praxis. Latente Vorurteile kamen gegenüber allen Jugoslawen und Jugoslawinnen zum Ausdruck – alle waren und sind immer noch der Persiflage ausgesetzt: Bosnier und Bosnierinnen werden als tollpatschig, rückständig und dumm betrachtet (Sorabji 1989: 236-237)1 . Die Slowenen und Sloweninnen werden karikiert als die Westlichen und Kultivierten, dafür Hochnäsigen und Geizigen. Den Serben und Serbinnen wird eine Vergangenheitsbesessenheit nachgesagt, weil sie ihre Vergangenheit immer wieder in den Mittelpunkt rücken und ihr Heldentum durch Erzählungen potenzieren. Das Gleiche gilt für die Montenegriner und Montenegrinerinnen, die aber zusätzlich als faul und rückständig bezeichnet werden. Und die Kroaten und Kroatinnen werden als Snobs parodiert (siehe auch Moritsch und Mosser 2002). Diese Persiflage veränderte sich mit der gewaltsamen Desintegration Jugoslawiens: die Politiker zettelten einen Konflikt an, dem sie von Beginn an und gezielt eine ethnische Feindschaft unterlegten. Diese Instrumentalisierung sollte die Bevölkerung nicht mobilisieren, sondern im Gegenteil von Aktionen abhalten, die einen Widerstand gegen das Regime zur Folge gehabt hätten (Brubaker 2007: 145). Diese simple Strategie hatte Erfolg und mit dem Krieg brachen die bestehenden, aber nicht zwingend negativ gelebten ethnischen Rivalitäten offen aus. Es kam soweit, dass Menschen qua ihrer ethnischen Zugehörigkeit entweder zu Feinden oder zu Freunden wurden. Die nun explizit als ›ethnisch Andere‹ Bezeichneten wurden verfolgt, vertrieben, interniert und/oder ermordet. Langjährige Freundschaften zerbrachen, weil die ethnische Zugehörigkeit als wichtiger eingestuft und die Zugehörigkeit zur eigenen ethnischen Gruppe als sicherer eingeschätzt wurden. Dieses Mechanismus bedienten sich die Kriegstreiber, indem sie das Gefühl der Bedrohung gezielt erzeugten. Die Kriegsereignisse mit der starken Instrumentalisierung der ethnischen Zugehörigkeiten wirken im Alltag der Nachkriegszeit nach. Bereits die Netzwerkanalysen deutet darauf hin: Die sozialen Unterstützungsnetzwerke sind ethnisch homogen oder homogener als vor dem Krieg. Aber auch in den lebensgeschichtlichen Erzählungen verweisen die Interviewpartnerinnen immer wieder auf die ethnischen Zugehörigkeiten, die tief im Handeln und Denken der Menschen verankert sind. Die Trennung zwischen dem ethnischen Wir und dem ethnischen ›Anderen‹ hat sich verstärkt. Als passender Ausdruck sei Jelena Ivanovićs Aussage in Erinnerung gerufen: »Die Kluft zwischen uns vertieft sich ...« Diese Deutung fasst die auf ethnischen Merkmalen beruhenden Kriegsvorkommnisse als Ergebnis von Gruppenkonflikten sowie als Motor ihrer 1 | In unzähligen Witzen kommen diese Vorurteile besonders deutlich zum Ausdruck (u.a. zu national-ethnischen Stereotypen, Geschlechterbeziehungen, Krieg oder Politik), siehe etwa die Sammlung unter . Abgerufen am 2.2.2009.
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Verstärkung. Es lässt sich konstatieren, dass die ethnischen Zugehörigkeiten in offiziellen und informellen alltäglichen Diskursen weit ausgeprägter gelebt werden als vor dem Krieg. Dies wirkt sich auf die gesamte Prijedorer Nachkriegsgesellschaft entzweiend aus. Das Zitat lässt aber auch eine andere Deutung zu: Mit der Zeit vertieft sich die Kluft, weil weitere Merkmale zur Entzweiung beitragen. Die im Krieg erstarkten ethnischen Zugehörigkeiten werden in der Nachkriegszeit von anderen Merkmalen durchdrungen, je nach Situation und Gegenüber variiert die Aushandlung der Zugehörigkeiten. Für die Vergabe von Arbeitsstellen beispielsweise spielt es eine zentrale Rolle, ob jemand während des Krieges die nationalistisch-serbische Sache vertreten oder aber sich der nationalistischen Propaganda verweigert hat. Ebenso wird es für Ein- und Ausschlüsse wichtig, ob der Ehemann im Krieg kämpfte und heute vielleicht Kriegsinvalide ist, oder ob er sich während der Kriegszeit im Ausland aufhielt und so in den Augen der Direktinvolvierten das Heimatland im Stich gelassen hat. Andere Unterschiede ergeben sich zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen, zwischen denen ›mit Kultur‹ und denen ›ohne Kultur‹. Unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit also ergeben sich neue Ein- und Ausschlussmomente, die von den unterschiedlichen Kriegs- und Migrationserfahrungen sowie einem unterschiedlichen Opferempfinden abhängen. Diese anderen und neuen Formen der sozialen Organisation werden erst jetzt langsam bedeutsam.
11.2 D ER E INFLUSS DER K RIEGS - UND M IGR ATIONSERFAHRUNGEN AUF DIE (R E -)I NTEGR ATION IN DER N ACHKRIEGSZEIT Anhand der Interviewanalysen wurde also deutlich, dass die Betonung der ethnischen Zugehörigkeit allein nicht als Erklärung der gesellschaftlichen Segregation ausreicht. Es zeigen sich weitere, die ethnische Zugehörigkeit überschneidende Hierarchisierungstendenzen, die insbesondere auf die Kriegs- und Migrationserfahrungen zurückzuführen sind. Diese oft gewaltgeprägten Erfahrungen führen je länger, je mehr zu neuen Zugehörigkeitsmomenten und Distinktionsmechanismen. Die gruppeninterne Vergemeinschaftung kann sich daher durch das Bewusstsein, sich aufgrund der Kriegs- und Migrationserfahrungen in einer ähnlichen gesellschaftlichen Lage zu befinden, verändern (Heinemann 2001: 125). Diese gesellschaftlichen Lagen sollen im Folgenden anhand der drei Kategorien Domicilna oder Dagebliebene, Zurückgekehrte und Internvertriebene im Hinblick auf den (Re-)Integrationsprozess in Prijedor diskutiert werden (siehe Kapitel 4.1). Während des Krieges wurde knapp die Hälfte der Bevölkerung Prijedors – die Mehrheit davon Bosniaken, Bosniakinnen, Kroaten und Kroatinnen – aus der Gemeinde vertrieben. Gleichzeitig erlitten die Serben und Serbinnen in
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anderen Regionen ähnliche Schicksale und suchten deshalb in der Gemeinde Prijedor als Intervertriebene Zuflucht, wie beispielsweise die für die vorliegende Arbeit interviewten Serbinnen aus Sanski Most. Mit der internen Migration verdoppelte sich der Anteil der serbischen Bevölkerung während des Krieges. Die Bewegungen und die dadurch ausgelösten Umschichtungen während des Krieges, aber auch die Rückkehrbewegungen der Jahre 2001 und 2002 stellen alle Bewohnerinnen und Bewohner Prijedors bezüglich der gesellschaftlichen (Re-) Integration vor große Herausforderungen. Um diesen (Re-)Integrationsprozess zu konzeptualisieren, wird nachfolgend auf Überlegungen zu Integrationsprozessen in Zuwanderungsländern zurückgegriffen, wie Dahinden (2005: 292ff.) vorschlägt. Denn es lässt sich konstatieren, dass Theoretisierungen in Bezug auf Reintegrationsprozesse nach kriegerischen Auseinandersetzungen bislang wenig Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erfuhren (vgl. u.a. Arowolo 2000: 154ff.; Ausnahmen sind Dahinden 2005; Harvey 2006; Sieber und Scholer 2001; Wicker et al. 1998)2 . Arowolo (2000) macht in seinem Artikel konzeptionelle Probleme für den Reintegrationsbegriff aus, da dieser wiederholt in einem Atemzug mit dem Integrationsprozess in Zuwanderungsländern genannt werde. Die Vermischung dieser beiden Begriffe und Konzepte erachtet Arowolo als problematisch, ergeben sich doch nebst Parallelen vor allem beträchtliche Unterschiede. Die Parallelen bestehen im Wesentlichen darin, dass in beiden Prozessen – also der Integration in einem Aufnahmeland und der Reintegration im Herkunftsland – der Zugang zum primären (Familie, Verwandtschaft, Freunde) sowie zum sekundären Umfeld (Arbeitsbeziehungen, Komšiluk etc.) gegeben sein muss. Markanter sind die Unterschiede zwischen den beiden Prozessen: Im Gegensatz zu den Immigranten und Immigrantinnen in den Aufnahmeländern verfügen beispielsweise die Rückkehrerinnen und Rückkehrer in ihrer Heimat durchaus über politische Rechte und in der Regel auch über Besitz, soziale Netzwerke und anerkannte Bildungsabschlüsse – also über Kapitalien im Bourdieu’schen Sinne, die für eine Integration zentral sind. Die Domicilna und die Zurückgekehrten sollten deshalb grundsätzlich gleichgestellt sein. Doch in Bosnien-Herzegowina mit seiner politischen Zweiteilung in die Entitäten haben sich Praktiken ergeben, die auf Diskriminierungstendenzen oder 2 | Für eine ausführliche Diskussion der Rückkehrproblematik sei auf die Evaluation des Rückkehrhilfeprogramms der Schweizer Regierung (Wicker et al. 1998) sowie auf die darauf aufbauende Forschung über die Reintegration jugendlicher Rückkehrer/innen verwiesen (Sieber und Scholer 2001). Bei Harvey (2006) findet sich eine Diskussion der Gründe, weshalb bosnische, serbische und kroatische Flüchtlinge sich für eine Rückkehr entschieden und wie die nationalen und internationalen Organisationen diese Entscheidungen beeinflussten. Als weitere Beispiele für die Diskussion der Rückkehrbewegungen dienen u.a. Koser (1996) und Walsh (1999).
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auf einen ungleichen Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie Gesundheitswesen, Bildungssystem oder Arbeitsmarkt hinweisen. Zur Zeit der Datenerhebung für die vorliegende Studie fürchteten sich beispielsweise bosniakische Internvertriebene in Sanksi Most vor einem (hypothetischen) Krankenhausaufenthalt in Banja Luka, der Hauptstadt der serbischen Republik, da sie dort von einem serbischen Arzt behandelt würden3 . Sicherer sei es, für eine eventuelle Behandlung im Krankenhaus den langen und beschwerlichen Weg nach Bihać4 auf sich zu nehmen. Die Angst, man werde (nur) aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit nicht adäquat behandelt, wird in der Nachkriegszeit zu einem bestimmenden Merkmal für die Zugehörigkeiten. Gleiches ließe sich mit größter Wahrscheinlichkeit für serbische Patientinnen und Patienten aus der Föderation behaupten. Weit komplexer gestaltet sich die Situation, wenn es um das Argument der ökonomischen Kriegsgewinnerinnen und -gewinner respektive Kriegsverliererinnen und -verlierer geht. In den Augen vieler Domicilna gelten die Zurückgekehrten aus dem westlichen Ausland als reich und – so verdreht es sich anhört – zu den Kriegsgewinnern und -gewinnerinnen, die mit viel Geld und guten Ausbildungen aus dem Ausland heimkehrten. Sie selbst fühlen sich derweil als Kriegsverlierer und -verlierinnen. Innerhalb der Gruppe der Zurückgekehrten wiederum wird ein- und ausgeschlossen hinsichtlich der direkten Kriegsbeteiligung und danach, ob das Land im Stich gelassen oder verteidigt wurde. Auch die Dagebliebenen treffen diese Unterscheidung: die die flohen, ließen ihrer Ansicht nach die Gemeinde im Stich. Die Interviews zeigen also, dass man eigen und fremd nicht mehr nach ausschließlich ethnischen Merkmalen bestimmt wie während des Krieges, sondern auch der Aufenthaltsort und das Engagement für die Gemeinde während der Kriegszeit oder für die jeweilige (Kriegs-)Partei eine Rolle spielen. Anhand dieser Ausführungen lässt sich die Reintegrationsproblematik trotz Kritik mit einigen Erkenntnissen aus der Integrationsforschung in Zusammenhang bringen: Die von Gordon (1964: 84; 1975) eingeführte Unterscheidung in eine strukturelle und kulturelle Integration, welche bereits seit den 1960er Jahren gebräuchlich ist, eignet sich auch für die Reintegrationsproblematik in einer Nachkriegsgesellschaft als Erklärungsansatz. Die strukturelle Reintegration bezieht sich vorwiegend auf die Eingliederung in gesellschaftliche Statuskonfigurationen. Der ungehinderte Zugang zu Arbeit, Bildung, Wohnraum und Gesundheitswesen sind wichtige Bestandteile, die eine erfolgreiche strukturel3 | Auch in Sanski Most gibt es ein Krankenhaus. Je nach Erkrankung werden die Patientinnen und Patienten in größere und besser ausgerüstete Krankenhäuser überwiesen, etwa nach Banja Luka oder nach Biha ć (Informationen gemäß Feldtagebüchern). 4 | Biha ć liegt in der äußersten Ecke Nordwestbosniens und gehört zur Föderation Bosnien-Herzegowina. Die Fahrt nach Biha ć dauert wesentlich länger als die Fahrt nach Banja Luka.
