Kreativität als Beruf: Soziologisch-philosophische Erkundungen in der Welt der Künste 9783839448250

Sociologists and philosophers give a new insight into the professional everyday life and the creative ideals of people w

190 62 2MB

German Pages 272 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Soziologische Einleitung
Philosophische Einleitung
Widerstände und Ordnungsrufe auf dem Weg in Kreativberufe
Kreativarbeit zwischen Beruf und Berufung
Materialität und Werterfahrungen in der kreativen Arbeit
Kreativität als Beruf
Steckbriefe der Gesprächspartner_innen
Literaturverzeichnis
Hinweise zu den Autoren
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Kreativität als Beruf: Soziologisch-philosophische Erkundungen in der Welt der Künste
 9783839448250

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Christoph Henning, Franz Schultheis, Dieter Thomä Kreativität als Beruf

Kulturen der Gesellschaft  | Band 39

Christoph Henning, geb. 1973, ist Fellow für Philosophie am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Franz Schultheis, geb. 1953, ist Professor für Soziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Zuvor lehrte er u.a. an den Universitäten St. Gallen, Genf, Neuchâtel und Paris V. Sorbonne. Dieter Thomä, geb. 1959, ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton.

Christoph Henning, Franz Schultheis, Dieter Thomä

Kreativität als Beruf Soziologisch-philosophische Erkundungen in der Welt der Künste

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4825-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4825-0 https://doi.org/10.14361/9783839448250 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort Christoph Henning, Franz Schultheis, Dieter Thomä � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7

Soziologische Einleitung Das Feld der Kreativarbeit: Geschichte, Strukturen, Akteur_innen, Praxen Franz Schultheis  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 13

Philosophische Einleitung Ästhetische Praxis und Kritische Theorie Christoph Henning  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 45

Widerstände und Ordnungsrufe auf dem Weg in Kreativberufe Franz Schultheis  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 59

Kreativarbeit zwischen Beruf und Berufung Zur Sozioanalyse eines ständischen Ethos Franz Schultheis   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 87

Materialität und Werterfahrungen in der kreativen Arbeit Pragmatistische Interpretationen Christoph Henning  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143

Kreativität als Beruf Ästhetische und sozialphilosophische Perspektiven Dieter Thomä   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 197

Steckbriefe der Gesprächspartner_innen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 247 Literaturverzeichnis   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 257 Hinweise zu den Autoren   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 269

Vorwort Christoph Henning, Franz Schultheis, Dieter Thomä

Die Welt der Künste hat spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein zwiespältiges Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität und zur Welt des Alltags entwickelt. Entweder wird eine Zwei-Welten-Lehre mit Bezug auf das Verhältnis von Kunst und Leben vertreten, oder aber es wird deren Vereinigung propagiert. Einerseits fungiert die Kunst also als Gegenwelt, die mit dem Alltag schlechterdings unvereinbar ist. Verhandelbar ist dann nur noch deren Bewertung. So können das freie Spiel der Fantasie, die Schaffenskraft oder die Reinheit der ästhetischen Form gegen die bornierte Gier, die kleinlichen Sorgen oder schmutzigen Details des gesellschaftlichen Lebens ausgespielt werden. Oder aber die Wertung wird umgedreht und der mit beiden Beinen im Leben stehende Macher wird gegenüber dem brotlosen Künstler, lebensuntüchtigen Träumer oder verkommenen Schnorrer bevorzugt. Andererseits gibt es mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Leben Plädoyers für Vereinbarkeit oder sogar Vereinigung. Diese Fusionsbestrebungen setzen darauf, dass die Kunst lebendig und – vor allem – das Leben künstlerisch werden kann und soll. Die Kunst stellt sich als ein Idealbild des Lebens dar, das nach Verwirklichung drängt. Es gilt demnach beides: »Wir brauchen, um zu leben, in jedem Augenblicke die Kunst.« Und: »Die Kunst […] will das Leben.« (Nietzsche 1988, Bd. 7, 428; Bd. 1, 760) Das Verhältnis zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität ist demnach paradoxal. Folgt man der ersten Lesart, kann die Kunst nur operieren, wenn sie den Unvereinbarkeitsbeschluss zwischen Schein und Sein, ästhetischer und sozialer Existenz, zweckfreier Kreativität und wirtschaftlichem Utilitarismus strikt einhält. Demnach ist jede Vermischung der Sphären kontraproduktiv. Folgt man der zweiten Lesart, soll die Kunst das Irreale und Fiktive, das sie kennzeichnet, zurücknehmen und einklammern, um auf die Wirklichkeit zuzugehen und gewissermaßen lebbar zu werden.

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Demnach wird die Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Leben zur süßen Versuchung. Die Kunsttheorie von der Ästhetik des 18. Jahrhunderts über Klassik und Romantik, Schopenhauer, Wagner, Baudelaire und Nietzsche, den Ästhetizismus und die Avantgarden des 20. Jahrhunderts bis hin zur Postmoderne hat das geschilderte Paradox ausgehalten, verschärft oder aber aufzulösen versucht (vgl. Thomä 2008). Parallel zu diesen ideellen Überlegungen hat sich – wie kulturgeschichtliche und kunstsoziologische Forschungen zeigen – die gesellschaftliche Rolle von Künstlern tiefgreifend gewandelt. Dies ist deshalb von Belang, weil es schließlich diese Künstler sind, die mit jenem Paradox in ihrer eigenen Tätigkeit und in ihrem Alltag umgehen müssen. Die aktuelle Situation der Kunst und des Künstlertums steht im Zeichen einer Entgrenzung der Künste. Dies betrifft das Verhältnis zwischen Kunst und Gestaltung, Kunst und Gesellschaft sowie den Einf luss ökonomischer Rationalitäten und Interessen. Drei Punkte fallen besonders ins Auge. Erstens macht die Kunst seit längerem – sei es im Zuge ihrer Politisierung, sei es im Zuge der Karriere des Performativen – Avancen, die als Interventionen in die Wirklichkeit oder als Auf lösung der sogenannten vierten Wand zwischen Kunst und Publikum aufgefasst werden können. Zweitens ist die Kunst in einer zuvor ungekannten Weise selbst zu einem relevanten Faktor in Prozessen der Wertschöpfung und der Wertsteigerung aufgestiegen. Damit verschwimmt die Unterscheidung zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital. Drittens gibt es starke Tendenzen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst, die Qualitäten des Ästhetischen wie Kreativität und Improvisation direkt als Ideale realer gesellschaftlicher – zumal ökonomischer – Prozesse vereinnahmen und geltend machen. Das Künstlertum hat es heutzutage also schwerer denn je, einen Gegenort oder einen Raum am Rande der gesellschaftlichen Wirklichkeit für sich zu beanspruchen, in dem nur ihre eigenen Regeln gelten sollten. Damit gerät die Rolle der Kunst als Gegenbild der bestehenden Gesellschaft in die Krise. Nicht viel besser ergeht es der Kunst aber im Hinblick auf die Rolle als Idealbild. Denn da die Gesellschaft sich seit einiger Zeit anschickt, gewisse Qualitäten, die die Kunst vorbildhaft verkörpert, geradewegs für sich zu beanspruchen, sinkt ihr Bedarf nach einem Idealbild, nach dem sie streben kann. Um zum Beispiel kreativ zu sein, bedarf es nach dieser Lesart nicht mehr des Künstlertums, vielmehr sollen hierzu alle ganz normalen Mitarbeiter_innen aufgefordert und in der Lage sein.

Vorwort

Diese übergreifenden Beobachtungen bleiben freilich pauschal, solange sie nicht von empirischen Erkundungen in der Welt der Künste begleitet werden, in denen sie hinterfragt, bestätigt, korrigiert oder ergänzt werden können. Solche Erkundungen werden in diesem Buch unternommen. Ein Soziologe und zwei Philosophen werten darin qualitative Interviews aus, die mit bildenden Künstler_innen und Designer_innen über ihr Arbeitsleben und ihre »Berufsethik« geführt worden sind. Es handelt sich dabei nicht um Stars der Szene, sondern um ganz »normale« Menschen, die aus der ästhetischen Praxis einen Beruf gemacht haben und insoweit darin erfolgreich sind, dass sie ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise damit bestreiten können. Gerade die Doppelperspektive auf die sogenannte freie und die sogenannte angewandte Kunst erscheint angesichts der beschriebenen Rahmenbedingungen vielversprechend. Denn wenn heute das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft im Allgemeinen und zwischen Kunst und Ökonomie im Besonderen starken Verwerfungen ausgesetzt ist, dann erweist sich die Frage als brisant, wie dieses Verhältnis von Vertreter_innen der freien und angewandten Künste jeweils verschieden erfahren, ref lektiert und praktisch bewältigt wird. Sie alle hoffen mehr oder minder ausdrücklich auf das Interesse von Käufer_innen oder Kund_innen. Dazu treten in wechselnder Gewichtung weitere Anerkennungsagenturen wie etwa Kolleginnen und Kollegen, Galerien, öffentliche Institutionen, Medien, Wissenschaft, das produzierende Gewerbe oder andere Auftraggeber. Diese Interaktionen stehen in einem spannungsvollen Zusammenhang mit der künstlerischen Aktivität im engeren Sinne, den alltäglich gemachten Erfahrungen, dem ästhetischen und handwerklichen Umgang mit dem Material und den darauf bezogenen Kriterien des Gelingens und Scheiterns. Die gemeinsame Basis, von der die Autoren dieses Buches ausgehen, sind rund zwanzig umfangreiche verstehende Interviews mit Künstler_innen, Schmuckdesigner_innen, Grafikdesigner_innen und Textilgestalter_innen, die auf der Basis minutiöser Transkriptionen und ausgiebiger gemeinsamer Diskussionen analysiert und kommentiert werden. Um eine gewisse Geschlossenheit des Untersuchungsgegenstands sicherzustellen, wurden nur Kreativarbeiter_innen aus der Schweiz befragt. Ein besonderer Reiz des Buches liegt – so hoffen wir – darin, dass in den einzelnen Kapiteln dieses Buches verschiedene disziplinäre Perspektiven kenntlich werden. Es ergibt sich eine Kombination soziologischer und philosophischer Perspektiven, in denen unterschiedliche methodische Prämissen zum Einsatz kommen und

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teils konvergierende, teils aber auch divergierende Lesarten generiert werden. Die geführten Interviews wie auch die Kapitel, die auf deren Basis entstanden sind, sind durchweg von dem Anspruch getragen, sowohl einen Einblick in den Arbeitsalltag von Künstler_innen und Designer_innen zu gewinnen, wie auch deren Selbstverständnisse zu erschließen. Es geht ganz konkret um die Fragen, wie sie leben und arbeiten, wie ihre Werdegänge, Geschäftsmodelle, beruf lichen und privaten Umfelder und ihre ökonomische Basis jeweils aussehen. Zugleich geht es darum, wie die Künstler_innen und Designer_innen ihr Leben und ihre Arbeit sehen, wie es also um ihre Lebensideale, ihr Berufsethos, ihre Erwartungen und Wünsche bestellt ist. So wird eine Brücke geschlagen von Atelier, Werkstatt und Büro zu den großen Themen der modernen Gesellschaft: Kreativität und Prekarität, Kommerzialisierung und Ästhetisierung, Entfremdung und Emanzipation. Dass es um solche großen Themen geht, deutet sich bereits in dem zugegebenermaßen etwas unbescheidenen Titel Kreativität als Beruf an. Die Anspielung auf Max Webers klassische Aufsätze Wissenschaf t als Beruf und Politik als Beruf soll natürlich nicht besagen, dass die hier versammelten Texte sich an ihnen messen lassen wollen. Es geht auch nicht darum, die von Weber bearbeiteten Fragen einfach auf die Welt der Künste zu übertragen. Einzelne Motive aus Webers Vorlagen lassen sich freilich auch auf den folgenden Seiten wiederentdecken: das Verhältnis zwischen Beruf und Berufung, das Schwanken des individuellen Handelns zwischen weltverändernder Absicht und – um Ausdrücke Webers zu gebrauchen – der Haltung der »Weltfeindschaft« oder des »Akosmismus« (Weber 1922, 807, 315), die Risiken, die sich bei Kreativberufen analog zum akademischen »Hasard« (Weber 1921, 418) ergeben, sowie schließlich der Befund einer geschlossenen wirtschaftlich-administrativen Welt, aus der kaum ein Entkommen ist. Dieses Buch beginnt ausnahmsweise mit zwei Einleitungen, die den Zweck erfüllen, die unterschiedlichen disziplinären Zugänge von Soziologie und Philosophie zu erläutern (Franz Schultheis und Christoph Henning). Darauf folgen vier Kapitel, in denen die qualitativen Interviews analysiert und kommentiert werden und die Gesprächspartner selbst ausgiebig zu Wort kommen. Dabei geht es zunächst um Werdegänge, also um die unterschiedlichen biographischen Zugänge zu den Berufsbildern in den freien und angewandten Künsten (Franz Schultheis). Darauf folgt ein Kapitel zur soziologischen Analyse des Berufsbilds der Kreativarbeit, also des Status

Vorwort

von Künstler_innen und Designer_innen in der Gesellschaft, der zwischen Prekarität und Ausnahmestellung schillert (Franz Schultheis). Im Anschluss daran wird die besondere Art des Arbeitens und Lebens von Menschen in künstlerischen und kreativen Berufen auf den politisch-philosophischen Prüfstand gestellt (Christoph Henning) sowie deren Lebensform im Lichte ästhetischer und sozialphilosophischer Theorien analysiert (Dieter Thomä). Wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen, Dank zu sagen. Die Arbeit an diesem Projekt begann dank der Förderung des Profilbereichs »Kulturen – Institutionen – Märkte« (KIM) der Universität St. Gallen – und zwar zu einer Zeit, als alle drei Autoren noch an dieser Universität tätig waren und u.a. im KIM-Forschungsverbund »Transformationen der Arbeitswelt« kooperierten. Der größte Dank gilt Patricia Holder, die im Team mit Christoph Henning die Kontakte mit den Gesprächspartner_innen hergestellt, die Interviews geführt und teilweise transkribiert hat, sowie in vielfältiger Weise am Diskussions- und Redaktionsprozess, der zu diesem Buch geführt hat, beteiligt war. Christoph Henning dankt ihr für die Ausdauer bei den Interviews und die Diskussionen des Materials. Franz Schultheis dankt ihr besonders nachdrücklich für ihre stets stilsichere und inhaltlich kompetente Bearbeitung seiner Manuskripte. Julia Krättli sei gedankt für Hilfe bei den Transkriptionen und für die präzise Dokumentation der Gespräche. Barbara Jungclaus und Lukas Peter vom Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen haben bei der Endredaktion wichtige Hilfe geleistet. Der Grundlagenforschungsfonds der Universität St. Gallen hat den Druck dieses Buches mit einem großzügigen Beitrag möglich gemacht. Ein besonderer Dank gilt den in diesem Buch zu Wort kommenden Bewohner_innen der Welt der Künste für die Zeit und den Vertrauensvorschuss, die sie uns für dieses Projekt geschenkt haben.

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Soziologische Einleitung Das Feld der Kreativarbeit: Geschichte, Strukturen, Akteur_innen, Praxen Franz Schultheis Der kreativ Tätige, allen voran der Künstler, inkarniert in unserer »Gesellschaft der Individuen« (Elias 1991) auf geradezu idealtypische Weise den Anspruch auf Authentizität, Unverwechselbarkeit der Persönlichkeit und die stetige Arbeit an deren Verwirklichung und Vervollkommnung. Hiermit ist er gewissermaßen zu einem tonangebenden Leitbild für breite Bevölkerungsschichten, insbesondere die bildungsnahen neuen Mittelschichten, geworden.1 Seine charakteristische Distanz zur Normalität der alltäglichen Lebensführung beschert ihm ein aus dieser Außeralltäglichkeit und sozialen Distinktion erwachsendes Charisma und eine Noblesse der Erhabenheit über den vulgären Materialismus der kapitalistischen Rechenhaftigkeit und Geschäftigkeit, die schon als solche für viele Zeitgenoss_innen ein starkes Motiv für einen an diesem Modell orientierten biografischen Entwurf darstellen. Kehrseite der Medaille ist die schon sprichwörtliche Brotlosigkeit dieser gesellschaftlichen Existenz für viele ihrer Adept_innen: Die ostentative Distanz zur von ökonomischem Interesse getriebenen Markt- und Erwerbsgesellschaft geht einher mit dem verbreiteten Los sozioökonomischer Prekarität und Randständigkeit, mag beides auch noch so romantisch verklärt und euphemisiert sein.

1 Wie bereits in einer vorausgehenden Studie (vgl. Schultheis u.a. 2010) gezeigt wurde, besitzen Problematiken von »Kreativberufler_innen« wie (Selbst-)Verwirklichung und Anerkennung bei Beschäftigten verschiedenster Sektoren eine hohe Relevanz. Auch die Tendenz zur Zunahme der Brüchigkeit von Arbeitsbiografien lässt den Verweis auf die prekäre Künstlerexistenz zu (Lohr/Nickel 2005).

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Dieses Janusgesicht der kreativen Berufe und die mit ihnen einhergehenden kognitiven und moralischen Ambivalenzen und Dissonanzen, wie auch die jeweiligen Strategien des Umgangs mit ihnen, wären schon als solche ein reizvolles Thema für die Soziologie. Angesichts der postulierten Bedeutung dieser Existenzform als wirkmächtiges Leitbild jedoch bietet sich hier darüber hinaus auch eine privilegierte Gelegenheit zu einer grundlegenden Gesellschafts- und Zeitdiagnose unserer spätkapitalistischen Ära und ihres »Geistes«.

1. Sozialtheoretische Perspektiven Verstehen heißt für den Soziologen in Anlehnung an Max Weber zuerst, die Dinge in ihrem »So-und-nicht-anders-Gewordensein« nachvollziehbar zu machen. Gemäß dieser erkenntnistheoretischen Haltung wird sich auch unser Versuch einer gesellschaftsdiagnostischen Verortung des Gegenstands »Kreativberufe« zunächst einer – notwendigerweise skizzenhaften – Rekonstruktion der Soziogenese und der gesellschaftlichen Position und Rolle dieser Berufsgruppe bedienen, bevor wir die gewonnenen empirischen Befunde zu den Selbstverhältnissen bzw. dem milieuspezifischen Habitus für eine soziologische und philosophische Annäherung und Deutung nutzen. Dies dient auch dem Zweck, die in den qualitativen Interviews zum Ausdruck kommenden subjektiven Erfahrungen und Deutungen in ihrem gesellschaftlichen Eingebettetsein zu zeigen, d.h. in ihren sozialstrukturellen Spezifika von Existenzbedingungen, Lebensstilen, kulturellen Habitus und Selbstverhältnissen. So wird nicht zuletzt der Gefahr vorgebeugt, diese individuellen Stellungnahmen zu psychologisieren, statt sie gerade auch als Manifestationen kollektiver Dynamiken zu begreifen. Was treibt immer mehr Zeitgenoss_innen dazu, einem so offenkundig ungewissen Lebensentwurf nachzueifern? Bei der Beantwortung dieser Frage hätte die Psychologie gewiss ein Wort mitzureden. Es schiene uns jedoch verfehlt – mag man dies auch als déformation professionelle oder gar Anspruch auf Deutungshoheit des Soziologen auslegen –, diese biografischen Entscheidungen und die ihnen zugrundeliegenden Dispositionen zu individualisieren. Im Sinne der Arbeiten von Norbert Elias lassen sie sich vielmehr als epochenspezifische Ausprägung des zivilisatorischen Habitus bzw. der spätmodernen Form von Individualität und subjektivem Selbstver-

Soziologische Einleitung

hältnis deuten.2 Man kommt deshalb nicht umhin, unsere zeitdiagnostische Frage in eine longue durée einzubetten und die Etappen der sukzessiven gesellschaftlichen Hervorbringung dieser Realität zu identifizieren, die für ein Verständnis des Status quo relevant sind. Wie auch in den vorausgehenden Phasen wird dieser »Prozesses der Zivilisation« maßgeblich durch Innovationen in den Selbsttechniken gesellschaftlicher Eliten vorangetrieben. Im 16. Jahrhundert war es der Adel, der an der Spitze dieser gesellschaftlichen Transformationen des Habitus stand: domestizierte und vom königlichen Monopolmechanismus zu abhängigen Höf lingen transfigurierte freie Ritter, die beim Kampf um Ehre und Status das Schwert durch die sich stets verfeinernde Etikette ersetzen mussten. Ihnen folgten ab dem 19. Jahrhundert bürgerliche Eliten in den zwei bekannten Spielarten als kapitalistische Unternehmer_innen und Freiberuf ler_innen hier und Kultureliten dort. Grob skizziert lässt sich dann mit dem Auf kommen einer neuen Mittelschicht ab der Nachkriegszeit von einer neuen Ära in diesem Langfristprozess sprechen. Ihr dominantes Muster der Status-Beanspruchung und der Legitimation basiert auf der Produktion und Reproduktion von kulturellem Kapital. Die von den Eliten der vorausgehenden Epoche sukzessive entwickelten Formen des zivilisatorischen Habitus, beruhend auf zunehmend komplexen Kompetenzen der Selbstbeobachtung, -kontrolle und -disziplin und stetig gesteigerter Ref lexivität der Selbstverhältnisse, erfahren hier eine wachsende Breitenwirkung, um nicht vereinfachend von »Demokratisierung« zu sprechen. Dank der in den 1960er-Jahren in allen bürgerlichen Gesellschaften einsetzenden Bildungsexpansion partizipieren neu immer breitere Bevölkerungsschichten an diesem Prozess stetiger Subjektivierungs-Arbeit und Individualisierung. Der im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte kollektive Habitus des Entrepreneurship im Bereich ökonomischen Handelns wird nun ebenso wie die seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausgeformte Sozialfigur des »Künstlers« respektive des »Intellektuellen« zu einem der 2 Die nachfolgend holzschnittartig skizzierte soziohistorische Rekonstruktion weiß darum, dass es verwegen ist, auf beschränktem Raum und mit bescheidenen Mitteln ein Narrativ der komplexen Zusammenhänge zu bieten, die zum verstehenden Nachvollzug der anvisierten zeitgenössischen Konfiguration notwendig sind. Noch verwegener wäre es indes, völlig voraussetzungslos in eine Zeitdiagnose der Gegenwart einzusteigen und spontansoziologisch, ohne soziohistorisches Verstehen, über die hier interessierenden gesellschaftlichen Tatbestände zu theoretisieren.

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Leitbilder für die sozial aufsteigenden Vertreter_innen der Mittelschichten. Während sich für die Welt des bürgerlichen »Berufsmenschentums« (Weber) das meritokratische Modell der Legitimation von beanspruchtem Status auf breiter Front durchsetzt und Zugangsbarrieren in Form staatlich reglementierter und zertifizierter Diplome maßgeblich sind, handelt es sich bei der Sphäre der Kunst um ein gesellschaftliches Feld mit relativ geringem Institutionalisierungsgrad. Hier eröffnen sich Wege zu einer gesellschaftlichen Karriere auch für jene, die den sozialen Aufstieg über den schulischen Meritokratismus scheuen, an ihm scheitern oder aufgrund defizitärer Ausstattung mit den für ihn kennzeichnenden Kapitalien – Herkunft aus bildungsnahen und/oder materiell privilegierten Herkunftsfamilie – auf andere Strategien der gesellschaftlichen Reproduktion angewiesen sind. Zugleich erweist sich die Sphäre kultureller Produktion aufgrund der nun mehr und mehr zum zivilisatorischen Mainstream werdenden bürgerlichen Kulturbef lissenheit als privilegierter Ort der Gewinnung von Anerkennung, Reputation und gesellschaftlicher Legitimität, also symbolischen Kapitals, was in nicht geringem Maß zur Attraktivität eines Lebens- und Selbstentwurfs unter den Auspizien kultureller Arbeit im Allgemeinen und künstlerischen Schaffens im Besonderen beigetragen haben dürfte. Hinzu kommt, dass die seit dem Zweiten Weltkrieg in unseren modernen welfare cultures ausgebauten sozialen Sicherungssysteme wie auch Formen der Kultur- und Kunstförderung ein vergleichsweises akzeptables Niveau der Daseinssicherung selbst in prekären Erwerbsstrukturen bereitstellen. Doch dies ist nur eine Seite eines komplexen zivilisatorischen Prozesses mit einer Vielzahl an weiteren interdependenten Dynamiken. Liefert uns die Lektüre der klassischen Studie von Norbert Elias Über den Prozess der Zivilisation (1976) wie auch komplementär der von Max Weber geleisteten Rekonstruktion der Emergenz und Entwicklung des »Geistes des Kapitalismus« den Zugang zu einem Verständnis der Genese eines zivilisatorischen Habitus aus der gesellschaftlichen Dynamik einer Statuskonkurrenz mit und um soziale Distinktion von Eliten, so eröffnet uns die von Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) überzeugend rekonstruierte Entfaltung eines »neuen Geistes des Kapitalismus« eine geeignete Fortschreibung dieser Gesellschaftsdiagnose für das spätbürgerliche Zeitalter bis heute. In der nachfolgenden soziogenetischen Herangehensweise geht es gewissermaßen um eine Archäologie der Gegenwart, welche die ihr vorausgehenden und in historischen Sedimentierungen weiterhin präsenten kol-

Soziologische Einleitung

lektiven Errungenschaften – Strukturen, Repräsentationen, Praxen und Habitus – detaillierter ausleuchtet. Ergänzt werden die soziologischen Zeitdiagnosen hierfür durch Diskurse rund um das Thema »Kreativwirtschaft«, Creative Class und Creative Cities, in denen der Boom der Kreativberufe aus makroökonomischem Blickwinkel und stadtsoziologischer Sicht betrachtet wird, sowie durch eine Auswahl an relevanten sozialstatistischen Indikatoren zur jüngeren Entwicklung dieser Berufswelt. Ziel ist nicht zuletzt eine Rekonstruktion der Metamorphosen gesellschaftlicher Verhältnisse, deren aktuell beobachtbare Phänomene zwar phänotypisch gesehen radikal »neu« erscheinen, jedoch genotypisch betrachtet in historisch langfristig herauskristallisierten gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Handlungsmustern wurzeln.

2. Das Ethos der Kreativität und das Unbehagen im Geist des Kapitalismus Seit ihrer Geburt im frühen 19. Jahrhundert leistet sich die bürgerliche Gesellschaft den Luxus, die Kritik an sich selbst zu nähren und zu organisieren. Parallel zur Entwicklung der für sie kennzeichnenden utilitaristischen Vernunft und profitorientierten Marktvergesellschaftung entstehen subkulturelle Gegenentwürfe und utopische Gegenwelten, in denen die herrschenden materiellen Werte radikal in Frage gestellt werden. Wie Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer Studie Der neue Geist des Kapitalismus (Boltanski/Chiapello 2003)3 rekonstruieren, präsentiert sich seit den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die entstehende Kritik am Prozess der Modernisierung in seinen zwei zentralen Spielarten, dem Geist des Kapitalismus und der bürokratischen Rationalität, einerseits als Sozialkritik (Frühsozialismus, Marxismus und Arbeiterbewegung), andererseits als Künstlerkritik (Boheme 3 Der Titel verweist auf Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, die klassische soziologische Studie Max Webers, die hier in gewisser Weise fortgeschrieben und à jour gebracht werden soll. Hatte Max Weber ursprünglich die Absicht, im Titel vom »kapitalistischen Habitus« zu sprechen, so kann man demnach mit einiger Berechtigung im Folgenden auch vom »neuen Habitus des Kapitalismus« sprechen, also einem Ensemble an mentalen, ethisch-moralischen, ästhetischen und verhaltensmäßigen Dispositionen, das für den zum modernen homo oeconomicus mutierenden »Typus Mensch« (Weber) mehr und mehr kennzeichnend werden sollte.

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und l’art pour l’art). Diese beiden verschwisterten Formen antibürgerlicher Weltanschauung, die sich bis zum heutigen Tag als eine Art gesellschaftskritisches Grundthema in unterschiedlichsten soziohistorischen Varianten mit unglaublicher Beharrungskraft behaupten, nehmen je auf andere Art und Weise den Bourgeois zum Bezugspunkt: Ihre Gegenentwürfe verkehren einerseits das Ausbeuterische und Profitorientierte des homo oeconomicus in solidarische und egalitäre Idealvorstellungen, andererseits sein kalkulierendes und geiziges Krämerseelendasein in Utopien eines zweckfreien Schöpfertums. Gemeinsam ist beiden Kritiken, dass sie wesentlich bei bestimmten Fraktionen der bürgerlichen Klasse, insbesondere bei ihrer Jugend, eine Art wahlverwandter Grundbefindlichkeit anzutreffen scheinen. Als Ausdruck eines Unbehagens an der Marktökonomie ist die Kapitalismuskritik ebenso alt oder jung wie der Geist des Kapitalismus selbst und formt im Zusammenspiel mit ihm eine für die Moderne spezifische dialektische Dynamik. Dieses Janusgesicht des Bürgertums, Bourgeois und Citoyen, Mr. Hyde und Dr. Jekyll, profitorientierter Unternehmer und ostentativer Verschwender von materiellem Reichtum für immaterielle kulturelle Güter, schlug sich historisch in der Koexistenz unterschiedlicher, ja oft geradezu antagonistischer gesellschaftlicher Felder nieder, in denen Individuen mit Leib und Seele ein je spezifisches Spiel spielen, je unterschiedlichen Spieleinsätzen nacheifern und sich wie selbstvergessen einem Spielsinn für ein je besonderes Spiel hingeben, ganz so als gäbe es für sie keine Alternativen dazu. Das Feld der Kunst im engeren und jenes der Kulturproduktion im weiteren Sinne dieser Narration nährt sich augenscheinlich seit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft aus einem Ekel vor der vermassten, nivellierten und geistig verf lachenden modernen Arbeitsgesellschaft. Er schien zunächst hauptsächlich Mitglieder eben dieser Bourgeoisie zu befallen, die in die Fußstapfen des Adels zu treten und die Aura einer von materiellen Zwecken befreiten Existenz wiederzubeleben suchten. Im postheroischen Zeitalter der »Bildungsdiplommenschen« (Max Weber) können wohl Mythen vom spezifischen Charisma und Genius der Heroen vergangener Tage nur noch in der gesellschaftlichen Enklave der Zweckfreiheit und Reinheit künstlerischen Schöpfertums bzw. in wahlverwandten Bereichen wie der wissenschaftlichen Gelehrsamkeit überdauern. Mit der Entstehung klassenmäßig organisierter Hochkulturen ging von Beginn an eine grundlegende Missachtung von Arbeit im Allgemeinen und von Lohnarbeit im Besonderen einher, die auch in Zeiten der protestanti-

Soziologische Einleitung

schen Arbeitsethik des kapitalistischen Geistes in verwandelter Form weiterwirkt: Noblesse und Vornehmheit sind nach diesem Weltbild nicht mit einem Broterwerb zu vereinbaren, der das Individuum zum Mittel Anderer macht und Notwendigkeiten unterwirft, anstatt freier Selbstzweck zu bleiben. Nur eine Form der Aktivität, welche zweckfreies Schöpfertum voraussetzt und inkarniert, nämlich künstlerische Praxis, erscheint hier als würdig, und folgerichtig entwickeln sich insbesondere seit dem frühen 19. Jahrhundert Künstler_innen und Kulturschaffende zu Leitfiguren der gesellschaftlichen Repräsentation der tätigen Selbstverwirklichung und Kritik am Habitus des stumpfen Arbeitnehmers im stahlharten Gehäuse bürokratischer Hörigkeit. Parallel zur Kapital besitzenden Bourgeoisie formierte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine zweite Klassenfraktion, von Weber (1922, 178) neben den Unternehmer_innen den »positiv privilegierten Erwerbsklasse[n]« zugerechnet, weil mit »bevorzugten Fähigkeiten ausgestattet«, gekennzeichnet durch die Verfügung über hohes kulturelles Kapital, sei es in inkorporierter Form als Kompetenz, Wissen, Virtuosität und Geschmack, sei es in Gestalt von Diplomen und Titeln als staatlich verbürgten Formen kulturellen und zugleich symbolischen Kapitals. Diese »alternative« Form bürgerlicher Existenz hatte bis in die Nachkriegszeit den Charakter eines gesellschaftlichen Privilegs gegenüber sowohl den arbeitenden Klassen als auch den Geld-schöpfenden, einem vulgären Materialismus ergebenen Mitbürger_innen. Man konnte sich in der Regel eine solche Existenz in einem Reich jenseits der Notwendigkeiten erlauben, weil man von jenen unterstützt wurde oder erbte, die sich gerade in diesen materialistischen Niederungen des Geschäftslebens tummelten. Man konnte der Zweckfreiheit huldigen, weil man sich als Rentier nicht selbst die Hände schmutzig machen musste. Die Pioniere des professionellen Kulturschaffens gehören demnach entgegen ihres antibürgerlichen Gehabe sozialmorphologisch gesehen zu den herrschenden Klassen, selbst wenn sie dies nach Pierre Bourdieu beharrlich leugnen und ja auch nur deren beherrschte Fraktion bilden. Ihre Strategie der unermüdlich propagierten Umwertung der Werte mit einem Anspruch auf ethische Überlegenheit spiritueller Größe gegenüber jener der irdischen Güter brachte sich in dem selbstbewusst in Haltung und Lebensstil demonstrierten dégoût gegenüber dem vulgären Materialismus und Utilitarismus ihrer ökonomisch privilegierten Brüder und Schwestern jedoch nachdrücklich und hartnäckig zur Geltung.

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Exkurs: Honoré de Balzacs Hymne auf den kreativen Müßiggang und die Noblesse des Künstlers Honoré de Balzac lieferte 1830 in seiner Physiologie des eleganten Lebens nicht nur einen Katalog der Etikette für Eliten im Nouveau Régime des bürgerlichen Zeitalters und der ihnen angemessenen Regeln sozialer Distinktion, sondern zugleich auch eine für den Status des Künstlers innerhalb dieser Eliten als Hybrid zwischen Müßiggang des Adels und aktivem Leben der Werktätigen programmatische Definition und Legitimation: Der Künstler ist eine Ausnahme: »Sein Müßiggang ist Arbeit, und seine Arbeit Erholung; er ist elegant und nachlässig je nach Fall, er kleidet sich je nach Laune mit dem Mittel des Arbeitens oder entscheidet sich für den Frack des Mode-Mannes. Er unterliegt keinen Gesetzen – er oktroyiert sie. Ob er damit beschäftigt ist, nichts zu tun oder ein Meisterwerk ausbrütet, ohne beschäftigt zu wirken ... ob er nur zweieinhalb Centimes sein Eigen nennt oder Gold mit vollen Händen um sich wirft, er ist immer Ausdruck eines großen Gedankens und beherrscht die Gesellschaft.« (Balzac 1830, 188; Übersetzung Franz Schultheis) Honoré de Balzacs Steckbrief des Künstlers als Ausnahmeerscheinung stellt selbst ein Hybrid dar. Auf der einen Seite handelt es sich um ein Manifest eines für die bürgerlichen Kultureliten kennzeichnenden »Pathos der Distanz« (Nietzsche) und des legitimen Anspruchs, Teil der gesellschaftlich herrschenden Klasse in den Fußstapfen der Noblesse des Ancien Régime zu sein. Der Begriff des »eleganten Lebens«, der in der Juli-Monarchie (1830−1848) zum Leitmotiv des Selbstverhältnisses wie auch der Selbstinszenierung der Bourgeoisie wurde, zielt direkt auf die Distinktion einer leisure class (Veblen 1915) avant la lettre. Auf raffinierte Weise vollzieht Balzac hier die Nobilitierung der künstlerischen Tätigkeit, indem er sie vom Geruch der Notwendigkeit und des Mittels zum Zweck der Daseinssicherung befreit und dem Lebensstil des Müßiggangs zuordnet. Der Künstler erscheint hier als »Nomothet« (Barthes), der sich selbst Gesetze gibt und über die Notwendigkeiten und Abhängigkeiten der Normalsterblichen erhebt. Auf der anderen Seite liefert uns dieses janusgesichtige Porträt des Künstlers eine quasi-soziologische Definition von den in dieser Periode emergenten Klassenstrukturen und dies nicht von ungefähr – Balzac wird ja zehn Jahre später, im Prospekt seiner großen Comédie Humaine, selbst den gerade von Auguste Comte erfundenen Titel »Sociologue« übernehmen und

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sich als »Docteur-ès-sociologie« zu eigen machen. Die in seinem Essay gebotene Gesellschaftsanalyse unterscheidet drei Klassen, um im Sprachgebrauch dieser Zeit und ihrer frühsozialistischen Diskurse zu bleiben. Eigentlich wäre das Konzept »Stand« angemessener, da es Balzac ja um ein Ethos und Formen sozial distinktiver Lebensführung geht, also nicht um »rein ökonomisch bestimmte Klassenlage«, sondern »eine typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifisch positive oder negative Einschätzung der ›Ehre‹ bedingt ist, die sich um irgendeine Eigenschaft vieler knüpft« (Weber 1922, 635). In dieser Gesellschaftsdiagnose erscheint der arbeitende Mensch als für »elegantes Leben« und den Status des »Ehrenmannes« ungeeignet: »Der an Arbeit gewöhnte Mensch kann das elegante Leben nicht verstehen. […] Um fashionable zu sein, muss man Erholung genießen, ohne den Umweg über die Arbeit zu gehen.« (Balzac 1830, 188; Übersetzung: Franz Schultheis)4 Wir finden also bei Balzac im Jahre 1830 eine Art Manifest, das die Baudelaire zugeschriebene Gründungsakte des L’art pour l’art der freien Kunst vorwegnimmt und in einer Mischung von selbstbewusster Unabhängigkeitserklärung und elitärem Herrschaftsanspruch hier und sozioanalytischer Beschreibung eines neuen gesellschaftlichen Regimes dort eine originelle Radiografie emergenter sozialer Ordnung bietet.5 Nur zwei Jahrzehnte später wird die »impressionistische Revolution« (Bourdieu 2015, 242) das revolutionäre Programm Balzacs in Taten umsetzen und die Idee eines gesellschaftlichen Feldes der Kunst als gegenüber der Ökonomie relativ autonomer Sphäre durchsetzen.

4 Bezeichnenderweise schließt Balzacs Definition des Künstlers als Träger eleganter Lebensform den mit Hammer und Meisel hantierenden Bildhauer im Blaumann aus. 5 Mit Walter Benjamin kann man hier daran erinnern, dass just zu der Zeit, als Balzac dieses Manifest schrieb, die »Mode« auf die Bühne der Weltgeschichte trat, erstmals Werbung das Stadtbild von Paris prägte, die Warenwelt mit Marken ausgestattet wurde und die moderne kapitalistische Warenästhetik ins Licht der Welt rückte. Die enge, wenn auch spannungsreiche Beziehung zwischen Kunst und Warenfetischismus nahm hier ihren Ausgang und hat sich bis in unsere Gegenwart zu einer wechselseitigen Durchdringung und Verschmelzung entwickelt. Nach Mitte des 19. Jahrhunderts sollten sich dann rund um den Kristallisationskern der »reinen« Kunst immer weitere Kreise an kreativwirtschaftlichen Tätigkeitsfeldern andocken, wie es etwa die Epochen und Stile Art Nouveau oder Art Déco prototypisch vor Augen führen.

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3. Die Emergenz eines künstlerischen Feldes und die Selbst(er)findung des freien Künstlers Die nachfolgenden soziohistorischen Rekonstruktionen6 gehen von der These aus, dass heutige Selbstverhältnisse und -verständnisse von Künstler_innen sich in der Entstehungsphase des künstlerischen Feldes herauskristallisierten, und dass sich dieser historische Kern eines sozial distinktiven ständischen Ethos und Habitus zu einem dauerhaften und wirkmächtigen soziokulturellen Muster der Lebensführung und der gesellschaftlichen Positionierung von Eliten in Abgrenzung vom bürgerlichen »Berufsmenschentum« (Weber) entwickelte. Beim Versuch einer solchen historischen Rekonstruktion geht es nicht zuletzt um eine Art Sozioanalyse des kollektiven Unbewussten: Die im heutigen Feld der Kreativarbeit engagierten Zeitgenoss_innen sind sich ja nicht unbedingt dieses kollektiven Erbes, des gemeinsamen historisch in langwierigen Durchsetzungsprozessen hervorgebrachten Sockels ihrer gesellschaftlichen Bühne und Rollen bewusst. Angesichts der in diesem Feld markant zutage tretenden Subjektivierungstendenzen, ja der Selbstbezüglichkeit im Umgang mit dem eigenen Anspruch auf Singularität liegt zudem die Vermutung nahe, dass sie auch nicht unbedingt ein Interesse an der Einbettung ihrer Selbstverhältnisse in kollektive Prozesse und Daseinsformen zu haben brauchen. Wie Emile Durkheim betonte, ist die »Geschichte das Unbewusste«, und zum Verständnis der Möglichkeitsbedingungen einer so »unwahrscheinlichen« Sozialfigur wie der des Künstlers bedarf es der De- und Rekonstruktion ihrer »Erfindung« und Durchsetzung. Mit Bourdieu (2015) lässt sich die Logik dieses Prozesses als ein komplexer Wechselwirkungszusammenhang zwischen der sich herauskristallisierenden »generativen« Struktur des Projektes einer freien und reinen Kunst – also der Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata, die dieses Projekt hervorbringen – und dem »sozialen« Kontext seiner Entstehung begreifen. Bourdieu situiert sie im Frankreich, bzw. konkreter: in der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Benjamin), im Paris des 2. Kaiserreichs, und thematisiert sie am Fall der »impressionistischen Revolution«, der, wie Bourdieu es nennt, »heroischen« Phase der Entstehung des künstlerischen Feldes (Bourdieu 2015). Dabei begreift er die spezifische 6 Dieses Kapitel bedient sich der gemeinsam mit Stephan Egger geleisteten Editionsarbeit an Bourdieus Schriften (vgl. z.B. Bourdieu 2011, Egger/Schultheis 2011).

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Position der Heroen im sozialen Raum, allen voran Manet, Baudelaire und Flaubert, als treibendes Moment in diesem Prozess der Wechselwirkung von »generativer« Struktur des ästhetischen Projekts und »sozialen« Grundlagen seiner Möglichkeitsbedingungen. Zu diesen soziohistorischen Möglichkeitsbedingungen zählen vor allem der massive industrielle Aufschwung des Kaiserreichs und damit einhergehend eine beachtliche Ausweitung der »bürgerlichen Bevölkerungsschichten« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weiterhin die mit wachsendem Selbstbewusstsein auf die historische Bühne tretende Sozialfigur des »Bourgeois«, der großen Industriellen und Kauf leute, die innerhalb kurzer Zeit zur ökonomisch herrschenden Klasse werden. Dazu gehört die von Napoleon III. propagierte Losung enrichissez-vous als Credo des Zeitgeistes, begleitetet vom Luxuskonsum und ostentativer Verschwendung. Die vie élégante – ein seit den 1830er-Jahren in Frankreich gängiger Begriff – wird zum Lebensstil der privilegierten Klasse, tritt zeitgleich mit jenem der Mode auf die Pariser Weltbühne und begleitet die von nun an stetig an Bedeutung gewinnende Ästhetisierung und Stilisierung der distinktiven bourgeoisen Lebensform. Zu erwähnen sind hier auch der ebenfalls zeitgeistprägende bzw. -geprägte Anspruch »Il faut être absolument moderne« (Rimbaud), mit dem die künstlerisch-intellektuelle Elite ihren Fortschrittsglauben und ihre bei der Überwindung allen gestrigen zukommende Mission und Pionierrolle behauptete, sowie die Metamorphose des kaiserlichen Hofs zum Salon, wo sich traditionelle Standards »höfischer Gesellschaft« mit den Prätentionen großbürgerlichen Prestigestrebens von Industriellen, Finanziers und Verlegern, gesellschaftsfähig werdenden »bildungs- und kulturlosen« Neureichen, dem »Geldbürgertum«, zur sogenannten »Monde« vereinen. Diese Situation sticht massiv von jener des Salons im Ancien Régime ab: In den gelehrten Zirkeln und Clubs der aristokratischen Gesellschaft existierte trotz des grundsätzlich massiven sozialen Gefälles zwischen Künstler_innen und Adeligen und der unmittelbaren persönlichen Abhängigkeit Ersterer so etwas wie »kulturelle Virtuosität«; im Umgang mit Philosoph_innen, Dichter_innen, Maler_innen herrschte eine gewisse Generosität und Liberalität des savoir vivre. Im Unterschied zu diesem »alten Regime« adliger Liebe zu Kunst und Geist unterliegen ab jetzt auch kulturelle Güter aller Art einem Markt mit anonymen Abhängigkeiten und Zwängen der Marktgängigkeit und Massentauglichkeit, und die mondänen Beziehungen, die zuvor diese Anonymität relativieren konnten, werden neu vom »Geld« regiert. Künstle-

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rische Karrieren werden in dieser veränderten historischen Formation maßgeblich durch eine Allianz von Markt, Macht und Geld bestimmt. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Einf lussfaktor in Gestalt demografischer Veränderungen: Eine wachsende Masse an jungen Aspirant_innen erstrebt einen zweifachen gesellschaftlichen Aufstieg – aus den unteren und mittleren Klassen in die Elite sowie aus der Provinz nach Paris, in die Kapitale aller Kapitalen. Die Mitglieder dieser sozialen Gruppe wollen sich dort als Journalist_innen, Schriftsteller_innen oder Künstler_innen versuchen, nachdem verfügbare Stellen im Staatsdienst oder Chancen als Freiberuf ler wie Anwalt oder Notar knapp geworden sind. Hiervon ist der emergente nicht-industrielle Arbeitsmarkt restlos überfordert; er kann dieses Angebot nicht absorbieren.7 Es entsteht eine Art »diplomiertes Proletariat«, das die »normalen« Aufstiegswege versperrt sieht und sich hier als ein ganz neues soziales Segment bzw. Milieu auf engstem geografischen Raum in Paris konzentriert findet. Die kollektiv geteilte Erfahrung der Exklusion von den erhofften gesellschaftlichen Positionen und der Prekarität ihrer Lebensbedingungen scheint einen idealen Nährboden dafür zu bieten, die erlittene Frustration und Marginalisierung in Distanzierungen gegenüber der »bürgerlichen« Welt umzukehren. Mit der Geburt der sogenannten Bohème8 wird aus der erfahrenen materiellen Not die Tugend eines sich in Opposition zu allem, was mit »bürgerlich« assoziiert wird, setzenden Lebensstils. Man muss hier 7  Man darf darüber spekulieren, inwieweit die beachtliche Karriere der sogenannten Kreativberufe in unseren spätkapitalistischen Gesellschaften auch mit einer wachsenden Diskrepanz zwischen einer rasch wachsenden Population junger Menschen mit Bildungsdiplomen auf der einen, und einem stagnierenden Arbeitsmarktangebot zusammenhängen könnte. 8  Die Karriere dieses Konzepts zur Thematisierung eines ambivalent konnotierten gesellschaftlichen Milieus beginnt mit einem Roman von Charles Nodier Histoire du roi de Bohème et de ses sept châteaux aus dem Jahre 1829, einer Parodie auf Lawrence Sternes Sentimental Journey. Im Gefolge werden gesellschaftlich randständige und potentiell deviante bzw. gar gesellschaftlich gefährliche Gruppen in den 1830er-Jahren gerne als »Bohémiens« bezeichnet, aber allmählich macht dieser stigmatisierende Gebrauch des Konzepts einer neu konnotierten Begriffsverwendung Platz. Mit Bohème bezeichnet man nun ein emergentes soziokulturelles Milieu mit spezifischen Lebensstilmerkmalen (sexuelle Freizügigkeit, unkonventioneller Kleidungsstil, spezieller Soziolekt etc.). Henry Murgers Roman Scènes de la vie de bohème aus dem Jahre 1841 schließlich verhilft dem Begriff zum Status eines Gemeinplatzes zur Charakterisierung dezidiert »unbürgerlicher« Lebensführung.

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nicht auf Nietzsches Philosophie des Ressentiments rekurrieren, um nachzuvollziehen, welche sozialpsychologischen Dynamiken diesen Prozess einer kollektiven Umwertung der Werte vorangetriebenen haben. Dass sich hier kreative Kräfte des Ressentiments konstruktiv-kreativ in der Erfindung einer antibürgerlichen Gegenwelt zum Ausdruck bringen, ist dabei nicht als ein monokausales, also krude vereinfachendes Erklärungsmuster zu verstehen, sondern als Teil einer komplexeren Dynamik komplementärer Transformationsprozesse. Bei dieser hybriden Sozialformation sind klare sozialstrukturelle Verortungen schwierig. Von der materiellen Lage her gehört die Bohème mehrheitlich in die Kategorie »einfaches Volk«. Im Hinblick auf ihre Lebensweise und die Stilisierung und Inszenierung ihrer Lebensart bzw. Lebenskunst hingegen gibt sie sich auf eigene Art »aristokratisch«. War die Bohème zu Zeiten Balzacs noch maßgeblich durch die Figur des »Dandy« als »unkonventionellem« Vertreter des Großbürgertums oder der Aristokratie geprägt und als eine Art »schwarzes Schaf« dieser privilegierten Klassen anzusehen, tritt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts neu eine Masse von »Bohemiens« einfacher Herkunft auf den Plan, eine Art kulturelle Reservearmee, die gezwungen war, sich mit Gelegenheitsarbeiten im Bereich der Kulturproduktion über Wasser zu halten. Hier treffen diese hauptsächlich aus der Provinz migrierenden Bildungsaufsteiger_innen bescheidener Herkunft auf deklassierte Abkömmlinge des Bürgertums, arme Verwandte des Großbürgertums, besitzlose »kleine« Adlige, Ausländer_innen oder Angehörige stigmatisierter Minderheiten. Dieses Gemisch bildet den Nährboden für die exotisch bunt gemischte libertäre Alltagskultur dieses Milieus. Die Existenz der Bohème als soziokulturelles Milieu enthält schon in ihrem Kern eine Verweigerung der gegebenen Ordnung und ihrer Normen. Diese Haltung radikalisiert und konkretisiert sich in dem historischen Moment, wo sich Literat_innen wie Baudelaire, Sand und Flaubert den Regeln des literarischen Marktes, seinen Erfolgsrezepten wie dem Publikumsgeschmack des Bürgertums und den Sirenen-Rufen der etablierten Weiheanstalten verweigern, und Vertreter_innen der bildenden Künste – allen voran als eine Art exemplarischer Prophet Manet – es ihnen gleich tun, indem sie gegenüber der bis dahin monopolistisch agierenden Akademie der Künste und ihrem Salon, die über Zugehörigkeit und Ausschluss aus dem Zirkel anerkannter Künstler_innen, über Wohl und Wehe der Kunstschaffenden autoritär entschieden, in Opposition gehen und einen Salon des refusés mit

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einer Art von Kunst präsentieren, die mit den geltenden künstlerischen Konventionen bricht. Die Institution der Académie kontrollierte bis zu dieser Zeit unangefochten die Ecole des Beaux Arts, wo die Meister lehrten, und somit den Zugang zur »legitimen Kunst«. Sie wählte die Jury der offiziellen Salons, der Weiheinstanz anerkannter Künstler_innen, über die regelmäßigen offiziellen Ausstellungen. Ihre Diplome garantierten auch den Zugang zum Markt, der von der staatlich zertifizierten Kunst monopolisiert war. Angesichts eines solchen streng institutionalisierten Ausbildungsweges und einem allmächtigen Gatekeeper bei der Regulierung des Marktzuganges waren Opportunismus und Konformismus gegenüber bestehenden Hierarchien von Sujets wie religiöse Malerei, Historiengemälde und Landschaftsidyllen sowie klar kodifizierten ästhetischen Normen die Regel. Die impressionistische Revolte gegen die Unterwerfung und Instrumentalisierung von Kunst zielte auf formale Enthierarchisierung, auf Befreiung von vorgegebenen Perspektiven und Narrativen und beanspruchte für die Kunst einen völlig autonomen Raum des kreativen interpretativen Diskurses. Mit diesem Befreiungsschlag einher ging der gerade von Baudelaire anlässlich des Salons von 1846 für die Malerei propagierte Anspruch, unter dem Motto des L’art pour l’art eine ganz neue Art des Kunsterlebens, eine neue Lebensart und -kunst im Bruch mit dem bürgerlichen Lebensstil und seinen Werten zu lancieren. Die damit verknüpfte Unabhängigkeitserklärung beansprucht die Autonomie des Künstlers auf rein subjektive Kreativität aus seinem »Inneren« heraus und ohne Rücksicht auf vorgegebene ästhetische Normen und Hierarchien legitimer Motive: Die Künstler_innen begeben sich bewusst provokativ in Gegenlage zu den etablierten Konsekrationsanstalten und Pfründenhütern der staatlichen Subventionen – Stipendien und Preise – und reklamieren eine kulturelle Anarchie, die in Pierre Bourdieus Perspektive mit einer sich »institutionalisierenden Anomie« einhergeht. Was bleibt hier noch an Möglichkeiten der Existenzsicherung außer Pensionen aus dem Familienerbe für die privilegierten Abkömmlinge wohlhabender Familien und den monatlichen Wechseln, die der Stiefvater einem Charles Baudelaire zukommen lässt, als der Markt? Aber auch dem trotzen diese Kulturrevolutionär_innen, indem sie dem Bourgeois Kunstverstand, Geschmack, Erziehung des Herzens, Generosität und Kreativität – und somit jedwede Kompetenz eines legitimen Urteils über ihre Werke – absprechen. Bourdieu spricht

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in diesem Zusammenhang von einer »verkehrten ökonomischen Welt«, einer Ökonomie der Anti-Ökonomie: Die symbolische Revolution, mit der sich die Künstler von der bürgerlichen Nachfrage lösen, indem sie keinen anderen Herrn und Meister (ni Dieu, ni Maître) anerkennen wollen als ihre Kunst, bringt den Markt zum Verschwinden. Denn sie können im Kampf um die Kontrolle über den Sinn und die Funktion künstlerischer Tätigkeit über den ›Bourgeois‹ nicht triumphieren, ohne ihn zugleich als potentiellen Kunden abzuschaffen. In dem Moment, in dem sie mit Flaubert geltend machen: ›ein Kunstwerk ist nicht schätzbar, hat keinen Handelswert, kann nicht bezahlt werden‹, ist ohne Preis, das heißt: steht außerhalb der gewöhnlichen Logik der gewöhnlichen Ökonomie, entdeckt man, dass es tatsächlich ohne kommerziellen Wert ist, keinen Markt besitzt. Die Doppeldeutigkeit des Flaubertschen Satzes, in dem beides zugleich ausgesagt ist, fördert zwangsläufig jenen gleichsam infernalischen Mechanismus zutage, den die Künstler in Gang setzen, aber in dem sie auch gefangen sind: Indem sie selbst die Notwendigkeit entwickeln, die ihre Tugend ausmacht, sind sie stets dem Verdacht ausgesetzt, die Notwendigkeit zur Tugend zu erheben. (Bourdieu 1999, 118) Die verkehrte ökonomische Welt der Kunst, ein Produkt singulärer Art für einen atypischen Markt mit eigenen Regeln, geht einher mit dem Postulat, dass Kunst aufgrund ihrer Eigenart nicht als bloße Ware betrachtet und gehandelt werden darf, ein Paradoxon, das Bourdieu folgendermaßen beschreibend aufzulösen sucht: Als Handel mit Dingen, mit denen nicht zu handeln ist, gehört der Handel mit ›reiner‹ Kunst zu der Klasse von Praktiken, in der die Logik der vorkapitalistischen Wirtschaft überlebt (wie auf einer anderen Ebene die Ökonomie der Tauschbeziehungen zwischen den Generationen und, allgemeiner, der Familie und aller Beziehungen von philia). (Bourdieu 2001, 239) Dies ist aber nur eine von zwei Seiten dieses Widerspruchs: Als praktische Verleugnungen, die sie sind, bieten sich diese zwieschlächtigen, zweideutigen Verhaltensweisen zwei gegensätzliche, aber gleichermaßen falschen Lesarten an, die ihre wesentliche Dualität und Duplizität aufbrechen

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und sie entweder auf die Verleugnung oder das Verleugnete, entweder auf die Uneigennützigkeit oder auf den Eigennutz reduzieren […]. Die Herausforderung, die sie für alle Arten von Ökonomismus darstellen, besteht gerade in dem Faktum, daß sie sich in der Praxis – und nicht nur in den Vorstellungen – nur um den Preis einer steten und kollektiven Verdrängung des genuin ›ökonomischen‹ Interesses und der Wahrheit der Praxis, die die ›ökonomische‹ Analyse enthüllt, realisieren können. (Bourdieu 2001, 240) Mit dem zur unabdingbaren Tugend erhobenen antiökonomistischen Ethos des freien Künstlers einher geht ein noch größeres Ressentiment als jenes gegenüber dem Bourgeois: Es richtet sich gegen die kommerzielle, marktgängige Kunst, die grundsätzlich unter den Generalverdacht des Verrats an den ureigensten Prinzipien der Kunst fällt, als korrupt und anbiedernd erscheint. So ist dann die Spaltung des Feldes der Kunst der Moderne in zwei Sphären und die »antagonistische Koexistenz zweier Produktions- und Zirkulationsweisen, die entgegengesetzten Logiken gehorchen« (Bourdieu 1999, 228), schon in der spezifischen gesellschaftlichen Dynamik seiner Hervorbringung und Ideologie originär angelegt und wird von da an in mehr oder weniger radikaler Form die Entwicklung von Kunst, Ethos und Selbstverhältnissen ihrer Protagonist_innen prägen. Am einen Pol dieses dualen Feldes findet man eine antiökonomische Ökonomie der »reinen« Kunst, beruhend auf der Ablehnung der materiellen Ökonomie, des »Kommerziellen« und des (kurzfristigen) ökonomischen Profits und einen Typus von Kulturproduktion, der sich an der Akkumulation symbolischen Kapital, des einzig als legitim erachteten Form eines »Kapitals«, das langfristig durchaus ökonomische Profite abwerfen kann. Am Gegenpol entsprechend eine ökonomische Logik der »Kulturindustrie«, die den sofortigen und kurzfristigen Erfolg sucht, indem sie sich der »Nachfrage« der Kundschaft anzupassen sucht. Die radikal antiökonomische Haltung im Feld der »reinen« Kunst und ihre Verleugnungen der »ökonomischen« Dimension der Produktion und Zirkulation ihrer Güter beruht dabei notwendigerweise auf Verkennungen der sozioökonomischen Schwerkraft des künstlerischen Universums. Der Erfolg eines Künstlers, nicht zuletzt in den Händen von Kunsthändler_innen, bedingt, dass die Funktionsgesetze des Feldes praktisch beherrscht, also minimale Konzessionen an »ökonomische« Notwendigkeiten gemacht

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werden, auch wenn diese in der radikalen Ablehnung aller ökonomischen Rationalität seitens des Künstlerethos inakzeptabel erscheinen müssen. Diese grundlegende Zwiespältigkeit bedeutet also, dass die symbolischen wie ökonomischen Gewinne symbolischer Investitionen nur dann voll abgeschöpft werden können, wenn mit den ökonomischen Zwängen dieser verleugneten Ökonomie »gerechnet« wird. In der soziologischen Sicht Bourdieus auf das Feld und die Praxen der Kunst interessiert vor allem diese systematische »Verleugnung« von Realitäten, ohne die sich ihre Aura als eine gegenüber der profanen Vulgarität der kapitalistischen Warenproduktion befreiten, transzendenten Sphäre bzw. der Glaube an sie nicht hervorbringen und erhalten lassen. Diese Form »kollektiver Heuchelei« scheint zu den Spezifika gesellschaftlicher Felder zu gehören: »Zu den allgemeinen Merkmalen von Feldern gehört, dass in ihnen der Wettstreit um den Spieleinsatz verschleiert wird, dass hinsichtlich der Grundregeln des Spiels bestes Einverständnis besteht.« (Bourdieu 1999, 270) Spieleinsatz ist unserem Fall das Monopol auf die legitime Definition von Kunst, künstlerischer Qualität und Legitimität; die gefochtenen Kämpfe müssen die Frage nach ihrem Interesse »an sich« und »für sich« ebenso wie der Legitimität dieser Kämpfe gef lissentlich beiseitelassen. Soweit diese grobe Skizze einer soziohistorischen Rekonstruktion dieser – wie man es mit Benjamin formulieren könnte – »kollektiven Phantasmagorie« einer Sphäre zweckfreier, von der Schwerkraft der Sozialwelt und der Macht von König, Kirche und Kapital befreiten kreativen Tätigkeit. Die historische Wirkmacht und Prägekraft des sich hier herauskristallisierenden kollektiven Ethos wird im folgenden Kapitel bis in die Gegenwart verfolgt.

4. Tertiarisierung und Bildungsexpansion als Triebkräfte der Kulturalisierung spätkapitalistischer Gesellschaft Die Trente Glorieuses, die ersten drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, waren für die kapitalistischen Gesellschaften von Wirtschaftswunder, fordistischem industriellem Produktionsmodus, Babyboom und dem vereinfachten Zugang zu Wohlstand und wohlfahrtstaatlicher Sicherung für breite Bevölkerungsschichten geprägt. Auf diese Phase folgte in weitgehend allen westlichen Industriegesellschaften in erstaunlicher Paralleli-

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tät ein tiefgreifender ökonomischer und sozialstruktureller Wandel. Mit der schrittweisen Tertiarisierung der Wirtschaft einher geht die Mitte der 1960er-Jahre einsetzende Bildungsexpansion, die eine Öffnung des höheren Bildungswesens für die Kinder der Mittelschichten und bedingt auch für jene der sogenannten Volksklassen mit sich brachte. So kamen nun auch diese mit den höheren Dingen der bürgerlichen Kultur in Berührung und damit in den Genuss von symbolischen Gütern, die bis dahin nicht zum Spektrum des ihnen Möglichen und Erstrebenswerten gehörten. Dies schlug sich in einem grundlegenden Wandel der Rekrutierungsmuster des Feldes der Kulturproduktion und -konsumtion nieder, welches jetzt auch Individuen in seinen Bann schlug, die sich dies aufgrund ihres gesellschaftlichen Hintergrunds eigentlich nicht ›erlauben‹ konnten, das heißt nicht über die entsprechenden familialen Ressourcen und Zugangsmöglichkeiten verfügten. Es scheint ganz so, als ob eine besondere Attraktivität des Feldes der Kreativarbeit in seiner Offenheit und Unbestimmtheit liegt, d.h. in seinen potentiell unbegrenzten Möglichkeiten und Chancen. Die einem stetigen und raschen Wandel unterliegenden Tätigkeitsprofile entziehen sich ebenso wie die mit ihnen zusammenhängenden Statuspositionen herkömmlichen Kategorisierungen von Berufen und Klassen – oder schichtmäßigen Klassifikationen und Taxonomien. Diese Unbestimmtheit kann auch als Freiheitsspielraum für subjektive Selbstentwürfe wahrgenommen und mit einem Traum der »Schwerelosigkeit« (Bourdieu 2011, 183) einhergehen, welche die Sozialfigur des Intellektuellen ebenso wie jene des autonomen Künstlers seit ihrer Emergenz im 19. Jahrhundert kennzeichnet; ein Lebensgefühl, das dem Ethos der Pf licht der bürgerlichen Welt die Selbstverpf lichtung zur Selbstverwirklichung als vorrangig entgegenstellt. Nicht zufällig haben die ständig erneuerten und sophistizierten Selbsttechniken – von Leistungssport über Meditation, Yoga, (para-)religiösen Synkretismen aus Versatzstücken unterschiedlichster exotischer Weltanschauungen und Religionen, zu Selbstfindungstherapien und anderen Heilstechniken – in der Epoche der Bildungsexpansion Hochkonjunktur. Man könnte auch versucht sein zu spekulieren, ob nicht der Boom der Aspirant_innen auf kreative Tätigkeitsprofile selbst ein Ausdruck dieses Bedürfnisses nach Techniken der Subjektivierung und Identitätskonstruktion repräsentiert, für die sich ja hier ein schier unbegrenztes Reservoir und Repertoire bietet. Deren spezifische Qualität und Anziehungskraft aber läge dann im Umstand, dass der gesamte Lebensentwurf einer solchen Mission unterstellt wird, statt nur an den

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Rändern der alltäglichen Lebensführung – in der »Freizeit« oder als »Hobby«  – als »Ersatz« für das im normalen Alltags- und Arbeitsleben Unrealisierbare herzuhalten. Weiterhin sollte an dieser Stelle daran erinnert werden, dass das Phänomen eines massenhaften Bildungsaufstiegs in unseren postindustriellen Gesellschaften ja auch mit einem enormen Bedeutungsgewinn von Peer-Beziehungen gegenüber den familiären Bindungen einhergeht. Die intergenerationelle Mobilität, die sich typischerweise in einer Entfernung und Entfremdung vom Herkunftsmilieu und dessen Kultur niederschlägt, verstärkt wie schon zu Zeiten der Bohème die Prägekraft subkultureller Vergemeinschaftung und damit auch die von Zeitgeistströmungen getragenen Orientierungen und Werte gegenüber den – konservativen – Mustern familialer Tradierung. Die im urbanen studentischen Milieu im Alter adoleszenter Identitätskonstruktionen erfahrenen subkulturellen Vergemeinschaftungen gewinnen hierbei eine stetig wachsende Prägekraft, und die generationsspezifische »Entelechie« (Mannheim 1928) übertönt hierbei die Ordnungsrufe der Normalitätsvorstellungen der familialen Herkunftsmilieus und lässt neuen kollektiven Lebensentwürfen freiere Bahn. Für diejenigen, die nichts zu erben haben – weder ökonomisches Kapital noch familiale Ressourcen an Sozialkapital –, ebenso wie für »schwarze Schafe« arrivierter Familien, die in ihrer Bildungskarriere scheitern, eröffnet das Feld der Kreativarbeit einen Raum der potentiell unbegrenzt erscheinenden, faktisch – d.h. nach sozialstatistischer Probabilistik – natürlich sehr begrenzten Möglichkeiten. Der geringe Kodifizierungsgrad von Kunst als Beruf und den jetzt in ihrem Dunstkreis und Sog schnell expandierenden neuen Kreativberufe eröffnete dabei auch jenen, die in den institutionalisierten Bildungs- und Ausbildungswegen weniger erfolgreich und konkurrenzfähig waren oder gar scheiterten, Chancen auf Karrieren ganz anderer Art, sowie potentiell hohe symbolische Renditen auch bei nur relativ geringem zertifiziertem kulturellen Kapital. Die unglaubliche Vielfalt der sich im Feld der Kunst bietenden Positionen und Rollen macht es obendrein noch attraktiv für Adoleszente und Post-Adoleszente im Prozess der Identitätssuche.9 Zur Erweiterung tra9 Als traditioneller Gegenentwurf zum bürgerlich geprägten Konzept des Berufs und zur industriegesellschaftlich geformten Idee der Erwerbsarbeit war die Kunst bis weit über die 1970er kaum Gegenstand einer arbeitssoziologischen Betrachtung (Manske/Schnell 2010). Die damals etablierte Kategorie der »Kulturberufe« zeichnet sich auch heute noch dadurch

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ditioneller Berufsbilder wie das des Schreiners zu gentrifizierten Kreativberufen wie »Möbeldesigner_in« trug auch eine schrittweise Akademisierung über die sich rasch entwickelnden Fachhochschulen für Kunst und Kunsthandwerk bei. Waren die kunsthandwerklichen Berufe noch kleinbürgerlich-mittelständisch konnotiert, so scheint mit diesen Metamorphosen häufig gerade ein anti-kleinbürgerliches Lebensgefühl einherzugehen. Das sich hier relativ rasch herausformende soziale Milieu der Kulturschaffenden und Kreativen integrierte in seinen Lebensstil alle jene »illegitimen« Künste wie Fotografie, Comics, U-Musik, Film und später die digitalen Ausdrucksformen, die vom traditionellen Bürgertum geringgeschätzt wurden und gegenüber der Kultur der Unterschichten kein hohes Potential sozialer Distinktion beinhalteten. Parallel zu dieser »Kultur-Revolution« aus ihrer Mitte heraus kam es in allen bürgerlichen Gesellschaften bekanntlich zu einem Boom weiblicher Bildungsbeteiligung und Berufstätigkeit. Dieser führte nicht zufällig auch zu einer relativ starken Beteiligung des weiblichen Geschlechts an jenen neuen sozioprofessionellen Kategorien; die hier vorherrschenden ästhetischen Werte fanden in ihren geschlechtsspezifischen Dispositionen Wahlverwandtschaften. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde Kulturproduktion dabei gewissermaßen »demokratischer«, allgemeiner zugänglich, was soziale Herkunft und Geschlecht betrifft, entwickelte sich aber auch zu einem Bereich hohen doppelten Risikos: Zum einen droht jeder und jedem, die/der bei diesem Spiel mitspielt, die Gefahr, verkannt zu werden und bei der Konkurrenz um knappe symbolische Güter mehr oder minder kläglich zu scheitern. Zum anderen jedoch droht aber all jenen, die dieses Risiko ohne Netz und doppelten Boden einer materiellen Absicherung durch Vermögen gleich welcher Provenienz eingehen, eine mehr oder minder dauerhafte prekäre Existenz. Die seit dieser Umbruchzeit stetig wachsende Anziehungskraft des Feldes der Kunst dürfte auch mit der besonderen Dynamik spätkapitalistischer Konsumgesellschaften zusammenhängen, die nicht zuletzt »Kultur« selbst zu einem bevorzugten Konsumgut macht. Auch die zunehmende Marktvergesellschaftung des Kulturellen hat sich in einer enormen Verbreiterung des Spektrums hier angesiedelter Berufs- und Tätigkeitsfelder niedergeschlaaus, dass die darunterfallenden künstlerisch-kreativen, publizistischen und kulturvermittelnden Tätigkeiten fast durchgängig »freie« Berufe ohne geschützte Berufsordnung sind (Söndermann 2005, für die Frage der Kunst als Profession auch König/Silbermann 1964).

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gen, die miteinander in harter Konkurrenz um Legitimation stehen und immer neue Hierarchisierungen und Distinktionsmechanismen hervorbringen. Der nicht abreißende Zustrom an Aspirant_innen wird hierbei mittels mehr oder weniger grober oder subtiler gesellschaftlicher Schließungs- und Ausschließungslogiken kanalisiert, die die Individuen in einem offensichtlich hierarchisierten Raum kategorisiert und platziert. Die hier anvisierte Sphäre ist für unsere Gesellschaftsdiagnose von umso größerem Interesse, als es sich hier um eine Art Laboratorium handelt, in welchem aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse und emergente Lebensformen und -bedingungen, aber auch neue gesellschaftliche Fragen und Widersprüche wie unter einem Vergrößerungsglas für die soziologische Betrachtung zugänglich werden. Hierzu zählt unter anderem die enorme Diskrepanz zwischen den Versprechen, die seit den 1970er-Jahren mit Bildungstiteln einherzugehen schienen, und dem, was die Gesellschaft als die große Platzanweiserin letztendlich hält. Einerseits geht es hier um das Auseinanderklaffen zwischen dem erworbenen kulturellen Kapital und dessen Marktwert, das heißt vor allem seinem mehr oder weniger gesicherten Umtauschkurs in Einkommen und Status. Wie Pierre Bourdieu in seinen vielfältigen Studien zur »Illusion der Chancengleichheit« (u.a. Bourdieu/ Passeron 1971) immer aufs Neue belegte, handelt es sich bei den Bildungsaufsteigern aus den Unter- und Mittelschichten zum guten Teil um eine »geprellte Generation«, für die sich die Diplome, die am Ziel des mit vollmundigen Verheißungen beworbenen langen Bildungswegs ausgehändigt wurden, bei langwierigen und schmerzvollen Bemühungen, sie in ihren Versprechungen gemäße Stellen umzutauschen, oft genug als »Spielgeld« erwiesen. Viele verfügbare sozioökonomische Indikatoren verweisen in diesem Zusammenhang auf ein spezifisches Generationenproblem bzw. ein Problem der gesellschaftlichen Reproduktion. Junge Erwachsene stehen heute durchschnittlich schlechter da als ihre Eltern vor 30 Jahren, deren Generation der Babyboomer getragen von der Bildungsexpansion alle wichtigen Schaltstellen dauerhaft besetzte. Die immer bedeutendere Zahl an mit hohen Bildungstiteln ausgestatteten jungen Menschen befindet sich gewissermaßen in einer Art Wartesaal mit ambivalenten Vorzeichen. Privilegiert hinsichtlich ihrer Ausstattung mit kulturellem Kapital, müssen sie sich mit einer oft auf Dauer gestellten Prekarität arrangieren, und der sich seit den frühen 1990er-Jahren an dieser Schnittstelle immer deutlicher herauskristallisierende Lebensstil der »prekären Intellektuellen und Kulturschaffenden« erinnert nicht wenig

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an eine Neuauf lage des oben beschriebenen Milieus der Bohème unter spätmodernen Bedingungen in Fortsetzung der ambivalenten Lebensentwürfe der 68er-Generation.10 Die hier neu aufgelegte Künstlerkritik an kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen münzt gewissermaßen die konjunkturelle Not zur Tugend eines neuen Lebensstils um und preist eine Existenzform an, die geradezu als Prototyp der von Boltanski und Chiapello analysierten neoliberalen Sicht des Humankapitals erscheinen kann.

5. Das Ethos der Kunst und der neue Geist des Kapitalismus Mit dem Aufstieg der neuen Bildungsschichten in unseren spätkapitalistischen Gesellschaften einher ging die Renaissance der Künstlerkritik, die in den kulturrevolutionären Narrationen der 68er-Bewegung ihren prototypischen Ausdruck fand. Das Innovative der Theoriearbeit von Boltanski und Chiapello (2003) liegt nicht zuletzt darin aufzuzeigen, wie sehr diese kritischen Gegenentwürfe selbst vom Kapitalismus assimiliert und positiv bzw. im wahrsten Sinne des Wortes »produktiv« gewendet werden konnten. Schritt für Schritt führen die Autor_innen vor Augen, wie sehr die immer wieder überraschende Vitalität und Selbsterneuerungskraft des Kapitalismus auf der Fähigkeit beruht, die Kritik an ihm aufzunehmen und dadurch aufzuheben. Der Kapitalismus erweist sich in dieser Sicht der Dinge nicht nur als überaus vital, sondern obendrein noch höchst lernfähig und bereit, historische Erfahrungen zu absorbieren und sie ref lexiv zu wenden. Er lässt Kritik und Widerstand nicht einfach an sich abprallen oder unterdrückt sie, wie man lange versucht war zu glauben, sondern öffnet sich ihr, assimiliert und akkommodiert, um es mit der Piaget’schen Lerntheorie auszudrücken, die aufgesogenen Wissensbestände und Erfahrungswerte, wird klüger und ref lexiver, steigert seine Effizienz, stärkt sich und wird dabei immer unausweichlicher.

10 Mit Begrifflichkeiten wie »Künstlerkritik« (Boltanski/Chiapello 2003) oder »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) wird auf den eigenen Beitrag kreativer Produzent_innen zu ihrer »Selbst-Prekarisierung« (Lorey 2007) verwiesen, aber auch danach gefragt, welche neuen Formen der Soziabilität mit dieser unsicheren sozialen Lage einhergehen (Gill/ Pratt 2008; Manske/Merkel 2009).

Soziologische Einleitung

In Der neue Geist des Kapitalismus begnügen sich Luc Boltanski und Ève Chiapello keineswegs mit solchen theoretischen Postulaten. Vielmehr wählen sie die zeitgenössische Managementliteratur als eine Art Spiegel bzw. soziologischen »Anzeiger« für die ablaufenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Anhand akribischer Inhaltsanalysen der Lehr- und Handbücher für die Eliten des kapitalistischen Großunternehmens zeigen sie, wie die Künstlerkritik an entfremdender und abstumpfender Lohnarbeit, an rigiden, fremdbestimmten Arbeitsprozessen, an der für entfremdete Arbeit symptomatischen Spaltung von Arbeit hier und Freizeit und vermeintliche Freiheit dort, Massenproduktion und Massenkonsum etc. aufgegriffen und in ihrem Potential für die »Befreiung« bzw. Steigerung von Produktivität kraft Subjektivierung von Arbeit unter den Vorzeichen von Autonomie und Kreativität, also den Losungen der Künstlerkritik, domestiziert und diszipliniert werden. Dem neuen Idealtypus des Arbeitnehmers werden nun Qualitäten zugeschrieben bzw. abgefordert, die typischerweise mit der Sozialfigur des Künstlers assoziiert wurden: Kreativität, Autonomie, Selbstunternehmertum, Flexibilität, lebenslanges Weiterentwickeln seiner Potentiale und Kompetenzen ebenso wie eine Form der Berufsbiografie auf der Basis von begrenzten Projekten und der stetigen kritischen Selbst-Evaluation hinsichtlich der Realisierung selbstgesteckter, aber auch in Zielvereinbarungen mit seinen Auftraggeber_innen verbindlich fixierten Leistungsaufträgen. Damit tritt das bis in die 1970er-Jahre vorherrschende Bild eines Arbeitnehmer_innendaseins und -habitus unter den Vorzeichen loyaler dauerhafter Bindung an eine_n Arbeitgeber_in, disziplinierter Pf lichterfüllung hinsichtlich den von Vorgesetzten definierten Aufgaben und einem auf kollektiv geteilten Vorstellungen einer beruf lichen Normalbiografie beruhenden Selbstverhältnis und Lebensentwurf in den Hintergrund. An deren Stelle tritt nun auf immer breiterer soziodemografischer Front eine Dynamik der Subjektivierung von Arbeit unter dem Leitmotiv der Selbstverwirklichung in einem offenen Möglichkeitsraum immer vielfältigerer Optionen an Tätigkeitsfeldern. Die mit dieser Offenheit des Raums biografischer Selbsterfindung verbundene Freiheit und Selbstbestimmung sowie die mit ihnen einhergehenden »Lebenschancen« (Weber) können aber auch je nach konkreter Lebenslage und den gegebenen Ressourcen ebenso gut als Verpf lichtung und Zwang wahrgenommen und erfahren werden. Die autonome Lebensführung unter dem Vorzeichen der Ungewissheit in der Kultur unserer spätkapitalistischen

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Gesellschaften birgt neben den unermesslich erscheinenden Chancen nicht minder zahlreiche Risiken des Scheiterns. In soziologischer Sicht spricht einiges dafür, dass Erfolg und Misserfolg in dieser Form generalisierter meritokratischer Konkurrenzgesellschaft ja nicht von den weiterhin markanten Ungleichheitsverteilungen sozioökonomischer Ressourcen unabhängig sind. Dass der und die nach dem Leitbild des Künstlers konzipierte Arbeitnehmer_in der marktwirtschaftlichen Logik und dem Streben nach Optimierung der Kapitalrenditen in der Ära einer neoliberalen Radikalisierung entgegenkommt, bedarf eigentlich keines Hinweises, sollte aber nicht dazu verführen, hier einer simplifizierenden Verschwörungstheorie von einer Unterwerfung und Instrumentalisierung willenloser Subjekte durch die Herrschaft des Kapitalinteresses aufzusitzen. Will man die seit etwa drei Jahrzehnten beobachtbaren soziohistorischen Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften nicht kausalistisch und reduktionistisch deuten, so muss man die Transformationen makroökonomischer und -sozialer Gegebenheiten als mit dem Wandel des vorherrschenden Sozialcharakters bzw. Habitus der zeitgenössischen Individuen interdependente, sich wechselseitig verstärkende Dynamiken begreifen: Michel Foucault sprach davon, dass »Macht« nicht reifiziert werden darf, sondern als Dispositiv begriffen werden muss, welches das Körperinnere der Individuen durchdringt und sie selbst zu aktiven Akteur_innen ihrer Vermachtung werden lässt. Dies gilt nicht minder für die gegebene gesellschaftliche Dynamik einer sich stetig verstärkenden Selbst-Mobilisierung und Optimierung von Subjekten, die nun mit der Steigerung ihrer schöpferischen Kompetenzen nicht mehr primär ihr Auserwähltsein für das Jenseits, sondern im Hier und Jetzt unter Beweis zu stellen suchen. Wenn Max Weber feststellt: »Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch darauf hin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-) Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden« (Weber 1973, 479f.; Hvhg. orig.), so lässt sich betreffend der uns interessierenden soziohistorischen Prozesslogik eine Wahlverwandtschaft feststellen zwischen den objektiven sozioökonomischen Strukturen hier (postfordistische Produktionsformen, Globalisierung von Märkten und Internationalisierung von Unternehmen, Deregulierung von Arbeitsmärkten durch Abbau arbeitsrechtlicher Schutzmaßnahmen etc.) und dem Ensemble an subjektiven Dispositionen mentaler, moralischer, ästhetischer und verhaltensmäßiger

Soziologische Einleitung

Form, also dem neuen Habitus11 des Kapitalismus da (Aufstieg einer breiten bildungsnahen und kulturbef lissenen Mittelschicht und ihren Strategien der Rekonversion kulturellen Kapitals angesichts der Begrenztheit des akademischen Arbeitsmarktes). Blicken wir nun kurz auf die angesprochenen makroökonomischen und -gesellschaftlichen Transformationen, die geläufigerweise unter dem Konzept Kreativwirtschaft gebündelt werden.

