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German Pages 401 [404] Year 2008
Corinna Laude, Gilbert Heß (Hg.) Konzepte von Produktivität
Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit Herausgegeben von Corinna Laude und Gilbert Heß
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.b-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004333-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
CORINNA LAUDE / GILBERT HEß Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Eine Einleitung ............................................................................................................7 ANDREAS URS SOMMER Utopie und Skepsis. Geistige Produktivität in der politischen Philosophie der Frühen Neuzeit ....................................................................................................27 I. Vormoderne Konzepte von Produktivität in der poetischen Praxis und im gelehrten Diskurs BEATRICE TRINCA Dichter als inspirierte Handwerker? Bligger von Steinach und Gottfried von Straßburg .............................................................................................45 ANNETT VOLMER Intertextuelle Produktivität. Inspiration, Legitimation und Texttradition bei Isabella Andreini und Moderata Fonte ......................................................................67 TOBIAS BULANG Literarische Produktivität – Probleme ihrer Begründung am Beispiel Johann Fischarts.........................................................................................................89 ANTJE WITTSTOCK Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow ...................119 KARSTEN MACKENSEN Zur Operationalisierung des musikalischen Wissens in Enzyklopädien der Frühen Neuzeit ..................................................................................................141 II. Vormoderne Konzepte von Produktivität in der bildenden Kunst, im theologischen Diskurs und im religiösen Kult STEFAN TRINKS Skulpturen in Serie: Antike als Produktivkraft im Spanien des 11. Jahrhunderts ...181
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Inhalt
SUSANNE WEGMANN Lucas Cranach d. Ä. und das Lob der Schnelligkeit – Aspekte der Produktivität im Kontext von Humanismus und Reformation ......................................................207 GIA TOUSSAINT Imago und Imaginatum. Der Gebrauch illuminierter Andachtsbücher als Ort religiöser Produktivität ............................................................................................229 HEIKE SCHLIE Ein „Kunststück“ Jan van Eycks in der Nachfolge der mittelalterlichen Artefaktund Kunsttheorie......................................................................................................243 III. Vormoderne Konzepte von Produktivität im Kontext sozial-ökonomischer Diskurse und Dispositive ROBERT BRANDT Handwerk und Arbeit. Anmerkungen zur deutschsprachigen Handwerksgeschichtsschreibung und zur Geschichte des vorindustriellen Handwerks in Mitteleuropa während der Frühen Neuzeit .......................................289 THOMAS BUCHNER Arbeit, Ordnung – Produktivität? Ein Vergleich von niederländischem Merkantilismus und deutschsprachigem Kameralismus im 17. Jahrhundert...........315 CLAUDIUS SITTIG Loehneysens Plagiate. Die Produktion von Reputation...........................................347 ANJA VOESTE Drucktechnik und Logographie. Die Etablierung von Schemakonstanz im Typographeum....................................................................................................373 Personenregister.......................................................................................................393 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................................399
CORINNA LAUDE / GILBERT HEß
Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Eine Einleitung
Produktivität ist für die moderne ‚Leistungsgesellschaft‘ ein ökonomisch geprägter Schlüsselbegriff, der weitgehend unhinterfragt positiv konnotiert ist mit Vorstellungen von Fortschritt, Zuwachs, Wettbewerb und Expansion, und der unlösbar verknüpft ist mit einem spezifischen Begriff von Arbeit als einer ethisch hoch valorisierten geistigen oder körperlichen Tätigkeit.1 Das war nicht immer so, doch ist die historische Dimension des Konzepts „Produktivität“ in Vergessenheit geraten.2 Ihr nachzugehen hatte sich eine Tagung zum Ziel gesetzt, die – im Kontext der Forschungen des interdisziplinär besetzten Arbeitskreises „Argus – Brüche und Kontinuitäten: Vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit“ – vom 14. bis zum 17. März 2006 an der Technischen Universität Berlin stattfand. Die meisten der auf dieser Tagung präsentierten, diskutierten und nunmehr schriftlich gefaßten Beiträge, ergänzt um eine romanistische Studie, versammelt der vorliegende Band. Ausgangspunkt unserer Überlegungen war der Umstand, daß sich – anders als gegenwärtig so oft zu beobachten – künstlerische, geistige und handwerkliche Schaffensprozesse in der Vormoderne nur selten an ökonomischen Wertmaßstäben messen
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Vgl. z.B. Andreas Arndt: Art. „Produktion, Produktivität [II]“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 14271432; Volker Hentsch: Art. „Produktion, Produktivität“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reihart Koselleck, Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 1-26; Helmut Pfeiffer: Art. „Produktionsästhetik“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. von Jan-Dirk Müller, Bd. 3. Berlin / New York 2003, S. 158-161. Vgl. zu den ideengeschichtlichen Entwicklungen (philosophisch, ökonomisch, ästhetisch) des Begriffs grundlegend den gesamten Artikel „Produktion, Produktivität“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 1418-1438 (außer Arndt [wie Anm. 1] auch Friedrich Kaulbach: Art. „Produktion, Produktivität [I]“, Sp. 1418-1426; sowie Reinhold König: Art. „Produktion, Produktivität [III]“, Sp. 1432-1438).