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le Eingliederung in die alte Heimat ermöglichen. Doch bevor es dazu kommt, müssen im Hinblick auf eine nachhaltige Wiedereingliederung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern in ehemalige Kriegsregionen folgende zusätzliche Schlüsselfaktoren angestrebt werden (UNHCR 1997/98: 183ff.): Die gesamtstaatlichen Strukturen müssen funktionstüchtig sein, Bewegungsfreiheit und Minderheitenrückkehr müssen möglich sein (d.h. es darf nicht zu einer erzwungenen Relokation rückkehrwilliger Menschen kommen5), die staatliche Infrastruktur und der Wohnraum müssen wiederaufgebaut und die soziale Infrastruktur und das Bildungs- und Gesundheitswesen funktionstüchtig gemacht werden. Die Förderung der Beschäftigung und der wirtschaftlichen Entwicklung sind gemeinsam mit der freien Kommunikation und Pressefreiheit weitere zentrale Faktoren, die für eine nachhaltige Integration angestrebt werden müssen. Diese Forderungen sind in Prijedor heute alle mehr oder weniger erfüllt. Die Menschen können an ihre Herkunftsorte zurückkehren, ohne dass sie gefährdet wären, die Schulen funktionieren (wenn auch mit einem einseitigen serbisch dominierten Geschichtsverständnis) und können von allen besucht werden. Das UNHCR fordert aber auch, dass die persönliche Sicherheit durch den Staat garantiert, die Menschenrechte eingehalten und nötige lokale Anstrengungen unternommen werden, die Kriegsverbrechen aufzuklären. Besonders der letzte Punkt lässt in Prijedor immer noch zu wünschen übrig. Die Angehörigen der Verschwundenen warten nach wie vor darauf, dass die Orte der Massengräber bekannt gegeben werden, damit sie endlich ihre vermissten Angehörigen identifizieren und beisetzen können. Die Bekanntgabe ist zentrale Voraussetzung für die Gewissheit, dass die Angehörigen tot sind. Nur mit dieser Gewissheit kann der Trauerprozess in Gang gesetzt werden und eine Annäherung an die andere Gruppe erfolgen. In Prijedor sind also wichtige Anforderungen an eine strukturelle Eingliederung zwar gegeben, die praktische Umsetzung ist jedoch noch mangelhaft. Nebst der strukturellen Eingliederung sind auch soziale Aspekte der Reintegration zu betrachten (Arowolo 2000: 69f.). Vorliegende Forschung hat diesbezüglich insbesondere auf das Etikett des ›unkultivierten Anderen‹ aufmerksam gemacht. Bevor dieses unkultivierte Andere näher ausgeführt wird, gilt es das Verständnis von Kultur darzulegen, welches auf die Ausführungen von Ulf Hannerz (1992, 1995) zurückgeht. Die Vorstellung von Kultur als einheitliche Ordnung, wie sie lange in der Sozialanthropologie vertreten wurde, wird 5 | An dieser Stelle soll Folgendes in Erinnerung gerufen werden: Viele der bosniakischen Prijedorer/innen mussten vorübergehend in einem sogenannten Warteraum Zuflucht suchen, bis sie endgültig an den ursprünglichen Wohnort zurückkehren konnten (sogenannte Minderheitenrückkehr). Mit der Rückkehr in den ›Warteraum‹ wurden sie nach ihrer Rückkehr zu Flüchtlingen im eigenen Land. Die Bezeichnung ›Rückkehr in den Warteraum‹ ist dem Positionspapier von Bösch (1999) entnommen.
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der heutigen Realität nicht mehr gerecht. Viel eher funktioniert die Kultur wie eine »Software« (Hannerz 1995: 67), sie wird durch die Teilnahme am sozialen Leben erlernt und dauernd verändert. Nicht die Existenz alltagskultureller Prozesse wird also in Abrede gestellt, sondern deren Ausschließlichkeit. Neue Inhalte und Verkehrsformen werden zu Bestandteilen des Alltags. »Der Alltag ist offen gegenüber kulturellen Materialien, die von außen kommen, auch wenn diese vor Ort angepasst, überarbeitet und neu kommentiert werden« (Hannerz 1995: 71). Demzufolge führt die Verdichtung der Welt nicht zu einer Ablösung des Lokalen, sondern zu einer Vervielfältigung von Identifikationsmustern und einer Dezentrierung des Subjekts. Diese Vervielfältigung und Dezentrierung ist genau das, was in Prijedor beobachtet werden kann. Die durch den bosnischen Krieg forcierte Land-Stadt-Migration hat ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Werte und Normen zur Folge. Die Dörfler und Dörflerinnen – von mehreren Interviewpartnerinnen abschätzig Seljačina6 genannt – werden von den Städterinnen und Städtern als Menschen ›ohne Kultur‹ bezeichnet; alteingesessene Prijedorerinnen und Prijedorer, ganz egal ob sie fliehen mussten oder vor Ort verbleiben konnten, verstehen sich als Städterinnen und Städter und Menschen ›mit Kultur‹. Hinter der Bezeichnung des ›unkultivierten Anderen‹ versteckt sich eine dichotome Aufteilung in kulturan (mit Kultur) – nekulturan (ohne Kultur) (pl. kulturni – nekulturni), die eine kulturelle und soziale (Wieder-)Eingliederung und Annäherung der zerrissenen Bevölkerung möglicherweise erschwert. Diese Dichotomie wird zur Beurteilung aller Arten von Situationen sowie zur Beschreibung des individuellen Verhaltens herangezogen. Diese dichotomen Wertvorstellungen sind in keiner Weise Kategorien mit gefestigtem Inhalt. Je nach Referenzrahmen bilden sie sich unterschiedlich aus. Zur Zeit der Feldforschung beschrieben beispielsweise die Domicilna aus Prijedor ihre neuen Mitbürger und -bürgerinnen, die während des Krieges aus den kleinen umliegenden Dörfern und Weilern vertrieben worden und in die Stadt geflohen waren, als Menschen ›ohne Kultur‹. Die Erwähnung der Seljačina, die nicht wüssten, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu benehmen haben, die keine Schminke und keine modische Kleidung tragen würden, die aber seit dem Krieg als Ungebildete (zu viele und zu) wichtige Positionen in der örtlichen Verwaltung besetzen würden, verweist auf ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher Werte, die wie die Ethnie für Ein- und Ausgrenzungen verantwortlich sind. Die Domicilna wiederum werden von einigen aus dem ›Westen‹ Zurückgekehrten als nekulturni bezeichnet. Dies gilt ganz besonders für die jüngere Generation der Zurückgekehrten, die mit modischen Accessoires ausgestattet sind, über ganz unterschiedliche Bildungsbiografien verfügen und sich ganz besonders durch diese Kapitalform von den in Prijedor 6 | Selja č ino ist das Pejorativ von Seljak (pl. Selja ć i): Ein Seljak ist jemand, der vom Land kommt.
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Verbliebenen abgrenzen (siehe dazu auch Sieber und Scholer 2001). Auf der Grundlage der Zuschreibung kulturan – nekulturan lässt sich folglich eine ganze Palette von kategorialen Unterscheidungen bilden: Bauern – Mittelklasse, Dorf – Stadt, Balkan – (West-)Europa, unkontrolliert – kontrolliert, primitiv – zivilisiert, ungebildet – gebildet, rückständig – modern, schmutzig – sauber und neu auch internvertrieben – verblieben oder verblieben – zurückgekehrt (vgl. auch Kolind 2005: 142; und Van de Port 1998: 61). Dieses Phänomen lässt sich mit den in Kapitel 2.1.2 gemachten Ausführungen zum Habitus in Verbindung bringen. Als System allgemeiner Grundhaltungen, die sich jemand aneignet und die zu systematischen Stellungnahmen führen, wirkt der Habitus als Motor für die Reproduktion von Ungleichheiten. Eine solche Ungleichheit zeigt sich in der Einteilung der Menschen in solche ›mit Kultur‹ und solche ›ohne Kultur‹. Es sind die ähnlichen Existenzbedingungen in Zusammenhang mit den Kriegs- und Migrationserfahrungen, die vergleichbare habituelle Strukturen schaffen. Der Lebensstil und die soziale Stellung, die durch Krieg, Migration und Rückkehr auf den Habitus einwirken, determinieren die neue soziale Segregation in Prijedor. In Zusammenhang mit dem Erkenntnisinteresse ist die Unterscheidung kulturan – nekulturan also wichtig, weil sich darin ein je unterschiedliches Zugehörigkeitsgefühl zur lokalen Gemeinschaft und zu unterschiedlichen sozialen Feldern spiegelt (zu den Zugehörigkeitsgefühlen siehe u.a. Anthias 1992, vgl. auch Kapitel 2.1.2). Positive und negative Gefühle der Zugehörigkeit sind zentrale Faktoren, die eine Integration und Annäherung der vom Krieg unterschiedlich betroffenen Gruppen fördern oder verhindern können. Die soziale Integration und der Aufbau der Identifikation am Wohnort gelten als Merkmal eines positiven Zugehörigkeitsgefühls. Laut Shmuel N. Eisenstadt (1952: 374) ist »the feeling of belonging to the new society« auch von der Motivation begleitet, aktiv am sozialen Leben der Aufnahmegesellschaft zu partizipieren. Ein negatives Zugehörigkeitsgefühl bezieht sich dementsprechend auf die Exklusion aus der lokalen Gesellschaft und auf eine starke distinktive Orientierung vom Aufenthaltsort weg. Anhand vorliegender Netzwerkanalysen wurde deutlich, dass sich Zurückgekehrte in der Republika Srpska oft in einer isolierten Situation ohne tragfähige und der Unterstützung dienende Kontakte zur Mehrheitsbevölkerung befinden. Für die kulturelle und identifikatorische (Wieder-)Eingliederung sind wie anhand vorliegender Netzwerkanalyse gesehen besonders diejenigen Bezugspersonen relevant, die im Kontext emotionaler Unterstützung und sozialer Aktivitäten genannt werden, weil diese affektive Zuneigung und emotionalen Halt bieten können. Wie gesehen, sind das bei den Rückkehrerinnen vorwiegend Personen aus der eigenen Familie, der Verwandtschaft oder der eigenen ethnischen Gemeinschaft (vgl. dazu auch Dahinden 2005). Die Orientierung vom Wohnort weg kann u.a. auch mit der Bedeutung transnationaler Beziehungen in den Netzwerken der Zurückgekehrten begründet werden. Der
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Zugriff auf die eigene Gruppe ermöglicht in einer solch isolierten Situation die nötige Identitätsbildung und das nötige »feeling of belonging«. Dadurch können krisenhafte Situationen wie eine Rückkehr und die Konfrontation mit den Kriegsverbrechen teilweise aufgefangen werden. Problematisch dabei ist, dass ein solcher Zugriff meist auch eine Antwort auf äußeren Druck der restlichen Gesellschaft darstellt und deshalb die gesamte Gesellschaft durch solche Mechanismen weiter segregiert wird (vgl. Bös 1997; Schierup und Ålund 1986).
11.3 V IK TIMISIERUNGSTENDENZEN Wie bereits verschiedentlich erwähnt, ziehen sich kollektive Viktimisierungstendenzen als dritter Graben durch die segregierte Gesellschaft. Die Viktimisierung der jeweiligen Gruppe zeigt sich zum einen über das Geschlecht, zum anderen aber auch durch die ethnoreligiöse oder nationale Bestimmtheit der Gruppe. Auf beide Punkte wird nachfolgend detaillierter eingegangen.