6. Diagnosen und Indikatoren aktueller gesellschaftlicher Transformationen unter dem Vorzeichen von »Kreativität« Creative Industries werden nach einer häufig verwendeten britischen Definition verstanden als »those requiring creativity, skill and talent, with potential for wealth and job creation through the exploitation of their intellectual property« (DCMS 2001, 4). Die Beziehung von Kultur, Kreativität und wirtschaftlichem Wachstum untersucht der Ökonom Richard Florida in seinem als Auftakt zur heutigen Debatte um dieses Phänomen angesehenen Buch The Rise of the Creative Class. Kreativen Talenten kommt demnach für die Entwicklungsfähigkeit von Unternehmen und Regionen eine besondere Bedeutung zu: »I define [the Creative Class] […] as an economic class and argue that its economic function both underpins and informs its membersʼ social, cultural and lifestyle choices. The Creative Class consists of people who add economic value through their creativity« (Florida 2002, 68). Im 21. Jahrhundert erleben wir nach Florida einen radikalen Wandel der Wirtschaft, der jenem im Gefolge der Industrialisierung in nichts nachsteht. Kreativität wird jetzt zur primären Produktivkraft. Sie besteht in der Fähigkeit, bedeutungsvolle neue Formen zu finden. Jeder Mensch ist kreativ, manche aber sind es aufgrund ihrer Bildung und Ausbildung und ihrer Motivation und Lebenseinstellung mehr als andere. Für Florida bilden die Kreativen eine Klasse. Man kann ihr in den USA gegenwärtig zwischen einem Drittel und der Hälfte der Erwerbstätigen zurechnen. Zur Kerngruppe, der Elite der Creative Class, zählen z.B. Künstler_innen, Autor_innen, Wissenschaft11  Hier sei erneut (s.o. Anm. 3 zur »Soziologischen Einleitung«) daran erinnert, dass Weber zunächst den Titel »Die protestantische Ethik und der Habitus des Kapitalismus« für seine klassische Studie zur Emergenz des Kapitalismus im Sinne hatte (Weber 1982).

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ler_innen, Web-Designer_innen, Schauspieler_innen, Architekt_innen etc. Ihr Beruf besteht u.a. darin, ständig neue Ideen und Inhalte zu produzieren. Die Nicht-Kreativen rekrutieren sich aus Erwerbstätigen, die weder primär neue Ideen noch neue Lösungsansätze entwickeln. Sie führen aus, was die Vertreter_innen der Creative Class neu entwickeln. Die zentralen Werte und ethischen Orientierungen der »kreativen Klasse« stellen nach Florida ein Hybrid dar: protestantische Arbeitsethik und meritokratische Orientierungen auf der einen Seite, subkulturelle Stilisierung von »Bohème« mit ihren post-materiellen Normen auf der anderen Seite – eine Mischung, die eine neue Variante der Bourgeois-Bohème (Bobo) charakterisiert. Soweit die gängige theoretische Sichtweise. Wie steht es mit den empirischen Realitäten? In der Kultur- und Kreativwirtschaft der Schweiz sind im Jahr 2008 über 200.000 Personen in gut 40.000 Betrieben beschäftigt. Dies entspricht zehn Prozent aller Betriebe und fünf Prozent aller Beschäftigten in der Schweiz. Die Zahl der Beschäftigten hat zwischen 2005 und 2008 um acht Prozent zugenommen, die Zahl der Betriebe um vier Prozent. Somit ist die Kultur- und Kreativwirtschaft als Branche ähnlich schnell gewachsen wie die Gesamtwirtschaft der Schweiz (Weckerle/Theler 2010, 113) Ähnlich klingt eine Lageeinschätzung für Deutschland im gleichen Zeitraum: »Die Kreativwirtschaft ist mit gut 230.000 umsatzsteuerpf lichtigen Unternehmen in Deutschland vertreten, welche im Jahr 2008 mit einer Wertschöpfung von 65 Mrd. EUR 2,6 % zum BIP beitrugen und rund einer Million Erwerbstätigen Beschäftigung boten. Im internationalen Vergleich liegt der BIP-Anteil der Kreativwirtschaft in Deutschland damit im oberen Mittelfeld.« (KFW 2011, 14) Kurzum: Man hat es nach diesen Kennzahlen also keineswegs mit einer volkswirtschaftlichen quantité négligeable zu tun, von einem in naher Zukunft schon zur zentraler ökonomischen Wachstumsfaktor avancierenden Sektor zu sprechen, wie Florida es tut, wäre allerdings unangemessen. Was weiß man über die Strukturen und Beschäftigungsverhältnisse der Kreativwirtschaft? Sie scheinen gekennzeichnet durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an atypischen Beschäftigungen wie auch an Kleinstunternehmen. Das unternehmerische Risiko ist hoch, da es sich u.a. oft um stark volatile Märkte handelt. Arbeitsverträge sind in der Regel befristet und kurzfristig, hinzu kommen oft unregelmäßige Arbeitszeiten und

Soziologische Einleitung

ein unterdurchschnittliches,12 oft auch unregelmäßiges Einkommen (s. die sogenannten Intermittents) bei gleichzeitig überdurchschnittlicher schulischen und beruf lichen Qualifikation. Das betrifft insbesondere die Kategorie der Künstler_innen, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten in fast allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern deutlich zugenommen. In den USA ist diese Population von 1980 bis 2000 um 78 Prozent gewachsen, in Frankreich hat sie sich zwischen 1982 und 1999 praktisch verdoppelt, in Deutschland im Zeitraum von 1991 bis 2013 verdreifacht (Weckerle/Theler 2010). Das geringe Ausmaß an Kodifizierung dieses Berufs ermöglicht es, wie Sophia Prinz und Ulf Wuggenig (2012, 206) betonen, grundsätzlich jedem, sich als Künstler_in zu betätigen. Die Eintrittsbarrieren in die Welt der Kunst scheinen zunächst niedrig – weder ein bestimmter Schulabschluss noch eine Berufsberechtigung wird für eine künstlerische Karriere vorausgesetzt. Und die extreme Diversität der mit der Tätigkeit verbundenen Projektionsmöglichkeiten macht das Kunstfeld enorm attraktiv für viele junge Aspirant_innen – auch wenn im Nachhinein der Erfolg eines Künstlers letztlich in der Regel den Besuch einer Kunsthochschule oder Universität voraussetzt. Das Gesagte gilt mit Abstrichen auch für andere Kreativberufe: Schmuckdesign oder Grafik lassen sich als freie Berufe ja auch weitgehend unabhängig von institutionellem, also schulisch-akademischem Kapital anbieten. Anders jedoch, wenn es um professionelle Erwerbsarbeit in Anstellungsverhältnissen geht, wo Diplome und/ oder Berufsqualifikationen die Regel sind. Wie heute für Kreativberufe und den »kreativen Sektor« der Wirtschaft geworben wird, lässt sich prototypisch am folgenden Steckbrief des Informationsportals www.aubi-plus.de zu den einschlägigen Ausbildungsberufen illustrieren: In deiner Kindheit warst du oft und nahezu jederzeit kreativ? Ob es darum ging, ein Kunstwerk für deine Oma zu basteln, oder darum die perfekte Bude zu bauen, ›Kreativ‹ war quasi dein zweiter Vorname? Als junger Erwachsener treten auf einmal viel größere Dinge in Erscheinung, nämlich den Beruf deines Lebens zu wählen. Du bist dir sicher, dass es da auch etwas Kreatives 12  Ein Fünftel der Kreativ-Alleinunternehmer_innen in Deutschland situiert sich mit einem Monatseinkommen von weniger als 900 Euro unterhalb der Armutsgrenze (Enquete-Kommission 2007, 290).

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geben muss? Ein Teil der deutschen Berufstätigen hat sich ein Stück ihrer Kindheit bewahrt und lebt diese Kreativität jeden Tag im Job aus. In der Berufswelt wirst du feststellen, dass Kreativität eigentlich nur ein anderes Wort für das schöpferische Denken und Handeln ist, was in nahezu jedem Beruf heutzutage von dir verlangt wird. Du wirst erstaunt sein, wie viele Berufe zu dem ›kreativen Sektor‹ zählen.13 Wie lässt sich ein solcher Boom des Kreativsektors deuten? Nach Floridas Sicht der Dinge hat die Attraktivität eines kunst- bzw. kreativitätsaffinen städtischen soziokulturellen Milieus einen hohen Anteil an dieser Konjunktur. Kreative Menschen suchen die Nähe anderer Kreativer an bestimmten, ihrem Lebensstil entgegenkommenden Orten, wo sich die Creative Class dann verdichtet. Die durch ihre kreativen Dispositionen gekennzeichneten Akteur_innen tendieren dazu, sich zu vergemeinschaften, ein kollektives Ethos hervorzubringen, basierend auf geteilten Werten und Weltanschauungen.14 Kreativwirtschaft im Allgemeinen und Kunst im Besonderen scheinen sich darüber hinaus zu einem zentralen symbolischen Kapital im internationalen Standort-Wettbewerb der Metropolen entwickelt zu haben, wenn es etwa um mobile ökonomische Ressourcen wie öffentlicher Gelder, privater Investitionen, hochqualifizierter Arbeitskräfte oder Touristenströme geht. Auch kleinere oder an der Peripherie gelegene Städte wollen von diesem globalen Spiel der »Kulturalisierung der Städte« (Reckwitz 2012) nicht ausgeschlossen bleiben.15 Was macht eine Stadt zu einem Mittelpunkt für Kreativwirtschaft und Kunst? Und was trägt »ihre« Kunst zu ihrer Sichtbarkeit in einer globalisierten Welt bei? Neben den bislang dominierenden Kunst-Zentren New York, London, Berlin oder Paris lässt sich seit einiger Zeit der Aufstieg anderer Metropolen und Cities zu sogenannten Art Capitals verfolgen. Eine wachsende Zahl von neuen Kunstmuseen, Kunstmessen und Biennalen sowie die zunehmende Mobilität und Vernetzung der Art World führt dazu, 13 www.aubi-plus.ch/berufe/thema/kreative-berufe-9 14  Kreativität als kollektives »Subjektivierungsregime« (Osten 2003a) kann im Anschluss an die jüngere psychologische Forschung zu kreativen Domänen (Mihály Csikszentmihályi, Howard Gardner) und in der Perspektive soziologischer Feldtheorien gerade als eine soziale Praxis gedeutet werden, die sich nicht einfach individualpsychologisch verorten lässt (vgl. Wuggenig 2011). 15  Mit der Kreativwirtschaft beschäftigt sich neben der Arbeitssoziologie auch vermehrt die Stadtforschung (Helbrecht 1999; Krätke 2002; Lange 2007).

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dass auch bisher eher periphere Großstädte wie Shanghai, Hongkong, Singapur, Katar, oder Sao Paulo, zu internationalen Art Destinations und Hubs mutieren (Schultheis u.a. 2016). An diesen emergenten Bühnen kollektiver Kunstinszenierung entstehen in unterschiedlichster Ausprägung Galerien, Museen, Kunsthochschulen und die für ein Kunstfeld zentralen Netzwerke aus lokalen Künstler_innen, Galerien und Sammler_innen. Diese kulturellen Kristallisationskerne wiederum ziehen typischerweise Kreativindustrien aller Art (Design, Mode etc.) und die in ihnen tätigen Vertreter_innen der Creative Classes an. Überdies kommt es, wie vielerorts beobachtbar, zu einem Boom an Niederlassungen von Luxusgüter-Anbieter_innen, die zunehmend Design und Kunst für die Veredlung ihrer Produkte und insbesondere Kunst als symbolisches Kapital im Marketing einsetzen. Last but not least spiegelt sich diese spezifische Kumulation und Verdichtung an edlen und exklusiven symbolischen und materiellen Gütern auch in der zunehmenden Präsenz eines mit diesem »obersten Segment« der spätkapitalistischen Konsumwelt korrespondierenden, sozioökonomisch privilegierten Klientel wider: einem mehr und mehr globalisierten soziokulturellen Milieu, welches das an diesen Orten verfügbare symbolische Kapital bei ihrer Wahl eines permanenten oder saisonalen Wohnortes, regelmäßigen Ferienaufenthalten oder sporadischen Besuchen anlässlich der hier gebotenen Events und Highlights zu einem wichtigen Kriterium macht. Anders gesagt entwickelt sich Kunst zur privilegierten Marke für Städte, die mit ihrem symbolischen Kapital um gute Rangplätze im internationalen Ranking attraktiver Metropolen und die damit eingehenden Sogwirkungen für privilegierte Klientele ringen. Kunst als symbolisches Kapital dient nicht nur als Ressource an Alleinstellungsmerkmalen für die Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Reputation zwischen Mitgliedern sozioökonomischer Eliten, sondern auch im globalen Wettkampf um internationale Sichtbarkeit zwischen Nationen, Regionen und Metropolen.

7. Bilanz einer Tour d’Horizon durch zwei Jahrhunderte kollektiver Distinktionsarbeit Folgt man dem vorausgehenden Versuch einer genealogischen Rekonstruktion der Emergenz der Sozialfigur des Künstlers, so ergibt sich der Eindruck, dass diese »Heroen in postheroischen Zeiten« idealtypisch gesprochen

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durch einen »Gesamthabitus« im Sinne Webers ausgezeichnet sind, der wie im Fall der Akteur_innen des religiösen Feldes einer »totalen sozialen Rolle« (Goffman 1973) gleicht. So wie man nicht seine Rolle als Priester oder Mönch je nach Tageszeit oder Laune mit dem Talar an der Garderobe abgeben kann und sich zu einem Alltagsmenschen entkleidet, können Künstler_innen nicht einfach »ein bisschen«, »halbtags« oder »in der Freizeit«, also je nachdem, ihre künstlerische Existenz und Identität nur punktuell demonstrieren und legitimieren. Kern des Anspruchs auf Außeralltäglichkeit und dem mit ihr verknüpften Charisma ist der künstlerische Anspruch, »aus sich heraus«, dank der eigenen schöpferischen Kräfte, sein eigenes ästhetisches Gesetz zu sprechen, also als »Nomothet« (Barthes) aufzutreten. Die Autonomiebehauptung ist hierbei konstitutiv und unabdingbar und bezieht sich auf eine Freiheit von äußeren Determinationen aller Art (den drei K’s König, Kirche, Kapital). L’art pour l’art ist die seit Baudelaire geltende Grundformel der Sozialfigur des Künstlers, mit der Kunst als »solche« immer nur als Zweck, nicht als Mittel zu gelten hat. Kunst stellt ein symbolisches Gut dar, das als solches keinen bzw. einen unschätzbaren »Preis« hat. Als singuläres Gut steht sie am Gegenpol zur Ware. Mit diesem Ethos geht der Künstler eindeutig in elitäre Gegenlage zum »Alltagsmenschen« und markiert Distanz zum bürgerlichen Berufsmenschentum, das immer irgendwo und für irgendwen »im Dienste« steht – Stichwort »stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit« –, während er nur dem Höheren dienen will, nämlich der Kunst. Die angesprochene Analogie zwischen Kunst und Religion bietet sich auch hinsichtlich dieser Vorstellung von Erhabenheit an. Mit Bourdieu lässt sich durchaus die These vertreten, dass die Kunst in vielerlei Hinsicht das funktionale Äquivalent von Religion unter den Bedingungen unserer säkularen Spätmoderne darstellt. Wie im Fall religiöser Phänomene bedarf die soziologische Perspektive auf die spezifischen mentalen, ethischen und verhaltensmäßigen Dispositionen der Kreativtätigen einer Einbettung subjektiver Motivlagen und normativer Orientierungen in historisch gewachsene und tradierte kollektive Sinnzusammenhänge und Weltsichten. Sie kommt nicht umhin, die individuellen Akteur_innen des anvisierten Praxisfeldes als Teil einer gesellschaftlichen Dynamik zu begreifen, bei der kollektiv geteilte Lebensentwürfe Muster der sozialen Identitätsbildung und Statuszuweisung anbieten und Zugehörigkeiten zu einem relativ geschlossenen sozialen Milieu mit einem gemeinsamen Wertehorizont und einer Aura der

Soziologische Einleitung

Außeralltäglichkeit eröffnen. Feldtheoretisch gesprochen handelt es sich bei diesem Ensemble an geteilten Dispositionen um einen kollektiven Habitus, und bei den gemeinsamen weltanschaulichen und ethischen Orientierungen, die die spezifische Sinnhaftigkeit ihres gemeinsamen Engagements und ihrer Investitionen an Überzeugungen, Affekten und Lebenszeit in den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang gewährleisten, um einen Glauben an Sinnhaftigkeit und Wert ihres Tuns – Bourdieu spricht von der »Illusio« des Feldes. Um etwaigen Missverständnissen vorzugreifen, soll hier betont werden, dass das Bourdieusche Konzept nicht im Sinne von »Illusion« missverstanden werden darf. Es handelt sich vielmehr um den historisch gewachsenen, kollektiv geteilten Glauben an die Sinnhaftigkeit eines gesellschaftlichen Spiels seitens der in es Involvierten und die Überzeugung, dass die von ihm gebotenen Spieleinsätze »der Mühen wert sind«. Die in einem gesellschaftlichen Feld wie der Kunst von Akteur_innen manifestierten Formen »interesselosen Engagements« (im Sinne anti-ökonomischer, anti-utilitaristischer Lebensentwürfe und Praxen) beruhen ja selbst auf einem spezifischen »Interesse«, von Bourdieu als »intérêt du désinteressement« gekennzeichnet, welches soziales Handeln generiert und gesellschaftliche Wirklichkeit gestaltet. Wenn also hier »Illusion« im Spiel sein soll, dann nur als »wohl fundierte Illusion« (Bourdieu 2011) mit gesellschaftlicher Wirkmacht. Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Lässt sich analog zum Feld der Kunst heute auch von einem »Feld der Kreativarbeit« sprechen? Sind die für ein »Feld« konstitutiven Elemente vorhanden – eine relative soziale Schließung und Autonomie, ein Gut oder Kapital »eigener Art«, das den spezifischen Einsatz rechtfertigt und motiviert, sowie ein besonderes Ethos der in diesem Handlungsraum agierenden Subjekte? Welche Selbstverhältnisse legen die Kreativberuf ler_innen an den Tag, wenn man sie nach ihren beruf lichen Lebensentwürfen und Alltagspraxen befragt? Welches Verständnis ihrer gesellschaftlichen Position und Rolle kennzeichnet sie? Diesen und anderen soziologischen Erkenntnisinteressen möchten wir weiter unten mittels der inhaltsanalytischen Auseinandersetzung mit den dieser Studie zugrundeliegenden qualitativen Interviews mit Vertreter_innen unterschiedlicher Kreativberufe nachgehen.

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Philosophische Einleitung Ästhetische Praxis und Kritische Theorie Christoph Henning

Seit der menschlichen Frühzeit gibt es mimetisches, also wenn man will: künstlerisches und gestalterisches Verhalten (Gehlen 1956, §§ 13, 31). Dieses hat in der Geschichte verschiedene Formen angenommen, in Europa etwa eine Zeitlang in einer engen Bindung an die Kirchen, später an adlige Mäzene. Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als der Kapitalismus und mit ihm Auf klärung und Moderne sich daran machten, die bisherigen sozialen Verhältnisse umzupf lügen, hat Kunst (im weiteren Sinne der ästhetischen Produktion) in der Gesellschaft häufig als Projektionsf läche gedient, in der sich der »Vorschein« (Bloch 1974) einer besseren, anderen Welt zeigt, die plötzlich möglich schien, aber noch nicht wirklich war. Die Möglichkeit einer immanenten Transzendenz war für viele Menschen besonders in Zeiten der erneut um sich greifenden politischen, sozialen oder religiösen Repression wichtig – schon zu Zeiten des Spätfeudalismus, mit dem es die Auf klärung, Deutscher Idealismus und Romantik zu tun hatten, zentral auch im Kapitalismus (Damus 2000) oder dann im Sozialismus des 20. Jahrhunderts (Rehberg/Kaiser 2013). Walter Benjamin etwa sprach von »profaner Erleuchtung«, die es im Medium des Ästhetischen geben könne, und darauf bezog sich die Kritische Theorie von Georg Lukács bis Theodor W. Adorno immer wieder zurück. Das ästhetische Verhalten kann natürlich auch ablenken, trösten, blenden, auf hübschen und verkitschen – aber bei alldem erlaubt der freigestellte Raum des Ästhetischen doch eine Distanzierung von und Kritik an den vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen sowie eine Verständigung über und eine Erinnerung an Alternativen, gerade da, wo es sonst kaum mehr möglich war und ist. Diese Möglichkeit einer Distanznahme von der sozialen Wirklichkeit mithilfe des ästhetischen Verhaltens ist aus philosophischer Perspektive von

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bleibender Wichtigkeit, gerade angesichts eines enthemmten Kapitalismus, welcher dabei ist, die ökologischen, sozialen und sinnhaften Ressourcen unserer Welt zu zerstören. Das gilt noch mehr, wenn er als »ästhetischer Kapitalismus« auftritt (Böhme 2016), denn dieser ist umso schwieriger zu kritisieren, wenn er uns mit seinem schönen Schein einlullt (Henning 2017, 115ff. und 2016b). Ein philosophischer Hintergrund unseres Projektes bestand in dem Interesse, einmal direkt vor Ort der Form und Beschaffenheit der ästhetischen Praxis und ihrer möglichen Widerständigkeit unter neoliberalen Bedingungen nachzuspüren. Eine wichtige Frage war: Gibt es in der ästhetischen Praxis noch immer emanzipatorische Momente, und wie manifestieren sich mögliche widerständige Praktiken? Zugeschrieben werden sie der gegenwärtigen Kunstpraxis und ihren Artefakten häufig (Rancière 2008; Raunig/ Ray 2009 etc.). Die Frage ist nur, wie wörtlich man diese Zuschreibungen noch nehmen kann. Eine Reihe von Entwicklungen steht dem entgegen: Die glitzernde Oberf läche des ästhetischen Neoliberalismus (der sich nicht nur durch Finanzialisierung und Digitalisierung, sondern eben auch durch Ästhetisierung auszeichnet); die oft beschriebene Vorbildfunktion der Figur des Künstlers für das f lexibilisierte, entsicherte und neue »kreative« Arbeiten; die Neoliberalisierung der Kunst selbst (Kunstmessen sind z.T. zu Treffpunkten einer obszön reichen globalen Elite geworden, während der Großteil künstlerisch Schaffender unter prekären Verhältnissen lebt); sowie nicht zuletzt die Entzauberung der Kunst durch Kunstsoziologien wie die von Pierre Bourdieu, in der ästhetische Praxis als ein »Spiel« dechiffriert wird, das den Akteuren bestimmte Glaubensannahmen nahelegt, aber letztlich um soziale Distinktion und gesellschaftliche Aufstiegskämpfe zentriert bleibt.1 Ist ästhetische Praxis heute aber wirklich nichts anderes mehr als ein Teilchenbeschleuniger für den Neoliberalismus, der den Beteiligten die Möglichkeit eines anderen Lebens und Arbeitens lediglich vorgaukelt, um sie desto einfacher wirtschaftlich anspruchslos zu halten? Gibt es kein Nichtidentisches, keinen uneingelösten »Rest« mehr, der ästhetischer Praxis

1 Wunderbar auf den Punkt bringt dies Agnès Jaouis Film Le Goût des autres von 2000. Hingewiesen sei auch auf die zuerst 1935 erschienene Studie von Gerth (1976), der einige Punkte Bourdieus bereits vorwegnahm: die romantische Generation war gut ausgebildet, kam aber nicht in berufliche Positionen hinein und phantasierte sich so eine fiktive Ersatzwelt zurecht.

Philosophische Einleitung

selbst unter prekären Bedingungen noch einen Überschuss, eine Widerständigkeit und damit auch einen Ansatzpunkt für Sozialkritik verleiht? Um nicht nur über Künstler_innen und Gestalter_innen, sondern mit ihnen zu sprechen und auf diese Weise mehr über diese Fragen zu erfahren, haben wir – wie im Vorwort erläutert – Interviews geführt und Betroffene über ihre Arbeit, ihre Selbstverständnisse und Werthaltungen befragt. Die folgenden einleitenden Bemerkungen sollen einige philosophische Interessen bei diesen Gesprächen umreißen. Dass Vertreter von Philosophie und Soziologie gemeinsam qualitative Interviews führen und auswerten, ist methodisch mehr als ungewöhnlich, und die Unterschiede der disziplinären Hintergründe sind uns dabei immer wieder deutlich geworden. Was also waren die philosophischen Leitfragen?

1. Philosophische Perspektiven Philosophie interessiert sich nicht zuletzt für den normativ-politischen Überschuss des Ästhetischen über die tatsächlichen sozialen Verhältnisse. Jede Perspektive bekommt anderes in den Blick; ein philosophischer Pluralismus kann es sich erlauben, mehrere davon gelten oder »wahr« sein zu lassen. Es kommt auf den Blickwinkel an. Aus ästhetischer Perspektive ist ein Bild mehr als eine Ware (selbst wenn es auch das ist), künstlerische Arbeit mehr als nur ein Broterwerb, das Kunstfeld mehr als eine Arena sozialer Aufstiegs- und Distinktionskämpfe, ein Künstler nicht lediglich ein Unternehmer und das Bild von der Künstlerfigur mehr als nur ein spätfeudales Klischee, das der Neoliberalismus für seine Zwecke f lexibilisierend aufgegriffen hat (selbst wenn alles dies unleugbar auch zu beobachten ist). Dieser Überschuss ist an unterschiedlichen Dimensionen zu beobachten – an »der« Kunst als Wertsphäre (Menke 2013; Bertram 2014), an der Figur »des« Künstlers (Ruppert 1998; Krieger 2007; Dürkop 2016), an der rezeptiven oder produktiven Praxis, die gern etwas unscharf als »ästhetische Freiheit« verstanden wird, sowie an der Analyse einzelner Werke (z.B. bei Seel 2003). Der Überschuss entstammt nicht einer einzelnen von ihnen allein. Es sind nicht einzelne Objekte oder eingrenzbare und messbare Merkmale an Subjekten, denen diese »Kraft« des Ästhetischen kausal zugeschrieben werden kann. Vielmehr ist das Überschießende der Kunst in einem Umgreifenden zu verorten, einem Zwischenraum, der Subjekte und Objekte im Zuge einer

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Stimmung oder »Atmosphäre« (Böhme 2013) umgreift; wenn man will: im »Affekt« (Krause-Wahl 2006). Es muss selbst erfahren werden (»Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen«, Faust I). Eine Frage nach der Verortung des Überschusses (liegt es in den Intentionen der Subjekte, der ökonomischen Unschuld der Institutionen, der Reinheit der Werke o.ä.) greift daher zu kurz, sie würde in einzelnen Aspekten der künstlerischen Praxis nach »magischen« Ingredienzen suchen, die man auf diese Weise schwerlich finden wird – und so rasch der Naivität geziehen würde. Ratsam ist es daher, mit Friedrich Schiller den umgreifenden »ästhetischen Zustand« in den Mittelpunkt zu stellen.2 Er kann sich in der Bildbetrachtung oder im Schaffen einstellen, in der gemeinsamen Beurteilung und Bearbeitung von gestalterischen Produkten, aber auch im Stil des Lebens insgesamt, wenn die ästhetische Praxis zur sinnhaften Mitte des eigenen Lebensentwurfs geworden ist, auch wenn dieser Entwurf mit viel Mühe und unter Entbehrungen verteidigt und aufrechterhalten werden muss. Der ästhetische Zustand, den Schiller beschreibt, erlaubt es, jenseits von gegebenen Zwängen sich und die Welt anders zu verstehen und damit einen »Möglichkeitssinn« (Musil) offenzuhalten, auch jenseits dessen, wie die Dinge gerade geworden sind, auch ein Stückweit unabhängig von der eigenen sozialen Lage. (Sonst wäre Vergemeinschaftung durch Kunst oder gemeinsame Arbeit an gestalterischen Produkten kaum möglich.) Ästhetische Erfahrung ist oft außeralltäglich, ästhetische Wahrnehmung kann verstören und dann zur Ref lexion, zur Hinterfragung des Gewöhnlichen anstiften. Allzu enge Auslegungen können diese Offenheit vorzeitig verschließen. Daher eignet ästhetischen Artefakten stets ein Überraschungsmoment – sie verwahren sich gegen Festlegungen, ob nun durch ökonomische Verwertungsinteressen, politische Auslegungen oder durch erklärende Sozialtheorien. Nach ästhetischen Kriterien gestaltete Gegenstände mögen also in Warenform auftreten, und eine Lebensform mag als Hilfsmittel der sozialen Distinktion dienen – sie lassen sich nicht darauf reduzieren und sind stets mehr als das. Die Hochschätzung der ästhetischen Dimension stellt in der Tat keine individualpsychologische Abweichung dar, eher schon eine anth2 Auf Schiller greifen Autoren wie Herbert Marcuse, Jacques Rancière oder G. Spivak immer wieder zurück, das zeigt seine bleibende Relevanz. Zur Interpretation von Schillers Briefen über ästhetische Erziehung Henning 2015, 62ff.

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ropologische Regel: davon zeugen etwa die Höhlenmalereien in Lascaux (vgl. Raphael 2013), und noch heute hat die Kunst eine überragende Rolle in der Selbstdeutung moderner Gesellschaften – daher die hohe Beachtung, die die Documenta oder die Biennale immer wieder erhalten. Wir wollen fragen, wie diese Dimension in der alltäglichen Praxis verankert ist, und haben auch deswegen unsere Gespräche geführt. Methodisch ist das für die Philosophie ungewöhnlich: Dem normativen Überschuss des Ästhetischen nähert sie sich sonst eher über die inhaltliche Analyse der Werke. Aus der Sicht der Kunstphilosophie ermöglichen sie eine Wahrheit anderer Art, eine andere Weltbeziehung (Baumgarten 2009; Bubner 1989). Der unverstellte Zugang zu diesem Anderen war insbesondere im Kontext politischer Freiheitsbewegungen zentral – auch weil in der Kunst Zielvorstellungen artikuliert werden konnten, wohin die Bewegung eigentlich gehen sollte (»auf freiem Grund mit freiem Volke stehn«, so Goethe in Faust II), und was genau an der Gegenwart zu kritisieren war. Dieser politische Sinn ästhetischer Freiheit wurde umso wichtiger, als das Befreiungsprojekt auf halber Strecke steckenzubleiben drohte. Es gab im Kapitalismus zwar mehr formale Freiheit als zuvor, aber zugleich mehr Armut, eine neue, anonyme Herrschaft der Sachzwänge über die Menschen, eine ungeheure Intensivierung des Arbeitens, und zugleich eine Erosion herkömmlicher Sinnbezüge, ohne dass sich noch eine kollektive Sinngebung abzeichnete. Ästhetisches Verhalten, einerlei ob in Produktion oder Rezeption, bot hier nicht nur Momente von Flucht und Trost, sondern auch von Revolte (Klinger 1998) – daher die zeitweilig große Affinität von ästhetisch Schaffenden zum Marxismus, von William Morris bis zu Brecht und Godard. Es geht keineswegs immer um Nostalgie, um eine von Adel oder ständischen Privilegien bestimmte Vergangenheit, die man zurücksehnt, sondern kann auch in eine bessere Zukunft für alle abzielen. In der Wahrnehmung der Kunstphilosophen von John Dewey (1987) bis Christoph Menke (2013) steht Kunst in einer Äquidistanz zur Gesellschaft. Weniger, um die Künstler persönlich zu erhöhen, sondern eher, um die nötige Kritik zum Ausdruck zu bringen. So sind zahlreiche Werke in ihrem Gehalt als Gesellschaftskritik zu interpretieren – man denke an Ibsens Dramen, Picassos Guernica oder Thomas Hirschhorns Skulpturen. Warum sonst hätte Platon aus seinem Idealstaat die Dichter verbannen sollen, warum haben Diktatoren immer wieder missliebige Künstler unterdrückt und vertrieben? Sicher gab es auch die propagandistische Kunst Arno Brekers und Leni

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Riefenstahls, wie es heute eine offen marktaffine zeitgenössische Kunst gibt. Doch die Anziehungskraft des Ästhetischen auf so viele Menschen, die wir in diesem Buch erhellen möchten, geht eher auf das Moment des Alternativen als auf das Monumentale zurück. Philosophisch steht die Figur des Künstlers weniger im Mittelpunkt, nicht zuletzt, weil diese häufig hinter ihrem Werk zurücktritt und der »Sinn« eines Kunstwerkes nicht allein an den Intentionen des Autors festzumachen ist. Anknüpfend an Panofsky unterschied etwa Karl Mannheim (1964, 103ff.) den intendierten Ausdruckssinn wegweisend vom objektiven und vom dokumentarischen Sinn eines Werkes. Überlegungen über soziale Motive der ästhetisch Schaffenden (etwa Wünsche nach sozialem Aufstieg oder nach Abgrenzung von anderen) spielen bei der philosophischen Deutung des Ästhetischen daher selten eine zentrale Rolle. Wohl aber interessieren Lebenshaltungen. Das Künstlertum transportiert einen »Stil des Lebens« (Simmel), das Ideal einer Lebensform, die eine unter feudalen wie kapitalistischen Bedingungen ungewöhnliche Selbstbestimmung und Selbstvervollkommnung erlaubte – nicht allen, aber immerhin einigen. Selbst Karl Marx hat die für ihn erstrebenswerte »allseitige Entwicklung der Individuen« (MEW 19, 21) daher an Raf fael demonstriert. Marx hat Raffael allerdings nicht als alleinstehenden »Heroen« stilisiert, sondern in der damaligen Arbeitsteilung kontextualisiert (MEW 3, 377). Der Künstler als Figur steht damit nicht jenseits des Bürgerlichen, sondern verkörpert ein auch vom Bürgertum geteiltes Lebens- und Bildungsideal. Dieses Leben konnte unkonventionell sein – einsame Waldspaziergänge im Werther-Stil gehören ebenso dazu wie ausschweifende Feiern im Geiste des Platonischen Gastmahls; eine intensivierte Art des Erfahrens und Empfindens ebenso wie die Arbeit an sich, die Rundung verschiedener Talente zu einem Ganzen. Das »gute« und volle Leben, für das exemplarisch Goethe einstand (Simmel 1913), weist allerdings über das Bürgertum hinaus, da die bürgerliche Gesellschaft diesem Ideal de facto und für die meisten Menschen in der Praxis eher entgegenarbeitete. Diese Spannung lässt sich nicht dadurch auflösen, dass man die Ideale als Schein oder Heuchelei interpretiert. In ihnen steckt mehr: gewissermaßen bewahren sie die Versprechen auf, mit denen die Moderne einmal ihren Siegeszug angetreten hat. Nicht umsonst haben »bürgerliche« Kunstwerke noch heute wegweisende utopische Gehalte.3 Die3 Darauf legte auch Marcuse 1977 großen Wert.

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se Spannung zwischen der Ernsthaftigkeit des ästhetischem Ausdrucks und den Mühen eines Lebens, das ihre Erschaffung ermöglicht, gibt es nicht erst seit heute. Zu einem Künstlerleben gehört stets auch Muße – in den meisten anderen Berufen ein überaus knappes Gut (Henning 2018b). Doch bestehen ästhetische Berufe nicht nur aus Pausen, sondern auch aus Arbeit – aber einer bestimmten Form davon. »Wirklich freies Arbeiten, z.B. Komponieren, ist gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung« (Marx, MEW 40, 512). Die Sonderstellung dieser ästhetisch bestimmten Arbeit, die von außen betrachtet als Nichtstun oder Wichtigtuerei erscheinen mag, tritt in den Interviews besonders markant hervor. Neben der Begegnung mit ästhetischen Inhalten macht diese spezifische Arbeitsweise einen Großteil der Anziehungskraft der ästhetischen Lebensform aus. Im Gegensatz zu anderen, etwa arbeitsteilig industrialisierten oder bürokratisierten Arbeitsweisen verspricht eine ästhetisch orientierte Arbeitsweise mehr Selbst- statt Fremdbestimmung, mehr Sachbezogenheit statt sozialem Zwang, sowie eine aus der Arbeit mit verschiedenen Materialien und Gehalten herrührende Erfahrungstiefe, die sich von eher instrumentellen und routinisierten Arbeitsvollzügen deutlich unterscheidet (obzwar es diese natürlich auch innerhalb ästhetischer Berufe gibt – im Kontrast können gerade diese aber auch als »entspannend« erfahren werden). Aus den Interviews geht hervor, dass diese Lebensform häufig mühsam ist – aber das Versprechen weitgehend eingehalten wird. Aus philosophischer Sicht kann man daher von einer genuinen Werthaltigkeit ästhetischen Arbeitens sprechen. Selbst wenn »große« Künstler von Dürer über Rembrandt bis zu Warhol zugleich Unternehmer, ja arbeitsteilig organisierte Fabrikanten waren, tilgt ein mögliches Streben nach sozialem Status oder materiellem Reichtum nicht den ästhetischen Eigensinn: Sie blieben zugleich Künstler und verstanden sich auch so. Ästhetische Werte und von ihnen angeleitete Arbeitsweisen werden damit nicht automatisch zur Illusion, sie bleiben eigensinnig, selbst wenn sie in Routinen und ökonomische Kontexte eingebettet sind. Eine Wertschätzung dieser anderen Arbeit muss keineswegs bedeuten, dass man in anderen Berufen gescheitert wäre, etwas kompensieren muss oder gar einen elitären Herrschaftsanspruch erhöbe. Statt auf solche Defizite in diesen Bereichen zu schließen, die in die ästhetische Arbeit hineintreiben (als push-Faktor), betont die philosophische Sicht eher die genuinen An-

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ziehungskräfte des Ästhetischen (die pull-Faktoren, wie die von Graw [2017] benannte Liebe zur Malerei), die aus einer eigenen Region kommen – dem Ästhetischen, das nicht vollends im »Sozialen« aufgeht, selbst wenn es tief von ihm durchdrungen ist.

2. Der Eigensinn ästhetischer Materialität Es gibt in den Weiten des Theorie-Universums einen Ansatz, der dieser pluralistischen philosophischen Perspektive entgegenkommt, selbst wenn sein Autor eher Soziologe als Philosoph ist: Bruno Latours Aktor-Netzwerk-Theorie. Ähnlich wie Nathalie Heinich (1998) oder Antoine Hennion (2010) wendet sich Latour gegen Pierre Bourdieus einf lussreiche Kunstsoziologie; vor allem gegen die Annahme, dass historische Prozesse in der heutigen Situation durch die Subjekte hindurch weiterwirken, so dass sie »unbewusst« Positionen wiedergeben, die allein ein soziologischer Beobachter erschließen kann. Der eigentliche Experte wäre dann der Beobachter, der aufgrund eines objektiven Wissens die Befragten besser zu verstehen beansprucht als sie sich selbst. Das ist eine legitime und erprobte Interpretationsstrategie; für philosophische Überlegungen auf der Grundlage der Interviews empfiehlt es sich allerdings, dem eine weitere Interpretationslinie an die Seite zu stellen. In dieser Einleitung soll die Differenz zwischen diesen Ansätzen kurz umrissen werden. Bourdieus »Objektivierung« im Kontext der Kunst möchte die »illusio«, den Glauben der Leute an die Regeln der Kunst ans Licht bringen und in emanzipatorischer Absicht problematisieren (darum nennt Latour diese Soziologie »kritisch«). Das religiöse Vokabular, das Bourdieu bei seinen Analysen ins Spiel bringt (Glaube, Wunder, Heiligung, Konsekration, Transsubstantiation u.ä.), zeigt diese entzaubernde Absicht an: was schon bei der Religion kritisiert wurde – die Verdrängung, Verschleierung und Verleugnung des ökonomischen Hintergrundes, auf dem das ganze »Spiel« beruhe (Bourdieu 2001, 239f.), sei auch am Kunstbetrieb zu entmystifizieren. Es gelte, durch eine »genetische Soziologie« die ökonomische und sozialisatorische Realität hinter den »unbewussten« Äußerungen der Agenten aufzudecken (459, 463). Bourdieu erklärt die wirksamen Motive der Akteure als Aufstiegskämpfe, die durch unterschiedliche Kapital-Ausstattungen in einem stratifizierten Kampffeld ausgetragen werden. Diese Position ist

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allerdings auch als Entwertung der Perspektive der Akteure empfunden worden (vgl. Celikates 2009), etwa wenn in diesem Zusammenhang Worte wie Verleugnung, Verschleierung, Verkennung, Heuchelei oder Phantasmagorien fallen.4 Wenn den Akteuren verdeckte Motive zugeschrieben werden, dann können ihre eher emphatisch ausfallenden Äußerungen wirken wie ein subjektiver Spleen, oder gar wie ein religiöser Glaube, der seinen Gegenstand verklärt und so verkennt. Gegen diesen Entzauberungsgestus wendet sich nun Latour: Wenn man dem zuhört, was die gewöhnlichen Kunstliebhaber sagen, erklären sie einem bereitwillig und eingehend, wie und warum sie bewegt, berührt, ergriffen werden von Kunstwerken, die sie dazu bringen, Dinge zu empfinden. Unmöglich! Verboten! Ergriffen zu werden wird zu bloßer Affektiertheit erklärt. […] Nun, auch hier wieder, wie schon bei Religion, Wissenschaft und Politik, werden die Menschen durch den ›wissenschaftlichen‹ Zugriff der Sozialwissenschaft dazu gebracht, sich […] zu täuschen: Wieder einmal werden sie zu Gläubigen gemacht! (Latour 2010, 406). Hans Joas (2011, 147ff.) hat mit seinem Konzept der »affirmativen Genealogie« die Entzauberungsabsicht ebenfalls kritisiert (vgl. Bennett 2001): ihm zufolge kann man nachzeichnen, wie bestimmte Vorstellungen entstehen, ohne zugleich die Gültigkeit dieser Vorstellungen in Frage zu stellen. Nur weil ein Pärchen weiß, wo und warum es sich kennengelernt hat, ist die Liebe zwischen ihnen ja noch lange kein Schein. Anstelle einer entmystifizierenden Interpretation schlägt Latour aber nicht vor, die Sozialforschung zu unterschlagen und möglicherweise naive Binnenperspektiven unhinterfragt zu übernehmen. Vielmehr möchte er die Perspektiven von Akteuren und Beobachtern verbinden: »je mehr Verknüpfungen, desto besser« (Latour 2010, 407). Beide, objektivierende Genealogie wie die Binnensicht der Beteiligten, können etwas treffen. Die Frage ist, wie man es zusammenbringt, wie die Perspektiven voneinander lernen können. Als Versuch in dieser Hinsicht ist

4  Schon in der frühen Soziologie des Geschmacks heißt es: »die Illusion des unmittelbaren Verstehens führt zu einem illusorischen Verständnis, das von einem falsch gewählten Schlüssel herrührt« (Bourdieu 1974, 308). Urteile über Kunst seitens mangelhaft gebildeter Betrachter seien »falsch«; offensichtlich gibt es aber auch einen richtigen Schlüssel.

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auch das vorliegende Buch zu verstehen, in dem unterschiedliche Disziplinen in ihren Analysen von Interviews miteinander arbeiten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Latour seine pluralistische ontologische Position weniger durch die Laborstudien über Naturwissenschaften, sondern eher im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Kunst erarbeitet hat – denn hier sind solche »Bekenntnisse« weit verbreitet; auch unsere Interviews enthalten solch emphatische Partien. Der Bezug auf Latour impliziert nicht, die spekulative neue Ontologie zu unterschreiben, die Latour (2014) auf dieser Grundlage entwickelt. Er dient lediglich als heuristische Folie, die es erlaubt, Berichte über Erfahrungen mit Werken, Materialien und Arbeitsweisen auf eine alternative Weise mit Theorien zu verbinden, so dass ein Spektrum unterschiedliche Blicke auf das Material entsteht. Latour ist in diesem Zusammenhang insofern einschlägig, als er gerade der Philosophie dabei einiges zutraut: Wie könnten Feldforscher einer Hausfrau, einem Buchhalter, einem Pilger, einem Kriminellen, einer Sopransängerin zuhören und dem folgen, was diese zu sagen haben, hätten sie nicht Hegel, Aristoteles, Nietzsche, Dewey oder Whitehead, um ihnen zu helfen? […] Das bedeutet nicht, dass Philosophen es besser wüssten, tiefer eindrängen, fundamentaler wären als Sozialwissenschaftler, noch bedeutet es, dass sie der Soziologie eine ›Grundlage‹ lieferten oder eine ›Metatheorie‹ bereitstellten. Aber wenn man die Sozialwissenschaften von den Reservoirs philosophischer Innovation abschneidet, dann ist das ein sicheres Rezept dafür, dass niemand je die philosophischen Innovationen gewöhnlicher Akteure bemerken wird […]. Noch schlimmer wird es, wenn die Sozialwissenschaftler sich nicht nur der Metaphysik enthalten, sondern es geradezu als ihre Pflicht betrachten, auf einer äußerst beschränkten Liste von Handlungsträgern zu bestehen, und die unendlich mannigfaltigen Produktionen der Akteure ständig in diesen rudimentären Wortschatz übersetzen. (Latour 2010, 90) In den philosophischen Kapiteln dieses Buches werden daher zur Interpretation von Interviewstellen zuweilen Elemente aus der Philosophie herangezogen. Das dient keiner romantischen Verklärung, sondern dem Versuch, sich von den Berichten der Akteure produktiv überraschen zu lassen. Wir möchten wissen, wie die Akteur_innen selbst sich verstehen und wie sie ihre Praxis gestalten, und das von ihnen Geäußerte einer philosophischen Inter-

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pretation unterziehen. Möglicherweise können den soziologischen Befunden auf diese Weise weitere Nuancen an die Seite gestellt werden.

3. Probleme mit dem neuen Geist des Kapitalismus Neben Pierre Bourdieus Kunstsoziologie und Bruno Latours Alternativ-Vorschlag ist auch das einf lussreiche Buch von Boltanski/Chiapello (2003) in unserem Kontext relevant. Wenn sie die Ausdehnung des kreativen Arbeitens durch den Neoliberalismus beschreiben, dann ist das aus philosophischer Sicht weniger deswegen von Interesse, weil sich damit ein gegenwärtiger Habitus im Feld makrosoziologisch erklären ließe. Symptomatisch ist dieses Buch vielmehr, weil es eine seltsame Stillstellung der mit ästhetischen Idealen verbundenen Sozialkritik bewirkte, die das Philosophieren über Kunst lange angetrieben hatte. Denn wenn es stimmen sollte, dass sich der ästhetische Widerstand gegen die kapitalistische Moderne (die sog. »Künstlerkritik«) in den f lexibilisierten Neoliberalismus aufgehoben hat,5 dann wäre die ästhetische Distanz und Widerständigkeit tatsächlich zu einem bloßen Schein, zu einer Illusion, ja zu einem Vermarktungsgag oder einer Ideologie heruntergekommen. Die Interviews mit kreativ Schaffenden sollten daher auch Aufschlüsse über die Frage erlauben, ob die Künstlerkritik am Kapitalismus mit der neoliberalen Flexibilisierung wirklich gegenstandslos geworden ist, oder ob mit ästhetischen Praktiken nicht noch immer widerständige Praktiken und eigensinnige Werthaltungen gegenüber dem neoliberalen Kapitalismus verbunden sein können – ohne zum Schein zu werden. Die Boltanski/Chiapello-These lässt sich wie folgt überspitzen: »Alle bisherige Kritik am Kapitalismus wurde von selbigem vereinnahmt und als Innovationsmotor missbraucht«.6 Wenn das stimmen sollte, wie lässt sich überhaupt noch Kritik artikulieren, wenn ihre Gehalte derart schnell von der Gegenseite übernommen werden – und sich das Kritisierte auf diese Weise immunisiert? Diese Beunruhigung war in den letzten zwei Jahrzehnten weit verbreitet und hat zu zahlreichen Veröffentlichungen über die Frage geführt, 5 Sie setzen stattdessen auf die Rückkehr zu einer profaneren »Sozialkritik«, was unterstellt, dass sich diese beiden Kritikvarianten sauber voneinander abtrennen ließen. 6  Nach www.friedrichvonborries.de/de/projekte/rlf-manifest (RLF steht übrigens für »das richtige Leben im Falschen«).

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was Kritik im 21. Jahrhundert überhaupt noch sein kann, wie sie sich begründen, typisieren oder verändert rekonstruieren lässt. Kritische Theorie, die sich so versteht, formuliert allerdings meist keine eigenen Kritiken mehr, sondern stellt stattdessen die weit abstraktere Frage, wie und für wen Kritik überhaupt noch möglich ist. Sie ist es im heute dominanten Verständnis nur noch in abgeleiteter Form, als Rekonstruktion geteilter Normen, als Kritik auf zweiter oder dritter Abstraktionsebene, die weit vom Alltag der Akteure entfernt ist.7 Doch diese Reaktion hat bereits viele Kröten geschluckt. Eine überziehende Lektüre von Boltanski/Chiapello kann den Eindruck erzeugen, als sei der ganze Kapitalismus ästhetisch und die Kunst zu einer f lexibilisierten neoliberalen Veranstaltung geworden, die vor allem vermögende Kunden bedient und so zu einem Zweig des Finanzkapitals geworden ist; als sei heute jede Arbeit künstlerisch überformt und zugleich unternehmerisiert etc. (McRobbie 2003; Osten 2003b; Reckwitz 2012; kritisch dazu Henning 2013 und 2016a). Bliebe man hier bei Pauschalthesen stehen, dann würden die interessanten Details, die Widerständigkeiten der Akteure und die Ambivalenzen des Feldes, leider überdeckt. Etwas Distanz ist daher auch gegenüber Boltanski/Chiapello (2003) angebracht, zumindest gegenüber der verbreiteten übertriebenen Lesart von ihnen. An ältere Kritiken lässt sich dabei anknüpfen: So hat Harald Wolf (2004) moniert, Boltanski und Chiapello blickten primär auf ideologisierte Managementliteratur und malten die Realität vorschnell nach deren Bilde; sie gingen so Idealisierungen auf den Leim. In der Tat ist es fraglich, ob sich Werterfahrungen der ästhetischen Arbeit einfach durch Diskurse auf andere Regionen weitertransportieren lassen – dazu bedürfte es noch »Bewährungen« in der Praxis. Doch genau darüber hören wir zumindest in unseren Interviews etwas anderes. Ästhetisches Arbeiten ist noch immer deswegen attraktiv, weil andere Arbeitsformen nicht auf vergleichbare Weise selbstbestimmt und am Material orientiert sind. Weiterhin haben Lazzarato (2007) und Manske (2016) bemängelt, dass die Trennung von Künstler- und Sozialkritik bei Boltanski/Chiapello empirisch danebengreife, weil sie sie als Artikulationsweisen von Ober- und Unterschichten und ihren jeweiligen Professionen missdeute und so unnötig auseinanderreiße. De facto geht beides häufig Hand in Hand. Der Riss zwischen Etablierten und Prekären verlaufe 7 Zur Kritik an dieser Wendung der »Kritischen Theorie« Henning 2017b.

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weniger zwischen Berufen, sondern vielmehr innerhalb derselben. Gerade die vielen prekaritätsgefährdeten Künstler bilden heute in vielen Ländern eine starke Säule der Sozialkritik. Daher sind am Narrativ des »neues Geistes« Fragezeichen anzubringen: Sind es überhaupt dieselben Werte, die einerseits dem Künstlertum, andererseits dem neuen Geist des Kapitalismus zugeschrieben werden? Bedeuten die abgenutzten Wortmünzen »Freiheit« oder »Kreativität« in beiden Fällen nicht unterschiedliche Dinge? Verstehen Kunstschaffende das, was ihre Tätigkeiten und Lebensformen für sie ausmacht, tatsächlich so, dass es sich auf die Arbeitsorganisation in Betrieben übertragen ließe – oder sperrt sich dieses Ethos dagegen? Und macht es angesichts zu erwartender Unterschiede noch Sinn, von einer Umsetzung der »Künstlerkritik« im Kapitalismus zu sprechen? Sind die kritischen Forderungen nach mehr Freiheit, mehr Sinn und Selbstbestimmung in der Arbeit (und Freizeit neben ihr) nicht nach wie vor uneingelöst (vgl. Wenzel 2011, 190ff.; Kastner 2013)? Sind die Differenzen gegenüber ökonomischen Denkmustern wirklich derart abgeschliffen, dass ästhetische Arbeit zum Normalfall für alle geworden ist? Kurzum, ist eine ästhetische Praxis nicht noch mehr und anderes als ein Blueprint für neoliberale Flexi-Prekarisierung? Wir möchten solche Fragen nicht am Beispiel der Ausnahmen diskutieren, die meist in der Kunsttheorie behandelt werden – nämlich an solchen Künstlern und Gestaltern, die für ihre Werke hohe Preise erzielen und von der globalen Presse und von Kunsthistorikern hofiert werden. Das mag für die Höhenkamm-Kunst selbst aufschlussreich sein, doch bildet dies nicht die Lebensrealität der vielen im Bereich der Kunst und Gestaltung Tätigen ab, welche sich Tag für Tag auf gerader Ebene abmühen und froh sind, wenn sie als Gestalter_innen ein Einkommen erzielen oder als Künstler_innen über die Runden kommen. Wenn »Kreativität als Beruf« verstanden wird, sind diese Künstler_innen und Gestalter_innen von Interesse, für die der mediale und theoretische Hochglanzdiskurs über Kunst und Design nicht als repräsentativ begriffen werden kann. Unter unseren ca. zwanzig Gesprächspartnern sind Gestalter_innen, die teils als Selbstständige, teils als Angestellte in kleineren Agenturen arbeiten, sowie Künstler_innen, die gelegentlich in Galerien ausstellen, aber oft nicht hinreichend viel verkaufen, um auf andere Berufstätigkeiten ganz verzichten zu können. Es gibt neben dem globalen Kunstmarkt lokalere Märkte, auf denen man sich als Künstler_in und Gestalter_in bewegen kann, ohne gleich ein Star zu werden.

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Viele von uns Befragte finanzieren ihre künstlerische Tätigkeit durch Nebenjobs oder berufstätige Partner quer, können also nicht immer allein von ihrer Kunst oder Gestaltung leben; dennoch erzielen sie mit ihr zumindest einen Teil ihres Einkommens.8 Diese Kategorie von Künstlern grenzt sich nach oben hin von den kommerziellen Stars ebenso ab wie nach unten hin zu den Hobby-Malern, die vielleicht privat an etwas basteln, aber mit ihren Werken nicht an eine Kunst-Öffentlichkeit gehen, oder von dieser selbst auf lokaler Ebene nicht wahrgenommen werden. Auch von den Versuchen, eine »kreative Stadt« im Rahmen der urbanen Aufwertungspolitik aus dem Boden zu stampfen, grenzen sie sich ab; unter der Gentrifizierung, die damit einhergeht, leiden sie häufig als erste, da es in der Stadt absehbar immer weniger günstige Ateliers und Off-Galerien geben wird. Das Kriterium dafür, eine solche Kunstschaffende zu sein, ist also eine Verankerung in mindestens lokalen Kunstereignissen und ein aus der künstlerischen Tätigkeit erzieltes Einkommen, das wenigstens einen Teil des Unterhalts deckt. Wie verstehen diese Akteure sich und ihre Praxis nun selbst? Wie handeln, wie denken, wie interagieren sie?

8  Nach Dangel (2006, 41) geben 50 Prozent der selbstständigen Literaten an, auch Nebenjobs zu machen, in der Untersuchung von Thurn (1985, 47) waren sogar 75 Prozent der Künstler nur nebenerwerbstätig, sagten aber, die künstlerische Tätigkeit mache ihr »ganzes Leben« aus.

Widerstände und Ordnungsrufe auf dem Weg in Kreativberufe Franz Schultheis

Vorbemerkung Im nachfolgenden Beitrag wird der Versuch unternommen, aus den Höhen theoriegeleiteter Gesellschafts- und Zeitdiagnostik und ihrer Narrative rund um Creative Economy und Creative Class hinab zu steigen in die von diesen Passepartout-Konzepten anvisierten Alltagswelten und mittels qualitativer Sozialforschung nach der Sicht der uns interessierenden Akteur_innen der Kreativwirtschaft und des künstlerischen Feldes auf eben diese Praxisfelder, das eigene beruf liche Selbstverständnis und die anzutreffenden subjektiven Selbstverhältnisse zu fragen. Mittels einer soziologischen Lesart der Tiefeninterviews mit Vertreter_innen unterschiedlicher Kreativberufe wird der Versuch unternommen, verstehend die »inneren und äußeren Motive« (Weber) nachzuvollziehen, die Zeitgenoss_innen dazu bewegen, ihre (berufs-)biografischen Entwürfe an diesem offenkundig von vielen Ungewissheiten und Unwägbarkeiten, Risiken dauerhafter Prekarität und Statusunsicherheit am in der Einleitung des Bandes soziohistorisch rekonstruierten role model des »Kreativen« zu orientieren. Dass es sich hierbei nur um eine explorative Annäherung an diese Sozialfigur handeln kann, die auf die Gewinnung von in breiteren und vertiefenden Forschungen noch empirisch zu sättigenden Hypothesen zielt, versteht sich von selbst.

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1. Einleitung Wenn der Begriff »Selbstverwirklichung« zur Beschreibung des Berufswunsches Kreativschaffender von keinem der Befragten verwendet, ja sogar im Falle der von einem Interviewer gemachten Anspielung weit von sich gewiesen wurde, so scheint dieses Konzept doch durchaus treffend eine von vielen Gesprächspartner_innen im Projekt »Kreativität als Beruf« gemachte biografische Schlüsselerfahrung auf den Punkt zu bringen. In einer deutlichen Mehrheit der gesammelten biografischen Erzählungen wird ausführlich und nachdrücklich davon berichtet, wie sehr das direkte soziale Umfeld  – insbesondere die Eltern – beim Auf keimen eines solchen Berufswunschs massive Ablehnung an den Tag legte, von einem als unsicher und brotlos erscheinenden Berufsbild abriet und zu einem soliden, konventionellen Beruf hinlenken wollte. Mehr noch: In manchen der biografischen Erzählungen wird deutlich, wie fern die Welt der Kreativarbeit, ihre Berufsbezeichnungen, Positionen und Funktionen gerade aus der Sicht eines bildungsfernen Elternhauses erschienen und schon die Idee, die eigenen Nachkommen auf eine solche terra incognita zusteuern zu sehen, erschreckte. Dass der Kontinent »Kreativarbeit« auf den Mindmaps der Elterngeneration kaum mit klaren Konturen und konkreten Assoziationen einhergehen dürfte, scheint plausibel, wenn man als Soziologe auf das soziodemografische Profil1 dieser Population schaut. Hierzu zählt zunächst der Generationenzusammenhang. Die schon angesprochene Karriere der Kreativberufe hin zu einem gesellschaftlichen Leitbild ist zeitgeschichtlich eng mit der Generation unserer Gesprächspartner_innen verbunden: Viele von ihnen sind in den 1960er- oder 1970er-Jahren geboren worden. Als naheliegendes oder gar ideales beruf liches Wunschbild war das Feld der kreativen Arbeit für ihre Eltern weit weniger präsent. Hinzu kommt, dass das Herkunftsmilieu eines guten Teils der Befragten im Bereich handwerklicher oder landwirtschaftlicher, aber auch gering qualifizierter industrieller oder administrativer Tätigkeiten zu verorten ist. Insgesamt situieren sich die Erzählungen zur eigenen Herkunft in einer – für die Mehrheit der Elterngeneration – bildungsfernen Alltagskultur. Ein Großteil unserer Gesprächspartner_innen stammt aus einem ländlichen Umfeld. Eine Stadt wie Zürich, die sich vor allem in den letzten Jahren als Creative 1 Siehe die Steckbriefe der Gesprächspartner_innen im Anhang.

Widerstände und Ordnungsrufe auf dem Weg in Kreativberufe

City profiliert hat bzw. gebärdet, ist zwar geografisch gesehen in Reichweite, von der Alltagskultur und milieuspezifischen Mentalitäten her jedoch geradezu Antipode. Und last but not least kommt dann noch für unsere weiblichen Proband_innen der Faktor Gender und die mit ihm einhergehenden geschlechtsstereotypen Rollenzuschreibungen mit ins Spiel. Karikierend könnte man hier den Idealtypus einer besonderen soziobiografischen Unmöglichkeit der Berufswahl »Kreativarbeit« auf den folgenden Steckbrief bringen: junges Mädchen aus ländlicher Gemeinde mit bildungsfernen und manuell tätigen Eltern – eine idealtypische Zuspitzung, die in einigen der beschriebenen Biografien keineswegs wirklichkeitsfremd erscheint. Auf Widerstände oder Unverständnis stießen aber auch Töchter und Söhne aus bildungsnahen Mittelschichtsfamilien mit Eltern in qualifizierten Berufen und zum Teil akademischen Titeln. Auch hier galt der elterliche Ordnungsruf: »zuerst eine gesicherte beruf liche Ausbildung«! Die biografischen Erzählungen unserer Befragten verdeutlichen beredt, wie viel Energie, Durchsetzungswillen und Beharrlichkeit jeweils nötig war, um diese Barrieren zu überwinden, oft genug mit mehr oder weniger »faulen« Kompromissen, Umwegen, Verzögerungen und dem psychischen Ballast, das Risiko einer Obstruktion gegen den guten Willen und Rat der Eltern im Falle des Scheiterns allein schultern zu müssen. Häufig scheint die damit einhergehende Verunsicherung noch dadurch verstärkt worden zu sein, dass die Proband_innen in ihrem eigenen sozialen Umfeld über keine greif baren Vorbilder für die anvisierten Berufsprofile verfügten, selbst nur zufällig und vage mit ihnen in Berührung gekommen waren und sich biografisch auf die Reise in eine diffuse Zukunft begaben. Immer wieder wird in ihren Erzählungen deutlich, dass von diesen unbestimmten Berufszielen dennoch eine nicht näher definierbare Faszination ausging, die den realistischerweise näherliegenden Berufskarrieren wohl fehlte. Betrachtet man die biografischen Flugbahnen unserer Population soziologisch, so kann man für eine Mehrheit pauschalisierend von einer historisch gesehen durchaus typischen generationsspezifischen Aufstiegsmobilität sprechen mit gegenüber den Eltern mehrheitlich höheren Bildungstiteln, dem intergenerationellen Wechsel von eher manuellen und gering qualifizierten zu professionalisierten Tätigkeiten, rural geprägtem Kontext hin zum urbanen Raum und vom kunstfernen zum kunstaffinen Berufsbild. Aber es finden sich auch Gegenbeispiele, etwa wenn die Tochter aus einem akademisch geprägten Herkunftsmilieu als Einzige in der Familie die Ma-

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turität nicht erreicht und in die Kreativwirtschaft ausweicht, die durch ihre enorme Unbestimmtheit gute Chancen für biografischen Konversionen bietet. Der Widerstand der Eltern gegen die Berufswünsche ihres Nachwuchses nährt sich, die oben genannten Gründe zeigen es, oft genug aus der Realitätsferne der Sphäre der Kreativberufe für die alltägliche Lebenswelt der Herkunftsfamilie. Wie uns die Interviewauszüge noch illustrieren werden, stand nicht selten die Frage im Raum, ob es sich bei den anvisierten Tätigkeiten denn überhaupt um »Arbeit« oder einen echten »Beruf« handelt? Konkreter und dringlicher war aber häufig die Sorge, ob man davon denn überhaupt »leben« kann. Insgesamt geht es hier aber auch immer um das mächtige familiale Motiv der sozialen Reproduktion des jeweils erreichten Status quo bzw. der in die Hoffnung auf intergenerationelle Aufstiegsmobilität investierten Energien. Im ersten Falle zeigt sich gerade bei bildungsnahen Mittelschichtsfamilien das Schreckgespenst eines Statusverlustes und des drohenden Risikos sozioökonomischen Abstiegs. Aus einer »familienegoistischen« Perspektive gilt hier das Prinzip, dass die nachwachsende Generation mindestens das von den Eltern erworbene ökonomische, soziale und symbolische Kapital »erben« und bewahren sollte. Das Risiko eines Abstiegs der Nachkommen bzw. ihr Scheitern in Sachen Besitzstandswahrung ist in dieser Sicht keineswegs deren rein persönliche, individuelle Angelegenheit, sondern betrifft die ganze Familie, die gesamte genealogische Gruppe und ihre Familienehre. Die Sphäre der kunstaffinen Berufe entwickelt ja keine generellen auratischen Effekte für Jedermann, sondern ist in den Augen vieler Zeitgenoss_ innen, insbesondere Vertreter_innen bildungsferner gesellschaftlicher Milieus, eher mit stigmatisierenden Attributen assoziiert. Diese verweisen durchaus auf eine Beharrungskraft der seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelten Klischees von »Bohème«, konnotiert mit Marginalität, materieller Unsicherheit, moralischer Anrüchigkeit bis hin zu offener Devianz und Promiskuität, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein dürfte, dass der Mythos »Bohème« ja explizit und dezidiert als antibürgerliche Inszenierung einer Subkultur von »enfants terribles« hervorgebracht wurde. Beim elterlichen Entsetzen gegenüber den biografischen Entwürfen der Nachkommen haben wir es also mit einem Amalgam von teilweise nachvollziehbaren Sorgen um die materielle Sicherheit, teils aber auch mit überkommenen Stereotypen und sie begleitenden diffusen Ängsten gegenüber der

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Abweichung von Standardbiografien und konventionellen Existenzweisen zu tun. Die Widerstände der Herkunftsfamilie gegen solche Zukunftspläne dürften wohl auch von der nachvollziehbaren Sorge geprägt sein, die eigenen Unterhaltspf lichten und Verantwortlichkeiten in eine längere Zukunft ausgeweitet zu sehen. Dieses Motiv wird in den Interviews nicht immer direkt und unverblümt beim Namen genannt, scheint aber teils unterschwellig mitzuschwingen. Aus der Sicht der Befragten nimmt sich diese elterliche Haltung ambivalent aus. Einerseits wird dem Drang zum gewählten Ausbildungs- und Berufsbild ja eine Absage erteilt. Wie man aus den Erzählungen heraushört, geschieht dies aber mit anerkanntermassen berechtigter Sorge und teilweise nachvollziehbaren Argumenten. Dort, wo die elterliche Autorität aufgrund des Abhängigkeitsgrades der Kinder groß genug ist, um deren Zukunftsplänen vorerst einen Riegel vorzuschieben, finden wir des Öfteren Kompromisslösungen wie das Einlegen einer biografischen Zwischenetappe in Form einer höheren Schulbildung oder einer soliden Berufslehre. Die Widerstände der direkten Bezugspersonen schlagen sich aber auch in einem für das eigene Selbstverhältnis und den Bezug zum beruf lichen Lebensentwurf bedeutsamen »heroischen« Zug nieder, das persönliche Freiheitsrecht auf die Gestaltung des eigenen Lebensweges gegen den leichteren Weg opportunistischen Einschwenkens auf die elterlichen Wünsche durchzusetzen. Mit dieser Widerständigkeit gegen die ja »gut gemeinten« Warnungen der Eltern geht aber oft auch eine belastende Hypothek einher: Im Falle später wartender Probleme und Erschwernisse oder gar eines definitiven Scheiterns des eigenen biografischen Projekts kommt dann zusätzlich eine Last in Form von moralischer Schuld hinzu, »trotz« der skeptischen Prognosen, Einwände und Warnungen den riskanten Weg eingeschlagen zu haben und mit »offenen Augen« in das eigene Unglück gelaufen zu sein. Anders gesagt, haben wir es bei diesen biografischen Entscheidungen häufig mit Quellen massiver kognitiver und moralischer Dissonanzen zu tun, die bei Realisierungsproblemen oder gar Scheitern des Vorhabens auch noch zu Selbstvorwürfen und zusätzlichen psychischen Belastungen führen können. Fehlt es an positiver sozialer Resonanz für das aus dem subjektivem Selbstverhältnis und -verständnis entworfene beruf liche Ideal, so steht dieses auf wackligen Füssen: Identitätskonstruktionen und biografische Entwürfe bedürfen bekanntlich gerade in der kritischen Entwicklungsphase Adoleszenz der sozialen Bestätigung und Verstärkung. Als Einzelkämpfer_in ist ein solches Projekt nun einmal von oft dauerhafter Verunsicherung begleitet,

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was einige der Befragten deutlich zum Ausdruck bringen, wenn sie etwa die Frage aufwerfen, ob dieser Weg denn wirklich der richtige für sie war. Quelle des Selbstzweifels ist dabei auch der von der eigenen sozialen Herkunft aus bildungs- und kunstfernen Milieus genährte »gespaltene Habitus« (Bourdieu 2002, 91). Auch wenn man faktisch durch Bildungsaufstieg und Eintritt in die Berufswelten der Kreativwirtschaft einen neuen gesellschaftlichen Status erwirbt, so ist dieser im Selbstbewusstsein noch nicht angekommen, geschweige denn gesichert. Das Gefühl, die angestammte Lebenswelt der Herkunftsfamilie hinter sich gelassen zu haben, ohne wirklich voll und ganz im angestrebten Milieu Anspruch auf Vollmitgliedschaft erheben zu können, führt dann oft zu einer Zerrissenheit – man ist im Sinne sozialer Mobilität in die Ferne aufgebrochen, ohne wirklich anzukommen. Mit der Entscheidung für einen gegenüber den eigenen familialen Ursprüngen querliegenden berufsbiografischen Entwurf ist auch die Frage nach der Quelle und dem Sinn einer so radikalen Abkehr von tradierten und naheliegenden Berufszielen schwierig zu beantworten. Das verdeutlicht eine erste hier zitierte Gesprächspartnerin. Die Interviewpassage wird hier aufgrund ihres exemplarischen Stellenwerts ausführlicher als andernorts zitiert.