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lassen (mußten).3 An Stelle der gegenwärtigen Privilegierung „produktiver“ Leistung mit entsprechendem (zumeist nach rein ökonomischen Kriterien relevanten) output war im Mittelalter und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein die vita contemplativa der vita activa mindestens gleich-, wenn nicht vorgeordnet.4 Handwerkliche, geistige und künstlerische Tätigkeit gestaltete sich oftmals als prekärer Balanceakt zwischen Bewahrung (traditio, imitatio, memoria) und Zugewinn (translatio, aemulatio, novitas).5 3
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Daß eine vollkommene Ökonomisierung der Vorstellungen über menschliche Schaffenprozesse auch heute noch nicht überall auf Zustimmung stößt, verdeutlichte die Wahl des Begriffs ‚Humankapital‘ zum „Unwortes des Jahres 2004“, die damit begründet wurde, daß der Mensch durch diesen Begriff sprachlich auf Wirtschaftsgeschehen reduziert werde. Diese Wahl rief unter Ökonomen Unverständnis und Protest hervor, unter anderem, weil der „Produktionsfaktor Humankapital die entscheidende Wachstumsdeterminante in einer Wirtschaft überhaupt“ sei (so Juergen B. Donges in der FAZ vom 20.01.2005, S. 12) und weil es sich dabei um „ein[en] seit langem eingeführte[n] Begriff“ handle (so Joachim Starbatty, zit. ebd.) – eine Argumentation, die verdeutlicht, daß die diskursiven Aspekte eines Wortes hinsichtlich ihrer generierenden oder stabilisierenden Funktionen innerhalb eines Komplexes von Machtverhältnissen im ökonomischen und politischen Diskurs kaum reflektiert werden. Vgl. zur Relation von Diskursen und Machtstrukturen einführend Clemens Kammler: Historische Diskursanalyse (Michel Foucault). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, hrsg. von Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990 (WV studium 156), S. 31-55. Auch 2006 wurde mit der ‚Entlassungsproduktivität‘ ein ökonomischer Begriff zum „Unwort des Jahres 2005“ gewählt – er nimmt sich für die Herausgeberin des vorliegenden Bandes besonders frivol aus, da neben anderen historisch-hermeneutischen Disziplinen auch ihr Fach während der Tagungsvorbereitungen an der TU Berlin einem Denken in Kategorien wie der ‚Entlassungsproduktivität‘ zum Opfer gefallen und abgeschafft worden ist. Vgl. dazu die Aufsätze in Brian Vickers (Hrsg.): Arbeit, Muße, Meditation. Betrachtungen zur Vita activa und Vita contemplativa. 2., durchges. Aufl. Zürich 1991; Karl Enenkel: Die humanistische vita activa/vita contemplativa-Diskussion: Francesco Petrarcas „De vita solitaria“. In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Proceedings of the Eighth International Congress of Neo-Latin Studies, Copenhagen, 12 August to 17 August 1991, hrsg. von Rhoda Schnur u. Ann Moss. Binghamton, NY 1994 (Medieval & Renaissance texts & studies 120), S. 249-257. Zur künstlerischen Umsetzung des ursprünglich antiken Denkmodells in der Renaissance s. Florian Matzner: Vita activa et vita contemplativa: Formen und Funktionen eines antiken Denkmodells in der Staatsikonographie der italienischen Renaissance. Frankfurt a.M. u.a. 1994 (Europäische Hochschulschriften Reihe 28, 206). Vgl. zur Bedeutung der traditio und der memoria z.B. Mary Carruthers: The book of memory. A study in medieval culture. Cambrigde u.a. 1990; Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993 (Poetik und Hermeneutik 14); Dieter Geuenich (Hrsg.): Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 111); Otto Gerhard Oexle: Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a.M. 1994, S. 297-323; Ulrich Ernst / Klaus Ridder (Hrsg.): Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Köln / Weimar / Wien 2003 (Ordo 3). Zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Innovationskonzepten s. z.B. Jan-Dirk Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten, hrsg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 5), S. 121-144; Barbara Bauer: Art. „Aemulatio“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg.