Vergeschlechtlichte Opferdiskurse In Kapitel 3.2.3 wurde festgehalten, dass bereits zu Beginn der sozialistischen Ära die Geschlechtergleichstellung auf die politische Agenda gesetzt wurde. Die meisten Autoren sind sich darin einig, dass im Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung, die Ausbildung der Frauen und die reproduktiven Rechte wegweisende Verbesserungen erreicht wurden (u.a. Ramet 1999). Allerdings konnten die gesetzlichen Veränderungen kaum Bewegung in die alltäglichen und gelebten Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse bringen (Bringa 1995; Denich 1977; Seifert 2001). Es zeigte sich in der sozialistischen Zeit eine Beharrlichkeit der patrilinearen Verwandtschaftsmuster, die die geschlechtliche Trennung zwischen privatem und öffentlichem Bereich aufrechterhielten: Trotz Erwerbstätigkeit blieben die Frauen allein für die häuslichen Aufgabenbereiche zuständig, währenddem die Männer neben ihrer Lohnarbeit mehrheitlich die Politik und die Kafanas besetzt hielten. Zusätzlich wirkte sich auch das virilokale Prinzip hinderlich auf eine Veränderung der Situation der Frauen aus. Durch die Heirat und den damit verbundenen Wohnsitzwechsel wurden die Frauen zu neuen Familienmitgliedern im Verwandtschaftsgefüge des Mannes, während der Mann in seinem angestammten sozialen Umfeld bleiben konnte. Die Frauen mussten sich in der neuen Umgebung in die patriarchal und gerontokratisch organisierte Familienstruktur einordnen: Sie waren den Männern untergeordnet, die älteren Männer wachten über die jüngeren Männer und die Schwiegermutter über die Schwiegertöchter (Bringa 1995; Denich 1974). Letzteres resultierte meist in konfliktträchtigen Beziehungen zwischen den Frauen. Die neu eingeheirateten Frauen mussten sich innerhalb dieser Ordnung bewähren. Gleichzeitig nahmen sie im Gefüge der Komšiluk, der Nachbarschaft, eine
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besondere Rolle ein: Sie fungierten als Vermittlerinnen im nachbarschaftlichen Netzwerk und waren zuständig für die informellen und vertrauensbildenden Interaktionen zwischen den Haushalten. Diese Rolle wirkte gemeinschaftsstärkend. Die gesellschaftliche Position der Frauen – das Pflegen gemeinschaftlicher Beziehungen außer Haus und das sich gleichzeitig loyale Verhalten dem neuen Haushalt gegenüber – verlangte von den Frauen Flexibilität und einen Balanceakt, um einerseits Unterstützung von den Nachbarinnen (insbesondere der ersten Nachbarinnen) zu erhalten, andererseits um mit dem neuen Haushalt, in welchem die Frauen als eigentliche Außenseiterinnen gelten, solidarisch zu sein (vgl. Kapitel 3.2.2 und Bringa 1995; Sorabji 1989). Diese Position der Frauen wurde durch die Desintegration Jugoslawiens und die nationalistisch ausgerichtete Kriegsführung verstärkt (vgl. Kapitel 3.4.3 und Gal und Kligman 2000; Helms 2006, 2007). Während der Kriegszeit wurden vor allem die bosnischen und die bosniakischen Frauen zur kriegsbetroffenen Bevölkerung gezählt. Damit wurde ein Bild der Frau als Kriegsopfer und im gesteigerten Masse ein Bild der muslimischen Frau als Opfer der Kriegsereignisse gezeichnet (vgl. Kapitel 1). Zusätzlich zeigte sich eine gezielte Instrumentalisierung der Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit durch die sich konkurrierenden ethnischen Nationalismen. Die geschlechterspezifischen Rollen wurden essentialisiert und differenziert: Der Mann als Soldat und aktiver Verteidiger des nationalen Territoriums stand der (passiven) Frau gegenüber, die die feminisierten Nationen und Opfer des Krieges verkörperte. Die Frauen wurden einerseits auf die reproduktiven, nicht-politischen Aktivitäten reduziert, andererseits wurden sie gerade dadurch als Trägerinnen der ethnischen Gruppen politisiert und damit zu strategischen Zielen der Kriegsführung. In Zusammenhang mit der feminisierten Opferidentität, aber auch mit den gesellschaftlichen und verwandtschaftlichen Rollen vor dem Krieg, wird in der Nachkriegszeit den Frauen die Rolle der zwischenethnischen Konfliktvermittlerinnen und Friedensstifterinnen an der Basis ihrer Gesellschaft zuteil (siehe dazu Kapitel 1.2 und u.a. Cockburn et al. 2001; Helms 2003b). Dies ist möglich, weil mit wenigen Ausnahmen es nicht die Frauen waren, die den bosnischen Krieg angezettelt und geführt sowie die politischen Entscheide vor, während und nach dem Krieg gefällt haben. Insbesondere an den Friedensverhandlungen waren sie, wie gesehen, nicht beteiligt. Diese Nichtbeteiligung ermöglicht es in der Nachkriegszeit, dass die Frauen eine moralische Makellosigkeit für sich beanspruchen können. Die feminisierte Opferidentität und die Aufgabe, das soziale Geflecht wieder aufzubauen, wird den Frauen aber nicht nur von außen zugeteilt, sie schreiben sich diese auch selbst zu. Frau Živković beispielsweise bedient sich in ihrer Falldarlegung des Argumentes, sie könne als Frau und Mutter, die in Nichtregierungsorganisationen ausschließlich mit anderen Frauen arbeite, humanitäre, apolitische und demnach ehrenwerte Beiträge zum Wiederaufbauprozess leisten. Ganz im Gegensatz zu den im politischen Bereich
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tätigen Männern, die durch die jüngste Geschichte als korrumpiert gelten (vgl. dazu die Ausführungen zur Redewendung »Politika je Kurva« in Kapitel 3.5). Die Fremd- und Selbstzuschreibung des Opferstatus ermöglicht es den Frauen, sich die Aufgabe der Vertrauensbildung und der zwischenethnischen Kommunikation zuzuschreiben. Anhand der vorgestellten Fälle zeigt sich aber, dass so einfach das Ganze nicht betrachtet werden kann. Denn das Bild der friedliebenden, antinationalistischen (Haus-)Frau und Mutter, die bereits vor und während dem Krieg ethnische Grenzen zu überwinden wusste, führt dazu, dass dieses als apolitisch bezeichnete weibliche Engagement für die betroffenen Frauen ein Paradoxon darstellt: Eigentlich sind sie von der internationalen Gemeinschaft, ihrer Gesellschaft, aber auch durch Selbstzuschreibung dazu auserkoren, zentrale politische Ziele des Friedensabkommens von Dayton umzusetzen, namentlich die Förderung der zwischenethnischen Versöhnung und die Unterstützung der rückkehrenden Flüchtlinge. Die essentialistischen Konstruktionen der Frauen als antinationalistische und passive Opfer drängen sie aber gleichzeitig aus dem politischen Bereich in ihre häuslichen (Vorkriegs-)Rollen zurück. Die Beharrlichkeit der traditionellen Geschlechterrollen zeigt sich darin deutlich. Die meisten der für diese Studie befragten Frauen müssen nach dem Krieg die alleinige Verantwortung für die sozioökonomische Sicherung ihrer Haushalte übernehmen, sei es, weil sie geschieden oder ledig, die Ehemänner tot, verschwunden oder kriegsinvalid sind, oder weil diese keine Erwerbsarbeit finden. Diese Rollenveränderung findet aber in einem Umfeld statt, das den Frauen den Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Ressourcen erschwert (vgl. dazu Sieber 2004). Unzählige Nichtregierungsorganisationen haben sich dieses Problems angenommen und zielen mit ihren Projekten darauf ab, den Frauen den Zugang in die Erwerbsarbeit zu erleichtern und sie in ihrer ökonomischen Unabhängigkeit zu stärken7 (International Council of Voluntary Agencies (ICVA) 1999) – Frau Begović ist eine der vielen Frauen, die dank eines solchen Projektes ein regelmäßiges, aber nicht existenzsicherndes Einkommen erwirtschaften können. Ein Vorteil für den Wiedereinstieg der Frauen in die Lohnarbeit ist darin zu sehen, dass in der prekären wirtschaftlichen Situation Bosnien-Herzegowinas Arbeitskräfte insbesondere in Bereichen gebraucht werden, die traditionell von Frauen dominiert werden: Verkäuferinnen, Betagtenbetreuerinnen, Reinigungspersonal in Restaurants, Marktfrauen etc. In anderen Forschungen hat sich zudem gezeigt, dass Frauen oft weniger abgeneigt sind, schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen wie auch Stellen, für die sie überqualifiziert sind (vgl. beispielsweise Korać 2003). Damit verfügen Frauen oft als einzige Familienmitglieder über ein (meist bescheidenes) Einkommen. Die Ehemänner wiederum finden sich nach dem Krieg aufgrund der hohen Arbeitslosenquote, aber auch einer möglichen Kriegsinvalidität mit der Situation konfrontiert, dass sie 7 | Siehe dazu auch . Abgerufen am 22.5.2006.
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den vertrauten und von ihnen erwarteten Anforderungen – Lohnerwerb und Beschützer der Familie – nicht mehr gerecht werden können (dieses Phänomen wurde auch in der Migrationsliteratur zu bosnischen Flüchtlingen herausgearbeitet, vgl. u.a. bei Brettell (2000), Franz (2003a, b), Jansen (2008) und Korać [2003]). In dieses Geschlechterbild passen die Eigenschaften, die den Frauen – wie in Kapitel 9.2.1 exemplarisch dargelegt – zugeschriebenen werden: Von den Frauen werden Selbstaufopferung und der Wille, hart und gut zu arbeiten, erwartet. Diese Erwartungen dehnen sich aufgrund der ökonomischen Unsicherheiten auch auf den außerhäuslichen Bereich aus, was aber nicht zu einer Rollenveränderung führt, wie man annehmen könnte, sondern vielmehr die althergebrachten Rollen verstärkt (Jansen 2008: 189). Die Persistenz der alten Rollen zeigt sich darin, dass viele Frauen trotz Einstieg in die Erwerbsarbeit weiterhin ihre Rolle als Hausfrau und Mutter betonen und die Befragten das im Krieg entstandene Opferbild reproduzieren. Die Interviewpartnerinnen präsentieren sich als Opfer des von männlichen Politikern initiierten Krieges und demnach als primär durch Gewalt und Nationalismus Getroffene. Damit werden die Frauen auch zu passiven Opfern der korrupten, schmutzigen und gewalttätigen Nachkriegspolitik. Als Gegenbild sehen sie sich selbst als achtbare, aufopfernde Mütter, die sich um das Wohl ihrer Kinder und das Wohl der Gemeinschaft sorgen. Diese Darstellung traditionaler Geschlechterrollen – der Mann als Beschützer und Ernährer und die Frau als achtbare Mutter, Ehefrau oder Schwester – verstärkt sich auch durch die bewusste Distanzierung der Männer von der weiblichen Hausarbeit (vgl. Kapitel 3.2.2 oder Bringa 1993)8 . Die traditionell enge Beziehung der Mütter zu den Kindern sowie die mehrfache Verantwortlichkeit für Haushalt, Sozialisation der Kinder und Erwerbsarbeit werden also nicht nur durch die Unsicherheit in der gewaltgeprägten Kriegszeit und die Abwesenheit der Männer verstärkt, sondern zusätzlich durch die soziale, ökonomische und politische Unsicherheit der Nachkriegszeit und die mangelnde Aussicht auf eine prosperierende Zukunft. Zugleich können die Ausführungen der interviewten Frauen dahingehend gedeutet werden, dass sie weitgehend für die Trauerarbeit zuständig sind und damit für den ›emotionalen‹, sozialen Wiederaufbau der Gesellschaft. Alle hier interviewten Frauen sehen deshalb die Versöhnung als weibliches Aufgabenfeld, das außerhalb der korrupten Politik liegt. Sie fühlen sich als Opfer, als Opfer des Krieges, aber auch als Opfer der Nachkriegszeit. Dieses Gefühl hat zwei gegenteilige Wirkungen: Zum einen kann es zum Motor der Übernahme von Verantwortung werden, wie am Fall von Frau Sivac gesehen. Die Erkenntnis, selbst Opfer zu sein, kann damit auch als Voraussetzung dienen, diesen Status verlassen zu können. Zum anderen kann es handlungshemmend wirken und das Verlassen des Opferstatus verhindern. Die Selbstwahrnehmung als Opfer in der Nachkriegszeit 8 | Gemäß Gesprächen vom 5. Mai 2005, 12. September 2005 und 2. Oktober 2006.