2. »… so eine Veranlagung« Julia, eine Künstlerin, die zuvor eine Ausbildung zur Textilgestalterin absolviert hatte, antwortet auf unsere Frage: Interviewerin: War das [das Hobby zum Beruf machen] auch so für dich der Ausschlag, in die Richtung zu gehen, Textilgestaltung? Julia (K5): Ja, das ist- also das ist totaler Zufall im Fall, meine Berufs- meine Berufswahl. Also das ist- also das ist so barer Zufall gewesen, Textilentwerferin. Schau, ich bin auf dem Land aufgewachsen. Wirklich so Metzgerei, mit drei Geschwistern, Metzger also … Interviewerin: Also deine Eltern haben ... Julia: Ja, meine Eltern haben eine Metzgerei und wirklich so Dorf, oder. Auf dem Land und so ein Landei irgendwie. Aber was ich immer- also was eigentlich- was ich trotzdem eigentlich verblüffend finde, dass das so ist bei uns Menschen nicht bei allen, aber bei mir ist das so gewesen, ich habe immer

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gewusst, ich will etwas Gestalterisches, das hat mich schon immer angezogen. Und das finde ich irgendwie manchmal noch speziell, wenn ich denke, warum ist das so gewesen? Es hätte überhaupt nicht sein müssen, also das hat mich immer schon angezogen, ähm auch wenn ich vielleicht- ich bin ja überhaupt nicht so aufgewachsen, dass wir Kunstausstellungen anschauen gegangen sind oder- oder? Das ist nicht so gepflegt worden, daheim. Das ist- überhaupt nicht, und trotzdem, dass das- dass das wie aus einem, dass man die Veranlagung hat. Und das- das finde ich eigentlich total spannend. Weil das ist eigentlich das, was mich die ganze Zeit, den ganzen Weg nachher eigentlich ähm- ja, das ist eigentlich immer so selbstverständlich gewesen, oder? Es ist überhaupt nicht anerzogen oder irgendwie. Es ist wie wirklich so eine Veranlagung, die man haben kann und das finde ich eigentlich noch spannend. In diesem Blick auf die eigene biografische Flugbahn – vom »Landei« zur »Künstlerin« – erscheint der zurückgelegte Weg geradezu märchenhaft. Ohne irgendwelche ererbten Ressourcen – sei es auf dem Wege genetischer oder kultureller Transmission – verspürte die Befragte, wie sie erzählt, von Beginn an einen inneren Drang zur gestalterischen Tätigkeit. Zur Erklärung dieses für sie selbst erstaunlichen Umstands greift sie auf das teleologisch anmutende Argument »Veranlagung« zurück. Im Verlauf des Gesprächs wird jedoch deutlich, dass es sich bei ihrem Verständnis um ein diffuses Konzept mit einem sehr weiten Spektrum an empirischen Bezügen handelt. Auf die Frage: Interviewerin: Hast du’s so einfach in der Schulzeit oder schon davor bemerkt, das liegt dir oder das macht … Julia (K5): Ja, also nicht mal das! Rein ähm das Interesse, dass ich d- also ich wollte immer Schaufenster- also- ganz klar ist es gewesen bei der Berufswahl, ich will irgendetwas Gestalterisches machen. Und dann habe ich- irgendwie ein Kollege meiner Schwester ist Schaufensterdekorateur gewesen und den habe ich super gefunden – also den habe ich auch als Typ super gefunden – aber der ist Schaufensterdekorateur gewesen und dort bin ich auch so schnuppern gegangen und dann habe ich das eigentlich cool gefunden und wollte das machen, aber dann bin ich immer zu spät gewesen mit dieser Vorkursprüfung oder ich bin einfach- ich wäre glaub auch gar nicht reingekommen in diesen Vorkurs. Weil ich glaub einfach noch zu wenig reif gewe-

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sen bin. Und ich habe nicht gut zeichnen können. Ich habe- ich bin- ich habe immer das- eben immer so der Komplex, du musst super zeichnen können, sonst bist du nicht krea- also weißt du, nur so dieser Maßstab von, das Zeichnen muss- und ich bin nicht k- ähm das ist nicht meine Stär[ke]- also, diese Kinder, die immer zeichnen und so, die sind die Kreativen das heißt- das ist ein Teil, oder? Aber ja, auf jeden Fall habe ich- habe ich- was mich auch interessiert hat, ist Maskenbildnerin. Also einfach auch das Theater, das hat mich als Kind auch immer so fasziniert, einfach so die Theaterwelt, ich weiß doch auch nicht ... Interviewerin: Also das ist oder war auch was, was du gekannt hast so irgendwie ... Julia: Ja pff, aber nicht groß, ich bin mal mit meinem Götti die Zauberflöte schauen gegangen im Kindertheater, aber das hat mich so- also eben, manchmal braucht es ja nicht- manchmal braucht es auch nur so ein Erlebnis. Ich glaub einfach auch die Welt, von diesem von diesen Inszenierungen und so, obwohl ich ja nicht viel gesehen habe, aber man weiß ei- man spürt einfach so Zeug glaub auch, wo es einem hinzieht. Und natürlich habe ich dann- Maskenbildnerin hat mich interessiert, oder? Und nachher ist das so- dann bist du ins Berufszentrum und dann hat es diese Profile, was du musst- also, um das zu werden und dann ist dort gestanden, Coiffeuse oder Kosmetikerin. Weißt du! […] Und nachher hat es einfach so einen Kosmetiksalon gehabt daheim, wo ich aufgewachsen bin, und nachher bin ich so einen Tag schnuppern gegangen zu ihr und ich habe ihr gesagt, ›ja, ich möchte einfach einen kreativen Beruf‹ und die hat natürlich sofort gemerkt, das ist doch nichts für mich, da so Kosmetik- weißt du, ich bin damals so recht ein lebendiges Kind äh gewesen. Also weißt du, so ja einerseits, andererseits vielleicht auch wieder nicht, aber das ist jetzt psychologisch [lacht, Interviewer stimmt ein]. Nein, aber auf jeden Fall bin ich dort hingegangen und dann sagt sie so, ›ah, ein kreativer Beruf‹, jetzt habe sie gerade ein Inserat gelesen für eine Lehrstelle, Textilentwerferin. Und bei dieser Firma, so eine ›Grümschelibude‹ und du, nachher bin ich dort schnuppern gegangen so in das Atelier, mit den Webstühlen und das hat mir total gefallen und nachher habe ich dort die Lehre gemacht. […] Und ich habe irgendwie ehrlich gesagt- das ist wirklich so naiv irgendwie, ich habe gar nicht genau gecheckt, was das alles beinhaltet, Textildesign, oder? Ich bin nie auf diesem Trip gewesen schon ›ah, ich will Designerin werden‹. Ich weiß, es hat so Leute in der Gewerbeschule gehabt, die immer schon- das ist immer schon denen ihr Kinderwunsch gewesen. Und ich bin wie so ein biss-

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chen dort- ja also so völlig Zufall, eben wirklich Zufall, also- und trotzdem ist das so meins geworden. Hat so gepasst. Und nachher nach der Lehre, bin ich in den Vorkurs und dort bin ich wie auch angekommen. Men- also für mich als Mensch. Also dort bin ich wie so ähm ja habe ich das Gefühl, jetzt bin ich endlich in der Umgebung, wo ich hingehöre. Das ist wirklich noch eine spezielle Erfahrung gewesen. Weil vorher halt auf dem Land und da weißt du mit meinen Schulkollegen, das habe ich mich nicht so- ich habe immer so- eben, das ist wie nicht- ich bin nicht in dieser Welt drin gewesen, wo ich irgendwie gespürt habe, wo ich mich auch umgeben möchte, oder. Also einfach in diesem gestalterischen, künstlerischen-. Und das musst du auch zuerst wie ein bisschen entdecken, das musst du auch zuerst wie ein bisschen aus diesem Nest raus vom- auch wenn du grad noch vom Land ... Die Erzählung unserer Befragten führt also von der Feststellung einer schon immer vorhandenen Veranlagung für Gestaltung zur Rekonstruktion einer stark mäandernden, langsam vorantastenden Suche nach einer geeigneten beruf lichen Umsetzung bzw. Realisierung. Diese Suchbewegung begann mit dem Berufsbild Schaufensterdekorateur_in, vorgelebt durch ein »cooles« Vorbild, scheiterte aber bei der Umsetzung an institutionellen Hürden des Bildungssystems wie auch der eingestandenen eigenen Schwäche in Sachen Zeichnen (»immer so der Komplex, du musst super zeichnen können, sonst bist du nicht krea- […] also, diese Kinder, die immer zeichnen und so, die sind die Kreativen«). Dann springt die Erzählung vom ursprünglichen Berufswunsch »Schaufensterdekoration« hinüber zu »Maskenbildnerin«; begründet einerseits durch das Scheitern des ersten Projekts und die genannte fehlende Voraussetzung, aber auch durch die persönliche Faszination gegenüber der Theaterwelt, die auf Erinnerungen an einen frühen Theaterbesuch zurückgeführt wird. Von diesem Wunschberuf – ihrem zweiten  – beseelt, begab sich die spätere Künstlerin zur Berufsberatung, wo dieses dann angesichts des vorgesehenen Spektrums an passenden bzw. realistischen beruf lichen Angeboten auf die bodenständigeren, aber deutlich weniger kulturaffinen Berufstypen Coiffeurin und Kosmetikerin, beides ja bekanntlich stark geschlechtstypisch konnotiert – heruntergebrochen wurde. Während Ersteres in doppelter Hinsicht für unsere Gesprächspartnerin nicht in Betracht kam, d.h. sie sich nicht »traute«, und zugleich desinteressiert zeigte, schien hingegen Kosmetikerin durchaus in ihren Bereich des Möglichen zu fallen und sie ging immerhin zu einem Schnuppertag. Und dann winkt ihr

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das Schicksal in Gestalt eines Hinweises auf eine Lehrstelle im Textilentwurf. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass ihr dieser Beruf überhaupt bekannt war und sie etwas damit verbinden konnte. Vielmehr heißt es, sie sei ja »nie auf dem Trip« gewesen, Designerin werden zu wollen. Hier erweist sich das Schnuppern als erfolgreich und sie absolviert eine Lehre an einem »super Ort«. Trotz der Zufälligkeit dieser verschiedenen biografischen Experimente fügt sich ihr Schicksal schließlich wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt und sie tritt in eine Schule für Design ein – ein anderes Wort für den Begriff »Gestaltung«, der bei unseren Proband_innen ja als Leitmotiv fungiert. In dieser kunstaffinen Welt fühlt sie sich schließlich angekommen und von einer sozialen Last befreit: raus aus dem »Nest« und weg vom Dasein als »Landei«. Schaut man auf die bis hierhin sehr kurvenreiche biografische Flugbahn mit ihrer diffusen Zielvorgabe, so wirkt diese Vorstellung von schicksalhafter Fügung eher wie ein Musterbeispiel »biografischer Illusion« (Bourdieu 1998), bei der retrospektiv von einem mehr oder weniger zufällig und mit Irrungen und Wirrungen erreichten Status Quo der Weg zu ihm hin als zwangsläufig und als eine List der Lebensgeschichte erscheint. Was die so heterogen wirkenden, sukzessive in den Blick genommenen und in Erwägung gezogenen potentiellen Berufswünsche angeht – von Schaufensterdekorateurin über Kosmetikerin, Maskenbildnerin, Textilentwerferin bis hin zu Künstlerin, so werden sie durch das biografische Leitmotiv des Gestalten-Wollens zusammengehalten und reihen sich als unterschiedliche Variationen des gleichen Themas wie Perlen an der durchlaufenen Lebenslinie auf. Hierbei ist eine deutliche Steigerung der jeweiligen Kunstaffinität von typisch weiblichen und oft geringqualifizierten und -bezahlten Berufen bis hin zur freien Kunst, welche im Übrigen einkommensmäßig kaum einträglicher sein dürfte, deutlich sichtbar. Der schon in der frühen Kindheit, wenn nicht gar bereits in den Tiefen der eigenen Persönlichkeit situierte Ursprung des Dranges zur Gestaltung erscheint hierbei – in freier Analogie zur psychoanalytischen Libido-Theorie gedacht – wie eine zunächst diffuse, ungerichtete Energie, deren polymorpher Charakter es erlaubt, sie in unterschiedliche Gefäße und Ausdrucksformen zu »gießen«, bis sie schließlich in ihrer sublimierten Form ihre ideale Inkarnation bzw. »Bestimmung« in der Rolle als freie Künstlerin findet. Kommen wir dann noch zu der Art und Weise, wie dieser Werdegang von ihrer Familie beurteilt und begleitet wurde.

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3. »Ist Kunst Arbeit?« Interviewerin: Haben dich deine Eltern da unterstützt oder war das für sie so was, wo sie sich auch nix vorstellen konnten? Julia (K5): Ja, sie haben sich vielleicht schon nicht so unbedingt etwas vorstellen können, aber sie haben mich schon unterstützt. Ist nicht so die Haltung gewesen, ›ja, was machst‹- also, sie sind dann schon offen und ähm jetzt auch- die künstlerischen Arbeiten so, das interessiert sie schon, sie sind einfach nicht so gewandt in dem, oder. Also sie gehen schon- oder gerade in der modernen Kunst, aber so, wie es so üblich ist irgendwie halt auch. Also sie haben halt immer gearbeitet das Leben lang und auch nicht die Zeit gehabt für solche Sachen, die- oder? Ja. Da sind sicher zum Teil andere Meinungen da und was- was Arbeit ist. Und das ist natürlich auch wieder inner- innerhalb von meinem Prozess auch, sicher auch- also ich weiß gar nicht mehr so genau- aber das hat sicher auch zu diesem Prozess gehört, ist Kunst Arbeit? Also für mich persönlich ist das sicher auch so wie ich zuhause aufgewachsen bin- ja, ich habe manchmal auch so das Gefühl gehabt, wenn ich so am ›umeplämpere‹ gewesen bin, eben da mit meinen 50 Prozent arbeiten, da habe ich manchmal schon gedacht, ›läck‹ und meine Eltern, die- mir ist das schon zu viel, ich möchte jetzt nicht noch-‹ das, was sie gemacht haben, könnte ich niemals. Dabei ja gut, ich mache ja auch nicht nichts, aber- oder? Der Wert von der Arbeit irgendwie. Ist jetzt das ›pläuschlen‹, wenn ich einfach äh quasi auf meine Inspiration warte [lacht] oder so. Ist das Arbeiten, ist das Arbeit, ist das- oder, ja. Oder sowieso in der Kunst- gell, meine Eltern staunen, wenn jemand super malen kann. Klar finden sie, ›ah, die Performance von mir. Dasalso sie staunen glaub mehr, dass ich so etwas überhaupt mache, oder. Es ist mehr das. Also, bei gewissen Sachen, aber [lacht] aber- oder ja, fragen sich vielleicht, aber ich habe nie so viel auf das gegeben. Ich bin nicht jemand, der jetzt unter dem leiden würden, dass die Eltern- klar, wenn sie mich abweisen würden und finden ›also tzz‹. Wenn es jetzt ganz krass wäre so, dann- das gibts ja alles, oder? Aber ähm, das ist bei mir eigentlich immer- ja, ich finde es schön, wenn sie Anteil nehmen oder mal schauen kommen oder so und das machen sie auch, aber sonst ist das jetzt nicht so ähm, dass ich immer das Gefühl habe, sie müssen alles verstehen oder ich- ich verstehe es ja manchmal selber nicht, also weißt du irgendwie-. Ja, eigentlich ähm ist das- ja bin ich dort eigentlich recht frei. Oder ja, ich habe nicht das Gefühl, ich müsse ihnen etwas beweisen oder so. Was man ja manchmal noch wie das Gefühl

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hat, dass man ihnen sagen würde ›hey, seht ihr, jetzt trägt es doch Früchte oder, was ihr doch vorher so-‹ oder eben, wenn jetzt so so- wenn man nicht akzeptiert worden ist in dem. Dann hat man ja manchmal schon noch den Eltern gegenüber den Ehrgeiz, zu beweisen- also in gewissen Familiensituationen ist das schon noch so. Bei diesem Exkurs zum Verhältnis von Herkunftsfamilien und ihrem berufsbiografischen Werdegang wird deutlich, wie fremd und fern sich diese Welten sind und wie schwierig es ist, die ja bleibende Zugehörigkeit zu beiden für sich selbst, wie auch im Gespräch für Außenstehende, in Einklang zu bringen. Dies geschieht in Form eines den faktischen Unvereinbarkeiten von Herkunfts- und Zielmilieu Rechnung tragenden ambivalenten Diskurses. Die Eltern konnten sich unter ihrem Berufsziel »nicht so unbedingt etwas vorstellen«, haben aber »unterstützt«, sind zwar »nicht so gewandt«, »interessiert aber schon«, »sie gehen schon …« (gemeint ist wohl hier und da zu einem kulturellen Event), aber »nicht gerade in der modernen Kunst«. Kernfrage jedoch ist hier, was man eigentlich unter »Arbeit« versteht, wenn die Eltern »halt immer gearbeitet und ihre Brötchen gebacken haben das Leben lang«, während unsere Künstlerin am »umeplämpere« und am »pläuschlen« war. Wenn da die Eltern andere Vorstellungen haben, »was Arbeit ist«, dürfte das kaum erstaunen, und dass mehrere Gesprächspartner_innen mit ihrem Spagat zwischen zwei so konträren gesellschaftlichen Welten dann auch selbst sich die Frage stellen: »Ist Kunst Arbeit?«, ebenso wenig. Aus ihrer Sicht – »ich mache ja auch nicht nichts« – handelt es sich bei ihrer Kunst um eine Tätigkeit, die bei ihren Eltern bestenfalls auf Staunen, nicht aber auf verstehende Teilhabe stoßen kann, ein Staunen, dass noch nicht einmal dem Umstand geschuldet ist, dass sie »super malen« könnte, denn das kann sie ja nach eigenen Aussagen gerade nicht, sondern vielmehr nur, dass sie das, was sie tut, tatsächlich tut. Es geht also um Fremdheit schlechthin, und um das Gefühl zweier inkompatibler Lebenswelten, die dennoch in der eigenen Tochter personifiziert sind.

4. »Wie kein Beruf …« Ganz ähnlich klingt die Lebensgeschichte, die uns von einer Typografin erzählt wird.

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Interviewerin: Wie bist du auf Typografin gekommen? Deborah (D8): Keine Ahnung, ich wollte eigentlich Grafikerin werden, aber ich bin halt so, ähm, ganz auf dem Land aufgewachsen in einem sehr konservativen Umfeld, also sehr bäuerlichen Umfeld. Und mein Vater war Hufschmied und alle anderen Bauern, und ich wollte eigentlich an die Kunstgewerbeschule, keine Ahnung, wie ich auf die Idee gekommen bin, die war einfach plötzlich da drin, und das wurde dann halt nicht akzep- ›das geht nicht‹, oder. ›Also das ist wie kein Beruf, und du bist sowieso- also du kannst ja nicht mal richtig zeichnen‹ und so- also es war einfach wie so- das kam nicht in Frage. Und dann- sie haben- meine Eltern haben mir noch so wunderbare Vorschläge gemacht, was ich doch machen soll […] Hauswirtschaftslehrerin wäre so ein Vorschlag gewesen [lacht], da dachte ich, auch gut, aber nein, und dann, irgendwann haben sie gefunden, ja, so KV, das ist okay und allerweltstauglich. Ja und irgendwie so durch dieses, das will ich und das finden sie dann nicht gut, kam dann Typografin. Und Typografin war dann wie so ein Kompromiss. Das konnte ich mir noch vorstellen, dass mich das interessiert, und für sie war es so wie, doch, in der Druckerei, und das hat wie noch so einen Zweck und das ist was, was es wirklich gibt undInterviewerin: Hattest du eine Vorstellung, was das beinhaltet, Typografin? Deborah: Nee, nicht so. Nicht so konkret. Interviewer: Und wie kam das hier rein, mit der Kunstgewerbeschule? Deborah: Das weiß ich nicht. Interviewer: Nee? Also nicht von der Schule, nicht von irgendwie-? Deborah: Nein! Ich bin ja eben nur dort- dort zur Schule gegangen, ich war ja auch nicht- ich hatte keine Berührungspunkte mit all dem. Interviewer: Auch nicht in der Familie sonst? Das ist ja ein Ding. Deborah: Das war irgendwie ein komischer Spleen. Interviewerin: Also woher wusstest du- das klingt jetzt blöd, aberDeborah: Ich weiß auch nicht! Ich habe glaub eigentlich- ich weiß noch, ziemlich früh habe ich mal so einen Vortrag gemacht, über Wassily Kandinsky, und dann hat mich das so fasziniert, und dann habe ich das recherchiert, und irgendwie so aus dem ist dann das wie so rausgekommen, dass ich dann erfahren habe, dass es das gibt, und keine Ahnung. Irgendwie so. Auch hier also wieder Herkunft aus einem ländlichen, ja bäuerlichen Milieu und einer bildungsfernen Familie, wo der auch für die Befragte unerklärliche Wunsch an die Kunstgewerbeschule gehen zu wollen, früh auf keim-

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te. Die Eltern akzeptierten diesen Wunsch nicht, denn es handelte sich hier ihrer Meinung nach gar nicht um einen echten »Beruf« in ihrem Sinne des Wortes. Stattdessen wurden ihr von den Sorgetragenden Vorschläge für solide, typischerweise weiblich konnotierte, Berufe gemacht, die sie wiederum von sich wies, bis sich im Berufsbild der Typografin ein zwar wenig konkreter, aber kompromissfähiger Weg auftat – an der Schnittstelle von bodenständigen handwerklichen und kreativen Tätigkeiten. Auf die Frage, woher denn die Motivation stammte, die Kunstgewerbeschule zu absolvieren, gesteht sie, keine Berührungspunkte »mit all dem« gehabt zu haben und spricht von einem »komischen Spleen«, also einer rational nicht nachvollziehbaren persönlichen Eigenheit. Dieser »Spleen« wird dann in der erzählten biografischen Rekonstruktion mit einer Begebenheit assoziiert, der sie durchaus weichenstellende Bedeutung im Sinne eines Konversionserlebnisses beimisst, nämlich einer von der Auseinandersetzung mit Kunst ausgelösten Faszination. Die Suche nach einem Kompromiss zwischen den eigenen Lebensentwürfen und den Vorstellungen der Eltern kennzeichnet auch die Erfahrungen einer Künstlerin, für die sich mit dem Problem der lebensweltlichen Ferne des Herkunftsmilieus auch die Gender-Frage stellt. Interviewer: Also fangen wir mal mit der Familie an. Gab es vielleicht einen anderen Weg, den deine Familie dir … Miriam (K1): Sie haben natürlich gewollt, dass ich Lehrerin werde. Weil ich komme nicht aus einer akademischen Familie, mein Vater ist ungelernt gewesen und hat dann Dreher gelernt, meine Mutter hat auch nichts lernen dürfen und hat dann halt in einer Beiz gearbeitet. Ähm die Kinder sind quasi das Potential gewesen, die schaffen es ja dann, wenn man in die Schweiz kommt und äh, dort die Möglichkeiten hat, ich habe ja auch alles Potential gehabt, ich habe uh gute Noten gehabt, ich hab die, die Mittelschule relativ locker über die Runden gebracht, ähm-. Aber eben, eine akademische Laufbahn ist nicht zur Diskussion- wer hätte mir das sagen können? Also sie, ich habe, als es darum gegangen ist nach der Sek, habe ich gefunden, ich werde Coiffeuse, weil ich gefunden habe, da kann man es schön machen, ich habe schon immer gern schönes Zeug gemacht. Also, ich jobbe ja jetzt unterdessen eben auch als Handarbeitslehrerin und mach das total gern, also äh, aus etwas etwas machen. Also ich habe auch keine Berührungsängste zu dem. Und dann, der Berufsberater hat dann gefunden, ja, aber mit deinen Noten,

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da muss man vielleicht schon noch ein bisschen irgendwie so, und das ist in dem Sinn. Für die Eltern ohne »akademischen« Hintergrund, die selbst »nichts lernen durften«, ist das Berufsbild Lehrerin durchaus eine erstrebenswerte und für ihr Milieu angemessenes Ziel des sozialen Aufstiegs der Tochter, die hierbei ihr vorhandenes schulisches »Potential« einsetzen konnte, um das »Potential« der Familie zu realisieren. Tatsächlich stellt ja die schweizerische Institution des Lehrerseminars – zu jener Zeit noch ausgeprägter als heute – das gebräuchlichste Sprungbrett aus dem popularen Milieu in mittelschichtsspezifische Berufe dar, während die nicht zur Diskussion stehende akademische Lauf bahn in einer Gesellschaft mit einem hohen Maß an sozialer Selektivität beim Zugang zu »höherer Bildung« in ihrem Falle typischerweise erst gar nicht »zur Diskussion« stand. Interessanterweise lockt jedoch zunächst der Beruf der Coiffeurin unsere Gesprächspartnerin, weil man es in dieser Tätigkeit »schön machen« kann und sie schon immer gern »schönes Zeug« gemacht hat. Durch Anraten eines Berufsberaters kommt es dann anders: Miriam besucht die genannte, Kindern ihrer sozialen Herkunft mit Aufstiegspotential geradezu maßgeschneiderte Bildungseinrichtung und entwickelt in dieser Zeit ihre künstlerischen Interessen, was ihre spätere Hinwendung zur »freien«, aber ungewissen und seitens der Familie unverstandenen Tätigkeit als Künstlerin einleitet.

5. »Hey, was tu ich da …« Mit ihrer Entscheidung für einen so unkonventionellen Lebensweg sticht sie dabei deutlich von jenem ihres Bruders ab: Interviewer: Sind denn da Geschwister gewesen? Miriam (K1): Mein Bruder ist, äh, hat eigentlich mehr das gemacht, was wahrscheinlich verstanden wird, der hat sich weitergebildet, hat eine Managerausbildung gemacht, hat eine eigene Firma, verdient uh Kohle, und ist wirklich auch in einer sehr klaren Familienstruktur, mit Versicherung und-. Er ist da ganz, ganz ganz stark eben drin, oder. Das Haus ist auch alles abbezahlt, und wenn er sterben würde, könnten alle gerade so weiterleben. Also er ist da ganz, ganz auf der sicheren Seite. Und ich bin da überhaupt nicht auf der

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sicheren Seite Und jetzt habe ich noch das Kind, oder, und bin nicht verheiratet! So. Und das sind schon so Geschichten. Und ich glaube, ich bin immer noch ein bisschen am Hadern mit dem, das ist so. Und es ist schon so, da hat man irgendein Über-Ich, das einem die ganze Zeit sagt: Hey, was tu ich da, dass du dich das traust. Gegenüber diesem idealtypischen Bild einer realisierten »gutbürgerlichen« Standardbiografie befindet sich unsere Künstlerin in dauerhafter Beweislast, auch wenn sie auf einige Erfolge verweisen kann, die aber in ihrem spezifischen Stellenwert im Feld der Kunst »zuhause« gar nicht recht eingeordnet und geschätzt werden können. Miriam (K1): Also es ist schon noch – es ist in der Familie sicher noch so, dass sie das- also jetzt langsam finden sie es natürlich lässig, mit dem Preis, und im Kanton ist man bekannt, und jetzt kann ich eine Kunst am Bau realisieren, und jetzt bin ich in der zweiten Runde für das andere auch noch dabei. Das ist dann konkret, oder. Aber, äh, ja, meine Mutter sagt halt, ›ja, wieso verkaufst du die Bilder nicht, wieso malst du nicht ein bisschen so, weißt du, dann könnten wir das in der Stadt noch verkaufen Es ist wirklich, es ist nicht, es ist nicht irgendwie ja, eigentlich versteht sie es nicht. Das ist bitter, oder. Schließlich kommt sie spontan auf ein »Detail« ihrer Erfahrungen mit dem Sich-Unverstanden-Wissen zu sprechen, eine Anekdote aus ihrem Leben, die durchaus emblematischen Charakter für ein Gefühl des Außenseitertums und des subjektiven Leidens an dieser Rolle auf den Punkt bringt. Sie erzählt uns: Miriam (K1): Äh, nur noch schnell zum anderen, oder- also nur ein Detail: Ich habe immer in den Ferien gearbeitet. Und es ist schon noch gesellschaftlich, oder, du arbeitest dann z.B. im Wirtshaus. Deine Mutter ist dort, äh, man ist am Schaffen, man ist am Semi, und dann hat es da immer das- die Restaurantsituation, mit irgendwelchen Männern, die alles genau wissen, und mir dann so sagen: ›Und jetzt haben wir so viel gezahlt für dich, dass du das Semi hast können‹ – also ich habe ein Stipendium bekommen, oder – ›so viel gezahlt für dich, und jetzt wirst du nicht einmal Lehrerin‹ – es ist Lehrermangel gewesen […] Also die Stimmen, die sind natürlich da. Und dann hast du noch Zeichnungslehrerin gelernt und willst wieder nicht auf dem Beruf arbeiten.

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Also ich habe eigentlich eine Ausbildung gemacht, um dem zu genügen, habe dann aber trotzdem immer natürlich nicht so weitergemacht. Also das- von dem her ist das schon ein sehr starkes Thema gewesen für mich jetzt immer, oder. […] Ich will das einfach nicht, also ich finde das nicht, äh, also dann muss es wirklich einfach irgendwie so, ich weiß nicht, da muss man vielleicht auch eine Art von- ja, das ist halt doch, das hat halt stark mit der Biographie zu tun. Also wenn du ganz am Anfang sagst, ich hätte wie Andy Warhol sein wollen, oder. Bin ich nicht, oder. Ich habe da wie eine andere Geschichte. Nein, vielleicht auch nicht, vielleicht hat der gar nicht [lacht] so eine andere Geschichte, das weiß ich gar nicht. Aber, weißt du, das sind dann so Entscheidungen, die man gar nicht so fällen kann. Sondern da muss man einfach das nehmen, wo man herkommt, irgendwie, und ... Diese Erinnerung bringt die kritischen, ja geradezu feindseligen Reaktionen des angestammten sozialen Milieus auf das Ausscheren aus einer doch so gelungen eingespurten, geradezu beneidenswerten biografischen Flugbahn zum Ausdruck. Die Vorwürfe an die Adressen einer sich mit den bereits erreichten Privilegien sozialen Aufstiegs nicht zufriedengebenden jungen Frau, in deren »Potential« die Gasthaus-Besucher als Steuerzahler investiert zu haben glauben, kann sie nicht einfach abschütteln, wo sie doch mit ihrer sozialen Identität und Existenz selbst noch »hadert«. Solche stigmatisierenden Erfahrungen mit einem Umfeld, dessen lebensweltliche Relevanzstrukturen mit einer so unkonventionellen, ja konsternierenden biografischen Flugbahn unvereinbar sind, nimmt unsere Künstlerin als direkt mit ihrer Biografie bzw. ihrer spezifischen »Geschichte« verknüpft wahr. Auf die Frage, inwieweit diese auch als genderspezifische gelesen werden kann, antwortet sie: Miriam (K1): Äh, ja. Das ist schon- also das ist auch ein Thema, das mich schon beschäftigt. Also ich denke, auch in meiner Biographie, weiß ich nicht, wie weit ich, wenn ich ähm, nicht irgendwie auch die Rolle so intus gehabt hätte von der, von der Frau, die in dem Sinne in einem entweder helfenden Beruf, oder in einen lehrenden Beruf sein muss, äh, also das Selbstverständnis ist natürlich aus meinem Elternhaus, aber auch aus meinem Geschlecht heraus entstanden. Und dass ich eben nicht, oder, dass ich eben dann nicht die Kunstklasse probiert habe, weil ich auf eine Art auch vor der Art von Kommunikation mich scheue, und dann lieber einen Weg wähle, wo ich ein bisschen

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geschützter bin, also das hat sicher auch mit meinem ›persönlichen‹ Gender zu tun, also das ist ganz klar, ja. In diesem kurzen Selbstversuch in Sachen Sozioanalyse zeigt sich das Janus-Gesicht ihres als deviant wahrgenommenen und be- bzw. verurteilten biografischen Sonderwegs als Kind aus einem popularen Milieu, und Frau obendrein, der die Entfernung von den normativen Erwartungen – in ihrem Falle einer Bescheidung auf angemessen und akzeptabel erscheinende Aspirationen und pf lichtbewusste Erfüllung der einer Frau gut zu Gesicht stehenden Berufsrolle. Rückblickend wirkt die Entscheidung gegen den Besuch einer Kunstklasse wie die Konsequenz einer leidvoll erfahrenen symbolischen Gewalt, ausgeübt durch die Ordnungsrufe und Zurechtweisungen ihres Herkunftsmilieus, nur nicht über das rechte Maß hinaus zu wollen. Ihr »Hadern« nimmt sich dann als zur symbolischen Gewalt verinnerlichte soziale Stigmata aus und als die für ihre Biografie kennzeichnende »gläserne Decke«, die sie davon abhielt, noch »höher hinaus«, eben ins Freie der Kunst, zu wollen.

6. »… dass ich dagegen rebelliert habe« Die von Miriam thematisierte Gender-Frage spiegelt sich auch in den Erzählungen einer Grafikdesignerin (Mitte fünfzig): Interviewerin: Gab es von Ihren Eltern da irgendwelche Vorgaben oder Wünsche? Oder waren Sie da so frei? Anette (D6): Äh, ganz frei war ich nicht. Also, grundsätzlich hatten meine Eltern eigentlich noch die Einstellung, ›ja was willst du da groß investieren in die Berufsausbildung, irgendwann wirst du heiraten. Ja, das war tatsächlich noch die- noch die Generation und das hat mit dazu geführt, dass ich dagegen rebelliert habe … Aber nicht nur die Eltern, Landwirte, standen ihrem Berufswunsch skeptisch gegenüber – eine Einstellung, die sie irgendwie selbst geerbt haben mussten, sondern auch die schulische Autorität:

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Anette (D6): Aber da waren auch die- also die Eltern waren da nicht alleine schuld, das war auch- da war auch noch ein Lehrer an der Sekundarschule, der äh also ich wollte eigentlich erst noch weiter- weiter zur Schule und äh der hat auch meinen Eltern gesagt, ›ja, das muss nicht sein‹ und so. Keine Unterstützung, also. Ob die Gender-Frage bei diesem Verdikt direkt mit im Spiel war, darf für diese Zeit – die 1970er-Jahre – durchaus vermutet werden. Das Geschlecht als Handicap auf dem Weg in den Wunschberuf kann in anderen– wohl selteneren – Fällen aber auch zum Vorteil werden, wie uns eine andere Designerin berichtet: Regula (D9): Also ich habe dort glaub auch ein bisschen den Vorteil gehabt, dass ich das Mädchen gewesen bin. So von wegen, äh, Einkommen, nachher später Familie ernähren. Bin ich nicht so vorbelastet gewesen, wie ... Dass eine Herkunft aus sog. »einfachen Verhältnissen« aber nicht grundsätzlich Entscheidungen für eine Berufskarriere im Kreativsektor behindern muss, zeigt der Lebensbericht eines Designers. Wir fragen ihn, wie er zum Beruf des Designers gelangt ist: Daniel (D4): Ja gut, bei mir ist es ein bisschen Familien- äh, geimpft, habe ich das Gefühl. Also mein Großvater hat da, in diesen Räumlichkeiten schon seine Sattlerei gehabt. Und hat eigentlich Lederprodukte gemacht, und ich bin sehr viel da gewesen, meine Eltern haben ein Möbelgeschäft, Vorhänge und Polsterei, und das ist vielleicht schon ein bisschen- da hat man viel mit Produkten zu tun gehabt. Aber- eben, ich möchte eigentlich gern möglichst breit sein, also, ich will jetzt nicht nur in einem Spektrum sein. Sondern ich finde es eigentlich spannend, möglichst viele Materialien und Produkte kennenlernen zu können, also das ist- das ist schon interessant. Und dann natürlich die Ausbildung als Hochbauzeichner, wo man bei einem Architekten arbeitet und auch mal noch so ein bisschen sensibilisiert wird für Gestaltung, also sei es jetzt Architektur oder Produkte, und dann einfach eine Freude, eine Freude an Produkten, das ist irgendwie – ich glaube, das hat mich dazu gebracht. In diesem Fall bestand also schon eine Familientradition des beruf lichen Umgangs mit Produkten wie Textilien oder Leder und die beim Großvater

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noch handwerkliche, bei den Eltern dann kommerzielle Auseinandersetzung mit diesen Materialien war schon Teil der kindheitsprägenden Erfahrungen. Der Sohn setzt von den Eltern unbehindert – »mein Vater hat einfach immer gesagt, er will nicht unbedingt, dass ich das mache, was er macht« – diese familiale Vorliebe für haptische »Freude an Produkten« auf eigene Weise fort.

7. »… so etwas Handfestes …« Auch bei einem befragten Künstler scheint man von der Familie her dem Berufswunsch keine Steine in den Weg gelegt zu haben. Vielmehr sieht er sich als zumindest in schwächeren Momenten als eine Art Vollstrecker einer von der eigenen Mutter im Stillen gehegten Kunst-Passion: Interviewer: Gab’s irgendwie in deiner Jugend, noch davor, so einen prägenden Einfluss, Eltern oder so? Ben (K6): Meine Mutter hat gemalt. Da denke ich, da ist jetzt etwas, das ich immer wieder mal, wenn ich schw- wenn ich an meiner Arbeit zweifle, dann denke ich, dass ich nur die Vorstellungen meiner Mutter erfülle. Häufig zeigt sich in den von uns geführten Gesprächen, dass die elterliche Barriere gegenüber den Berufswünschen ihrer Kinder ebenso sehr auf der Angst vor ökonomischer Unsicherheit und auf mangelndem Einblick in die anvisierte Berufssphäre beruht. So berichtet Markus, ein Grafikdesigner: Markus (D1): Etwas, das mir geblieben ist, mein Vater hat mich- ist Handwerker, und der hat mich immer gefragt, ihn nehme es Wunder, was ich einmal werden will. Also und ich bin auf dem Land aufgewachsen, ich habe nicht gewusst, dass es so einen Beruf wie Grafiker gibt. Ich habe einfach gerne gezeichnet. Und ich habe zu ihm damals gesagt, ›ja, am liebsten würde ich einfach zeichnen‹. Und er hat gesagt, ›du kannst nicht leben von so was, das geht nicht‹ und ähm, dann habe ich gedacht, ›ja gut, dann muss ich halt dann was Anderes lernen‹ äh, und habe an Verschiedenem herumstudiert. Mechaniker habe ich- bin ich schnuppern gegangen, ich bin das KV schnuppern gegangen auf die Gemeinde und auf die Bank […] und ähm habe gemerkt, ich könn-

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te das schon, aber es ist- technischer Zeichner habe ich probiert und dann habe ich gefunden, das ist eigentlich nicht so schlecht, aber auch nicht wirklich so-. Und irgendwie bin ich auf Textilentwerfer gestoßen, bin das auch schnuppern gegangen und habe dann gefunden, ›das ist es. Das ist so super‹. Das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht. Weil da habe ich einfach zeichnen können den ganzen lieben langen Tag. Hinsichtlich der Frage nach der Angst des Vaters betreffend der materiellen (Un-)Sicherheit dieses Berufs heißt es dann bezeichnenderweise: »Ja, das ist bis heute so.« Und weiter: Markus (D1): Jäh, ich glaub, das ist wahrscheinlich so eine existenzielle Angst. Äh dass ich nicht abhängig bin von ihm, die ganze Zeit. Und das, das habe ich sehr schnell, zum Glück, nu- also nicht, nicht gehabt, also nie gehabt. Also außer einfach als Schüler, natürlich … Er kann einfach nicht verstehen, was ich mache. Das ist in dem Sinn wie- obwohl ich finde, es ist eine handwerkliche Tätigkeit, es ist ein Handwerk, empfindet er das nicht als Handwerk. Die elterliche Sorge um die materielle Zukunft des Nachwuchses kann sich auch, wie das Beispiel von Mia verdeutlicht, in bildungsnahen und kunstaffinen Familien darin zum Ausdruck bringen, dass dieser zur »Räson« gebracht und zu einer Absicherung durch eine bürgerliche Berufsqualifikation gelenkt wird: Interviewer: Darf ich jetzt nochmal kurz zurückgehen, weil du am Anfang gesagt hast, ähm so Kunst studieren, war nicht denkbar oder so. Warum nicht? Waren das jetzt deine- hast du jetzt deine Eltern gemeint oder dein Umfeld? Oder warum war das nicht denkbar? Oder für dich? Mia (K8): Ja, weil das zu dieser Zeit ist einfach klar- also, oder auch von meinen Eltern her vielleicht, vom traditionellen Denken her, man muss eine Lehre machen, das ist etwas Sicheres, eine Grundlage, ähm nachher kann man immer noch etwas Anderes machen, aber das ist wie klar gewesen, dass ähm ja, dass man so etwas äh wie sagt man denn? Interviewer: Handfestes? Mia: Ja, so etwas Handfestes. Dass man einfach eine Ausbildung hat. Obwohl ja eine Kunstschule ist ja auch eine Ausbildung [lacht], aber es weiß jeder, dass es schwierig ist, mit der Kunst leben zu können und- ja.

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Interviewer: Und was haben die selber gemacht, die Eltern? Mia: Also meine Mutter ähm, hat früher als, äh, wie sagt man? In einem Büro gearbeitet einfach, ähm ja, als, ja früher hat man gesagt Sekretärin. Wie sagt man heute? [Interviewer: Management!] Ja, Büroangestellte, und hat, ist dann aber nachher Hausfrau gewesen. Und mein Vater hat äh Dr. phil. I studiert, äh ist Redaktor gewesen, hat viel geschrieben, ähm, hat aber auch Kunstgeschichte sogar noch studiert, ja. Also von dem her, von ihm her ist das Verständnis schon eher gekommen, aber ähm es ist wie- wie soll ich sagen? Also schon im Kindergarten hat irgendwie meine- meine äh Kindergartenlehrerin meinen Eltern nahegelegt, sie sollen mich unbedingt fördern, weil ich sei wirklich begabt. Und ähm aber sie haben das wie nicht so […] Ja, sie haben einfach gewollt, dass ich einen Beruf lerne. Also sie haben immer gewollt, dass ich irgendwie ähm, Apothekerin äh so etwas. Auch hier also wieder der schon mehrfach vorgefundene Verweis auf »traditionelles Denken« und dessen Vorbehalte gegen kunstaffine Berufe, obwohl der in Geisteswissenschaften promovierte Vater doch selbst Kunstgeschichte studiert hat! Eine Textildesignerin erzählt uns Folgendes: Daniela (D3): Bei mir ist es mehr so- ich bin, ich komme aus einer Familie, ich bin die erste seit Generationen, die nicht das Gymnaisum gemacht und studiert hat. Und also wirklich weit zurück. Und das ist am Anfang- also vor allem Vaterseite- und das ist am Anfang ein no go gewesen. Also ich habe am Anfang von der zweiten Sekundär müssen die Aufnahmeprüfung machen fürs Gymnasium, ob ich habe wollen oder nicht. Und ich bin natürlich fadengerade durchgesemmelt [Interviewer lacht], ich bin früher eine ganz schlechte Schülerin gewesen, obwohl ich es- heute wäre ich eine gute. Mich hat es einfach da überhaupt nicht interessiert, die Schule. Und dann nach der dritten Sek habe ich genug den Kopf gehabt, um mich durchzusetzen und habe einfach gesagt, ich mache das nicht, ich mache die Kunstgewerbeschule, und das hat aber einen Aufstand gegeben. Also bei meinem Vater und bei meinem Großvater. Genau, und die, die mich eigentlich wirklich unterstützt hat, ist meine Mutter gewesen. Die ist immer hinter mir gestanden, sie hat das lustiger Weise immer bei mir- mich gesehen in dem Beruf [Interviewer: Ach was] – ja, wir sind mal an einer Ausstellung gewesen von Textilentwerferinnen, wo ich aber glaube ich noch nicht mal auf der Welt war [Interviewer

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lacht] oder wo ich noch ein Kind war, ich weiß es gar nicht genau. Ja, und wo ich dann den Vorkurs gemacht habe, dort ist einfach immer noch so ein bisschen – ›Ja, aber so mit Bildern malen kann man aber keine Karriere machen‹. Das Scheitern des für die Herkunftsfamilie üblichen höheren Bildungswegs verhinderte dabei nicht allein, den hohen Erwartungen der Eltern gerecht zu werden, sondern auch den eigenen gehegten Wunschberuf zu realisieren: Daniela (D3): Kindergärtnerin habe ich sogar mal vor …, ich habe früher immer Kindergärtnerin machen wollen, und es ist einfach nie in Frage gekommen, weil ich schultechnisch einfach nicht auf dem Niveau war, dass sie mich zugelassen hätten, ich habe jetzt- drum hat sich das wie so ausgegrenzt, eigentlich da, und dann ist halt klar gewesen, gut, machst du halt eine Gestaltergehst du halt den gestalterischen Weg. Also es ist nie zur Debatte gestanden, dass ich das machen könnte. Die Entscheidung für einen kunstaffinen Beruf hing also auch mit dem steinigen Weg durch die Selektionsprozesse des Bildungswesens zusammen: Die Kunstgewerbeschule eröffnete hier Alternativen zu konventionellen Karrierepfaden, die in der Regel deutlich reglementierter und in Bezug auf die geforderten schulischen Qualifikationen auch voraussetzungsreicher sind. Dass es neben all den berichteten Fällen elterlicher Widerstände und Beeinf lussungsversuche auch vorbehaltlose Unterstützung kunstaffiner Berufswünsche des Nachwuchses geben kann, berichtet uns zum Abschluss Betty. Die Grafikdesignerin wollte nach der Diplommittelschule eigentlich Kindergärtnerin werden, schwenkte dann aber spontan Richtung Gestaltung um: Betty (D10): Also ich muss sagen, es ist immer alles mein Wunsch gewesen. Meine Eltern haben mich in allem sehr unterstützt. Und dann habe ich im letzten Jahr gemerkt, dass mich das doch nicht mehr so interessiert und habe dann in die Gestaltung gewechselt. Habe den Vorkurs machen wollen, aber die Prüfung nicht bestanden und habe dann ein Jahr Praktikum gemacht. Das ist wie so die Voraussetzung, dass man ja an eine gestalterische Fachhochschule kann. Also entweder ein Jahr Praktikum oder ein Jahr Vorkurs. […] Ja, ich habe da nicht so gewusst, auf welche Fachhochschule ich gehen soll

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und ich glaube, meine Mutter hat sogar das in der Zeitung gesehen, dass eine Infoveranstaltung ist und hat so gemeint, ›Komm, das klingt doch noch gut. Wir gehen mal zusammen.‹ Und dann sind wir dort hin und sind- haben es ziemlich gut gefunden eigentlich, so.

8. Schluss Nach dem oben präsentierten Kaleidoskop an biografischen Erzählungen von Vertreter_innen kreativer Berufe stellt sich die Frage nach den Konvergenzen und Divergenzen der berichteten biografischen Flugbahnen. Handelt es sich um irreduzibel singuläre Einzelschicksale, oder lassen sich soziale Regelmäßigkeiten identifizieren, spezifische geteilte biografische Hintergründe und Erfahrungen, die sich zu einer Art kollektiver Soziobiografie verdichten ließen? Bei allen erkenntnistheoretischen Vorbehalten gegenüber einer solchen – zugegebenermaßen gewagten – Konstruktion, scheint diese nach der hier vertretenen soziologischen Sicht auf die soziale Welt gleichwohl notwendig und legitim, will man sich nicht mit den in den Interviews immer wieder bemühten spontanpsychologischen Deutungen begnügen, der Weg in die Welt der Kreativität sei durch »Veranlagung« oder bedingt durch »Zufälle des Lebens« gewählt worden. Das Herausfiltern von kollektiv geteilten biografischen Konfigurationen erlaubt es, solche Passepartout-Erklärungen zu hinterfragen und die scheinbar unhintergehbaren letzten Gründe zu exorzieren. Ein solches Vorgehen der kritisch-ref lexiven Objektivierung der gewonnenen biografischen Zeugnisse gehört ja auch zum Selbstverständnis der Soziologie als »Mythenjagd« (Elias 2004), die sich der systematischen Dekonstruktion gesellschaftlicher Repräsentationen und Narrationen sowie ihrer anschließenden theoriegeleiteten Rekonstruktion bedient, um den Anteil von »Gesellschaft« im Handeln individueller Akteur_innen zu identifizieren, ohne dabei in kausalistische Vorstellungen von gesellschaftlicher »Determinierung« verfallen zu müssen. Zunächst ist bei einem transversalen Blick auf die knapp zwanzig biografischen Zeugnisse festzuhalten, dass die von den Befragten gelieferten Rekonstruktionen ihrer Affinität mit kreativen Tätigkeiten oft bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Auch wird regelmäßig darauf hingewiesen,

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dass diese kindlichen Aktivitäten seitens der sozialen Umwelt durchaus auf positive Resonanzen, wenn nicht gar Verstärkung stießen. Oft ist denn auch die Rede davon, dass sich schon frühzeitig der Wunsch bemerkbar machte, später »irgendwas mit der Kunst« machen zu wollen, also ein zwar noch diffuser, dennoch aber deutlich kunstaffiner oder kreativitätsbetonter Lebensentwurf am biografischen Horizont auftauchte. Diese Projektionen in die eigene Zukunft sind in der Regel noch unbestimmt: Es geht hier weniger um »Beruf« in einem konkreten, greif baren Sinne, als um »Berufung« in Form eines Drangs oder Bedürfnisses, weniger um planbare, nach institutionellen Vorgaben zu durchlaufende Karrierewege bildungsmäßiger und beruf licher Qualifikationen hin zu diesem persönlichen Ziel, als um persönliche »Utopien« von einem noch unbekannten Kontinent. Diese terra incognita erweist sich in vielen unserer Interviews als vom Herkunftsmilieu ausgesprochen weit entfernte Region der sozialen Welt. Oft genug ist zu hören bzw. zu lesen, dass die konkreten Berufsbilder, ja sogar -bezeichnungen dieser Lebenswelt weitgehend im Nebulösen blieben, obwohl sie eine auratische Anziehungskraft und Faszination ausüben konnten. Von zentralem Stellenwert in der hier nachzuzeichnenden kollektiven Soziobiografie unserer Population von Kreativ-Tätigen ist fast immer der Zeitpunkt im Lebenslauf, wo kindliche Vorstellungen, um nicht zu sagen »Träumereien«, auf biografische Wegmarken mit realen Weichenstellungen stoßen, meistens institutionalisierte Passagen wie das Ende der obligatorischen Schulzeit, die Entscheidung für eine Berufsausbildung, Studienfachwahl etc. Hier wird uns dann in fast regelmäßiger Weise von Widerständen und Barrieren betreffend die nun konkret anstehende Realisierung gehegter Wunschbilder der eigenen beruf lichen Zukunft berichtet. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen es sich maßgeblich um kunstaffine Elternhäuser mit Vorbildern für solche Berufswünsche handelt, wird den Aspirant_innen auf Berufskarriere in der Welt der Kreativität immer aufs Neue entweder ein klares »Nein«, oder aber die Aufforderung des Aufschubs eines solchen auf die Eltern riskant, wenn nicht illusorisch wirkenden Lebensentwurf entgegengehalten und gefordert, zuerst einmal etwas »Solides« zu lernen. Oft sind diese elterlichen Sorgen zweischneidig und betreffen einerseits ihre erzieherische Verantwortung, die Kinder vor »Dummheiten« zu bewahren, andererseits aber auch die etwas egoistische Befürchtung, im

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Falle einer so riskanten Berufswahl längerfristig unterhaltspf lichtig zu bleiben, ob nun nach zivilrechtlichen oder familienmoralischen Regeln. Was unsere idealtypische Soziobiografie von Kreativtätigen betrifft, handelt es sich bei diesem mehr oder minder offenen und scharfen Konf likt um eine Schlüsselerfahrung, die sich langfristig in die Selbstverhältnisse und -verständnisse der Betroffenen einverleibt. Bekanntlich haben ja alle unsere Interviewpartner_innen trotz der berichteten Zielkonf likte letztlich »ihren Willen« durchgesetzt und ihren Lebensentwurf realisiert, dies jedoch oft genug mit Verzögerungen, über Um- und Nebenwege, über Kompromisse bei der konkreten Studien- oder Berufswahl bis hin zu biografischen Arrangements, etwa in Form der Absicherung der materiellen Existenz durch eine Querfinanzierung der Kunstaffinität durch einen Brotjob. Diese Kompromisse können auch die Form eines soliden Studiums, insbesondere hin zum Lehramt, oder aber den Weg über einen für die mahnenden Eltern bekannten und anerkannten Ausbildungsberuf etwa im »soliden« handwerklichen Bereich annehmen. Das Sich-Durchsetzen gegen die angetroffenen Widerstände und Widrigkeiten einer gegenüber dem Sektor der Kreativarbeit skeptisch bis ablehnenden Herkunftsfamilie lässt unsere Proband_innen rückblickend durchaus in einem etwas heroischen Licht erscheinen. Anstatt opportunistisch den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und auch subjektiv auf das von den ja wohlwollenden Eltern repräsentierte »Realitätsprinzip« einzuschwenken, d.h. auf die Karte einer sicheren konventionellen Berufskarriere zu setzen, halten sie am »Lustprinzip« ihrer persönlichen Utopie fest und setzen sich damit durch. Andererseits sind aber mit dieser Hartnäckigkeit auch Kosten verbunden, die sich etwa in Gestalt von erzwungenen Kompromissen beim Herunterschrauben des eigentlichen Ziels niederschlagen. Ein zu zahlender Preis für solche biografischen Alleingänge ist aber bei mehreren Befragten auch dahingehend zu identifizieren, dass die Zweifel der direkten Bezugspersonen hinsichtlich des gewählten Lebenswegs sich in bleibenden Selbstzweifeln niederschlagen können, einem »Hadern« mit dem gegen aller guten Rat gewählten Lebensmodell, welches ja gerade bei unseren Künstler_innen offenkundig mit materiellen Härten und Risiken einhergeht. Bleibend ist bei Manchen aber auch der verinnerlichte Zweifel, ob es sich denn bei der angestrebten Tätigkeit überhaupt um »Arbeit« handelt. Diese Skepsis, die die Eltern unserer Befragten immer wieder an den Tag zu legen schienen, ist an-

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gesichts der Ferne zwischen ihrer Lebenswelt als Landwirt_innen oder Versicherungsangestellte keineswegs erstaunlich. Sie schlägt sich jedoch durch die Verweigerung der Anerkennung der vom Nachwuchs gewählten Berufe in deren Gefühl eines Mankos an Bestätigung ihrer Identitätskonstruktion nieder, für die nun einmal »Beruf« in unseren Gegenwartsgesellschaften eine Schlüsselstellung einnimmt. Kommt dann noch dazu, wie in mehreren Interviews ausführlich berichtet, dass man seitens der Brüder und Schwestern der eigenen Familie geradezu mustergültig Verwirklichungen solider Standardbiografien vorgelebt bekommt, sind die in unseren Gesprächen deutlich zum Vorschein kommenden kognitiven und moralischen Dissonanzen hinsichtlich des eigenen Status als »schwarze Schafe« der Familie umso stärker ausgeprägt. Es scheint ganz so, als ob die Entscheidung für eine Existenz jenseits konventioneller Lebensentwürfe typischerweise mit einer Entfremdung von der eigenen Herkunft einhergeht. Hier wird dann der Glauben an die eigene Bestimmung für genau diesen Weg oft auf harte Proben gestellt. Eine Umkehr in Zeiten manifester Krisen scheint aber umso schwerwiegender und abschreckender, als dies zugleich den ignorierten Kassandra-Warnungen nachträglich recht gibt und die seinerzeit beanspruchte persönliche Berufung als Prätention zu entlarven scheint.

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Kreativarbeit zwischen Beruf und Berufung Zur Sozioanalyse eines ständischen Ethos Franz Schultheis »Jetzt ist die arbeittragende Fähigkeit das Kapital. Geld ist ja gar kein Wirtschaf tswert! Der Zusammenhang von Fähigkeit und Produkt sind die zwei echten Wirtschaf tswerte. So erklärt sich die Formel des erweiterten Kunstbegrif fes: KUNST = KAPITAL. Die Kreativität des Menschen ist das wahre Kapital.« (Joseph Beuys)1 »Die Kultur- und Kreativwirtschaf t Schweiz erwirtschaf tet eine Bruttowertschöpfung von CHF 20 574 Mio. und einen Umsatz von CHF 87 967 Mio.« (Dritter Kreativwirtschaf tsbericht Zürich, 2010) »Der jährliche Durchschnittsverdienst der knapp 180.000 in der Künstlersozialkasse versicherten selbstständigen Künstler und Publizisten beträgt aktuell ca. 14.000 Euro.« (Hanno Fischer)2 »Wir, die wir unsere Arbeit gern tun und uns in ihr verausgaben auch über das erforderliche Maß hinaus, sind keine Pflichtarbeiter im herkömm-

1 http://blog.smb.museum/beuys-im-hamburger-bahnhof-grenz-ueberschreitungen 2 www.kreativblog-berlin.de/author/h-fischer

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lichen Sinne mehr, sondern Genussarbeiter.« (Svenja Flaßpöhler)3 »Pas de culture sans droits sociaux.« (Französische Intermittents-Bewegung)4

Vorbemerkung Ebenso wie im Kapitel »Widerstände und Ordnungsrufe auf dem Weg in Kreativberufe« geht es auch im nachfolgenden Beitrag darum, aus den luftigen Höhen globaler Gesellschafts- und Zeitdiagnostik hinab in die Niederungen des Alltags zu steigen und mittels qualitativer Sozialforschung nach der Befindlichkeit der uns interessierenden Akteur_innen der Kreativwirtschaft und des künstlerischen Feldes, ihrem beruf lichen Selbstverständnis und ihren subjektiven Selbstverhältnissen zu fragen. Wieder wird versucht, durch eine soziologische Lesart der vorliegenden Tiefeninterviews mit Vertreter_innen unterschiedlicher Kreativberufe verstehend nachzuvollziehen, welche »inneren und äußeren Motive« (Weber) diese Zeitgenoss_innen dazu bewegen, ihre (berufs-)biografischen Entwürfe an diesem offenkundig von vielen Ungewissheiten und Unwägbarkeiten, Risiken dauerhafter Prekarität und Statusunsicherheit am role model des »Kreativen« zu orientieren.

1. Theoretische Vorannahmen und Hypothesen zu den Strukturen des Forschungsfeldes Nach unserer Hypothese handelt es sich beim Feld der Kreativarbeit um ein emergentes, relativ heterogenes gesellschaftliches Segment. Es kann als soziohistorische Konsequenz einer schrittweisen Ausstrahlung der ihm vorausgehenden Errungenschaften des künstlerischen Feldes auf wirtschaftliche Praxisfelder und Berufsprofile verstanden werden, die traditionellerweise entweder dem (Kunst-)Handwerk zugerechnet wurden oder aus dem sich rasant entwickelnden Sektor gestalterischer Berufe rund um die 3 Flaßpöhler 2011. 4 L’Humanité, 26.4.2016.

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Ästhetisierung der Warenwelt und Inszenierung und Stilisierung des Alltagslebens erwachsen. Diese rangieren auf den ersten Blick von ihrer Einbettung in ökonomische Produktions- und Marktlogiken her nicht selbstredend in der Nähe des künstlerischen Feldes, welches ja von dem in ihm vorherrschenden Ethos her durch eine markante Distanzierung gegenüber Kommerz aller Art gekennzeichnet ist. Aber dieses Ethos erweist sich ja, wie einleitend zu zeigen versucht wurde, als eine zumindest ambivalente, wenn nicht gar offenkundig kontrafaktische normative Setzung, zu deren Durchsetzung und Bewahrung es eines starken kollektiv geteilten Glaubens bedarf. Insofern ließe sich betreffs des hier postulierten »Feldes der Kreativität« davon sprechen, dass das bereits im Feld der Kunst angelegte Spannungsfeld zwischen einem Subfeld »reiner künstlerischer Produktion« mit relativ hohem Autonomiegrad, und einem zweiten Subfeld erweiterter, kommerzorientierter Produktion mit deutlich ausgeprägterer Heteronomie nun eine Ausweitung auf immer neu hinzukommende Praxis- und Berufsfelder erfährt, die sich um den gemeinsamen Attraktionskern kristallisieren: die Illusio der Kreativität als Chance und Pf licht zur Selbstverwirklichung und Erzeugung von Lebenssinn. Anders formuliert zeigt sich der im Feld der Kunst vorgelebte kollektive Lebensstil und dessen Repertoire an Selbsttechniken und Wegen der Steigerung von Subjektivität gerade im Hinblick auf die soziale Existenzweise der neuen kulturbef lissenen Bildungsschichten als besonders attraktives und anschlussfähiges Modell der »Lebenskunst«. Ihre hybride Klassenlage, weder Bourgeois noch werktätige Klasse, white collar ohne ökonomische Privilegien, prädestiniert sie dank ihres kulturellen Kapitals, als Sinnproduzent_ innen aufzutreten. Die im frühen 19. Jahrhundert generierte Leitdifferenz von »Kunst« versus »Arbeit« wird, auf die Opposition von »Kreativarbeit« und »ausführender Arbeit« übertragen, in der Tendenz zur Basis einer ständischen Unterscheidung, die in der Mimesis des vom künstlerischen Habitus vorgelebten Anti-Utilitarismus den gemeinsamen Nenner eines kollektiven Selbstverhältnisses sucht. Die Bindekraft und Wirkung der »geliehenen« Illusio des Feldes der Kreativität schwächt sich allerdings umso mehr ab, je weiter sich ein konkretes Praxisfeld vom Kristallisationskern des L’art pour l’art entfernt, bzw. dem Pol der kreativindustriellen Warenproduktion und -redistribution annähert und macht umgekehrt gesehen einer zunehmenden Veralltäglichung von beruf lichen Profilen und Aktivitäten Platz. Hiermit einher geht auch eine je unterschiedliche Teilhabe an der Aura »reiner,

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zweckfreier Schöpfung«, die im umgekehrten Verhältnis zur Verteilung materieller Privilegien zu stehen scheint. Bedenkt man, dass die Trennlinien zwischen gestaltender Kunst und künstlerischer Gestaltung heute immer weniger klar gezogen sind, und die verschiedenen Kreativberufe sich Techniken, Methoden und ästhetischer Prinzipien bedienen, die oft direkt den bildenden Künsten entstammen, so scheint die These von einem Feld der Kreativität als Produkt der schrittweisen Ausdehnung der Illusio des Feldes der Kunst auf angrenzende Praxisfelder plausibel. Hinzu kommt, dass die zeitgenössische Kunst unter der Vorherrschaft der Konzeptkunst mehr und mehr der Originalität der Ideen den Vorrang vor ästhetischen Kriterien gibt und auch dies zu Entgrenzungen zwischen zuvor getrennten Sphären beiträgt. Problem dabei ist, dass die Schwerkraft des Alltags und die Konstitution des Menschen ihn dazu zwingen, von irgendetwas zu leben und irgendein Brot zu essen. Aber wessen Brot? Und was muss er dafür entrichten? Von seiner ganzen sozialen Existenz her ist der Künstler mit seinen Produktionen unweigerlich von äußeren »Mächten« hochgradig abhängig, und dies nicht nur vom Markt und der Nachfrage nach seinen Schöpfungen aus der heraus er sein täglich Brot gewinnen muss, sondern auch von der Rezeption und Anerkennung durch Andere, bzw. von der öffentlichen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit, ohne die er – zumindest als Künstler – »inexistent« bleibt, und um die er deshalb ständig ringen muss. Nach rein objektiven Kriterien ökonomischer und soziologischer Betrachtung sind Kreativberuf ler_innen Produzent_innen von Gütern, die auf Nachfrage auf einen Markt zielen. Diese Nachfrage kann analog zum Umgang mit herkömmlichen Gütern die Form eines Tausches von Gut gegen andere Güter, in unseren kapitalistischen Gesellschaften in der Regel gegen Geld annehmen, im Grenzfalle jedoch auch gegen rein symbolische Gegengaben in Form von Anerkennung, Ruhm und Reputation. Da kreative Güter in mehr oder minder ausgeprägtem Maße einen symbolischen Mehrwert, beruhend auf den in sie investierten »persönlichen« Qualitäten des Schöpfers aufweisen, können sie beanspruchen, singuläre Güter zu sein und deshalb einen (relativen) Sonderstatus beanspruchen. Wie in der Einleitung skizzenhaft rekonstruiert, beanspruchen auch die hier Tätigen für ihre Person einen solchen Sonderstatus, insistieren auf der besonderen Qualität und der Herausgehobenheit ihres Schaffens und ihrer Rolle gegenüber »Arbeit« im Allgemeinen und bürgerlichen Berufsmenschentum im Besonderen.

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Aber was heißt »Anspruch«? Auch der Adel des Ancien Régime »beanspruchte« eine gesellschaftliche Sonderstellung und gründete die eigene Aura der Erhabenheit gegenüber dem gemeinen Volk mittels der Leitdifferenz von Nicht-Arbeit und Arbeit, verfügte allerdings in der Regel über die nötigen Herrschaftsmittel und Ressourcen, um diese durch und durch willkürliche Distinktion praktisch zu leben und durchzusetzen, was man im Falle der »freien Künstler« nicht behaupten kann. Handelt es sich demnach um eine Form elitärer Distinktion als purem Willen und reiner Vorstellung? Wie lässt sich Autonomie gegenüber kirchlichen wie irdischen Mächten, darunter auch der Markt und seine Gesetze, kontrafaktisch postulieren, wo Prekarität der Lebensführung offensichtlich ist und Kompromisse mit den Gesetzen des Marktes zum Alltag gehören? Erscheint es nicht widersprüchlich, dass mit dem Anspruch freier Selbstverwirklichung und selbstunternehmerischer Optimierung und Dauermobilisierung in der heutigen Kulturindustrie und Kreativwirtschaft dem denunzierten kapitalistischen Erwerbssystem ein Höchstmaß an Einsatz und Ressourcen zu seiner Produktivitätssteigerung und Profitmaximierung bereitwillig angedient werden? Dient nicht gerade die »freie Kreativität«, investiert in Veredlung und Verzauberung von banalen Konsumgütern der Mehrwertproduktion in der spätkapitalistischen Warenästhetik, ist sie nicht auch Erfüllungsgehilfin des sogenannten »Ästhetischen Kapitalismus«? Kurzum: Wie lebt und arbeitet es sich heute im Feld der Kreativarbeit mit und trotz einem solchen Übermaß an Dissonanzen und Ambivalenzen? Und wie arrangieren sich ihre Akteur_innen mit den weiterhin tonangebenden Widersprüchlichkeiten zwischen der beanspruchten Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Berufung und der in der Regel vorherrschenden Mediokrität, wenn nicht gar Prekarität ihrer materiellen Existenzbedingungen? Wie definieren sie den Charakter und Status ihrer Tätigkeit im Verhältnis zum Begriff »Arbeit«, und welche Grenzen sehen und ziehen sie betreffs der sogenannten »Normalerwerbsbiografien«? Ist der in der Gründerzeit des künstlerischen Feldes vorherrschende und für den Habitus seiner Akteur_innen wie auch den für dieses Feld charakteristische Autonomieanspruch des antiökonomischen Ethos weiterhin virulent und welche Bedeutung hat er im Rahmen der Selbstverhältnisse und Formen alltäglicher Lebensführung? Und wie repräsentieren sich in den Wahrnehmungen und Wertungen der Kreativen die Beziehungen zwischen ihren Produkten und dem Markt, zwischen kreativen Gütern und Geld? Welche Marktaktivitäten (Werbung, Marketing,

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Preisgestaltung, Orientierung am Publikumsgeschmack etc.) erscheinen als vertretbar, welche als inakzeptabel? Und wie legitimiert man im Falle der Alimentierung der eigenen kreativen, aber oft brotlosen Tätigkeit durch Dritte (Eltern, Partner_innen, Mäzene, Wohlfahrtsstaat) den eigenen Anspruch auf Autonomie? Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem jeweiligen Selbstverhältnis der Befragten, ihrer Wahrnehmung der spezifischen Sinnhaftigkeit ihres Tuns im Vergleich zu anderen beruf lichen Aktivitäten und nicht zuletzt der Frage, warum es sich ihrer Meinung nach trotz allem »lohnt«, diesen Lebensentwurf zu verfolgen. Bevor wir uns den Befunden aus den Tiefeninterviews zuwenden, wird es darum gehen, die befragte, in sich recht heterogene Population im Hinblick auf die sozialstrukturellen Profile der Proband_innen grob zu verorten.

2. Annäherungen an ein vielschichtiges sozioprofessionelles Milieu Unsere Stichprobe der im Feld der Kreativberufe tätigen Population bietet ein breites Spektrum an unterschiedlichsten Beschäftigungsverhältnissen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres arbeitsrechtlichen Status – vom freischaffenden Künstler und der als Kleinunternehmerin tätigen Schmuckdesignerin, über die Position eines selbstständigen Grafikdesigners mit fixen Pensum als Dozent in der Nachwuchsausbildung bis hin zu einer in einer großen Werbeagentur fest angestellten Grafikdesignerin.5 Diese unterschiedlichen Formen der Erwerbsarbeit situieren sich demnach entlang eines Kontinuums, dessen Polen die freischaffenden Künstler_innen und selbständigen Gestalter_innen hier und die Vollzeitarbeitnehmer_innen in Dauerstellung dort bilden. Erstere repräsentieren die gegenüber dem bürgerlichen Berufsmenschentum atypischste, letztere die typischste Form von beruf licher Tätigkeit und die anderen in unserem Sample vertretenen Profile lassen sich auf diesem Kontinuum dementsprechend je nach ihrer Nähe 5  Vorliegende Diagnosen zum Wandel von Tätigkeitsprofilen verweisen darauf, dass die immer noch gebräuchlichen Unterscheidungen zwischen unabhängigen, künstlerischproduzierenden und kommerziellen, wirtschaftlich-vermittelnden Beschäftigungen für »die neuen Kulturunternehmer« (Mandel 2007) immer weniger zutreffen und sich stattdessen flexible und strategische Kombinationen verschiedener Projektformen und Rollen durchsetzen (vgl. McRobbie 2003; Betzelt 2006; Manske/Schnell 2010).

Kreativarbeit zwischen Beruf und Berufung

bzw. Ferne zu diesen Polen des Kontinuums einordnen. Man darf vermuten, dass mit diesen sehr unterschiedlichen Erwerbsverhältnissen – von dem oder der Selbstunternehmer_in bis hin zum abhängig Beschäftigten – auch deutliche Differenzen der Selbstverortung und beruf lichen Rollendefinition einhergehen Was die sozioökonomische Situation der Kreativberuf ler_innen betrifft, so versteht es sich von selbst, dass diejenigen, die über eine Festanstellung mit fixem Einkommen verfügen, sich in einer gegenüber den freischaffenden Künstler_innen privilegierten materiellen Situation befinden, solange letztere nicht zu dem verschwindend geringen Anteil an Kunstschaffenden zählen, die von ihrer Kunst leben können, ganz zu schweigen von den Ausnahmefällen hoch gerankter Spitzenverdiener_innen der Künste, die es schaffen, in den Olymp aus renommiertem Galerien, exklusiven Privatsammlungen und öffentlichen Museen zu gelangen. Die von uns befragten Künstler_innen sind in ihrer Mehrzahl ohne regelmäßige und für die Deckung ihrer Lebenshaltungskosten ausreichende Einkünfte. Formen der Patchwork-Subsistenzsicherung, bei der die geringen Einkünfte aus dem Verkauf ihrer Kunst durch Stipendien, Preise, öffentliche Aufträge (Kunst am Bau), Nebenjobs in mehr oder minder kulturaffinen Sektoren oder reine Brotjobs (Bedienung in Cafés etc.) ergänzt werden, sind bei vielen die Regel. Andere partizipieren am Einkommen ihrer Lebenspartner_innen, die oft das Gros des Haushaltsbudgets erbringen. Am anderen Pol unseres Kontinuums finden wir Erwerbseinkommen im mittleren Bereich, nach Aussagen eines unserer Gesprächspartner_innen etwas unter dem Salär von Grundschullehrer_innen, was sich sozialstrukturell besehen als Mittelschichtzugehörigkeit kategorisieren lässt. Mit den markanten Einkommensunterschieden einher geht vor allem auch eine mehr oder minder prekäre bzw. verlässliche mittel- und langfristige Vorhersehbarkeit und Planbarkeit der Lebensführung die im Falle der »freien Künste« von geradezu kontinuierlicher Unsicherheit geprägt ist. Hinsichtlich der konkreten Tätigkeiten unserer Kreativberuf ler_innen ist erwartbar, dass wir seitens des künstlerischen Pols einen ausgeprägteren Anteil der für rein kreative Praxis zur Verfügung stehenden Zeit und ein hohes Maß an subjektiver Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf die Produkte finden, wohingegen wir am anderen Ende des Kontinuums einen deutlich höheren Anteil an konventioneller Normal-Arbeitszeit mit geringerer Auto-

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nomie bei der Konzeption und Gestaltung der Arbeitsinhalte und -erzeugnisse erwarten können. Damit einhergehend lässt sich ein je unterschiedliches beruf liches Selbstverständnis mit einem deutlich größeren Akzent auf zweckfreie und innengeleitete experimentelle Arbeitsprozesse hier und vom Ablauf her routinisiertere und normiertere, auf von außen vorgegebene Zwecke gerichtete instrumentelle Orientierung dort erwarten. Weiterhin lässt sich die Hypothese formulieren, dass die Tätigkeit am Pol der freien künstlerischen Gestaltung mit Narrationen über eine gegenüber gesellschaftlichen Normalitätsstandards eher randständigen Position einher geht, allerdings weniger im Sinne einer passiv erfahrenen, geschweige denn erlittenen, Marginalisierung und Ausgrenzung, denn als ein frei gewähltes Schicksal, während man bei der Selbstdarstellung von Kreativen in fest bestallten Positionen nur im geringeren Maße Narrationen rund um eine etwaige Sonderrolle bzw. einen berufsbiografischen Sonderweg wird antreffen können. Damit einhergehend lässt sich auch vermuten, dass freischaffende Künstler_innen im stärkeren Maße eine »ständische« Distinktion und Hervorhebung einer milieuspezifischen sozialen Identität und eines für sie kennzeichnenden subkulturellen Lebensstil an den Tag legen, während ihre Kolleg_innen am anderen Ende des Kontinuums nur im geringerem Maße dazu tendieren dürften aus ihrer Kreativtätigkeit eine gesellschaftliche Leitdifferenz von Lebensführung und -stil zu machen und sozial distinktiv zu argumentieren. Am Pol der freien Kunstschaffenden finden wir naturgemäß ein Höchstmaß an Offenheit und, wie der Name schon insinuiert, an »Freiheit« und, als Rückseite der Medaille, einem Maximum an Ungewissheit der Lebensführung und Prekarität der Daseinsvorsorge bzw. einem Minimum an Planbarkeit der eigenen beruf lichen und privaten Zukunft. Am entgegengesetzten Ende des Kontinuums wiederum finden wir ein hohes Maß an institutionalisierter Berufsrolle und Normierung und Planbarkeit der Lebensführung. In soziologischer Sicht kann man davon ausgehen, dass die jeweiligen Positionen von Befragten auf diesem Kontinuum an beruf lichen Situationen mit je unterschiedlichen Perspektiven im Hinblick auf das jeweilige Selbstverständnis und Selbstverhältnis einhergehen, und man in den in Interviews gewonnenen Narrationen jeweils mehr oder minder signifikante Manifestationen eines sense of one’s place im Feld der Kreativität antrifft. Bewusst naiv formuliert lässt sich erwarten, dass Individuen, die sich für den riskanten biografischen Entwurf einer Existenz unter den Vorzeichen

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maximaler Offenheit und damit Ungewissheit entschieden haben, in ihren Selbst-Darstellungen dazu tendieren, diese Entscheidung als eine für sie mehr oder minder alternativlose, notwendige und authentische erscheinen zu lassen um sich vor sich selbst wie auch vor dem oder der Gesprächspartner_in zu legitimieren. Es liegt nahe zu vermuten, dass hierbei die mit dieser Entscheidung verbundenen Kosten in Form von materieller Unsicherheit, ökonomischer Knappheit, Zweifeln am eigenen künstlerischen Potential und dem ständigen Kampf um Anerkennung und Sichtbarkeit als frei gewähltes Los und notwendiges Opfer für eine gegenüber rationalem ökonomischen Kalkül und utilitaristischen Motiven »höheren« und gewichtigeren Sache darzustellen. Anders gesagt ist zu erwarten, dass gesinnungsethische Gründe an die Stelle zweckrationaler Argumente treten und die Vorstellung von einer persönlichen »Berufung« oder Mission mehr oder minder explizit und dezidiert zur Geltung kommt. Am Pol der Status- und Einkommenssicherheit hingegen lassen sich eher Diskurse erwarten, bei denen »Kreativität« pragmatisch in den Grenzen eigener Bedürfnisse und Befähigungen wie auch im Rahmen der von Arbeitgeberseite definierten Erwartungen als Teil eines realistischen, bodenständigen Berufsprofils situiert und als Bestandteil eigener Professionalität reklamiert wird. Weiterhin erwartbar ist, dass das jeweilige Verhältnis zur Frage der Marktorientierung kreativer Produktion entlang unseres Kontinuums stark variiert, und man am Pol der freischaffenden Kunst eine stärkere Betonung der Vorrangigkeit des Feldes beschränkter Produktion »für Produzenten« und des Vorrangs eines aus der Rezeption und Anerkennung durch die Peers im Feld der Kreativität resultierenden symbolischen Kapitals findet. Hingegen ist komplementär hierzu zu vermuten, dass Kreativberufe mit Nähe zum bürgerlichen Berufsverständnis eher die Bedeutung marktkompatiblen Agierens in einem Feld erweiterter Produktion betonen und gegenüber der im beschränkten Markt künstlerischer Produktion vorherrschenden Euphemisierung des Warencharakters kreativer Produkte hier deutlich geringere Berührungsängste manifestieren, ja tendenziell sogar die mit ihrer Tätigkeit eine Vorstellung von Nachfrage-Befriedigung auf dem Markt erweiterten Produktion unterstreichen. Anders gesagt kann die Hypothese formuliert werden, dass das von antiökonomischen, kommerzkritischen Haltungen geprägte Künstler-Ethos mit seinem Credo des L’art pour l’art sich entlang

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unseres Kontinuums hin zum Pol marktaffiner Produktion sukzessive abschwächt. Je mehr der Blick vom Idealtypus der »reinen Kunst« hin zum Profil »angewandter Kunst« und gestalterischer Arbeit an nützlichen Gebrauchsgütern wandert, also von der Berufung zur außeralltäglichen Arbeit an Gegenständen ohne praktischen Nutzen hin zum Beruf warenästhetischer Verfeinerung alltäglicher Dinge, umso deutlicher wird nach unseren Erwartungen die Tendenz zutage treten, eine Vereinbarkeit von Kreativität und bürgerlicher Arbeitsethik und den Erfordernissen marktgerechten Wirtschaftens zu betonen und dementsprechend auf Distanz zum anti-ökonomischen Ethos der »reinen Kunst« zu gehen. Analog hierzu kann vermutet werden, dass mit zunehmendem Erfolg von Künstler_innen auf dem Feld erweiterter Produktion und wachsender Marktchancen auch eine abnehmende Markt-Aversion und -Kritik beobachtet werden.6 Was die soziale Herkunft unserer Proband_innen angeht, so kann von einer Rekrutierung unserer Population aus mehrheitlich bäuerlichen und handwerklichen Milieus gesprochen werden, eine Minderheit stammt aus Familien der Mittelschicht, einige wenige haben Eltern in Kreativberufen wie Architektur. Zu erwähnen ist, dass etwa die Hälfte der Befragten eine Ausbildung an einer Fachhochschule genossen, eine Minderheit mit einer Lehre abgeschlossen hat und in einigen Fällen der Weg über ein Lehrerseminar, eine für den Bildungsaufstieg in der Schweiz zentrale Institution, nahm. Die sich hier zeigende intergenerationelle Mobilität lässt sich nur unter vielen Vorbehalten einordnen und einschätzen. Zwar kommt es in dem meisten Fällen zu einer relativen Erhöhung des erworbenen gegenüber dem ererbten kulturellen Kapital und angesichts des gesellschaftlichen Stellenwerts kreativer Berufe auch zu einem Zugewinn an symbolischem Kapital, dies aber wird durch die meist unsicheren, wenn nicht unzureichenden Einkommenslagen, also einem – gegenüber der Situation der Eltern gegebenen – Verlust an ökonomischem Kapital relativiert. Es kommt bei einer solchen Form von intergenerationeller Reproduktion demnach zu einer Kapital-Umstellung bzw. -Rekonversion, deren Bewertung ganz und gar von den jeweiligen Maßstäben und Präferenzen abhängt. 6  Da dieser Fall in unserer Stichprobe unterrepräsentiert ist, müssen wir dieser Hypothese auf die Befunde einer anderen Studie stützen, bei der auch arrivierte Künstler_innen zu Wort kommen, vgl. Schultheis et al. 2015.

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Nach den oben skizzierten sozialtheoretischen Vorüberlegungen und Forschungshypothesen werden wir uns nun dem empirischen Material aus rund 20 Tiefeninterviews mit Vertreter_innen kreativer Berufe, und in einem ersten Schritt der Frage nach den Spezifika einer Ökonomie kreativer Erwerbsarbeit im Allgemeinen und dem Verhältnis von Kreativität und Prekarität im Besonderen zuwenden. Hierbei geht es nicht darum, die zuvor formulierten theoriegeleiteten Hypothesen sukzessive zwecks Verifizierung oder Falsifizierung an diesem empirischen Material abzuarbeiten. Vielmehr diente die Explizierung unserer Vorannahmen einer Sensibilisierung und Schärfung der Forschungsperspektiven für mögliche relevante strukturelle Besonderheiten unserer Population bzw. des »Feldes kreativer Arbeit«, in dem sie agiert. Unser Vorgehen wird sich also nicht primär deduktiv an diesen Hypothesen abarbeiten, sondern im Sinne der Grounded Theory in einem kontinuierlich zwischen dem empirischen Material und theoretischen Perspektiven und Konzeptualisierungen oszillierenden Prozess den Versuch unternehmen, zu einem verstehenden Nachvollzug der Motivlagen, Lebensentwürfe, Praktiken und Selbstverhältnisse der Befragten zu gelangen.

3. Prekäre Kreativität – kreative Prekarität Gehört es zu den ungeschriebenen »Regeln der Kunst«, so wenig und wenn doch, dann so verblümt wie möglich von Geld in ihrem Zusammenhang zu sprechen, zumindest bei jenen arrivierten Akteur_innen der Kunstwelt, für die dieses universelle Tauschmedium kein Problem darzustellen scheint, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass Geldfragen in den von uns geführten Gesprächen mit Künstler_innen, aber auch den Vertreter_innen anderer Kreativberufe, explizit oder implizit, direkt oder indirekt ein Dauerthema und Leitmotiv darstellen. Bekanntlich kann nur eine kleine Minderheit der Kunstschaffenden mit den Erträgen ihrer Kunst ihr Leben fristen, wie eine Vielzahl an offiziellen statistischen Quellen, aber auch einschlägige Studien immer wieder belegen. Vom Bonmot der »brotlosen Kunst«, über die romantisierenden Klischees rund um die sogenannte »Bohème« bis hin zum süffisanten Humor im Stile von »Wenn zwei Banker miteinander reden, sprechen sie von Kunst, wenn zwei Künstler diskutieren, geht es ums Geld«, erweist sich die Einsicht in die Affinität von Prekarität und Kreativität als Gemeinplatz und be-

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dürfte eigentlich gar keiner weiteren wissenschaftlichen Plausibilisierung. Was sich jedoch hinter dieser vermeintlich banalen Einsicht verbirgt, ist ein Ensemble von sozialwissenschaftlich wie philosophisch hoch relevanten Problemen rund um die Frage, wie man es sich erklären bzw. verstehend nachvollziehen kann, aus welchen Motiven heraus und auf der Basis welcher Selbstverhältnisse und Lebensentwürfen eine beachtliche, und im Übrigen auch rasch anwachsende Zahl an Zeitgenoss_innen unserer modernen Gesellschaften das mit ihrer Entscheidung für den »künstlerischen Hasard« verknüpfte Risiko dauerhafter ökonomischer Unsicherheit auf sich nehmen.