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Denn grundsätzlich ist mit den vormodernen lateinischen und volkssprachigen Begriffen, die dem terminologischen Feld von Produktivität zuzurechnen sind, bis ins 18. Jahrhundert hinein in der Regel eher ein Prozeß der Umgestaltung aus etwas Vorhandenem als die Schaffung von etwas Neuem zu verstehen.6 Entsprechend mußte „Arbeit“ nicht zwangsläufig mit Vorstellungen von Progression und Wachstum in Verbindung gebracht werden und wurde – als physische Tätigkeit – keineswegs nur positiv konnotiert.7 Ebenso ambivalent wurde geistige Produktivität (z.B. im Sinne künstlerischer Kreativität) bewertet und bedurfte vielfach erheblicher Legitimationsanstrengungen.8 Physische und psychische Tätigkeiten sowie deren Erzeugnisse waren von Rahmenbedingungen abhängig, die ein bezeichnendes Licht auf die Mentalitäts-, Wirtschafts-,
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von Gerd Ueding, Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 141-187; Udo Krozlik: Zur theologischen Legitimierung von Innovationen vom 12.-16. Jahrhundert. In: Innovation und Originalität, hrsg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 9), S. 35-52. S. Kaulbach: Art. „Produktion, Produktivität [I]“ (wie Anm. 2); Wolfgang Brückner: Erneuerung als selektive Tradition. Kontinuitätsfragen im 16. und 17. Jahrhundert aus dem Bereich der konfessionellen Kultur. In: Der Übergang zu Neuzeit und die Wirkung von Traditionen. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschften Hamburg am 13. und 14. Oktober 1977. Göttingen 1978, S. 55-77. Paradigmatisch läßt sich dies beobachten an der Poetik des Niuwens bzw. des ‚Wiedererzählens‘ im Bereich der Literaturproduktion, vgl. dazu grundlegend Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142; sowie jüngst die Beiträge in: Joachim Bumke / Ursula Peters (Hrsg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005 (ZfdPh 124: Sonderheft); Walter Haug: Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann u. Burkhard Hasebrink. Berlin / New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 49-64; Beate Kellner: das alte buoch von Toye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Ebd, S. 231-262. Zum Begriff „Arbeit“ s. Werner Conze: Art. „Arbeit“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reihart Koselleck, Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 154-215, hier S. 158-174; sowie die Beiträge in dem kürzlich ebenfalls im Akademie-Verlag erschienen interdisziplinären Tagungsband: Verena Postel (Hrsg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten. Berlin 2006. Vgl. neben den in Anm. 6 genannten literaturwissenschaftlichen Arbeiten auch Thomas Cramer: Solus creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15 (1986), S. 261-276; Krozlik: Zur theologischen Legitimierung (wie Anm. 5); Corinna Laude: Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im „Eneasroman“ und im „Erec“. In: „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, hrsg. von Thomas Rathmann u. Nikolaus Wegmann, Berlin 2004 (Beiheft zur ZfdPh 12), S. 209-240 (mit weiterführender Literatur auch aus dem Bereich der Kunstgeschichte); sowie zuletzt die Beiträge in dem Band: Beate Kellner / Peter Strohschneider / Franziska Wenzel (Hrsg.): Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190).