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– und das betrifft auch die ethnischen Kollektive – hat seine Wurzeln allerdings nicht nur im jüngsten Krieg. Eine weit verbreitete kollektive Opferperspektive, oder Opferidentität, lässt sich auch auf die Vorkommnisse in der Vorkriegszeit zurückführen (vgl. Šuber 2004).
Weit verbreitete Opferperspektive Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich im damaligen Jugoslawien eine kollektive Opferidentität (vgl. Kapitel 3.2). Es war damals Usus, durch manipulierte Opferzahlen eigenes Verschulden zu kaschieren oder gar zu rechtfertigen und sich als Opfer der Ereignisse darzustellen. Unter Titos Regime wurde jeweils ausschließlich von den Opfern der Nazis und deren Kollaborateure geredet – alle anderen Opfer wurden totgeschwiegen. Das sozialistische Regime verdrängte eine historische Aufklärung oder gar öffentliche Erinnerung an die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges über lange Zeit aus dem politischen und individuellen Alltag (vgl. Kapitel 7.2.1 und u.a. Miller 2006; Wilmer 2002). Besonders in den 1980er Jahren und mit dem Zerfall Jugoslawiens zeichnete sich ab, dass die Vertreter jeder ethnischen Gruppe begannen, sich aufbauend auf den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und der kommunistischen Periode als einzige Opfer der Geschehnisse zu konstruieren (siehe für diese Argumentation auch Jalušić 2004; Papić 1994; Spasić 2000): »Every ethnic group believed that it was the major victim of the communist system and that the rival group itself was the beneficiary of it« (Puhovski 2000: 42). Dadurch wurde die ethnonationale Identität zu einer Opferidentität umkonstruiert. In der Kriegszeit verstärkte sich diese Konstruktion, wobei die Viktimisierung der ethnischen Gruppen zusätzlich mit dem Geschlecht verwoben wurde: »The boundaries are like the skin of the female body, fixed, yet violable, in need of armed defence by inevitably masculine militaries« (Verdery 1996: 78). Dieses Argumentationsmuster aus der sozialistischen Zeit in Verbindung mit den Ereignissen des jüngsten Krieges in Bosnien macht sich bis in die Nachkriegszeit bemerkbar. Beispielsweise betonten zur Zeit der Feldforschung in den Jahren 2005 und 2006 die nationalistischen Politiker mit ungesicherten Opferzahlen den eigenen Opferstatus immer wieder, um Stimmen für die Wahlen zu gewinnen (vgl. Kapitel 3.5)9 . Erst seit der Durchführung einer Studie des unabhängigen Forschungs- und Dokumentationszentrums RDC im Jahre 2007 liegen verlässliche Zahlen vor, die solchen Propagandamythen die Basis entziehen könnten10 (Stieger 2007). Exemplarisch zeigt sich diese Mythenbildung anhand einer Gedenkstätte für die Opfer des Zweiten Weltkrieges im Nationalpark Kozara, der außerhalb der Stadt Prijedor liegt. Mitten auf einem Feld steht ein riesiger Betonturm mit 9 | Gemäß Feldnotizen Nr. 1, 2 und 3. 10 | Siehe Kapitel 3.5 sowie . Abgerufen am 24.6.2007.
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vertikalen Einschnitten, durch die man in die Mitte des Turmes gelangen kann. Gleich daneben befinden sich vier Bronzetafeln mit Tausenden von Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Partisanen. Als Widerstandszentrum im Zweiten Weltkrieg war das Bergmassiv Kozara für die Partisanenbewegung besonders bedeutend. Die Schlachten um die Verteidigung und Eroberung des Kozara-Gebirgszuges und der Region Prijedor gingen als die »Dritte Feindesoffensive« in die Historiografie der sozialistischen Ära ein und wurden in der Zeit des Sozialismus als Exempel für die jugoslawische Revolutionstradition glorifiziert (siehe Donia 2002). Besonders Mladen Stojanović und Esad Midžić, die beide aus Prijedor stammten, wurden zu Heroen und zum Sinnbild des Partisanenkampfes auserkoren.11 Etwas entfernt von dieser Gedenkstätte trifft man auf ein Museum. Darin werden Fotografien und Schriften unter dem Titel »Die drei Genozide am serbischen Volk im 20. Jahrhundert« präsentiert. Neben Bildern, die eindeutig als Bilder des Zweiten Weltkriegs zu identifizieren sind, finden sich auch Bilder von Mudschahedin, die im Krieg der 1990er Jahre an der Seite der bosniakischen Armee gekämpft haben (Miller 2006: 316)12 . Die Mudschahedin werden als Mörder dargestellt, die in ihren Händen abgeschlagene Köpfe serbischer Opfer präsentieren. Der Subtext dieser Ausstellung lautet, dass die Opfer allesamt serbisch sind und sich die Massaker des jüngsten Krieges (wie die Vorkommnisse in den drei Lagern ›Omarska‹, ›Trnopolje‹ und ›Keraterm‹, die den lokalen Serben immer wieder zur Last gelegt werden) nicht an den von den Serben und Serbinnen erlittenen Greueltaten des Zweiten Weltkrieges und des jüngsten Krieges messen lassen (Miller 2006: 322). Das Besondere an dieser Ausstellung besteht darin, dass das Würdigen der eigenen kollektiven Viktimisierung nur auf Kosten eines anderen Kollektivs funktioniert. Besonders deshalb, weil es ja auch möglich wäre, das eigene Volk als Opfer zu empfinden, ohne die Greueltaten der anderen zu verneinen. Einen Unterschied gilt es allerdings zu thematisieren: Währenddem die serbischen Denkmäler (u.a. dasjenige vor den Gebäuden des ehemaligen Lagers ›Trnopolje‹, nachfolgend abgebildet) von offizieller Seite geduldet oder sogar unterstützt und initiiert werden, war an keiner der besuchten Gedenk- und Beisetzungszeremonien für die mehrheitlich muslimischen Opfer ein offizieller serbischer Vertreter der lokalen Regierung zu sehen, der durch seine Anwesenheit eine politische Anerkennung der Leiden ausgedrückt hätte (vgl. Kapitel 5.1.3). Auch sieht man sich in der Gemeinde vergebens nach einem neutralen Denkmal für die Opfer des jüngsten Krieges um. Diese Ausführungen zeigen, wie fragmentiert die geäußerten Erinnerungen sind und wie unterschiedlich das Vergangene kollektiv vergegenwärtigt wird. 11 | Gemäß Feldnotizen Nr. 2 und einem Gespräch mit Mladen und Vedran Grahovac, Mai 2005. 12 | Gemäß Feldnotizen Nr. 3, Besuch des Museums im Juli 2005.
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Abbildung 17: Serbisches Denkmal vor ›Trnopolje‹ – Mai 2005/© A.Sieber
Die Inschrift »Hier kamen die ums Leben, die ihr Leben der Grundlage der serbischen Republik opferten« ist besonders paradox, bedenkt man, dass vorwiegend Bosniakinnen, Bosniaken, Kroatinnen und Kroaten im Lager ›Trnopolje‹ interniert waren und umgebracht wurden. In diesem Zusammenhang lässt sich durch die Analyse des vorliegenden Datenmaterials festhalten, dass sich besonders und mehrheitlich die Domicilna hinter einem kollektiv-ideologischen Opferempfinden verschanzen. Die hier exemplarisch porträtierten Vertreterinnen dieser Gruppe empfinden sich in ihren nationalen Narrativen als Opfer des Krieges mit dem Argument, dass die eigene Wir-Gruppe fortwährend bedroht, ausgebeutet und benachteiligt wurde und es immer noch wird (vgl. Šuber 2004). Diese beobachtbare, man neigt schon fast dazu zu sagen, attraktive Opferidentität beeinflusst die Segregation der Gesellschaft und behindert den sozialen Wiederaufbau. Denn wo nur Opfer sind, werden Fragen nach der Verantwortung für die Gewaltausübung durch die ›eigene Seite‹ und Fragen nach der Rolle der eigenen politischen Führung verdrängt (vgl. zu einer solchen Betrachtungsweise Fischer 2008). Damit einhergehend zeigt sich bei den Domicilna eine »Entpersönlichung der Schuld«13 und das Zu13 | Die Gedanken für diese Ausführungen gehen auf einen Workshop zurück, indem Frau Prof. Dr. Veena Das das vorliegende Projekt diskutierte (Workshop 5 »In the Aftermath of War and Disaster: Coping with Violence and Bereavement« an der Konferenz »A la recherche du genre«, International Conference of the Swiss Graduate Programme in Gender Studies. Genève 2008).
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rückweisen einer Beteiligung am Krieg. In den Interviews verdeutlichte sich diese Haltung immer wieder in Ausdrucksweisen wie »der Konflikt kam von denen da oben« oder »die anderen sind schuld«. Diese Formeln verweisen auf zweierlei: Einerseits soll durch die Entpersönlichung und dem Zurückweisen der eigenen Beteiligung ein Schleier des Vergessens bewahrt werden, andererseits weisen die Formeln auch darauf hin, dass der Konflikt von Organisationen (politischen Parteien, Militär, Paramilitär) im Namen der betroffenen Kollektive angezettelt wurde. Nicht das Individuum trägt die Schuld am Geschehenen, sondern das Unpersönliche, repräsentiert etwa in einem Kollektiv. Dabei ist das Motto »Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt und nichts getan« wegleitend. Mögliche Verbindungen zu militanten und ultranationalistischen Serbinnen und Serben werden von den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern tunlichst vermieden, unter anderem auch, indem sie über die Kriegszeit nur in allgemeinen Ausdrucksweisen sprechen. Diese Vagheit hat eine zentrale Funktion: Sie erlaubt es, nur generelle Anschuldigungen zu erheben und sich selbst vor unangenehmen Fragen zu schützen. Bei den interviewten Domicilna zeigt sich diese Vagheit besonders ausgeprägt. Sowohl Frau Živković als auch Frau Ivanović weisen darauf hin, dass in der Region »Schlimmes« passiert sei, nennen aber nie die Täter beim Namen und anerkennen daher auch die Schuld der ›eigenen‹ Leute nicht. Diese Haltung steht der bedingungslosen Ausleuchtung der Vorkommnisse entgegen. Die Vagheit und die Entpersönlichung der Schuld werden damit zu Instrumenten des Selbstschutzes (vgl. dazu Jansen 2002). Diese Argumentation liegt insbesondere in Situationen nahe, in denen Opfer und Täter massiver und kommunaler Gewalt in unmittelbarer räumlicher Nähe weiterleben müssen (vgl. dazu die Einführung, Kapitel 3.5, 5.2.1 und 8.2.1). In der Vagheit manifestiert sich aber auch eine Abwehrhaltung gegenüber der Zuteilung zur Tätergruppe. Die Interviewpartnerinnen wehren sich dagegen, pauschal zur Tätergruppe gezählt zu werden, nicht aber gegen die Zuschreibung einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit, nämlich der serbischen14 . Die Vergemeinschaftung, so lässt sich festhalten, geschieht dabei nach wie vor anhand ethnischer Kriterien. Problematisch ist jedoch, dass die Ethnie mit Täter- bzw. Opfergruppe gleichgesetzt wird. Für eine Versöhnung müsste aber gerade diese Gleichsetzung durchbrochen und die Täter ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit personalisiert und durch einen funktionierenden Rechtsstaat zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu müssten die Serbinnen und Serben aber zugeben können, dass die Verbrechen geschahen und erst dann wäre es auch möglich, zu benennen, was einzelne Individuen an 14 | Nur eine der interviewten Domicilna wehrte sich explizit gegen eine ethnoreligiöse Positionierung. Sie betonte mehrmals, sie sei Jugoslawin und werde es ihr Leben lang bleiben. Von den Zurückgekehrten bezeichnete sich eine Frau als Bosnierin, alle anderen ordneten sich den Kategorien ›bosnische Serbin‹ oder ›Bosniakin‹ zu.