»… es ist eigentlich eine aktive Entscheidung zur Armut« Folgende ebenso einfache wie bestechende Antwort auf diese schwierige Frage) wurde uns von einer Künstlerin gegeben: Interviewerin: Gibt es keine Momente, wo du denkst, ja, warum bin ich damals nicht Lehrerin geworden, oder hab den einfachen Weg gewählt, oder so? Miriam (K1): Nein, ich sehe es mehr so, dass ich zum Glück, ähm, gemerkt habe, dass ich das nicht werden wollte und mich nicht von außen so stark beeinflussen lassen habe, oder von innen oder von woher das auch immer kommt. Dass ich eben mich nicht für mich entschieden hätte! Und ich glaube, ich habe mich für mich entschieden. Und das ist, das ist recht mutig, find ich auf eine Art auch. Oder für mich jetzt, das hat recht viel gebraucht, oder ... Die Nachfrage »Du hast dich für dich entschieden?« beantwortet sie kurz und bündig mit »Ja!«. Schon vor diesem selbst für die Künstlerin »ein bisschen pathetisch« klingenden Statement, das die Kunst zum Schlüsselelement des Selbstverhältnisses der Befragten erklärt, wird die Radikalität dieser biografischen Entscheidung direkt mit nicht minder radikalen Konsequenzen für die eigene materielle Existenz und die mit ihr verbundenen Folgen für die alltägliche Lebensführung verknüpft und gewissermaßen als ein für sie zu zahlender Preis dargelegt. Interviewer: Wie ist das ökonomisch, wenn ihr beide Künstler seid? Schafft ihr das einigermaßen? Miriam (K1): Ja, das ist auch total prekär natürlich [lacht]. Interviewer: Aber durch deine Erfolge jetzt ist es nicht irgendwie also so, dass du dich auch mal zurücklehnen kannst und sagen, so jetzt?

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Miriam: Ja finanziell überhaupt nicht, nein. Jetzt sind wir gerade wieder an einem Punkt, wo- […] Äh, aber ich bin jetzt eben an einer Primarschule am Unterrichten auch, wieder, aber im Moment nur vier Stunden. Und jetzt schauen wir wieder, ja. Der von der Künstlerin selbst eingeführte Begriff »Prekarität« wird dabei nicht allein auf die materielle Knappheit und die Schwierigkeiten der alltäglichen ökonomischen Lebensführung verwendet, sondern im Sinne von »Ungewissheit« und mangelnder Planbarkeit als Grundmerkmal der künstlerischen Existenz und Praxis benutzt: Miriam (K1): Eigentlich, eben, von dem her ist es klar, in der Kunst ist natürlich alles immer recht prekär, das ist schon so [lacht]. Also kurz vor einer Ausstellung ist es prekär, den Moment zu erwischen für ein Bild- erhaschen, dass du nicht zu viel malst, dass es dann wieder weg ist; äh, das Zeitmanagement, es ist eigentlich alles recht prekär, ja [lacht]. Muss ich sagen. Dieser Status Quo kontrastiert dabei mit den nachfolgenden Selbsteinschätzungen im Hinblick auf die ihr und ihrem Partner potentiell offenstehenden alternative Lebenswege und -chancen: Interviewer: Also wenn man jetzt schaut, was ist sozusagen das Plus, für das man das eigentlich macht? Miriam (K1): Also zuerst mal muss ich sagen, der Marc und ich, wir sind beide sehr gut ausgebildet. Natürlich sind wir irgendwann mal 55 und dann ist der Arbeitsmarkt vielleicht nicht mehr so aktuell für uns. Aber wir haben ein Riesenpotential, also der Marc hat Studien, also im Kunstbereich, ich bin Zeichnungslehrerin, äh, ich habe irgendwie mein- eben, ich kann mich für eine Stellvertretung bewerben, und komm immer noch relativ in einem anderen Feld, weil sie es interessant finden, eine Künstlerin einzustellen, also das heißt, ich hab potentiell habe ich ja auch, äh, Ressourcen. Also es ist eigentlich eine aktive Entscheidung zur Armut, sage ich jetzt mal, oder? Ich habe Alternativen. Also wenn es mir zu bunt wird, ähm, kann ich auf das zurückgreifen. Und das ist superluxuriös und das ist bei uns beiden so, und drum sagen wir uns auch, ähm, es ist eine aktive Entscheidung, dass wir jetzt in so einer prekären Situation sind. Wir könnten es anders machen, oder.

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Miriams biografische Narrationen in dieser Passage des Interviews muten auf den ersten Blick völlig widersprüchlich an. Die Künstlerin unterstreicht zunächst das enorm scheinende Potential für alternative Lebenswege: Die ihr und ihrem Partner zur Verfügung stehenden Ressourcen, insbesondere ihr kulturelles Kapital, eröffneten in ihrer Perspektive einen problemlosen Zugang zu Markt- und Lebenschancen der unterschiedlichsten Art, falls sie beide dies nur wollten bzw. dazu gezwungen wären. Dann folgt der Hinweis auf die ökonomische Prekarität der alltäglichen Lebensführung wie auch der Ungewissheit in der Lebensplanung, wobei sie erstaunlicherweise den Begriff »Armut« zur Kennzeichnung ihrer Lebenssituation benutzt, also ein Konzept, das eine Extremform von ökonomischem Mangel und materieller Unsicherheit umschreibt. Aber es geht nicht um Armut tout court, sondern wie sie betont, um eine Lebensführung infolge »aktiver Entscheidung« für sie, was dann mit einer zunächst paradox erscheinenden, in Wirklichkeit jedoch völlig konsistenten argumentativen Wendung als »superluxuriös« etikettiert wird. Anders formuliert wird uns hier eine Selbstdarstellung präsentiert, bei der der Lebensentwurf des Künstlerdaseins als selbstbestimmter, freier Akt des Verzichts auf materielle Güter und Sicherheit zugunsten essentieller persönlicher Werte und Überzeugungen und als eine Art Selbstbekenntnis (»Wir können gar nicht anders!«) erzählt wird. Gleich im Anschluss äußert die Künstlerin dann aber doch eine gewisse Skepsis hinsichtlich der dauerhaften Durchsetzbarkeit dieses Lebensmodells, welches zwar als tragbar für die aktuelle Lebensphase, längerfristig jedoch mit fortschreitendem Alter ungleich schwieriger aufrecht zu erhalten erscheint: Interviewer: Aber was ist sozusagen die Währung ? Miriam (K1): Und das ist noch gut zu wissen. Und vielleicht ist das, eben, wenn man dann irgendwie sechzig ist nicht mehr so, oder. Aber bis jetzt haben wir immer noch das Gefühl, vielleicht auch durch die äh Power von der Jugend, obwohl keine Jugend mehr da ist, so zu sagen. Interessanterweise tritt nun aber auch das Argument gesellschaftlicher Nützlichkeit dieser biografischen Entscheidung mit hinzu und gibt der vorher betonten Ich-Bezogenheit eine neue Wendung:

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Miriam (K1): Doch, also wir haben irgendwie ein Potential, und wir nützen, oder ich nütze das, und ich sehe mich heutzutage, eben, auch so, dass ich das aktiv auch für die Gesellschaft nütze. Das ich mich eben nicht für die, die Seite entscheide, die mir ökonomisch viel Geld bringt, aber die gesellschaftlich für mich genauso relevant ist, wie wenn ich, äh, mich für einen Job bewerben würde oder einen habe, wo ich dann irgendwie ein luxuriöseres Leben hätte. Mit dieser Antwort auf die in soziologischer Sicht so zentrale Frage nach dem »intérêt du désinteressement« (Bourdieu), dem Nutzen der Uneigennützigkeit bzw. dem Sinn non-utilitaristischen Handelns, schließt sich die Argumentationskette: Das Los der gelebten Prekarität erscheint als Konsequenz einer freien Entscheidung, selbst bewusst und selbstbewusst als Begleiterscheinung eines biografischen Entwurfs herbei geführt, der zunächst als selbstbezogener, wenn nicht gar egoistischer »Luxus« daher kommt, dann aber zur gesellschaftlichen Nützlichkeit neu kodiert bzw. legitimiert wird. Der proklamierte, ja reklamierte gesellschaftliche Nutzen wiederum wird dabei kontrastiert mit »ökonomisch viel Geld«: Bei dieser Argumentationsweise kommt dann das seit der Emergenz des modernen Künstlers im 19. Jahrhundert charakteristische, um nicht zu sagen »konstitutive« anti-ökonomistische Ethos ins Spiel, welches sich in den unterschiedlichsten Variationen des gleichen Themas auch durch viele der Interviews wie ein roter Faden hindurch zieht. Auch bei anderen Berufskolleg_innen von Miriam, die neben der Kunst noch ein zweites beruf liches Standbein haben, zeigt sich das Phänomen brotloser Kunst zwar wirtschaftlich besser abgepuffert, dennoch aber kaum in weniger widersprüchlicher Gestalt. Miriams Lebenspartner Marc z.B. formuliert es so: Marc (K3): Ja ich schau schon, also ich habe den Luxus, ich kann sehr viel arbeiten, weil ich eben durch [einen] Auftrag der relativ viel verdient habe und ich habe mir durch das einen Freiraum geschaffen, um als Künstler arbeiten zu können. Aber es ist nicht so, dass da Geld zurückkommt. Anders formuliert querfinanziert man hier durch gewöhnliche Erwerbsarbeit »Kunst«, ganz so als wäre sie ein Hobby, eine Freizeitbeschäftigung, ein Luxus, denn »es kommt kein Geld zurück«. Dass sich eine solche Situ-

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ation durchaus frustrierend, ja sogar desillusionierend auswirken kann, merkt auch Künstlerin Julia an: Julia (K5): Eine Zeit lang habe ich auch so das Gefühl gehabt, ja, bei mir läuft in der Kunst zu wenig, das kann ich eh vergessen, ähm ich habe- eben, ich muss immer noch den Job machen. Mehr noch: Kunst kann sogar darüber hinaus zum finanziellen Risiko und zur Schuldenfalle werden, wie uns ihr Berufskollege Filip nachfolgend berichtet: Filip (K2): Teilweise kommt eine Gelegenheit, oder eine Opportunität, etwas zu machen, und dann weiß ich, okay, jetzt will ich das machen und- ich kuck nicht auf das Budget, und sage, ich mach es so-, und ich habe mich äh schon teilweise so recht ins Minus so geschossen, und musste dann im Nachhinein sehr viel arbeiten, und es war schwierig so wieder.

»… lustigerweise spricht man gar nicht so darüber …« Was die Frage der Prekarität der Künstlerexistenz betrifft, lassen sich unterschiedliche Varianten ihrer Wahrnehmung und Beurteilung finden und in der Mehrheit der Fälle wird auch vermieden, den Begriff »Armut« in den Mund zu nehmen, um die eigene materielle Situation zu beschreiben. Im nachfolgenden Statement von Filip (auf die Frage »Habt ihr [er und seine Partnerin, die ebenfalls Künstlerin ist] Angst, arm zu werden?«), wird der Faktor Unsicherheit und »sich Sorgen machen zu müssen« stärker in den Vordergrund gerückt und so eine weitere Facette von Prekarität ins Spiel gebracht: Filip (K2): Also ich glaube nicht, dass es mit Armut zu tun hat, sondern eheralso es hat, es ist wie verbunden, aber- ich habe Angst, vor diesem- also ich habe das eben letztens mal erlebt und sich ständig um Geld sorgen, Sorgen machen zu müssen, das ist sehr ein großes Gewicht. Das nimmt unglaublich viel Energie weg und das ist- ich finde das ganz schlimm. Und es ist mehr so diese Angst von dem, vor diesem Gefühl wieder. Es geht nicht darum, ich will so leben, so leben, so leben; ich kann mich glaube ich noch recht gut anpassen. Aber wenn es wirklich dann zu dem Punkt kommt, kann ich jetzt das kaufen, kann ich jetzt ins Restaurant- also weißt du, ich gehe nicht oft, aber

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man muss sich ja auch ein bisschen verwöhnen, ab und zu, wenn das wirklich dann alles wegfällt und nur noch so dieses fast Überlebensding wird, das finde ich ganz schlimm, das ist- ja. Interviewer: Geht das vielen Künstlern so, die du kennst, oder ist das kein Thema? Filip: Ich weiß nicht, lustiger Weise spricht man gar nicht so darüber. Ne. Ich frag mich schon manchmal so, ja, wie machen es die oder wie machen sie es, aber ich glaube, wir wissen alle, wie es- jeder macht es so ein bisschen, wie er es kann, mit ein bisschen Jobben und dann wieder ohne und dann verkauft man was und- es gibt auch- ich meine, es gibt auch Leute, die ganz gern so eine Routine haben: zwei Tage Arbeit, drei Tage Atelier, die brauchen das und das finde ich auch ganz okay. Die Sorge um die kleinen Dinge des Lebens, das ständige Rechnen-Müssen und der erzwungene Verzicht auf ein wenig bescheidenen Luxus werden hier als psychische Belastung beschrieben und mit dem Hinweis auf eine Form der Ökonomie der Prekarität verknüpft, bei der man sich zwecks Überleben (»dieses fast Überlebensding«) mit »ein bisschen Jobben« über Wasser zu halten sucht. Diese Form von Mischwirtschaft, bei der die unzureichenden Einkünfte aus dem Kunstschaffen durch punktuellen Broterwerb auf unterschiedlichsten Gebieten kompensiert werden, gehört nach den Auskünften der großen Mehrheit der befragten Künstler_innen, wie auch einiger anderer Kreativberuf ler_innen, zum täglichen Los, denn die wenigsten können aus ihrer Kunst ein ausreichendes Einkommen generieren, obwohl alle davon zu träumen scheinen. Das berichtet uns (auf die Frage des Interviewers nach seiner »Selbstverwirklichung«) auch Marc: Marc (K3): Also ich glaube, bei den Künstlern gibt es schon dieses Ding, dass man, dass wenn man sagen kann; ich kann davon leben, dann ist das wie so der Ritterschlag, oder. Und das wäre dann wie so die Verwirklichung, oder als Bild zumindest in den Köpfen der Leute, dass man weiß, man kann eigentlich wirklich das machen, was man machen will, und man muss nichts Anderes machen dafür. Das ist dann wie realisiert, oder? Interviewer: Wäre das dann was, würdest du das als- wenn du an diesen Punkt kommst? Marc: Ich würde sehr gerne an diesen Punkt sein, ja [lacht].

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Momentan ist dieser Künstler davon noch weit entfernt und muss sich damit arrangieren, dass er in seinem früheren Tätigkeitsfeld als Grafiker die notwendigen finanziellen Ressourcen verdient und angespart hat, um sich wieder der Kunst widmen zu können.

»… dann hast du gespart, aber nicht gelebt« Bei den näher am traditionellen Profil bürgerlichen Broterwerbs situierten Kreativen wie der nachfolgend zitierten Textilentwerferin kommt dieses anti-utilitaristische Ethos mit einer eher moderaten, lebensphilosophisch gestimmten und pragmatisch gerahmten Argumentation zur Geltung: Daniela (D3): Es ist halt schon- ja, halt ein Risiko irgendwo durch. Aber ja, ich finde, viele sind auch so ein bisschen bequem, weißt du, so, es kommt halt jeden Monat die Kohle rein und wir arbeiten halt, aber zum Teil, mein Gott, wenn es dir nicht passt! Viele sind auch frustriert in der Textilbranche. Wo ich einfach denke, ja, mein Gott- ich bin halt eine, wenn es mir nicht passt, dann gehe ich lieber oder verändere was. Aber sorry, man arbeitet viel zu viel von seinem Leben, als dass es einem nicht gefallen sollte! Also [lacht] nein, dann ist man am falschen Ort, dann muss man was machen und halt das Risiko auch eingehen. Irgendwie- ich sage immer, wir leben in der Schweiz, sorry, wir haben so ein super System, irgendwas also- es ist schon nicht so, dass man unter der Brücke schlafen muss, oder. Und ich erlebe einfach uh viele Leute sind so gefangen in dieser Angst, man müsste vielleicht noch vom Sparkonto leben, huh, oder man könnte nichts auf die Seite legen, ja, mein Gott! Also eben […], was bringt dir ein volles Sparkonto, wenn du am nächsten Tag Tod umfällst. Ja nein, sorry. Dann hast du gespart, aber hast nicht gelebt. Nein, das ist voll nicht meine Devise [lacht]! Cool ist, wenn du beides kannst. Ja, das ist so ein bisschen- finde ich so ein bisschen ein Problem, von vielen. Ja. Im Unterschied zur vorher zitierten Künstlerin wird hier, wie später noch ausführlicher behandelt, auf die sehr privilegierten materiellen Rahmenbedingungen einer so reichen Gesellschaft wie der Schweiz mit einem »super System« – womit wohl die soziale Sicherung im Allgemeinen und die Kulturförderung im Besonderen gemeint ist – verwiesen: Während Miriam den »ein bisschen pathetisch[en]« Heroismus ihrer biografischen Entscheidung betont und mit missionarischem Gestus präsentiert, sieht Daniela eben dort

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»ein Problem«, wo man die gewählte riskante Freiheit vorschnell dem größeren ökonomischem Wohlstand opfert. Immer wieder trifft man auch auf Aussagen, die auf Zweifel am eingeschlagenen Weg schließen lassen. Etwa bei Grafikdesigner David: Interviewer: Also ich wollte jetzt gerne fragen, erst mal, hast du in [der Zeit] an irgendeiner Stelle gedacht, du würdest es heute anders machen? Also wenn du so zurückschaust? David (D5): Ja, hmmh-. Ja, es kommt immer wieder der Punkt, wo ich denke, ja, vielleicht war es jetzt doch nicht die richtige Entscheidung. Vielleicht hätte ich- wärs bequemer gewesen, was anderes zu wählen und ein bisschen weniger arbeiten zu müssen. Wie groß die Diskrepanz zwischen der in kreative Praxis investierten Zeit und Energie und dem aus ihr resultierenden Lohn sein kann, wird auch im Gespräch mit Schmuckdesignerin Nadja offenkundig. Interviewer: … weil wir jetzt gerade bei Geld sind, ähm, schätz mal, wie viel Prozent des Haushaltseinkommens … Nadja (D2): … von mir ist […] Ähm, ich würde sagen etwa zehn Prozent [fängt an zu lachen]. Nadja relativiert den augenscheinlich geringen Anteil mit Hinweis auf ihre Haushalts- und Betreuungsarbeit: Nadja (D2): Ja, und ich habe immer nur einen ganzen und zwei halbe Tage zur Verfügung, oder, das sind etwa vierzig Prozent, die ich im Atelier bin. Das darf man jetzt auch nicht vergessen. Also es sind keine hundert Prozent. Interviewerin: […] Auf wie viel musst du im Monat kommen, dass es so für dich aufgeht? Nadja: Ja, das ist jetzt eben- das müsste ich mal richtig ausrechnen, so, weißt du, das ist jetzt etwas, was man auch im Studium nicht lernt, und ich wurstle einfach ein bisschen vor mich hin.  Und ergänzt später:

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Nadja (D2): Ich finde es im Moment eigentlich schon recht lässig, wie wir es haben, einfach ein bisschen mehr Geld von meiner Seite wäre schon gut. Durch-»wursteln« kann hierbei durchaus als treffende Bezeichnung für eine spezifische Strategie in der »Ökonomie kreativer Arbeit« gelten, der man auch in anderen Interviews begegnet. So erzählt uns Textilentwerferin Daniela auf die Frage nach der Zeitökonomie in ihrer Beziehung mit einem ebenfalls kreativ tätigen Partner (»Und wie seht ihr euch? Also er wird auch je nach Auftrag viel zu tun haben«) nicht zuletzt auch über die Schwierigkeiten der alltäglichen Daseinsvorsorge: Daniela (D3): Das fragen uns uh viele Leute, wie wir das machen, das ist am Anfang hat es sich uh gut ergeben, weil ich habe da auch im Café – ich bin oft noch am Abend oder in der Nacht in ein Café zum Arbeiten gegangen, damit ich mich über die Runde gebracht habe … Auch hier finden wir also wieder »Prekarität« als umfassende, quasi normalisierte Form von Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit der Lebensführung und der daraus resultierenden Notwendigkeit, sich ständig wechselnden Konstellationen f lexibel anzupassen. Dass diese Form der biografischen Bricolage (»ich wurstle einfach ein bisschen vor mich hin«, Nadja, D2) auch immer wieder zu kognitiven Dissonanzen und grundlegenden Zweifeln am eingeschlagenen Lebensweg führen kann, offenbart sich im Gespräch mit der vorher zitierten Schmuckdesignerin nochmals besonders deutlich, nachdem ihr Partner dazugekommen ist: Nadja (D2): Ja, und wenn es nicht läuft, dann ist es schlimm. Also dann hast du auch – ja, da fängst du an, Selbstzweifel zu haben, und das Gefühl zu haben- das geht ja dann auch bis ans Selbstwertgefühl und, und eben, wo ich da […] so weit war, dass ich gefunden habe, jetzt muss ich ganz aufhören oder einen anderen Beruf suchen- weißt du, wir haben dann zusammen [mit ihrer Freundin Yvonne] auch Berufe überlegt, so, ja, ähm, möglichst schnell Lehrerin werden, da verdiene ich viel mehr, immer Ferien, und Yvonne hat gesagt, ›hey Mann, spinnst du eigentlich? Du bist doch kein- du bist doch keine Lehrerin, das geht nicht.‹ Und du [an ihren Lebenspartner gewandt] hast das zwar auch gesagt, aber bei dir habe ich nicht so gut können-. Und einfach- oder, wenn es dann nicht läuft, kommst wirklich so in die Krisensituation.

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Partner: Ja, aber andererseits hast du immer schon eine schwierige Beziehung zu deinem äh, zum Schmuckentwerfen und -machen. Nadja: Ja, das stimmt ein bisschen. Aber das habe ich nicht mehr so in letzter Zeit.

»Also der Markt, der ist Match-entscheidend!« Die Schwierigkeiten, sich auch unter Vorzeichen von Krise und zunehmender Konkurrenz auf dem Markt zu behaupten, werden u.a. bei Textilentwerferin Daniela thematisiert. Sie verknüpft ihre Gedanken dazu mit einem Appell an die beharrliche Flexibilität und die permanente Selbstaktivierung: Interviewerin: Du hast gesagt, sich so treiben lassen. Also ist das in dem Bereich so, funktioniert das einfach so, dass man mal wartet, dass man angesprochen wird, oder? Daniela (D3): Ja nein, ich denke, man muss schon auch aktiv sein. Das ist sicher auch daran gelegen- ich habe halt immer etwas gemacht, aber im Grunde genommen habe ich das Gefühl ist das momentan die beste Lösung – also allgemein in dem Bereich. Weil der sich einfach auch so fest verändert, auch mit der Wirtschaftskrise, die man spürt, halt auch wenn man hier in [Wohnund Arbeitsort] hockt, spürt man sie. Es ist nicht mehr so- ja, der ganze- da ist es am besten, wenn man sich einfach mal- schon aktiv ist, aber auch schauauch offen ist, was kommt, und jetzt nicht einfach festgefahren ist […]. Und halt dem muss man sich auch immer wieder anpassen und neu erfinden, und das macht es halt auch irgendwie spannend. Es bleibt nicht einfach so irgendwo hängen. Anders gesagt wird hier die Frage ungewisser Zukunftsaussichten von der Not zur Tugend gewendet und als positive Herausforderung an die eigene Person umdefiniert. Insgesamt ergibt sich hier das Bild eines andauernden Arrangierens mit Unvorhersehbarem und nicht mittelfristig, geschweige denn längerfristig planbarem Lebenslauf, wie etwa auf die Frage nach Danielas Zukunftsplanung: Interviewerin: Und wie sieht es bei dir aus mit Zukunftsfragen – also planst du voraus so … Daniela (D3): Nein, hä-ä [lacht] ... Interviewerin: Ein bisschen – also gar nicht, so momentan wahrscheinlich?

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Daniela: Es geht gar nicht! Es geht gar nicht! Also ich habe es irgendwo noch nie, und nein, irgendwie kannst du nicht. Du musst einfach schauen, was kommt. K- klar, vielleicht mal so grob, aber ich sage immer, man darf sich nicht versteifen darauf, es kommt eh immer anders. Also eh immer- also meistens. Oder es passiert etwas Unvorhergesehenes, oder es bietet sich irgendwas an, ich weiß es ja auch nicht. So ja. Nein, man muss das auch ein bisschen offenlassen. Ja. Das Warten darauf, dass »sich irgendetwas anbietet, ich weiß es ja auch nicht«, wird vermutlich mit mehr oder weniger regelmäßigen Selbstzweifeln einhergehen, die Grafikdesigner David in einer bereits teilweise zitierten Passage so auf den »Punkt« bringt: Interviewer: Also ich wollte jetzt gerne fragen, erst mal, hast du in [der Zeit] an irgendeiner Stelle gedacht, du würdest es heute anders machen? Also wenn du so zurückschaust? David (D5): Ja, hm-. Ja, es kommt immer wieder der Punkt, wo ich denke, ja, vielleicht war es jetzt doch nicht die richtige Entscheidung. Vielleicht hätte ich- wär’s bequemer gewesen, was Anderes zu wählen und ein bisschen weniger arbeiten zu müssen und- […]. Aber ja, also ich, eben, bei mir ist im Moment schon auch ein bisschen der Punkt, wo ich eben finde, ja, ich bin jetzt- da bin ich jetzt ne Weile und wie geht’s jetzt weiter und da ist schon auch ne Überlegung, mach ich jetzt noch mal ne Ausbildung oder äh eine Weiterbildung oder mache ich noch was ganz Anderes. Und da bin aber im Moment eigentlich einerseits noch ein bisschen ratlos und andererseits gefällt mir eigentlich das, was ich mache noch doch auch ziemlich gut, also … Einerseits Ratlosigkeit, andererseits aber auch das Eingeständnis, gerne so weiter machen zu wollen: Diese grundlegende Ambivalenz scheint Teil des kollektiv geteilten Schicksals der Kreativen zu sein, die sich potentiell hin zu den freien Künstlern noch deutlich verstärkt. Dies drückt sich dann auch im (soziologisch gesehen signifikanten) Paradoxon aus, dass die Entscheidung für ein Leben jenseits gesicherter bürgerlicher Berufsbiografien und ihrer an materieller Sicherheit orientierten Grundmotivation hier gerade das Thema »Geld« zu einem Dauerproblem und damit Dauerthema zu machen scheint, wie uns etwa Künstlerin Miriam gesteht:

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Interviewerin: Ist das bei Euch ein Thema dann zuhause, also so: Wie finanzieren wir uns in einem Jahr ... Miriam (K1): Jaja, jaja! Interviewerin: Wie viel redet ihr darüber? Miriam: Ja, mehr als uns eigentlich lieb ist, weil das ist nicht so interessant, aber es ist natürlich existenziell [lacht]. Nicht interessant, aber existentiell – auf ihrem für die große Mehrheit ja hoch riskanten Lebensweg der »freischwebenden Kreativität« begegnen unsere Gesprächspartner_innen unweigerlich der zentralen Frage nach dem »Geld« und der Schwerkraft der ökonomischen Gesetze. Oder, wie es ein Künstler formuliert: Dirk (K4): Du musst da so- also der Markt, der ist schon entscheidend. Also das ist, also weißt du, ich, ich jammere nicht gegen den Markt, sondern man muss es einfach als Realität sehen, oder. Also es gäbe schon Fragen, die zu klären sind, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen. Also der Markt, der ist Match-entscheidend.

»... ich möchte auch eine Galerie haben irgendwann« Gerade bei diesen Lebensentwürfen, die sich durch einen oft betont anti-ökonomistischen und antikommerziellen Pathos auszeichnen, kommt anscheinend die Macht einer radikalen Marktlogik durch die Hintertür als stiller Begleiter auf Schritt und Tritt zur Geltung. Auch bei noch so bescheidener Lebensweise bedarf ein Haushalt einer minimalen finanziellen Absicherung und diese Binsenweisheit bringt unter den gegebenen materiellen Bedingungen viele Kreativschaffende immer wieder an ihre Grenzen. Auf die Frage des Interviewers »wie viel hat man denn so im Schnitt-« zur Verfügung hat, beschreibt Künstlerin Miriam ihre Alltagsökonomie mit folgenden Worten: Miriam (K1): Also nein, es ist eher die Frage, wie viel brauchen wir! Wir brauchen natürlich trotzdem, ähm, ganz konkret, was haben wir jetzt ausgerechnet, Familienkasse 5000 Stutz [umgangssprachlich für Franken], plus irgendwie noch Krankenkasse, und- und Handysachen sind getrennt. Das heißt eigentlich, obwohl wir ja zusammen ein Atelier haben, eine uh billige Wohnung, ja, ist es doch eigentlich ein guter Lohn, den wir haben müssen.

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Wir sind halt zu dritt, oder, oder zu viert sogar! […] Und das kommt, ich meine, wenn ich einen Preis gewinne mit 25′000 Stutz … ein knappes halbes Jahr, dann ist das futsch, oder? Wenn ich eine Einzelausstellung ganz verkaufe, wo alle sagen: ›Leck, he, du weißt, dir geht es dann gut, du bist ja uh, uh am Verkaufen‹ und so, auch ein halbes Jahr, dann ist es weg, oder. Mit diesen fünfzig Prozent. Also es ist eigentlich nicht im Verhältnis, oder? Interviewer: Und so ist das bisher immer gelaufen, dass immer was so kam, und dann wieder weg, und dann kam, und dann. Und wird das so weitergehen, wahrscheinlich? Miriam: Es wird so weitergehen, genau. Alltag unter den Vorzeichen von permanenter Prekarität erfordert dabei auch ein hohes Maß an Flexibilität beim »Durchwursteln«, sowie eine gute Portion Resilienz beim Umgang mit Arbeitsbelastung und Stress. Die von uns befragten Kreativberuf ler_innen müssen ihre Marktgängigkeit analog zur employability der sogenannt Normal-Erwerbstätigen durch die Generierung von Nachfrage unter Beweis stellen, um zu überleben. Julia, eine von uns befragte Künstlerin, bringt dies im Hinblick auf das für ihre Sparte zentrale Problem, von einer Galerie »entdeckt« werden zu müssen, mit folgenden Worten auf den Punkt: Julia (K5): Ja, aber das mit der Galerie habe ich mir letztes Mal auch wieder überlegt und gedacht, ›gopf, warum habe ich eigentlich noch nie- warum hat mich noch nie jemand angefragt‹. […] Ich weiß es auch nicht, aber nein, ich habe einfach so gedacht, »ja, ich hätte schon Materi- also ihr würdet noch st–« – also das ist jetzt, das tönt jetzt vielleicht uh blöd – »ihr würdet noch staunen, was ich euch liefern könnte als Künstlerin«. Nein, es tönt jetzt blöd, aber weißt du, wie so- wie so, ähm »ich habe im Fall schon Potenzial für Arbeiten, die man verkaufen kann«. Also, aber es geht ja mir auch nicht – es geht ja nicht nur um das und trotzdem geht es um das. Es geht »nicht nur um das«, und dennoch geht es genau »um das«! Und dieses Dilemma trifft man auch bei Künstlern an, die nach den Erwartungen der Interviewer eigentlich als erfolgreich gelten sollten: Interviewer: Und jetzt bist du wieder da, wo du vorher warst, plus, es gibt, plus es läuft noch besser, oder, also jetzt ist die Entscheidung jetzt voll ...

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Marc (K3): Nein, nein, es läuft nicht besser, also ich muss sagen, also ich […] es läuft überhaupt nicht gut. Also ... Interviewer: Ach so, also ich hätte jetzt gedacht ... Marc: Nein, nein, nein, nein! Also ich bin wirklich am, also ich bin wieder am Schauen, dass ich wieder dort anknüpfen kann, wo ich mal gewesen bin. Weil das darf man nicht unterschätzen, also, der Faktor Alter, plus der Faktor wie nahe ist man an einer Kunstausbildung ist entscheidend, um weitervermittelt zu werden. Also ich bin früher bei Sachen angefragt worden, bei denen ich jetzt selber anfragen muss. Also ich bin eigentlich wie am Schauen, dass ich überhaupt wieder wahrgenommen werde. Und ich, also ich brauche dringend Ausstellungen, oder. Also ich werde jetzt dann zum Glück endlich mal eine haben, eine größere… Aber nein, nein, das ist jetzt nicht so. In dieser Beschreibung der Wechselfälle künstlerischer Existenz kommt recht deutlich zum Ausdruck, wie instabil Markterfolg in diesem Feld sein kann. Wahrgenommen werden ist entscheidend, Sichtbarkeit ein unverzichtbares Kapital und die aus ihr resultierende Nachfrage, die selbst zentraler Bestandteil der öffentlichen Wahrnehmung des Künstlers ist, repräsentiert dann den jeweiligen Marktwert und die konkreten materiellen Lebenschancen der Betroffenen, aber auch ihren Status, d.h. ihr »symbolisches« Kapital. Interviewer: Wie, welche Rolle spielt das für dich, also potenzielle Abnehmer, potenzielle Käufer oder so? Marc (K3): Also ich bin jetzt noch nicht an dem Punkt, an dem ich glaube, dass ich bald viel verkaufen werde. Jetzt geht es wirklich mal darum, dass es wahrgenommen wird. Dass es eben eingeordnet wird von anderen, nicht von mir selber-. […] Ich bin, also ich muss auch sagen, ich möchte auch eine Galerie haben irgendwann. Merke aber, das wird nicht heute oder morgen passieren. Ich brauche jetzt zwei, drei Ausstellungen, die gut sind. Und vielleicht mal ein Stipendium, das ich gewinne und dann ist das dann langsam angesagt. Es handelt sich demnach um Zukunftsvisionen mit vielen unbekannten Variablen und Fragezeichen, die allesamt auf eine starke Abhängigkeit von der unsichtbaren Hand des Kunstmarktes hindeuten. S’accomplir dans l’incertain, so untertitelte Pierre-Michel Menger (2009) treffend seine richtungsweisende Studie über Le travail créateur. In den Zeugnissen unserer Gesprächspart-

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ner_innen wird immer wieder deutlich, wie umfassend diese Ungewissheit ist und wie sehr Prekarität gewissermaßen die Gestalt eines »totalen sozialen Tatbestands« (Mauss) annimmt, der neben seiner gewiss dominanten materiellen Komponente eben auch symbolische (sozialer Status), kulturelle (Legitimität des produzierten kulturellen Kapitals), institutionelle (Etablierung über Unternehmungen und Einrichtungen des Kunstfeldes) und psychologische (soziale Identität und Selbstverhältnisse) Dimensionen umfasst.

»… da muss ich sagen, hey Mann, es ist zum Kotzen …« Das Nicht-Gesehen-Werden, ganz konkret in Gestalt des Nicht-Ausgestellt-Werdens, reduziert eben nicht allein die materiellen Lebenschancen, sondern schlägt sich auch im Fehlen der für das künstlerische Selbstverhältnis so essentiellen Anerkennung nieder. Das Erfahren einer solch ausgeprägten Marktabhängigkeit und Fremdbestimmung kann sich dann gut nachvollziehbar auch in einer potentiellen Bereitschaft zum Opportunismus zum Ausdruck bringen, wenn es etwa seitens eines befragten Künstlers heißt und keines weiteren Kommentars bedarf: Marc (K3): Aber ich habe vielleicht einfach so die Vorstellung, die sich bis jetzt noch nicht verabschiedet hat, dass, ähm, es eigentlich einfach ist, einfach schöne Bilder zu machen. Oder dass mir dann der Widerstand wie fehlt. Oder das [zeigt auf eine Zeichnung] ist vielleicht noch am ehesten ähm- […]. Und ich hätte großen Spaß, wenn jetzt ein Galerist sagen würde; geil, mach nochmal 50 von denen, ich verhacke die, oder? Da hätte ich keine Hemmungen. Aber selber wäre ich jetzt nicht so stolz … also … das mache ich einfach so schnell mal und das ist nicht … und das ist, glaube ich, sehr so ein kunstimmanentes Ding eben … oder … also ich weiß wie zum Teil auch nicht, wie das andere machen, also. Dies geht auch mit einer spürbaren Skepsis gegenüber den Spielregeln des Kunstmarktes einher, ob man nun die gängige Formel The winner takes all für die ausgeprägt inegalitäre Verteilung aller Kapitalien innerhalb der Künstlerschaft bemüht, auf die hier zum Zuge kommenden sozialdarwinistischen Prinzipien einer gnadenlosen Konkurrenzkampfes mit unterschiedlichen Ausgangschancen und unterschiedlich langen Spießen verweist oder den Klientelismus innerhalb der künstlerischen Alltagswelt anklagt, wenn z.B. von einer jüngeren Erfahrung bei einer Ausstellung die Rede ist:

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Interviewer: [zeigt auf eine Zeichnung] Wie ist die [in der Ausstellung] angekommen? Marc (K3): Jäh, es war eine komische Ausstellung. Es war irgendwie, ach, eine furchtbare Ausstellung. Es war im [Off-Space], das mittlerweile bereits so was wie Galerienstatus hat und dieser Betreiber, das ist einfach eine Penntüte. Also der kassiert von verschiedenen Stiftungen Geld und macht dann Ausstellungen, um vor allem sich selber als Künstler zu profilieren. Und wenn dann einer eine Ausstellung macht, die ihn nicht so interessiert, dann holt er sich irgendeinen Assistenten. Die ja für die überwiegende Mehrheit der Künstler_innen statistisch belegte und auch für viele Kreativberuf ler_innen – wenn auch gemilderter geltende – ökonomische Prekarität erfordert dann noch besondere Frustrationstoleranz, um nicht zu sagen Opferbereitschaft, wenn Bilanz über die Anteile kreativer Tätigkeit in der Alltagspraxis gezogen wird: Dirk (K4): Also entweder machst du das kontinuierlich oder ei- mehr oder weniger, oder einfach nicht, oder. Und wenn du es so machst wie ich, ich finde jetzt noch, oder, weißt du, wenn ich wirklich kucke, wie viel Zeit wende ich auf für wirklich die Untersuchung und den kreativen Prozess und all das, da muss ich sagen, hey Mann, es ist zum Kotzen, das ist vielleicht etwa fünf Prozent. Das ist auch schon wissenschaftlich untersucht, zwei Prozent ist Durchschnitt. Interviewer: Und der Rest? Dirk: Und der Rest ist Büroarbeit, äh Produktion, äh Werbung, der ganze Scheiß. Die Ökonomie der Kreativitätsarbeit scheint nach den erhaltenen Schilderungen auch durch grundlegende Ungleichgewichte des Marktes und der Verteilung von »Marktmacht« (Weber) zwischen Produzent_in und Konsument_in gekennzeichnet, wie etwa die folgende Aussage einer Grafikdesignerin verdeutlicht: Ena (D7): Aber ich meine, branchenüblich bin ich noch lange nicht. Branchenüblich- keine Ahnung, in irgend so einem Heftchen steht 160 pro Stunde [lacht], oder frag mich nicht.

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Interviewer: Warum machst du es nicht? Du könntest das theoretisch auch machen? Ena: Nein, das würde kein, kein Kunde bezahlen in meinem Bereich! Also, das Ding ist, wenn ich dieses Geld verlangen würde, dann müsste ich einen anderen Job machen. Dann müsste ich in die Werbung. Anders formuliert wird die in das Produkt investierte Kreativarbeit vom Markt nicht adäquat gewürdigt und entlohnt. Um ökonomisch rational zu wirtschaften, muss man sich eben kommerziell orientieren, was dann auch heißt, die Ansprüche auf autonome Gestaltung seiner Erzeugnisse aufzugeben. Die Diskrepanz zwischen Warenmarkt und Markt kreativer Güter wird auch da offenkundig, wo verschiedene Typen von Nachfragen, rein kommerziellen hier und von öffentlichen Interessen geleiteten dort, unterschieden und von klar verschiedenen Geschäftspraktiken begleitet werden. Anette, eine andere Grafikdesignerin, schildert uns dies folgendermaßen: Interviewer: Und hat sich das ökonomisch jetzt durch diese Selbständigkeit verbessert oder gleich- also wie muss man sich das vorstellen? Wird man da reich mit? Oder ... Anette (D6): [lacht] Man kann davon leben, aber reich wird man nicht dabei. Also äh ja, ich, ich will mich überhaupt nicht beklagen. Ich lebe gut, aber äh ich habe auch viele Jobs- und das gehört halt vielleicht zum Spektrum, in- wo man arbeitet. Ich arbeite auch für soziale Institutionen und für politische Parteien, die vielleicht nicht das äh große Geld haben für Riesenaktionen [lacht]. Und ähm und auch für Künstler und so und- und da arbeite ich halt zu reduzierten Sätzen, äh aber wenn ich mir das leisten kann, ist das für mich ok so.

»… nicht auf die Visitenkarte schreiben …« Nachdem wir nun gesehen haben, wie unsere Gesprächspartner_innen aus dem Feld der Kreativität mit der Frage ihres Erwerbseinkommens und ihrer materiellen Existenz umgehen, sollte in einem zweiten Schritt der Frage nach der jeweiligen Wahrnehmung und Beurteilung von Tätigkeiten je nach Nähe oder Ferne zum eigenen Verständnis von kreativer Praxis nachgegangen werden. Wenn, wie eingangs erläutert, die Befragten sich mehr oder minder offen und explizit dazu bekennen, für ihre berufsbiografischen Entscheidungen materielle Einschränkungen, wenn nicht gar manifeste Pre-

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karität oder im Extremfall Armut in Kauf zu nehmen, gilt es nun, jene besondere Qualität von »Arbeit« bzw. kreativer Tätigkeit näher zu bestimmen, für die es sich ihrer Meinung nach lohnt diesen Preis zu zahlen. Weiterhin geht es darum, das Feld der mit Kreativität identifizierten Praxen von jenen abzugrenzen, die von den Befragten als ihm gegenüber fremd, fern, nicht kompatibel oder gar entgegengesetzt repräsentiert werden. Nachfolgend werden diese Gegenüberstellungen so wiedergegeben, wie sie von den Probanden selbst thematisiert wurden. Hierbei kommen verstärkt Kreativarbeitende im Angestelltenverhältnis zu Wort, bei denen die Differenzierung in mehr oder minder frei gestaltende Tätigkeiten und solche unter klaren Vorgaben von besonderer Bedeutung für das eigene berufliche Selbstverhältnis erscheint. Grafikdesigner David unterscheidet hier zwischen »nur so die künstlerische Richtung…. nur so die ganz eigene Arbeit« von einer »Anstellung« bzw. spricht von einem »reale[n] Berufsprofil«: David (D5): Ja, also ich glaube es, es hat sicher zum, zum Entscheid beigetragen, dass ich wusste, dass wenn ich das mache, dann habe ich quasi eine Aussicht auf eine Anstellung. Dann habe ich wie ein, quasi ein, wie sagt man, ein reales Berufsprofil, das ich mir erarbeite. Diese Dichotomie verweist auf eine explizite Opposition von »Kunst« und »Beruf«, in der ersterer eine direkt persönliche Note, letzterem ein eher offizieller Status zugeordnet ist. Seine Berufskollegin Betty (D10) trennt analog zwischen »private Projekte[n]«, die »eher Kunst« seien, und dem Bereich der Werbung, wo sie auch beruf lich aktiv ist. In einem späteren Zusammenhang fügt David die Differenzierung von »allein in einem Atelier, wie die Künstler das sind« und auf der anderen Seite »Austausch« und »Team« hinzu und expliziert weiter zwischen »Produkte[n], die wahnsinnig Spaß machen − z.B. diese Ausstellung − und der Produktion eines Kundenmagazins für eine Bank.« Letzteres würde er sich nicht »auf eine Visitenkarte schreiben«, also als persönliches Aushängeschild des beruf lichen Selbstverständnisses und Ethos nutzen: solche Arbeit läuft bei ihm unter »nicht wirklich damit identifizieren«. Diese unterschiedlichen Gegenüberstellungen bzw. Grenzziehungen sind als durchaus homolog zu erachten und situieren sich in einer Logik der Differenzierung von »Eigenem« und »Fremden«. Die letztlich damit einhergehende Opposition von »Freiheit« und »Notwendigkeit« bringt sich auch

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in einer weiteren Gegenüberstellung von Grafikdesignerin Betty (D10) zum Ausdruck, die »von mir allein« und von »einem gewissen Einf luss« auf das Produkt spricht bzw. »von ein bisschen freiere[n] Sachen« hier und »vielen Leute wo reinreden« dort, von Dingen, die man macht, um »ein bisschen Geld zu verdienen«. Betty trennt das »Künstlersein« von »Gestaltung« und »angestellt sein« und spricht davon, dass man im ersten Falle »dann sich… mit seinen Themen, wo ihn bewegen, auseinandersetzt«. Gleichzeitig betont sie, dass das Leben in der Freiheit der Kunst als Freelancerin und Selbstständige aber durch »andere Probleme« belastet sei und sie lieber »angestellt« bleibe, auch weil sie, wie sie während des Studiums festgestellt hätte, letztlich nicht bereit wäre, für ihre kreative Praxis »nebenbei in einer Bar zu arbeiten um es zu finanzieren«. Sie differenziert zwischen »Kultursachen machen« und »Jetzt ist es sehr kommerziell.« Auf der Seite der gestalterischen Berufe wiederum wird von einer Grafikdesignerin (Deborah, D8) unterschieden zwischen einer Welt, wo es »wie um etwas Anderes« geht, einer »Welt, die so eine Anziehung hat« und die »Tiefen, die ich vielleicht nicht kenne« hat, was für sie »anziehend« sei und einer beruf lichen Tätigkeit, bei der man in eine »Agentur gehen und etwas mach[t], was ich nicht will«, bzw. dem ihren Eltern vorschwebenden Beruf einer »Hauswirtschaftslehrerin« oder einer »KV-Ausbildung«. Des Weiteren sieht sie in ihrem Umfeld »einen Kreis der Wertschätzung« am Wirken und sagt, sie wolle »mit Geld entschädigt« werden, wenn sie anderswo einer Arbeit nachgehen müsse, während man im »Kreis der Wertschätzung« »finanziell irgendwie überhaupt nicht honoriert« werde, dafür aber »Sozialprestige«, »Lebensgefühl« und »Aura« geboten bekomme. Ihr Berufskollege David (D5) unterscheidet das Künstlersein, in dem man »quasi diese Aufgabe« aus sich selbst heraus oder aus seinen Interessen »schöpfen« könne, von anderen Tätigkeiten, die »angestoßen von außen« erfolgen. Grafikdesignerin Ena (D7) unterscheidet zwischen »Künstler« und »Dienstleisterin«, dann bei der Letzteren wiederum zwischen »Werbung« und der für sich selbst beanspruchten Rolle »Tendenz Künstler« als eine Art Hybrid zwischen beiden Polen, wobei sie sich selbst dabei als doppelten Fremdling, d.h. keinem der zwei Bereiche klar zuordnungsfähig bzw. als nicht eindeutig situiert und beheimatet ansieht. Sie betont, der Künstler sei »keiner Gruppe zuzurechnen«. An anderer Stelle des Interviews betont sie für die eigenen Tätigkeiten, dass es welche gäbe, wo sie »dahinterstehen«

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könne und trennt diese von der »Werbung«, die für sie »wie ein anderer Job ein bisschen« sei. Während sie sagt, sie arbeite für Kunstprojekte »am liebsten gratis«, sieht sie am Gegenpol »dieses Geldverdienen« mit »branchenüblichen Ansätzen«. Ihr Ideal von »frei sein« in der eigenen kreativen Arbeit kontrastiert sie mit »Menschen, die in irgendeine Institution gehen«, in »Büros« und dort »stiere Sachen« machen müssen. Auch ihre ältere Berufskollegin, die bereits zitierte Anette (D8), sagt von sich, dass sie »für Künstler zu reduzierten Sätzen« arbeite, und von ihrer Arbeit »leben könne«, auch wenn man andernorts mehr verdiene. Sie zieht zugleich eine klare Grenze zwischen Grafikdesign als »kreativem Beruf«, aber dennoch einem »Handwerk«, welches »überhaupt nicht im künstlerischen Bereich« zu situieren sei, denn hier habe man einen »Auftrag zu erfüllen« und »Kundenbedürfnisse« zu »befriedigen«, und der eigentlichen »Kunst«. Sie sieht sich in der Rolle derjenigen, die »gern in der Freizeit, aber äh nur für mich« malt. Schließlich trennt die Grafikdesignerin Anette hinsichtlich ihrer eigenen Arbeit zwischen Zeiten »rein kreativer Arbeit« hier und »rein administrativer« Arbeit dort, nennt dabei »Rechnungen schreiben, Buchhaltung« und sagt: »Kommt alles dazu.« Weiterhin unterscheidet sie zwischen dem »kreativen Teil« und dem, wie sie es nennt, »ökonomischen Teil« ihres Berufs. Aber auch am anderen Pol unseres Kontinuums – vom festangestellten Kreativ-Dienstleister bis hin zum freien Künstler – finden wir ähnliche Differenzierungen zwischen dem eigentlichen künstlerischen Kerngeschäft mit starker Identifikation auf der einen und notwendigen Übeln des profanen Alltagsgeschäfts auf der anderen Seite. Ein Künstler (Filip, K2) liefert die Unterscheidung zwischen »Kunst machen« und »Arbeitsstunden zum Geldverdienen machen, soviel wie nötig«, zwischen »Gelegenheit, Opportunität« hier und »Job« »mit fixen Arbeitsstunden« und »planen können« dort. Er unterscheidet auch zwischen »wissen, was man will« hier und »temporäre Lösungen um Geld zu verdienen« dort und trennt zwischen »das Richtige« und »nicht dafür gemacht sein«, zwischen »erfüllt mich« und »Routine« oder »es tut mir nicht gut«. Für ihn ist die Welt der Kunst identisch mit »Zeit haben«. »Normale Jobs, 8 Uhr morgens bis 17 Uhr im Büro arbeiten«, das ist für ihn »Horror« und »die Leute stellen ab«. Unterschwellig klingt hier wieder das Credo des Kunstfeldes L’art pour l’art an, wonach Kunst immer Selbstzweck und nicht Mittel fremder Zwecke sein darf.

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Eine Kollegin (Miriam, K1) unterscheidet des Weiteren feiner zwischen freier Kunst, für die es ihrer Meinung nach »irgendwie noch ein Selbstverständnis braucht«, und einer »angewandten Ausbildung« bei der man »quasi immer noch so einen Beruf hat«. Hier wird dann auch unterschieden zwischen der reinen »Kunst«, in der »natürlich immer alles recht prekär« sei, und der von ihr praktizierten »Kunst am Bau«, die für die »Familienklasse« Geld bringe und damit wieder für die Kunst »einfach Zeit gibt«. Anders gesagt dienen in dieser Sicht die Zeiten, die man für ökonomische Notwendigkeiten opfern muss, primär dem Ziel, der Kunst durch Querfinanzierung den Rücken frei zu halten.

4. Am Rande bürgerlichen Berufsmenschentums Sprach Max Weber (1921, 418) vor einem Jahrhundert bei einem Vortrag vor Studierenden vom akademischen »Hasard«, um die konstitutive Ungewissheit einer universitären Lauf bahn mit extrem geringen Chancen auf ein Erreichen des Gipfels bei einem noch so mühsamen Aufstieg – zu beschreiben, so lässt sich in direkter Analogie von einem »Hasard« der Entscheidung für eine künstlerische Lauf bahn sprechen. Bekanntlich handelt es sich hier um eine hoch kompetitive, von ihren komplexen und oft wenig transparenten Spielregeln her extrem schwer durchschaubare und vorhersehbare Sphäre, in der bekanntlich nur einem verschwindend geringen Teil der Konkurrent_innen um knappe ökonomische und symbolische Ressourcen der Erfolg winkt. Was motiviert Zeitgenoss_innen zu einem Lebensentwurf unter klaren Vorzeichen von oft dauerhafter Ungewissheit und materieller Prekarität? Warum wählen sie eine beruf liche Existenz am Rande des für bürgerliche Gesellschaften kennzeichnenden »Berufsmenschentums« (Weber)?

»… weil ich vor allem weiß, was ich nicht will …« Beginnen wir mit einer sibyllinischen Antwort einer der von uns befragten Künstler_innen auf dieses Rätsel: Interviewer: Woher weißt du denn, was du willst? Jetzt mal blöd gefragt. Filip (K2): Äh weil ich vor allem weiß, was ich nicht will. Interviewerin: Und was ist das?

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Filip: Äh, also ich habe mich schon öfter gefragt, was gäbe es für Alternativen. Und das ist auch im Moment so ein bisschen so auch wenn man halt in einem Paar- also eine Beziehung hat, dann denkt man, wir müssen weiter- also alleine kann man sich so wie mitnehmen lassen, das ist ein bisschen einfacher, und ähm, dann denkt man schon ein bisschen nach, ja, wie geht es jetzt weiter und- mir macht es ein bisschen Angst, wenn ich jetzt darauf verzichten müsste, auf diese(.)n Lebensstil, den ich jetzt habe. Das ist Zeit haben für mich, Zeit um Sachen zu machen. Ich hab viel- also es fällt mir sehr schwer es gibt viele temporäre Lösungen, um Geld zu verdienen, oder. Aber ich halte es meistens nicht viel länger als zwei Jahre aus, weil es mich dann- es erfüllt mich nicht! Das ist immer so, man landet so ganz schnell in so einer Routine, und das ist- also die Motivation- ja, es macht- oder es tut mir nicht gut. Anders formuliert wählt unser Gesprächspartner einen offenkundig riskanten Lebensweg mangels akzeptabler Alternativen. Nun gibt es ja eigentlich in der modernen Berufswelt mit ihren weit verzweigten, ja bunt schillernden Angeboten an etablierten Professionen eher eine Qual der Wahl. Aus der einschlägigen Lebenslaufforschung wissen wir, welch ein komplexes Ensemble an vor- oder unbewussten Prädispositionen durch familiale und soziale Herkunft, Einf lüsse von Schule und Peers, gängige role models in Sachen »typische« Männer- und Frauenberufe und zeitgeistige Lifestyle-Klischees (»coole Jobs« etc.) hier zusammenwirken können. Im Falle der gegebenen, explizit negativ begründeten Entscheidung gegen den »Rest« und für die Ungewissheit und Unbestimmtheit, scheinen wir es eher mit einer an die legendäre Formel Bartlebys »I would prefer not to« erinnernde Begründung zu tun zu haben, nämlich der Weigerung den gesellschaftlichen Ordnungsrufen, in die offenstehende Normalität bürgerlichen Berufslebens einzutreten und sie als lebenslanges Schicksal »auf sich« bzw. »hin zu nehmen«, zu folgen. Hiermit wendet sich unser Gesprächspartner, ebenso wie die meisten unserer Proband_innen in ihren biografischen Rückblicken, nicht zuletzt gegen die von der sozialen Umgebung, insbesondere den Eltern, geäußerten Skepsis oder gegen explizite Warnungen davor, sich auf ein solch unsicheres Terrain zu begeben, wobei auffallend oft auch ein Appell an die Vernunft, sich nicht über das eigene Herkunftsmilieu und dessen Horizonte an »realistischen« Lebensentwürfen hinaus zu projizieren, mitschwang. Grafikdesigner Markus drückt dies folgendermaßen aus:

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Markus (D1): Also und ich bin auf dem Land aufgewachsen, ich habe nicht gewusst, dass es so einen Beruf wie Grafiker gibt. Ich habe einfach gerne gezeichnet. Und ich habe zu ihm damals gesagt, ›ja, am liebsten würde ich einfach zeichnen‹. Und er hat gesagt, ›du kannst nicht leben von so was, das geht nicht‹ und ähm, dann habe ich gedacht, ›ja gut, dann muss ich halt dann was Anderes lernen‹ äh, und habe an Verschiedenem herumstudiert. Mechaniker habe ich- bin ich schnuppern gegangen, ich bin das KV schnuppern gegangen auf die Gemeinde und auf die Bank und … Ähnlich klingt es aus dem Mund einer Künstlerin, wenn sie feststellt: Mia (K8): Zu meiner Zeit ist das wie klar gewesen, man muss einfach einen Beruf lernen und so, und ich habe immer gesagt, ich will zeichnen und dann hat es geheißen, das gibt es nicht. Und geschrieben habe ich auch sehr viel. So Schriftstellerin wäre auch noch etwas gewesen, da hat es auch geheißen, das geht nicht und- und ähm ja eigentlich habe ich wie- ich bin auch so ein bisschen Quereinsteigerin, also habe dann einfach einen Beruf gewählt, der mit Handwerk zu tun hat, oder? Dekorationsgestalterin habe ich gelernt. Und ähm ja, irgendwie ist es so ein bisschen Kunstschule wie kein Thema gewesen halt. Und im Falle einer Grafikdesignerin, die in einem ländlichen Milieu und einer bildungsfernen Familie aufwuchs, nimmt sich diese Erfahrung, einen solchen biografischen Entwurf gegen den Strich ihres Herkunftsmilieus und dessen Philosophie des »Schuster bleibt Deinen Leisten« zu wagen, folgendermaßen aus: Deborah (D8): Ich wollte eigentlich Grafikerin werden, aber ich bin halt so, ähm, ganz auf dem Land aufgewachsen in einem sehr konservativen Umfeld, also sehr bäuerlichen Umfeld. Und mein Vater war Schmied und alle anderen Bauern, und ich wollte eigentlich an die Kunstgewerbeschule, keine Ahnung, wie ich auf die Idee gekommen bin, die war einfach plötzlich da drin, und das wurde dann halt nicht akzep- »das geht nicht«, oder. »Also das ist wie kein Beruf, und du bist sowieso- also du kannst ja nicht mal richtig zeichnen« und so- also es war einfach wie so- das kam nicht in Frage. Und dann- sie habenmeine Eltern haben mir noch so wunderbare Vorschläge gemacht, was ich doch machen soll …

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»… dafür hast du eben einfach diese Freiheit …« In manchen unserer Gespräche schien es auch so, als ob die Weigerung, sich in das vom Herkunftsmilieu als angemessen umrissene Feld des Möglichen zu bescheiden, auch als eine Verweigerung des Austritts aus der für Jugend als gesellschaftlich garantiertem sozioökonomischen Moratorium, gekennzeichnet durch eine durchaus zweischneidige und zwiespältige Offenheit eines Feldes des (vermeintlich) Möglichen. Man weiß, dass man »das« nicht will! – und diese Negation kann ins Positive gewendet zum Ethos und Lebensentwurf werden. Diese konstitutive Unbestimmtheit nimmt sich in der Sicht von Künstler Filip keineswegs als ein individueller Charakterzug seiner Person aus, sondern eher als kollektiv geteilte Disposition, die sich schon beim Eintritt in die Kunstschule bei einer ganzen Alterskohorte zur Geltung zu bringen schien: Filip (K2): Eben, das war auch so das Ding, also man kommt in die Kunstschule und man denkt, man hat was erreicht, aber da fängt alles erst an in dem Sinn. Bachelor ist ja noch so ein Studiengang […]. Als ich da reingekommen bin, da gab es auch viele Leute, die wussten nicht, was machen oder es war so ein Selbstfindungsding und das finde ich – also ich finde das auch okay … Ein solches »Selbstfindungsding«, von dem sich der Gesprächspartner kritisch distanziert, gilt ja üblicherweise als altersspezifisches, d.h. adoleszentes bzw. postadoleszentes Muster der Identitätskonstruktion. In zeitdiagnostischer Perspektive erscheint es jedoch im Kontext der juvenilen Kultur unserer spätmodernen »Gesellschaft der Individuen« (Elias) mehr und mehr davon losgelöst und generalisiert, d.h. es entwickelt sich über das individualpsychologische Experimentierfeld dieser Altersphase hinaus zu einem Grundmuster des Selbstverhältnisses und der Befindlichkeit des zeitgenössischen Subjekts. Wenn »Freiheit« von vorgegebenen Mustern von Normalbiografie aber zu einem erstrebenswerten Modell der Lebensführung wird, dann entwickelt sich entsprechend jene Sozialfigur zum role model, die diesen Habitus in idealtypischer Weise zu inkarnieren scheint: der Künstler. Wenn dieses Rollenmodell hier nicht geschlechtsneutral benannt wird, dann geschieht dies bewusst, denn tatsächlich erweist es sich in den rekonstruierten Selbstverhältnissen gerade der befragten Künstlerinnen immer wieder als stark männlich konnotiert.

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Hierbei geht es um mehr als nur einen »Beruf« als institutionalisierte und normalisierte Grundform der Daseins- und Unterhaltssicherung und um mehr als nur um Broterwerb und Status, nämlich um ein Modell der Lebensführung, einen Lebensstil, welcher, wie von verschiedenen Interviewpartnern betont wurde, als solcher einen hohen persönlichen Wert darstellt. Grafikdesignerin Ena bringt ihre Vorstellung von dieser Form der Lebensführung folgendermaßen auf den Punkt: Interviewer: Stell dir mal vor, du wärst jetzt aus ökonomischen Gründen doch gezwungen sowas zu machen für ʼne Zeit, was würdest du am meisten vermissen an deiner alten ... Ena (D7): Ja. Das- vielleicht nur, das sich betrügen, dass man so frei ist. Die Vorstellung, dass ich jeden Tag in der Nacht arbeiten kann und am Morgen schlafen und so, dabei ich mache es gar nicht. Nein, aber was ich halt schon liebe ist, dass ich nirgends hin muss. Also ich kann, ich kann dort arbeiten, wo ich will, habe keine Menschen um mich herum, die mich stören oder so, ich habe meine Musik, ich hab- diese Sachen. Sie kontrastiert dies, im Sinne der erwähnten Bartlebyʼschen Formel, mit der Negativfolie von dem, was sie lieber nicht will: Ena (D7): Oft sind auch Büros oder so, wenn ich irgendwo hin muss, überhaupt nicht so wie ich gerne arbeite. Das sind so kleine Details, irgendwie hässliche Büros, oder diese stiere- stieren Sachen halt. Zusammen Mittag essen, dann muss man irgend so ein Scheiß-Tupperware irgendwo rein- keine Ahnung [lacht] es muss einfach nicht so sein, das sind einfach so Vorstellungen. […] Ich habe hoch- großen Respekt vor Menschen, die jeden Tag in eine Institution gehen. Ich finde das ein Wahnsinnsding. Für mich wäre- also fast undenkbar. Ich finde es sehr schwierig, diese Vorstellung. Ähnlich drückt ein befragter Künstler seine Aversion hinsichtlich der bürgerlichen Arbeitswelt aus: Filip (K2): Ich finde ganz viele so, so normale, sagen wir normale Jobs, wo man einfach von acht Uhr morgens bis 17 Uhr im Büro arbeitet und so, ich hab das auch erlebt, was das für Arbeitsklimas sind und so, das ist Horror, das ist- die

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Leute stellen ab. Das ist- also ich finde das ganz schlimm, ich finde das ganz schlimm. Immer wieder taucht in den Gesprächen der Begriff »Freiheit« als emblematisches Alleinstellungsmerkmal künstlerischer Berufe zur Abgrenzung von der bürgerlichen Berufswelt auf, so z.B. bei Schmuckdesignerin Gundula: Gundula (D9): Ich glaube, wir haben dafür halt auch sehr viele Freiheiten, die man sonst nicht hat äh in einem Job. Eben, du kannst einfach sagen, ›jetzt gehe ich einen Monat nach New York‹. Und ähm vielleicht in einem anderen Job kannst du dann das dafür nicht. Oder wenn es heute schön ist, dann sagst du, ›gehe ich halt raus und dann arbeite ich halt am Samstag‹. Interviewer: Ist das dir wichtig, diese Freiheit? Gundula: Nein, sehr wichtig- aber ich glaube, es entschädigt. Es entschädigt eben vielleicht, dass du eben dann halt nicht Ende Monat 10.000 Franken hast, dafür hast du eben einfach diese Freiheit und hast es so gewählt und ähm du weißt auch, du hast es- du hast es so gewollt. Und- und ich glaub, aber das ist halt ein bisschen ein Glück, du machst etwas, das dich sehr befriedigt. Also ich weiß, ich möchte bis an mein Lebensende nie etwas anderes machen. Solche Aussagen verweisen auf den Fortbestand einer Form gesellschaftlicher Distinktion, die in vormodernen, der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft und ihrem Berufsmenschentum vorgelagerten Ära ständischer Unterscheidung und ständischer Selbstverhältnisse beheimatet ist und bezeichnenderweise gerade in der Sphäre von »Kreativität als Beruf« analog zur religiösen Praxis ihre Kräfte der Beharrung unter Beweis stellt. Diese Form ständischen Habitus äußert sich par excellence in, wie Max Weber es formulierte, der »Disqualifizierung ständischer privilegierter Gruppen für die gewöhnliche physische Arbeit« (Weber 1922, 637) und in ihrer modernen Variante wohl auch für die gewöhnliche erwerbsmäßige Lebensführung der breiten Massen. Rationale Erwerbstätigkeit erscheint dem ständischen Ethos als »disqualifizierend und gilt ferner als entehrende Arbeit, auch die künstlerische und literarische, sobald sie zum Erwerb ausgenutzt wird oder mindestens dann, wenn sie mit harter psychischer Anstrengung verbunden ist, wie z.B. der im Staubkittel, wie ein Steinmetz arbeitende Bildhauer im Gegensatz zum Maler mit seinem salonfähigen ›Atelier‹« (Weber 1922, 638).

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»… Es ist mehr so eine Aura …« Das in vielen Statements zum Ausdruck kommende »Pathos der Distanz« (Nietzsche) gegenüber dem Durchschnitt, dem profanen Alltag, Lebensstil und Habitus der herkömmlichen Berufsmenschen, soziologisch auch als »soziale Distinktion« zu bezeichnen, bedient sich typischerweise jener Klischees von einer kleinbürgerlichen, spießigen Banalität des Alltags, der man in eine faszinierende und »coole« Welt subkultureller Gegenentwürfe entf liehen will, wie folgende längere Passage aus einem Gespräch mit einer Grafikdesignerin (Deborah, D8) es in einer »dichten Beschreibung« ihres Milieus erläutert: Deborah (D8): Es wird ja irgendwie finanziell überhaupt nicht honoriert, aber man hat irgendwie so einen komischen Coolness-Faktor, was man ja nicht so recht weiß, woher dass das kommt, was mich manchmal auch sehr befremdet, dass das- wenn man das dann ein bisschen so erzählt oder so. Es hat ja schon für so- für sehr viele Leute hat das so eine Faszination, also ›ah, ist extrem cool‹ und ›ah und oh‹ und so- es hat ja wie so einen Anziehungspunkt, irgendwie. Also kein Plan, find ich auch ein bisschen komisch, aber von dem her wird es ja schon irgendwie mehr so honoriert mit so, weiß doch auch nicht, so Sozialprestige in einer gewissen Schicht oder was auch immer. Interviewerin: Denkst du, der Coolness-Faktor hängt damit zusammen, dass man wirklich ästhetisch etwas verändern oder gestalten kann? Oder ist es eher so, wie man arbeitet? […] Deborah: Hm, ja schon irgendwie die Arbeit, aber ich glaub, vielleicht hat es schon auch irgendwie mit diesem Netzwerkding zu tun, dass man dann halt sehr vieles verstrickt, und dann viele Leute machen ja dann auch noch Musik, oder man macht dann Mode, oder ist dann irgendwo noch so und so angezogen, oder- also es ist eher so ein Lebensgefühl, dass dann wie von außen so ein bisschen magnetische Wirkung hat oder auch dass man dann so- eben auch so kleinen Fondue-Essen oder dann wie so eine Party organisiert, und das hat dann doch manchmal so extrem […] eine Magnetwirkung, wo man dann nicht so weiß, ja, warum wohl- also man denkt dann, dort, wo die sind, da ist eine coole Party [Interviewer lacht]. Also es ist irgendwie absurd, aber es gibt einfach wie so- also es ist jetzt alles sehr so idealisiert, aber ich glaube es sind eher solche Faktoren, die das dann- als jetzt effektiv, was ich auf meinem Bildschirm mache. Es ist mehr so eine Aura, dass dann so ein- die Idee hat, vielleicht hat es mehr mit der- mehr mit der Autonomie zu tun als

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mit dem, was man effektiv arbeitet. Also man hat so wie sehr viel selbstbestimmt, so mit wem arbeite ich, mit wem mache ich was, und nicht so fest trennt zwischen Arbeit und persönlichen Projekten und so. Diese subkulturelle Bezugsgruppe scheint in der Sicht der Befragten eine wichtige Quelle der wechselseitigen Bestätigung und Unterstützung darzustellen, welche die auf sich genommenen materiellen Einschränkungen kompensieren: Deborah (D8): Ich meine, man kann extrem günstig leben… Man fühlt sich ja dann nicht benachteiligt. Weil- man ist wie so ein Teil von einem Kreis, und man bekommt dort na auch Wertschätzung und ist wie so an etwas dran, was einen interessiert, und ich finde dann- die Lohnfrage wird viel nebensächlicher. In eine ähnliche Richtung geht die Aussage eines Künstlers, für den die Wertschätzung durch seine Peers von zentraler Bedeutung ist: Dirk (K4): Also bei mir war es viel mehr, was machen andere Künstler? Was finden andere Künstler über meine Arbeit? Und was finden quasi meine besten Freunde, die ich finde ›ja, die sind richtig fett, gut drauf‹, oder. Was finden die? Das sogenannt kreative Milieu ist dabei nicht nur eine Ressource wechselseitiger Anerkennung, sondern auch ein privilegierter Markt für die Zirkulation der produzierten Güter, wie es z.B. eine Schmuckdesignerin formuliert: Interviewer: Wie kommst du denn jetzt überhaupt zu den- also wer kommt das kaufen? Das sind Leute, die dich kennen? Gundula (D9): Äh unterschiedlich, also es sind ja einerseits Leute- also angefangen hat es so quasi mit dem Freundeskreis und Bekanntenkreis und dann kommt halt der Bekanntenkreis vom Bekanntenkreis. Gleichzeitig kann dieses kreative Milieu aber auch als Zwang und Belastung wahrgenommen werden, wie eine andere Künstlerin auf die Frage nach den Möglichkeiten, die eigene Karriere voranzutreiben, schildert:

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Mia (K8): Ja, man müsste wahrscheinlich an jeder Vernissage sein und sich dann die Galeristen oder die wichtigen Leute aussuchen, mit denen ins Gespräch kommen und ja, also wirklich so ein bisschen- und manchmal löscht mir das so ab, dieser ganze Kunstkuchen- ja, an all diesen Eröffnungen undIch glaube so, das Gesehen-Werden ist mal eines vom Wichtigsten und halt dann mit diesen Leuten ins Gespräch kommen und halt auch hartnäckig sein und immer wieder kommen, aber das ist halt auch nicht so mein Ding.

»… spannendes Zeug machen- weißt du, so ein bisschen das, oder?« Andere betonen, dass man sich von seinen persönlichen Kompetenzen und Einstellungen her gar nicht in der Lage sähe, einen konventionellen Beruf auszuüben, wobei die hier formulierte Aversion einen Beiklang von Koketterie in Sachen Inkompatibilität der eigenen Persönlichkeit mit der beruflichen Alltagswelt hat: Julia (K5): Also weißt du, was kann ich eigentlich? Was habe ich vorzuweisen? Wie soll ich überhaupt einen Job suchen? Nachher auf dem- Stempeln gehen, he, ich habe das noch nie gemacht, gell. Das ist ein »huere Seich«, also [lacht]. Nein ehrlich du- du wirklich da- nachher wirst du so- dann kommst du- eben und das ist so Zeug, was ich so nicht vertrage. Dort so ein Formular ausfüllen und so, so im rechten Winkel- boah eben, das Bürokratische- nein … Wenn, wie Bourdieu betont, ein spezifischer Habitus durch ein jeweiliges Ensemble an Grenzen des Vorstellbaren, Denkbaren und Praktikablen geprägt wird, dann finden wir in der jeweils mehr oder weniger vehement zum Ausdruck kommenden Ablehnung bürgerlicher Normalität und Alltäglichkeit des Berufslebens sicherlich ein für das soziale Milieu der Kreativen, um nicht mit Florida in die Falle eines Allerweltbegriffs von Creative Class zu gehen, einheitsstiftendes Leitmotiv eines kollektiven Selbstverhältnisses von Menschen, die ihren »beruf lichen« Alltag als »außeralltäglich« definieren und distinguieren. Die Befragte, Künstlerin mit Brotjob und alleinerziehende Mutter einer Tochter im Teenageralter, entwirft gleich im nächsten Schritt auf die Frage, was ihr in ihrem Wohnort – einer Stadt ohne nennenswerte überregional wahrgenommene Galerien – das Ideal einer ihr »cool« erscheinenden, aber in jeder Beziehung fernen, urbanen Gegenwelt:

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Julia (K5): Doch eigentlich ich glaub, das fände ich cool an- das fände ich das Coole, dass du eigentlich wie- einfach schnell für ein Bier noch an eine coole Performance oder dir schnell noch irgendwo was reinziehen gehen kannst. Das ist natürlich manchmal schon viel wert, wenn es schon um dich rum passiert und du so nahe dran bist. Oder dann auch Leute um dich hast, die dir erzählen, wie es genau gewesen ist. Also das hat vielleicht schon auch noch damit zu tun, dass ähm- das fände ich vielleicht manchmal schon auch noch spannend, wenn ich noch mehr Leute- also aber das ist so ein bisschen eine Idealvorstellung. Das ist auch so ein bisschen das Denken, so es wäre cool, in einem Haus zu wohnen, wo uh viele so Leute verschiedene, die- die spannendes Zeug machen- weißt, so ein bisschen das, oder? Anders gesagt, wird hier die Sozialutopie einer subkulturellen Vergemeinschaftung Gleichgesinnter, die Weltsicht, Lebensgefühl und -stil teilen, entworfen. Julia vermisst nach eigenen Worten in ihrem Umfeld Julia (K5): … noch mehr so ein bisschen gelebtere Leute, so ein bisschen extremere. Ähm- ja, also wirklich, das ist glaub einfach auch so. Also einfach auch so ein bisschen schrägere und ein bisschen wildere […] Aber das ist ja- das istdas ist manchmal auch das, was mir dann eben auch ein bisschen- also Angst macht. Wo ich auch so denke- ja gell, man richtet sich so ein. Vor ein paar Jahren habe ich noch viel mehr- vielleicht ist das auch noch eine Frage des Alters, noch jünger und habe ich so das Gefühl gehabt, ich bin noch viel mehr so das Reh, wo ich auch das Gefühl habe, das bocken muss und sich auflehnen und finden, was – oder langweilig oder sich selber langweilig … Überhaupt ist die Altersfrage für die Selbstverhältnisse und -verständnisse der Befragten von zentraler Bedeutung. Was an Lebensumständen in jungen Jahren akzeptabel erscheint wird im Hinblick auf ein fortgeschritteneres Alters als schwer in Kauf zu nehmen angesehen. Auch scheint es beim Älterwerden, wie in Julias Schilderungen deutlich wird, zu einem »cooling out« (Goffman) zu kommen, bei dem der Zauber »der allem Anfang inne ist« ein wenig verblasst, Routinen sich einstellen und angesichts noch nicht erfüllter Hoffnungen auf Erfolg – etwa im Hinblick auf einen festen Platz im Galeriewesen für einen Künstler – zu Redefinitionen der eigenen Situation und künftiger Aussichten führen.

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In kaum einem der Interviews fehlt es an Überlegungen über mögliche Umorientierungen und Weiterbildungen, diese situieren sich jedoch durchweg in einem Feld des Denkbaren und Möglichen, das seine Grenzen an jenen des kreativen Feldes zu finden scheint. Man denkt über ein Master-Studium an der Kunstschule nach oder über einen Wechsel in einen anderen Kreativbereich. Hören wir hierzu die Gedanken einer Schmuckdesignerin: Nadja (D2): Also es ist mir vor allem- ich habe mir vor allem überlegt, eben vielleicht auch noch irgendeinen Master zu machen, mich auch wieder ein bisschen zu öffnen, im Sinn von plötzlich ist mir alles ein bisschen eng, der Schmuck ist so klein und die Schmuckwelt ist so klein und die Designwelt ist so klein, also dass, wo ich eigentlich immer darauf zugesteuert bin, habe ich das Gefühl gehabt, das muss ich wieder aufbrechen, und das muss wieder größer sein, irgendwie, vielleicht mehr so ins Organisatorische, ins Kuratieren oder einfach so, und habe dann einfach ein bisschen ge- was gibt es für Studiengänge, oder einfach auch in der Zeit, wo ich an der Schule gearbeitet habe, dass ich gefunden habe, moll- mal wieder so in die Richtung etwas zu machen. Und habe dann auch mal geschaut, was gibt es alles für Möglichkeiten, und habe gesehen, au, es gibt einen Quereinstieg für Lehrer, es geht nur eineinhalb Jahre, ich würde- ich könnte Teilzeit arbeiten, ich würde viel verdienen, ich habe immer Ferien [lacht] und plötzlich habe ich gefunden, super, das will ich- und habe nachher eigentlich gemerkt, das stimmt eigentlich- passt das gar nicht. Anders gesagt werden in diesem Falle, wie auch in anderen, die materiellen Verlockungen und Aussichten auf ein ökonomisch sorgenfreieres Leben mit dem Hinweis auf eine Inkompatibilität mit der eigenen Persönlichkeit zurückgewiesen, während aber kunstaffine Tätigkeiten wie Kuratieren durchaus zum Horizont möglicher Umorientierungen zählen könnten. Auch bei anderen Gesprächspartner_innen kam immer wieder zur Sprache, dass ein Wechsel innerhalb der verschiedenen kreativen Sparten und kulturellen Praxisfelder als durchaus akzeptabel und denkbar erschiene, ein Austritt aus diesem Feld jedoch oft sehr kategorisch von sich gewiesen wird. Dies lässt vermuten, dass die berufsbiografische Entscheidung für eine bestimmte Lauf bahn im Bereich gestalterischer oder künstlerischer Tätigkeiten weniger durch deren konkretes Profil bzw. dank spezifischer Affinitäten mit

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genau diesem getroffen werden, sondern das Feld der Kreativberufe als solches und global eine besondere Attraktivität ausübt.