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Kunst- und Kulturgeschichte der Zeit werfen: So hing beispielsweise die Buch- und Kunstproduktion u.a. gravierend von den wissenschaftlichen und handwerklichen Kenntnissen und Fähigkeiten, von Produktionsbedingungen, Konkurrenzdruck und Rezeptionsmechanismen ab.9 Interdependenzen zwischen den Disziplinen konnten – wie sich z.B. anhand der Auswirkungen der Textkritik auf die Entwicklung und Ausbildung des Rechts oder physikalischer Erkenntnisse auf die Entstehung neuer musikalischer oder bildkünstlerischer Ausdrucksformen zeigen ließe10 – wesentlich zu Veränderungen beitragen. 9
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Zur Frage nach entsprechenden Rahmenbedingungen bei der Handschriften- bzw. Buchproduktion s. z.B. Joachim Heinzle (Hrsg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991. Stuttgart / Weimar 1993 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 14); Michael Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 1991; Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung. In: Autorentypen, hrsg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 1-28; die Beiträge in dem Band: Anton Schwob u. András Vizkelety unter Mitarb. v. Andrea Hofmeister-Winter (Hrsg.): Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums 13.-17. Oktober 1999. Bern u.a. 2001 (Jb. für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 52); Jan-Dirk Müller: Formen literarischer Kommunikation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet v. Rolf Grimminger, Bd. 1: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hrsg. von Werner Röcke u. Marina Münkler. München / Wien 2004, S. 21-53; Werner Röcke: Fiktionale Literatur und literarischer Markt: Schwankliteratur und Prosaroman. In: Ebd., S. 463-506; zur Kunstproduktion vgl. die Arbeiten über Rahmenbedingungen in der Renaissance von Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictural Style. Oxford 1972, dt.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance. Darmstadt 1999 (nach der 2. Aufl. Oxford 1988); Martin Kemp: Der Blick hinter die Bilder. Text und Kunst in der italienischen Renaissance. Köln 1997, insbesondere S. 69-220; zur traditionsgebundenen Textproduktion in der Frühen Neuzeit s. Gilbert Heß: Fundamente fürstlicher Tugend. Zum Stellenwert der Sentenz im Rahmen der voruniversitären Ausbildung Herzog Augusts d. J. von Braunschweig-Lüneburg (1579-1666). In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Frank Büttner u.a. Münster 2003 (P & A 3), S. 131-174. Vgl. zur Ausbildung eines neuen Rechtsverständnisses im Zuge der Rezeption neuer philologischer Methoden Jan Schröder: Aequitas und rechtswissenschaftliches System. In: Juristische Methodenlehre zwischen Humanismus und Naturrecht. Beiträge zu einem Symposium vom 19.22. November 1997, hrsg. von Clausdieter Schott. Wien 1999 (ZNR 21), S. 21-44; ders.: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500-1800). München 2001, S. 130-138; Thomas Duve: Mit der Autorität gegen die Autoritäten? Überlegungen zur heuristischen Kraft des Autoritätsbegriffs für die Neuere Privatrechtsgeschichte. In: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, hrsg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn u. Winfried Schulze. Münster 2003 (Pluralisierung und Autorität 1), S. 239-256; zur Auswirkung physikalischer Erkenntnisse auf die Entwicklung der Musik vgl. z.B. Institut für Aufführungspraxis (Hrsg.): Die Wechselwirkung von Instrumentenbau und Kompositionsweise sowie Editionsfragen der Frühklassik. Michaelstein / Blankenburg 1981 (Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts, Heft 14);