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bestimmten Orten getan haben. Damit ist das angesprochen, was Frau Sivac in den Gesprächen mit Nachdruck betonte: Auf allen Seiten gibt es Täter und die müssen ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit zur Rechenschaft gezogen werden, damit alle Opfer, ebenfalls ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit, die nötige Anerkennung erhalten können. Ist eine solche Personalisierung und De-Ethnisierung nicht möglich, verharren die Betroffenen in einer konfliktträchtigen und ethnisch segregierten Gesellschaft. Passend zur Situation in Prijedor erscheint die Eröffnungssequenz von Samuel Becketts bekanntem Stück »Endspiel«: »Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peut-être finir« (1957: 8). Immer unsicherer wird die Aussage, was anfangs als beendet dasteht, wird am Schluss vielleicht einmal zu Ende gehen. Wie Becketts Ham und Clov sind die beiden Parteien in Prijedor aneinander gebunden und in der verfahrenen Situation aufeinander angewiesen. Wie Ham und Clov müssen aber hauptsächlich die Serbinnen und Serben für ihre aktuelle Situation bis zu einem gewissen Grad auch selbst die Verantwortung übernehmen, ganz besonders im Hinblick auf die Zukunft. Stets die ›Anderen‹ für das Heute verantwortlich zu machen – die andere ethnische Gruppe, die Internationalen, die Älteren, die Politiker etc. – wird die gegenwärtigen Probleme kaum lösen.
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12. Vom Umgang mit der Vergangenheit
»Sie kannten die Verzweiflung der Gebirgszüge und das Unglück der Dörfer, aus denen sie kamen, Dörfer, deren Bewohner abgeschlachtet worden waren oder beim Schlachten mitgemacht hatten. Wahrscheinlich beides! Massaker werden bei uns immer verziehen und nie vergessen. Auf jedem Verzeihen steht ein Verfallsdatum. Man verzeiht für zehn, fünfzig oder hundert Jahre, doch nichts wird auf alle Zeit verziehen, kein einziges Verbrechen, ob es nun tatsächlich stattgefunden hat oder erfunden ist.« (Jergovi ć 2008: 158)
Ein Beispiel für den Umgang mit der Vergangenheit vor Ort wurde bereits in der Einführung angetönt: Auf dem Gelände des Lagers ›Omarska‹, wo immer noch 1.700 Vermisste in Masengräbern vermutet werden, hätte eine Gedenkstätte – ein sogenanntes Living Memorial – eingerichtet werden sollen.1 Der Mehrheitsaktionär, das indisch-britische Konglomerat Mittal Steel, übertrug im Jahre 2005 die Verantwortung für die Umsetzung dieses Versöhnungsprojektes einem anglikanischen Pater2 . Unterschiedlichste Seiten setzten den Großkon1 | Die Ausführungen zu diesem Versöhnungsprojekt beruhen auf teilnehmender Beobachtung, Gesprächen mit dem Pater, dessen Mitarbeitenden und anderen vom Projekt betroffenen Bewohnerinnen und Bewohnern Prijedors (Feldnotizen Nr. 1-4) sowie auf diversen Artikeln in der Tagespresse aus den Jahren 2004 und 2005 (z.B. Ed Vulliamys kritischen Artikeln im Guardian . Zuletzt abgerufen am 16.4.2009, Dnevni Avaz vom 4. April 2005, BH Dani vom 8. April 2005). 2 | Auf der Homepage des anglikanischen Paters Donald Reeves ist zu lesen: »Latterly we were appointed by Mittal Steel to bring together Serbs and the survivors of the Omarska killing camp to come to an agreement about a memorial. Omarska was an iron ore mine which Mittal Steel acquired. We managed to bring perpetrators and survivors around the table to begin talking and collaborating. Our mediation there was recognized and appreciated by all sides. Mittal Steel was grateful, but the project is not complete. The memorial has yet to be built. But the people themselves are taking the project forward«. Siehe dazu < www.soulofeurope.org/newsletter.htm>. Abge-
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zern und somit auch den Pater bei der Projektdurchführung unter Druck: Zum einen organisierten sich die Angehörigen der Vermissten und die Überlebenden sowohl vor Ort als auch in der Diaspora und forderten über Internet und Presse3 die Erlaubnis zur Suche nach Massengräbern auf dem Gelände sowie die Freigabe und Umwandlung zumindest des weißen Hauses in eine Gedenkstätte (vgl. Kapitel 5.1.1). Auch wenn in allen Gebäuden der Fabrik Verbrechen stattgefunden haben, schilderten die Gesprächspartnerinnen das weiße Haus als bedeutendstes Symbol für die Verbrechen. Zum anderen pochte die Republika Srpska, die die restlichen 49 Prozent des Unternehmens besitzt, auf den Ausbau des Betriebes, um Stellen zu schaffen und das wirtschaftliche Wachstum in der Region zu fördern. Die serbische Republik zeigte weder Verständnis noch Interesse für das Anliegen der Hinterbliebenen und Überlebenden. Trotz intensivem Dialog vor Ort mit allen unterschiedlichen Betroffenen scheiterte der Versuch, sich auf eine Gedenkstätte zu einigen. Ein plausibler Grund für das Scheitern ist darin zu sehen, dass dieses Projekt lediglich in der bosniakischen Rückkehrergemeinschaft Rückhalt hatte. In der Diaspora gingen die Meinungen über die Form und die Art und Weise der Umsetzung stark auseinander, mitunter zeigte sich auch eine Spaltung zwischen der Diaspora und den lokalen Organisationen, die sich für die Umsetzung des Projektes einsetzten. Die Mehrheit der lokalen serbischen Gemeinschaft, aber ganz besonders die politische Elite widersetzte sich von Beginn an einer Auseinandersetzung mit dem, was auf diesem Gelände während des Krieges geschehen war. Die fast ausschließlich rufen am 15.4.2009. Die Einschätzung des Paters kann ich aufgrund meiner eigenen Beobachtungen und der Gespräche, die ich geführt habe, nicht teilen. Die Mediation wurde insbesondere von der serbischen Bevölkerung und den serbischen Politikern nicht begrüsst. Damit benötigt die Umsetzung des Vorhabens eine Unterstützung von aussen. Das hat das Poto č ari Memorial in Srebrenica eindrücklich gezeigt. Es konnte nur mit Unterstützung des Hohen Repräsentanten umgesetzt werden (Duijzings 2007: 146, 157-160). Mittal Steel hätte m.E. die Mittel und die Macht, eine Gedenkstätte zu errichten. Aber, wie in einem Artikel im The Guardian veröffentlich wurde, sei Mittal Steel »in a very difficult situation. The area is largely populated by Serbs; these are the people we are currently dealing with, and we do not want to do anything to antagonise them« (. Abgerufen am 16.4.2009). Für die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer ist dies ein Hohn. 3 | Die Diskussionen verfolgte ich einerseits über diverse Internetseiten sowie die dort veröffentlichten Artikel und Stellungnahmen, andererseits aber auch über Gespräche vor Ort und über private E-Mail-Kontakte mit diversen involvierten Personen. Beispiele für die aufgesuchten Internetseiten finden sich unter folgenden Adressen: , , . Alle Seiten zuletzt abgerufen am 16.4.2009.
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serbische Belegschaft der Fabrik negierte bei einer Informationsveranstaltung sogar die Kriegsvorkommnisse und befand die Sicherung ihrer Arbeitsplätze für dringlicher als die Freigabe des Geländes für die Suche nach Massengräbern – ein harter Schlag für die an der Informationsveranstaltung ebenfalls anwesenden Überlebenden und Angehörigen der Vermissten. Obwohl in der Person des Paters ein Mediator das Projekt leitete und er bei diversen politischen Akteuren in der Gemeinde für die Sache lobbyierte, fand das Projekt »Living Memorial« bis zum Abschluss der Feldforschung keine politische Unterstützung. Es wurde abgebrochen und die Fabrik dem normalen Arbeitsalltag überlassen. Bis heute, 2010, gibt es keinen Ort auf dem Gelände des Stahlkonzerns, wo die Hinterbliebenen ihrer Toten gedenken könnten. Sowohl dieses Beispiel als auch die hier präsentierten Fallgeschichten machen deutlich, dass Prijedor nicht nur ein Ort geteilter Gemeinschaften, Aktivitäten und sozialer Netzwerke ist, sondern auch ein Ort geteilter Erinnerungen4 . Erinnerung wird definiert als Fähigkeit, Ereignisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit im Gedächtnis zu konservieren und abzurufen (Assmann 2005). Erinnern wird damit zu einer Rekonstruktion des Vergangenen, das heißt, Vergangenheit entsteht erst, wenn man sich auf sie bezieht. »Nicht die Erinnerungen stammen aus der Vergangenheit, sondern Vergangenheit resultiert aus den Erinnerungen« (Siegfried Schmidt zit.n. Jureit 1999: 44). Diese kognitive Rekonstruktion der Erinnerung wird sowohl mit kollektiven als auch mit individuellen Erlebnissen verknüpft und das Gedächtnis als Ort der Erinnerung rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, sondern organisiert auch die Erfahrungen der Gegenwart und die Erwartungen an die Zukunft (Assmann 2005: 42). Folglich ist ein traumatisches Vergangenes auch als traumatische Folge der Vergangenheit gegenwärtig und kann als ›offene Wunde‹ betrachtet werden, die nicht nur die Verwundeten selbst etwas angeht, sondern die gesamte Gesellschaft. Assmann (2005) unterscheidet bei der kreativen Leistung des Erinnerns zwischen Gedächtniskunst, die auf den Einzelnen bezogen ist, und Erinnerungskultur, bei der es um das Einhalten einer sozialen Verpflichtung gegenüber der Gruppe geht. Die Erinnerungskultur soll soziale Sinn- und Zeithorizonte ausbilden. Es handelt sich um ein »Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet« (Assmann 2005: 30). Assmann baut seine Argumentation auf dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses auf, der auf Maurice Halbwachs (1991 [1967]) zurück-
4 | Es wird bewusst der doppeldeutige Begriff ›geteilt‹ verwendet; geteilt im Sinne von getrennt und geteilt im Sinne von gemeinsam. Denn die Vergangenheit und die Erinnerungen sind zum einen getrennt, zum anderen teilen sich die beiden Gruppen die Vergangenheit und sie verweisen auch dauernd aufeinander.
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geht5 . Als Schüler Durkheims baute dieser seine Überlegungen auf Durkheims Begriff des kollektiven Bewusstseins auf. Halbwachs versteht Gedächtnis als soziales Geschehen. Erinnerungen bauen sich im sprachlichen Austausch mit anderen Menschen und deren Erinnerungen auf. Das bedeutet, dass sich in der Erinnerung das Verhältnis zwischen Individualität und Kollektivität zeigt. Denn kollektive Gedächtnisse entstehen aufgrund einer erlebten Verbindung unter Gruppenmitgliedern. »Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den ›Rahmen‹, die seine Erinnerungen organisieren« (Assmann 2005: 36). Kollektive Erinnerungen setzen also einen Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen und Individuen voraus. »Jedes individuelle Gedächtnis ist ein ›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächtnis; dieser Ausblickspunkt wechselt je nach Stellung, die wir darin einnehmen, und diese Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen Milieus unterhalte« (Halbwachs 1991 [1967]: 31). Das individuelle Gedächtnis ist also weitgehend von sozialen Kontexten geprägt oder dem, was in vorliegender Arbeit mit den Handlungsbedingungen umschrieben wurde (vgl. Kapitel 2.1.4). Innerhalb dieser Kollektive verfügen die Individuen über sehr heterogene Erinnerungen. So, wie man von einer Vielfalt von Identifikationen und sich überschneidenden Achsen der Differenz ausgehen kann, kann man auch von einem Neben- und Miteinander rivalisierender und alternativer Erinnerungen sprechen: Es gibt ein Familiengedächtnis, ein lokales Gedächtnis, ein Klassengedächtnis, ein Nationalgedächtnis u.a. m. – Gedächtnisse, die jeweils in ihrer Überschneidung wirken (Burke 1993: 298). Die Ansichten darüber, was erinnerungswürdig ist, unterscheiden sich von Gruppe zu Gruppe. Ebenfalls gibt es in jeder Gruppe unterschiedliche Ansichten darüber, was erinnerungswürdig ist. Burke (1993: 298) erachtet es deshalb als sinnvoll, von »Erinnerungsgemeinschaften innerhalb gegebener Gesellschaftssysteme« zu sprechen. Trotz der überschneidenden Gedächtnisse und der Prägung durch die sozialen Kontexte haftet das Kollektivgedächtnis immer an seinen Trägern und Trägerinnen und ist nicht beliebig übertragbar. Wer daran teilhat, bezeugt damit auch seine Gruppenzugehörigkeit – ähnlich dem sozialen Kapital, das nur durch die sozialen Beziehungen bestehen kann und beim Verlassen eines sozialen Netzwerkes verloren geht. »Die soziale Gruppe, die sich als Erinnerungsgemeinschaft konstituiert, bewahrt ihre Vergangenheit vor allem unter zwei Gesichtspunkten auf: der Eigenart und der Dauer. Bei dem Selbstbild, das sie von sich erstellt, wird die Differenz nach außen betont, die nach innen dagegen heruntergespielt. Zudem bildet sie »ein Bewusstsein ihrer Identität durch die Zeit hindurch« aus, so dass die erinnerten Fakten stets auf Entsprechun5 | Für eine Würdigung der Gedächtnistheorie von Halbwachs siehe u.a. Krapoth (2005), für eine Kritik an Halbwachs’ Überlegungen u.a. Assmann (2005: 45-48).