»… viele, die auch so irgendwo einen Job haben« Innerhalb der Grenzen des als den eigenen Erwartungen und Ansprüchen angemessen erscheinenden Feldes an Aktivitäten eröffnet sich jedoch ohnehin schon ein exotisch buntschillerndes, heterogenes Spektrum an Berufsprofilen und Praktiken, wie der folgende Tour d’Horizon einer Befragten rund um die Frage nach dem beruf lichen Verbleib ihrer Kommiliton_innen illustriert: Interviewerin: Was machen die Leute heute, mit denen du studiert hast? Also seid ihr noch in Kontakt? Nadja (D2): Ja, zum Teil sind wir schon- sind wir in Kontakt, total unterschiedlich – eine arbeitet für Ikea, eine macht auch Schmuck, eine macht Schuhdesign und hat relativ viel Erfolg gehabt und hat dann sogar können bei einer großen Marke…, noch recht erfolgreich, können mit einsteigen in der Geschäftsleitung… Dann einer ist sonst selbständig, der macht eigentlich vor allem Möbel und arbeitet auch in der Schule als Unterrichtsassistent. Dann eine Freundin von mir ist im Unterricht jetzt ähm in der Berufsschule, das ist so eine Berufsschule für Grafikdesign, wo sie unterrichtet. Äh, dann hat es auch solche, die aufgehört haben, da weiß ich nicht mehr, was die jetzt genau machen. Und dann gibt es viele, die auch so irgendwo einen Job haben und weiterarbeiten. Und dann gibt es auch solche, die so also ein bisschen Karriere gemacht haben…, ja so, ganz unterschiedlich. Aber viele sind irgendwo so geblieben, oder haben einen Master gemacht … Man sieht in dieser kurzen Beschreibung der Zentrifugalität berufsbiografischer Flugbahnen, die ihren Anfang in einer kollektiv geteilten gestalterischen Ausbildung nehmen und von da an in unterschiedlichste Tätigkeitsbereiche auseinanderstreben, wie stark »Kreativität als Beruf« von den oft hochgradig institutionalisierten Lauf bahnen und Karrierewegen bürgerlicher Berufsprofile divergieren. Auch in den je individuellen berufsbiografischen Flugbahnen finden wir diese Heterogenität in diachroner wie synchroner Gestalt wieder. In den geschilderten Lebensläufen spiegelt sich ebenso wie in den Narrationen möglicher künftiger Weichenstellungen eine relativ starke Mobilität und Flexibilität qua unterschiedlichster Formen von

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Umorientierungen und Wechseln in andere, wenn auch oft angrenzende Praxisfelder. In synchroner Hinsicht besteht diese Heterogenität in biografischen Patchwork-Konfigurationen, bei denen unterschiedliche Erwerbstätigkeiten im Alltagsleben parallel nebeneinander herlaufen. Für beide Dimensionen bietet sich der gängige Begriff der »Bastelbiografie« als durchaus treffende Charakterisierung an. Signifikanterweise erscheinen dabei auch die eigentlichen Einnahmequellen, mit denen man einen guten Teil des Lebensunterhalts bestreitet, als »Nebenjobs« gegenüber der kreativen Tätigkeit und es scheint so, als präferiere man bei der Suche nach solchen Einnahmequellen »Jobs« in einem kulturaffinen, also dem eigenen Milieu und seinem Lebensstil sozialtopografisch nahen Bereich.7 Diese können dabei dann auch umkodiert werden und erst gar nicht als alltägliche Typen von Erwerbsarbeit, was sie ja für viele andere Menschen sind, erscheinen. Aber auch innerhalb des Feldes der Kreativberuf ler_innen existieren deutliche Polarisierungen, wenn es um die eigene Positionierung in ihm geht, wobei man zum Idealtypus der »reinen Kunst« gerade seitens der Vertreter_innen gestalterischer Berufe auch auf Distanz geht. So sagt uns etwa David, ein Grafikdesigner: David (D5): Also da war ich halt viel allein, allein in meinem Atelier [lacht] wie Künstler das alle sind und da habe ich Mühe damit. Also ich brauche so ein bisschen Austausch. Ich arbeite auch furchtbar gerne im Team. Also ich mag das, wenn man zusammensitzt und Ideen-Pingpong spielt mit Ideen und die sich weiterentwickeln. Ich habe nicht so wahnsinnig das Bedürfnis zu sagen, das ist jetzt meine geniale Arbeit, die nur von mir kommt und das ist jetzt genau das. Sondern ich, ich mag es eigentlich, wenn auch viele Leute dazu beitragen und man am Schluss dann etwas hat, das, das gut ist und wo man eine gewisse- einen Einfluss gehabt hat, aber es muss nicht, es muss nicht so von mir alleine sein.

7  Nach Menger (2006) handelt es sich hierbei um eine in der Sphäre der Kreativarbeit weit verbreitete Strategie der Vermeidung kognitiver Dissonanzen: man bleibt sich gewissermaßen »treu«, schert nicht opportunistisch in einen konventionellen Brotberuf aus, sondern verbleibt in der Sphäre und Aura kunstaffiner Tätigkeiten, und sei es auch nur an der Kasse eines Museums (vgl. Scheiffele und Böhmler 2006).

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Und weiter betont unser Gesprächspartner, dass er eine »klare Aufgabe« bevorzugt: David (D5): Es gibt ja auch ein gutes Gefühl, wenn du so ne Liste hast und dann also: ja, habe ich gemacht, habe ich gemacht, habe ich gemacht, so. Dann bist du wieder motiviert irgendwie- weil die kreative Arbeit kann auch ein bisschen, kann auch sein, dass du am Abend dann denkst, ja, was habe ich denn heute eigentlich gemacht und ich habe ja nur irgendwie herumgesurft und ein bisschen Bilder abgespeichert. Betty, eine Kollegin aus der gleichen Sparte, markiert ihre Distanzierung zum Künstlertum folgendermaßen: Interviewer: Aber du wärst durch diesen Schritt [in die Selbständigkeit] auch kein Künstler, sondern wärst immer noch Grafikdesigner, selbstständig.  Betty (D10): Hm, ich wäre ein Gestalter, aber ein Künstler ist für mich schon noch jemand, wo sich dann sehr mit seinen Themen, wo ihn bewegen, auseinandersetzt.  Anette, ebenfalls Grafikdesignerin, zum gleichen Thema: Anette (D6): Nein, also ich sehe den Beruf der- der Grafikerin überhaupt nicht im- im künstlerischen Bereich. Also das ist zwar ein kreativer Beruf, aber das ist ein Handwerk. Also ich- ich trenne das … An- an mich wird die Erwartung gestellt, dass ich äh- dass ich einen Auftrag erfülle, also der- der Kunde, der zu mir kommt, hat in der Regel ein Kommunikationsbedürfnis, das er befriedigt haben will [lacht], also er will einen Inhalt transportieren. Äh, das muss beim Kunden möglichst gut ankommen. Dabei versuche ich ihn zu- zu unterstützen. Ja und der Künstler muss sich das- seine Botschaft eigentlich selbst geben. Anders formuliert wird hier in der Gegenüberstellung von Kunst und Handwerk, von Selbstreferenz künstlerischen Schaffens und an Aufträgen und ihnen zugrundeliegenden Bedürfnissen Dritter eine Leitdifferenz etabliert. Dass um diese Markierung einer für die eigene beruf liche Identitätszuschreibung aber immer auch gerungen werden muss und das ihr korrespondierendes Selbstverhältnis gerade bei Frauen in einer weiterhin

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männerdominierten Kultursphäre prekär bleibt, wird aus den nachfolgenden Betrachtungen deutlich.

»… Tendenz Künstler …« Eine Künstlerin schildert uns ihren Weg von der Ausbildung als Kunstlehrerin hin zum Status Künstlerin als ein mühevolles Austreten aus einem »Beruf« als gesellschaftlich definiertem und anerkannten Status hin in eine offene Praxis, bei der es nach ihrer Aussage primär auf das entsprechende »Selbstverständnis« ankommt: Interviewer: Aber studiert hast du das schon, Malerei? Miriam (K1): Ja. Also nein, ich habe eigentlich- nach dem Vorkurs bin ich nachher- habe ich eine Zeichnungslehrerinnen-Ausbildung gemacht, habe mich nicht getraut, mich in die Kunstschule einzuschreiben. Ist mir, auf eine Art ein bisschen zu männerdominiert gewesen, ehrlich gesagt, und auch ein bisschen- also ich habe gewusst, dann müsste ich irgendwie, ja, das ist einfach dann recht, recht tough, oder. Das gehst du wie so in eine so eine- ja, ich habe mich eigentlich ganz lang gescheut. Erstens mal, mich als Künstlerin zu bezeichnen, weil das braucht ja irgendwie auch noch ein Selbstverständnis, und wenn man so eine angewandte Ausbildung macht, dann ist man immer noch- hat man quasi immer noch so einen Beruf. Und das ist für mich noch recht lange ein Thema gewesen. Ähnliche Statusunsicherheiten drückt eine Kollegin von ihr folgendermaßen aus, wenn man ihr die Frage stellt: Interviewerin: Also wenn du Leute kennenlernst und die fragen dich, dann sagst du, du bist Künstlerin oder Künstlerin und Textildesignerin oderJulia (K5): Ja, das finde ich manchmal noch schwierig. Also ich arbeite irgendwie als Textildesign- also als Designerin, ja, und mache auch Kunst. Das ist eigentlich so eine Antwort, also es ist eigentlich beides. Und ich finde manchmal so wie zum Sagen ist es ei- irgendwie weiß ich nicht, woher das kommt, aber zum Sagen, ›ich bin Künstlerin‹ gewissen- manchmal, in so gewissen Situationen fühlt sich das so komisch an. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber so wie: ›ja, das kann jetzt jeder sagen‹, weißt du, wie ich meine? Es hat manchmal so ein bisschen wie so etwas so: ›ja, ich bin Künstlerin‹ – weiß nicht, warum ich so ein Gefühl, dem gegenüber habe. Ob das ähm das ist

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ja auch nicht ein geschützter Begriff, weißt du, wie ich meine [lacht]? Also so wie ›ja, ich bin Künstlerin‹, eben und vielleicht hat es auch damit zu tun, manchmal möchte man wie mehr fassbar sein, ›aha, sie ist Textildesignerin‹. Das ist ganz klar der Fall, dass ich eigentlich vielleicht manchmal auch nicht sagen muss, was ich mache in der Kunst. Das ist wie manchmal ein bisschen ein Schutz, wenn ich sage, ich bin Textildesignerin. Anders gesagt greift diese Gesprächspartnerin in bestimmten Situationen auf eine etablierte Berufsbezeichnung zurück, um ihren sozialen Status »fassbarer« zu markieren, macht aus ihrem Künstlerinnensein einen Nebensatz, um nicht zu sagen eine »Nebensache« und sagt von sich, sie »mache auch Kunst«. Künstlerschaft ist somit nicht nur betreffend der für sie kennzeichnenden Ungewissheit der Karrierewege prekär, sondern auch hinsichtlich der mit ihr assoziierten Identität und öffentlichen Wahrnehmung. Grafikdesignerin Ena bringt auf die Frage nach ihrem beruf lichen Selbstverständnis wiederum folgende Überlegung zur Unterscheidung vom Künstler ins Gespräch: Ena (D7): Ich sehe mich schon, Tendenz im künstlerischen Bereich. Sicher eher, weil jetzt zum Beispiel in einer- ich bin eine Mischung zwischen Dienstleistung und Künst- Künstler. Vielleicht. Aber sicher bin ich- naja, also in der Werbung oder so da habe ich gar keinen Zugang. Von daher: Tendenz Künstler, aber äh, aber dort bin ich wahrscheinlich wieder eher ein Fremdling. Auch hier wird eine hybride beruf liche Identität geschildert, eine doppelte Fremdheit, sowohl im Künstlersein wie auch im kommerziellen Werbesektor. Das Bekenntnis zur Kunst ist dabei nicht minder verblümt und relativierend. Aufgrund der außergewöhnlichen Offenheit des Feldes kreativer Arbeit und der in den Interviews immer aufs Neue zur Sprache kommenden erfahrenen oder in Erwägung gezogenen Positionswechsel erscheint diese relative Unbestimmtheit der je eigenen Positionierungen einerseits als Belastung, andererseits aber auch als eine Ressource, je nach Situation und Konjunktur spezifische Facetten der eigenen Rolle akzentuieren zu können.

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»… das ist eigentlich autodidaktisch« Während es sich bei den von uns befragten Vertretern_innen von Designberufen jeweils um professionelle Gestalter_innen mit Diplom oder eidgenössisch anerkanntem Titel handelt, welche demnach im Hinblick auf die berufsbiografischen Selbstverhältnisse zumindest über ein festes zertifiziertes Standbein verfügen, nimmt sich die Situation der befragten Künstler im Hinblick auf gesellschaftlichen Status und beruf liche Identität wesentlich ungewisser aus. Zum Teil erklärt sich diese Statusunsicherheit wohl auch aus dem Gefühl, mangels eines akademischen Weges in die Kunst ein Legitimationsdefizit aufzuweisen, wie es etwa Künstlerin Miriam ausdrückt: Miriam (K1): Also ich bin einfach nicht gebildet gewesen als Künstler, ich bin einfach kein Kunst- also ich hab keine Akademietour durchlaufen, das ist schon noch anders, oder, man kommt dann immer einfach so direkt … Dieses Manko wird von ihr im Hinblick auf Diskursfähigkeit gespürt, welche gegenwärtig in der zeitgenössischen Kunst vermehrt als notwendige Kompetenz der Selbstdarstellung angesehen wird und auch an Kunsthochschulen mittlerweile fester Bestandteil des Curriculums geworden ist: Miriam (K1): … und dann kommt der ganze Diskurs, und dem muss man sich dann stellen und ich habe nicht so Lust gehabt auf das, ehrlich gesagt, das habe ich eigentlich recht anstrengend gefunden. Auch ihre Kollegin Julia thematisiert diese Frage mangelnden kulturellen Kapitals selbstkritisch: Julia (K5): Eben, ich habe ja nicht eine Kunstausbildung, also ich bin nicht- in dem Sinne habe ich kein Kunststudium gemacht, das ist eigentlich autodidaktisch oder wie man dem auch sagen will. Hier ließe sich in bildungssoziologischer Sicht auch von einer Akademisierung kulturschaffender Berufe sprechen, bei der die Vorstellung des frei »aus sich heraus« schöpfenden Individuums mehr und mehr von dem Prinzip der Legitimierung der Berufszugehörigkeit qua formaler, staatlich zertifizierter Bildung und Ausbildung und Prozessen der Professionalisierung

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verdrängt wird. Es überrascht auch nicht, dass gerade Frauen angesichts der fortbestehenden männerdominierten Sphäre »Freier Kunst« – man denke z.B. an die geringe Präsenz von Künstlerinnen in den Hallen der Weiheanstalten legitimer Kunst, tonangebenden Museen, angesagten Galerien oder Rankings von Kunstschaffenden – angesichts solcher Statusunsicherheit doppelt belastet scheinen und ihr empfundenes Legitimitätsdefizit zumindest implizit zum Ausdruck bringen. Später verbindet unsere Gesprächspartnerin dieses von ihr thematisierte Manko mit dem Wunsch, von einem Mentor in die Kunst der intellektuellen Kunst-Diskursivierung eingeführt zu werden: Julia (K5): Also ja, ich weiß auch nicht, also ich habe mich wie- ich habe es jetzt einfach akzeptiert, dass ich das Studium nicht gemacht habe oder wahrscheinlich nicht mehr machen werde […] Ja, ich glaub, was ich glaub in Zukunft brauche, ist wirklich ähm wie so eine Form von Mentoring. Also, vielleicht jemand, der wirklich kunsthistorisch- der mich wie dort drin ein bisschen begleiten kann. Also wo ich regelmäßig wie kann meine Arbeit zeigen und über das reden. Dieser Ruf nach einem Mentor bringt beredt die bei vielen der Befragten anzutreffende Befindlichkeit einer belastenden Ungewissheit und Orientierungslosigkeit, die komplementäre zweite Seite der Medaille der kreativen »Freiheit«, zum Ausdruck und zeigt auch die Grenzen eines vermeintlich nur vom subjektiven Genius abhängigen Erfolg im Feld der Kreativität. Mit der zunehmenden Akademisierung und Professionalisierung der Kreativberufe nähern sich diese darüber hinaus auch den Normalitätsstandards der konventionellen Berufswelt an und lassen das – wenn wohl auch hauptsächlich romantischen Verbrämungen geschuldete – Bild vom freischwebenden Bohème-Künstler verblassen. Die Regeln des Feldes der Kreativarbeit sind schwer durchschaubar und noch schwerer souverän zu beherrschen. Dies dürfte zu einem guten Teil an ihrem »ungeschriebenen«, impliziten, wenn nicht gar notwendigerweise verhohlenen und mit kollektiver Heuchelei belegten Charakter liegen. Diese Regeln scheinen auf den ersten Blick transparent und geradlinig: Lasse Deiner Kreativität freien Lauf, äußere sie, bringe sie in Deinen Schöpfungen zum Ausdruck und mache Deine Intuitionen sichtbar und öffentlich. Stehe zu Deinen Eingebungen, stelle sie ohne Wenn und Aber hin und zur

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Diskussion und erkenne, wie uns Kaf ka lehrt, nur das Urteil Jener an, die Du als legitime Richter anerkennst. Dies ist aber nur die – weitgehend kontrafaktische – Idealisierung des für die moderne Kunst seit ihrer Genese hochgehaltenen Prinzips des L’art pour l’art. Die in den Zeugnissen der Befragten immer aufs Neue und in verschiedenen Variationen des gleichen Themas zum Ausdruck kommenden Frustrationen und Nöte verweisen auf die harten, oft genug brutalen gesellschaftlichen und ökonomischen Spielregeln im Konkurrenzkampf um das Kapital der Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit und das immer aufs Neue heraus zu hörende Gefühl der Ohnmacht angesichts des fortbestehenden Hasards der Durchsetzbarkeit von Statusansprüchen. Im Zentrum des oft thematisierten Unbehagens dürfte die für die Illusio des künstlerischen Feldes – und bedingt auch jenes der Kreativarbeit – kennzeichnende Vorstellung des unabdingbaren »Entdeckt-Werdens«, eine an religiöse Heilslehren erinnernde Idee der »Erwählung«, sein: das zentrale Tabu, eine Grundregel des Code of Conduct des Feldes, lautet: Du darfst nicht selbst die eigene Kreativität bewerben, keine Nachfrage nach deinen Schöpfungen auf dem Markt offen einfordern und allzu offenkundig marktstrategisch agieren! Anders herum formuliert lautet das Credo der Kreativitäts-Frömmigkeit: Gute Kunst und qualitätsvolle Kreativprodukte setzen sich von selbst durch. Die unsichtbare Hand des Kreativfeldes sorgt nach diesem Glaubensprinzip dafür, dass Jedem nach seinen Fähigkeiten Lohn – symbolisch wie materiell – zukommt, womit auch gesagt ist, dass allen eine potentielle, nach probabilistischen Gesichtspunkten jedoch sehr geringe Chance auf ein Auskommen eröffnet wird. Vieles deutet darauf hin, dass eben nicht nur die »Qualität« des Produkts, ein Passepartout-Begriff des Diskurses der Kreativschaffenden, sondern ganz massiv auch die unterschiedlichen Ressourcen an Durchsetzungsmacht wie vor allem das verfügbare Sozialkapital bzw. die Kompetenzen zu seiner Gewinnung, und damit »feldfremde« Kapitalien, weitgehend die Weichen von berufsbiografischem Erfolg und Misserfolg stellen und über Wohl und Wehe stark mitentscheiden. Prekarität nimmt im Feld der Kreativarbeit gewissermaßen die Gestalt eines »totalen sozialen Tatbestands« (Mauss) an, der neben seiner gewiss dominanten materiellen Komponente eben auch symbolische (sozialer Status), kulturelle (Legitimität des produzierten kulturellen Kapitals), institutionelle (Etablierung über Unternehmungen und Einrichtungen des Kunstfeldes) und psychologische (soziale Identität und Selbstverhältnisse) Dimensionen umfasst.

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5. Schlussfolgerungen und Resümee Welche Schlüsse lassen sich nun aus den Narrationen dieses vielstimmigen Chors von Kreativschaffenden in soziologischer Perspektive ziehen? Die Komplexität der angeschnittenen Themen und aufgeworfenen Fragen lässt ganz verschiedene Lesarten zu. Das in Anlehnung an Max Webers These vom »akademischen Hasard« formulierte Problem einer konstitutiven Ungewissheit und Prekarität der berufsbiografischen Flugbahnen der Interviewten, bzw. positiv gewendet ihre Offenheit und Selbstbestimmtheit, stellt sich bei unseren Zeugnissen als ein zentrales Leitmotiv heraus. Diese Ungewissheit beschränkt sich keineswegs auf die von fast allen Gesprächspartner_innen thematisierte prekäre Einkommenssituation und die schwer planbare und voraussehbare Zukunft, die ja schon als solche als eine auf Dauer gestellte existentielle Last darstellen. Ungewiss ist auch der soziale Status und immer wieder scheint die Frage nach dem durch, was man denn eigentlich »darstellt«, also eine nicht minder existentielle Problematik rund um die eigene soziale Identität in einer Gesellschaft von »Berufsmenschen« mit klaren Status- und Rollenzuschreibungen auf der Basis sozioprofessioneller Klassifikationen, arbeitsrechtlichen Definitionen, betrieblicher oder standesordnungsgemäßer Zugehörigkeiten. Viele der Befragten verweisen auf beachtliche Entgrenzungen herkömmlicher kategorialer Zuschreibungen wie »Selbständige« und »Angestellte« hier, Voll- oder Teilzeiterwerbstätigkeit dort, entwickeln berufsbiografische Arrangements mit Elementen von Arbeitskraftunternehmertum, Free-Lance-Auftragsarbeiten, Nebenjobs unterschiedlichster Art, öffentlichen Aufträgen wie Kunst am Bau oder Erstellung von Katalogen für Museen, beziehen zeitweise Stipendien und punktuell Preisgelder, finden Klient_innen bzw. Unterstützung ihrer Tätigkeit in ihrem persönlichen Umfeld oder stützen sich nicht zuletzt auf ein Haushaltseinkommen, das überwiegend von Dritten erwirtschaftet wird. Hiermit einher geht in einer maßgeblich von meritokratischen Werten und der Vorstellung ökonomischer Selbstverantwortung bestimmten kapitalistischen Gesellschaft auch eine prekäre Legitimität der beanspruchten Selbstverwirklichung, die z.B. eine interviewte Schmuckdesignerin mit geringen Eigeneinkünften gegenüber ihrem Lebenspartner im Vollerwerb deutlich zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig betonen alle Befragten, wie sehr

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ihnen ihre gewählte kreative Berufspraxis am Herzen liegt und fast durchgängig wird nachdrücklich hervorgehoben, dass man diese auf keinen Fall gegen eine gesicherte kontrollierte Erwerbsarbeit eintauschen möchte. Last und Lust, Glanz und Elend des kreativen Schaffens als zwei Seiten der gleichen Medaille, Armut, aber als frei gewähltes Los – solcherart Ambivalenz ist demnach der zentrale rote Faden, der sich durch die alltäglichen Existenzbedingungen und Lebenserfahrungen der Betroffenen kontinuierlich hindurchzuziehen scheint. Die Entscheidung für einen Lebensentwurf ohne klare Leitplanken und verlässliche Kennziffern auf Gehaltszettel und Steuererklärung geht – natürlich ausgeprägter bei Freien Künstlern oder selbständig erwerbstätigen Designern- einher mit dem Privileg, die eigene Zukunft als ein offenes »Feld des Möglichen« vor sich zu sehen. Dies birgt gleichermaßen Risiken und Chancen – ein hier unzertrennliches Paar – und dürfte typischerweise mit oft wechselnden Befindlichkeiten, schwankend je nach gegebener Konjunktur zwischen Euphorie und Entmutigung, einhergehen, wie aus manchen der Narrationen deutlich herauszuhören ist. Wenn es bei Robert Musil zum »Mann ohne Eigenschaften«, Prototyp der für die Spätmoderne charakteristischen Form von Subjektivität und Selbstverhältnis, heißt, es gebe neben dem sogenannten »Realitätssinn« auch einen »Möglichkeitssinn«, und wenn Musil dazu das Motto »es könnte ebensogut anders sein« prägt, so äußert sich dies bei unseren Gesprächspartner_innen in Form von Anspielungen auf die permanente Biografie-Bastelei. Oft genug erinnert dies aber an eine eher fatalistische denn von freiem Willen und Selbstbestimmung gekennzeichnete Biografie-Bastelarbeit. Sieht man von der Gruppe der in festen Anstellungsverhältnissen stehenden Kreativen ab, so stellt sich der Eindruck ein, dass kognitive Dissonanzen im Umgang mit der ja betontermaßen frei gewählten Ungewissheit zum Alltag gehören und von Klagen über die schwierigen Lebensumstände begleitet werden. Hier ist noch in Rechnung zu stellen, dass unsere in der Schweiz lebenden Kreativen auf hohem Niveau klagen, denn das insgesamt schon sprichwörtliche hohe Wohlstandsniveau und der insgesamt hohe Grad sozialer Absicherung dieses Landes zeigt sich auch in einer relativ komfortablen Abpufferung ihrer Prekarität, von den zahlreichen Stipendien und Preisen bis hin zu einer Form der Alterssicherung, die in der Regel auch für Kreativtätige gut greift, und diese recht vorteilhaften Rahmenbedingungen dürften nicht wenig dazu beitragen, dass die erfahrene Prekarität nicht all-

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zu erdrückend wirkt. Filip, einer der von uns befragten Künstler, bringt dies auf den folgenden Punkt: Filip (K2): Aber ich finde auch, in der Schweiz- es gibt kein anderes Land, würde ich mal sagen, wo so viele äh- oder wo es so einfach ist, würde ich mal sagen, Geld oder staatstaatliche Förderung oder private Förderung zu bekommen. Also mit- es gibt so viele Stipendien, es gibt die Bundesstipendien, die kantonalen Stipendien, es gibt die Stadtstipendien, da können eigentlich alle mitmachen, die eingebürgert sind oder die in der Stadt ihren Wohnsitz haben. Dann gibt es sehr viele Ausschreibungen für diverse äh, Stiftungen, und die- es liegt einfach sehr- ziemlich viel Geld rum. Aber wie steht es überhaupt mit dem Anspruch auf ein der eigenen Kreativität gewidmetes frei bestimmtes Leben, von dem in unterschiedlichen Variationen in den Interviews immer wieder zu hören ist? Wie nimmt sich die postulierte Autonomie in der Alltagspraxis konkret aus, für die man ja bereit scheint, hohe materielle Risiken auf sich zu nehmen? Einerseits wird in den eingeholten Darstellungen der sozialen Lebensform unter den Vorzeichen kreativen Gestaltungswillens immer wieder auf die besondere Qualität dieser Tätigkeiten nachdrücklich verwiesen und diese klar von herkömmlichen beruf lichen Feldern abgegrenzt. Im konkreten praktischen Vollzug kreativer Arbeit scheint sich das Ideal der autonomen Schöpfung für die Befragten tatsächlich zu realisieren. Doch man kommt nicht umhin, einige kritische Fragen an diese Narrationen heranzutragen. Zum einen ist immer wieder die Rede davon, wie gering der Anteil an effektiv als kreativ eingeschätzten Tätigkeiten am Gesamt des alltäglichen Arbeitsaufwands und der zur Verfügung stehenden Zeit tatsächlich ist. Kommt dann bei Vielen noch hinzu, dass sie sich über Neben- und Brotjobs ihren Unterhalt ergänzend sichern müssen und dafür einen guten Teil ihrer Zeit einsetzen, dann schrumpft der Anteil kreativer Praxis an der verfügbaren Lebenszeit wie ein »Chagrin-Leder« (Balzac). Signifikanter Weise werden auch da, wo das eigentliche Schwergewicht der materiellen Daseinssicherung gar nicht über die Honorierung kreativer Arbeit, sondern über banale Brotjobs in die Haushaltskasse kommt, letztere weiterhin als »Nebenjob« etikettiert und nicht das Verhältnis wie bei vielen Zeitgenoss_innen, die erwerbstätig sind und eben »nebenbei« malen, bildhauern, Schmuck oder ihre Website designen, von »Hobby« gesprochen. Dies

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wäre weniger riskant, denn ein Hobby kann nicht scheitern, der Wunsch, sich als Kreativberuf ler_innen Anerkennung und Reputation zu erwerben in sehr vielen Fällen allerdings. Aber gerade hier findet sich ja das Rückgrat des Künstler-Habitus, eine Haltung heroischer Selbstbehauptung gegen alle Widerständigkeiten eines oft anomisch funktionierenden Marktes und der auch im Feld der Kunst wirkmächtigen Ungleichheit bei der Verteilung von Ressourcen wie Sozialkapital. Hier sei nochmals stellvertretend für viele andere Klagen über die wenig durchschaubaren, ja oft genug willkürlich erscheinenden, Regeln der Kunstwelt die Aussage eines Künstlers zitiert: Marc (K3): Also es ist überhaupt komisch, weil latent kennt jeder jeden bereits. Und ähm ich weiß jeweils gar nicht, ist es besser, wenn ich jemanden frage oder wenn ich ihn nicht frage. Weil wenn ich ihn frage, sage ich ja schon; ich bin in der Situation, dass ich dich fragen muss, weil man wird ja eigentlich angefragt. Wenn ich aber nicht frage, dann weiß ich einfach nicht, vielleicht hätte mich der ja fragen wollen. Das ist so irgendwie, es ist wirklich die Hölle, oder? Noch schwerer dürfte für die Stimmigkeit des Selbstverhältnisses wiegen, dass immer wieder von Befragten selbst der Finger auf den zentralen wunden Punkt – die Marktabhängigkeit und ihre Willkür – gelegt wird. Warum finden die Kreationen keinen Absatz? Welche Vertriebsstrukturen verhindern eine ausreichende Nachfrage? Wie findet sich eine Möglichkeit öffentlich sichtbar zu werden, einen Durchbruch zu erreichen? Wann klopft endlich einmal ein_e Galerist_in an die Tür und interessiert sich? Wer lädt einen zur Teilnahme an eine Ausstellung ein? Sollte man nicht ein Produkt, das sich gerade gut verkauft, sozusagen serienmäßig produzieren? Zu diesem Zweck eine Hilfe einstellen? Und auch die Frage nach den rechten Klient_innen für die eigenen Kreativerzeugnisse: sollte man, dürfte man für eine Großbank Broschüren grafisch gestalten oder in ihren Hallen Werke ausstellen? Sollte man öffentliche Aufträge für Kunst am Bau akzeptieren, auch wenn sie keine angemessenen Spielräume für die Kreativität eröffnen und man seine »Libido« lieber in andere Projekte investieren würde? Das Feld der Kunst ist keineswegs minder konkurrenzbetont und das Mühen um Sichtbarkeit – dem eigentlichen Kapital des Künstlers und raison d’être seines Schaffens – erinnert nicht weniger an das sozialdarwinistische Prinzip des survival of the fittest, das von Dirk, einem der befragten Künst-

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ler (K4), während des Gesprächs mehrfach und mit großem Nachdruck mit dem Motto One gets all übersetzt wurde. Anders gesagt, handelt es sich auch hier um die spezifische Freiheit von Marktteilnehmer_innen um die Gunst potentieller Nachfrage zu konkurrieren und auch hier gilt das von Max Weber treffsicher auf den Punkt gebrachte Verdikt des Marktes: »Die Marktgemeinschaft als solche ist die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können.« (1922, 364) Das in einem Prozess freier Kreativität erzeugte Gut, das damit wohl persönlichste aller Güter aus menschlicher Hand, wird hierbei unweigerlich auf die gleiche Stufe kapitalistischer Konkurrenz um Markt- und Gewinnchancen gestellt, wie auch immer die Haltung des Produzenten seinem Produkt und sich selber als Produzent gegenüber sein mag. Ambivalenzen über Ambivalenzen, vieles Ungerade, das der Kreativschaffende für und mit sich selbst auf die Reihe und ins Reine bringen muss. Das heikle Verhältnis von Kreativität und Geld, insbesondere im Feld der Kunst, wo es mit vielen Tabus belegt ist, muss ja, damit das Ethos des freien, selbstbestimmten Schöpfens einigermaßen unbeschadet im Selbstverhältnis bewahrt werden kann, mit Verharmlosungen und Beschönigungen, Verleugnungen und Verdrängungen ruhig gestellt werden, es sei denn, man wählt den Weg eines schon provokativ bis zynisch anmutenden Bekenntnisses zur Logik des Marktes wie im Falle eines Künstlers, der uns erzählt: Marc (K3): Ich glaube sogar, ich […] also das Direkte von dem Kunst gegen Geld, das finde ich noch recht gut. Auch wenn das dann eine Figur ist, die hier reinkommt und findet; mach doch ein bisschen mehr von dem oder mach es ein bisschen kleiner. Mit dem könnte ich mittlerweile umgehen. Vor zehn Jahren hätte ich das nicht gekonnt. […] Heute finde ich, ähm das ist ein notwendiges Übel das so sein muss. Ich möchte das nicht mehr dogmatisch nehmen oder so…also ich kann auch sehr also kommerziell sein, also ich kann schon, also mir gefällt der Handel als Prozess. Das würde mir jetzt gar nichts ausmachen. Also ich könnte auch gut mit einem Galeristen umgehen, wenn es jetzt um eben um so Ökonomie, um Märkte, ums Handeln geht. Dieses Statement kontrastiert dabei deutlich mit einer anderen Äußerung von Marc, die »Anpassung an den Markt« als »notwendiges Übel« deklariert und so offenherzig wie in diesem Falle wurde der unauf lösbare Widerspruch des Postulats zweckfreier kreativer Existenz als freier Flug durch

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eine Welt der Schwerkraft von keinem anderen Probanden geäußert. Stattdessen trifft man auf eine vorherrschende Form der Narration, bei der diese grundlegenden Antinomien als unvermeidbares Oszillierens zwischen zwei koexistierenden Welten erscheinen: einer idealisierten Sphäre nicht entfremdeten Schaffens, und einer Welt von Notwendigkeiten, die man auf sich nimmt, um erstere so gut wie möglich am Leben halten zu können. Der französische Künstler Yves Klein hat mit seinem Projekt »Zone de Sensibilité Picturale Immatérielle« auf ironisch-verspielte Weise eine allegorische Auf lösung dieses unauf löslichen Dilemmas skizziert, indem er einem Sammler vertraglich die symbolische Teilhabe an seiner Kreativität im Tausch gegen Gold zusagt. Zum Vertrag gehört aber, dass dieser dann vom Sammler vernichtet werden muss, um diese Übertragung von Kreativität zu ermöglichen. Umgekehrt wirft der Künstler dann die Hälfte des Goldes in die Seine, steckt sich die andere Hälfte jedoch stillschweigend in die Tasche – eine Form des atypischen, nicht reziproken Tauschs im stillschweigenden Einverständnis. Man könnte in diesem Zusammenhang auch mit Marcel Mauss von »kollektiver Heuchelei« sprechen, weil man mit dem Postulat freier Kreativität auf Schritt und Tritt damit konfrontiert wird, dass man »nur tun kann, was man tut, indem man so tut, als täte man es nicht » (Bourdieu). Allerdings kann solche kollektive Hypokrise vielleicht selbst »kreativ« wirken und zur gesellschaftlichen Anerkennung und – vielleicht auch – Durchsetzung eines »Interesses der Interesselosigkeit« (Bourdieu) im Dienste nicht materialistischer Güter und Gesinnungen jenseits bzw. im Windschatten des kapitalistischen Kommerzes beitragen. Heißt es nicht treffend im französischen Bonmot: »Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor der Tugend«?

Materialität und Werterfahrungen in der kreativen Arbeit Pragmatistische Interpretationen Christoph Henning »Du hast gar keine Wahl. Wenn du, wenn du spürst, dass du mit etwas dran bist, was quasi, was das reine Abdecken von Bedürfnissen übersteigt, dann kannst du das gar nicht loslassen.« (Dirk, K4)

In der Folge geht es darum, die von uns geführten rund zwanzig überaus reichhaltigen Interviews mit kreativ Schaffenden für drängende sozialtheoretische und -philosophische Fragen aufzuschließen und als Bereicherung aufzugreifen. Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob sich die zahnlos gewordene Kritische Theorie aus dem Geist der Ästhetik erneuern lässt. Dafür sollen die Befragten nicht, wie in den Soziologiekapiteln, als Manifestationen kollektiver Dynamiken verstanden werden, sondern als ›Experten‹, an deren Wissen und an deren Erfahrungen wir als Interpretierende gern herankommen möchten, um damit Neues zu erfahren. Die Befragten beim Wort zu nehmen mag eine Naivität der Philosophie sein, aber genau diese Naivität lässt sich verteidigen.1 Sie ist auch nicht nur naiv, sondern knüpft bewusst an zwei Französische Trends der Sozialtheorie an: Erstens folgt dies der Idee einer »Soziologie der Kritik«, der zufolge die Akteure in Ihrem Alltag die eigentlichen Experten sind (Boltanski/Thévenot 2007; vgl. Celikates 2009). Es sollten daher Wege gefunden werden, ihr praktisches Wissen zu entschlüsseln, um es nicht vorschnell in vorgefertigte 1 »Sich als Kinder zu fühlen, als Kinder zu betragen, ist die rührende Kunst reifer Menschen.« (Hofmannsthal 1896).

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Raster der Sozialtheorie zu pressen. Das schließt zugleich auch an philosophische Impulse an, etwa die phänomenologische Bewegung »zurück zu den Sachen selbst« bei Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty, denen es ebenfalls schon darum ging, die gemachten Erfahrungen in den Vordergrund zu stellen und die so gewonnen Phänomene vor einer vorschnellen Katalogisierung zu »retten«. Auf ähnliche Weise ging auch John Deweys Pragmatismus vom Primat der Erfahrung aus. In diesem Fall geht es weniger um die eigenen Erfahrungen,2 sondern um Erfahrungen der Befragten, die natürlich narrativ vermittelt und auf spezielle Weise gerahmt sind. Es handelt sich daher um Phänomenologie ästhetischer Erfahrungen ›um die Ecke‹, nicht um einen Erfahrungspurismus. Nach Boltanski/Thévenot gibt es im Alltag Situationen der Evidenz und der »Bewährung«, die für die Beteiligten erfahrungsbasierte Gründe für dasjenige darstellen, was sie im Gespräch als für sie gültig darlegen. Diese Erfahrungen gilt es anhand der Berichte freizulegen. Sie stellen gute Gründe dafür dar, den Aussagen der Befragten einiges Gewicht zu geben. Eine zweite Quelle dafür neben der »Soziologie der Kritik« ist der Ansatz von Bruno Latour. In seiner Akteur-Netzwerk-Theorie sowie in neueren Schriften zur Ontologie (etwa Latour 2010 und 2013) macht er die Akteure ebenfalls zu den eigentlichen Experten, die man gerade philosophisch ernst nehmen sollte. Hinzu kommt allerdings die These, dass auch nicht-menschliche Entitäten »Aktanten«, also Mithandelnde sein können, ja, dass sich herkömmliche kategoriale Schranken (wie Subjekt/Objekt, Geist/Materie, Gesellschaft/Natur etc.) nicht mehr klar aufrechterhalten lassen. Dies wird im »neuen Materialismus« derzeit ausgiebig diskutiert. Eine abgeschwächte Version davon spricht von in den Dingen verkörperten Handlungsaufforderungen (»affordances«), also immerhin von einer »Mitwirkung der Dinge« (so Waldenfels 2015, 230ff.). Folgt man diesem Vorschlag, dann gibt es bei der Interpretation von Interviews weiterhin im engeren Sinne »soziale« Rahmungen eines künstlerischen oder gestalterischen Lebens zu beachten – etwa die Sozialisation, das Einkommen, das jemand erzielt, die soziale Position, die damit verbun2 Bruno Latour belächelt das Beispiel der Kaffeetasse, die bei der philosophischen Beschreibung von Phänomenen oft Pate stehe, da Philosophierende – so der implizite Vorwurf – einen eingeschränkten Erfahrungsradius hätten. Wir greifen diesen Vorwurf auf und verknüpfen Phänomenologie daher mit qualitativer Sozialforschung.

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den ist oder die berufsbezogene Wertschätzung, die jemand erfährt. Aber man versteht ein Leben als Künstler_in erst dann, wenn man auch die Interaktionen mit anderen Entitäten mit einbezieht, wenn man auch die Wertigkeiten berücksichtigt, die diesen gegeben werden. Erfahrungen etwa mit Bildern, mit dem künstlerischen Material (Werkzeugen, Farben etc.), ja auch die ästhetischen Erfahrungen, die man selbst und die die anderen machen (eine Immersion, ein Eintauchen in eine andere Welt), stehen im Vordergrund. Auch der erlebte Arbeitsprozess und die dabei begegnenden Wertigkeiten spielen eine große Rolle. Es gibt für Latour keinen Grund, warum Artikulationen über diese Dimension (die für ihn ebenfalls »sozial« ist, allerdings in einem weiteren, das Material einschließenden Sinn) der anderen Dimension eingespeist und untergeordnet werden sollen. Er karikiert die Angewohnheit, alles Materiale und Werthafte auf Soziales zurückzubiegen, wie folgt: »alles, was das Kunstwerk verlor, wurde vom Sozialen gewonnen«, als könne es nur eine Wahrheit geben: die der Akteure im Alltag oder die der Soziologie. Aus der Sicht von Latour, Gomart/Hennion (1999) oder Heinich (1998) erscheint die »objektivierende« Tendenz insbesondere in der Kunstsoziologie von Pierre Bourdieu daher als reduktionistisch:3 Sie deute die Aussagen der Befragten als missverstandeneAussagen über etwas anderes, allein »Objektives«, nämlich soziale Beziehungen im engeren Sinn: Sie beschränkt sich nicht auf das Soziale, sondern ersetzt das zu untersuchende Objekt durch einen anderen Stoff, der aus sozialen Beziehungen besteht; sie behauptet, dass diese Ersetzung für die sozialen Akteure unerträglich sei, da sie die Illusion bräuchten, dass hier etwas ›anderes‹ vorliegt als Soziales; und sie geht davon aus, dass die Einwände der Akteure gegen die Erklärungen der kritischen Soziologie geradezu einen Beweis dafür darstellen, dass diese Erklärungen richtig seien. (Latour 2010, 23, vgl. 87, 169) Man muss die Macht sozialer Beziehungen nicht kleinreden, wenn man neben ihnen noch andere ontologische Dimensionen zulässt – etwa die Wertigkeit des Ästhetischen, wie sie in der phänomenologischen Bewegung hervorgehoben wurde (etwa bei Moritz Geiger, Roman Ingarden oder Nicolai Hartmann). Die ästhetische Praxis ist gut geeignet, die Werte aufzufinden, die der Kunst und der Kreativität zugeschrieben werden (Hesmondhalgh 3 So in anderem Zusammenhang auch Rebentisch 2013, 167.

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2010). Inspiriert von der pragmatistischen Idee der »Bewährung« bei Bruno Latour und Boltanski/Thévenot kann man in dieser situierten Praxis den Ort sehen, wo die in Frage stehenden Werte sich bewähren: sie müssen in der Praxis selbst erfahren werden und sich evident machen (vgl. Heinich 2017). Selbst wenn man Mutmaßungen über die diskursive Herkunft bestimmter Topoi anstellen kann, die möglicherweise in Stellungnahmen reproduziert werden: in der Praxis tradieren sich nicht beliebige Interpretationen oder Deutungen, sondern nur die, die sich bewähren. Es kommt darauf an, den Schatz von Erfahrungen zu heben, der für die Akteure selbst diese Beschreibungen durch Evidenzerlebnisse bewährt und für sie so dauerhaft gültig macht. Es geht in der Folge darum, diese in die kreative Produktion eingelassenen Erfahrungen zu benennen und nachzuvollziehen, um besser zu verstehen, warum viele Menschen um ihrer Willen Entbehrungen in Kauf nehmen. In der Regel ist niemand gern freiwillig arm (Künstler_innen sind selten Bettelmönche). Eher ist dies der Preis, den man für etwas anderes zahlt.4 Auch kreativ Arbeitende in Kunst und Gestaltung sind bemüht, ein Einkommen zu erzielen. Doch dies ist selten ihre primäre Motivation, und sie sind sich meist klar darüber, dass dies schwierig werden könnte.5 Warum tun sie das? Weil ihnen etwas anderes mehr gilt: »Diese Freiheit, welche zwar mit Unsicherheit und Verzicht verbunden war, galt mehr als das Materielle und das geregelte und strukturierte Leben« (so eine von uns befragte Künstlerin im Zeitungsinterview). Statt dies mit Bourdieu (2001) als Verdrängung oder Verschleierung aufzufassen, möchte ich die Befragten beim Wort nehmen und versuchen zu verstehen, was dieses Mehr-Gelten für sie genau ausmacht und worin sich diese Höherwertung bewährt. Rekonstruktiv kann man mit Charles Taylor dann von einer »starken Wertung« sprechen, hinter der ganze Lebensentwürfe und -Praktiken stehen. Diese gilt es nachzuzeichnen. Wenn sich solche Bewährungs- und Evidenz-Erlebnisse einkreisen lassen, dann sind die in die künstlerische und gestalterische Praxis eingebundenen Wert-Annahmen gewissermaßen pragmatisch fundiert. Das heißt nicht, dass die Lebensform der Betroffenen nicht prekär sein könnte; es heißt zu verste4  Eine mögliche Armut als Preis für ein kreatives Leben notfalls in Kauf zu nehmen heißt nicht, wie etwa Abbing 2002 suggeriert, dass die Künstler diese Armut schuldhaft selbst herbeiführen. 5 Zu diesem wenig überraschenden Befund kommt auch Dürkop-Henseling 2017.

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hen versuchen, warum sie an dieser Lebensform trotz mancher Widrigkeit festhalten. Es lassen sich auf diese Weise verschiedene Aspekte unterscheiden. In der Folge wird so eine Reihe von Wert-Erfahrungen freigelegt, die in die kreative Arbeit eingelassen sind: Die Kooperation mit dem Material, das als eigenständige Kraft auftritt (1 und 2); die Zeitsouveränität, die eine Freiheit des Subjekts ausmacht, dabei aber auch unverfügbare neue Räume öffnen kann (3); die ästhetische Selbstbestimmung als nicht-entfremdete Arbeitsform (4), und die bei alldem erfahrene und geschätzte Nähe zu sich selbst, sogar wenn diese einige Untiefen birgt – nicht nur theoretische, vor allem solche der schmerzvollen Erfahrung (5). Damit ist ein reichhaltiger Fundus gewonnen, von dem aus sich gegenwärtige Gesellschaften noch immer kritisch beleuchten lassen.

1. Vibrant Matter: Resonanzerfahrungen am Material in der Kunst »Ich glaube, ich würde am meisten vermissen, das ähm – den Dingen zuzuschauen, wie sie entstehen« (Nadja, D2). Den Anfang macht das Naheliegendste: die Resonanzerfahrung, die sich bei der Arbeit mit dem Material einstellen kann. Diese Erfahrungsebene künstlerischer Tätigkeiten geht über die zwischenmenschliche Interaktion (also den gewohnten Blickwinkel der Sozialtheorie) hinaus. An dieser Stelle kommt Latours Innovation zu Hilfe, die es erlaubt, Dingen, Situationen oder Ding-Mensch-Konstellationen (»Assemblagen«) die Qualität von »Aktanten« zuzusprechen und ihnen damit auch eine gewisse ontologische Wertigkeit zu geben.6 Sobald man diese Möglichkeit erwägt, dass Dinge und Materialien auf ihre Weise mit-handeln, erscheint die Reduktion eines Künstlerlebens allein auf zwischenmenschliche (»soziale«) Determinanten als eine Halbierung. Philosophisch lassen sich die Interviews daher als Anregungen für eine reichhaltigere Ontologie auffassen, wie sie im »neuen 6 Neben Werken von Bruno Latour ist dafür Jane Bennett (2010) zentral, die sich ihrerseits auf Adorno bezieht. Siehe auch Wagner 2001; Schürkmann 2012 und Lehmann 2013. So bereichernd Latours Ontologie im Bereich der Ästhetik ist, so reduktionistisch ist sie leider im Feld der Natur (hier habe ich sie einer Kritik unterzogen, siehe Henning 2019).

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Materialismus« zum Teil entworfen wird. Die hier aufscheinende Rolle der materialen Ebene ist philosophisch daher von hoher Bedeutung. Erstaunlicherweise kommt Miriam, die den folgenden Überlegungen Modell steht, in ihrem Interview sofort und ungefragt darauf zu sprechen. Miriam (K1): …bin hineingekommen [in den Vorkurs, CH], und bin dann recht nervös gewesen deswegen, also weggehen und so, und habe dann eigentlich mich da recht wohl gefühlt, weil ich dann einfach mit Leuten zusammen gewesen bin, die die gleichen Interessen hatten. Also da ist mir noch einmal eine andere Welt aufgegangen. Und das ist eine sehr zurückgezogene Geschichte eigentlich, das Malen, also das ist immer relativ, ist nicht so einfach, sich auszutauschen, es ist nicht so einfach, zusammen zu schaffen, also es ist wie etwas, wo man ganz für sich ist. Und für mich ist es eigentlich eine ganz lange so, vielleicht, eine Auseinandersetzung mit der Welt, von dem her, weil es eben jetzt nicht eine akademische Laufbahn ist, jetzt für mich, sondern weil es auf eine Art auch ein Versuch ist, das Zeug anders anzusehen. In dieser knappen biographischen Schilderung einer rund vierzigjährigen Künstlerin steckt eine Menge Gehalt. Zum einen gibt es eine im engeren Sinne »soziale« Kontextualisierung: Der Eintritt in die Sphäre der Kunst ist verbunden mit einem anderen sozialen Umfeld (»weggehen« von daheim, »hineinkommen« in neue Gruppen). Doch wenn sie die Kunst eine »andere Welt« nennt, so meint Welt hier weitaus mehr als nur andere Menschen (»mit Leuten«). Die andere Welt ist ein eigener Kosmos (Latour 2010, 87 sowie Heidegger 1986), der auch von »Zeug« angefüllt ist – darüber wird in der Folge noch einiges zu hören sein. Es geht einerseits um Materialien, Leinwand, Farbe, Pinsel, auch Bilder von anderem etc., andererseits um die veränderte Wahrnehmung der ›normalen‹, zugrundeliegenden Alltagswelt (Merleau-Ponty 2003 sprach hier behelfsweise von einem »Sehen des Sehens«). Bemerkenswert ist die Anordnung – mit Nicolai Hartmann könnte man gar von einer »Schichtung« sprechen. Es ist keineswegs die Sozialität im engeren Sinne, die einen neuen Zugang zu Objekten ermöglicht oder »konstruiert«. Vielmehr stiftet erst dieser andere Zugang zum »Zeug« die neue Sozialität (Schiermer-Andersen 2016). Der Umgang mit dem Zeug selbst ist zu weiten Teilen monologisch (dafür gibt es auch in anderen Interviews zahlreiche Belege): man ist »ganz für sich« und »zurückgezogen«. Es ist ausgesprochen schwierig, sich auszutauschen oder zusammen zu schaffen (das

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erinnert an Wilhelm von Humboldts Einsamkeit und Freiheit). Aber man ist nicht wirklich allein, denn man ist bei den Dingen. Die neue Sozialität im engeren Sinne wird erst dadurch gestiftet, dass verschiedene Menschen nach einer Weile (aber meist später) die Erfahrung machen, dass auch andere Menschen in dieser anderen Welt leben und sich zu bewegen wissen, dass sie ähnliche Erfahrungen machen und eine ähnliche Ontologie erleben (daher: Leute, »die die gleichen Interessen hatten«). Man muss dafür nicht aktual auf dasselbe bezogen sein, wie Theorien der kollektiven Intentionalität unterstellen würden. Zwar hat der Umgang mit Zeug einen latent autistischen Zug; das bestätigen mehrere Interviewte aus dem Kunstbereich (dazu auch Dieter Thomä), und es entspricht auch dem Bild des Künstlers, das im Designbereich vorherrscht. Allerdings wird die Beschäftigung mit dem Zeug durch die Erfahrung abgestützt, dass auch andere in dieser Existenzweise »zuhause« sind.7 Man könnte an dieser Stelle die Henne-Ei-Frage stellen und behaupten, die Bedingung dafür, dass verschiedene Einzelne solch gleichgerichtete Erfahrungen machen können, sei doch wieder »sozial« im engeren Sinne (es gebe ja zuvor schon die Kunsthochschule, das »Kunstfeld« etc.). Aus zwei Gründen ist das hier jedoch wenig sinnvoll: Zum einen ließe sich die Anschlussfrage stellen, wozu es denn wiederum diese Kunsthochschulen gebe – doch nicht primär wegen der durch sie hergestellten Sozialität (die lässt sich einfacher haben), sondern zumindest auch aufgrund der gemeinsamen Wertschätzung der Sache. Zweitens ist im speziellen Fall von Künstlerin 1, die hier paradigmatisch für viele steht, gerade nicht von einem solchen »immer schon« gegebenen Kollektivismus auszugehen. Für sie ist, wie sie selbst ref lektiert, diese Bezogenheit auf Zeug deswegen besonders zentral, weil sie die Verankerung in einer kunst-akademischen Umwelt nicht erfahren hat, die sie bei anderen Kunstschaffenden vermutet (»nicht eine akademische Lauf bahn«). Diese wechselseitige Vermutung einer starken sozialen Schließung der Kunstszene durch den gemeinsamen Besuch von Kunstschulen zieht sich durch verschiedene Interviews hindurch, sowohl von Seiteneinsteigern als auch von solchen, die diese Akademien tatsächlich besucht haben. Es scheint jedoch niemand so richtig in den unterstellten sozialen Netzwerken »drin« 7  Dieses Beheimatsein in der eigenen Arbeitstätigkeit wird im Kontext der ästhetischen Souveränität (3.) noch genauer betrachtet.

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zu sein. Ein ökonomischer Erfolg anderer Künstler wird zuweilen auf diese besseren Netzwerke geschoben (weniger auf die Kunst selbst, und das ist aus der Sicht der vorgestellten »Schichtung« eine verkehrte Welt). Mir scheint daher die Bedeutung der Sozialität (im engeren Sinne) für das Kunstschaffen eher herbeigeredet zu sein8 als der weitaus handgreif lichere und werterfüllte Bezug zur anderen Welt. Sie schließen sich nicht aus, sollten aber unterschieden werden. Künstlerin 1 hat sich den Zugang zur Szene (mitsamt dem Diskurs und dem Selbstmarketing) inzwischen auf andere Weise erkämpft. Doch für sie bleibt die materiale Ebene primär. Miriam (K1) sagt: »Und das mit dem Eintauchen, das ist eigentlich schon immer so wichtig gewesen für mich«. Sie meint damit u.a. das Eintauchen in »andere Sprachen« im weitesten Sinne, also auch in die Sprache der Dinge bzw. der »Bildsprache«. Es »reden«, wie sie sagt, »auch Bilder«.9 Biographisch ist die Bezogenheit auf diese Sphäre, der Eingang und Umgang in ihr zentral, verglichen mit der Frage, wie denn diese Sphäre selbst in der sozialen Welt verankert ist und was das Künstlerin-Sein für die soziale Anerkennung bedeuten könnte. Miriam (K1): Also ich glaube, es ist mehr so, da habe ich wie meinen eigenen Bereich gehabt vielleicht auch. Und es ist auch so, dass ich dort auch sehr für mich sein konnte. Also Künstlerin werden habe ich nicht, ich habe vor allem das Zeug machen wollen. Ich habe gar nicht so viel Zeug angeschaut oder gehört, ich habe es vor allem gern gemacht. Ich hab es extrem gern gemacht. Immer…10 Zugpferd für sie ist das Zeug (durchaus im Sinne Heideggers, vgl. Henning 2004), oder mit Adorno: das »Material« – weniger der erträumte Status des Berufs oder gar ein Vorbild der Eltern. Gegen diese musste sich die Künst8  Man findet diese Unterstellung einer sozialisierten Kunstwelt etwa bei Reckwitz 2012 (»moderne« Künstler arbeiten einsam, »spätmoderne« Künstler kollektiv etc.). Kritisch dazu Krieger 2003. 9  Anders als Taylor 2016, der auf Unterschiede innerhalb der gesprochen Sprache abhebt, geht Künstlerin 1 von einer nicht-sprachlichen-Sprache aus, eine Sprache der Dinge (mit Lehmann 2016: »material literacy«). S.u., Fn. 14 10 Zuvor sagt sie zwar, sie habe Künstlerin sein wollen. Doch das ist aus ihrer Zeit als Musikerin; es benennt die biographische Höherwertigkeit der bildenden Kunst gegenüber der Musik, in der sie aktiv war.

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lerin, wie sie erzählt, erst mühsam durchsetzen (dazu auch Franz Schultheis in diesem Band). Wie begegnet aber dieses »Zeug« genau? Zunächst im Sinne der ästhetischen Erfahrung, der Begegnung mit Bildern, also den Werken anderer, zu denen sie früh eine eigensinnige Beziehung erfährt. So berichtet sie etwa von ihren früheren häufigen Museumsbesuchen: Miriam (K1): Ich habe die Bilder einfach super gefunden, und ich habe dort wirklich, ich habe wie das Gefühl gehabt, ich verstehe das irgendwie. Ich versteh das. Von dieser Aussage führen zwei Wege der Interpretation – der gängige wäre der Weg über das »Subjekt« der Künstlerin: sie beruft sich in ihrem Umgang mit Kunst auch an weiteren Stellen auf Gefühle (das Wort »Gefühl« fällt in zwei Stunden Interview 26mal). Sie ref lektiert selbst, dass sich ihr Umgang vermutlich vom ›akademischen‹ unterscheidet. Man könnte daher auf den eingefahrenen Gedanken kommen, dies als eine Kompensationsstrategie für fehlendes soziales oder kulturelles Kapital zu deuten.11 Genau das soll hier nicht geschehen, denn damit würde man einem frei f lottierenden sozialtheoretischen Interpretament unref lektiert auf den Leim gehen. Um nochmals Latour zu zitieren: Würde irgendjemand eine Disziplin als ›wissenschaftlich‹ betrachten, die auf die eine Seite die von der Feldforschung gelieferte präzise Information stellt und diese dann durch Instanzen von anderen Dingen ersetzt, die unsichtbar sind und die nicht gesagt wurden, sondern vielmehr von den Befragten ausdrücklich geleugnet werden? (Latour 2010, 83f.) Was die Künstlerin selbst sagt, geht tatsächlich in eine andere Richtung:

11  Darin nur eine Kompensation entgangener »Anerkennung« durch behauptete »Authentizität« zu sehen, unterschöbe bereits einen Primat des (im engeren Sinne) Sozialen. Mit welchem Recht? Schon Rousseau formulierte eine andere Kulturkritik, die es monierte, wenn es Leuten nicht mehr um die Sache selbst, sondern nur um den mit ihr verbundenen Status ging. Man kann dem sozialen Kapital nicht apriori den Primat geben.

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Miriam (K1): Ich hab keine Akademietour durchlaufen, das ist schon noch anders, oder, man kommt dann immer einfach so direkt mit dem Bauch und findet irgendwie, ist das jetzt etwas, das wirklich echt ist oder nicht. Sie kontrastiert die »Akademietour« mit dem »Bauch«, assoziiert diesen allerdings gerade nicht mit Klischees, sondern umgekehrt mit »Echtheit«, mit künstlerischer Authentizität. Die damit verbundene Bewertung, die man hier unterschieben könnte (Kopf = Akademie = hohes kulturelles Kapital; Bauch = Dilettant = niedriges kulturelles Kapital) macht sie gerade nicht mit. Sie hat inzwischen kulturelles Kapital genug. Eigensinnig und handlungsmächtig eignet sie sich vielmehr ihre Eigenart als eine schöpferische Potenz, also als einen Vorteil an (das berührt erneut das Selbstverhältnis): Miriam (K1): Also ich kann den Kontext jetzt viel besser irgendwie platzieren, obwohl ich schlussendlich trotzdem wahrscheinlich auf das zurückgreife. […] Also natürlich, emotional kann ich auch nicht anders. Das ist schon so, ich mache quasi auch aus meinem Subjektiv-Sein oder aus meinem Wissen, dass die Intuition mich immer wieder an Orte bringt, wo Bilder entstehen, mach ich mir natürlich auch zunutze. Ihr Gefühl wird von ihr keineswegs ab-, sondern eigensinnig umgewertet. Affekte sind allerdings nicht als etwas nur Subjektives zu verstehen, eine bloße Verschleierung einer faktisch gegebenen nackten Realität. Sie können vielmehr als Weise der alternativen Welterschließung gedeutet werden (daher spricht Künstlerin 1 von »Sprachen« und »Verstehen«). Hier geht es eher um ein Zwischen, um eine Verbindung zwischen zwei Polen, dem Subjekt- und dem Objektpol. Bleiben wir mit der Künstlerin, die ja selbst den Schwerpunkt auf das »Zeug« legt, noch eine Weile bei dem Objektpol, dem sie durchaus eine eigenmächtige Handlungsfähigkeit zuspricht (zumindest in der eigenen Begegnung, in der konkreten Erfahrung im Atelier). Womit hat man es hier genau zu tun? Auf diesem Pol zu verorten sind zunächst die Bilder der anderen. Bilder wirken auf manche Betrachter in einer Weise, die es verbietet, hier noch von toten Objekten zu sprechen – es sind Gegenüber, die etwas auslösen, und die insofern als »aktiv« begriffen werden müssen. Erfahrungen mit Bildern stehen auch in der philosophischen Ästhetik im Vordergrund (etwa bei Hartmann 1953 sowie in der Bildakt-Theorie von Bredekamp 2010).

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Die Sogwirkung der Bilder der anderen wird von ihr im Sinne einer biographischen Erzählung darüber aufgerufen, warum die Künstlerin den Weg zu Kunst gegangen ist. Wenn die Künstlerin einmal in der Gegenwart angekommen ist, sind die eigenen Arbeitsmaterialien sowie die Werke selbst noch weit wichtiger. Welche Rolle spielen sie in dieser »anderen Welt« genau, wie sieht ihre Aktanz aus? Die Künstlerin betont mehrfach ihr prozessorientiertes Arbeiten. Darunter zu verstehen ist eine Interaktion mit dem Material, die auf dieses reagiert, mit ihm gemeinsam schafft (Lehmann 2016; Schäffner 2017; Schürkmann 2017, 130ff.). Es gibt bei unserer Künstlerin geradezu frappierende Berichte über solche Erfahrungen. Zunächst geht es um die basalen Werkzeuge – Farbe, Pinsel und Papier: Miriam (K1): Das Papier wölbt sich so, also dass, Körper oder der Auftrag, das Entgegenkommen von dem Papier, in einer sehr reduzierten, wirklich im Auftrag von der Farbe eigentlich schon stattfindet, oder. Die Leinwand »wölbt sich«, kommt der Farbe entgegen, und so findet unwillkürlich bereits viel statt. Was hier geschieht, wird nicht allein dem Pol des Subjekts zugerechnet. Das ist mehr als das, was Heidegger und Dewey phänomenologisch vom Handtieren mit einem Hammer beschreiben – im habitualisierten Handeln tue sich eine Verweisungs- oder Bewandtnisganzheit auf (von Heidegger 1927 »Welt« genannt). Denn hier sind Farbe und Papier mehr als nur »Werkzeug«; sie sind Mithandelnde.12 Im Prozess des Malens selbst spielen dann weitere Aktanten mit, sogar Raum und Zeit. Bruno Latour hätte seine wahre Freude an diesen Partien, es entsteht tatsächlich eine praxeologische Assemblage von Künstlerin, Werk, Werkzeugen, Raum und Zeit: Miriam (K1): Das ist so, das ist wie ein Gebilde von Zeit, auf eine Art auch, von Rhythmus. Und es ist einfach ein riesiger Raum, also so, wenn ich im Atelier bin und allein, dann bist du auf eine Art, also das ist wie eine Art Raum, den 12 Diese für Sozialtheoretiker noch immer ungewöhnliche Sichtweise kann in der Kunstpädagogik Achselzucken auslösen – dass Materialien einen »Eigensinn« haben ist in dieser Praxis selbstverständlich (vgl. Duderstadt 1997; Kathke 2001). Darauf bezieht sich, theoretisch diffiziler, auch Lehmann 2016.

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du hast, wo du dich drin bewegst, und wenn der irgendwie groß wird, dann musst du einfach so, ich kann das nicht genau sagen.13 Die Künstlerin bewegt sich in dieser Heterotopie, dieser anderen Welt mit einer erfahrungsbasierten Souveränität. Auch die damit allmählich entstehenden Werke selbst machen auf ihre Weise mit. Es gibt ein regelrechtes Ringen mit dem Material auf dem Weg zum Werk (wie es auch Adorno geschildert hat, Hindrichs 2011; vgl. Wagner 2001): Miriam (K1): Also sehr viele Bilder werfe ich weg, oder übermale ich, es funktioniert (.) vielleicht jedes zehnte Bild oder so. So vielleicht. Wenn aber neun von zehn Bildern nicht »funktionieren«, dann fragt es sich, woran genau der Schaffensprozess scheitern kann. Das sensibilisiert nun für eine weitere Dimension, die im Schaffensprozess präsent ist – nämlich den sinnlichen Sinn. Auffallend ist die Konsequenz, mit der die dort geltende ›andere‹ Logik als eine markiert wird, die sich nicht einfach ›übersetzen‹ lässt in die faktenbasierte Normalsprache (»ich kann das nicht genau sagen«). Ähnlich artikuliert sich in diesem Zusammenhang auch eine andere Künstlerin: Mia (K8): In der Kunst geht es ja um, äh, um eine Message, äh, um ein Statement, das man verfolgt oder ja, mitteilen möchte. Aber: Mia: Ich möchte es nicht erklären müssen, oder?14 Die Aussage »ich kann das nicht genau sagen« (Miriam K1) korreliert mit dem klassisch ästhetischen Topos »je ne sais quoi« (etwa noch bei Kant), dass man nie genau sagen kann, warum etwas schön sei, und dennoch darin oft übereinkommt (Scholar 2005). Künstlerin 1 geht aber noch weiter: Für sie han13  Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen (Arnold Schönberg im musikalischen Tagebuch 1911; darauf bezieht sich Dieter Thomä ebenfalls). 14  »Die Sprache der Dinge kann in die Sprache der Erkenntnis und des Namens nur in der Übersetzung eingehen« (Benjamin 1977a, S. 152).

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delt es sich beim Malen gleichwohl um eine Art »Denken«, um einen Prozess, der sich auf einer allgemeinen Ebene ereignet. Ähnliche Positionen in der Kunsttheorie wurden etwa von Arnheim (1996) oder Merleau-Ponty (2003) vertreten: Kunst ist eine andere Art Denken. Es werden nicht nur ›subjektive‹ Befindlichkeiten dargestellt, sondern auf andere Weise etwas über Welt ausgesagt. Hier sind verschiedene hierzu passende Aussagen Miriams: Miriam (K1): Das Malen ist wie eine andere Art von Denken. Malerei hat ja die Fähigkeit, eben etwas Allgemeines auf eine Art anzusprechen bei jemand, und das irgendwie zu berühren. Es geht wirklich um etwas ganz Allgemeines. Da es sich um »eine andere Art von Denken« handelt, sind die genannten Gefühle nie bloß subjektiv. Die Künstlerin legt sogar Wert darauf, sich in ihrer Kunst nicht selbst zu bespiegeln. Das heißt nicht, dass Gefühle außen vor bleiben, weil sie etwa nicht allgemein seien. Es heißt vielmehr, dass in der Kunst als Sprache der allgemeine Gehalt des Gefühlslebens dargestellt werden kann – und genau in dieser Ausdrucksfunktion von etwas, die gelingen, aber auch misslingen kann, besteht das Ringen mit dem Material: Miriam (K1): Ich will ja Kunst machen, und nicht mich reflektieren, oder auch meinen Schmerz irgendwie zeigen […] ich will das auch nicht, so, in die Welt hinaustragen, oder. Dann finde ich wie- das ist ein Punkt, wo ich mich selbst beschneide. Und das will ich eigentlich nicht, dass das ausgestellt wird.15 Es gibt einen klaren Primat der Begegnung mit Materialien. In diesen Prozess geht es in einer harten Auseinandersetzung darum, etwas Allgemeines zum Ausdruck zu bringen, das sich gleichwohl vom gedachten oder ausgesprochenen Allgemeinen unterscheidet. Es gibt also eine weitere Anwesende im Ringen mit dem Material – mit Roman Ingarden (1962) oder Erwin Panofsky: eine weitere »Schicht« am Kunstwerk. Hier würde ich von Bedeutung oder Sinn sprechen (Kandinsky 1912 nennt es das »Geistige«). Es gibt im 15  Vergleichbar sagt der bei Rosa (2016, 492) zitierte Sänger: Ich »darf mich schon von Gefühlen durchfluten lassen – vorausgesetzt, sie kommen aus dem Stück und nicht aus mir. Mein Empfinden ist unwichtig.« Vgl. Schiller: »Nur in der Wegwerfung des Zufälligen und in dem reinen Ausdruck des Notwendigen liegt der große Stil« (Schiller 1993a, 995).

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Schaffensprozess eine Gestalt-Antizipation (»und man merkt, ah, so muss es werden«, D8), an der die geschaffene Gestalt dann gemessen wird (Jung 2009, 262; Schürkmann 2017, 210f.). Genau daran kann ein Werk aber auch scheitern: Bringt es den Sinn nicht adäquat zum Ausdruck, dann funktioniert das Bild nicht. An dieser Stelle lässt sich schwer beantworten, ›wo‹ dieser Sinn eigentlich ist und wie man ihn näher charakterisieren könnte; es geht zunächst darum, auch ihm in den Erfahrungsberichten der Künstlerin einen ontologischen Rang zuzusprechen. Eine Parallele in einer älteren Philosophie, die mit etwas Ähnlichem ringt, findet sich in Nicolai Hartmanns Ästhetik: »Im Werk als solchem sind die geformte Materie und der geistige Gehalt durch die Formung der ersteren miteinander verbunden; aber nicht an sich, sondern nur für den lebendigen Geist« (Hartmann 1953, 85). Auf die Probleme, die mit dieser betrachterabhängigen Realität einhergehen, ist noch zurückzukommen. Andere Künstler berichten ebenfalls von dieser Erfahrung des Sinnes – hier sei Ben zitiert, der bereits ein älteres Semester ist (Ende Vierzig) und sich auch als Auftragsmaler verdingt. Er scheint zunächst eine subjektivistische Sicht zu artikulieren, aber schnell wird klar, dass das eigene Ich nur eine Art Gefäß ist, in der sich die Regungen von etwas anderem melden, das es ebenfalls »gibt«: Ben (K6): Also ich, ich versuche meine Seele darzulegen. Bis zu einem gewissen Grade, das darzulegen, was ich empfinde, was ich erlebe, was ich sehe. Und ich bin eigentlich nicht viel mehr, als […] das Instrument, das….16 Ich glaube daran, dass geistige Entwicklung eine Art Schwingungen sind. Dass, äh, dass es das gibt. Ich glaube daran, dass die Kunst – das tönt jetzt sehr hochgestochen, aber ich kann’s im Moment nicht anders sagen – dass sie geistige und seelische Inhalte zum Ausdruck bringen kann. Und das kann ein Graffiti sein oder das muss jetzt nicht irgendwie das sein, was wir als hohe – also das kann der primitivste Inhalt sein. Es ist immer der Ausdruck einer Seele. Einer menschlichen Regung [s.u., Künstler Raul zur Alchemie].

16 Etwas Ähnliches bringt Merleau-Ponty zum Ausdruck: »Indem der Maler der Welt seinen Leib leiht, verwandelt er die Welt in Malerei« (2003, 278). »Der Maler lebt in der Faszination. Seine ureigensten Handlungen […] scheinen für ihn aus den Dingen selbst hervorzugehen, wie die Zeichen der Sternbilder« (2003, 286). Das ist schon ein romantisches Thema gewesen: Die Schaffenden spüren eine andere Macht durch sich hindurch wirken.

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Prozesshaft arbeiten beschreibt diesen Berichten zufolge eine Art Ping-Pong zwischen den Eigenaktivitäten des unmittelbaren Materials, die im Schaffen begegnen, und der künstlerisch wahrgenommenen Schicht von Bedeutung oder sinnlichem Sinn (»etwas Allgemeines«, K1, das zwar beobachterabhängig ist, insofern es gespürt wird, aber deswegen gerade nicht subjektiv), zwischen denen es zu einer Passung kommen soll. Diese Passung zwischen objektiven Polen ist übrigens auch das, was Adorno die »Wahrheit des Werkes« nennt, nach der man sich richten soll (Adorno 1970, 401). In der Souveränität über diesen intra-objektiven Prozess zwischen Materialien und Sinn sieht Miriam ihre vorrangige Kompetenz, und damit auch ihre Bedeutung für die Kunstwelt und die weitere Gesellschaft: Miriam (K1): Ich habe auf eine Art eben schon den Anspruch, etwas Relevantes zu machen, in dem Sinn, dass ich ein Statement gebe und sage, so, finde ich, kann Kunst sein heute. […] Und das finde ich z.B. ein Statement, vom Arbeitsprozess, dass ich glaube, dass man in unserer Zeit nicht alles benennen muss, sondern dass man einfach sich auf etwas beziehen kann, wo man das Gefühl hat, man hat irgendein Verständnis demgegenüber. Und alles, bei dem ich das Gefühl habe, dass ich nichts dazu sagen kann, sage ich lieber nichts.17 Ich möchte dieses primäre künstlerische Verhalten, den Plasmakern künstlerischen Handelns, die ›Innenpolitik‹ nennen. Die Künstlerin interagiert mit Leinwand, Pinsel und Farbe, mit dem entstehenden Werk und dem in ihm zum Ausdruck Kommenden – seinem Sinn, der ein Kriterium für das Gelingen oder Misslingen des Werkes abgibt, und der sich im besten Fall im fertigen Werk materialisiert. Es versammelt sich in dieser Assemblage bereits eine ansehnliche Menge Personal. Natürlich gibt es auch noch die andere ›soziale‹ Welt, die »Gesellschaft« der Bourdieu’schen Soziologie. Mit Nicolai Hartmann wäre bereits eine ontologische Anschlussstelle für diese geschaffen, denn es braucht neben dem schaffenden auch einen empfangenden »Geist« – das Urteil möglicher Betrachter (und der Geschmack führt schnell wieder zu Bourdieu):

17  Die Passung in ihren Werken, die in der Darstellung recht reduziert sind, ruft den Talkshow-Zeitgenossen gewissermaßen zu: Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen (Ludwig Wittgenstein).

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Der produzierende Geist formt die Materie; er gibt ihr dadurch geistigen Gehalt mit, verschließt ihn aber auch in ihr, so dass der empfangende Geist in seiner Zeit ihn erst wieder ›erschließen‹, d.h. aus ihr zurückgewinnen muss. (Hartmann 1953, 85) Die engere »soziale« Ebene kommt hier allerdings erst im Rahmen einer ›Außenpolitik‹ zum Zuge. »Ich will irgendwie auch ein bisschen (.) neben der Gesellschaft sein« (Miriam K1). Genau wie der Soziologe ist sich die Künstlerin bewusst, dass ihr Kunstschaffen eingebettet ist in ein gesellschaftliches Umfeld, in dem sie sich behaupten und positionieren muss. Sie berichtet davon, wie sie in dieser Beziehung einen Professionalisierungsprozess durchlaufen hat: Miriam (K1): Die Welt der Kunst ist schon noch, ja, das ist relativ übersichtlich oder klar, was man da auf eine Art auch, ja, leisten muss außerhalb von der eigentlichen Arbeit. Man muss präsent sein und so. […] Also wenn ich Künstlerin sein will, dann muss ich das ganz sein, und dann muss ich auf eine Art auch Frieden schließen damit, dass das ein Beruf ist, irgendwie. Das bedeutet, die Ausstellungen zu machen, dafür zu schauen, vielleicht sogar mal jemanden ansprechen, ähm, wenn die Bilder hängen, die auch zu verkaufen. Das ganze Thema ist dann irgendwie aufgekommen und dann habe ich gefunden, okay, jetzt probiere ich das mal. Interessant daran ist, dass sie auch in dem Moment, wo sie diese Klaviatur zu bespielen erlernt, diese beiden ›Welten‹ klar trennt – selbst wenn der »Diskurs« (den sie mehrfach nennt) und das Selbstmarketing noch zur Kunst hinzugehören und sich nicht abtrennen lassen, findet das auf einer Art Außenschale statt (zur Dynamik solcher Grenzziehungen in unseren Interviews bereits Henning 2016a): es ist »okay« und gehört zum »Beruf«, zu »verkaufen«, doch es ist »außerhalb von der eigentlichen Arbeit«. Ganzheit steht hier also nicht für ein esoterisches Beharren auf Authentizität, sondern für eine Ernsthaftigkeit dem Beruf gegenüber, die auch die unangenehmen Seiten des Berufs akzeptiert. Diese Redeweise von Ganzheit, von innen und außen drängt darauf, die Überlegungen über die Dynamik auf dieser Außenschale nicht höher zu hängen, als die Akteurin selbst es tut. Es wäre eine Überformung ihrer Aussagen, wollte man als eigentliche Bühne lediglich diese (im alten Sinne) gesellschaftliche Dimension nennen, die auf

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unerkannte Weise alles auf der Vorder- oder Innenbühne dirigiert und damit unterhöhlt. Würden auf dieser Bühne lediglich Illusionen aus der Mottenkiste der Kunstgeschichte re-inszeniert, könnte man sich anschließend über die Betriebsblindheit und Naivität der Interviewten amüsieren. Genau dies wird in der hier vorgeschlagenen Lesart unterbunden.