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Innovationsschübe konnten ebenso wie der Rückgriff auf ältere Modelle oder die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ neue Produktionsformen und -fähigkeiten hervorrufen, wie sie auch die Weiterentwicklung bestehender Künste und Fertigkeiten be-, aber auch verhindern konnten. Erkenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie z.B. beförderten neue Denkmodelle, deren Wirkungen weit über den Bereich der artes mechanicae hinauswirkten.11 Neue Stilrichtungen hinderten die Weiterentwicklung etablierter Modelle, wie andererseits überwunden geglaubte Stile in späteren Epochen erneut Geltung erlangen konnten.12
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Siglia Dostrovsky u. John T. Cannon: Entstehung der musikalischen Akustik (1600-1750). In: Hören, Messen und Rechnen in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Carl Dahlhaus u.a. Darmstadt 1987 (Geschichte der Musiktheorie 6), S. 7-80; Peter Dear: Marin Mersenne: Mechanics, Music and Harmony. In: Number to sound. The Musical Way to the Scientific Revolution, hrsg. v. Paolo Gozza. Dordrecht u.a. 2000 (The western Ontario series in Philosophy of Science 64), S. 267-289; Christoph Reuter: Heraushörbarkeit und Entwicklung von Orchesterinstrumenten. In: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft. Bericht über den Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung, Halle (Saale) 1998. Kassel 2001, S. 101-109. Vgl. z.B. Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a.M. 1975; Gideon Freudenthal: Atom und Individuum im Zeitalter Newtons. Zur Genese der mechanistischen Natur- und Sozialphilosophie. Frankfurt a.M. 1982; Otto Mayr: Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit. München 1987; zur Auswirkung optischer Errungenschaften auf Kunst und Wissenschaft: David Michael Levin: Modernity and the Hegemony of Vision. Berkeley / Los Angeles / London 1993; Leonhard Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. München 2002; Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive. München 2002 (erstmalig engl. 1975). Hier wäre z.B. zu denken an die Ablösung des vierhebigen Reimpaarverses als der maßgeblichen Form volkssprachiger epischer Dichtung im Hochmittelalter durch die Prosa (Prosaroman, -historien, -kurzerzählungen), vgl. dazu grundlegend Rüdiger Schnell: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter. Zum Entstehen des frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981, hrsg. von Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 214249; Jan-Dirk Müller: Volksbuch / Prosaroman im 15./16. Jahrhundert. Perspektiven der Forschung. In: IASL, 1. Sonderheft: Forschungsreferate (1985), S. 1-128. Zum Bereich der bildenden Kunst vgl. etwa Ludger Sudhoff: Gotik im Barock. Zur Frage der Kontinuität des Stils außerhalb seiner Epoche. Möglichkeiten der Motivation bei der Stilwahl. Münster 1990; Michael Hesse: Von der Nachgotik zur Neugotik. Die Auseinandersetzung mit der Gotik in der französischen Sakralarchitektur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u.a. 1984; Stephan Hoppe: Romanik als Antike und die baulichen Folgen. Mutmaßungen zu einem in Vergessenheit geratenen Diskurs. In: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500, hrsg. von Norbert Nußbaum, Claudia Euskirchen u. Stephan Hoppe. Köln 2003, S. 88-131; ders.: Architekturstil und Zeitbewußtsein in der Malerei Stefan Lochners. Verwendung und Vorbilder. In: Hörsaal, Amt und Marktplatz. Forschung und Denkmalpflege im Rheinland. Festschrift für Udo Mainzer zum 60. Geburtstag, hrsg. von Claudia Euskirchen, Marco Kieser u. Angela Pfotenhauer. Regensburg 2005, S. 57-70.