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gen, Ähnlichkeiten, Kontinuitäten hin ausgewählt und perspektiviert werden.« (Assmann 2005: 40)
Die Vorkommnisse in Prijedor lassen erkennen, dass sich zwei Erinnerungsgemeinschaften herausgebildet haben, die sich voneinander abgrenzen. Diese Abgrenzung funktioniert insbesondere durch die Überschneidung der Erinnerungen mit der Ethnisierung und den Ereignissen des jüngsten Krieges. Differente Erinnerungen werden von den Mitgliedern der unterschiedlichen Gruppen vor Ort noch nicht akzeptiert. Ob Akzeptanz möglich ist, hängt auch davon ab, ob solche Erinnerungen in einem öffentlichen Raum überhaupt erzählbar sind (siehe dazu Frau Sivac’ Ausführungen, Kapitel 5). Solange kein gemeinsamer öffentlicher Kommunikationsraum für die Erinnerungen an die gewaltgeprägte Vergangenheit vorhanden ist, muss von einer Konkurrenz dieser Erinnerungen ausgegangen werden. Denn erst wenn es nicht mehr um die Konkurrenz von Ansprüchen geht und die Praxis gegenseitiger Ablehnung in einem erweiterten kulturellen Gedächtnis überwunden wird, kann es zu einer öffentlichen Anerkennung aller Traumatisierungen kommen. Das Zulassen aller Erinnerungen ist nicht mit einer Relativierung der Traumata gleichzusetzen, denn es bedeutet ja gerade nicht, sie gegeneinander auszuspielen. Erinnerungen gegeneinander auszuspielen ist aber jener Mechanismus, der in Prijedor zu beobachten und für die Segregation der Gesellschaft mitverantwortlich ist. Auf gegensätzliche Haltungen kann aufgrund vorliegender Forschung aufmerksam gemacht werden: Die Seite der ehemaligen Opfer hält die Erinnerungen an den Krieg aktiv wach. Damit sind nicht nur kontinuierliche Aktivitäten wie diejenige von Frau Sivac angesprochen, sondern auch die regelmäßigen Beisetzungszeremonien. Diese haben natürlich primär die Funktion, die identifizierten Opfer zu beerdigen. Allerdings schwingt bei diesen Zeremonien die Gefahr mit, die Tragödie zu politisieren (siehe Miller 2006, anschließend wird darauf noch eingegangen). Auf der Seite derjenigen, die in Prijedor nicht zu den Verfolgten gehörten, verschweigt man die jüngste Vergangenheit, verdrängt oder negiert sie sogar und läuft Gefahr, die Tragödie zu verzerren, was ebenfalls einer Politisierung entspricht. Unter der Forderung, zukunftsgerichtet zu agieren, propagieren die Vertreterinnen und Vertreter dieser Haltung einen raschen Übergang zum courant normal. Werden sie dennoch mit den Greueltaten konfrontiert, versuchen diese Frauen das Geschehene mit Hilfe kollektiver Deutungen zu verstehen, die von offiziellen Diskursen genährt werden, wie weiter oben bereits angetönt. Zu diesen Diskursen gehört u.a. auch, dass die politische Führung der Republika Srpska die Zweientitätenlösung mit allen Mitteln verteidigt6, eine Abspaltung und damit indirekt ein Anschluss an Serbien 6 | . Abgerufen am 22.2.2009.
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postuliert und nach wie vor enge Beziehungen mit dem ›Mutterland‹ Serbien unterhält. Damit einhergehend geschieht eine Behinderung der Verfassungsreform, die einen bosnischen Gesamtstaat stärken würden7. In Prijedor selbst werden von Vertretern serbisch-nationalistischer Parteien die Kriegsereignisse wenn nicht geleugnet, so doch zumindest heruntergespielt, wie das Zitat von Dušan Berić verdeutlicht, dem Präsidenten der lokalen SDS: »No really, in contrary to what people say, there wasn’t any criminal enterprise in Prijedor planned by the Serbs during the war. The Bosniaks haven’t accepted the reality of the war or the fact that it’s over. It may be true that a few Serbs sought revenge during the war, but there was a much bigger genocide of Serbs by Muslims in Sanski Most. In Kozarac the Muslims had started preparing the genocide of the Serbs. A list of Serbs to be liquidated was discovered in a mini-bunker. It was like 1942, during Second World War at the Jasenovac concentration camp.« (Wesselingh und Vaulerin 2005: 74)
Eine offizielle Anerkennung der Gewaltereignisse im Sinne rechtlicher Verfolgung, Verurteilung der Verbrecher, Schuldeingeständnissen und Genugtuungszahlungen unterbleiben damit ebenso wie eine symbolische Anerkennung in Form von (unparteiischen) Museen, Denkmälern u.a. mehr. Deutungen wie die oben zitierte werden auch dahingehend gestützt, dass sich mutmaßliche Kriegsverbrecher unbehelligt in Prijedor bewegen können und die beiden in Den Haag angeklagten Kriegsverbrecher Mladić und Karadžić weit herum als Helden verehrt werden. Diese selektive Wahrnehmung legitimiert die gegenwärtige Ordnung. Ein passender Begriff für diese Form des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit findet sich im Terminus der »sozialen Amnesie« (Burke 1993: 297). Burke leitet ihn vom Begriff der »strukturellen Amnesie« ab, eingeführt vom Sozialanthropologen John Barnes (Goody und Watt 1962/1963: 309). Nach Barnes sind unter dem Begriff der strukturellen Amnesie Handlungen gemeint, die im Dienste der gesellschaftlichen Kohäsion konfliktbehaftete Erinnerungen löschen und diese vergessen lassen. Genau dies lässt sich bei den hier interviewten serbischen Domicilna beobachten: Erinnerungen sollen strikte individuell und privat behandelt werden, damit die Vergangenheit das gesellschaftliche Zusammenleben nicht belaste. Doch wie Burke treffend festhält: 7 | In dieser Haltung ist auch ein Grund zu sehen, weshalb im Jahre 2006 die Verfassungsreform scheiterte. Nebst den serbischen Nationalisten waren auch die bosniakischen Zentralisten und die kroatischen Föderalisten dafür verantwortlich. Es wurde dreierlei verunmöglicht: eine Vereinfachung der staatlichen Strukturen, die Überwindung der ethnischen Trennung zwischen den drei konstitutiven Gruppen und eben die Stärkung des Gesamtstaates. Folge dieses Scheiterns ist die Ethnisierung der Politik und die Zementierung der sozialen Segregation (Sieber 2007).
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»Schon oft hieß es, die Sieger hätten die Geschichte geschrieben. Und doch könnte man auch sagen: Die Sieger haben die Geschichte vergessen. Sie können sich’s leisten, während es den Verlierern unmöglich ist, das Geschehene hinzunehmen; diese sind dazu verdammt, über das Geschehene nachzugrübeln, es wiederzubeleben und Alternativen zu reflektieren.« (Burke 1993: 297)
Auf der anderen Seite stehen also die Verlierer respektive die damals Verfolgten, die über ihre Traumata nicht hinwegkommen und sich nicht beruhigen können, wie Frau Begović es so treffend beschrieb. Sie erinnern sich an Gedenktagen aktiv und bewusst an die Geschehnisse, unter anderem auch, um eine Anerkennung ihrer Leiden in der Öffentlichkeit zu erkämpfen. Die Beisetzungszeremonien wiederum sind zentral für den Trauerprozess. Wie gesehen, empfinden aber Frauen wie Ljiljana Živković solche Gedenktage als negatives Moment des Umgangs mit der Vergangenheit – sie erleben sie als dauernde Anklage. Doch für die bosniakischen Gesprächspartnerinnen sind diese Anlässe zentrale Momente der Erinnerungspraxis und der Demonstration ihrer politischen Anliegen wie etwa die Freigabe der Gebeine und die Verurteilung der Verbrecher. Diese Menschen sehen die Schuld ganz eindeutig bei ihren Peinigern und teilweise auch bei den im Krieg vor Ort Verbliebenen, von denen sie bei Kriegsausbruch keine Unterstützung und heute keine Anerkennung ihrer Leiden erhalten. Sie fordern die Aufarbeitung der Kriegsereignisse, die Suche nach Massengräbern, die Identifizierung der Vermissten sowie die Verurteilung der Täter auf allen Seiten als unanfechtbare Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft. Damit sind einige der Punkte angesprochen, die von verschiedensten Autoren für einen Versöhnungsprozess als zentral betrachtet werden (u.a. Adorno 1977; Bloomfield 2006; Habermas 1994; Huyse 2003). Der Umgang mit der Vergangenheit respektive das Herstellen einer Situation, die eine Heilung, Verständigung und Vertrauensbildung begünstigt und den Wiederaufbau sozialer Beziehungen und des Gemeinwesens ermöglicht, ist ein multidimensionaler Vorgang (Bloomfield 2006): Zum einen sind vorbildliche Initiativen der staatlichen Akteure vonnöten. Es hat sich gezeigt, dass die politischen Entscheidträger in Regierungen und Parlamenten in BosnienHerzegowina keine nennenswerten Anstrengungen unternehmen, Kriegsverbrechen angemessen zu erfassen und verlässlich zu dokumentieren (siehe Fischer 2007, 2008). Exemplarisch dafür steht die bereits angesprochene Debatte um die Opferzahlen. Wie die Falldarlegungen, die Ausführungen zur Konferenz »Bridging the Gap«, aber auch der Streit um das weiße Haus auf dem Gelände des Lagers ›Omarska‹ verdeutlichen, bekunden die Politiker aus Prijedor nur marginales Interesse, Versöhnungsmechanismen in der Gemeinde zu etablieren oder zu unterstützen. Greifen Einzelpersonen oder auch zivilgesellschaftliche Organisationen solche Initiativen auf, so müssen sie – wie bei Frau Sotivor-
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Borić gesehen – mit Anfeindungen rechnen, und die Anstrengungen werden von Gesellschaft und Politik höchstens geduldet. Mit der Ahndung der Kriegsverbrechen ist die im Fachjargon der Friedensund Konfliktforschung genannte Vergeltungsjustiz, »retributive justice«, gemeint (Bloomfield 2006: 20). Die Strafjustiz ist dabei ein zentrales Instrument. Auch wenn das Internationale Tribunal ICTY in Den Haag eine wichtige Rolle bei der Verfolgung und Verurteilung der Kriegsverbrecher spielt und es für die Opfer wichtig ist, ihre Peiniger verurteilt zu sehen (siehe dazu die Ausführungen von Frau Sivac, Kapitel 5), hat dieses Rechtsinstrument für den Alltag der Betroffenen und den Versöhnungsprozess nur begrenzte Wirkung (Hazan 2007). So lässt beispielsweise das Ansehen des Gerichts ganz besonders in der Republika Srpska zu wünschen übrig (siehe die Ausführungen zur mangelnden Anerkennung des ICTY in Prijedor von Frau Sivac, Kapitel 5.1.3 und Fischer 2008). Der internationale Strafgerichtshof wird als aufgezwungener Mechanismus wahrgenommen, der weit entfernt vom Alltag eingerichtet wird. Dem Tribunal wird zudem nachgesagt, es sei voreingenommen und urteile entsprechend parteiisch. Verschiedene Seiten kritisieren zudem, dass es das Tribunal zu Beginn seiner Arbeit versäumt habe, sich der Bevölkerung anzunähern (vgl. auch hierzu die Ausführungen zur ICTY Konferenz in Kapitel 5.1.3, aber auch Hodžić 2007)8. Das Tribunal kann also einen wichtigen Motor für die öffentliche Diskussion darstellen; ebenso hat es aber die nationalistischen Debatten über den Krieg auch verschärft und die ethnische Teilung damit zementiert (vgl. Basić 2007; Fischer 2008). Ergänzend zu Dokumentation, Offenlegung und Strafverfolgung der Kriegsverbrechen sind aber auch die Kompensation erlittenen Unrechts und besonders eine weit verbreitete Anerkennung des Leids erforderlich. Dieser Prozess wird als »restorative justice« bezeichnet (siehe u.a. Bloomfield 2006: 21; Huyse 2003). Darunter werden Mechanismen verstanden, »die sich gleichzeitig um Anerkennung der Opfer von Unrecht und Gewalt oder auch um die Wiederherstellung von Beziehungen und sozialen Gemeinschaften bemühen« (Fischer 2008: 5). Diese beiden Punkte sind, wie anhand der Falldarlegungen aufgezeigt, noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt. Ein Grund dafür lässt sich im fehlenden öffentlichen, ethisch-politischen Selbstverständnis sehen – dies ist ein Punkt, den Adorno (1977) in seinen Gedanken zur Aufarbeitung 8 | Um die Auswirkungen der Arbeit des ICT Y auf das alltägliche Zusammenleben der Bosnierinnen und Bosnier und den Beitrag, den das Gericht für den Friedensprozess in der Region leisten kann abzuschätzen, braucht es mehr Forschungen mit Bottom-upAnsatz. Bislang wurde dies vernachlässigt. Ausnahmen sind u.a. Delpla (2007), Hazan (2007) und Stover (2004), die beispielsweise die schwierige Beziehung zwischen formalen Gerechtigkeitsinstrumenten wie dem ICT Y und den Versöhnungsprozessen diskutieren.