Exkurs: Hartmut Rosas Theorie der Resonanz und ihre Rolle für die Kunsttheorie An dieser Stelle drängt es sich auf, von »Resonanz« zu sprechen – das geformte Material resoniert (oder resoniert nicht) mit dem, was sich den Schaffenden im Prozess als zu Schaffendes zu erkennen gibt. Daher sei hier ein kurzer Blick auf das Kunstkapitel im Resonanzbuch von Hartmut Rosa (2016) geworfen. Das gute Leben zeichnet sich nach Rosa dadurch aus, dass in Beziehung auf verschiedene Regionen des Wirklichen (im Wesentlichen Natur, Gesellschaft und Familie, Kunst und Religion) ein »Antwortverhalten«, eben eine Resonanz erlebt wird. Die Einzelnen fühlen sich so aufgehoben in größere Zusammenhänge, und wenn dieses Antwortverhalten fehlt, wird die Welt kalt und arm, das Leben in ihr sinnlos und leer. Hinsichtlich der Kunst geht es bei Rosa weniger um eine Analyse einzelner Werke oder Schaffensprozesse, sondern allgemeiner um »die« Wirkung »der« Kunst (»Die Kunst berührt und bewegt den modernen Menschen«, Rosa 2016, 473). Rosa lässt sich in seinem Kapitel zur Resonanz in der Kunst, vielleicht bedingt durch die Lektüre von Christoph Menke (2013) und Andreas Reckwitz (2012), eine primär rezeptionsästhetische Optik vorgeben: Ähnlich wie bei Bredekamp (2010) ist das Werk, wenn es auf den Betrachter wirkt, meist schon fertig. Resonanz heißt daher, der eigentlich symmetrischen Intention der Resonanztheorie entgegen, dass »ein (wie auch immer geartetes) Werk den Rezipienten zu berühren vermag« (Rosa 2016, 485). Die Wirkung geht nur in eine Richtung: vom (fertigen) Werk auf den (passiven oder »pathischen«, 471) Betrachter. Immerhin könnte man sagen, gerät damit, wie bei Horst Bredekamp (2010), eine Aktanz der Werke in den Blick, die den Intentionen von Latour entgegen zu kommen scheint. Es geht allerdings auch etwas verloren, das für die Interviews von Interesse ist. Diese Differenz gilt es kurz zu benennen. Bei Rosa droht die Aktanz der Dinge selbst nämlich insofern wieder übersprungen zu werden, als das Werk rasch als »Ausdruck« eines anderen Subjektes gedeutet werden kann – dann gibt es »Resonanz« vor allem »zwi-

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schen Künstler und Publikum« (493), »[z]wischen Künstler/Interpret und Hörer« (488). Die Materialität der Werke und die mögliche Aktanz der Materialien im Schaffensprozess sowie in der Rezeption (vgl. Lehmann 2012) sind dann höchstens noch zweitrangig. In diesem Verständnis kann die Kategorie der »Resonanz« als Passung zwischen objektiven Polen,18 die in den Interviews zum Tragen kommt, nur bedingt erhellen. Obwohl Rosa am Ende auf die Macht der »formalen Strenge« (Rosa 2016, 499) verweist und der Kunst selbst »Forderungen« zuschreibt (475), gerät Resonanz ihm hier wider Willen zu einem nur intersubjektiven Geschehen. Mehr noch, stellenweise geht es sogar nur intra-subjektiv zu: es bleibt dann bei einer »Zwiesprache zwischen dem vermögenden und dem formenden Subjekt« (478) – zwischen dem Teil des schaffenden Subjekts, der etwas technisch beherrscht, und dem anderen Teil desselben Subjekts, der sich der »Kraftquelle« (477) der Inspiration ausliefert (im Rückgriff auf Menke 2013; siehe Thomä in diesem Band). Erscheint das Kunstschaffen so als intra-subjektives Geschehen (mit einer Resonanz nur zwischen Ich und mir), kann es »völlig unerheblich« werden, ob noch etwas anderes dabei »real existiert« (485). Was unterscheidet dies jedoch von einer Selbstbespiegelung? Wozu bedarf es noch der Werke und der Materialien? Ich vermute, die bildungsbürgerliche Selbststimulation durch Kunst, die Rosa später halb aufruft, halb ironisiert,19 ist durch dieses Überspringen des Gewichts der Materialität zumindest an einigen Stellen – wenn auch wider Willen – in die eigene Theorie gerutscht. Es gilt also, den »Vorrang des Objekts« (Adorno) noch ernster zu nehmen, als gegenwärtige Sozialtheorien der Kunst es häufig tun. Allzu schnell wird gerade dies eingemeindet. Damit wieder zurück zur Interpretation der Interviews.

18  Ein angestrebter allgemeiner Sinn hier, ein konkretes Material dort, das sich mit dem Schaffenden gemeinsam eine »Form« schafft – oder Gestaltantizipation und Gestaltung. 19 »Aber spätmoderne Subjekte – insbesondere bildungsbürgerlich sozialisierte – […] malen und töpfern, sie musizieren und dichten, und vor allem tanzen und singen sie, […] um ihre vorsubjektive Stimme hörbar zu machen und so in Dialog mit einem Anderen, Unverfügbaren – und sei es auch ihr eigenes Anderes – zu treten« (Rosa 2016, 496). Müsste man das nicht als Echokammer bezeichnen?

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2. Vibrant Matter 2: Resonanzerfahrungen am Material in der Gestaltung Nun liegt an dieser Stelle ein Einwand nah: Es könnte sich um einen Sonderfall handeln – um eine altmodische, vielleicht etwas untypische Künstlerin aus der Provinz vielleicht. Daran sei nichts weiter abzulesen als eben ihr Verhaftetsein an veralteten Vorbildern. Die kreative Szene und andere Kunstzirkel seien doch inzwischen weitergeschritten zu ganz anderen Arbeitsformen: kollektiv, projektgetrieben, unternehmensaffin (so sinngemäß z.B. Reckwitz 2012). Das wäre allerdings ein Fehlschluss. Um das zu zeigen, soll an dieser Stelle ein Vergleich mit Interviewmaterial mit kreativ Schaffenden aus dem Bereich der Gestaltung erfolgen, die ja der Wirtschaft tatsächlich näher sind. Ist man einmal für diese Dimension sensibilisiert, gibt es hier genau solche Schätze zu heben, und die Position der Künstlerin erweist sich keineswegs als Sonderfall; im Gegenteil. Am Beispiel von Markus etwa, Mitte Vierzig und selbstständiger Textgestalter (in der Schweiz eine hochgeschätzte Zunft), lässt sich studieren, auf welche Weise Formgebung in der Gestaltung erfolgt. Auch dieser selbstständige Textgestalter berichtet von einer Achtsamkeit gegenüber dem Eigensinn des Materials, welches keineswegs passiv bleibt: Markus (D1): Ich bekomme ein Manuskript und das bringe ich in eine Form, in eine andere Form, also ich versuche das lesbarer zu machen. Ich versuche einen Rhythmus mit, wenn es Bilder gibt, Bilder mit rein zu bringen oder ein angemessenes Format zu finden, eine angemessene Schrift, eine angemessene Schriftgröße. Das sind ja alles Formen, die, die irgendwie Schwingungen haben, wie eine Vibration, die einen entweder anspricht oder nicht. Der Unterschied zur Künstlerin besteht zunächst nur darin, dass das Material stärker vorgegeben ist: es kommt ein Manuskript herein, dieses gilt es nun zu bearbeiten. Darauf, was oder von wem etwas hereinkommt, haben die Gestaltenden einen gewissen Einf luss, der größer oder kleiner sein kann, je nach Stellung – man ist nur selten einfach ausgeliefert. Ein Teil des Materials ist damit von außen vorgegeben, doch dieses Außen ist meist in einem affinen Milieu zu lokalisieren (die Auftraggeber kennen und schätzen die Gestaltenden häufig).

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Für die Frage der Mithandlung des Materials bei der Gestaltung spielt diese Vorgabe allerdings eine erstaunlich geringe Rolle: Auch hier ist es so, dass das Material von sich aus »Schwingungen«, Vibrationen aussendet; der Gestalter reagiert darauf mit einer entsprechenden Formgebung. Resonanz im Sinne eines Einpegelns der Eigenschwingungen wird hier erneut zwischen Form und Material angeordnet: Etwas passt, etwas stimmt, wenn beide einander »angemessen« sind (»irgendwann merkt man so ›aha, jetzt, jetzt passt’s‹«, Ena, D7; »dass man wie das Gefühl hat, ›So, jetzt stimmt’s‹«, sagt auch Regula, D9). Erneut handelt es sich also um eine Passung zwischen zwei objektiven Polen. Die »Form« ist in diesem Fall das gestalterische Material im engeren Sinne, das nicht von außen vorgegeben ist. Es ist im Vergleich zum Künstlerischen natürlich begrenzter, weil funktionsgebunden: Es geht um Schrifttypen, Papiersorten usw. Davon berichtet Markus anhand eines Beispiels: Markus (D1): Ein wahnsinnig guter Text, ich habe ihn ziemlich bald bekommen, zum Reinlesen. Und ich fand, der muss einfach, der muss reingehen wie Butter [lacht]. Der muss so bequem lesbar sein. Und dann haben wir gewusst, es gibt einen Bildteil, den wir irgendwo einstreuen können, und dann geht es um Materialität, also was für Papier, was nimmt man für eine Schrift, wie ordnet man das auf der Seite an, was für eine Farbe soll das Papier haben, wie soll der Einstieg sein in so ein Buch, soll es da noch einen (?) haben, wie soll die Farbigkeit außen sein, soll es so ein Halbleinen-Bändchen sein, wie soll die Haptik sein. Sollte etwas weich sein, so dass man es gerne in die Hand nimmt. Und dann eben einfach so, ja bequemer lesen kann, und ja, das wäre auch noch nett, wenn man so ein Lesezeichen-Bändchen hätte, so geht das. Gestaltung heißt in diesem Fall, Inhalt (die Buchstaben sowie ihren Sinn) und Form (in diesem Fall, auch wenn es verwirrend klingt, die gestalterische Materie – Schrifttypen, Papier, Farbe etc. – und ihre Anordnung) in Einklang zu bringen. Das bedeutet nicht weniger, als dass beide Pole von sich aus bereits einen Klang erzeugen. Diese Klänge muss der Gestaltende in eine Beziehung zueinander bringen: Markus (D1): Dann versuchen wir verschiedene Schriften aus, bis wir finden »Die hat jetzt einfach den richtigen Klang, also die richtige Tonalität dafür.«

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Es ist lustig, die Summe von Details, die am Schluss so einen Gesamtklang ergibt. Eine andere Textgestalterin (Anfang Dreißig und zum Teil selbständig) berichtet, dass es sich für sie bei dieser Passung um eine Sprache handelt – Form und Inhalt, Bedeutung und Gestalt müssen harmonieren, wie beim Sprechen. Wenn diese Passung einmal gefunden (oder geschaffen) ist, so folgen darauf Momente der Beglückung. Zu deren Beschreibung vergleicht sie die endlich passend geformten Materialien des Gestaltens mit Aktanten des Frühlings – die ja von sich aus tätig sind, auch wenn ihr Zusammenklang ein beobachteter ist. Solche Berichte zeigen auf, dass die Mithandlung des Materials auch auf Seiten kreativer Tätigkeit in wirtschafts-affineren Zirkeln (also jenseits der »reinen« Kunst) erfahren wird: Deborah (D8): Das ist das, was mich interessiert, das ist wie so, diese Entwicklung einer neuen Sprache, das, was man vorher noch nicht im Kopf hatte, was es sein soll, wie es sein werden soll, und dass man das so erarbeiten kann, dieses Erschaffen […] die Suche nach diesem Gefühl, oder. Das ist ja so wie im Frühling die ersten Blumen sehen [Interviewer lacht] – das ist so, wie dieses Gefühl, boah, das stimmt jetzt, das sind so wie Momente, die man ja auch sonst im Leben quasi sucht. Wenn es so im Frühling, ja, die Luft ist ganz schön, und jetzt höre ich noch die Amseln – einfach so, wie so Momente schaffen, die halt so wie in sich stimmen.20 An dieser Stelle drängt sich erneut die Frage nach der Beziehung zwischen dem auf, was sich bei der Künstlerin als Innen- und Außenpolitik, oder Innen- und Außenschale darstellte. Angesichts einer gestiegenen Bedeutung des Sozialen (im engeren Sinne) ist ja keineswegs ausgemacht, dass die Rollenverteilung ähnlich bleibt: es gibt in der gestalterischen Praxis auf der einen Seite zusätzlich die Auf traggeber, mit denen es während der Produktion mehrere Treffen gibt, und die aufgrund ihrer ökonomischen »Macht« einen gewissen Einf luss auf das Ergebnis verlangen. Auf der anderen Seite gibt es oft Kollegen oder Vorgesetzte, die mit im Büro sitzen und teils mit 20  An anderer Stelle spricht sie von »visuellen« Sprachen. Auch der zitierte Grafikgestalter wählt für seine Beschreibungen, was es mit der »Form« auf sich hat, Beispiele aus dem Alltag: die Wahl der Kleidung, sogar des Partners orientiere sich stets an solchen Formen.

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an denselben Projekten arbeiten. Wie wirkt sich das auf die aktive Rolle des Materials aus? Wird sie zurückgedrängt? Auf die Frage nach dem, was er an seiner Arbeit denn am meisten schätze, antwortet der Textgestalter: Markus (D1): Es ist die Freude an der – wenn etwas entstehen kann, also wenn wie so eine Transformation entstehen kann und das gelingt, das gut rauskommt. […] Einerseits finde ich das etwas Schönes. Andererseits finde ich es ein richtiges Privileg, mit verschiedensten Auftraggebern zusammen zu kommen und mich in diese Materie reindenken zu dürfen und daraus Inspiration schöpfen zu dürfen. Und so eigentlich eine andere Welt kennen zu lernen. Das finde ich etwas vom Großartigsten. Das ist fast wie Fliegen. Es ist erstaunlich, wie sich trotz geändertem sozialen Setting das Personal ähnelt: Es gibt, wie bei der Künstlerin, eine andere »Welt«, die einen starken Reiz ausübt; und es gibt ein »Material«, für dessen »Transformation« (Formgebung) das Material selbst die Inspiration gibt, und es gibt sogar die Zustände der Entrückung im Prozess (»fast wie f liegen«). Mehrere Gestaltende berichten übereinstimmend, dass in der Interaktion mit anderen (Kunden und Kollegen) die sachliche Ebene den Ton angibt; ja die Interaktion mit diesen anderen ist gerade deswegen so wichtig, weil aus dieser Situation neue Inhalte, neue Materialien kommen. Eine Textgestalterin, Mitte Fünfzig, berichtet etwa: Anette (D6): Was mich an diesem Beruf immer fasziniert hat, ist die Herausforderung oder die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Themen. Also immer wieder mit neuen Leuten, neuen Themen, also ich muss mich einfach mit der Thematik auseinandersetzen. Auch bei ihr gehen neue »Leute« (also Auftraggeber) primär mit anderen »Themen« einher, die als faszinierend erlebt werden. Ähnlich erzählt eine etwas jüngere Grafikdesignerin (sie ist Anfang Dreißig) vom Moment des Kundenkontakts: Interviewer: Ok, also die Leute kommen auch auf dich zu meistens? Ena (D7): Ja, und zwar, weil sie schon Sachen gesehen haben. Also es ist wirklich immer eigentlich das. Und dann gibt’s ein Briefing, das ist in dem Sinne schon kreativ, weil ich erste Reaktionen habe und da, darapp darapp, ich

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liebe das, also ich fühle – es fühlt sich kreativ an, diese Treffen, obwohl es eigentlich eher Administration ist, weil zuhören, worum geht’s und so. Und dann kommt die erste Phase der Ideen. Aber auch der Analyse eigentlich. Also was ist es? Worum geht’s. Inhaltliche Recherche, verstehen, manchmal nachfragen und so, dass ich irgendwie, irgendwann kapiere, worum es geht. Die Interaktion mit den Auftraggebern ist vermittelt über »Sachen«. Man könnte von einer Triangulation sprechen: Sozialkontakte laufen über den gemeinsamen Bezug auf eine material-dingliche Ebene. Auch diese Gestalterin »liebt« die soziale Interaktion mit potentiellen Kunden vor allem deswegen, weil es hier neue Ideen gibt, neue Inhalte, die es dann zu »recherchieren« und später zu formen gilt. Es gibt also auch hier, ähnlich wie bei der Künstlerin, einen Vorrang des Materials über das Soziale im engeren Sinne, auch dann, wenn das Material von anderen Menschen eingebracht wird. Sie berichtet: Ena (D7): Der beste und der mühsamste [Teil] ist eigentlich so die, die Idee zu knacken. […] Es ist wie ein Rätsel lösen für mich. Auch Deborah etwa, die uns bereits vom Frühling berichtet hat, sieht zwar einen Unterschied zur Kunst darin, dass es in der Gestaltung direktere Rezipienten gibt, deren Freude über die gestalterische Arbeit eine Quelle der Befriedigung darstellt. Allerdings ist diese soziale Beziehung vermittelt über die sachliche Ebene, die von der Wertigkeit her im Vordergrund steht. Das stellt sie hier klar heraus: Deborah (D8): Wer es dann in der Buchhandlung noch kauft, weiß ich ja nicht, und, nee, ich will es einfach wie niemandem aufdrängen. Ich habe das Gefühl, das soll wie so da sein, und wer den Zugang hat, soll, und eigentlich – also ich will schon, dass der Zugang primär so über den Inhalt geschieht, und darum will ich auch Sachen machen, die mehr so einen relevanten Inhalt haben. Ich möchte eigentlich schon mich dem unterordnen, eigentlich, und der braucht dann wie keine Beziehung zu mir [lacht] zu haben. Dass die Reaktionen anderer Menschen auf die eigenen Produkte zwar wichtig, aber dennoch nicht die primäre Motivationsquelle für die kreative Arbeit sind, sondern es, dem vorgelagert, noch eine Bestätigung und Befriedigung

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durch das Material selbst gibt, gibt uns auch ein männlicher Gestalter deutlich zu verstehen: David (D5): Wenn ich dann wieder so ein Ding in die Finger nehme und mir das anschaue, das ist auch eine Anerkennung, die quasi ich mir selbst gebe, also so Stolz vielleicht oder so, dass ich das jetzt gemacht habe […] nur wegen der Anerkennung von außen [!] würde ich das nicht so lange machen. Ähnlich sprechen Miriam (K1) und Deborah (D8) von einer »Relevanz« ihrer Werke. Diese Möglichkeit, als kreativ Schaffende an sinnvollen Inhalten zu arbeiten und diesen eine passende Form zu verschaffen,21 die dann auch anderen »Freude« (D8) machen kann, ist also dasjenige, was den großen Reiz einer kreativen Tätigkeit ausmacht und den Interviewten so viel mehr gilt als eine höhere Bezahlung. Es ist auch das, was etwa im Bereich der Werbung vermisst wird. Interviewer: Was du machst, hat das irgendeine Relevanz für…? [lacht] Betty (D10): Für die Menschheit? Interviewer: Für die Gesellschaft? Betty: Hm. Nicht so wirklich, glaube ich. Ehrlich gesagt. Und es ist manchmal auch das, was mir ein bisschen fehlt. Kreative Arbeit gravitiert um eine intrinsische Motivation, die kein hehres Ziel bleibt, sondern sich auch erfüllen lässt. Das ist ein alter Aristotelischer Gedanke: Es gibt Tätigkeiten, die ihren Wert in sich selbst tragen. Für Aristoteles wäre das eine Praxis, also letztlich ein Umgang mit Menschen. Hier allerdings wird auch das »Herstellen« ästhetisch funktionaler Gegenstände als selbstweckhaft begriffen (was wie schon bei Aristoteles nicht ausschließt, dass damit zugleich auch instrumentelle Zwecke erfüllt werden können).22 Bezeichnend für diese Triangulation im Bereich der Gestaltung ist ein von der Kunst aus betrachtet zunächst überraschender Umstand: mehre21  Statt von Formung des Inhalt (oder einer besseren Kommunikation des Inhalts, wie D6) spricht ein Produktdesigner (D4) von Verbesserung der Funktionalität. Das ist durchaus noch vergleichbar. 22  Philosophisch könnte man mit Dworkin (2000, 240) von einem »challenge-model« des guten Lebens sprechen: ein gutes Leben zeichnet sich nicht durch Bequemlichkeit aus, sondern dadurch, dass in ihm Herausforderungen gemeistert werden.

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re Gestaltende berichten davon, dass der direkte Umgang mit den Kunden für sie etwas befreiendes hat – befreiend insofern, als sie mit dem Kunden direkt über gestalterische und inhaltliche Fragen, also über die Sache sprechen können; und zwar auf eine Weise, die den Bedürfnissen der Kunden, um die es ja geht, tatsächlich entspricht.23 »Wenn natürlich der Kunde direkt kommt, ist es besser.« (D9). Vermittelnde Instanzen wie Galerien (die den Schmuckdesignerinnen zu einem hohen Preis den Verkauf abnehmen) oder interne Berater und Vorgesetzte (die per »briefing« die Aufträge weiterleiten und dabei interpretieren, dazu Krämer 2014, 164f.) bringen eine Art von Sozialität im engeren Sinne hinein, die von der geschätzten Sachlichkeit wieder ablenkt und wegführt. Betty (D10): Und es tut auch gut, wenn man wirklich am Kundenbriefing dabei ist oder mit dem Kunden grad die Webseite direkt anschaut. Also wenn man dort, ich glaube, man könnte manchmal wirklich Wege kürzen. Es wäre effizienter, so. David (D5): Und da hat man dann oft als Gestalter gar keinen direkten Kontakt mehr zum Kunden, was meiner Meinung nach ein bisschen das Arbeiten eigentlich eher erschwert. Weil ich finde es schon sehr angenehm, wenn man zusammen an einem Tisch sitzen kann und, ja, die Ideen entstehen halt oft in diesem Moment auch. Direkt mit den Kunden reden können führt also auch dazu, dass diese sich besser einbringen können, so dass eine wirkliche Kooperation entsteht. Vielleicht sind es von der Seite der Käufer auch solche Erfahrungen der Einf lussnahme auf das gekaufte Produkt, die dazu führen, dass sie »treu« werden, wie die Schmuckgestalterin mehrfach betont (»Kunden sind treu«, D9). Das ist die Anschlussstelle für das Soziale im engeren Sinn, für die oben Nicolai Hartmann stand, und von dem die anonyme Massenware nur noch einen faden Abglanz erlaubt. Von einer Kooperation mit den »Kunden«, die nur

23  »In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben« (Marx, MEW 40, 462).

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durch den direkten Kontakt möglich wird, berichtet auch die gestandene Grafik-Gestalterin: Anette (D6): Häufig in dem Moment, wo etwas grafisch aufbereitet wird, wird den Leuten vieles bewusst. Weil es sieht dann anders aus und es bekommt eine gewisse Gewichtung, es wird definitiv, so geht das nachher raus, so steht das nachher in der Öffentlichkeit, und in dem Moment wird nochmals überlegt, ja ist jetzt dieses Wort richtig oder wollten wir das wirklich so? [lacht] Ja, das löst häufig noch einen Prozess aus. Um zusammenzufassen: Diese Form der Beglückung in der Arbeit (Henning 2011) lässt sich besser verstehen, wenn man die zuweilen einsame Arbeit mit dem Material nicht wie üblich als autistische Beschäftigung mit toten Dingen missversteht,24 sondern vielmehr als eine soziale Interaktion anderer Art – als ein Zusammenwirken mit Aktanten sui generis, nämlich dem gestalterischen oder künstlerischen Material. Der Eigensinn dieser Sphäre hat auch die Kraft, soziale Beziehungen zwischen Menschen zu formen, indem diese sachbezogen (oder »trianguliert«) werden. Diese eigenmächtige Dimension des Materials ist für eine kritische Theorie der Gesellschaft von zentraler Bedeutung, weil sie aufzeigen kann, dass es innerhalb unserer Gesellschaften Zonen gibt, in denen trotz aller Vermarktlichung, Unternehmerisierung und Finanzialisierung andere Logiken herrschen, als sie von den dominanten gesellschaftlichen Imperativen vorgegeben werden. Das heißt nicht, naiv anzunehmen, es gebe im Sinne eines missverstandenen Rousseau unberührte Zonen, in die der Markt noch nicht hereingelangt sei. Der Markt ist heute fast allgegenwärtig, aber darum herrscht er nicht auch überall schon. Es gibt andere Logiken, andere Mächte, die ihm widerstehen – auch in seinem eigenen Medium. Das ist zunächst eine ontologische Feststellung (»was es gibt« ist ja die Grundfrage der Ontologie), sie hat aber auch Auswirkungen auf die Bewertung darauf auf bauender Praktiken. Grenzen zwischen Regionen müssen von den Akteuren zwar aktiv gezogen werden (davon gleich mehr), aber diese Grenzziehungen, diese Heterotopien sind weder willkürlich noch illusionär. Vielmehr beruhen sie auf Begeg24  Diese instrumentalistische Lesart von Arbeit ist seit Habermasʼ Dualismus von »Arbeit und Interaktion« kennzeichnend für die noch immer anhaltende Abwertung von Arbeit in der kritischen Theorie.

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nungen der Akteure mit Regionen, die sie als ontologisch eigenständig und in der Praxis als eigenmächtig erleben. Da diese Erfahrungen mit älteren philosophischen Befunden aus dem Bereich der Ästhetik durchaus korrelieren, gibt es Grund genug, sie philosophisch ernst zu nehmen. Diese Regionen stellen nach wie vor eine Quelle der Gesellschaftskritik dar, die sich gegen vereinnahmende Interpretationsstrategien verteidigen lässt. Ausgehend von dieser ersten Ebene einer phänomenologischen Ontologie lassen sich weitere Dimensionen der kreativen Arbeit freilegen, in denen die Befragten sich zu ihren Bewertungspraktiken äußern. Auch diese Alltags-Axiologen möchte ich im Sinne einer »affirmativen Genealogie« (Joas) deuten: Dass sie in einer bestimmten Praxis ihren Ort haben, sagt nicht schon etwas gegen sie, sondern vielmehr etwas für sie aus.

3. Freiheit die ich meine: Zeitsouveränität Der erste und zweite Teil hat sich mit der Aktanz des Materials befasst und diese als Freiheitsgrund der kreativen Tätigkeit interpretiert: Die Resonanz-Erfahrungen mit dem Material legen einen Grund dafür, den Zumutungen der unmittelbar sozialen Welt etwas entgegen zu setzen. Das bedeutet gerade nicht, dass diese Heterotopien nicht auch vom »Sozialen« umrahmt wären  – es handelt sich nicht um Fluchtzonen oder Biotope. Es geht vielmehr um den Grund der Kraft, im Sozialen bestimmten Zwängen etwas entgegenstellen zu können. Auf dieser Grundlage gilt es nun zu schauen, wie diese Spannung in der Praxis der Befragten gestaltet wird. Im Folgenden wird die aktive Abgrenzungspolitik der kreativ Schaffenden betrachtet. Sie folgen in ihrer Praxis Wertigkeiten, die sie klar benennen, und die sich vom Interpreten daher in einer Sprache der »Werte« wiedergeben lässt (Joas 1996; Heinich 2017). Die folgenden Dimensionen werden umso leichter nachvollziehbar, wenn die ontologische Wertigkeit, die am Beispiel von Künstlerin 1 rekonstruiert wurde – aber für andere Interviewte in ähnlicher Form gilt – mitgedacht wird. Das führt auf ein zunächst eingängigeres Thema. Das Arbeiten als Künstler verspricht Zeitsouveränität und wird von vielen Befragten auch aus diesem Grund anderen Tätigkeiten vorgezogen. Ein Beispiel ist etwa der junge Künstler Filip. Er berichtet: Filip (K2): Zeit ist für mich der größte Luxus, den man heutzutage haben kann.

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Natürlich gibt es auch für Künstler_innen und kreativ Schaffende Termine für Ausstellungen oder Einreichungen bei Wettbewerben, aber wie man sich bis dahin einteilt, bestimmt man selbst. An dieser Stelle könnte man nun argwöhnen, hier würde lediglich ein frei f lottierendes Narrativ der Sozialtheorie reproduziert. Mit Hartmut Rosa könnte man etwa von Zeitarmut als Signum der Moderne reden. Das wird auch in Kunsthochschulen gelesen, man muss nur einmal in der Bücherauslage von Kunstmuseen stöbern. Könnte dies nicht auch ein Manager sagen, der eine 60 Stunden-Woche hat, oder eine Lehrerin, die bis spät in die Nacht arbeiten muss, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen? Würden nicht alle sagen, dass sie gern mehr Zeit hätten? Ist der Topos der Zeitsouveränität von Filip also bloß aufgeschnappt? Dagegen spricht einiges. Zunächst sind sich die Befragten über diesen Diskurs selbst im Klaren, wie sie uns anzeigen. Eine Gestalterin aus der Werbebranche etwa, die über ihre Reduktion der Arbeitszeit berichtet, spiegelt uns ref lexiv zurück, dass sie die Ratgeberliteratur zur Entschleunigung kennt. Doch das ist für sie gerade kein Grund, die Triftigkeit des Gesagten einzuschränken – im Gegenteil. Sie berichtet über die Reduzierung: Regula (D9): Das habe ich so jetzt einfach durchsetzen wollen und es hat geklappt [lacht]. Und ja, habe das jetzt bekommen, und es ist wirklich echt toll! Es nimmt so ein bisschen das Tempo raus, aus der Woche, und… Interviewer: Entschleunigung! Ja! Regula: Genau. Yeah! Schon tausendmal gehört [lacht]. Ja. Nein, das ist wirklich so. Das Urteil, dass freie Zeit, oder besser: eine freie Verfügung über die eigene Zeit für eine kreative Tätigkeit unverzichtbar ist, fällen zahlreiche Befragte. Der bereits zitierte Filip ist ein noch recht junger Künstler, der bereits eine Galerie hat, die ihn regelmäßig ausstellt. Es ist bei ihm ebenfalls nicht einfach dahergesagt, denn er weiß, wie er uns berichtet, aus anderen Jobs im Büro oder im Museum, wie es dort zugeht: Filip (K2): Ich finde ganz viele so normale, sagen wir normale Jobs, wo man einfach von acht Uhr morgens bis 17 Uhr im Büro arbeitet und so, ich hab das auch erlebt, was das für Arbeitsklimas sind und so, das ist Horror, das ist, die Leute stellen ab. Also ich finde das ganz schlimm, ich finde das ganz schlimm. Ich finde, am liebsten würde ich, jeder sollte – in Frankreich haben

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sie 35-Stunden-Arbeitswoche, ich finde, das sollte ein bisschen sogar noch auf 30 runter. Das ist wirklich, es ist wichtig, dass man Zeit hat. Für alles, ich finde auch für die Beziehung, für wirklich alles. Dieser junge Künstler ist direkt nach dem Kunstdiplom von einer lokal renommierten Galerie ausgewählt worden, die ihn jährlich ausstellt, daneben ist er öfter in Gruppenausstellungen zu sehen. Er macht also auch in der Kunst regelmäßig Dinge zum richtigen Zeitpunkt fertig. »Zeit haben« heißt für ihn also keineswegs faul sein oder nichts tun. Es meint vielmehr Zeit, das zu tun, was man wirklich möchte.25 Genau das praktiziert er durch sein Künstlertum. Im Gegensatz etwa zu den zitierten Managern spricht er nicht nur davon, ohne es zu tun (daher das Sprichwort »Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu«), sondern hier steht eine tatsächlich geübte Praxis dahinter. Noch mehr darüber erfährt man, wenn man die ökonomische Seite mit einbezieht: Zum Leben reicht die Kunst auch bei Filip nicht ganz, daher muss er seine Zeit auch anders gebrauchen. Er arbeitet für Geld in einem Nebenjob, als zweisprachig Aufgewachsener übersetzt er Texte: Filip (K2): Ich arbeite als Übersetzer, so Teilzeit, aber das ist sehr gut bezahlt und ich muss sehr wenig Stunden machen. Aber das Problem ist einfach, ich hätte auch gern einen Job, wo ich wie fixe Arbeitsstunden hätte. Weil da bin ich, die sind so cool drauf, sehr offen, und du kannst in die Ferien. Also ein paar Jahre lang, zwei Jahre lang musste ich ins Büro, ab und zu, und mich zeigen, und dann dort arbeiten. Aber jetzt sind sie nach [xy] umgezogen, und jetzt muss ich gar nicht mehr irgendwie ins Büro und ich habe immer mehr Schwierigkeiten, zu sagen, so jetzt mache ich einen Tag – das ist sehr schwierig. Diese andere, nicht-künstlerische Arbeit ist für ihn zwar relativ mühelos, aber sie wird nur für das Geld erbracht. Zeitsouveränität ist der Luxus, mög-

25 »Aber free time, disposable time, ist der Reichtum selbst – teils zum Genuss der Produkte, teils zur free activity, die nicht wie die labour durch den Zwang eines äußeren Zwecks bestimmt ist« (Marx, MEW 26.3, 253); »Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte« (MEW 23, 280).

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lichst viel Zeit für Kunst zu haben (gegenüber anderer Arbeit, die nur Geld bringt). Dafür ist es nötig, dass diese andere Arbeit, durch welche die Lebensform als Künstler ›erkauft‹ bzw. stabilisiert wird, zeitlich und räumlich fixiert wird, damit sie nicht in die »andere Welt« hinüberschwappt. Eine Hochschätzung freier Zeit (nicht zum Faulenzen, sondern für selbstbestimmte ästhetische Tätigkeit) als Dimension sui generis begegnet auch in den Gesprächen mit Schaffenden aus dem Bereich der Gestaltung. Mehrere der Befragten erlebten die Erfahrung einer abhängigen Beschäftigung vor allem aufgrund dieser eingeschränkten zeitlichen, aber auch räumlichen Selbstbestimmung als problematisch. So berichtet uns eine Grafikdesignerin: Deborah (D8): Wenn ich für diesen Verlag arbeite, ich finde die Projekte super, aber manchmal, ich gehe fast die Wände hoch, nur weil ich weiß, ich muss morgen um acht dort sein. […] Es ist wie so ein extremer Widerstand gegen solche… […]. Ja, die Strukturen sind halt viel strikter, und eigentlich habe ich die, sind die ja mit der Jahresarbeitszeit eigentlich relativ frei, und trotzdem ist es halt, ja, morgens auf den Zug und so und in irgend so ein, ja, an so einen Ort [Interviewer: Ach so?] wo halt irgendwie, weiß auch nicht, nicht der eigene ist, und dann halt dort diese neun Stunden am Stück arbeiten und dann wieder zurückgehen und so, das ist… Man beachte das Motiv dieses Widerwillens. Es ist keine Unwilligkeit zu arbeiten, es ist vielmehr die hemmende Wirkung der zeitlichen wie räumlichen Fremdbestimmung auf die eigene Kreativität. Genau dies berichtet auch die Gestalterin aus der Werbebranche über die Reduzierung ihrer Arbeitszeit: Betty (D10): Also und ich habe auch wie das Gefühl gehabt: du bist einfach so fünf Tage tcktcktcktck dran und durch das, dass es ja doch kreative Arbeit ist, braucht man manchmal doch auch Zeit zum Nachdenken, oder wieder Inspiration suchen. Und wenn man für das keine Zeit mehr hat, dann ist irgendwie etwas, dann macht man die Arbeit auch nicht mehr gut. Der Widerwille gegen eine fremdbestimmte Zeit ist also aus der ästhetischen Eigenwertigkeit, der ästhetischen Eigenzeit motiviert. Das bestätigt uns auch eine andere Gestalterin:

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Nadja (D2): Ich mag es gar nicht, wenn ich keine Zeit habe und einfach das erstbeste machen muss, weil ich keine Zeit habe irgendwie. Dann greift man halt auf Muster zurück, die man kennt, das funktioniert, dann machst du das so und du weißt, »ja okay«. Und der Kunde ist dann meistens trotzdem auch zufrieden, aber irgendwie, wenn ich die Sachen dann nachher nochmal anschaue… vielleicht hat man doch noch eine Idee und also, wenn ich selber daran Spaß habe, das zu entwickeln, dann finde ich eigentlich, ist es ein guter Indikator, dass die Arbeit auch gut wird schlussendlich. Die fehlende Selbstbestimmung über die eigene Zeit wird in den Erzählungen oft verkettet mit einem weitergehenden Konformismus, mit einem Sich-Eingliedern-Müssen in soziale Zwänge. »Aber sie legen eigentlich schon Wert darauf, dass man spätestens um neun kommt und bis mindestens um fünf dort ist«, berichtet Betty aus ihrer Werbefirma, und später sagt sie: Betty (D10): Das ist bei uns schon manchmal open end, so. Dass man dann sagt, »He, ich habe eigentlich mein Zeug gemacht, ich gehe heim«, obwohl viele noch dort sind. Muss man dann schon selber auf sich schauen. Diese Zwänge werden jedoch nicht einfach als solche problematisiert, im Sinne einer globalen Institutionen- und Herrschaftskritik (das könnte erneut als Hinweis auf ein frei f lottierendes, aber wirkungsarmes Narrativ oder auf das Weiterwirken eines geradezu »ständischen« Dünkels verstanden werden, wie in der Einleitung von Franz Schultheis vorgeschlagen), sondern vor allem in ihrer hemmenden Auswirkung auf die eigene schöpferische Tätigkeit. Dafür ein weiteres Beispiel: Interviewer: Also Autonomie als Freiheit, sich die eigene Zeit einteilen zu können? Deborah (D8): Ja, und alles wie so möglichst sinnvoll zu machen und halt so die Prioritäten selber zu setzen und nicht dann halt irgendwas zu machen, weil man das jetzt halt dann macht und eigentlich wäre ich schneller, ich würde am Tag das machen und dann nachts halt das […]. Aber vor allem, ich würde es hier machen und nicht dort [lacht]. Ähnlich klingt es bei der Grafikgestalterin Ena: Auch bei ihr ist nicht nur die tatsächlich fremdbestimmte Zeit mitsamt der Institution dahinter proble-

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matisch, sondern bereits der Schatten, den diese Unfreiheit in die gesamte eigene Zeitgestaltung hineinwirft (eine »Protention« im Sinne Edmund Husserls): Ena (D7): Jeden Tag ist Verschwendung, irgendwohin. Also das große Problem, das ich habe, sind Institutionen. Ich kann mich ganz schlecht einfügen […] ich habe keine Lust. Das ist, also ich habe zum Beispiel mal einen Tag am Donnerstag jeweils unterrichtet, irgend, Werken oder was das war, aber nicht lange. Nicht mal ein Semester, und das war Aushilfe. Und ich fand es schrecklich. Das hat mir die ganze Laune verdorben schon am Montag, muss ich da, ja ich muss Donnerstag dorthin. Und es war super mit den Kindern und alles, das war extrem toll. Aber dieses, einfach dieses Reisen. Dies ist nun weder Weltf lucht noch Autismus. Es geht vielmehr um eine Ref lexion auf die eigenen Schaffensbedingungen, die häufig dazu führt, gegenüber dem »Man« (Martin Heidegger, im O-Ton bei Deborah) oder »Betrieb« (Max Weber) eine Distanz einzunehmen, weil diese sozial in den Konformismus und ästhetisch in die Oberf lächlichkeit führen. Dann nämlich »macht man die Arbeit auch nicht mehr gut« (Betty). Es gilt den zitierten Befragten, sich eher durch überzeugende Produkte zu bewähren als durch eine institutionelle oder zeitpolitische Einpassung. Mit dieser Auseinandersetzung über die Bestimmung der eigenen Lebens- und Arbeitszeit liegen die Befragten thematisch im Zentrum der Politik der klassischen Arbeiterbewegung: Auch für diese standen die rigiden Zeitnormen der Industrialisierung von Anfang an im Fokus der Auseinandersetzung.26 »Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf« (Marx, MEW 42, 190). Künstler- und Sozialkritik sind hier ungeschieden. Allerdings unterscheidet sich die Strategie: Im Sinne von Albert O. Hirschman (1970) wählen die von uns Interviewten seltener das »Voice« (den Kampf innerhalb der Strukturen), sondern eher den »Exit«, indem sie eine Existenz jenseits der Anstellung, jenseits der Lohnarbeit führen. Das gilt zumindest für die Künstler sowie die Selbstständigen unter den Gestal26 E. P. Thompson (1967) beschrieb diese Kämpfe für die prägende Zeit seit 1800. Die IG Metall hat 2017 die flexibel bestimmte 28-Stunden Woche in ihre Forderungen aufgenommen und greift damit ein Vorbild des kreativen Arbeitens auf. Google etwa hat schon längst auf feste Arbeitszeiten verzichtet.

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tenden in unserem Interviewsample (sieben von zehn Befragten). Zwei von den verbleibenden drei Gestaltenden, die angestellt sind, arbeiten in Teilzeit (in einem der Fälle war dies eine harte Auseinandersetzung: »entweder bekomme ich das oder ich gehe«, berichtet Betty). Der dritte Gestalter ist bezeichnenderweise der einzige, der von sozialen Spannungen sowie einer zeitlichen Überlastung im Beruf berichtet. Diese Spannungen betreffen nicht das Verhältnis zum Kunden, sondern zu Vorgesetzten und Kollegen, wenn sie Aufgaben innerhalb einer Firma auf eine Weise verteilen, die nicht den wahrgenommenen Kompetenzen und Arbeitsbelastungen entspricht (zu diesem Aspekt vgl. die Überlegungen zu »Beruf und Berufung« in dem Beitrag von Franz Schultheis).

4. Ästhetische Souveränität und nicht-entfremdete Arbeitsweisen Zeitautonomie bezeichnet die hohe Wertigkeit, die der Möglichkeit zugeschrieben wird, frei über die Verwendung der eigenen Arbeits- und Lebenszeit zu bestimmen. Die nächste Frage wäre dann, ob es in der Arbeit, wenn sie einmal beginnt, weitere Merkmale gibt, die eine künstlerische oder kreative Beschäftigung aus der Sicht der Befragten besonders auszeichnet. Diese Frage berührt sich mit einem weiteren großen Diskurs-Block, von dem man sich allerdings keinen Schrecken einjagen lassen muss: dem Thema der Autonomie der Kunst. Dies ist solch ein riesiges Feld, dass gar nicht unmittelbar klar ist, was sie für den Alltag der Künstler_innen meinen könnte. Es wird in einschlägigen Schriften etwa gebraucht als Ergebnis einer historischen Ausdifferenzierung von Wertsphären (Max Weber) oder Systemen (Niklas Luhmann), in denen eigene Wertkriterien oder Leitdifferenzen darüber entscheiden, was (gute) Kunst ist. Diese Abgrenzung war historisch vor allem gegenüber der Religion wichtig, heute ist sie es eher gegenüber ökonomischen Vereinnahmungsversuchen. Zugleich kann Autonomie auch als ein Funktionsausdruck gelten: autonome Kunst ist Kunst, die für sich selbst steht und nicht dienen will – der Gegensatz wäre hier Ornament, Schmuck, Verschönerung, Begleitwerk oder Propaganda. Kunst verfolgt nach diesem zweiten Verständnis einen Selbstzweck. In diesem Bedeutungsraum bewegen sich auch verwandte Ausdrücke wie »absolut« (absolute vs. Programmmusik) oder »abstrakt« (abstrakte vs. figürliche Malerei etwa).

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Für den Alltag der kreativ Schaffenden spielt vor allem der Bezug zum monetären Bereich eine Rolle. Auf der einen Seite gibt es die Notwendigkeit, ein Einkommen zu erzielen. Auf der anderen Seite muss jedoch die Autonomie des Ästhetischen gewahrt bleiben. Das bedeutet, dass ästhetische Handlungen und Entscheidungen primär nach Maßgabe ästhetischen Empfindens getroffen werden sollten. Akteure aus anderen Feldern (der Wirtschaft, aber auch Politik oder Familie: auch eine Mutter z.B. drängt auf Einf luss: »wieso malst du nicht ein bisschen so«, Miriam) haben im Kernfeld der kreativen Praxis, der ästhetischen Produktion, nicht mitzureden. Andere Imperative müssen unter Bezug auf den Eigenwert der ästhetischen Sphäre abgegrenzt (wenn auch nicht ausgegrenzt) werden. Wie vollbringen die von uns Befragten dieses Grenzmanagement? Zunächst einschlägig für diese Frage ist die Bewertung der ökonomischen Dimension für die eigene Lebensführung. Es fällt auf, dass mehrere Befragte ein umgekehrtes Verhältnis sehen zwischen der Freude an der Arbeit und dem Verdienst: Ein hohes Verdienst braucht nur, wer keine Freude an der Arbeit hat (das entspricht dem ökonomischen Verständnis von Arbeit als Unlust, disutility), während jemand, der gern arbeitet, nicht ständig auf das Geld schielen muss – jedenfalls nicht als Kompensation für Arbeitsleid. Man fühlt sich an Fromm (1976) erinnert. Der selbständige Grafikgestalter etwa berichtet von der einstigen Alternative, als Banker zu arbeiten: Markus (D1): Ich hätte mich damit arrangieren können. Aber ich glaube, ich hätte sehr viel mehr Kompensation gebraucht, als Ausgleich dazu. Auf der Habenseite der kreativen Arbeit werden anstelle eines hohen Lohnes erstaunlich unterschiedliche Dinge angeführt. Es ist nicht allein die unmittelbare Befriedigung, welche die freie Arbeit und Bewährung am Material und die sachbezogene Interaktion mit anderen Menschen erbringt, obzwar das der Plasmakern der kreativen Arbeit bleibt. Die Grafikgestalterin nennt zwei weitere Aspekte: Zum einen ist eine kreative Tätigkeit meist in Netzwerke eingelassen, die bis hin zur Prägung eines ganzen Stadtteils gehen. Diese alternativen Lebensformen sind in vielen Fällen selbstorganisiert und daher wenig teuer (»man kann extrem günstig leben«, sagt uns Deborah –

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zumindest bis zum Zeitpunkt der Gentrifizierung).27 Zum anderen gibt es andere Währungen, mit denen eine solche Tätigkeit einhergeht: neben der Freude an der Arbeit etwa die einer sozialen Wertschätzung: Deborah (D8): Man fühlt sich ja dann nicht benachteiligt. Weil man ist wie so ein Teil von einem Kreis, und man bekommt dort, na, auch Wertschätzung und ist wie an etwas dran, was einen interessiert, und ich finde dann wird die Lohnfrage viel nebensächlicher. Weil wenn ich in eine Agentur gehe und etwas mache, was ich nicht will, und jemand sagt, du bist um acht hier und gehst erst um halb sieben wieder, dann will ich ja mit Geld entschädigt werden. Und so habe ich überhaupt nicht an irgendwen die Forderung, ihr müsst mir jetzt viel Geld dafür geben. Eine befragte Schmuckdesignerin rahmt diesen Aspekt als Lebenssinn, als Ergebnis einer geglückten Lebensentscheidung (das erinnert an Charles Taylors starke Wertungen): Regula (D9): Es entschädigt eben vielleicht, dass du eben dann halt nicht Ende Monat 10.000 Franken hast, dafür hast du eben einfach diese Freiheit und hast es so gewählt und du weißt auch, du hast es so gewollt. Und ich glaub, aber das ist halt ein bisschen ein Glück, du machst etwas, das dich sehr befriedigt. Also ich weiß, ich möchte bis an mein Lebensende nie etwas anderes machen. [Siehe hierzu auch die Überlegungen zum »Sich-nahe-Sein in Abschnitt 4.] Umgekehrt berichtet eine Gestalterin aus dem Bereich der Werbung: »Der Lohn ist jetzt wirklich nicht schlecht«. Sie leidet jedoch unter dem gegenteiligen Effekt, der Standardisierung und Kommerzialisierung (darin berührt sie sich nicht zuletzt mit dem Künstler Raul, dazu s.u.): Betty (D10): Und jetzt ist es sehr kommerziell, was ich schon manchmal, was mir so ein bisschen stinkt. Aber drum ist eben zum Beispiel auch die 80 Prozent sehr schön, wo ich sagen kann, He, jetzt tu ich es halt versuchen, ein biss27 Darin kann man eine soziale Ungerechtigkeit sehen: Ein kreativer Sektor (Galerien, autonome Kneipen, Läden etc.) wertet Stadtteile ökonomisch auf, wird aber an den Gewinnen durch Preissteigerungen fast nie beteiligt und schließlich vertrieben.

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chen zu trennen, so, das ist das Business und das andere ist wirklich das, was ich für mich mache. Angela McRobbie hat untersucht, wie dieser wahrgenommene trade-off (man ist bereit, für eine gute, und das heißt »freie« Arbeit im Bereich der Kreativität ein Minus im Lohn in Kauf zu nehmen; während man für weniger selbstbestimmte Arbeiten mehr Lohn erwarten darf) ausbeutbar macht für neoliberale Strategien der Aushöhlung sowohl der Arbeitsrechte wie auch des Sozialstaats (McRobbie 2016): Sobald Arbeit Spaß macht, so die Logik, muss sie ja nicht auch noch gut bezahlt werden. (Vielleicht ist das umgekehrt auch ein Grund, warum gerade gutbezahlte Akademiker so oft über ihre hohe Arbeitslast klagen.) Tatsächlich lässt sich gerade im Bereich kreativer Berufe eine Prekarisierung beobachten (Loacker 2010; Manske 2016). Unsere Befunde zeigen aber gerade nicht, dass das Versprechen einer höheren Befriedigung durch ein freieres kreatives Arbeiten nur ein ideologischer Schein wäre, der die Menschen in die Armut locken soll. Vielmehr hat die neoliberale Prekarisierungsmaschinerie nur deswegen so erfolgreich über die westlichen Länder hinwegrollen können, weil es diesen pull-Faktor hin zu kreativen und künstlerischen Tätigkeiten tatsächlich gibt (auch ohne den von McRobbie beschriebenen push-Faktor der neoliberalen Politik), und dass die Bedeutung einer hohen Bezahlung motivational tatsächlich in den Hintergrund rückt, zumindest wenn das Überleben eine Zeitlang gesichert ist. Viele Menschen sind in einer selbstbestimmten Auseinandersetzung mit einem nach ästhetischen oder funktionalen Gesichtspunkten zu formenden Material tatsächlich zufriedener als in anderen, weniger freien und weniger schöpferischen Tätigkeiten. Politisch kann es daher nicht darum gehen, die Arbeitsuhren wieder zurückzudrehen in Richtung Standardisierung, Stechuhr und Stumpfsinn, sondern eher darum, dieser Art von Tätigkeit politisch mehr Raum und ökonomisch gewisse Sicherheiten zu ermöglichen.28 Das ist wichtiger als reines Wachstum.

28  McRobbie (2016) beobachtet in Berlin eine Politik der staatlichen Absicherung kreativer Arbeit, die sie aus der englischen Außensicht nur begrüßen kann. Unsere Interviews in der Schweiz spielen in einer Region, in der die Prekarität im Vergleich mit Berlin eine noch geringere Rolle spielt. Umso eher lassen sich daher die anziehenden Aspekte dieser Form von Arbeit studieren, da sie noch nicht in derselben Weise prekarisiert sind.

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Hier empfiehlt sich ein Blick zurück auf Gestalterin Betty (D10), die in der Werbung arbeitet und nun zwanzig Prozent ihrer Arbeitszeit für Eigenes nutzt. In dieser Zeit arbeitet sie an Projekten, die ihr wirklich am Herz liegen und in denen sie autonom ist (so produziert sie ein Video für eine befreundete Band, wo sie sich nicht gestalterisch hereinreden lässt – »also sie reden nicht groß rein«). Interessanterweise hat der nur wenig ältere selbstständige Grafiker Markus nach eigener Auskunft über einen solchen freien Tag pro Woche den Weg von der ästhetischen in die ökonomische Selbstständigkeit gefunden. Mit einem Kollegen hat er zunächst einen Tag pro Woche »frei«, also jenseits von Anstellung und Verkaufsdruck gearbeitet. Daraus wuchs dann etwas: Markus (D1): Diesen freien Arbeitstag, den behalten wir bei, den behalten wir frei. Wir wollen in dieser Zeit einfach schöne Sachen machen. Oder Sachen machen, die uns interessieren. Einfach richtig von Herzen interessieren. Mit den Werken aus dieser frei genutzten Zeit erzielten sie Achtungserfolge und konnten sich rasch selbstständig machen. Vor diesem Hintergrund wird die ökonomische Selbstständigkeit nicht wegen des Geldes, sondern vor allem wegen der durch sie ermöglichten ästhetischen Selbstständigkeit geschätzt: Markus (D1): So sind wir in diese Selbstständigkeit reingewachsen, ohne dass wir das eigentlich – das ist nicht so ein bewusster Akt gewesen. Mehr so ein Herzensentscheid, um einfach Sachen zu machen, die uns interessieren. Und das war weitestgehend, also nicht ganz, aber weitestgehend ist das bis heut eigentlich so geblieben, das wir wirklich ganz viele unserer Projekte, sind Projekte, wo wir- hinter denen wir voll dahinterstehen können. Nun sollte man an dieser Stelle nicht den soziologistischen Kurzschluss ziehen,29 dass ästhetische und ökonomische Selbstständigkeit, wenn sie wie hier Hand in Hand gehen, bereits in der Sache ineinander übergehen und unentscheidbar würden (»der« Künstler sei der Typus »des« Unternehmers oder umgekehrt). Das wäre verkürzt, denn gerade die Grenze zwischen 29  Diesen habe ich am Beispiel von Andreas Reckwitz und Cornelia Koppetsch näher kritisiert in Henning 2016a.

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Kommerz und Kunst ziehen die von uns Befragten aktiv und klar. Ein Produktdesigner etwa urteilt in dieser Sache: Daniel (D4): Man kann auch nie garantieren, ob ein Produkt dann wirklich im Markt funktioniert. Ähm, ich glaub auch, man darf sich als Gestalter nicht von dem leiten lassen. Es verbietet sich nicht nur, weil sich dies ökonomisch nicht kalkulieren lässt, sondern auch, weil dies den Boden der ästhetischen Selbstbestimmung verließe. Die Schmuckgestalterin Regula benutzt für eine solch ästhetische Abgrenzung das Wort »Bahnhofstraßenschmuck«.30 Dabei handelt es sich eher um eine symbolische Grenzziehung (Sachweh 2013). Doch es gibt auch handlungsnähere Abgrenzungspraktiken, entgegen der verbreiteten These von der weitgehenden »Entgrenzung der Künste« (siehe Henning 2016a). Ein Künstler, der zugleich über lange Erfahrungen als Gestalter verfügt, berichtet über seine Konf likte zwischen Kunst und Kommerz (oder, wie Manske 2016 titelt: »zwischen wirtschaftlichem Zwang und kreativen Drang«) in der Zeit als Gestalter Folgendes. Zunächst eine Schilderung über die Tätigkeit als Gestalter bei einem Printunternehmen: Marc (K3): Aber ich habe dann gemerkt, die Leute, das waren dann auch so, das waren so alteingesessene Typografen, die irgendwie, da gibt es null Experimente. Das ist wirklich, also ich habe es, also am Anfang war ich schockiert, was ich dort vorgefunden habe. In einer vorangehenden Tätigkeit als Gestalter hatte er zuvor bereits Wege gesucht, den Einf luss dieser beengenden Praktiken zurückzudrängen: Marc (K3): Ich stellte mir schon jeweils die Sinnfrage mit diesen Kunden, wollen die nicht mehr, als nur immer Geld machen? Und habe dann, ich habe damals recht viel gezeichnet, ich habe das immer weiterverfolgt… Ich kann

30 In manchen Städten befinden sich teure Einkaufsstraßen ja direkt in der Nähe des Bahnhofs. Gerade dort aber sind die Produkte standardisiert. Regula unterscheidet davon den »Künstler-Schmuck«, der so auffällig ist, dass man ihn nicht wirklich tragen kann, sowie dasjenige, was sie selbst anfertigt: ein handgemachter und -entworfener Schmuck in personalisierten Einzelstücken.

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mich erinnern, dass ich im Büro mit Jürgen mal einen weißen Strich gezogen habe und dort stand ›unkommerzielle Zone‹ irgendwie so. Dass ich also dort einfach mein Zeug machen will und dort nicht mit Kunden zu tun haben will [lacht]. Diese Szene veranschaulicht bildhaft, wie jemand um seine künstlerische Tätigkeit Grenzen zieht gegenüber dem unmittelbar ökonomischen Bereich der Verwertung kreativer Produkte. Von solch aktiven Grenzziehungen berichten auch andere Befragte. Nimmt man etwa den Künstler, der versucht, sich jenseits des etablierten Galerienmarktes neue Absatzwege zu verschaffen. Die Art und Weise, wie er diese Schaffung eines lokalen Marktes schildert, zeigt, dass er sich keineswegs innerlich verbiegt und an (Kunst-)Marktprozesse anpasst, sondern weiterhin Nonkonformist bleibt: Ben (K6): Oder jetzt zum Beispiel habe ich eine Aktion gestartet, dass ich jetzt zuerst mal auf dem Kulturfest da beim In-Quartier einen Platz erhalten habe, bei dem ich mich anerbiete, zum Beispiel dein Büro zu malen. Dass ich jetzt dir ein Bild aufschwatze und sage: ›Ja ich möchte – dein Büro interessiert mich, ich möchte das, was du, wo du lebst, wo du arbeitest, ich möchte davon ein Bild machen und ich möchte dir das Bild natürlich dann nachher verkaufen. Und ich werde das quasi auf meine eigene Art machen. Also ich bin an deinen Ideen interessiert, aber du kannst nicht sagen, ich möchte diese Flasche von da oben. Aber ich habe ein sehr großes Ohr dafür, was dich an deinem Büro interessiert, was dir gefällt, wo du sitzt, äh, was du denkst und so weiter. Und dass ich das irgendwie mit meiner Arbeit umsetzen kann.‹ Und somit ist das Produkt eigentlich schlussendlich ein Produkt von uns beiden [lacht]. Die Kooperation erinnert an das, was sich oben hinsichtlich der Rolle der Kunden beobachten ließ. Der Künstler markiert gegenüber dem potentiellen Auftraggeber, mit dem er kooperieren möchte, eine ästhetische Autonomie über das Werk (»aber du kannst nicht sagen, ich möchte diese Flasche von da oben«). Im gestalterischen Bereich kann ein Auftraggeber das in der Regel, denn er zahlt ja dafür und hat daher das letzte Wort zum Produkt. Dieser wirtschaftlich findige Künstler zieht dagegen eine klare Grenze gegenüber potentiellen Abnehmern, obwohl er von diesen im gewissen Sinne ökonomisch abhängig ist. In dieser Grenzziehung geht es um eine inhaltliche Unabhängigkeit im Kernbereich kreativer Kompetenz. Diese ästhetische Auto-

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nomie im Sinne einer eigenständigen Wertsphäre ist zentral für viele von uns betrachtete Akteure. Sie ist eine über Werke und Werte zugleich: Kunstwerke und Designprodukte werden begriffen als Objekte, die primär einer ästhetischen Beurteilung unterliegen. Dass dies in der Gestaltung ähnlich gilt wie in der Kunst, macht folgende Stelle aus dem Gespräch mit einer Schmuckdesignerin deutlich. Sie berichtet von ihrer Reaktion auf einen Galeristen, der von ihr ein effizienteres Wirtschaften verlangt hatte: Nadja (D2): Das erste Telefon mit dem ist gewesen, dass er mir gesagt hat, ›ja, weißt du, wir müssen dann schauen, dass wir das billiger produzieren, ist ein bisschen zu teuer‹, und hat schon so Ideen, und dann habe ich gesagt, nein, das kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Ähnliches berichtet die Künstlerin, mit der wir oben eingestiegen sind. Sie bestückt inzwischen hin und wieder Einzelausstellungen, auf denen sie recht gut verkauft. Auch sie berichtet im Bewusstsein dieses Erfolges davon, wie wichtig es war, sich von einem kommerziellen Druck abzusetzen und nicht die Marktgesetze von Angebot und Nachfrage zu befolgen – wie es ihr ein Galerist ebenfalls nahegelegt hatte: Miriam (K1): Ich hab auch einmal eine Galerie gehabt, die anderes von mir erwartet hat, und das war eine Katastrophe für meine Arbeit, oder. Ich hab nicht mehr schaffen können, weil er das Gefühl gehabt hat, die müssen größer sein, es müssen mehr sein – Ich brauche recht einen geschützten Raum, damit es wirklich funktioniert. Und von dem her bin ich auch eine Künstlerin, die… Eben, ich sehe meine Grenze extrem. Also auch im Kunstmarkt, das ist nicht so, also, es gibt einfach nicht mehr. Das geht wirklich nicht. Eine solche Souveränität im Ästhetischen, in der Gestaltung der eigenen Produkte, ist noch schwerer in andere Tätigkeitsfelder zu übertragen als die zeitliche Dimension. Dieser Punkt sperrt sich besonders gegen die Boltanski-These der Verwirklichung von Künstler-Idealen in der neuen Arbeitswelt. Damit ist ein weiterer Aspekt der Autonomie benannt: Für Boltanski/ Chiapello (2003) war die Künstlerkritik, die sich nach ihrer Auffassung inzwischen im Neoliberalismus umgesetzt habe, vor allem eine Kritik an der Entfremdung. In der f lexibilisierten Arbeitswelt könne man Entfremdung kaum mehr kritisieren (dazu Henning 2013). Das, was die Künstlerinnen

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und Gestalterinnen hier berichten, entspricht allerdings noch immer einer wenig entfremdeten Arbeit, und sie markieren selbst den starken evaluativen Unterschied zu anderen, weniger freien Formen von Arbeit. Angesichts der Sonderstellung der bildenden Künstler (vgl. Graw 2017) mag das vielleicht wenig verwundern. Wie steht es daher um diesen Aspekt bei den Gestaltenden? Die von uns befragten Gestaltenden markieren in der Regel eine Differenz gegenüber der reinen Kunst: Sie liegt darin, dass eine Gestaltung auf ein bestimmtes Bedürfnis reagiere und damit ein konkretes Gegenüber adressiere (»Ich will, dass es jemand will«, so Deborah, D 8). Allerdings wird der »Coolness«-Faktor der kreativen Arbeit dennoch gerade ihrer »Autonomie« zugeschrieben – das meint vor allem die Art des Arbeitens (»sehr viel selbstbestimmt, so mit wem arbeite ich, mit wem mache ich was«, Deborah). Handlungspraktisch meint das zum Beispiel, dass man den ganzen Prozess in der Hand hat und nicht nur kleine Abschnitte. Ästhetisch autonom sein heißt also auch, dass man die Dinge »von A bis Z« machen kann und damit im Kleinen die entfremdende Arbeitsteilung auf hebt. Wer von der Planung über die Ausführung bis zum Verkauf der Produkte selbst zuständig ist, erfährt darin auf besondere Weise sein eigenes Fertigungs- und Koordinationsvermögen. Was uns die selbstständige Schmuckgestalterin Nadja (D2) berichtet, hört man ähnlich auch von anderen; sogar von solchen, die bereits Mitarbeiter angestellt haben, wie Textgestalter Markus: Nadja (D2): Das ist eigentlich wie ein Riesenprojekt, was (.) alles beinhaltet, dass ich (.) eben selbständig bin, dass ich alle Entscheidungen so treffen kann, dass ich die kleinen Produkte von A bis Z machen kann, dass ich den Kundenkontakt habe. Deborah (D8): Du hast halt wie so einen viel größeren Wirkungskreis, weil ich meine Projekte halt rundum betreuen kann. Und ich kann sie halt auch inhaltlich viel näher begleiten, und ich kann sie quasi auch mit dem Autor wie so erarbeiten. Markus (D1): Wir arbeiten lieber so – dass wir von A bis Z ein, ein Projekt begleiten können – und haben auch das Gefühl, dass auch Mitarbeitende einfach mehr Freude an der Arbeit haben so schlussendlich. Dass sie bei den Entscheidungsmomenten dabei sein können. Dieser Aspekt des eigenen Arbeitens wird von den Gestaltenden wie von den Künstler_innen sehr hoch eingeschätzt. Aus der Sicht des Produkt-

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designers Daniel (D4), der in komplexere industrielle Fertigungstechniken eingebunden ist, stellt sich dieser Holismus zwar als »niedrigkomplex« dar. Bezeichnenderweise sieht jedoch auch er es als erstrebenswert an, hin und wieder eine Arbeit »als Ganzes entwerfen« zu können. Da es in einer selbstständigen Arbeit keine Vorgesetzten gibt (und damit keine unmittelbare Herrschaft) und von familiären Verpf lichtungen und Deadlines abgesehen auch eine weitgehende zeitliche Selbstbestimmung, darf man hier von einer nicht-entfremdeten Arbeitsweise sprechen – und das mitten im Vampirkapitalismus, wo Entfremdungsphänomene in der Arbeit ansonsten wieder verbreitet sind.31 Dieser bemerkenswerte Befund macht die Attraktivität dieser Art zu arbeiten und die Nachteile, die viele Menschen um ihrer willen in Kauf nehmen, recht gut nachvollziehbar. Ähnlich wie bei der Entschleunigung zeigt sich bei den Befragten auch bei diesem Thema eine gewisse Vertrautheit mit der Thematik. Diese stammt eher aus der Sache selbst als aus Theorien und Büchern (auf die Frage, ob sie soeben eine »Entfremdung« beschrieben habe, reagiert etwa Deborah mit der Nachfrage, was das denn meine). Die folgende Stelle etwa ist erstaunlich reich an Bezügen zu der akademischen Diskussion um Entfremdung: Deborah (D8): Der soziale Aspekt ist, finde ich, glaub schon extrem wichtig im Sinn von – das geht auch wieder in die Autonomie rein, aber dass ich wie quasi dann dort, wo ich arbeite, zuhause bin, und mit diesen Leuten dann quasi arbeite, die mich interessieren und nicht von außen irgendwelche Strukturen. Ich glaube, das ist eigentlich das, oder ein großer Teil auch davon, warum ich das mache. Dort ist auch wieder die Parallele so quasi zu meiner Herkunft oder zu diesem, dieses Bäuerliche. Also ich habe das Gefühl, dort nähert es sich jetzt wie plötzlich wieder an. Also ich bin dann dort, also auch Arbeit und Privat überhaupt nicht trennen und ich habe gesagt, manchmal, das ist meine Scheune hier. Ich bin jetzt ja auch irgendwie von zu Hause so nach da, und hier ist der Computer, also gehe ich hier das machen, aber dort mache ich das, und dass ich wie dieses, diese Trennung, das finde ich irgendwie extrem schwierig, dass man irgendwie so wo hingeht, wo man eigentlich kein Teil davon ist oder seine Arbeitskraft irgendjemand zur Verfügung stellt, und dann dafür entlohnt [wird].

31 Dazu siehe Rosa 2013, Neckel/Wagner 2013, Henning 2015.

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Unterschieden von dem Wert der Autonomie wird der Aspekt des Zuhause-Seins-in-der-Arbeit, der schon von Karl Marx als zweite Gegenfolie zur Entfremdung aufgerufen wurde (»Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause«, MEW 40, 514.) Die Assoziation mit der Herkunft aus dem Bäuerlichen und der Scheune muss allerdings nicht dazu verleiten, hierin nur eine Nostalgie zu sehen.32 Es geht um kein Zurück ins Gestern, sondern um die Ermöglichung einer sinnhaften Aneignung der eigenen Arbeitsbedingungen. Für diese Balance bilden die Kindheitserinnerungen auf dem Bauernhof das Muster. Zu einer solchen Balance unter erwachsenen Bedingungen gehört allerdings auch Freiheit (und die war im Bäuerlichen sicher nicht immer gegeben): man wählt sich selbst »Leute«, die einen »interessieren«. Die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben wird also nicht als Belastung erlebt (wie es in der Soziologie der Industriearbeit behandelt wird; klassisch Voß 1998), weil die Arbeit von vornherein nicht als ein »außen« erlebt wird. Es findet kein äußerlicher Zwang, keine Selbst-Veräußerung der eigenen Arbeitskraft an einen Käufer statt (was bei Marx die Ursache der Entfremdung ist, z.B. in MEW 40, 514). Daher wird nicht, wie in der entfremdenden Büro- oder Industriearbeit, das Privatleben durch die fremdbestimmte Arbeit aufgesogen, sondern umgekehrt die selbstbestimmte Arbeit durch die Nähe zum eigenen Leben noch zusätzlich bereichert. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Dass das In-der-Arbeit-zuhause-Sein kein Einkapseln in Schutzzonen meint, gibt auch eine andere Gestalterin zu erkennen: Ena (D7): Nein, aber was ich halt schon liebe ist, dass ich nirgends hin muss. Also ich kann dort arbeiten, wo ich will, habe keine Menschen um mich herum, die mich stören oder so, ich habe meine Musik, ich habe diese Sachen. Und aber auch, ich bewege mich auch oft.

32  Zur Unterscheidung von Nostalgie und Autonomie als Gegenfolien der Entfremdung Henning 2015, 197ff. »Aber wenn wir anfangen, außer uns zu wirken, dann zieht uns oft der Strom mit sich fort, wir gehen aus uns heraus, zerstören die heimische Hütte in uns, und in den Palästen, die wir außer uns auftürmen, bleiben wir ewig Fremdlinge.« (Brief an Karoline, 20.3.1790, in: Humboldt 2014, 256)

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Es geht nicht um Flucht, sondern um eine selbstbestimmte sinnhafte Aneignung. Die Gestalterin fühlt sich zuhause in ihrer Arbeit, obwohl sie beim Arbeiten nicht stets im Wortsinne zuhause, sondern oft auch unterwegs ist (sie arbeitet z.B. gern im Zug, besucht Partnerinnen in anderen Städten etc.). Der Kontrast zu anderen Arbeitsweisen, aus denen uns die Befragten ebenfalls zahlreiche Erfahrungen schildern, ist damit deutlich geworden: man kann die Kontrasterfahrung unterstellen, dass andere Arbeiten häufig weniger selbstbestimmt sind: Man steht unfreiwillig unter Zeitdruck, bekommt Weisungen, bestimmt weder über das (ganze) Produkt, noch über dessen Verwendung mit, kann auch die Kollegen, Kontexte und Arbeitsweise kaum beeinf lussen usw. Daran gemessen erscheint die kreative Arbeit in Kunst und Gestaltung, soweit sie selbstbestimmt geschieht, noch immer als ein »Reich der Freiheit«.33

5. Sich-nahe-sein Es gilt noch eine weitere Dimension von den anderen abzuheben, die ebenfalls in der schöpferischen Arbeit begegnet und als überaus wertvoll erlebt wird. In der Arbeit mit dem Material, das auf seine Weise Widerstände setzt und so an der Gestaltung mitarbeitet, bildet sich, wie wir gesehen hatten, über die Zeit eine Meisterschaft aus (vgl. Sennett 2008). Das Material wird dabei nicht zwangsweise überformt, sondern als mitschaffende Instanz erlebt und eingesetzt. In der Auseinandersetzung mit dem Materialpol wird aber zugleich auch der Subjektpol prägnanter, denn man lernt über die Zeit nicht nur das Material, sondern auch die eigenen Fertigkeiten (und Unfertigkeiten) besser kennen. Diese Erfahrung mit sich selbst im Anderen ist aus der Sicht einer dynamischen Ausdrucksanthropologie gut nachvollziehbar: In dem, was die Menschen produzieren, was sie gebrauchen und weitergeben, drücken sie sich ein Stückweit selbst aus – sie »entäußern« sich, heißt es daher schon bei Hegel. Durch die Art und Weise, wie dieser Ausdruck von

33  »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere [!] Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es […] beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.« (Marx, MEW 25, 828)

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anderen Menschen aufgenommen und beantwortet wird, bekommen sie auf veränderte Weise etwas von sich selbst zurück (dazu Henning 2015, 13ff.). Auf diese Weise wachsen Menschen und verändern sich. Sie »bilden« sich im Sinne der Bildungsphilosophie von Herder und Humboldt, und spannen zugleich ein Netz zwischen sich, den Dingen und den anderen Menschen. Diese komplexe »Ökologie« (im Sinn von Isabelle Stengers) kann durch Entfremdungsphänomene empfindlich gestört werden, so dass die Beziehung sowohl zu den anderen Menschen, zu den Dingen um uns herum wie auch zu uns selbst in ein Ungleichgewicht gebracht wird. Diese Schief lage kann zu Leiden führen – etwa an der Sinnlosigkeit der Arbeit, die umso belastender wird, je anstrengender und je fremdbestimmter die Tätigkeit ist, oder an dem Gefühl, dass man sich selbst immer fremder wird. Als Gegenfolie dazu werden in der Literatur oft künstlerische Lebens- und Arbeitsformen in Anschlag gebracht, da die Künstler_innen sich von den Zwängen des bürgerlichen (und umso mehr: des proletarischen) Lebens tatsächlich ein Stück freimachen können – das ist nicht nur romantische Verklärung, sondern auch gelebte Wirklichkeit: sie unterliegen keinem strikten Zeitregime, und sie bestimmen freier über ihre eigenen Werke und ihren Lebensstil insgesamt. Das führt dazu, dass sie sich in ihren Tätigkeiten und ihren Werken eher wiedererkennen und sich auf diese Weise möglicherweise selbst näher kommen können als andere Berufsgruppen. Hören wir dazu einen Produktdesigner: Daniel (D4): Ich kann auch nur Produkte machen, die mich selber auch überzeugen. Und damit hat man eine gewisse – ja, man macht Produkte, die einen selber wirklich überzeugen und damit hat man automatisch eine gewisse Selbstverwirklichung [lacht] eigentlich geschaffen, das ist eigentlich ein Teil von einem selber, oder, was man macht. [Interviewer: Also die Produkte?] Mhm. Es gibt hier ein besonderes Verhältnis zu den eigenen Produkten. Kreative möchten zwar ihre Produkte verkaufen, aber das durchaus nicht an beliebige Abnehmer. Bei aller Problematik benennt der Begriff der Selbstverwirklichung noch immer ein Bei-Sich-Selbst-sein und inneres Wachsen durch die weitgehend selbstbestimmte Auseinandersetzung mit dem Material sowie durch die Reaktionen der anderen (dazu Henning 2018a). Dass Produkte dabei eine besondere Rolle spielen können, zeigt sich auch in diesem Zögern

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einer jüngeren Künstlerin, ein bestimmtes Werk von sich zu verkaufen, obwohl sie das Geld gut brauchen könnte: Mia (K8): Ich habe eine Arbeit und die hätte ich jetzt verkaufen können und wahrscheinlich auch megateuer, aber ich habe gemerkt, ich kann mich irgendwie einfach noch nicht trennen von dieser Arbeit. Und die wäre zwar auch in eine Sammlung gekommen und das ist sicher ein guter Platz, oder? Aber eigentlich normalerweise, private Sammlungen sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich, und irgendwodurch habe ich das Gefühl gehabt, es ist noch nicht Zeit, um jetzt diese Arbeit zu verkaufen. Dieses Zögern hat damit zu tun, dass die Arbeitsprodukte einen Teil der Persönlichkeit des Schaffenden enthalten – gerade die Freiheit in der Arbeit macht das möglich: Mia (K8): Ich glaube, es ist einfach ein Bedürfnis, sich mitzuteilen und eben seine eigenen Ideen, also so seinen Beitrag zu leisten einfach zum Ganzen. Ohne von etwas abhängig zu sein. Also die Freiheit auch, einfach machen und sagen zu können, was man denkt. Halt, ich drücke mich aus mit meiner Kunst [s.o. zur Kunst als Sprache, CH]. Vielleicht nicht mit Worten, ich denke zwar sehr viel dabei und habe auch eine Riesenwut in mir manchmal und so, und ich drücke mich halt einfach so aus. Es ist ein Mittel, sich auszudrücken und es hat sehr viel mit mir zu tun. Es ist daher nicht übertrieben, einen Vergleich mit der Entfremdungstheorie von Karl Marx zu wagen. In ihr fängt Entfremdung in der Arbeit damit an, dass den Arbeitenden diese Kontrolle über ihre eigenen Produkte und ihre produktiven Tätigkeiten fehlt – womit letztlich der selbstbildende Rückf luss ihres Ausdrucksverhaltens gestört ist, da auf diese Weise auch weniger (oder weniger selbstbestimmtes) zurückkommt: Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich […]. Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit. (Marx, MEW 40, 517)

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Die freie Verfügung über die eigenen Produkte bietet daher die Möglichkeit, ein strukturell entfremdendes Arbeiten zu überwinden – zumal wenn die beschriebene Zeitsouveränität hinzukommt. Daher wird die kreative Arbeit im Vergleich mit anderen Tätigkeiten als eine beschrieben, bei der man sich selbst näherkommen kann (»sich« meint hier: den eigenen schöpferischen Vermögen, die sonst womöglich schlummern, aber auch den eigenen Untiefen und Schwächen, die während des Prozesses auftauchen können): Miriam (K1): Also das ist etwas, wo man sich selbst auch recht kennen lernt. […] Ich bin einfach mehr ich selber, wenn ich das mache. Mia (K8): Als Künstler, arbeitet man ja eigentlich für sich, oder? […] Also bei einem Künstler dreht sich ja wirklich alles immer um sich selber eigentlich. Solche Erfahrungen mit sich eine Selbstverwirklichung zu nennen (und zwar nicht im abwertenden Sinne) setzt voraus, dass man von einem eigensinnigen »Selbst« überhaupt sprechen kann, das verwirklicht und gelebt werden kann und will. Angesichts einer konformistischen Facebook-Gesellschaft und einer weitgehend sozialkonstruktivistischen Subjekttheorie in den Sozialwissenschaften ist das keine Kleinigkeit. Aber genau das tun die Kunst- und Gestaltungs-Schaffenden, und das ist philosophisch von Belang: Miriam (K1): Ich glaube, ich habe mich für mich entschieden. Julia (K5): Darum ist es mir dort [in einer Textilfirma] auch so gut gegangen, so lang, weil ich dort so frei arbeiten konnte, oder? Und ähm eigentlich sehr [m]ich selbst habe sein können und das, was ich als Idee entwickle, auch umsetzen kann und mich dort nicht immer runter reduzieren muss auf so kleine Blümlein. Zwar mag die Rede von Selbstverwirklichung in der Kunst für manche ein abgedroschener Topos sein (vgl. Binswanger 1949). Doch gerade der Umstand, dass er sich so lange hält, ist eher als Anhaltspunkt dafür zu deuten, dass dem in der gelebten Erfahrung (›experientalistisch‹) tatsächlich etwas korreliert, statt umgekehrt das Reden davon als Beleg zu nehmen, dass dem nichts entspricht. Auf eine Begegnung mit sich bereitet bereits das Studium vor, denn schon in dieser Zeit ist man stark mit sich selbst konfrontiert, etwa in längeren Phasen des Stockens und der Suche. Ein Künstler erinnert sich daran, wie sein Mentor ihn offensiv fragend mit dieser Hürde konfrontiert hat:

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Dirk (K4): »Hey Dirk, ich möchte dir eine Frage stellen: Was glaubst du, hältst du das aus, wenn du drei Wochen (.) mit dem Finger in der Nase aus dem Fenster guckst und nicht weißt, was machen und sich der Nachbar irgendwie drüber wundert. Hältst du das aus?« Und ich, und das begreife ich erst jetzt, was das heißt, oder. Diese harten Erfahrungen von Einsamkeit und Freiheit werden bereits im Kunst-Studium als eine Art Filter erlebt. Dies ermöglicht einen Vorgeschmack auf das spätere Berufsleben (Schürkmann 2017, 57ff.). Nicht wenige lassen sich davon abschrecken und springen ab: Filip (K2): Es war so ein Selbstfindungsding, und das finde ich auch okay, aber das führt halt manchmal dazu, dass von vielleicht 20 Studenten am Schluss, schlussendlich, je nachdem eher wenige dann wirklich weitermachen. Also das ist, das Studium kann wie, macht einem vielleicht auch schnell klar, nee, das ist nicht das Richtige oder ich bin nicht für das gemacht, und das ist auch okay, und dann machen sie was anderes. […] Das braucht einen Drive, das braucht noch viel, man muss sich ein bisschen Gedanken machen, man muss die Sachen machen. Es braucht auch viel Überwindung teilweise, weil man macht so, man macht Sachen, die eigentlich keinen interessieren, man macht sie – vor allem im Studium: Man macht sie nicht für etwas, man ist, man hat ein Studio und es ist wie so eine Selbst-, eine Weiterentwicklung, von einem selber und von so Ideen, oder Gedanken. Von solch experimentellen Erfahrungen im Studium berichtet auch eine Gestalterin: Deborah (D8): Dieses Netzwerk und dieser Freiraum, das mal zu denken, also, dass es quasi legitim ist, irgendwelches Zeugs auszuprobieren, das ist eigentlich viel relevanter als was einem dann effektiv mitgegeben wird. Man muss bei der Rede von der Selbstentdeckung und -Entwicklung im Rahmen kreativer Arbeit keineswegs in Harmonieseligkeit verfallen. Dieses Leben bietet gute Möglichkeiten für so etwas, doch ist es darum noch lange kein Zuckerschlecken; nicht allein wegen des Armutsrisikos. Auch die eigene Schaffenskraft steht in schwierigen Phasen auf dem Spiel. Dirk etwa bringt zum Ausdruck, dass diese Arbeit an sich selbst kein Kinderspiel ist:

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Dirk (K4): Das hat letzten Endes damit zu tun, wie weit vertraut man auf sein Können, seine Vision. […] Also ich bin jetzt voller Ideen. Das habe ich jahrelang nicht gehabt, ich habe jahrelang nach Ideen gesucht. Interviewer: Und wovon hängt das ab? Dirk: Ja, dass du immer näher zu dem kommst, was du zu tun hast. Interviewer: Also auch zu dir selbst? Dirk: Ja, ja logisch, das hat nur mit dem zu tun. […] Um gute Kunst zu machen, heißt das auch, dass du die optimalen Bedingungen in dir selber haben musst, um sie machen zu können«. Dass diese »optimalen Bedingungen in dir selbst« auch für kreativ Schaffende nicht jederzeit gegeben sind, kann sich auf das Schaffen auswirken. Damit droht ein Teufelskreis. Denn der Wille zur Distanz (»Ich will irgendwie auch ein bisschen neben der Gesellschaft sein«, berichtet etwa Miriam) kann dann umschlagen in eine nicht länger freiwillige Isolation, und diese wiederum hemmt das Schaffen. So berichtet ein älterer Künstler von den Untiefen der Künstlereinsamkeit: Raul (K7): Also wenn du autonom bist, ist gut. Das ist gut. Aber du machst etwas. Aber die Gefahr gibt es auch manchmal, dass Leute, die zum Beispiel auch ein bisschen Erfolg gehabt haben oder die bekannt waren, dass sie plötzlich ignoriert sind. Und das ist natürlich die Gefahr, das passiert auch mit Musik und anderen Sachen. Aber mit der Malerei, sagen wir, mit der genannten Malerei, sagen wir jetzt, oder Kunst oder, oder Bildhauerei, da kannst du nachher sehr schnell irgendwo raus von der Gesellschaft auch sein, oder? Dass du plötzlich wirklich isoliert bist. Und das ist die Gefahr, oder? Äh dass du ein Drop-out bist einfach. Und etwas später: Raul (K7): Wir Maler, diese Tendenz ist natürlich stark, weil du bist auch effektiv isoliert […]. Also ich glaube, dass dieser Aspekt, dass du irgendwo in eine Einsamkeit, in eine Form von tiefer Depression – Gefühle nicht in der Gesellschaft zu sein können sehr stark sein. Also ich kenne viele Künstler, die anfangen zu trinken.

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Dass die künstlerische Freiheit aufgrund ihrer Nähe zu existenziellen Dingen umschlagen kann in Isolation und Verzweif lung, ist für mehrere Befragte aus dem Gestaltungsbereich ein Grund, eine weniger freischwebende Variante kreativer Arbeit zu wählen. Im Angestelltenverhältnis sind Momente der Isolation schon allein durch die Kopräsenz von Kollegen und Vorgesetzten eher selten. Auch bei Selbstständigen gibt es regelmäßige arbeitsbedingte Kontakte etwa zu den Kunden (»Ich will, dass es jemand will«, D8). Solche dunklen Phasen werden, da sie besonders die Kunst treffen, vor allem in der Kunst immer wieder zum Thema gemacht. Auf diese Weise können sie verarbeitet werden. Vielleicht verleiht dies so mancher Kunst ihre wahrgenommene Tiefe und Schwere und trägt so mit zum Nimbus des Künstlerseins bei. Möglicherweise sind gerade die leidenden Künstler mit einem Sensorium ausgestattet, das auch für die weitere Gesellschaft von Relevanz ist.34 Der Künstler, der uns von dieser Gefahr der Isolierung berichtet, ist jedenfalls weit davon entfernt, das Künstlersein zu glorifizieren – auf die Frage, warum er denn angesichts dieser Gefahren Künstler geworden sei, antwortet er, wenn auch halb im Scherz, es sei eine Krankheit (»ich glaube es ist ein Virus«). An anderen Stellen allerdings artikuliert er sehr klar die Vorzüge, die das Künstlerleben für ihn gehabt hat (er geht bereits auf das Rentenalter zu). Offensichtlich ist es am ehesten der Aspekt der Nähe zu sich selbst, die den Künstler (der hier nicht nur für sich spricht) in die Gefahr bringt, melancholisch zu werden (vgl. Lepenies 1969): Raul (K7): Fast jeder Künstler hat dieses Problem von der Blockade, oder die leichte Form, also Melancholie. Das muss, das kommt auch, weil du bist so beschäftigt mit dir selber, es kommen auch Erinnerungen und Fragen und so Sachen. Diese Bezogenheit auf sich selbst kann auch zur Last werden (das war schon ein Thema von Sören Kierkegaard). Für diesen Künstler ist das allerdings kein Grund, das Künstlerleben gering zu schätzen. Eher betont er, dass es nicht als Jux, sondern als ein ernsthaftes Unterfangen mit hohen Belastungen zu begreifen ist. Eine solche Lebensform kann aber neben der Nähe zu sich selbst auch für diesen Künstler mit weiteren pragmatisch fundierten Werten aufwarten. Hiermit lässt sich unser Wertekatalog zum Abschluss 34  Nicht zuletzt gehört Edward Munchs Schrei zu den berühmtesten Bildern. Man denke auch an Egon Schiele u.a.

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noch einmal resümieren: Beginnen wir mit dem Thema der Entfremdung als enteignetem Ausdruck, und dem künstlerischen Ausweg aus diesem Missverhältnis. In seiner Zeit als Werbegrafiker litt er darunter, dass er viel von seiner Person geben musste für eine Sache, die er nicht als authentisch oder aufrichtig ansehen konnte: Raul (K7): Du musst so viel geben von deiner Person, dass irgendwo etwas funktioniert. Raul (K7): Werbung im Prinzip ist eine riesige Lüge, oder? […] Lügen ist so ein Mechanismus, der wirklich den Menschen irgendwie prägt. Die Leute, die in der Werbung arbeiten, am meisten sie – sie sind auf eine besondere Art erledigt. […] Sie sind verbrannt. Die Kunst dagegen erlaubt eine gewisse Souveränität über das Produkt und ist damit eine sehr viel weniger entfremdende Arbeit. Das bleibende Produkt war ein Grund für ihn, aus dem Bereich des Werbedesigns, in dem er recht erfolgreich tätig war, umzusatteln und zu einem freien Künstler zu werden; etwas, das er bald drei Jahrzehnte praktiziert und davon auch lebt. Raul (K7): Und ich habe angefangen, zu fragen, soll ich das ganze Leben eigentlich diese applizierte [=angewandte] Arbeit… Weil ich habe gemerkt, dass diese Sachen, sie waren so fragil, dass sie nachher alle verschwunden sind und ich habe, ich habe diese Berufung, dass irgendwo etwas, ein Bild, dass ein Bild bleibt, oder? Oder ein Objekt und so. Hier geht es um den Bezug zum eigenen, bleibenden Produkt, der für ihn in der Kunst besser möglich ist als in der Werbung. Auch die Souveränität über den Arbeitsprozess ist in der Kunst eher gegeben. Der Künstler buchstabiert das vor allem für den Faktor Zeit aus, im Vergleich zur Werbebranche, wie er sie erlebt hat. Dort nämlich müsse man eigentlich immer arbeiten, und das stets unter Druck. Auch dies kann in die Verzweif lung führen. So sind nicht nur Künstler, sondern auch Gestaltende gefährdet, in eine Verzweif lung zu geraten, wenn auch aus einem anderen Grund – nicht wegen der Nähe zu sich, sondern aufgrund der Fremdbestimmung: Raul (K7): Manchmal haben wir am Wochenende gearbeitet und am Abend und das und das… Und das kann in der Kunst auch einmal sein, aber du

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musst – da hast du nicht diese unmögliche Schnelligkeit, oder? […] Und du bist irgendwo in diesem Mechanismus und die Mitarbeiter bekommen diese Gefühle auch, oder? Nachher musst du immer, immer arbeiten, es gibt manchmal unmögliche Termine, wo die Leute, sie mussten so vielleicht trinken oder Medizin nehmen, Amphetamin. Die Freiheit, in der Arbeit als Künstler mit der eigenen Zeit anders umzugehen und auf diese Art zuweilen auch in ein anderes Erleben von Zeitlichkeit, in eine andere »Welt« hineinzugeraten (was auch bei anderen Befragten zu beobachten war, beginnend mit Miriam oben), schildert er so: Raul (K7): Ich habe auch gemerkt, wissen Sie – ich glaube, es ist wichtig, jetzt für einen Künstler, auch die Möglichkeit viel, also anders zu leben, oder? Ich meine, ich habe viel Zeit auch. Wo ich ein bisschen mehr die Sachen beobachten kann […]. Ich habe gemerkt, das gibt es doch, was wir sehen, es ist nicht alles, oder? Es gibt eine andere, etwas anderes, oder? Und das habe ich immer mehr, also mit der Kunst hast du diese Möglichkeit, diese Antenne aufzumachen und die Zeit auch, und davon profitiere ich sehr, das habe ich gerne, oder? Weil ich bin in einer anderen – ich tauche irgendwo ein bisschen in eine andere Art zu sein. So trifft man auch bei diesem reiferen und abgeklärteren Künstler nochmals auf die Zeitsouveränität sowie auf die Möglichkeit, durch die Kunst auf nicht-entfremdete Weise mit den eigenen Tätigkeiten und Produkten umgehen zu können. Diese Werte werden mit der schöpferischen Tätigkeit und der mit ihr verbundenen Lebensform nicht nur assoziiert (und so verklärt), sondern in ihr tatsächlich erfahren. Auch der Übergang in eine andere Welt begegnet erneut. Er ist untergründig verkoppelt mit den Erfahrungen am Material. Dieser ältere Künstler beschäftigt sich viel mit Zeitströmungen, und so ist ihm auch der neue Materialismus bekannt (er nennt den »Neomaterialismus« und bezieht sich, ähnlich wie Karen Barad, auf Nils Bohr). So etwas interessiert ihn, weil es seinen eigenen Erfahrungen und Ansichten nahekommt (er kommt mehrfach auf die »Beziehung zwischen Materie und Psyche« zu sprechen). Auf die Frage, was er als Rentner wohl vermissen würde, schlägt er einen Bogen von der Malerei über die freie Zeit und die Körperlichkeit des Malens bis hin zum Material, mit dem es sich zu »verbinden« gilt. Im Umkreis

Materialität und Werterfahrungen in der kreativen Arbeit

der Alchemie ist dies durchaus doppeldeutig zu lesen – in gewisser Weise wird der Künstler so selbst zum Material, das Verbindungen eingeht: Raul (K7): Die Malerei, meine Zeit, die Ruhe, diese Zeit, wo ich etwas suche, wenn ich an meinem Arbeitstisch sitze und ich schreibe. Der Moment, wenn ich… alles, auch der Handwerkerteil. Das ist für mich sehr wichtig. Die Manualität, es ist wichtig. Und äh, die Konzeptualität natürlich auch, aber ich finde, ein Maler ist ein Maler, weil, darum sage ich, die Maler sind ein bisschen wie Alchemisten geblieben, weil sie müssen sich doch auch mit der Materie verbinden, oder? Damit ist der Bogen zurück zum Materialbezug bei unserer Künstlerin Miriam geschlagen, der den Einstieg gebildet hatte. Es hat sich ein reichhaltiger Katalog von Werten freilegen lassen, der von Schaffenden sowohl aus der Kunst wie aus der Gestaltung mit einer schöpferischen Tätigkeit und mit dem kreativen Beruf als Lebensmodell verbunden wird: die Begegnung mit einem Material, das selbst Aktantenqualität bekommt; die auf diese Weise (im positiven Verständnis) »versachlichte« Beziehung zu den anderen; die über die Zeit erfahrene und wachsende Nähe zu sich selbst (obgleich diese auch zu einem Fallstrick werden kann); der weniger entfremdete Umgang mit den eigenen Produkten und Tätigkeiten, und schließlich die Souveränität über die eigene Zeit und damit die Möglichkeit, in Erfahrungen einer anderen Zeitlichkeit und andere Raumerfahrungen vorzustoßen. Diese philosophischen Befunde zeigen die kreative Arbeit als eine nach wie vor ergiebige Quelle für kritische Überlegungen darüber, wie es anders zugehen könnte in unserer hektischen, achtlosen und verschwenderischen Zeit, die so voll ist von Fremdbestimmung, Konformismus und Selbstverlust, von Geringschätzung nicht-verwertbarer Formen von Gemeinschaft und nicht-menschlicher Formen des Daseins. Kreatives Arbeiten ist keine Spielerei, es ist anstrengend, fordernd, und muss viele Hürden überwinden – doch es ist für andere gesellschaftliche Sphären, die sich seiner bemächtigen wollen, noch immer voller Widerständigkeiten. Daher kann es für andere soziale Sphären durchaus noch immer Modellcharakter in einem emanzipatorischen Sinn haben. All das lässt sich rekonstruieren, obwohl vom sinnhaften Gehalt der Werke und ihrer Ausstellungen selbst noch keine Rede war. Aus einer Analyse der

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Werke ließe sich diese Sicht noch verstärken – aber das ist ein weites Feld und an dieser Stelle nicht mehr unser Thema.35

35 Siehe dazu pars pro toto Krieger/Fritz 2016.

Kreativität als Beruf Ästhetische und sozialphilosophische Perspektiven Dieter Thomä

1. Anmerkungen zu den Begriffen »Beruf« und »Kreativität« – und zu ihrem Verhältnis Die Formel »Kreativität als Beruf« bringt zwei Grundbegriffe zusammen, aus denen sich die Leitlinien zur Erschließung des reichen Materials ergeben, das unsere Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern, Produktdesignerinnen und -designern, Typografen, Textilentwerferinnen und Schmuckdesignerinnen bereitstellen. Am Beginn dieses Beitrags stehen elementare Bemerkungen zu Beruf und Kreativität – und zu deren keineswegs spannungsfreiem Verhältnis. Beruf. Wenn von einem Beruf die Rede ist, kommt erstens die arbeitsteilige Organisation der Gesellschaft ins Spiel, in der – kurz gesagt – nicht jeder alles tut. Entsprechend gehört zum Beruf eine eigenständige Kompetenz, die an Phänomene wie Berufsstand, Berufsausbildung und Berufsehre gekoppelt ist. Neben diese soziale Einordnung tritt zweitens eine ökonomische Funktion: Ein Beruf ist im Gegensatz zu seinem nächsten sprachlichen Verwandten – der Berufung – dazu gedacht, den Lebensunterhalt einer Person zu sichern. Die Berufstätigkeit wird enger verstanden als die Arbeit im Allgemeinen, die auch nichtökonomische Tätigkeiten einschließt (man denke etwa an Erziehungsarbeit oder ehrenamtliche Arbeit). Wer einen Beruf ausübt, geht einer Erwerbstätigkeit nach. Im Beruf treten also zwei Gesichtspunkte zusammen, die keine innere, systematische Verbindung aufweisen. Man bewegt sich in einem spezifischen Bereich der arbeitsteiligen Gesellschaft, der durch bestimmte Regeln und Institutionen bestimmt ist, und man versucht, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Denkbar ist deshalb auch

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ein Fall, der bei manchen unserer Gesprächspartner_innen tatsächlich vorkommt: Wenn eine Person mit ihrem Beruf nicht genügend verdient, kann sie ihn gleichwohl ausüben und daneben noch anderen Erwerbstätigkeiten nachgehen, die sie höchstens als Nebenberuf – unter Umständen aber auch nur als odd job – ansieht. Analog dazu gibt es den Fall, dass sie einen Beruf ausübt, dabei aber auf die Unterstützung eines Partners oder auf staatliche Grundsicherung angewiesen ist. Kreativität wird einem Individuum – gelegentlich auch einem Kollektiv – zugeschrieben, das sich dadurch auszeichnet, etwas Neues hervorzubringen oder etwas auf neue Weise zu tun. Nach John Stuart Mills schöner Formulierung gilt: »Nothing was ever yet done which some one was not the first to do.« (Mill 1977, 268) Zur Kreativität gehört ein anspruchsvoller Begriff des Neuen, der sich nicht damit begnügt, dass z.B. ein neuer Tisch nach vorgegebenem Plan gefertigt wird, sondern ein Werk oder eine Leistung qualitativ heraushebt. Das kreative Subjekt muss diese Bewährungsprobe am Objekt bestehen, sonst wird seine Beteuerung, es sei kreativ, zur leeren Behauptung. Übermächtig ist bei der Kreativität das Vorbild des Schöpfergottes oder Demiurgen, der nicht nur Neues in die Welt setzt, sondern geradewegs eine neue Welt schafft. Der Anwendungsbereich für diejenigen, die diesem Vorbild nacheifern, ist breit. Kreativität wird künstlerisch Tätigen zugeschrieben, aber auch Erfindern, Produktentwicklern, Unternehmern, die »creative destruction« betreiben, oder aber Betrügern, die die Kunst der kreativen Buchführung beherrschen. Überdies können sich auch kollektive Instanzen – man denke etwa an die »creative democracy« (Dewey 1988) – durch Kreativität auszeichnen. Bevor nun die Rede auf das durchaus spannungsvolle Verhältnis zwischen Kreativität und Beruf kommt, müssen noch zwei Komplikationen des Diskurses über Kreativität herausgestellt werden, die – kurz gesagt – an deren subjektive und intersubjektive Dimension gekoppelt sind. Die subjektive Dimension der Kreativität. Gerade wurde gesagt, dass Kreativität der Objektivierung bedarf. Sie weist sich an einem Werk oder an einer Leistung aus, welche dann den Rückschluss auf ein kreatives Subjekt erlauben. Mit dieser Ergebnisorientierung entspricht sie der aristotelischen Definition der technè. Zugleich zeigt sich daran eine merkwürdige  – im Wortsinne kontraproduktive – Tendenz des Begriffs der Kreativität. Er lenkt nämlich – anders als in den klassischen Beispielen für die aristotelische technè – die Aufmerksamkeit zurück vom Produkt auf den Produzen-

Kreativität als Beruf

ten. Man darf fragen, ob dies im Sinne des Erfinders ist, ob also denjenigen, die etwas hervorbringen, überhaupt daran liegt, sich mit ihrer Kreativität eigens in den Vordergrund zu spielen. Sie können sich in dem sonnen, was sie hervorgebracht haben, sich aber auch wünschen, hinter ihrem Werk zurückzutreten und zu verschwinden. Überdies können sie den Vorbehalt anmelden, dass sie bei der Hervorbringung ihres Werks gar nicht das Gefühl haben, als Schöpfer zu brillieren. Dann werden sie Arnold Schönberg Recht geben, der gemeint hat, Kunst komme »nicht von Können, sondern von Müssen« (Schönberg 1964, 34). Die Zuschreibung von Kreativität steht für eine Tendenz, die in der Ästhetik umstritten ist: für eine Subjektivierung, die den Fokus vom Produkt oder von der Leistung auf deren Schöpfer verschiebt. Die intersubjektive Dimension. Der anspruchsvolle Begriff des Neuen, der mit der Kreativität – wie erwähnt – verbunden ist, verlangt nach Kriterien, denen dieses Neue zu genügen hat. Im Vollgefühl der Schaffenslust kann man das Gefühl haben, kreativ zu sein, doch die Stunde der Wahrheit schlägt, wenn ein Ergebnis vorliegt. Am Objekt kommt es dann zu einer Doppelung von Selbst- und Fremdeinschätzungen. Man kann sich selbst das Urteil zutrauen oder anmaßen, ob man etwas Neues geschaffen hat, oder man kann sich dem Urteil anderer aussetzen, es hinnehmen, mit ihm hadern etc. Wenn ein Produkt und die es hervorbringende Person derart auf den Prüfstand gestellt werden, kommt eine intersubjektive Dimension ins Spiel. Strittig sind dann die Fragen, welche Instanzen zur Urteilsfindung befugt sind und wie sich solche Urteile rechtfertigen lassen. Hier treten diverse Ambivalenzen auf. Man nehme zum einen den Fall, dass das Lob der Kreativität als eine Art Eintrittskarte wirkt, die zum Zugang zum Club der Kreativen berechtigt und auch von diesem Club ausgegeben wird. Ein solches Gütesiegel bleibt ambivalent – egal ob es erteilt oder verweigert wird. Im ersten Fall mag man sich darüber freuen, gewissermaßen von Brüdern und Schwestern im Geiste in ihren Bund aufgenommen zu werden. Man mag aber auch den Eindruck haben, dass das Neue durch dieses Aufnahmeritual einen Anf lug von Konformität erhält. Ein Club als Gemeinschaft von Gleichen ist im Reich der Kreativität eigentlich undenkbar, denn schließlich fällt das Neue aus dem Rahmen und sperrt sich gegen Zugehörigkeit. Im zweiten Fall – wenn also die Kreativität einer Person nicht gelobt, sondern bestritten wird –, kann sie zerknirscht das Urteil der peers, die als Anerkennungsagentur fungieren, ak-

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zeptieren, oder aber sie kann deren Autorität bestreiten und die eigene Güte gegen den herrschenden Konsens im kreativen Feld verteidigen. Zum anderen gibt es den Fall, dass die Kreativität von solchen beurteilt wird, die nicht als peers gelten, sondern von außen an die Kunst herantreten. Nennen wir sie der Einfachheit halber die normalen Menschen und denken wir etwa an potentielle Käufer, aber auch an Bürger, die über Kunstwerke im öffentlichen Raum urteilen. Wiederum treten dann Ambivalenzen auf. Wenn die Normalen die Kreativen anerkennen, dann können diese sich darüber freuen, in ihrer Ausnahmestellung anerkannt zu werden. Ihnen können aber auch Zweifel daran kommen, ob dieses Urteil etwas wert ist. Die Umkehrung bleibt gleichermaßen zwiespältig: Wenn die Normalen das Neue und Kreative als wertlos abtun, dann kann man sich über solche Borniertheit erhaben fühlen oder aber darunter leiden, dass kein Hahn nach einem kräht. So oder so gilt also: Kompliment und Kopfschütteln, Auf- und Abwertung sind von den Kandidaten der Kreativität mit Vorsicht zu genießen. Natürlich sind die genannten Zuschreibungen und Einteilungen arg schematisch. Übergangsphänomene und Mischformen sind allgegenwärtig. Und doch findet dieses Schema laufend Anwendung – und zwar deshalb, weil der Diskurs über Kreativität eben mit solchen Distinktionen operiert, die das Neue und das Alte, das Außergewöhnliche und das Gewohnte gegeneinanderstellen. Man kann nun versuchen, die Diskurse des Berufs und der Kreativität wie zwei Folien, auf denen jeweils bereits Vorgaben festgelegt sind, übereinander zu schieben. Wenn man dies tut, kristallisieren sich Punkte heraus, an denen jene Diskurse Verbindung aufnehmen und auch in Konf likt geraten. Es lässt sich zeigen, dass zentrale Aspekte des Berufs einerseits, der Kreativität andererseits präzise aufeinander beziehbar sind. Beim Beruf ergibt sich – kurz zur Erinnerung – die Doppelung, dass er einerseits mit der Bestimmung und Ausübung einer bestimmten Tätigkeit einhergeht und andererseits dazu taugt, einer Person den Lebensunterhalt zu sichern. Bei der Kreativität ergibt sich die Doppelung, dass sie einerseits auf ein subjektives Verhältnis zwischen Person und Produkt zielt, andererseits auf ein intersubjektives Verhältnis zwischen einer Person und verschiedenen Adressaten und Bezugspersonen in einem sozialen Kontext. Mit einem gewissen Mut zur Vereinfachung kann man sagen, dass die jeweils als erstes genannten Aspekte von Beruf und Kreativität direkt aufeinander Bezug nehmen– und die als zweites genannten gleichermaßen.

Kreativität als Beruf

Wenn es um die nähere Bestimmung der Tätigkeit geht, die einen Beruf ausmacht, so rückt sogleich das Verhältnis zwischen Person und Produkt in den Mittelpunkt, das ihrerseits im Bereich der Kreativität eine Schlüsselrolle spielt. Hierbei ist – wie erläutert – auffällig, dass der Prozess, in dem Person und Produkt aufeinander bezogen sind, sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann. Legt man in diesem Prozess den Akzent auf das Produkt, so hat die Kreativität gewissermaßen eine dienende Stellung und weist sich an ihrem Ergebnis aus. Dieses liefert gewissermaßen den Leistungsnachweis der erfolgreichen Tätigkeit. Legt man umgekehrt den Akzent auf die Person, so bekommt die Kreativität eine emphatische Bedeutung für das Selbstverständnis des Produzierenden. Diese verschiedenen Akzentsetzungen spiegeln sich in weit voneinander abweichenden Deutungen des Berufsverständnisses von Designer_innen und Künstler_innen. Es ist naheliegend, dass die erste Variante eher zu jenen, die zweite zu diesen passt. Hält man sich an die Selbstauskünfte unserer Gesprächspartner_innen, so verlaufen die Frontlinien hier wie auch bei anderen Themen allerdings keineswegs so klar, wie dies gewissermaßen von der Papierform her zu vermuten wäre. Um die Idee einer kreativen Berufstätigkeit bilden sich verschiedene Themenkreise, die in den diesem Band zugrundeliegenden Gesprächen erörtert werden. So geht es etwa darum, wie die Künstler_innen und Designer_innen ihr Kerngeschäft, also die kreative Tätigkeit beschreiben. Hier trifft man auf eine Selbstinszenierung des schöpferischen Subjekts, aber auch auf eine Beschreibung der künstlerischen Arbeit, die eher am Produkt oder am mühsamen Schaffensprozess selbst festgemacht ist. Dieses Thema zieht dann die Frage nach sich, ob und wie sich diese Tätigkeit von anderen Berufen, Arbeits- und Lebensformen unterscheidet. Ergibt sich daraus eine Sonder- und Ausnahmestellung der kreativ Tätigen? Oder machen sie nur etwas zu ihrem Beruf, das in allen Menschen angelegt ist? Hierzu gesellt sich der zeitdiagnostische Befund, dass Kreativität weit über das Kunstfeld hinaus zu einem sozialen und ökonomischen Imperativ geworden ist. Die Selbstpositionierung der Künstler_innen gerät unter Druck, wenn ihr Alleinstellungsmerkmal gefährdet ist. Da Kreativität mit Regelbruch und Unkonventionalität assoziiert ist, steht sie überdies in einem Spannungsverhältnis zu den Kodifizierungen, die mit dem Konzept des Berufs einhergehen. Will ein Mensch seine kreative Tätigkeit überhaupt als Beruf ansehen und annehmen? Oder meint er, sich out of the box – also auch außerhalb einer beruf lichen Schublade – bewegen zu müssen? Wie positionieren sich Künst-

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ler_innen und Designer_innen, wenn sie etwa über Routinen und Regeln Auskunft geben? Die Frage des Lebensunterhalts, den ein Beruf gewährleisten soll, kehrt auf der Folie der Kreativität dort wieder, wo es um die intersubjektive Einbettung kreativer Personen geht, also um deren sozialen Kontext. In diesem Kontext treten – wie bereits dargestellt – verschiedene Anerkennungsagenturen auf, an deren Zusammenspiel sich die Frage entscheidet, ob es – nach der schönen englischen Formel – gelingt to make a living. Diese ökonomische Zuspitzung spielt in den Gesprächen, die wir geführt haben, eine dramatische Rolle. Einige Fragen mögen dies illustrieren: Ist nur der arme Poet ein guter Poet? Oder schlägt die Stunde der Wahrheit – auch der künstlerischen Wahrheit – mit der Gängigkeit der Ware? Wie steht es um das Verhältnis zwischen der Kunstszene im engeren Sinn eines beruf lichen Zusammenhangs und dem Kunstmarkt im weiteren Sinn? Wie funktioniert die Konvertierung von kulturellem in ökonomisches Kapital? Verkümmert bei Designberufen die Kreativität? Oder sind sie gegenüber den Künstler_innen vielleicht im Vorteil, weil sie sich nicht mit den undurchsichtigen – für Neurosen ziemlich förderlichen – Anerkennungsagenturen des Kunstmarktes herumschlagen muss, sondern klare Adressaten und Auftraggeber haben? Die Antworten auf diese und andere Fragen stammen nicht von den Autor_innen dieses Bandes, sondern von dessen wahren Heldinnen und Helden – nämlich von denen, mit denen wir Gespräche geführt haben.

2. Wegleitung durch die Schatzgrube Es ist hoffentlich nicht übertrieben, die Gespräche, aus denen dieses Buch hervorgegangen ist, als kleine Schatzgrube zu bezeichnen. Nicht unbedingt durch Schönheit zeichnen sich die Funde aus, die in ihr zu machen sind, sondern – wenn dieses Pathos denn erlaubt sein mag – durch Lebendigkeit. Die Auskünfte der Menschen, die wir befragt haben, erfüllen eine Forderung, die vor rund zweihundert Jahren Georg Büchner aufgestellt hat: »Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist.« (Büchner 2006, 234) Bei diesem Zitat aus Büchners Erzählung »Lenz« handelt es sich nicht nur um eine nette Zutat, ihm lässt sich vielmehr eine allgemeine und eine spezielle Botschaft entnehmen, die für die hier vorgelegte Darstellung von

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Belang ist. Zum Ersten bezeichnet es das allgemeine Motiv, vom dem sich unsere Arbeit leiten lässt – nämlich das Motiv, von den Selbstauskünften, Standortbestimmungen, Parteinahmen der Betroffenen auszugehen und sie als Zeugnisse ihrer eigenen Lebendigkeit zu respektieren. Zum Zweiten ist zu beachten, dass Büchners Forderung nach »Lebendigkeit« auf einen speziellen Bereich bezogen ist. Sie gilt, passend zur Profession unserer Gesprächspartner_innen, als eine Qualität des Kunstwerks. Wenn »in allem Leben, Möglichkeit des Daseins« zum Ausdruck kommen soll, so meint dies eigentlich – wie es dann im Folgenden heißt –: »in Kunstsachen«. »Das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, […] sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.« (Büchner 2006, 234) So ist Büchners Ausspruch nicht nur als Motto willkommen, das der Lebendigkeit unserer Gesprächsteilnehmer_innen Ehre erweist. Vielmehr betrifft er sie auch in ihrer beruf lichen Existenz, denn in ihm steckt eine spezielle These zur Kreativität oder zum Kunstschaffen. Diese These passt freilich nur in eine Ecke der Schatzgrube, welche hier besichtigt werden soll. Während manch andere die Lebendigkeit des künstlerisch Tätigen etwa am Ausleben seiner Schaffenskraft festmachen, besteht dessen Leistung nach Büchner darin, sich aus sich herauszuversetzen, um »in das eigentümliche Wesen« anderer Menschen »einzudringen« (Büchner 2006, 235). Hier wird also eine Lesart vorgelegt, die im weiten Spektrum der Beschreibungen des künstlerischen Prozesses eine Extremposition bezieht: Dieses Spektrum reicht – wie eingangs dargestellt – von der Feier des schöpferischen Subjekts bis zu der (von Büchner favorisierten) Haltung, sich den Erfahrungen am Material und an der Objektivität auszusetzen. Es geht hier nicht darum, sich für eine Position in diesem Spektrum zu entscheiden, sondern nur um den Hinweis, dass die Selbstdeutungen derer, die die Kreativität zum Beruf machen, weit voneinander abweichen können. Wenn unsere erste Aufgabe beim Verfassen dieses Buches ist, uns in die Schatzsuche zu stürzen, sucht doch nicht jeder die gleichen Schätze oder lässt sich von den gleichen Facetten faszinieren. Die Interessen, die die Suche anleiten, sind jeweils andere. Da die disziplinäre Perspektive, die in diesem Kapitel eingenommen wird, durch Ästhetik und Sozialphilosophie bestimmt ist, sind es bestimmte Perlen, die ins Auge fallen, und ist auch das Ordnungsprinzip ein Besonderes, wonach diese Perlen dann auf einer Schnur aufgereiht und angeordnet werden.

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In diesem Kapitel liegt der thematische Fokus zunächst auf der Beziehung zwischen dem kreativen Menschen und seinem Produkt. Diese klassische ästhetische Beziehung erweitert sich, wenn Adressaten ins Spiel kommen. Damit eröffnet sich ein sozialer Kontext, der weit über ästhetische Belange hinausreicht. In ihm ergeben sich Arbeitszusammenhänge, Anerkennungs- und Machtverhältnisse, kommerzielle Beziehungen etc. Zu beachten sind dann insbesondere die Überschneidungen und Konf likte zwischen ästhetischen, sozialen, politischen und ökonomischen Beziehungen. Hierbei geht es zum Beispiel auf der einen Seite um den Typus des Künstlers als Inbegriff menschlicher Freiheit, auf der anderen Seite um die in der neueren sozialtheoretischen Diskussion betonte Synergie zwischen Kunst und Kapitalismus. Das ästhetisch-sozialphilosophische Ordnungsprinzip, nach dem sich die Funde in der Schatzgrube der Gespräche mit Künstler_innen und Designer_innen organisieren lässt, legt eine Gliederung in sechs Bereiche nahe. 1. Zu beginnen ist mit Auskünften zu einem ästhetischen Kernbereich, nämlich zum Verhältnis zwischen Person und Produkt. Teilweise deuten unsere Gesprächsteilnehmer_innen dieses Verhältnis auf eine Weise, die aus der klassischen Ästhetik hinlänglich bekannt ist. Der Akzent liegt hier auf der Entfaltung des Machtgefühls der Schaffenden, auf dem Ausleben der Freiheit in der kreativen Gestaltung des Werks. Demnach gelten die Schaffenden als Quelle einer Dynamik, die im Werk zum Ausdruck kommt und mit ihm in die Welt hineinwirkt. 2. Am Verhältnis zwischen Person und Produkt lässt sich nicht nur das Ausleben der Schaffenskraft festmachen, sondern umgekehrt auch die Erfahrung des Sich-Aussetzens. Auch sie kommt in unseren Gesprächen vielfach zur Sprache, und wiederum reihen sich diese Wortmeldungen in eine lange ästhetische Vorgeschichte ein. Kreativ ist demnach gerade nicht derjenige, der auf sein Schöpfertum pocht, sondern derjenige, der sich seiner Macht entschlägt und in Situationen bringt, in denen er sich vom Material vereinnahmen lässt. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich den Unwägbarkeiten der Inspiration hinzugeben. 3. In den Gesprächen werden auch Stimmen laut, die für eine Art Mittelposition zwischen Schöpfertum und Hingabe stehen. Wenn man weder als souveränes Subjekt auftritt noch vom Objekt ergreifen lässt, dann rückt ein künstlerischer Prozess ins Zentrum, auf den man sich einlässt,

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in dem sich etwas Neues ergibt und bei dem man sich zugleich selbst verwandelt. Diese Selbstverwandlung oder Selbstüberwindung hat in der Geschichte der Ästhetik gleichfalls diverse Vorläufer. 4. Wie verhält sich nun die kreative Person zu dem sozialen Kontext, in dem sie sich – über ihr kreatives Kerngeschäft hinaus – bewegt? Zunächst besteht die Möglichkeit, dieses Verhältnis negativ, also im Sinne der Abgrenzung oder sogar Abschottung zu bestimmen. Demnach ist die Konzentration auf den künstlerischen Prozess deshalb so attraktiv, weil er so etwas wie Weltvergessenheit erlaubt: eine Befreiung oder Entlastung von den Komplikationen, Kompromittierungen und Konfusionen des sozialen Lebens. Man meint dann ganz nah bei sich zu sein – wobei die Frage ist, welcher Preis für diese Isolation zu entrichten ist. Dieses Motiv, das aus den klassischen Debatten zur Kunst als Gegenwelt geläufig ist, kommt in unseren Gesprächen immer wieder durch. 5. Den künstlerischen Prozess kann man nicht nur defensiv, sondern auch offensiv deuten. Statt ihn also in eine Schutzzone zu verlegen, kann man versuchen, die Grenze zwischen diesem Prozess und dem sozialen Leben zu durchbrechen. An die Stelle der Grenzziehung und Gegenüberstellung tritt damit – wie gleichfalls aus der Geschichte der Ästhetik bekannt – der Ausgriff, die Ausdehnung der Kunst auf die Welt. Die Selbstverwandlung, der im künstlerischen Objekt manifest werdende Veränderungsprozess, steigert sich zur Transformation des Status quo. Auch diese offensive Idee findet – freilich eher vorsichtige – Fürsprecher unter unseren Gesprächspartner_innen. Zu ihr gehört der klassische Anspruch der Kunst auf die Veränderung der Gesellschaft. 6. Bislang erschien der soziale Kontext nur als fremde Welt, von der sich die künstlerisch Tätigen abgrenzen oder aber als große Bühne, auf der sie auftreten. Dass man damit zu kurz greift, wissen unsere Gesprächspartner_innen nur zu gut. Dass dieser soziale Kontext in vielfältiger Weise in künstlerische Arbeits- und Lebensformen eingreift, ist auch in der kunstphilosophischen und -soziologischen Diskussion seit jeher betont worden. Die im engeren Sinne ästhetische Tätigkeit gehört in ein soziales Feld, auf dem sich neben den Künstler_innen verschiedene andere Akteure bewegen. In dem Maße, wie diese Tätigkeit als Beruf und Erwerbsarbeit verstanden wird, weitet sich dieser soziale Kontext zu einem ökonomischen Zusammenhang aus. Neben die Agenturen, die ästhetische Anerkennung steuern, treten Agenturen, die materielle Entlohnung

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verteilen. Das Reich der kreativen Tätigkeit hat löchrige Grenzen, und nach dem, was von unseren Gesprächspartner_innen zu hören ist, stellt es eine enorme Herausforderung dar, sich in diesem Kontext zurechtzufinden, in den ihre Tätigkeiten und deren Früchte unweigerlich hineingezogen werden. Bevor nun die Auskünfte unserer Gesprächspartner_innen anhand dieser Gliederung in sechs Bereiche gesammelt und kommentiert werden, sei ein kurzer Hinweis eingefügt. Die genannten Bereiche fungieren wohlgemerkt nicht als Schubladen, in denen Menschen zu verstauen sind. Man darf sie eher als Landschaften auffassen, in denen unsere Gesprächspartner_innen sich bewegen und in Szene setzen. Sie sind nicht auf einen dieser Schauplätze festgelegt, sondern sehen sich hin- und hergerissen. Sie probieren sich auf verschiedenen Schauplätzen aus, werden aber auch in Rollen hineingezwungen, die sie notgedrungen ausfüllen. Sie werden von eigenen und fremden Erwartungen getrieben, ringen mit sich selbst und mit anderen. Um ein Beispiel zu geben: Der Rückzug von der Welt (gemäß Punkt 4) stellt für einige offenbar eine große Versuchung dar, der sie vielleicht zeitweise erliegen – und doch entziehen sie sich ihr dann wieder, wenn sie vor die Herausforderung (gemäß Punkt 6) gestellt sind, mit ihrer Kunst Anklang und Anerkennung zu finden. Wenn wir einigen Gesprächspartner_innen bestimmte Plätze in einzelnen Seelenlandschaften zuweisen, so lassen sie sich an diesen Plätzen nicht nieder, vielmehr handelt es sich dabei oft nur um Durchgangsstadien, zeit- und probeweise eingenommene Positionen. In den Gesprächen, die wir geführt haben, dominiert nicht die Standortsicherung, sondern die Suchbewegung.

3. Ortstermine in Seelenlandschaften 3.1 Die Macht des Schöpfers: »Ich bin quasi das Zentrum der Welt.« Dirk (K4): Kunst hat enorm viel mit Macht zu tun. Diese Macht betrifft nicht nur die Hierarchien des Kunstbetriebs, den herausragenden Einf luss einzelner Entscheider, die Rolle von Museen, Galerien und Medien. Sie setzt auf einer viel elementareren Ebene ein: bei der Macht,

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die ein Individuum über sein Werk ausübt. Es ist verführerisch, diese Macht wahrzunehmen und auszukosten – vielleicht auch deshalb, weil man in wenigen Lebensbereichen in den Genuss des Gefühls kommt, als Individuum die Regeln des Spiels zu bestimmen und gewissermaßen als Spielführer zu agieren. Während Politiker über Sachzwänge klagen und Manager in ihrem Stress kaum ein Auge zutun dürfen, weil die Konkurrenz ›auch nicht schläft‹, erscheinen die künstlerisch Tätigen heute als Herolde der Freiheit oder vielleicht auch nur als Nachhut eines idealen, gar nicht realen Typus. Der eingangs dieses Abschnitts zitierte Künstler sagt: Dirk (K4): Das Bild vom Genius als Künstler – das ist immer noch anwesend. Ein anderer unserer Gesprächspartner spielt gleichfalls mit der Idee von der Überlegenheit des Künstlers, der sich an alle wendet und allen etwas zu sagen hat. Doch fasst er diese Idee gewissermaßen nur mit spitzen Fingern an: Filip (K2): Als Künstler denkt man immer, man ist so der – der Master, und man macht das und das stimmt und es ist gut für alle. Aber man kann sich schon […] fragen, […] was das jetzt bedeutet. Nach klassischer Lesart (Schmidt 1985) steht das Genie in Konkurrenz zum göttlichen Schöpfer, aber auch in Konkurrenz zu jener Figur, deren Fähigkeit, Leben zu geben, teils beneidet, teils als natürliche Reproduktion kleingeredet wird. Das männliche Genie misst sich demnach einerseits mit dem Übervater, andererseits mit der Mutter. Die Macht des Künstlers findet ihre Konkretisierung in dem Topos, dass er seine Werke als eine Art Gegen- oder Ersatzkinder hervorbringt. Dieser Topos taucht auch bei den Kreativen des 21. Jahrhunderts wieder auf. Ein Produktdesigner sagt: Daniel (D4): Grundsätzlich sind eigentlich alle Produkte Kinder [lacht] von mir. Ein Grafikdesigner empfindet analog zum Stolz auf das Kind auch Stolz auf sein Produkt: David (D5): Wenn ich dann wieder so ein Ding in die Finger nehme und mir das anschaue, das ist auch eine Anerkennung, die quasi ich mir selber gebe, also so Stolz vielleicht oder so, dass ich das jetzt gemacht habe.

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Der Topos von der Macht des Schöpfers, der ein Produkt gewissermaßen zur Welt bringt, wird von einem unserer Gesprächspartner aber nicht einfach aufgewärmt, sondern auf interessante Weise variiert. Der oben zitierte Produktdesigner bezeichnet seine Werke zwar als seine Kinder, doch leitend ist für ihn dabei nicht mehr die alte Idee des Stolzes auf die eigenen Kopfgeburten, sondern ein Gefühl der Zugehörigkeit oder der Treue: Er »stehe« zu ihnen, so meint er, auch wenn sie misslungen oder nicht »erfolgreich« seien oder etwas mit ihnen schiefgehe – so wie man eben als Vater seinen Kindern die Treue hält, die etwas ausgefressen haben. Hier schleicht sich eine Einschränkung der Schöpfermacht ein, von der im nächsten Abschnitt noch ausführlich die Rede sein wird. Die Produkte sind Teil von einem selbst, ohne dass man über sie vollends verfügen würde. Schon an dieser Stelle ist anzumerken, dass sowohl in der historischen Debatte über das Genie wie auch in den Stellungnahmen der Künstler_innen und Designer_innen, mit denen wir gesprochen haben, nicht nur die exaltierte Schaffenskraft, sondern auch die Empfänglichkeit, Aufnahmefähigkeit und Sensibilität des künstlerischen Menschen betont wird. (In der klassischen Debatte wird dies üblicherweise anhand der Unterscheidung zwischen männlicher Produktivität und weiblicher Rezeptivität diskutiert; vgl. Thomä 2016, 152.) Man könnte annehmen, dass die Künstler_innen sich mit der Feier des Schöpfertums leichter tun als ihre Kolleg_innen von den angewandten Künsten. Unsere Gespräche ergeben hier aber keine klare Tendenz und auch keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Hier wie dort stößt man auf den Genuss am Schöpfertum, aber auch auf dessen Zurücknahme. Besonders eindrucksvoll ist das doppelte Votum eines Grafikdesigners. Einerseits sagt er: David (D5): Für mich […] hat Kreativität viel mit […] Schöpfung zu tun. Also das klingt so ein bisschen religiös […]. Das Erschaffen von etwas, das […] vorher vielleicht nur eine Idee war oder nur ein Gedanke […], gibt mir einfach eine unheimliche Befriedigung. […] Von dem her hat es schon ein bisschen etwas mit Macht zu tun, also […] dass ich diese […] Mittel habe, so was zu machen. Andererseits sträubt er sich dagegen, diese Macht als Einzeltäter auszukosten: David (D5): Ich habe nicht so wahnsinnig das Bedürfnis zu sagen, das ist jetzt meine geniale Arbeit, die nur von mir kommt […]. Ich mag es eigentlich, wenn

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auch viele Leute dazu beitragen und man am Schluss dann etwas hat, […] das gut ist und wo man […] einen Einfluss gehabt hat. Aber es muss nicht […] von mir alleine sein. Dagegen stellt sich der eingangs dieses Abschnitts zitierte Künstler offensiv in die Tradition, die vom »Bild vom Genius« beherrscht ist. Wenn er sich ans Werk mache, dann »entstehen ganze kleine Welten«, sagt er (Dirk, K4). Er erzählt von einer geradezu mystischen Erfahrung, einer »Vision«, die ihn einmal heimgesucht hat und ihm das Gefühl gab, dass er sich auf die Welt ausdehnen, in die Gegenstände einwandern oder seine Präsenz zur Omnipräsenz steigern kann. Dirk (K4): Da gibt’s nicht »Das ist der Raum«. Sondern ich hab gesehen, das bin ich […]. Ich [bin] quasi das Zentrum der Welt. Wenn das Ich sich in der Welt breitmacht, dann heißt dies nichts anderes, als dass es sich die Welt als eigenes Reich zuschlägt. In der Ausdehnung des Ichs gipfelt das Machtgefühl – und das Störfeuer der Fremdheit, mit dem man sich sonst herumschlagen muss, erlischt. Der Künstler, der mit diesem Machtgefühl ausgestattet ist, bezieht – so könnte man sagen – eine radikal idealistische Position. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen: Mit seiner Omnipotenz weist er eine Verwandtschaft mit einer Figur auf, die in der sozialen Welt auftritt: mit dem exzessiven Egoisten, der – folgt man seinem beredten Fürsprecher Max Stirner – den »Selbstgenuss« zum »Weltgenuss« ausdehnt (Stirner 1972, 358). Nun scheitert jene Ausdehnung der Macht in der sozialen Realität regelmäßig daran, dass sich verschiedene Egos bei ihrem Genussstreben um ein und dieselbe Welt streiten. Sie müssen sie also doch irgendwie miteinander teilen und sich arrangieren. Dem künstlerisch Tätigen freilich eröffnet sich ein Ausweg, mit dem er den Weltgenuss ungebrochen aufrechterhalten kann. Die gravierende Einschränkung, die er dabei in Kauf nehmen muss, besteht allerdings darin, dass es sich bei der von ihm genossenen Welt nur um eine Sonderwelt handelt: um eine fiktive Welt, in der er nach Gutdünken herumfuhrwerken kann. Das Wort der Fiktion weist dabei die passende Doppelbedeutung auf, dass es für etwas Irreales, aber auch für etwas Gemachtes steht. Die Irrealität ist der Wermutstropfen, der den Trunk der ästhetischen Macht bitter werden lässt. Doch das Gefühl, diese Sonder- oder Kunstwelt

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immerhin geschaffen zu haben, taugt als Süßungsmittel, um jene Bitterkeit zu überdecken. Gleichwohl schleicht sich in das Machtgefühl des künstlerisch Tätigen auch jene Konkurrenz ein, der sein fremder, ferner Vetter, der ökonomische Egoist, ausgesetzt ist. Dies jedenfalls geht aus jenen Voten unserer Gesprächspartner_innen hervor, die den Blick auf das Material, über das man verfügt, mit dem Seitenblick auf die Konkurrenz kombinieren, derer man sich zu erwehren hat. Diese Doppelperspektive bietet schon eine Ahnung davon, dass das Verhältnis zwischen Person und Produkt nicht isoliert vom sozialen Kontext verhandelt werden kann. In geradezu drastischer Weise erfahren viele Kreativberuf ler – wie im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch deutlicher werden wird – den sozialen Raum weniger als Raum der Entfaltung als vielmehr als Schauplatz von Beeinträchtigungen und Bedrohungen. Jener Künstler freilich, der sich offensiver als seine Kolleg_innen in die Tradition des Genies stellt, lässt sich – jedenfalls dann, wenn er in Hochstimmung ist – von solchen Anfechtungen nicht schrecken: Dirk (K4): Wenn ich mein, mein Können zusammenleg[e], dann kann ich mehr wie der Rest. […] Ich habe nicht das Gefühl, ich bin der Künstler, […] aber […] ich begegne einfach keinem, der’s besser kann wie ich.

3.2 Kunst als Hingabe: »Es muss einfach irgendwie fließen.« Das Machtgefühl, das im Schöpfertum zugänglich wird, mag als – wie auch immer fiktive und defekte – Erfahrung taugen, die den sozialen Verwicklungen und der von Hegel und Marx/Engels beschriebenen allseitigen »Abhängigkeit« der Individuen entgegengehalten werden kann (Hegel 1970, 389; Marx/Engels, MEW 3, 37). Doch gerade weil die Kunst hier mit Macht assoziiert ist, kann sie sich nicht einfach damit brüsten, in Gegnerschaft zum Status quo zu treten. Die Künstler_innen begeben sich in eine Komplizenschaft mit jener Welt, der sie zu entgehen vorgeben – und zwar deshalb, weil sie sich in Gestalt der Macht auf eine Idee Stützen, die deren Standardrepertoire entstammt: Hobbes, Spinoza, Nietzsche, Weber, Foucault und viele andere haben die herausragende Rolle der Macht bei der individuellen und kollektiven Selbststeuerung in der modernen Gesellschaft betont. Statt also der Verführung zu erliegen, mit eigener Macht der Fremdbestimmung zu entgehen, kann ein kreativer Mensch es umgekehrt verächtlich

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finden, überhaupt auf die Macht zu setzen, und beschließen, der Macht abzusagen. Tatsächlich lässt sich die Kunst nicht nur für die eigensinnige Behauptung der Macht in Anspruch nehmen, sondern auch für die Abkehr von der Macht mobilisieren. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Während im Kampf um die Macht davon ausgegangen wird, dass alle auf der Lauer liegen und keiner schläft, gelten der Schlaf – und mit ihm der Traum – als enge Verbündete und Wahlverwandte der Kunst. Bejaht wird damit die Selbstentmachtung des Subjekts, besiegelt wird der Bruch mit den herrschenden Spielregeln, verhöhnt werden der Eifer und Fleiß der Selbstbehauptung. Natürlich liegt ein Risiko darin, sich aus dem Machtspiel zu verabschieden, denn man macht sich damit schutzlos und angreif bar. Doch so wie das schöpferische Subjekt in der Kunst einen Schutzraum sieht, in dem es die eigene Macht ungehindert entfalten kann, so bietet sie auch einen Schutzraum für diejenigen, die sich ungestraft in ihrer Machtlosigkeit ergehen wollen. Wer sich im Raum der Imagination bewegt, hat nicht nur Zugang zur Freiheit als Vollgefühl des Schaffens, sondern auch Zugang zur Freiheit als Hingabe, zu einem Sich-Freilassen oder Loslassen, das nicht in Unterwerfung mündet. Von Nietzsche stammt die wohl schönste Beschreibung dieser Freiheit: Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt […]; ein vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen […]. Alles geschieht im höchsten Grade un­freiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht von Göttlichkeit […]. Dies ist meine Erfahrung von Inspiration. (Nietzsche 1988, Bd. 6, 339f.) Der von Nietzsche stark beeinf lusste Max Weber hat diese Idee der Hingabe in seinen Überlegungen zur ästhetischen und erotischen Erfahrung aufgegriffen (Weber 1920, 554-563). Entsprechend kommt teils innerhalb, teils außerhalb der Geschichte des ästhetischen Genie-Gedankens ein Diskurs auf, der den künstlerischen Prozess eher passiv als aktiv deutet und die hektischen Aktivitäten des Schöpfers denunziert. Dass die ästhetische Passivität auch einen mobilisierenden Effekt haben kann, weiß man spätestens seit dem Surrealismus, der »die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen« suchte (Benjamin 1977b, 307).

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Die Betonung der Hingabe steht offensichtlich in einem Spannungsverhältnis zu der Kodierung des ästhetischen Prozesses, die sich im Begriff der »Kreativität« erschöpft. So gut eingeführt dieser Begriff zur Bezeichnung der kreativen Berufe, der Kreativwirtschaft, der Creative Class etc. ist, so wenig also auch wir in diesem Buches an ihm vorbeikommen, so sehr ist doch geboten, ihn mit Vorsicht zu genießen. Am Leitfaden dieses Begriffs kommt es zu einer höchst fragwürdigen Schleifung der Unterschiede zwischen Ästhetik und Ökonomie – und diese Angleichung passt weder systematisch zu der philosophischen Konzeption des künstlerischen Subjekts noch empirisch zu den Selbstbeschreibungen unserer Gesprächspartner_innen. Der Einspruch gegen Kreativität stützt sich auf die gerade beschriebene Erfahrung, wonach man sich Prozessen aussetzt, also die Kunst gerade nicht mit Schaffenskraft, sondern mit Empfänglichkeit assoziiert (Thomä 2010). Viele unserer Gesprächspartner hadern genau deshalb damit, dass ihnen im gesellschaftlichen Diskurs der Stempel der Kreativität aufgedrückt wird. Anders gesagt: Sie würden wohl eine Zumutung darin sehen, wenn ihnen ein Kultursoziologe entgegenhielte, dass jeder Einwand gegen Kreativität in der »Gegenwartskultur […] als ein absurder Wunsch« zu gelten habe (Reckwitz 2012, 9). Wenn im vorherigen Abschnitt als pointiertes Beispiel für die ästhetische Schaffenskraft die »Vision« eines Künstlers zitiert wurde, der sich als »Zentrum der Welt« fühlt, so ergibt sich aus dieser »Vision« nur mit einem kleinen Dreh das Gegenteil. Das Gefühl, dass das Ich sich im Raum, in einer »Welt« ergeht, kann man nicht nur als Prozess der Aneignung und Bemächtigung auffassen. Vielmehr kann man darin umgekehrt auch die Neigung oder Versuchung erkennen, sich im Raum zu verlieren. Diese Umdrehung führt zur Kritik der Schaffenskraft und zu einer Bejahung der Hingabe. Demnach steht gerade nicht der »Selbstgenuss« am Anfang, der sich zum »Weltgenuss« ausdehnt, vielmehr setzt der künstlerischen Prozess mit dem »Weltgenuss« ein, in dem das Selbst es genießt, über sich hinauszukommen. Sich einem Prozess zu überlassen, sich vom Material leiten zu lassen, einem unwiderstehlichen Sog oder Zwang zu folgen – all dies wird von einer Reihe unserer Gesprächspartner_innen als Genuss beschrieben, der ihnen bei der Arbeit zuteil wird. Dies gilt übrigens ›quer Beet‹, also im Bereich der Kunst ebenso wie des Designs. Eine Textildesignerin sagt: Daniela (D3): Es springt dich einfach an.

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Ein Typograf schwärmt davon, bei seiner Arbeit »eine andere Welt kennen zu lernen«: Markus (D1): Das finde ich etwas vom Großartigsten. Das ist fast wie Fliegen. Eine Künstlerin sagt: Julia (K5): Es muss einfach irgendwie fließen. […] Es ist schon eigentlich wie eine Hingabe. Sie neigt der Ansicht zu, dass es sich auch um »Arbeit« handle, »wenn ich einfach quasi auf meine Inspiration warte« – und lacht dabei (Julia, K5). Ein Künstler erzählt, dass er häufig nicht weiterkomme, wenn er voll »Elan«, also mit einer starken Intention ans Werk gehe, sich aber etwas ergebe, wenn er eigentlich gar nicht vorhabe zu arbeiten, und es »plötzlich […] Peng« mache (Ben, K6). Es kann durchaus passieren, dass in einer einzigen Person das Vollgefühl der Macht in die Hingabe umschlägt – und umgekehrt. Auch dem Künstler, der sich im Moment des Schaffens als »Zentrum der Welt« ansieht, ist die Erfahrung zugänglich, sich exzentrisch oder ekstatisch zu verhalten, sich also dem Sog der Inspiration hinzugeben. Dazu gehört dann, nicht selbst am Drücker zu sein, sondern sich von einer höheren Macht mitreißen zu lassen: Dirk (K4): Du hast gar keine Wahl. […] Wenn du spürst, dass du mit etwas dran bist […], was das reine Abdecken von Bedürfnissen übersteigt, dann kannst du das gar nicht loslassen. Eine besondere Verführungskraft dieser Erfahrung scheint darin zu liegen, dass man über seine eigenen willkürlichen, befangenen »Bedürfnisse« hinausgeht und »du immer näher zu dem kommst, was du zu tun hast« (Dirk, K4). Diese letzten Worte sind mit Bedacht zu hören. Aus ihnen geht hervor, dass man sich im Bereich des kreativen Prozesses und der ästhetischen Erfahrung offensichtlich auf eine Begegnung mit dem Müssen gefasst machen muss. Dies ist befremdlich, weil die Kunst – wie im vorherigen Abschnitt erwähnt – an die Freiheit und das Wollen gebunden zu sein scheint. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass das Müssen seinen Stammplatz im Bereich des Zwangs und Befehls hat. Entsprechend hält man

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das Müssen nur unter bestimmten Umständen für zumutbar und gerechtfertigt – und zwar dann, wenn es moralisch begründet ist. Doch die bereits zitierte Pointe Arnold Schönbergs, wonach Kunst von Müssen und nicht von Können komme, passt auch zu der professionellen Erfahrung unserer Gesprächspartner_innen: Marc (K3): Wir können gar nicht anders! […] Ich mache etwas, das gemacht werden muss. Offensichtlich liegt eine Qualität der ästhetischen Erfahrung darin, der Wahl enthoben zu sein, über die Beliebigkeit des Dies und Das hinauszugelangen. Der Zwang, die Notwendigkeit, die man verspürt, scheint anders als die Formen des Müssens, die in autoritären und repressiven Sozialbeziehungen eskalieren, ungefährlich oder geradezu unschuldig zu sein. Freilich ist schwer zu sagen, woraus sich diese ästhetische Notwendigkeit ableitet und worin ihre sachliche Berechtigung liegt. Beschrieben wird dies häufig als eine Tendenz, die in dem Material, mit dem man umgeht, angelegt ist. Ein Typograf sagt: Markus (D1): Ich bekomme ein Manuskript und das bringe ich in eine Form […]. Ich versuche […], ein angemessenes Format zu finden. Er spricht von »Schwingungen«, die in den gestalterischen Elementen angelegt sind und an die man sich »rantastet«, bis das Gefühl eintritt, dass etwas »den richtigen Klang« hat (Markus, D1). Das heißt, dass man über den Abschluss und das Gelingen des eigenen Schaffens nicht selbst entscheidet, sondern darauf wartet sagen zu können: Jetzt ist es gut! So bekommt der schöpferische Prozess eine kontemplative, betrachtende Qualität: Zu ihm gehört, »den Dingen zuzuschauen, wie sie entstehen« (David, D5). Eine Grafikdesignerin sagt: Deborah (D8): Das ist ja so wie […] im Frühling die ersten Blumen sehen, das ist so wie dieses Gefühl: Boah, das stimmt jetzt. Das sind […] Momente, die man ja auch sonst im Leben quasi sucht. Die Notwendigkeit, die im Material angelegt ist, ist notorisch schwer zu fassen; Theodor W. Adornos Theorie des musikalischen »Materials« (Ador-

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no 1976, 38-40) legt davon Zeugnis ab. Gleichwohl ist klar, welche Funktion sie für das ästhetische Subjekt erfüllt: Sie steht für eine Gegenerfahrung zur Kontingenz. Die Bereitschaft, sich bestimmen zu lassen, geht einher mit einer Dezentrierung und Depotenzierung des Subjekts. Interessant an der künstlerischen Tätigkeit ist demnach die Tatsache, dass man nicht an individuellen Interessen oder »Bedürfnissen« (Dirk, K4) festhängt, also nicht als Sender, sondern als Empfänger auftritt. Man könnte sagen, dass man sich als abgegrenzte, sich behauptende Instanz aufgibt oder im Extremfall aus dem Auge verliert. Das heißt nichts anderes, als dass ein breites Vokabular, das typischerweise mit kreativer Tätigkeit in Verbindung gebracht wird, von manchen – nicht von allen! – Gesprächspartner_innen mit spitzen Fingern angefasst wird. Ein Künstler bemerkt zu dem Deutungsangebot, seine Tätigkeit würde zur »Selbstverwirklichung« – verdachtsweise ein Gegenbegriff zur Selbstentfremdung – beitragen: Filip (K2): Also du meinst, durch die Kunst findet man sich selber oder so in diesem Sinne? Nee, also für mich war das nicht so. Ein anderer Künstler bemerkt: Marc (K3): Ich glaube auch, dass der Blick von außen auf die Kunst ist: Das sind Selbstverwirklicher – höchsten Grades. Aber innerhalb der Kunst ist es, glaube ich, schon etwas anders. Eine Künstlerin antwortet auf die Frage: »Ist Selbstverwirklichung ein Begriff, mit dem du etwas anfangen kannst?« Miriam (K1): Nein! [lacht] Ähm, weil es geht nicht um mich. Zur »Kreativität« bemerkt sie: Miriam (K1): Ich habe halt das Wort nicht gerne. Auch »Freiheit« findet sie »ein schreckliches Wort«. Miriam (K1): Kreativität und Freiheit sind für mich eigentlich […] rote Tücher. […] Ich muss mich schon in einen Zustand bringen, wo ich wirklich nicht zu

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viel überlege. […] Man muss recht loslassen können, glaube ich, dass das funktioniert. Diese Voten stützen sich auf die Idee von der Autonomie des Werks und dessen Primat gegenüber der Figur des Künstlers. Sie enthalten überdies gemäß der am Anfang dieses Abschnitts erwähnten machtkritischen Wendung eine Spitze gegen die Idee des individualisierten Akteurs und Schöpfers. Dazu gehört auch, dass die Künstler_innen sich gegen die Verwandtschaft mit dem Modell des Selbstunternehmers zur Wehr setzen, die aus berufssoziologischer Perspektive durchaus naheliegt. Aus dieser berufssoziologischen Sicht erscheinen Künstler_innen als Individuen, die alleine dastehen und sich mit ihren Leistungen positionieren müssen. Zwar sind diese Leistungen nicht in gleicher Weise wie diejenigen des Selbstunternehmers eindeutig auf einen Markt zugeschnitten und dort dem Wettbewerb ausgesetzt, gleichwohl kommt es dort, wo über die ästhetischen Varianten der Innovation befunden wird, zu Konkurrenzsituationen. Wer diese Selbstpositionierung als Belastung empfindet, entzieht sich der individualisierten Akteursrolle durch die Hingabe an das Werk. Darin liegt auch ein Widerstand gegen eine Tendenz, die im heutigen Kunstmarkt analog zu anderen Märkten immer stärker geworden ist: nämlich die Tendenz, dass sich die Person, die etwas produziert, zu inszenieren hat, sie also nicht hinter dem Werk zurücktritt, sondern dabei immer mitgedacht – und mitgekauft! – wird. Ein Künstler sagt: Filip (K2): Ich hatte früher so diese Hoffnung, […] dass die Kunst, die man macht, […] autonom werden kann, […] dass sie wie alleine funktioniert. Und ich habe gemerkt, dass das eigentlich nicht stimmt, das geht so nicht. Also der Künstler muss genauso gut funktionieren wie die Arbeit. Das heißt, diese Figur, der Künstler, […] ist erfolgreich auf allen Ebenen, das heißt […] vielleicht teilweise mehr auf der persönlichen Ebene. […] Die Leute, […] die wirklich so eine Identität haben, so eine Persönlichkeit, [pflegen] […] das auch […]. Es geht immer um das Behaupten, und so eine Haltung zu haben, das ist immer so ganz wichtig, vielleicht teilweise viel mehr als die Arbeit selber. Eine Künstlerin spitzt diesen Punkt zu:

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Miriam (K1): Die Künstlerbiographie […] wird eigentlich auch verkauft […]. Das ist ein ganz großer Marktzweig im Moment. Die Verschiebung vom Werk zur Person gehört in eine größere soziale und ökonomische Dynamik, von der im sechsten Abschnitt dieses Kapitels noch die Rede sein wird. Aber die Personalisierung stellt auch ein innerästhetisches Problem dar. Dass nämlich eine Person hinter ihrem Werk zurücktreten will, hat seinen Grund auch darin, dass sie über sich und ihre persönliche Agenda hinausgehen will und ihr Werk darbietet, auf dass es von Rezipienten und Adressaten angenommen und angeeignet werden kann. Diese Aneignung, die auch als Eintritt des Werks in eine Sphäre der Allgemeinheit aufgefasst werden kann, wird torpediert, wenn das Werk an die Person gebunden bleibt. Eine Künstlerin sagt: Miriam (K1): Ich will ja Kunst machen – und nicht mich reflektieren […] oder […] meinen Schmerz irgendwie zeigen […]. Es geht wirklich um etwas ganz Allgemeines. Ein Künstler lästert über die »Hobbykünstler«, die »auf eine sehr expressive Art« ihre persönlichen Probleme zum Thema machen: Filip (K2): Das ist […] ein bisschen uncool [lacht]. Diese Meinung bleibt freilich nicht unwidersprochen: Ben (K6): Ich versuche meine, meine Seele darzulegen, bis zu einem gewissen Grade das darzulegen, was ich empfinde, was ich erlebe, was ich sehe. Während der Kunstmarkt die Personalisierung und Individualisierung forciert, also auch den Eintritt des Werks in eine überpersönliche Sphäre erschwert, können die Designer_innen versuchen, der klassischen Idee vom Verschwinden des Künstlers hinter dem Werk treu zu bleiben. Sie sind gewissermaßen im Vorteil, weil sie ohnehin mit einem weniger emphatischen Verständnis von Autorschaft operieren. Entsprechend können sie sich auf geradezu altmodische Weise auf das Werk konzentrieren. Das Produkt – so hört man beispielsweise – »muss stimmig sein. Ob es dann schlussendlich auf mich zurückgeführt werden kann, […] das ist mir eigentlich egal.« (Da-

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niel, D4) Die Künstler_innen, die ebensolche Zurückhaltung üben wollen, tun sich damit eher schwer. Zwar folgen sie damit einem klassischen ästhetischen Ideal, doch setzen sie sich dem Vorwurf aus, gegen die herrschenden Spielregeln in der Szene zu verstoßen, und riskieren die Marginalisierung: Filip (K2): Ich hatte früher so diese Hoffnung, […] dass die Kunst, die man macht, […] autonom werden kann und dass es nicht darum geht, dass der Künstler danebensteht […]. Und ich habe gemerkt, dass das eigentlich nicht stimmt […]. Der Künstler muss genauso gut funktionieren wie die Arbeit.

3.3 Kunst als Selbstverwandlung: »Ich finde es eher schade, wenn man zu etwas gehört.« Bei den ersten beiden ›Ortsterminen‹, von denen in diesem Kapitel bisher Bericht erstattet worden ist, ging es um die Alternative, ob die künstlerische Praxis für die Sicherung einer starken Subjektposition oder für die Zulassung einer schwachen Subjektposition steht. Beide Möglichkeiten werden von unseren Gesprächspartner_innen gesucht und genutzt, und manche von ihnen wenden sich mal hierhin, mal dorthin. Ihr Repertoire ist damit aber noch nicht erschöpft: Sie können auch eine Vorgabe außer Kraft setzen, die der gerade geschilderten Alternative zugrunde liegt, und sich auf diese Weise neue Spielräume eröffnen. Diese Vorgabe besteht – kurz gesagt – darin, dass das Verhältnis zwischen dem künstlerischen Subjekt und seinem Gegenstand einstweilen noch ziemlich statisch verstanden worden ist. Das Subjekt ist als Instanz gedacht, die entweder ihr Machtgefühl genießt oder sich der eigenen Macht entschlägt. Dahinter stehen, wie dargestellt, gegenläufige Strategien zur Positionierung des künstlerischen Subjekts im sozialen und politischen Raum: Auf der einen Seite wird die Autonomie dieses Subjekts gefeiert, auf der anderen Seite steigt es aus dem Machtspiel aus, das in der Gesellschaft im Gange ist. Diese unterschiedlichen Positionierungen des Subjekts lassen sich nun ergänzen durch eine weitere Perspektive auf künstlerische Praxis, die weder auf Selbstbehauptung noch auf Selbstpreisgabe setzt, sondern auf Selbstverwandlung. Die Alternative zwischen Aktivität und Passivität wird unterlaufen, der Fokus verschiebt sich auf den künstlerischen Prozess, auf den man sich einlässt, den man durchläuft und aus dem man verändert hervor-

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geht. Dieser Prozess wird mit der Idee der Beweglichkeit des eigenen Lebens, mit der Aversion gegen Routine und Konformismus verbunden. Man macht mit sich selbst gewissermaßen ein Experiment, in dem man ein Werk gestaltet und dabei zugleich selbst umgestaltet wird. Die Figur des Künstlers, die sich neuen Erfahrungen aussetzt, von ihnen aus der Bahn geworfen und auf neue Wege gebracht wird, reicht natürlich wie viele andere, die in unseren Gesprächen auftreten, weit in die Geschichte der Ästhetik, aber auch der Sozialphilosophie zurück. Eine schöne Formulierung hierzu findet sich in einer Rede Robert Musils aus dem Jahr 1934: »Die Kunst […] erhält das Noch-nicht-zu-Ende-Gekommene des Menschen, den Anreiz seiner Entwicklung am Brennen.« (Musil 1983, 1255) Wir haben einen Gesprächspartner (Dirk, K4) bereits als jemanden vorgestellt, der das mit der Kunst verbundenen Machtgefühl stark betont. Auch er beharrt aber nicht nur auf seiner souveränen Position, sondern lässt sich auf Prozesse der Selbstverwandlung ein; sie bleiben bei ihm freilich an die eigene Entschlusskraft gebunden: Dirk (K4): Hey, ich kann alles werden, was ich will, oder ich kann alles machen, was ich will. […] Ich finde, das ist so ein unglaubliches Gefühl. Ich kann jammern […], aber ich kann hier zur Tür raus laufen und ich kann mein Leben komplett ändern. Und das ist der Hammer, oder? Und du bist ein Arschloch, wenn du’s nicht machst. […] Ich muss nirgends drin sitzen bleiben! […] Die Kunst war dann für mich so sinnbildlich für das. Da geht’s um das. […] Das ist eigentlich das Interessante, […] dass es nicht um die Gleichmacherei geht und in Schubladen zu bringen, sondern dass es genau drum geht, eben das Gegenteil zu sein. Da das Gefühl, in Bewegung zu sein, die Erfahrung einschließt, keinen festen Standort zu haben, kann die Auf bruchsstimmung freilich auch mit Verunsicherung gepaart sein. Eine Künstlerin hat, wie sie meint, ein »Bild« von sich, wonach »es ab einer gewissen Zeit einfach wieder Veränderung braucht« (Julia, K5), beschreibt dann aber auch die schwankende Position, in die sie dabei gerät: Julia (K5): Du hast dich zwar gelöst, aber du weißt noch nicht, wie es weitergeht.

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Eine Grafikdesignerin sagt: Ena (D7): Ich weiß nicht genau, was ich bin. Ein Künstler sagt: Filip (K2): Mein Problem ist, dass ich immer so ein bisschen das Gefühl habe, dass ich nicht so am richtigen Platz bin. […] Im Moment bin ich […] ein bisschen zwischen zwei Stühlen. […] Und […] eigentlich ist das ja auch gut. Ich habe dadurch auch keine Schwierigkeiten, irgendwohin zu gehen, und ich freu mich – es ist ein aufregender Gedanke, irgendwo anders hinzugehen. […] [Ich] bin […] nicht der Typ, […] der zu einer Szene gehört. […] Ich sehe das so, dass man ein bisschen vom einen zum anderen hüpfen kann. […] Ich finde es eher schade, wenn man zu etwas gehört. […] Es besteht schon die Gefahr, dass man dann auch vom Ganzen aufgefressen wird ein bisschen, oder dass man auch seine Identität verliert, wenn man zu sehr in einer Szene […] involviert ist […]. Darum finde ich das Interessante, dass man hier ein bisschen so hüpfen kann. Aber das ist eher so eine ideale Vorstellung. Viele unserer Gesprächspartner_innen schlagen in diese Kerbe: Julia (K5): Ausbrechen, wieder einmal weg, einfach Erfrischung […] – das ist schon ein Bedürfnis, das ab und zu vorhanden ist. Daniel (D4): Man muss immer in Bewegung sein, sonst geht es nicht. Ena (D7): Ich will irgendwie wachsen irgendwann, und das – das ist eine große Frage. Ein Grafikdesigner spricht von der »Freude […] etwas Neues zu entdecken oder […] einen Weg zu gehen, [von dem] […] man jetzt so noch gar nicht gedacht hat, dass es ihn gibt.« (David, D5) Hier geht es weniger um den heroischen Mut des Auf bruchs als um die Bereitschaft, sich Prozessen auszusetzen. Diese Bereitschaft ist in der experimentellen Lebensführung und in den kreativen, ästhetischen Prozessen gleichermaßen gefragt. Ein Produktdesigner sagt: Daniel (D4): Da muss man sich ganz einlassen, sonst kommt es nicht gut raus.