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der deutschen Kriegsvergangenheit als zentral erachtete. Mit diesem Selbstverständnis ist gemeint, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens für die darin praktizierten Verletzungen menschlicher Würde auch mithaften (Habermas 1994: 246). Voraussetzung ist in erster Linie die Identifikation als Bürger bzw. Bürgerin des Gemeinwesens. Dieses Bewusstsein fehlt den Prijedorerinnen und Prijedorern allerdings noch weitgehend, unter anderem, weil es ihnen an Vertrauen in die staatlichen Strukturen fehlt. Daher lassen sie sich im Hinblick auf den Umgang mit der Vergangenheit auch immer wieder manipulieren und für Propagandazwecke der ethno-nationalistischen Politik missbrauchen. Es gibt bei den Bewohnerinnen und Bewohnern Prijedors auch noch keine nationale Identifikation auf Basis der bosnischen Staatsangehörigkeit. Die alten ethnoreligiösen Zugehörigkeiten haben ihre Bedeutung und Funktion wie gesehen für die Festschreibung der Grenzen noch nicht verloren. Bloß eine der befragten Frauen fühlt sich als Bosnierin. Alle anderen bezeichnen sich als Bosniakinnen, Serbinnen oder Kroatinnen. In einem solch antagonistischen Umfeld bleibt deshalb auch die Forderung der internationalen Gemeinschaft nach einer ›Kultur des Friedens‹ und einer multi-ethnischen, multi-religiösen und multi-sprachlichen Identitätstoleranz ein unerfülltes Postulat (siehe Kapitel 3.5). Auch die geforderten zwischen-ethnischen Brückenverbindungen erscheinen als Mittel zur Überwindung der Kriegsvergangenheit in diesem Umfeld als bloß moralische Prämisse, die den Bewohnerinnen und Bewohnern in erster Linie von außen aufgedrängt wird. Dabei wäre laut Hayden die Rückkehr zur negativen Toleranz, die in der bosnischen Gesellschaft eine lange Tradition hat, viel wirkungsvoller. Damit ist das Konzept der ›Nichteinmischung‹ angesprochen, d.h. dass man die Anderen in ihrem Tun, ihren Einstellungen, Meinungen und Traditionen u.s.w. gewähren lässt (Hayden 2002: 239). Demzufolge: »The other and the different is not the object of rejection and contempt, but of respect and esteem to the extent to which it is being reciprocated by the acceptance of its own diversity« (Ćimić 1999: 137, Hervorhebung im Original). Eine Integration auf Basis dieser negativen Toleranz wäre funktional und pragmatisch und würde zugleich an die Vorstellung der Komšiluk anknüpfen, wo sie über lange Zeit verankert war. Denn dort wurden seit jeher die gegenseitigen Pflichten und Rechte in den menschlichen Beziehungen funktional festgelegt. Mit dieser Feststellung wären auch alle aufgefordert, sich von der romantischen und verzerrten Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft zu verabschieden und nicht nach positiver Toleranz zu verlangen, wo es diese nie gegeben hat. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Zweiteilung der Prijedorer Gesellschaft in ein Wir und ein Nicht-Wir insbesondere dadurch aufrechterhalten wird, dass beide Seiten fortdauernd Aktivitäten initiieren, die das jeweilige Gruppengefühl stärken und gleichzeitig die ›Anderen‹ beleidigen, indem sie ihnen Schuld und Verantwortung zuschreiben. Daraus ergibt sich ein Teufels-
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kreis aus Verdrängung und Vergeltung: »For the more that Bosnian Muslims draw attention to Srebrenica [or ›Omarska‹, Anmerkung der Autorin], the louder Bosnian Serbs shout about Jasenovac and other Ustaša concentration camps« (Miller 2006: 317). Die Bosniakinnen und Bosniaken pochen aber umso lauter und unnachgiebiger auf Erinnerung, je weniger die Serbinnen und Serben die Verbrechen an der muslimischen Bevölkerung anerkennen. Damit stehen sich im bosnischen Kontext die beiden Kollektive unversöhnlich gegenüber und solange die Täter nicht konsequent bestraft und – auch von politischer Seite – keine deutlichen Zeichen gesetzt werden, dass sich die Ereignisse des Krieges nicht wiederholen dürfen, ist auch keine nachhaltige Aufarbeitung der Vergangenheit möglich. Man kann sogar erkennen, dass sich die Prijedorer Bevölkerung nach wie vor in den vom Krieg zementierten Feindschaftsverhältnissen befindet, oder in einem ›Krieg‹ im Frieden. Dieser ›Krieg‹ im Frieden lässt einer gemeinsamen Zukunft wenig Spielraum.
13. Zusammenfassung
Die vorliegende Studie untersuchte die Organisation und Aushandlung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Herausbildung der Beziehungsgeflechte nach dem bosnischen Bürgerkrieg. Es wurde gefragt, welche Grenzziehungen und Differenzen zwischen den vom Krieg unterschiedlich betroffenen Individuen und Gruppen bestehen und welche Zugehörigkeitsmerkmale diese Verhandlungen situativ durchdringen. Dabei interessierten insbesondere die Deutungen von Frauen bei der Interpretation ihrer Kriegserfahrungen und –erinnerungen. Frauen standen deshalb im Mittelpunkt, weil sie in der Vorkriegszeit als intra- und interethnische Förderinnen von freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen fungierten. Aber ebenso, weil ihre Rollen im Krieg auf die reproduktiven, nicht-politischen Aktivitäten reduziert und sie gleichzeitig als Trägerinnen der ethnischen Gruppe politisiert wurden. Dieses essentialistische Bild setzte sich in der Nachkriegszeit fort. Gerade wegen den vermittelnden Vorkriegsrollen, aber auch aufgrund der Vorstellung, die Frauen seien zu passiven, apolitischen Kriegsopfern geworden, wurden sie zu Personen ernannt, die sich nicht an der Umsetzung des radikalen Nationalismus beteiligt hätten und deshalb für die zwischenethnische Versöhnung geeignet seien. Aus dieser Perspektive wurden die Aussagen der Frauen im Hinblick auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten beim sozialen Wiederaufbau analysiert. Die methodische Herangehensweise, um die Deutungen der einzelnen Studienteilnehmerinnen sowie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Fälle zu rekonstruieren, zeichnete sich durch eine Methodentriangulation aus: zum einen wurden für die Zeitspanne vor, während und nach dem Krieg mit biografisch-narrativen Interviews die Lebensgeschichten der Frauen erhoben, zum anderen wurde ihre soziale Einbettung mit Hilfe der ego-zentrierten Netzwerkanalyse erfasst. In der Praxis erwies sich diese Kombination als schwierig, weil mit beiden Methoden unterschiedliche Qualitäten von Daten erhoben wurden. Bedenken zeigten sich insbesondere im Hinblick auf die Aussagekraft der Netzwerkanalyse. Die Analyseperspektive der biografischen Interviews richtete sich auf das Zusammenspiel verschiedener Differenzkategorien im Kontext des Umgangs mit der Vergangenheit und den Auswirkungen des Krieges auf das
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soziale Geflecht. Dazu eignete sich die Kombination rekonstruktionslogischer Verfahren mit dem Kodierverfahren der Grounded Theory. Die analytischen Erkenntnisse aus den Biografien und der Netzwerke sind folgende: Der bosnische Krieg hinterließ eine Gesellschaft, die von einem tiefgehenden Klima des Misstrauens und der Angst geprägt ist. Der Krieg hat eine stark segregierte Gesellschaft herausgebildet, in der sich Gruppen mit unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Vergangenheit gegenüberstehen: die ehemals Verfolgten stehen den nicht Verfolgten gegenüber, die Bosniakinnen den Serbinnen, die vor Ort Verbliebenen den Zurückgekehrten. Trotz dieser Zweiteilung zeigte die Untersuchung der Lebensgeschichten auch, dass es schon seit jeher ein Nebeneinander- und Miteinanderleben von Menschen mit unterschiedlichen Zugehörigkeitserfahrungen gab, und dass es diese Erfahrungen waren, die das soziale Vorkriegsgeflecht in Bosnien formten. Mit dem Krieg wurden jedoch die ethnoreligiösen Zugehörigkeitskategorien so instrumentalisiert, dass sie zu absoluten und ausschließenden Kriterien wurden. Daraus folgend zeigen sich heute drei Gräben, die die Prijedoer Gesellschaft bestimmen. Zum einen sind es die ethnischen Zugehörigkeiten, die in der Nachkriegszeit weit ausgeprägter gelebt werden als in der Vorkriegszeit. Die dargestellten und analysierten Fälle haben allesamt darauf hingewiesen. Dies wirkt sich auf die gesamte Prijedorer Gesellschaft entzweiend aus. Auch die Netzwerkanalyse bestätigt diese Aussage. Die auf ethnischen Merkmalen beruhende Zweiteilung korrespondiert damit, dass die Verwandtschaft für die sozialen Unterstützungsbeziehungen ein herausragendes Gewicht erhält. Generell kann man deshalb von dichten, starken und solidarischen Geweben sprechen, die die Nachkriegsgesellschaft entlang ethnischer und verwandtschaftlicher Linien bestimmen. Die Wichtigkeit dieser Beziehungen kann aber relativiert werden, wenn das Geschlecht hinzugezogen wird. Die Studienteilnehmerinnen erhielten durchgängig von mehr weiblichen Bezugspersonen soziale Unterstützung als von männlichen. Gerade in Bezug auf die Frage nach den multiplexen Beziehungen verlieren die Verwandten an Gewicht, und Freundinnen und Nachbarinnen erweisen sich als zentrale Unterstützungspersonen. Dieses Beziehungsmuster ist darauf zurückzuführen, dass sich die Frauen nach ihrer Heirat in einer neuen sozialen Umgebung zurechtfinden und sich im neuen Haushalt bewähren müssen. Gleichzeitig sind es aber auch die Frauen, die durch ihre Kontaktpflege außer Haus den neuen Haushalt in der Nachbarschaft vertreten und so auch den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken. Damit kann eine wichtige Aussage zur gesellschaftlichen Position der Frauen gemacht werden: Durch die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen, nicht verwandten Frauen zu knüpfen, werden sie zu einem wichtigen Bindeglied zwischen verschiedenen Familien, Verwandtschaftsgruppen und Nachbarschaften. Man kann daher annehmen, dass die Frauen aufgrund dieser spezifischen Position tatsächlich eine wichti-