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Umschrieben wird hier eine Erfahrung, in der man eine andere Welt oder ein anderes Leben kennenlernt, in der man sich selbst fremd wird und eine Entfremdung – in einem positiven Sinn! – erfährt. Historisch lässt sich diese Erfahrung auf Denis Diderot zurückführen, der in seinem Dialogroman Rameaus Nef fe den positiven Entfremdungsbegriff in die Ästhetik und Kunsttheorie eingeführt hat und in einem Brief an Madame Riccoboni den schönen Satz geprägt hat: »Je sais aussi m’aliéner; talent sans lequel on ne fait rien qui vaille.« – »Ich kann mich auch von mir entfremden – ein Talent, ohne das man nichts vollbringt, was etwas taugt.« (Diderot 1875, 404; vgl. Thomä 2016, 157) Über viele Stationen wirkt diese Idee bis in die Gegenwart weiter. Sie ist deshalb brisant, weil sie die Forderung nach sich zieht, die Diskussion über Entfremdung komplexer anzulegen als dies in den üblichen gesellschaftskritischen Diskursen üblich ist. Wer sich gegen Entfremdung wendet, kritisiert zu Recht den Entzug von Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Weltaneignung, muss sich aber des Problems bewusst sein, dass er als Gegenbild des Fremden auf das Eigene – also auch auf eine gewisse Fremdenfeindlichkeit! – setzen muss. An der Bereitschaft für das Neue, die sich in den Werken, aber auch im persönlichen Lebenswandel ausdrückt, gibt es einen heiklen Punkt: Woher kommt diese Bereitschaft, wovon wird sie angetrieben oder verstärkt? Hier kommen nämlich neben inneren Ansprüchen auch äußere Erwartungen ins Spiel. Betroffen davon sind Künstler_innen und Designer_innen gleichermaßen. Ein Künstler sagt: Filip (K2): Man muss sich selber überraschen. Dieser Drang zur Überraschung und zum Kampf gegen »Routine« (Filip, K2) wird nicht nur von innerer Abenteuerlust genährt, sondern auch davon, dass man andernfalls schnell uninteressant und »weg vom Fenster« sein könnte (Filip, K2). Künstler_innen wie Designer_innen sind gleichermaßen damit konfrontiert, dass ihre Adressaten – seien dies ästhetische oder ökonomische Anerkennungsagenturen – Überraschendes und Innovatives erwarten. Ein Produktdesigner sagt: Daniel (D4): Gute neue Produkte sind solche, die es noch nicht auf dem Markt gibt, in dem Sinn, dass es nicht einfach eine Kopie ist […]. Das finde ich eigent-

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lich das Interessante an unserem Job. […] Also mit Innovativität meine ich wirklich eine Verbesserung oder eine Andersartigkeit. Um überhaupt eine solche Verbesserung zu erreichen, bedarf es ihm zufolge einer doppelten Kompetenz. In einem ersten Schritt ist eine Art Bestandsaufnahme oder »Research-Arbeit« gefragt, die feststellt, was es auf dem Markt gibt und was dort gut »läuft«. In einem zweiten Schritt gelangt man über den Status quo hinaus, und hier ist dann »ein gewisses Querdenken« gefragt, so dass »man vielleicht auch andere Lösungen findet als die, die es auf dem bestehenden Markt schon gibt« (Daniel, D4). Daniel (D4): Meistens will eigentlich ein Unternehmer auch eine gewisse Innovation haben. Und da probiert man eigentlich auch wirklich etwas zu machen, was es nicht unbedingt gerade gibt. Wenn man etwas macht, was es noch nicht gibt, dann wird man – radikal gedacht – im Zuge dieses Prozesses selbst eine Person, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hat. Das Neue kann nicht nur im Objekt, es muss auch im Subjekt liegen. Kreativität und Selbstverwandlung greifen ineinander. Man muss die gewohnte Formensprache, die einem selbst »in Fleisch und Blut« übergegangen ist und die man aus dem eigenen Kopf »fast nicht mehr raus« bekommt (Daniel, D4), in einem oft schmerzlichen Prozess loswerden: Daniel (D4): Man muss sich manchmal sogar eher ein bisschen lösen wieder, also wirklich probieren, alles zu vergessen, was man bisher gemacht hat. Und das ist so schwierig […], sich auch mal zu sagen: Gut, jetzt machen wir mal ein weißes Blatt. […] Die Freiheit und die Offenheit, die muss man sich irgendwie bewahren, fast ähnlich wie ein Kind […], das das Zeug das erste Mal sieht. All diejenigen, die in der Rolle des Auftraggebers, Kritikers, Kunsthändlers und -käufers auftreten, haben eine Aversion gegen Wiederholungen und beginnen sich zu langweilen, wenn Künstler_innen immer die gleiche Masche anwenden. Diese Langeweile spiegelt sich auch in den Unwillen und der Unrast, die viele Künstler_innen zum Ausdruck bringen: Selbst wenn sie mit bestimmten Werken gut ankommen, wollen sie nicht immer den »gleichen Stiefel« machen. Manchmal ärgern sie sich selbst über ihre eigene Unruhe:

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Marc (K3): Ich habe […] ohne Not gezweifelt an dem, woran ich gerade gewesen bin. Und wenn ich […] nahtlos weitergemacht hätte, dann wäre ich jetzt als Künstler an einem anderen Ort. […] Aber ich bin wahrscheinlich recht schlecht [dar]in […], wenn es dann wirklich läuft, das quasi mitzunehmen und weiterzumachen. Ich bin dann immer – ich weiß nicht, warum – gleich immer wieder skeptisch, wenn es dann so einfach läuft irgendwie. Der äußere und innere Zwang zur Innovation wirkt sich nicht nur auf den kreativen Prozess im engeren Sinne aus, er gehört vielmehr in einen weiteren sozialen und ökonomischen Prozess, der aktuell mit Stichworten wie Disruption gekennzeichnet wird. Dieser Prozess wirkt sich gerade auch im Bereich des Designs aus und führt dort zu Umbrüchen und Krisen, von denen ganze Geschäftsmodelle betroffen sind. So ist die Bereitschaft, sich zu verändern, nicht nur eine Schlüsselqualifikation für die Herstellung kreativer, innovativer Produkte, sondern auch eine schiere beruf liche Notwendigkeit. Eine Textildesignerin beschreibt, wie sich die Krise, von der ihre Branche erfasst wird, auf ihre persönliche Haltung auswirkt: Daniela (D3): Mit der Wirtschaftskrise, die man spürt […], ist es am besten, wenn man […] auch offen ist […] und jetzt nicht einfach festgefahren ist […]. Man muss sich auch immer wieder anpassen und neu erfinden, und das macht es halt auch irgendwie spannend. […] Der Typ Entwerfer ist mega im Wandel. Er verändert sich extrem, […] und ich finde das richtig und nichts anderes. Die Anpassung besteht in diesem Fall paradoxerweise gerade darin, die Fähigkeit zur Unangepasstheit an den Tag zu legen. Mit dem Schritt von der Selbstverwandlung zur Selbsterfindung wird die Innovation zum Pf lichtprogramm des modernen Individuums. Das heißt nichts anderes, als dass die Aversion gegen Routine, mit dem sich die Künstler_innen gegen die Normalität stellen, unversehens zu etwas ganz Normalem wird. Wenn die Originalität zur Regel wird, bricht das besondere, gesonderte Selbstverständnis der Künstler_innen zusammen (Boltanski/Chiapello 2003, 449): Betty (D10): Kreativität braucht es nicht nur [in] […] sogenannt kreativen Berufen, das braucht es in jedem Beruf.

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3.4 Kunst als Gegenwelt: »Ich will irgendwie auch ein bisschen neben der Gesellschaft sein« Schon bei den bisher abgehandelten Ortsterminen wurde auf Schritt und Tritt deutlich, dass die ästhetische, kreative Praxis in vielfältiger Weise von sozialen Rahmenbedingungen beeinf lusst wird. Diese Rahmenbedingungen rücken nun in diesem und in den folgenden Abschnitten stärker in den Mittelpunkt. Dabei trifft man zunächst auf die Option, das Verhältnis zwischen kreativer Praxis und sozialem Umfeld als scharfen Gegensatz aufzufassen. Diese Option ist – im Unterschied zu den bislang beschriebenen Situationen und Erfahrungen – vor allem den Künstler_innen zugänglich, denn eine solche Abgrenzung verträgt sich nicht mit dem Arbeiten in Teams und dem engen Bezug zu Auftraggebern und Kunden, wodurch die Arbeit von Textil-, Schmuck- oder Produktdesigner_innen gekennzeichnet ist. Freilich kennen auch sie Situationen, in denen sie ganz in ihrer Arbeit aufgehen und die Verbindung zur Welt ausgedünnt wird. Eine Schmuckdesignerin sagt: Nadja (D2): Was ich gern mache, ist Hörspiele hören oder Radio oder sonst Musik, einfach dass ich noch so ein bisschen Kontakt zur Außenwelt habe [lacht]. Weil sonst bin ich so mit mir und in mir drin, dass es manchmal unangenehm wird. Ich muss manchmal wie so einen Draht zur Außenwelt noch haben. Ein Typograf sagt: Markus (D1): Wenn man alleine ist, ist man schnell mal einfach daneben. Die Kunst als Gegenwelt und die künstlerische Existenz als Randfigur sind getragen von dem Anspruch, ganz anders zu sein als der Rest der Welt. Diese Lesart zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kunst und der Figur des Künstlers – doch man darf sagen, dass dieser rote Faden immer in der Gefahr steht, auszudünnen und auszufransen. Die Glaubwürdigkeit dieser Lesart sinkt in dem Maße, wie die Kunst – auch die sogenannte freie Kunst – auf Adressaten Bezug nimmt und in soziale Kontexte eingelassen sind. Entsprechend spüren die Künstler_innen die Versuchung, sich in einer Gegenwelt einzurichten, und stehen ihr zugleich selbst misstrauisch gegenüber.

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Dieser innere Zwiespalt macht sich an dem Topos fest, wonach der »schöpferische Genius« – wie ein Künstler sagt – ein »Autist in seiner Dachkammer« (Dirk, K4) ist. Obwohl diese Formel negativ klingt, wird ihr interessanterweise eine gewisse Berechtigung zugeschrieben: Dirk (K4): Es gibt unter den Künstlern viele, […] die haben so ein bisschen autistische Züge. Das sieht man schon, ja – so sagt ebenjener Künstler, um dann die überraschende Pointe zu ergänzen: Dirk (K4): Das hilft. Hilfreich ist der Autismus als eine Art Schutzmechanismus, mit dem man sich von den äußeren Zudringlichkeiten und inneren Hintergedanken löst, die den Künstler heimsuchen. Durch solche Heimsuchungen ist eigentlich der Normalzustand der künstlerisch Tätigen gekennzeichnet – und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen: Ökonomisch ist ihr Lebensmodell oft prekär, ästhetisch ist die Anerkennung notorisch volatil, sozial geraten sie aufgrund ihrer individuellen Arbeitsweise häufig in eine Isolation, die nicht einfach nur als splendid isolation genossen werden kann. Der Versuch, auf allen Ebenen Zuspruch, Rückhalt, Anerkennung und Absicherung zu erlangen, stellt sich in vielen Fällen als mission impossible dar. Wenn man sich in diesem Versuch aufzureiben droht, wenn man etwa das Gefühl hat, von allen Seiten verkannt zu werden, hat es eine heilsame Wirkung, sich von den Schau- und Kampfplätzen des sozialen Lebens ganz zurückzuziehen. Man will nicht mehr mitmischen und mitspielen, man will nicht mehr – wie dies ein Künstler formuliert – auf irgendwelchen »Eröffnungen« sein Netzwerk pf legen, sondern empfindet dort nichts als »Panik« und denkt: Filip (K2): Au, weg hier! Diese Reaktion gehört eben zu dem genannten »Autismus«. Er ist gewissermaßen der unansehnliche kleine Bruder der künstlerischen Autonomie. In den meisten Fällen wird das künstlerische Schaffen als eine Tätigkeit beschrieben, die in großer Zurückgezogenheit und Einsamkeit, in einer tota-

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len Konzentration auf sich selbst stattfindet. Diese Situation wird nun aber nicht nur ertragen – sie wird auch genossen. Eine Künstlerin sagt: Miriam (K1): Das ist sehr eine zurückgezogene Geschichte eigentlich, das Malen. […] [Es] ist nicht so einfach, sich auszutauschen, es ist nicht so einfach, zusammen zu schaffen, also es ist wie etwas, wo man ganz für sich ist. […] Ich will irgendwie auch ein bisschen neben der Gesellschaft sein – vielleicht sogar. Also dann ein ganz, ganz klassisches Künstlerbild [lacht]! Eine andere Künstlerin sagt: Julia (K5): Ich habe nachher eigentlich auch schnell mal das Bedürfnis gehabt, ein Atelier zu haben. Das ist einfach irgendwie so ein, so ein Bedürfnis gewesen […], [um] […] eine Insel zu haben. Die positive Deutung, wonach die künstlerisch Tätigen als Randfiguren oder gar als große Einsame auftreten, lässt sich stabilisieren und rechtfertigen, wenn die Gegenwelt, von der sie sich abgrenzen oder abkoppeln, negativ gedeutet wird. Entsprechend gehört zu dieser Selbstpositionierung auch eine lebensgeschichtliche Dimension: Man kehrt sich ab von einer Welt, in der man sich nicht wohlfühlt, die einen langweilt oder abstößt. Häufig berufen sich die Künstler_innen hierzu auf frühe Erfahrungen, etwa auf die Entfernung vom normalen Leben der Eltern, den Ausstieg aus einem Brotberuf etc. Ein Gesprächspartner bringt dieses Gefühl auf den Punkt: Dirk (K4): Ich wusste nicht genau, was ich will, aber ich wusste genau, was ich nicht will. Ein anderer erinnert sich daran, wie er »wirklich so rebelliert [hat] […] mit achtzehn« und »ein halbes Jahr vor Lehrabschluss die Lehre abgebrochen« und nach Portugal »abgehauen« ist: Marc (K3): Ja, in diesen jungen Jahren war ich also extrem unzufrieden mit sehr, sehr vielem. Manchmal wird der lebensgeschichtliche Weg an den Rand im Rückblick mit gemischten Gefühlen betrachtet: Dann tritt neben den Stolz auf die Eigen-

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ständigkeit die Sorge um die Verlassenheit. So erinnert sich ein Künstler an sein früheres Leben als »Revoluzzer« und beschreibt diese Phase als eine »sehr unbewusste Zeit«: Ben (K6): Ich selber habe eher in einem Traumland gelebt und ich habe gemerkt, dass diese Welt da draußen nicht mit meinem Traumland zu vereinbaren ist. In meiner Traumwelt […] bin ich mal gegen alles. Ich sage das jetzt mal ein bisschen selbst[kritisch], also nicht so wohlwollend mir selber gegenüber. Also, das ist natürlich ein bisschen eine dumme Haltung, aber es war nun mal so. […] Ich denke, es ist eine normale menschliche Regung. Dieser Künstler beschreibt seine weitere Entwicklung als eine Rückkehr in die Gesellschaft, die freilich nicht als schlichte Anpassung oder Normalisierung erscheint, sondern als eine vorsichtige, zwiespältige Annäherung zwischen »Traumwelt« und wirklicher Welt: Ben (K6): Und ich bin vielleicht jetzt ein bisschen auf der Erde gelandet und denke, ich versuche mit meinen Mitteln zu überleben, um zu leben. Eben nur »ein bisschen« – nicht ganz! – auf der Erde zu landen: diese Absicht passt zum Selbstverständnis vieler unserer Gesprächspartner_innen. Weder ziehen sie sich einfach in eine Gegen- oder Eigenwelt zurück und kappen die Leinen, die sie an die normale Welt binden, noch geben sie ihre Sonderstellung auf, um im mainstream zu schwimmen wie die Fische im Wasser. Die Solldistanz – oder, besser gesagt, die Wunschdistanz oder gewollte Distanz – zur Normalität ist ihnen wichtig.

3.5 Kunst als Eingriff in die Gesellschaft: »Wir müssen den Glauben haben, wir könnten die Welt neu erfinden – wissend, dass wir es nicht können.« Man kann die Beziehung zwischen den Künstler_innen und der Gesellschaft als unglückliche Liebesgeschichte erzählen: Sie können zueinander nicht kommen. Schein und Sein, Fantasie und Realität gehen aneinander vorbei, es ergeht ihnen so wie »Mr. Moon« und »Lady Sunshine«, die – wenn man denn einem bekannten Liedtext Glauben schenken will – einfach keine

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Chance haben, sich zu treffen: »Denn wenn er aufsteht, dann geht sie schlafen.« Im letzten Abschnitt haben wir davon berichtet, wie die Künstler_innen alleine zurecht kommen und sich vorbehalten, nur »ein bisschen« auf der »Erde« zu landen. Dieser Vorbehalt, diese Zurückgezogenheit liegt im Wesen des Schaffensprozesses. Zu ihm gehört unweigerlich eine Art Liebeskummer, denn es kann gar nicht anders sein, als dass das Rendezvous zwischen Kunst und Wirklichkeit scheitert: Die Kunst muss auf der Differenz zwischen dem Realen und dem Imaginären insistieren. Die künstlerische Arbeit ist demnach immer auch ein bisschen Trennungs- und Trauerarbeit. Und doch bleibt die Zurückgezogenheit nicht ungebrochen und unwidersprochen. Die Werke, die gewissermaßen nicht von dieser Welt sind, sind ihr doch irgendwie abgewonnen – und sie lassen sich auch als Gesten deuten, die sich an andere richten und auf diese Welt zugehen. So stecken die Künstler_innen in einem Zwiespalt: Einerseits ziehen sie sich zurück, andererseits suchen sie den Bezug zur Wirklichkeit und zur sozialen Welt. Seit dem späten 18. Jahrhundert kennt die Ästhetik neben der Kunst als Gegenwelt, neben dem Rückzug in das schöne Reich des Scheins auch das Gegenprogramm: den Ausgriff der Kunst auf die Welt oder sogar die Verschmelzung von Kunst und Leben. Sie beschränkt sich nicht auf die Lebenskunst des Individuums oder des sich verwandelnden Subjekts, sondern greift offensiv auf das gesellschaftliche und auch auf das politische Leben aus. In zwei Varianten ist diese Offensive der Kunst gedacht worden: als Intervention und als Fusion. Die intervenierende Kunst weicht ab, leistet Widerstand, klagt an, stellt Missstände bloß, macht Vorschläge und bringt die Botschaft an die Öffentlichkeit, dass alles auch ganz anders sein kann, als es ist. Die Kunst, die auf Fusion setzt, will die andere Welt, die sie imaginiert, nicht nur im Werk als Fremdkörper darstellen, sondern umsetzen, also in gesellschaftliche Praxis übersetzen. Nach dieser hohen Ambition geht es darum, das künstlerische Schaffen auszuweiten und die ganze Gesellschaft als Werk einer schöpferischen Kraft aufzufassen. Exemplarisch kommt diese Ambition in Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk zum Ausdruck. Sie ist erst dann verstanden, wenn sie nicht nur im Sinne der Synästhesie als Zusammenführung verschiedener – musikalischer, theatralischer etc. – Künste aufgefasst wird, sondern als Schleifung des Unterschieds zwischen Produzent und Rezipient, Schauspieler und Publikum. Erst dann kann von

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Gesamtheit die Rede sein, wenn die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben ist, wenn sich die Bühnen-»Szene« in den »Weltraum« verwandelt und das Kunstwerk mit der Errichtung einer neuen Welt zusammenfällt (Wagner 1873, 180; vgl. Thomä 2006, 133). Dieser Elan hat von Wagner aus beispielsweise in die Kunst des russischen Konstruktivismus hineingewirkt, die die Revolution nicht nur illustrieren, sondern geradewegs realisieren wollte. Eine Spur dieses Elans bringt auch ein von uns befragter Künstler zum Ausdruck, wenn er das Machen und Schaffen als Fähigkeit beschreibt, die eigentlich darauf angelegt ist, nicht nur von Künstlern, sondern von allen Menschen entfaltet zu werden. So ergibt sich das Ideal einer Welt als Werk, einer bewusst geschaffenen, frei gestalteten Welt: Dirk (K4): Ich finde, es ist ein menschliches Recht, Dinge zu produzieren, in die Welt zu stellen. […] Also […] das finde ich wichtig, das gehört zum Menschsein, irgendwie auszuprobieren, zu bauen irgendwie oder herzustellen, zu machen. […] So wie ich atme, oder Musik höre oder in der Sonne liege oder was weiß ich, so muss der Mensch auch produzieren, fertig. Dieser Künstler träumt von einer großen Koalition der Menschen, die ins »Machen« verliebt sind. Seine Rede vom »Recht« auf schöpferisches Tun erinnert an das marxistische Plädoyer für die allseitige tätige Selbstentfaltung der Menschen (Marx/Engels, MEW 3, 33) sowie auch an Joseph Beuysʼ frohgemuten Ausspruch, jeder Mensch sei ein Künstler. Ähnlich, wenn auch etwas zurückhaltender, klingt das Votum einer anderen Gesprächspartnerin: »Ich bin jetzt halt Künstlerin, und dann gibt es noch andere, die auch etwas machen« – und wenn sich die Menschen dieser verschiedenen Formen des Machens bewusstwerden, dann – so meint sie – »gibt das eine schöne Gesellschaft« (Miriam, K1). Hier wird die Mobilisierung des Schaffens und Machens auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt. Diese großzügige Vision operiert mit einer Entgrenzung des Schöpferischen – das heißt aber auch, dass an ihrem Ausgangspunkt die Heraushebung eines bestimmten Ideals steht: nämlich die Heraushebung des Typus des Künstlers, der sich von den normalen Menschen, die unter Restriktionen und Routinen leiden, unterscheidet. So kann sich die genannte großzügige Vision verkehren in eine Privilegierung derer, die für das Schöpferische in besonderer Weise zuständig sind und deshalb

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gewissermaßen unter Artenschutz zu stellen sind. Diese Selbsterhöhung der künstlerisch Tätigen kann sich leicht zur Selbstüberschätzung auswachsen – und sie wird von einer Grafikdesignerin scharf kritisiert. Auf die Frage, ob sie hätte Künstlerin werden wollen, sagt sie: Ena (D7): Ich wollte es nie. Meine Tante ist Künstlerin, und ich fand sie schrecklich. […] Sie war einfach so eine Diva und dieses ›Ich kann nicht überleben und alle müssen für mich gucken, weil ich habe ja hier so etwas Wichtiges zu tun auf der Welt‹ – das hat mich extrem provoziert diese Haltung. […] Ich wollte irgendwie eine Dienstleistung sein. Zur Sonderrolle der künstlerisch Tätigen gehört auch die Idee, dass sie mit ihrer Arbeit die Gesellschaft kritisieren und verändern. Es ist freilich auffällig, dass sich unsere Gesprächspartner_innen mit dem Pathos schwertun, das zu dieser Idee gehört. Man könnte auch sagen: Sie wirken geradezu verzagt, zurückhaltend auch im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Künstler_innen, die ihre Werke als politische Interventionen sehen. Ein Künstler sagt: Marc (K3): Mir sind jetzt Arbeiten fremd, die irgendwie Gefängnisbedingungen in Nicaragua anprangern […]. Dann wäre ich nicht Künstler, wenn ich das konkret verändern wollen würde. Er hält aber an der Idee der ästhetischen Intervention mit einer gewissen Vorsicht fest – und zwar im Hinblick darauf, dass seine Werke jedenfalls bei einzelnen ankommen und verändernd wirken: Marc (K3): Ihr werdet mich sicher fragen, warum bin ich Künstler, oder [lacht]? Also, ein Ding ist schon, einfach mal… nicht zufrieden sein mit der Welt und finden, das muss etwas anderes geben, das ich dem entgegensetzen kann, und das ist aber nicht etwas so Konkretes, Politisches. […] Also für mich hat es sogar früher mal ethische Motive gegeben, also dass ich finde, es ist ja noch cool, wenn man während des Widerstandleistens etwas Schönes machen kann, sagen wir es mal so [lacht] […]. Also das ist mir lieber als jetzt irgendwie mit der roten Fahne… das war mir immer unheimlich, also […] Massenveranstaltungen und so. Ja – und dass man sich selber hingeben kann und dadurch

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etwas bewirken kann, so dass bei anderen irgendetwas passiert, das finde ich faszinierend. Die verändernde Kraft der Kunst wird meist nicht darin gesehen, dass man gleich einen Entwurf liefert, wie denn eine andere Gesellschaft auszusehen hätte, sondern als Einspruch gegen »Gleichmacherei« und als Generierung von »Unterschieden« (Dirk, K4). Miriam (K1): Kunst ist eigentlich wie […] ein offener Raum! Also etwas, das eigentlich […] etwas erzählt, ohne […] auf etwas hinzuzielen […]. Und das finde ich eben superinteressant. Und das braucht es ganz viel. Unter den Designer_innen spielt die große Frage nach der Rolle der Kunst in der Gesellschaft verständlicherweise eine weniger dramatische Rolle. Sie deuten die Rolle ihrer eigenen Arbeit in dieser Hinsicht allerdings durchaus unterschiedlich. Eine Grafikdesignerin grenzt ihr »Handwerk« scharf von der »Kunst« ab und erklärt, sie würde einfach einen »Auftrag erfülle[n]« und ein »Kommunikationsbedürfnis« befriedigen, während der »Künstler« sich »seine Botschaft eigentlich selbst geben« muss (Anette, D6). Ein Produktdesigner geht gleichfalls auf Abstand zur Kunst, die »vielleicht auch eine gewisse Kulturkritik aufnehmen« könne: Daniel (D4): Das ist nicht unbedingt die Aufgabe vom Design. […] Ich glaube einfach, Gesellschaftskritik kann bei einer Kunst viel intensiver stattfinden als beim Design. […] Design ist einfach etwas, was eine Funktion erfüllen sollte […], meiner Meinung nach. Aber da gibt es auch andere Meinungen, die dann finden, nein, das ist überhaupt nicht so. In der Tat gibt es auch solche »anderen Meinungen«: Andere Designer_innen weisen mehr oder minder bescheiden darauf hin, dass die von ihnen gestalteten Produkte Seh- und Lebensgewohnheiten beeinf lussen können oder auch den gesellschaftlichen Wandel von Gewohnheiten im Material spiegeln. Eine Grafikdesignerin sagt: Deborah (D8): Das ist das, was mich interessiert […]: diese Entwicklung einer neuen Sprache, dass, was man vorher noch nicht im Kopf hatte, was es sein soll, wie es […] werden soll, […] erarbeiten kann. […] Das wird […] dann nachher

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[…] aufgenommen […]. Eigentlich füttern wir schon so Zeitströmungen, die dann immer breiter werden. […] Grundsätzlich ist es schon so […], dass man auch etwas bewegt. Ein Typograf meint, seine Arbeit ziele gerade nicht nur auf die »Funktion« des Produkts, sondern darauf, dass sie »Formen« schafft, die die Nutzer auf neue Wege bringen und eine »Transformation« auslösen. Er sagt, er wolle »mit offenen Augen durch die Welt laufen«, um »Bilder […] im Kopf« zu speichern, die dann »genug fest durchgeschüttelt werden, dass sie anders wieder [lacht] zum Kopf rauskommen« (Markus, D1): Markus (D1): Wir müssen den Glauben haben, wir könnten die Welt neu erfinden, wissend, dass wir es nicht können [lacht]. Wenn es um die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft geht, so liegt die Frage nahe, welche anderen Figuren Verwandtschaft mit ihm aufweisen. Eine durchaus deprimierende Auskunft hierzu kommt von einem Künstler, der selbst – wie im vorausgegangenen Abschnitt erwähnt – in jungen Jahren als »Revoluzzer« agiert hat. Er sagt: Marc (K3): Ich kann mich noch erinnern, dass Künstler sein zu wollen […] irgendwie wie eben fast schon revolutionär [war] […]. Und heute ist das ja [anders]. Banker oder Künstler – ist das noch ein Unterschied? […] Wenn man dann gerade eben so an den Verkauf und so denkt. […] Oder was wäre das Äquivalent heute zu früherem Künstlersein? […] Ist das irgendwie Umweltaktivist oder […] was wäre das heute? Aber das, das kann ich nicht beantworten. Hier werden dem »Künstler« zwei Rollen zugeordnet, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Der eine erscheint als vergangene Figur und ähnelt dem politischen Aktivisten, der andere erscheint als aktuelle Figur und vertritt ein Handlungsmodell, das dem des Händlers gleicht: Er bietet seine Ware feil. An dieser scharfen Alternative wird deutlich, dass die Künstler_innen ihren Bezug zur Gesellschaft nicht nur am Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik, sondern auch an demjenigen zwischen Ästhetik und Ökonomie festmachen. Dass sie dieses Verhältnis nicht einfach um des hehren Ideals der reinen Kunst willen vernachlässigen, ist verständlich. Schließlich geht es dabei um die Sicherung ihrer beruf lichen Existenz. Deshalb rückt nun im

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nächsten und letzten Abschnitt das Verhältnis zwischen Ästhetik und Ökonomie ins Zentrum.

3.6 Kunst und Markt: »Dass man im Gespräch ist, das finde ich wichtig, denn dadurch bleibt man ein bisschen am Leben« Es geht nicht nur darum, wie die Kunst – etwa im Sinne politischer oder persönlicher Veränderungen – in die Welt hineinwirkt, sondern auch darum, welchen Wirkungen die künstlerisch Tätigen ausgesetzt sind. Gemeint sind hier nun nicht mehr – wie in den vorausgegangenen Abschnitten – Anregungen oder Umstände, die den ästhetischen Prozess selbst betreffen, sondern die Einbettung dieses Prozesses in einen sozialen Kontext. Bei diesem Kontext interessiert uns – wie der Titel dieses Buches deutlich macht – der Bereich, der durch den »Beruf« definiert ist. Miriam (K1): Also wenn ich Künstlerin sein will, dann muss ich das ganz sein, und dann muss ich auf eine Art auch Frieden schließen damit, dass das ein Beruf ist, irgendwie. Das bedeutet, die Ausstellungen zu machen, […] vielleicht sogar mal jemanden ansprechen, wenn die Bilder hängen, die auch zu verkaufen. […] Dann kommt der ganze Diskurs, und dem muss man sich dann stellen und ich habe nicht so Lust gehabt auf das, ehrlich gesagt. Das habe ich eigentlich recht anstrengend gefunden. Aber es hat meine Arbeit recht verändert und wirklich etwas gebracht, im Nachhinein, also das Messer am Hals. Dass ich sagen musste: Ja gut, wenn du in die zeitgenössische Kunst willst… Am »Beruf« lassen sich – wie zu Beginn dieses Beitrags erläutert – zwei Aspekte unterscheiden. Auf der einen Seite geht es um Fragen der Professionalität, also um die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand, um Produktionsverhältnisse, Organisationen und Agenturen. Auf der anderen Seite geht es um den Beruf als Erwerbsarbeit, also um die Sicherung der Selbsterhaltung, die auf dem Markt oder ersatzweise durch staatliche Subventionierung erfolgt. Da unter unseren Gesprächspartner_innen einerseits Künstler_innen, andererseits Designer_innen sind, liegt die Vermutung nahe, dass die Auswirkungen des sozioökonomischen Kontexts auf deren Selbstverständnis äußerst unterschiedlich ausfallen. Man könnte annehmen, dass bei den Künstler_innen ein emphatischer Freiheitsbegriff zum Einsatz kommt, wie man ihn etwa aus Schillers Ästhetik kennt: »Durch die ästhetische Kultur […]

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ist weiter nichts erreicht, als daß es [dem Menschen] […] möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freiheit […] vollkommen zurückgegeben ist.« (Schiller 1993b, 635) Daraus wäre zu folgern, dass sich die Künstler_innen in ihrer Arbeit vom sozio-ökonomischen Kontext weniger betreffen und beeinf lussen lassen, als dies etwa bei Auftragsarbeiten im Bereich des Designs der Fall ist. Auf diesen Unterschied wird in den Gesprächen, die wir geführt haben, immer wieder angespielt. Ein Produktdesigner sagt: Daniel (D4): Ein Künstler ist viel freier. Ein Künstler sagt: Marc (K3): Jetzt kann man natürlich sagen, eine Galerie ist auch ein Kontext […]. Kontextfrei gibt es nicht, aber […] die Arbeit […] in der Kunst ist […] autonomer. Er sagt aber auch: Marc (K3): Man meint, es sei alles so frei, aber es ist alles genau geregelt. Einer der wichtigsten Befunde, die sich aus unseren Gesprächen ergeben, besteht nun darin, dass sie die These von der größeren Distanz der Künstler_innen gegenüber dem sozio-ökonomischen Kontext in keiner Weise bestätigen – im Gegenteil. Eine positive, gelassene Beschreibung der künstlerischen, kreativen Tätigkeit fällt den Designer_innen in der Regel sogar leichter als ihren Kolleg_innen von der sogenannten freien Kunst: »Ich erlebe das gar nicht als Einschränkung«, dass seine Arbeit auf einen »Anstoß von außen« zurückgehe, sagt ein Grafikdesigner (David, D5). Obwohl die Künstler_innen der ökonomischen Sphäre scheinbar ferner stehen, sind sie in drastischer, zum Teil obsessiver Weise auf das Verhältnis zum beruf lichen Umfeld und zum Markt fixiert. Zwei sich ergänzende Erklärungen für dieses paradoxe Phänomen bieten sich an. Erstens stellt die ökonomische Sicherung der Selbsterhaltung für die Künstler_innen ein viel dramatischeres Problem dar als für die Designer_ innen. Die Prekarität lauert an jeder Ecke. Zweitens ist der Kunstmarkt, auf den sie mit ihren Werken angewiesen sind, viel schwerer durchschaubar als der Markt, in dem die Designer_innen agieren. Die Undurchsichtigkeit des

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Kunstmarkts zeigt sich in schwer erklärbaren Konjunkturen der Wertschätzung, in einer erratischen, keinen klaren Kriterien genügenden Anerkennung beruf licher Kompetenz und ökonomischer Valenz. Die Künstler_innen werden im Umgang mit dem Kunstmarkt in eine Spirale von Erfolg und Scheitern, Erwartungen und Enttäuschungen, Träumen und Albträumen hineingetrieben. Die zwei Seiten des »Berufs« – also einerseits die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand, andererseits die Ausübung einer Erwerbstätigkeit – werden von den Künstler_innen, mit denen wir gesprochen haben, so ausgelegt, dass sie sich einerseits auf ihre peers beziehen, also auf andere Mitglieder ihres Berufsstands, andererseits auf ihre Kundschaft. Diese zwei Referenzgruppen überlappen sich und gehen ineinander über, denn zur Kunstszene gehören auch Galeristen und Kritiker, die ihrerseits die Nachfrage der Käufer beeinf lussen. Diese Konstellation ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die von Pierre Bourdieu (1992) beschriebene Konvertierung von kulturellem in ökonomisches Kapital. Auf die Frage »Also was heißt jetzt weiterkommen in dem Moment?« antwortet jener Künstler, der – wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben – die Idee des »Genies« verteidigt, auf eine Weise, die doch die vermeintliche Unbeirrbarkeit und Eigenständigkeit des Genies dementiert. Ein Panorama von äußeren und inneren Ansprüchen und Erwartungen wird ausgebreitet: Dirk (K4): Ja, äh, auf allen Gebieten Erfolg zu haben. Kommerziell, wie […] mit der Arbeit, wie persönlich […], ein gewisses Zufriedenheitsgefühl zu haben oder […] deinen Dingen nachgehen zu können […], Unterstützung zu haben, Leute, die an dich glauben, die dich fördern, all das. Das ist ein System, also ein ganzes System. Natürlich gäbe es eine Traumlösung, die dieses »System« bereithalten könnte – nämlich eine überwältigende Zuwendung und Anerkennung auf allen Ebenen. Sie wäre gewissermaßen das äußere Pendant der Höchstbewertung der eigenen Person – und ein solcher Zuspruch scheint unentbehrlich, um das Selbstbewusstsein dieses Künstlers zu stabilisieren: Dirk (K4): Da muss einer kommen, der die ganze Welt bewegt. […] Warum schafft man’s nicht, dass mich jeder kennt?

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Die totale Synergie zwischen den verschiedenen Dimensionen der Anerkennung, zwischen dem »Kommerz« und dem »intellektuelle[n] Feld« (Dirk, K4) ist freilich nicht mehr als ein frommer – vielleicht gar nicht so frommer – Wunsch. Dirk (K4): Es gibt natürlich den finanziellen [Erfolg] und dann den Ruhm quasi, was die Arbeit ausstrahlt. Und das ist nicht gekoppelt, also nicht zwangsläufig. Woran sich »Weiterkommen« und »Erfolg« konkret festmachen, welche Anerkennungsagenturen jeweils in den Vordergrund treten, hängt von der aktuellen Situation der künstlerisch Tätigen ab, also von der Frage, ob bei ihnen nun gerade der Finanzhaushalt oder der Seelenhaushalt wackelt. Dirk (K4): Wenn ich am Existenzminimum funktioniere, […] ist dann Ruhm völlig egal. Aber wenn man so seine Schäfchen ein bisschen am Trockenen hat […] dann steht das andere eigentlich im Vordergrund. Von einer pfiffigen Praxis, wie man mit diesen zwei Dimensionen der Arbeit umgehen kann, berichtet ein Künstler, der früher als Grafiker gearbeitet hat: Marc (K3): Ich kann mich erinnern, dass ich im Grafikerbüro mit Peter mal einen weißen Strich gezogen habe und dort stand ›unkommerzielle Zone‹, irgendwie so. Dass ich also dort einfach mein Zeug machen will und dort nicht mit Kunden zu tun haben will [lacht]. Ein interessantes Gedankenexperiment, in dem die verschiedenen Dimensionen der beruf lichen Anerkennung, also die professionelle Wertschätzung und die ökonomische Bewertung, gegeneinander ausgespielt werden, wird mit einem Künstler in einem unserer Gespräche durchgespielt. Dieses Gedankenexperiment basiert darauf, dass ein fiktiver Mäzen die Werke dieses Künstlers mit großer Regelmäßigkeit kauft und ihn damit aller ökonomischen Sorgen enthebt. Die zusätzliche Annahme – oder Kehrseite – ist, dass seine Werke zwar gekauft, aber in der Kunstszene ignoriert werden. Nun stellt sich die Frage, ob der Künstler diese komfortable Lage einer Situation vorziehen würde, in der er sich auf dem freien Markt eher mühsam durchkämpft, aber dort – wie es schön-schrecklich heißt – »im Gespräch« ist, also

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von relevanten peers gewürdigt wird. Dieses Gedankenexperiment unterbindet also die Konvertierung von ökonomischem und kulturellem Kapital, es lockt mit materieller Sicherung und droht mit kultureller Nichtbeachtung. Wie reagiert der Künstler auf die Idee mit dem Mäzen? Filip (K2): Das finde ich schlimm. […] Das wird dann so richtig zum Ego-Ding, man macht sein Ding komplett abgeschlossen von der Welt […]. Die wirklich interessanten Künstler sind Leute, die über ihre Zeit mitdenken. In dieser lakonischen Auskunft verbirgt sich die Demontage einer bestimmten Variante der Idee autonomer Kunst. Man könnte im Sinne dieser Idee gutheißen, wenn künstlerisch Schaffende materieller Sorgen enthoben sind und unbekümmert, unbelastet ihrer Arbeit nachgehen können. Angesichts der zahllosen großen Künstler_innen, die erst mit jahrzehntelanger Verspätung oder posthum Wertschätzung erfahren haben, erscheint es eigentlich nicht als Grund zur Sorge, wenn der aktuelle Betrieb einzelnen Künstler_innen die kalte Schulter zeigt. Und doch ist diese Vorstellung irgendwie unheimlich und unerträglich. Die gerade zitierte Anmerkung, dass die »wirklich interessanten Künstler […] über ihre Zeit mitdenken«, zeigt an, dass zur künstlerischen Tätigkeit die Interaktion mit dem Rest der Welt dazugehört. Die Adressaten gehören gewissermaßen ins Bild. Eine Grafikdesignerin sagt lakonisch: Ena (D7): Ich bin auch ein – ein Zeitgeist. Eine Kollegin wünscht sich, dass das, was sie schafft, Anklang findet: Deborah (D8): Ich will, dass es jemand will. Also ich meine, ich will nicht irgendetwas in den Raum werfen, wo dann gar niemand drauf wartet. […] Wenn es gar niemand will, dann kommt einfach sehr schnell die Sinnlosigkeit. Die Annahme, dass es den Künstler_innen »weniger« als den Designer_innen »um diese Beurteilung« durch Dritte gehe (Deborah, D8), deckt sich nicht mit den Auskünften, die wir erhalten haben. Auch für die Künstler_innen sind die Adressaten wichtig – und zwar in erster Linie die Mitglieder der Kunstszene, in deren Anerkennung sie ein wichtiges Indiz für die Qualität

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ihrer Arbeit sehen. Auf die Frage, wer ihm denn wichtig sei – »Kritiker, Publikum, Galeristen, Sammler« – antwortet ein Künstler: Filip (K2): Also generell glaube [ich]: die Rezeption bei den anderen Künstlern, weil man, wie sagt man, evaluiert [wird] […] in einem engeren Rahmen. […] Das ist so ein bisschen das Ding, […] dass man einfach im Gespräch ist. Das finde ich wichtig, sehr wichtig, weil dadurch bleibt man ein bisschen am Leben oder bleibt eigentlich im Fenster […]. Ich finde es ganz wichtig, dass man immer präsent bleibt. Dieser Künstler unterstellt sich dem Urteil anderer, wenn es darum geht, ob man »eine bestimmte Relevanz hat«, zugleich aber beklagt er die bestehenden »Machtverhältnisse« und hat »Angst um meine Arbeit« (Filip, K2). Bei der folgenden Aussage meint man ein leises Zähneknirschen mitzuhören: Filip (K2): [Man] entscheidet […] nicht selber, ob man diese Relevanz hat […]. Das entscheiden die Leute, die das anschauen, die darüber schreiben, die dich ausstellen wollen, die dich pushen. Der Stellenwert der Anerkennung durch professionelle peers wird von fast allen unserer Gesprächspartner_innen herausgestellt, allerdings unterschiedlich beurteilt. Hier folgen zunächst zwei eher positive Voten, die sich auf einen sozialen Kontext beziehen, der nicht von Konkurrenz durchsetzt ist. Ein Künstler sagt: Dirk (K4): Das ist ja eigentlich, wenn wir dann von Glück reden, […] das, was man als Mensch will: nicht der Erfolg, sondern quasi vielleicht die Zugehörigkeit, die Auseinandersetzung, […] das Eingebundensein. Eine Künstlerin schlägt in die gleiche Kerbe: Julia (K5): Man möchte eigentlich wie ernst genommen werden. Und das ist wahrscheinlich so ein bisschen das Gefühl, das manchmal so kommt bei mir, dass ich so merke, wenn eine Galerie einen will, wenn sie einigermaßen einen Namen hat, dann gibt das einem ein extrem gutes Selbstbewusstsein. Dann kann ich sagen: ›Ich bin Künstlerin, ich bin in dieser Galerie.‹ Das gibt einem irgendwie ein gutes Gefühl. […] Es ist ein bisschen eine Qualitätssicherung.

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Nicht nur die ökonomische Bewertung, von der gleich die Rede sein wird, sondern auch die professionelle Form äußerer Anerkennung birgt aus der Sicht von einigen unserer Gesprächspartner_innen Probleme. Dies betrifft die Urteile, die von Instanzen innerhalb des Kunstbetriebs gefällt werden, und die Frage, wie man sich zu diesen peers und zu den Anerkennungsagenturen insgesamt stellt. Eine Künstlerin hadert konkret damit, dass ein Kollege in der gerade geschilderten Weise »gepusht« wird. Über dessen Ausstellung in der Zürcher Kunsthalle sagt sie – man darf vermuten: in einer Freud’schen Verneinung –: Miriam (K1): Ich sage nicht, seine Kunst sei schlecht. Ziemlich verwundert reagiert sie auf das Phänomen, dass dieser andere Künstler, der angeblich »nicht marktorientiert« sei, so groß herauskomme. Sie fügt hinzu: Miriam (K1): Ich selber bin da natürlich total in einer anderen Welt. Aber diese Selbstbeschreibung trifft nur teilweise zu, denn sie gehört doch selbst zur Kunstwelt und beschreibt, wie sie es zögerlich wagt, sich in die Prozesse der Veröffentlichung und Vermarktung hineinzubegeben: Miriam (K1): Ich habe jetzt eben lustigerweise auf den Sommer hin recht viele Ausstellungen gehabt. Habe auch zugesagt. Sonst sage ich meistens eher noch ab, weil ich eben Schiss habe, dass es alles nicht klappt oder so. Und da habe ich gefunden, okay, das ist jetzt wie noch mal ein Schritt zur Professionalisierung, zu sagen: Okay, es ist so, dass man drei Ausstellungen auf einmal hat, und so. Und [ich] habe dann aber schon das Gefühl gehabt, ich bin auch ein bisschen ein Sklave von meiner Kunst, natürlich, also das nimmt einen voll in Beschlag. Ein Künstler beschreibt die mühsamen, krampf haften Überlegungen, die zu dem Versuch gehören, sich ins Spiel und ins Gespräch zu bringen: Marc (K3): Ich weiß jeweils gar nicht, ist es besser, wenn ich jemanden frage oder wenn ich ihn nicht frage. Weil wenn ich ihn frage, sage ich ja schon: Ich bin in der Situation, dass ich dich fragen muss, weil man wird ja eigentlich

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angefragt. Wenn ich aber nicht frage, dann weiß ich einfach nicht, vielleicht hätte mich der ja fragen wollen. Das ist so irgendwie, es ist wirklich die Hölle. Dieser Künstler merkt wohl nicht, wie nah seine Beschreibung dem berühmten Spruch Jean-Paul Sartres »L’enfer, c’est les autres« kommt. Besonders eindrucksvoll an dem Machtspiel, das er schildert, ist das, was man als Dilemma des ersten Zugs bezeichnen könnte. Eigentlich kann man nur falsch anfangen. Denn wer fragt, tritt als Bittsteller auf und bekundet damit seine Bedürftigkeit und seinen Mangel an Macht. Wer dagegen nicht fragt, sondern wartet, kann dann entweder warten, ›bis er schwarz wird‹, oder sich eben in der Nachfrage sonnen, die dann doch kommt. Allerdings sieht der gerade zitierte Künstler die Validität dieser Nachfrage eher kritisch, ohne sich doch innerlich von ihr frei machen zu können: Marc (K3): Das Verständnis der Kunst als einer Qualität und letztendlich einem Betrag, das ist für mich völlig kryptisch. […] Also ich wünschte mir wie viele andere auch, dass es Kriterien gäbe in der Kunst. Die gibt es aber nicht. Im Endeffekt. Und deshalb ist es halt dann Kunst, wenn die, die Kunst betreiben, in ihrer Rolle sagen, es sei Kunst. Und ich tue mich selber auch schwer, also, ich spüre, dass das am Rande des Erträglichen ist, was das Kunstpublikum […] erwartet. […] Wenn man mal etwas hört […] über einem, findet man immer: Hä? Weil dann ist es ja nicht so genau, wie man es selber sieht. Obwohl man es selber vielleicht gar nicht formulieren könnte. Wenn das Verhältnis der Künstler_innen zu den Anerkennungsagenturen der professionellen Kunstszene zwiespältig ist, so gilt dies natürlich erst recht für ihr Verhältnis zum ökonomischen Kunstmarkt. Eine Künstlerin sagt: Julia (K5): Ich habe […] schon Potenzial für Arbeiten, die man verkaufen kann. Also, aber – es geht ja nicht nur um das und trotzdem geht es um das. Häufig stößt man auf einen Vorbehalt dagegen, marktgängige Werke zu fertigen: »Das geht für mich dann zu weit« (Dirk, K4). Ein Künstler will sich davor schützen, dass sich solche Adressaten gewissermaßen ins eigene Atelier – oder gar in den eigenen Kopf! – einschleichen, für die eine gut verkäuf liche Plastik »einfach klein, geil und lecker aussehen« muss (Dirk, K4).

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Einige Künstler_innen beschreiben es als entlastend, dass sie – jedenfalls in der Schweiz – nicht auf Gedeih und Verderb auf diesen Markt angewiesen sind, um künstlerisch tätig sein und »diese romantische Vorstellung leben zu können« (Filip, K2). Andere operieren im Alltag mit einem Mix aus mehr oder minder kunstfernen Erwerbstätigkeiten und erwerbsarmem Kunstschaffen. Und doch ist der Kunstmarkt allgegenwärtig. Ein Künstler sagt: Marc (K3): Es gibt eine so große Existenzangst, dass das eben diesen Diskurs extrem prägt. Von vielen unserer Gesprächspartner_innen wird eine Übermacht ökonomischer Kriterien registriert. Ein Künstler sagt: Dirk (K4): Also der Markt, der ist matchentscheidend. […] Die Kunstkritik gibt’s eigentlich nicht mehr, ist ʼne ausgestorbene Gilde. […] Sogar das Museum stützt sich auf den Markt. […] Du bekommst ʼne Museumsausstellung, wenn du im Kunstmarkt Erfolg hast […]. Und das ist ja die perverse Seite […]. Aber über das redet gar niemand. Dabei wird gerade die Konkurrenz, die in der Kunstszene herrscht, als extrem hart beschrieben: Dirk (K4): [Du] musst der Beste sein. Das System ist One gets all. […] Es geht um den Genius und One gets all. Ein gravierendes Problem beim Umgang mit den verschiedenen Dimensionen künstlerischer Anerkennung besteht darin, dass die Dimensionen des ästhetischen und ökonomischen Erfolgs nicht sauber voneinander zu trennen sind. Im Gegenzug zu dem vorhin geschilderten Gedankenexperiment, in dem die Konvertierung von kulturellem in ökonomisches Kapital blockiert ist, wird eben diese Konvertierung für viele zu einem beherrschenden Thema: Marc (K3): Bei den Künstlern gibt es schon dieses Ding: […] Wenn man sagen kann ›Ich kann davon leben‹, dann ist das wie so der Ritterschlag. […] Das Direkte von dem ›Kunst gegen Geld‹, das finde ich noch recht gut.

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Ben (K6): Wenn ich andere Menschen damit beeindrucken kann, gewinnen kann, […] würde ich sagen, es ist immer eine Sehnsucht nach Liebe. […] Und zu dieser Sehnsucht gehört Geld und Erfolg. Eine interessante, abweichende Überlegung zu dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Kapitalsorten steuert eine Grafikdesignerin bei. Sie vergleicht die Arbeit in einem starr festgelegten, fremdbestimmten Rahmen mit ihrer weniger profitablen, aber selbstbestimmten Arbeit als freie Gestalterin und sieht im höheren Lohn, der im ersten Fall gezahlt wird, eine Art Schmerzensgeld, das für die schlechteren Arbeitsbedingungen entschädigt. Wenn ihr auch ökonomisches Kapital fehlt, so wird dies doch kompensiert durch eine andere Art von Gewinn, nämlich durch die Erfüllung, die sie in ihrer Arbeit findet: Deborah (D8): Wenn ich in eine Agentur gehe und etwas mache, was ich nicht will, und jemand sagt, du bist um acht hier und gehst erst um halb sieben wieder, dann will ich ja mit Geld entschädigt werden. Eine Schmuckdesignerin vervollständigt dieses Bild: Regula (D9): Wir haben […] sehr viele Freiheiten, die man sonst nicht hat in einem Job. […] Es entschädigt eben vielleicht, dass du eben dann halt nicht Ende Monat 10.000 Franken hast, dafür hast du eben einfach diese Freiheit und hast es so gewählt […]. Das ist halt ein bisschen ein Glück, du machst etwas, das dich sehr befriedigt. Mit aller Macht kehrt in vielen Gesprächen, die wir geführt haben, ein Motiv wieder, das ein Kernstück der Beschreibung marktwirtschaftlicher, kapitalistischer Konkurrenz bildet und das Jean-Jacques Rousseau in der großartigen Formel verdichtet hat, die moderne Welt sei vom »fureur de se distinguer«, also von der »Raserei, sich zu unterscheiden« erfasst (Rousseau 2001, 256f.). Man könnte auch von einer Wut des Vergleichens sprechen. Sie ist in zahlreichen soziologischen und philosophischen Theorien diskutiert worden, so etwa von Thorstein Veblen schon im Jahre 1899 anhand der »invidious comparison« (Veblen 1915, 16, 27-34, 97-105). Eine Künstlerin beschreibt den inneren Zwiespalt, in den sie gerät, wenn in ihr dieses »Karrieredenken« hochsteigt:

Kreativität als Beruf

Julia (K5): Dann ist das aber so eine Art von Denken über meine Arbeit, dass ich finde: Ja, mich sieht ja gar niemand, warum hat mich noch nie jemand angefragt von einer Galerie […] oder warum werde ich nicht zu Gruppenausstellungen eingeladen, die wichtig sind […]. Das ist aber dann so das Denken, […] da wird es dann auch nachher schnell so ein bisschen negativ […]. Ich bin nicht dort, ich möchte eigentlich schon dort sein und eigentlich möchte ich gar nicht so unterwegs sein, weil es bringt nichts. Also ich weiß, […] es tut einem nicht gut, das macht einen eigentlich unzufrieden und […] man macht ja eh den Weg, den man macht. Ein Künstler sagt: Dirk (K4): Ich weiß nicht, wer das gesagt hat: ›Erfolg ist wie ein Eimer mit einem Loch!‹ Da kann man so viel reinschütten, wie man will, ist immer zu wenig. […] Ich habe das Problem auch, mein Kessel hat auch ein Loch, wenn es um Erfolg geht. Das ist grundsätzlich so. […] In dem Moment, wo es um Erfolg geht, dann ist es ein kontinuierliches Abscannen, […] egal wo. Es ist kein Zufall, dass der Einspruch gegen die Wut des Vergleichens gerade nicht von einem sogenannten freien Künstler kommt, sondern von einem Typografen, der »extrem Respekt« vor seinen vermeintlich ungebundenen Kolleg_innen hat, sich aber selbst in einer wohltuend übersichtlichen Situation befindet. Er kennt die Gefahr, die in der Wut des Vergleichens liegt, und mobilisiert Gegenkräfte dagegen: Markus (D1): Ein bisschen kann man etwas tun fürs Glück, indem […] man lernt, das Glück zu sehen. Also […] dass man weniger vergleicht. Also dass man nicht denkt ›Der hat das und das‹, sondern dass man schaut, was möchte ich und was macht mich zufrieden, und […] sieht, dass das toll ist, und sich an dem auch erfreuen kann. Eine Grafikdesignerin scheint dies ähnlich zu sehen, sie kommt aber beim allmählichen Verfertigen ihrer Gedanken ins Schwanken: Ena (D7): Ich fühle mich schon eher am Rand […]. Und sonst, auch finanziell bin ich ein Nichts. Also von daher bin ich sicher nicht irgendwie ein großes

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Tier. Es stört mich auch nicht, ich bin eigentlich fast ein bisschen stolz darauf, dass ich so klein bin, lustigerweise. Obwohl es mich manchmal ankotzt. Das ganz andere Leben, das die Fantasien vieler Menschen bef lügelt, die sich den Typus des wahren, großen Künstlers vorstellen, ist in der sozialen Realität und im beruf lichen Alltag unserer Gesprächspartner_innen nur in Spuren erkennbar. Man könnte hinzufügen: Das ist vielleicht auch gut so. Jene Idee vom ganz anderen Leben ist ein Mythos, der auf der irreführenden Annahme beruht, die Welt der Kunst eröffne die Chance auf eine Sonderexistenz fern der sozialen Realität. Gerade weil die Künstler_innen zu dieser Realität gehören, sind sie – und das ist eine gute Nachricht – in der Lage, mitzumischen und in sie einzugreifen. Es kann also nicht darum gehen, eine große Kluft zwischen Kunst und sozialer Realität zu behaupten, wohl aber kann man auf den Unterscheidungen und Abweichungen beharren, für die die Künstler_innen mit ihrer Arbeit und ihrem Leben stehen. An den Seelenlandschaften, die wir besichtigt haben, zeigt sich, wie sie mit ihrer Sonderrolle ringen – und zwar oft auch so, dass sie sich hin- und hergerissen fühlen zwischen der Gegenstellung zum Status quo und dem Ausgeliefertsein an denselben. Umgekehrt gilt auch für die Gesellschaft, in der sie leben, dass sie eigene, spezielle Erwartungen an die Künstler_innen entwickelt und zugleich Strategien der Vereinnahmung anwendet – so etwa, wenn die Kreativität unversehens zum Motto nicht nur der Kunstwelt, sondern der ganzen Menschheit avanciert. Die Künstler_innen führen schon deshalb kein ganz anderes Leben, weil sie nicht den ganzen Tag künstlerisch tätig sind, sondern auch noch alles Mögliche andere tun. Ein Gesprächspartner schildert diese Minimierung der Kreativität in ziemlich nüchterner Weise: Dirk (K4): Ich bin ja nicht nur Künstler und Mensch, sondern ich bin zum Beispiel auch noch Vater. […] Das heißt fünfzig Prozent. […] Aber schlussendlich hat man hundert Prozent Zeit. Dann muss man […] auf der Post oder irgendwo das ganze Ding regeln. Und dann bleiben dir vielleicht noch dreißig Prozent. Und in diesen dreißig Prozent darfst du nicht der zweitbeste sein, sondern musst du der beste sein. […] Wenn ich wirklich gucke, wieviel Zeit wende ich auf für […] den kreativen Prozess und all das, da muss ich sagen – hey Mann, es ist zum Kotzen! – das ist vielleicht etwa fünf Prozent. […]. Der Rest ist Büroarbeit, Produktion, Werbung, der ganze Scheiß.

Kreativität als Beruf

Am Ende steht ein Paradox: Künstler_innen sind nicht nur Künstler_innen, doch zu ihrem Berufsethos gehört, dass sie eben doch nur dies sind – und nichts sonst. Einerseits heißt es: David (D5): Schlussendlich ist es auch sehr schwierig, acht Stunden am Tag kreativ zu sein. Andererseits gilt: Daniela (K3): Ein Künstler macht keine Pause.

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Steckbriefe der Gesprächspartner_innen1 Künstler_innen K1: Miriam Miriam, Mitte 40, arbeitet als bildende Künstlerin. Sie stellt regelmäßig aus und hat auf regionaler Ebene bereits mehrere Anerkennungserfolge erzielt; sie verkauft regelmäßig. Ihr Atelier in einem Industriebezirk teilt sie sich mit ihrem Partner Marc, der ebenfalls Künstler ist und mit dem sie eine Tochter im Vorschulalter hat. Sie berichtet uns von anfänglichen Schwierigkeiten, sich im Kunstfeld zu behaupten; z.B. thematisiert sie ihre ländliche Herkunft und ihren Außenseiterstatus (ihre Eltern kamen aus dem benachbarten Ausland, er arbeitete als Dreher, sie ungelernt, arbeitete als Kellnerin auf dem Land) sowie ihre Distanz zu »echten« Künstlern schon im Studium (sie war zuerst im Lehrerseminar, später studierte sie ›nur‹ Zeichenlehrerin). Für das gemeinsame Einkommen gibt sie auch Zeichen-Unterricht und bemüht sich um künstlerische Aufträge (z.B. Kunst am Bau).

K2: Filip Filip, Ende 20, Künstler, Sohn eines Self-made-Unternehmers und einer Mutter mit nicht abgeschlossenem Medizinstudium, hat in [Stadt] die Kunsthochschule absolviert und lebt seither dort, seine Partnerin ist ebenfalls Künstlerin. Nach eigenen Angaben war er mittelmäßiger Schüler, erster Kontakt mit künstlerischem Arbeiten in Rahmen eines Schulprojekts. Bei der Ausstellung zum Abschluss seines Studiums an der Kunsthochschule wird er als einer der ersten Künstler einer neu gegründeten Galerie angeworben, hat dort seither im Jahresrhythmus Einzelausstellungen. Er ist außerdem regelmäßig an Gruppenausstellungen in anderen Institutionen beteiligt. Zwei1 Die Steckbriefe geben den Stand zum Zeitpunkt der Interviews wieder (2013/14).

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Kreativität als Beruf

sprachig aufgewachsen, finanziert er sich seit Beginn seines Studiums mit einer Nebentätigkeit als freier Übersetzer für ein Unternehmen. Versucht zum Zeitpunkt unseres Gesprächs, einen kunstaffineren Nebenerwerb zu finden, dem er wochenweise nachgehen könnte, um zwischendurch länger ohne Unterbrechungen Zeit für seine künstlerische Tätigkeit zu haben. Hat zuletzt mehrfach als Ausstellungshelfer gearbeitet, eine für ihn wegen inhaltlicher Differenzen mit der Kuratorin ambivalente Erfahrung. Filip bezeichnet sich selbst als Einzelgänger, ist aber mittlerweile gleichwohl in der örtlichen Künstlerszene präsent. Zeit haben und Beziehungen benennt er als wichtige Motive seines Lebens, er wäre nach eigener Auskunft auch bereit, notfalls zugunsten der finanziellen Sicherheit der Familie auf seine künstlerische Tätigkeit zu verzichten.

K3: Marc Marc, Mitte 40, lebt zusammen mit Miriam (K1) und der gemeinsamen Tochter in [Stadt]. Marc hat eine Doppelbiographie als Künstler und als visueller Gestalter. Eine erste Karriere als Künstler, die er nachträglich als vielversprechend beschreibt, hat er zugunsten des Brotberufs in der Gestaltung fahren lassen. Das erste Künstlersein beschreibt er bereits als Ausbruch aus der Familie (sein Vater war Diplomingenieur im Elektronikbereich; Mutter Hausfrau mit KV-Abschluss). Als Gestalter war er auch im Ausland tätig und hatte in [Stadt] zeitweise eine Leitungsposition inne. Dennoch entschloss er sich ein zweites Mal für die Kunst; er arbeitet derzeit an der (Wieder-)Anerkennung als Künstler. Seit unserem Interview war er mehrfach in Gruppenausstellungen zu sehen, die er im Off-Bereich z.T. selbst mit kuratiert hat, sowie in einer (Off-)Einzelausstellung.

K4: Dirk Dirk, Anfang 50, bildender Künstler, hat ein großes Atelier in der Agglomeration von [Stadt] und stellt regelmäßig größere Werke (auch Skulpturen) aus. Er hat eine Partnerin und eine Tochter. Er wurde in jüngeren Jahren als Schweizer Künstler hoch gehandelt und lässt eine gewisse Unzufriedenheit mit dem jetzigen Grad seiner Beachtung erkennen. Ein Studium hat er auf eigene Faust im Ausland absolviert. Er beschreibt sich als talentierten Self-made-Man, der sozial eher von unten kam (der Vater war Konstruktionszeichner, die Mutter Rezeptionistin, und sie wohnten in einem Viertel mit vielen Migranten). Er wuchs hinein in ein Kunstfeld, das ihm zufolge

Steckbriefe der Gesprächspartner_innen

von Kindern reicherer Eltern bevölkert ist. Zudem zeigt er Ambitionen, seine Kunst theoretisch zu verorten, worüber er mit uns viel spricht.

K5: Julia Julia, Ende 30, Künstlerin, alleinerziehende Mutter einer Tochter im Teenager-Alter, arbeitet seit einem guten Jahr wieder Teilzeit in ihrem früheren Beruf als Textilgestalterin. Kindheit auf dem Land, die Eltern haben ein Lebensmittelgeschäft. Nach der Lehre zur Textilentwerferin gestalterischer Vorkurs und anschließendes Designstudium. Für ihre erste Stelle als Textildesignerin zieht Julia nach [Stadt], wo sie seither lebt und arbeitet. Parallel erste eigene »angewandte« Projekte. Nach Geburt ihrer Tochter arbeitet Julia Teilzeit weiter. Das Pensum behält sie bei der Einschulung des Kindes bei, um in der freien Zeit künstlerisch tätig sein zu können. Erste Ausstellungsgelegenheiten ergeben sich über ihre Vernetzung mit der örtlichen Kunstszene, Beteiligung an regionalen Triennalen, Werkbeiträge usw. Ein Auslandsstipendium verschafft ihr die Möglichkeit, für ein halbes Jahr ohne Nebenerwerb auszukommen. Nach der Kündigung bei dem Textilunternehmen, wo sie über zehn Jahre gearbeitet hat, schlägt sich Julia ein paar Monate als freie Künstlerin mit wechselnden Gelegenheitsjobs durch, sucht sich aber schließlich der finanziellen Sicherheit zuliebe wieder eine Anstellung bei einem kleinen Textilbetrieb. Zeit mit ihrer Tochter ist ihr wichtig, gleichzeitig sieht sie sich gegenüber ungebundeneren Kunstschaffenden – auch durch den Verzicht auf ein künstlerisches Zweitstudium – karrieremäßig benachteiligt.

K6: Ben Ben, Mitte 50, arbeitet als bildender Künstler in einem nicht allzu großen Verkaufsatelier in einem Szene-Viertel. Im Gebäude sind noch weitere Künstler. Sein Vater war Kaufmann, der eine Zeit mit der Familie im Ausland verbrachte; seine Mutter hat gemalt. Er hat erwachsene Kinder aus erster Ehe und lebt mit einer jüngeren Partnerin, die Schriftstellerin ist. Nach einem abgebrochenen Kunst-Studium im Ausland hat er eine Zeitlang in [Stadt] als »wilder« Künstler mit wenig Geld gelebt – bis zum Zerbrechen seiner ersten Ehe. Er berichtet von einem anschließenden Sinneswandel, der zu einem zweiten Anlauf als Künstler führte: nun bemüht er sich aktiv um Absatz und Einkommen. Wir sprechen im Interview viel über solche Alternativ-Aktivitäten (am kommerziellen Kunstmarkt vorbei). In der Zeit seit dem

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Kreativität als Beruf

Interview ist Ben vielfach in dieser Weise aktiv gewesen (als Gast-Künstler in Gemeindezentren z.B.).

K7: Raul Raul, Anfang 60, arbeitet als Maler in einem großen Atelier außerhalb von [Stadt] und berichtet von der Gefahr allzu großer Zurückgezogenheit. In jüngeren Jahren hat er in seinem Heimatland als Gestalter gearbeitet (bereits sein Vater war Grafiker und Bühnenbildner, ein Großvater Kunsttischler, seine Mutter Hausfrau) – ein Gebiet, in dem es damals künstlerische Ambitionen gab, das er aber als aufreibend beschreibt. Er verortet sich selbst als Nischen-Künstler: tatsächlich stellt er seit den frühen 1990er-Jahren regelmäßig und erfolgreich aus, vor allem in der näheren Umgebung, und publiziert Kataloge. Im Atelier finden sich zwar zahlreiche teils noch unfertige Werke, dennoch bereut der Künstler, dass ihm von den vielen verkauften Werken so wenig bliebe; er hat deshalb ein Archiv seiner Werke angelegt (mit kleinen Abbildungen größerer Werke). Lebt mit Partnerin in [Stadt].

K8: Mia Mia, Ende 30, arbeitet als bildende Künstlerin in einem kleinen Atelier in einem Ateliergebäude am Stadtrand, das sie sich mit einer Kollegin teilt. Sie hat nach einer Ausbildung als Dekorationsgestalterin im Ausland einige Semester Kunst und Bilderhauerei studiert. Ihr verstorbener Vater hatte Kunstgeschichte studiert und war Hobbymusiker, die Mutter Sekretärin; beide Großväter haben nach ihren Angaben bereits gemalt, der eine als erfolgloser Kunstmaler, der andere hat Bilder verkauft und mit dem Ertrag Entwicklungsarbeit betrieben. Neben ihrem Dasein als Künstlerin, als welche sie seit 2009 freischaffend ist, arbeitet sie z.T. weiter in ihrem Beruf. Als Nebenjob ist sie daneben an der Kasse eines lokalen Museums tätig, wo sie sich als Künstlerin allerdings nicht wertgeschätzt fühlt.

Designer_innen D1: Markus Markus, Mitte 40, Mitinhaber eines Grafikbüros, verheiratet, ein Sohn im Grundschulalter. Markus ist auf dem Land aufgewachsen, der Vater arbeitete als Schweißer, die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Berufswunsch »Zeichnen«, nach Schnupperlehre bei einem Grafiker aus

Steckbriefe der Gesprächspartner_innen

dem Nachbardorf eine von den Eltern nach anfänglichem Zögern akzeptierte Lehre als Schriftsetzer. Später berufsbegleitender Weiterbildungskurs als typografischer Gestalter in [Stadt], dort lernt er an der Schule für Gestaltung seine späteren Geschäftspartner kennen. Die drei machen sich Anfang der 1990er-Jahre gemeinsam selbständig, arbeiten aber vorerst parallel in ihren bisherigen Anstellungen weiter. Erste Aufträge ergeben sich aus Kontakten des einheimischen Partners, der als Assistent in einem Museum beschäftigt ist. Auch in den kommenden Jahren sind die Grafiker v.a. für lokale Kulturinstitutionen tätig, nach und nach mit mehreren Angestellten. Markus unterrichtet zwischenzeitlich selbst an der Schule für Gestaltung, engagiert sich in verschiedenen Berufsverbänden, setzt auf internationale Vernetzung. Sein Traum von einer Dependance des gemeinsamen Grafikbüros im Ausland scheitert u.a. am Wunsch der beiden Partner, wie er Familienväter, mehr Zeit für ihre Kinder zu haben.

D2: Nadja Nadja, Anfang 40, arbeitet als Schmuckgestalterin in einem Atelier in ihrem Wohnhaus. Sie hat einen Sohn im Kindergartenalter. Ihr Mann erarbeitet den Großteil des Haushaltseinkommens im akademischen Bereich. Sie hat verschiedene Berufe ausprobiert, jedoch alle im kreativen Bereich. Vater und Großvater waren Architekten. Seit ihrem Design-Studium im Ausland, das sie als überaus inspirierend beschreibt, arbeitet sie selbstständig als Gestalterin von personalisiertem Schmuck mit textilen Einf lüssen. Zur Zeit unseres Interviews hat sie gerade eine Orientierungsphase abgeschlossen, an der sie über einen Wechsel aus dieser Tätigkeit nachdachte. Kunden kommen zu ihr über persönliche Kontakte, aber auch über Design-Messen und -Rundgänge.

D3: Daniela Daniela, Ende 20, Textilentwerferin bei einem international tätigen Unternehmen, Tochter eines Anwalts und einer Primarschullehrerin, lebt mit ihrem ebenfalls in einem gestalterischen Beruf tätigen Partner in einer Wohnung am Stadtrand, keine Kinder. Nach einem Vorkurs an der Kunstgewerbeschule findet sie vor zehn Jahren eher zufällig eine Lehrstelle für Textilentwurf in einer Stickereifirma, später bildet sie sich berufsbegleitend weiter in Richtung Modedesign, eine Zeitlang ist sie selbständig mit eigenem Modelabel, finanziert über Nebenjobs als Kellnerin oder Verkäuferin.

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Nach einer Anfrage seitens der von ihr als Weiterbildung besuchten Schule unterrichtet sie dort seit einem Jahr auch ein bis zwei Tage die Woche. Ihr aktueller Arbeitgeber hat ihr die jetzige Stelle auf Verdacht hin angeboten, dort arbeitet sie in Teilzeit einerseits relativ frei an Entwürfen für die Kollektion des Unternehmens, andererseits an immer wieder kurzfristig fertigzustellenden Kundenaufträgen. Sie sieht Textilentwurf als Beruf im Wandel, auch aufgrund veränderter und potentiell unvorhersehbarer Entwicklung der Kundenwünsche.

D4: Daniel Daniel, Mitte 30, selbständiger Produktdesigner, verheiratet und vor kurzem Vater geworden, lebt mit Frau und Kind im eigenen Haus in direkter Nachbarschaft seines Ateliers. Er kommt aus einer Handwerkerfamilie, die Eltern sind Inhaber eines Einrichtungsgeschäfts, der Bruder betreibt ein Architekturbüro, in dem Daniel als gelernter Hochbauzeichner hin und wieder aushilft. Eine weitere regelmäßige Einnahmequelle sind Aufträge als Inneneinrichter. Daniel hat nach der Lehre ein Designstudium absolviert und anschließend Berufserfahrung bei einem Möbeldesigner gesammelt, parallel erste eigene Projekte, beides mit dem Ziel, sich später ganz selbständig zu machen. Er erzielte einige Achtungserfolge und Aufträge von größeren Schweizer Unternehmen, mittlerweile beschäftigt Daniel fast durchgängig einen Praktikanten. Er berichtet von einem Selbstbild weniger als Künstler denn als Handwerker und betont explizit, dass Designer für andere arbeiten, dass Designobjekte nicht als Unikate, sondern als Massenprodukte für einen Markt gedacht sind. Er kann sich vorstellen, den Sohn später auch zeitweise mit ins Atelier zu nehmen, das Hauptgewicht der Betreuungsarbeit werden allerdings die Kindsmutter – sie wird nach Rückkehr an ihren Arbeitsplatz nur noch 50 Prozent arbeiten – und die Großeltern tragen.

D5: David David, Mitte 30, arbeitet als studierter Grafikdesigner in einer klein- bis mittelgroßen Firma. Er hat mit seiner Frau, einer Ex-Künstlerin, die nun für die Stadt im Videobereich arbeitet, eine einjährige Tochter; seine Eltern waren beide Lehrer – er vergleicht sein Verdienst mit dem eines Grundschullehrers. Er hebt im Interview an seinem Beruf die Möglichkeit zur Kooperation heraus und macht insgesamt einen zufriedenen Eindruck. Zugleich denkt er allerdings über einen möglichen baldigen Wechsel nach, da das in seiner

Steckbriefe der Gesprächspartner_innen

Branche so üblich sei und er ein Missverhältnis sieht zwischen seinen wachsenden Kompetenzen und seiner gleichbleibenden Funktion in der Firma.

D6: Anette Anette, Mitte 50, verheiratet, zwei erwachsene Kinder. Vater Landwirt, Mutter Hausfrau, Lehre als Maschinenbauzeichnerin und Berufsmittelschule, nach verschiedenen Anstellungen bei Grafikern und Agenturen Einarbeitung in den grafischen Bereich über Praktika, Hospitanz an einer Kunstgewerbeschule. Nach der Geburt ihrer zwei Söhne ist Anette weiter in einem zeitlich beschränkten Rahmen als Freelancerin tätig, als die beiden etwas älter sind, entscheidet sie sich, eine weiterführende Ausbildung zur Typografischen Gestalterin zu beginnen. Seither arbeitet sie wieder vollberuf lich als selbständige Grafikerin, im Netzwerk mit einigen Ausbildungskolleginnen, die sich gegenseitig auch bei Projekten aushelfen oder Aufträge bei Bedarf untereinander weitergeben können. Ihr Partner ist Informatiker, nach langer Selbständigkeit als Kleinunternehmer ist sie mittlerweile wieder angestellt tätig. Dass Anette seit 30 Jahren mit ihrem Mann in einer kleinen Gemeinde lebt, sieht sie als Standortvorteil: Als eine der wenigen Grafikerinnen am Platz bekommt sie die meisten Aufträge über zufriedene Kunden vermittelt bzw. wird von Leuten kontaktiert, die ihre Arbeiten schon gesehen haben. Sie betont in der Beschreibung ihrer Tätigkeit vor allem die handwerklichen Elemente und die Detailarbeit. Durch eine Zweitausbildung hat sie den Paradigmenwandel von der Hand- zur Computerarbeit bewältigen können.

D7: Ena Ena, Anfang 30, selbständige Grafikerin, Tochter eines Körpertherapeuten und einer Werklehrerin. Sie teilt sich zum Zeitpunkt des Interviews mit ihrem Partner, einem Musiker, eine Altbauwohnung in ihrer Heimatstadt, die ihr zeitweise auch als Büro dient. Auf Anraten der Eltern macht Ena zuerst eine Lehramtsausbildung, arbeitet aber nie länger in dem Beruf. Danach absolviert sie ein Grafikdesign-Studium im Ausland mit dem länger gehegten Ziel, Buchgestalterin zu werden. Nach Studienabschluss in der Schweiz erhält sie erste selbständige Aufträge, z.T. querfinanziert über temporäre Anstellungen als Lehrerin. Ihr Ziel bleibt weiter die Selbständigkeit, eine Anstellung kommt für sie nicht in Frage. Mit dem Umzug in [Stadt] erweitert sich das professionelle Netzwerk von Ena, für verschiedene Projekte arbeitet

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sie mit Studien- und Berufskolleginnen zusammen, inklusive gemeinsamer Websites für die temporären Arbeitsgemeinschaften. Unter eigenem Namen gestaltet Ena v.a. Kunstpublikationen und Plakate für Clubs, verkehrt auch privat in beiden Welten. Einer neuen Partnerschaft zuliebe kehrt sie in ihre Heimatstadt zurück, in der ihr Freund eine Anstellung gefunden hat. Arbeitsmittelpunkt bleibt der frühere Wohn- und Ausbildungsort, wobei Ena auch am neuen Ort über einen dort ansässigen Künstlerverlag schnell verschiedene Projekte akquirieren kann.

D8: Deborah Deborah, Mitte 30, selbständige Grafikerin mit Unterrichtspensum an einer freien Kunsthochschule, Tochter eines Landmaschinenbauers und einer Hausfrau. Nach einem Referat über einen Künstler verspürt sie erstmals den Wunsch, selbst an einer Kunsthochschule zu studieren, erntet aber Unverständnis im familiären Umfeld. Sie macht eine typografische Lehre bei einer Druckerei in der Nähe, währenddessen Kontaktaufnahme mit einer Werbeagentur in [Stadt]. Sie arbeitet anschließend mehrere Jahre in der Branche und macht sich nach einem Grafikstudium mit zwei Kommilitoninnen selbständig. Aufträge kommen anfangs v.a. über die Hochschule. Aus der Bürogemeinschaft ist Deborah die einzige, die weiterhin selbständig tätig ist. Sie bearbeitet mehrere Projekte im künstlerischen Feld, häufig mit befreundeten Grafiker_innen, zur Überbrückung finanzieller Engpässe übt sie auch weiter eine Tätigkeit aushilfsweise in der Werbung aus, zwischendurch hat sie kurzfristig eine Anstellung als Art Directorin eines Magazins, die sie aber wieder aufgibt. Ein paar Monate vor dem Interview hat Deborah begonnen, bei einem populärwissenschaftlichen Verlag zu arbeiten, um ein neues Aufgabenfeld kennenzulernen. Obwohl ihr die Arbeit Spaß macht, empfindet sie die Arbeitsbedingungen als Einschränkung und überlegt sich bereits, den Job zugunsten der aktuell reduzierten Selbständigkeit aufzugeben.

D9: Regula Regula, Anfang 40, arbeitet als Schmuckdesignerin in einem Werkstadt-Atelier, das sie sich mit einer Kollegin teilt. Das Atelier ist in einem städtischen Szeneviertel gelegen, allerdings nur schwer zugänglich. Dennoch hat sie einen Kundenstamm, den sie auch über Messen erweitert. Sie gibt an, dafür gut 10 Jahre benötigt zu haben. Sie ist seit dem Diplom vor ca. 15 Jahren selbstständig. Sie hat einen Mann, der als Informatiker ein hohes Gehalt be-

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zieht, und steuert immerhin ein Drittel zum gesamten Haushaltseinkommen bei. Sie hat zwei Kinder im Grund- und Vorschulalter. Ihr Vater war CEO (Dr. jur.), die Mutter Sekretärin. Im Gespräch ist sie sachlich, wir reden viel über Praktisches – den Schmuck, die Arbeitsorganisation etc.

D10: Betty Betty, Ende 20, Screen-Designerin bei einer großen Werbeagentur. Die Idee, Kindergärtnerin zu werden, gibt sie nach mehreren Praktika mit Unterstützung der Eltern, beide sind kaufmännische Angestellte, zugunsten eines Fachhochschulstudiums in Medienkunst auf. Erste Berufserfahrungen im Anschluss bei diversen kleineren Webagenturen und TV-Produktionsfirmen im In- und Ausland. Seit einem halben Jahr in ihrem aktuellen Job, dort nach Schrumpfung des Kreativteams infolge verschlechterter Auftragslage mittlerweile allein für den Onlinebereich zuständig. Bearbeitet v.a. Aufträge von Konzernkunden u.a. für ein Getränkeunternehmen, eine Großbank, Versicherungen usw. – Betty hat kürzlich auf eigenen Wunsch und gegen den anfänglichen Widerstand ihres Arbeitgebers ihr Pensum von 100 auf 80 Prozent reduzieren können und plant, die gewonnene Zeit für selbständige, stärker künstlerischere Projekte zu nutzen. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist sie dabei, ihre bisherige kleine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsorts zu räumen, um in ihrer Heimatstadt mit ihrem Partner zusammenzuziehen. Der Journalist arbeitet ebenfalls in [Stadt], schon jetzt pendeln er und Betty regelmäßig zwischen beiden Orten hin und her. Beide können sich vorstellen, in absehbarer Zeit eine Familie zu gründen.

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Hinweise zu den Autoren

Christoph Henning, geb. 1973, ist Fellow für Philosophie am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Letzte Buchveröffentlichungen: Critical Theory and New Materialism (Mitherausgeber, 2019); Marx und die Folgen (2017); Theorien der Entfremdung zur Einführung (2015). Franz Schultheis, geb. 1953, ist Seniorprofessor an der Zeppelin Universität, Friedrichshafen, und war zuvor an den Universitäten St. Gallen, Genf und Neuchâtel tätig. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist Soziologie der Kunst. Letzte Buchveröffentlichungen: Unternehmen Bourdieu. Erfahrungsbericht (2019), Kunst als Passion (2018), Art Unlimited? Dynamics and Paradoxes of a Globalizing Art World (Koautor, 2016). Dieter Thomä, geb. 1959, ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und leitet dort mit Johannes Rüegg-Stürm das Masterprogramm »Management-Organisation-Kultur«. Zurzeit ist er Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton. Letzte Buchveröffentlichungen: Transparency, Society and Subjectivity (Mitherausgeber, 2018); Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds (2016); Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie (Koautor, 2015).

Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018

Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

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Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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