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ge Rolle für den Versöhnungsprozess zwischen verfeindeten, nichtverwandten Gruppen einnehmen und somit auch ethnische Gräben überwinden können. Nebst den ethnischen Zugehörigkeiten können anhand des Datenmaterials aber auch Ein- und Ausschlüsse aufgedeckt werden, die sich auf die jeweils erlebte Kriegs- und Migrationserfahrung zurückführen lassen. Diese Merkmale der Segregation lassen gelegentlich das ethnische Merkmal in den Hintergrund treten, denn das Bewusstsein, sich aufgrund der Kriegs- und Migrationserfahrung in einer ähnlichen gesellschaftlichen Lage zu befinden, verändert die gruppeninterne Vergemeinschaftung. Die Interviewpartnerinnen sprachen in diesem Zusammenhang von Tätern und Opfern, von Beklagten und Angeklagten, von Linientreuen und Verweigerern, von Dagebliebenen und Zurückgekehrten, von Einheimischen und Flüchtlingen, von Privilegierten und Verarmten und von Menschen mit Kultur und solchen ohne Kultur. Dieses Bewusstsein wirkt einer fortdauernden Reproduktion ethnischer Zugehörigkeiten entgegen. Die Interviews zeigten also auch, dass die Frauen eigen und fremd nicht mehr nach ausschließlich ethnischen Merkmalen bestimmen wie während des Krieges, sondern dass der Aufenthaltsort und das Engagement für die Gemeinde während der Kriegszeit sowie die heutige Position in der Gemeinschaft eine Rolle spielen. Anhand der Netzwerkanalyse zeigte sich, dass auch lokale respektive transnationale Beziehungen auf die Segregation der Gesellschaft in Prijedor einwirken. Die transnationalen finanziellen Beziehungen sind angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage nicht nur eine willkommene, sondern eine unentbehrliche Einkommensquelle. Gerade die aus dem Ausland Zurückgekehrten können auf solche Beziehungen zurückgreifen. Diese Beziehungen wiederum fehlen vielen der vor Ort verbliebenen Interviewpartnerinnen: sie verfügen über wenige transnationale Beziehungen, die finanzielle Unterstützung leisten könnten. Diese Ungleichheit schürt ein Gefühl der Eifersucht und kann für die Segregation mitverantwortlich sein. Schließlich ließen sich aus den Biografien auch Viktimisierungstendenzen als Segregationsmerkmal herausarbeiten: Die Viktimisierung der jeweiligen Gruppe zeigt sich zum einen über das Geschlecht, zum anderen über die ethnoreligiöse oder nationale Bestimmtheit der Gruppe. Nebst der Trennung der Gesellschaft in ethnische Gruppen erfuhren im bosnischen Krieg die geschlechterspezifischen Rollen eine starke Essentialisierung und Differenzierung, was eine feminisierte Opferidentität zur Folge hat. Es waren Frauen, die von der Literatur aber auch den internationalen Organisationen hauptsächlich als Kriegsopfer und als apolitische und anti-nationalistische Mütter konstruiert wurden, währenddem die Männer mehrheitlich als Soldaten und aktive Verteidiger der Nation galten. Tatsächlich waren es mehrheitlich die Frauen, die sich nicht am Krieg beteiligten und die von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen wurden. In Zusammenhang damit, aber auch mit den
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gesellschaftlichen und verwandtschaftlichen Rollen vor dem Krieg, empfinden sich die für vorliegende Studie befragten Frauen in der Nachkriegszeit als Opfer des von Männern gemachten Krieges und als Opfer der männerdominierten Nachkriegspolitik. Es sind Männer, die in der korrupten Politik tätig sind, Frauen hingegen konstruieren für sich aufgrund ihres Unbeteiligtseins am Krieg eine Makellosigkeit. Aufgrund dessen sehen sich viele als geeignet, die Versöhnung der Gesellschaft anzupacken und der männerdominierten Politik entgegen zu treten. Allerdings werden sie nur scheinbar aus dem politischen Bereich verdrängt, denn sie sind auserkoren, mit der zwischenethnischen Versöhnung zentrale Ziele des Friedensabkommens von Dayton umzusetzen. Sie befinden sich demnach in einem permanenten Spannungsfeld zwischen (männerdominierter) Politik und Frausein, welches auch durch die Reproduktion des apolitischen und moralisch reinen Frauenbildes von den Frauen selbst gestärkt wird. Die feminisierte Opferidentität wird demzufolge den Frauen nicht nur von außen zugeteilt, sie schreiben sich diese auch selbst zu. Die Frauen des betrachteten Samples entwickelten in diesem Umfeld vielfältige Strategien mit der Kriegsvergangenheit umzugehen. Dennoch scheint es für sie unmöglich, diese versöhnende Rolle zu erfüllen, oder wie am Beispiel von Frau Sotivor-Borić diskutiert wird, ist das gesellschaftlich nicht erwünscht bzw. hat es gesellschaftliche Repressionen zur Folge, wenn sich Frauen der zwischenethnischen Versöhnung annehmen. Frau Sivac, die zurückgekehrte Richterin, engagiert sich zwar unermüdlich für die Aufklärung der Kriegsverbrechen und dafür, dass die Verschwundenen gefunden werden, eine Anstellung in ihrem angestammten Beruf wird ihr aber nicht zuletzt aufgrund dieses Engagements verwehrt. An den Ausführungen von Frau Begović wird diese Problematik ebenfalls deutlich: Die Unkenntnis über den Verbleib ihres Ehemannes behindert eine Bewältigung der traumatischen Erfahrungen und eine Annäherung der vom Krieg unterschiedlich betroffenen Gruppen. Dennoch kann sie aufgrund ihrer ökonomischen Situation lose Beziehungen über ethnische Grenzen hinweg knüpfen und wird damit zu einem Paradebeispiel dafür, wie die ökonomische Verflechtung zur Basis einer ersten Annäherung werden kann. An den Ausführungen von Frau Živković zeigt sich besonders deutlich, welche Ambivalenz der Auftrag der zwischenethnischen Versöhnerin mit sich bringt. Sie ringt um die ›richtige‹ Vergangenheitsbewältigung, versucht Sympathie für die Gegenseite und deren Umgangsart aufzubringen und scheitert doch immer wieder an ihren eigenen Erfahrungen und den Diskursen ›ihrer‹ Gruppe. Schlussendlich deutet sie das Schweigen über die Ereignisse zum adäquaten Umgang mit der Vergangenheit. Diese Haltung wird auch von Frau Ivanović vertreten, die in ihren Ausführungen immer wieder darauf aufmerksam macht, dass alle zu Opfer der Geschehnisse wurden. In diesem Zusammenhang hat die Analyse gezeigt, dass sich besonders die in Prijedor nicht zu den Verfolgten
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gehörenden Frauen hinter einem kollektiv-ideologischen Opferempfinden verschanzen. Damit ist ein weiterer Aspekt des Opferdiskurses angesprochen, der den Umgang mit der Vergangenheit beeinflusst. Die Argumentation, dass die eigene Gruppe schon immer bedroht und ausgebeutet wurde, reicht historisch gesehen weit zurück. Die Vertreter der ethnischen Gruppen konstruierten sich besonders während der sozialistischen Zeit jeweils als einzige Opfer der Geschehnisse, eine Konstruktion die sich durch den jüngsten Krieg noch verstärkte. In der Nachkriegszeit zeigt sich diese besonders bei denjenigen, die während dem Krieg nicht zu den Verfolgten gehörten. In ihren vagen Argumentationen entpersönlichen sie die Kriegstaten und weisen eine Beteiligung am Krieg zurück. Sie halten fest, dass nicht das Individuum die Schuld am Geschehenen trägt, sondern das Unpersönliche, repräsentiert in einem Kollektiv. Dies ist auch die Haltung, die von offizieller Seite propagiert wird. Die Kriegsereignisse werden, wenn nicht geleugnet, so doch heruntergespielt und auf äußere Zwänge zurückgeführt, womit eine offizielle Anerkennung der Taten und Verurteilung der Kriegsverbrecher ausbleibt. Unter der Forderung, zukunftsgerichtet zu agieren, propagieren die Vertreterinnen und Vertreter dieser Haltung einen raschen Übergang zum courant normal. Diese Haltung und die Eigenwahrnehmung als Opfer weisen auf ein zentrales Problem für die Nachkriegsgesellschaft hin: Wenn alle Opfer sind, müssen auch Fragen nach den Verantwortlichkeiten für die Gewaltausübung durch die ›eigene Seite‹ und Fragen nach der Rolle der ›eigenen‹ politischen Führung nicht gestellt werden. Für eine Annäherung der vom Krieg unterschiedlich betroffenen Gruppen wäre es aber genau dieser Mechanismus, der überwunden werden müsste. Denn sobald die Täter personalisiert und verantwortlich gemacht werden können – und zwar ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit – kann auch eine Vergemeinschaftung auf ethnischer Basis durchbrochen werden. Die Verfolgten könnten sich ›beruhigen‹, währenddem die nicht Verfolgten und nicht am Krieg Beteiligten von einer direkten Schuldzuweisung befreit würden. Vorliegende Forschung plädiert also für eine ungeschminkte Benennung und Verurteilung der Täterschaft auf allen Seiten und ohne die Täter-Opfergruppen mit ethnischen Kriterien gleichzusetzen, für die Suche der Massengräber mit allen Mitteln und die rasche Identifizierung der Toten. Besonders wichtig ist, dass dies nicht ›nur‹ auf juristischer Ebene geschieht, sondern auch Eingang in eine gesamtgesellschaftliche Diskussion und damit auch in die alltäglichen Beziehungen findet. Dies wäre zentral, um die beobachtbare attraktive Opferidentität, also die Selbstwahrnehmung und Stilisierung als Opfer, als bis jetzt einzige akzeptierte Identifikation der Nachkriegszeit zu durchbrechen. Die drei herausgearbeiteten Tendenzen prägen die individuellen Biografien auf einzigartige Weise und bilden ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Kategorien ab. Dieses Zusammenspiel resultiert in situativen, multiplen
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und sich dauernd verändernden Identifikationsprozessen. Es sind die ähnlichen Existenzbedingungen in Zusammenhang mit den Kriegs- und Migrationserfahrungen und den Viktimisierungstendenzen, die vergleichbare habituelle Strukturen schaffen. Der Lebensstil und die soziale Stellung, die durch Krieg, Migration und Rückkehr auf den Habitus einwirken, determinieren die einzelnen Biografien, aber auch die neue soziale Segregation in Prijedor. Bis heute stehen sich die beiden Kollektive in Prijedor unversöhnlich gegenüber. Solange die Täter nicht konsequent bestraft, ihre Taten von der ›eigenen‹ Gemeinschaft nicht verurteilt und auch von politischer Seite keine deutlichen Zeichen gesetzt werden, dass sich die Kriegsereignisse nicht wiederholen dürfen, solange ist auch keine nachhaltige Aufarbeitung der Vergangenheit auf individueller Ebene möglich. Aufgrund der vorliegenden Daten lässt sich deshalb konstatieren, dass die Prijedorer Bevölkerung nach wie vor in den vom Krieg zementierten Feindschaftsverhältnissen verharrt und sich in einem ›Krieg‹ der Erinnerungen befindet. Dieser lässt sich kaum beenden, solange keine Verfassungsreform zustande kommt, solange die ethnische Zugehörigkeit nach wie vor mit jener zur Täter- bzw. Opfergruppe gleichgesetzt wird und die politischen Diskurse weiterhin auf Polarisierung gerichtet bleiben. Das Schlusswort soll einer Interviewpartnerin überlassen werden, die die in dieser Arbeit zentralen Schwierigkeiten zum ›Krieg im Frieden‹ pointiert aufgreift: »Ich möchte mich nicht in den ethnoreligiösen Unterscheidungen zurechtfinden müssen. Aber irgendwie geht das nicht anders. Und warum ist das so? Weil ich mich als Jugoslawin verloren habe und sie mir jetzt auch noch das multikulturelle Bosnien wegnehmen wollen.«
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Bosnien-Herzegowina Bund der Kommunisten Jugoslawiens Bosnisch Deutsch European Union Force Föderation Bosnien-Herzegowina Kroatisch demokratische Gemeinschaft (Hrvatska Demokratska Zajednica) Kroatisch International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Internal displaced persons Inter-Entity-Boundary Line Implementation Force International Police Task Force Internationales Komitee vom Roten Kreuz Jugoslawische Volksarmee (Jugoslovenska Narodna Armija) Nongovernmental Organisation, Nichtregierungsorganisation Republika Srpska Muslimische Partei der Demokratischen Aktion (Stranka Demokratska Akcjie) Sozialdemokratische Partei Serbische demokratische Partei (Srpska Demokratska Stranka) Stabilisation Force for Bosnia-Herzegovina Serbisch United Nations High Commissioner of Refugees UN Protection Force Zone of Separation
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