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Diese und weitere Implikationen vormoderner Vorstellungen von Produktivität sowie ihre Wandlungen anhand ihrer konkreten geschichtlichen Manifestationen (den ‚Produkten‘ von Produktivität) zu untersuchen und sie in einer transdisziplinären Diskussion systematisch (nämlich als historische „Konzepte“) präziser zu fassen, war das Anliegen der im vorliegenden Band dokumentierten Tagung. Wenngleich der Begriff „Produktivität“ erst in der Moderne gebildet wurde,13 hat er sich, das zeigen die hier präsentierten Ergebnisse, als heuristisches Instrument zur Erforschung von Entstehungsprozessen geistiger wie materieller Kulturgüter in der Vormoderne bewährt. Bereits die Begriffsgeschichte vermag signifikante Veränderungen des durch ihn bezeichneten Schaffensprozesses zu verdeutlichen: Die ursprüngliche Verwendung des Adverbs „produktiv“ als Beschreibung einer mentalen Kategorie der Erkenntnis (und speziell: des ästhetischen Schaffens), dem das Substantiv dann nachgebildet wurde, mag heutzutage überraschend wirken, da die ökonomische Bestimmung des Begriffs „Produktivität“ sich durchgesetzt zu haben scheint.14 Der erstmals wohl bei Kant verwendete Begriff15 (z.B. Kritik der Urteilskraft § 49: Über die Einbildungskraft des Genies als „produktives Erkenntnisvermögen“16) entfaltete im Zuge der Geniedebatte des 18. Jahrhunderts als Gegenentwurf zur Wirkungs- und Werkpoetik des französischen Klassizismus und zum aristotelischen Regelwerk seine Wirkmacht17 und bezeichnet insofern sogar eine zumindest dem vorherrschenden mittelalterlich-frühneu13
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Vgl. allerdings zu antiken Vorläufern bei Proklos und den semantischen Verschiebungen des lateinischen Ausdrucks „producere“ Kaulbach: „Produktion/Produktivität [I]“ (wie Anm. 6), Sp. 1418-1420. Zum frühneuzeitlichen semantischen Begriffsfeld vgl. Etienne Bonnot de Condillac: Dictionnaire des synonymes. Art. „produire“. In: Œvres du Condillac, hrsg. von G. Le Roy, Bd. 3. Paris 1951, S. 461. Dies belegt ein Blick in die einschlägigen Konversationslexika und Wörterbücher der deutschen Sprache, vgl. auch Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold. 24., durchges. u. erw. Aufl. Berlin / New York 2002, S. 721, das zwar das Lemma „Produktivität“ nicht enthält, doch für das nomen acti von produzieren („Produkt“) darauf hinweist, daß die wirtschaftliche Bedeutung vom Englischen abhängig sei. Auf ‚vortheoretische‘ Vorläufer des Begriffs im Bereich des Prozeßwesens und im kommerziellen Rechnungswesen seit dem 17. Jahrhundert weist Hentsch: „Produktion, Produktivität“ (wie Anm. 1), S. 2-5, hin. Diese Verwendungsweise des Begriffs wird auch anhand der Artikel: „producent“, „producere in adversarium ad album“, „producere obligationem“ und „Product“ in Johann Heinrich Zedler: Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste [...]. Bde. 1-64. Leipzig und Halle 1732-1754, hier Bd. 29 (1741), S. 754-756, ersichtlich. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Siebenter Band: N-Quurren. Bearbeitet von Dr. Matthias Lexer. Leipizg 1889 (Reprint München 1991), Bd. 13, Sp. 2158f. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 57), S. 249-256, zit. S. 250. S. hierzu Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne. Stuttgart 1991; Albert Meier: Poetik. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering. München 1996, S. 205-218, hier S. 215-217; vgl. auch Pfeiffer: „Produktionsästhetik“ (wie Anm. 1), S. 160f.
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zeitlichen Verständnis entgegengesetzte Kunstauffassung.18 Diese offensichtlichen Brüche in der Semantik verdeutlichen zugleich aber auch unterschiedliche, jeweils im historischen Kontext zu positionierende Konzeptionen von schöpferischer Tätigkeit. Vor diesem Hintergrund wurde auf der Tagung insbesondere gefragt nach jenen vorbegrifflichen (jedenfalls nicht mit diesem Begriff bezeichneten) Vorstellungen von „Produktivität“ als eines grundlegenden mentalen Vermögens, nach seinen Erscheinungsformen und Wandlungen, die schließlich in die Begriffsbildung bzw. -verwendung des 18. Jahrhunderts mündeten. Der in der gegenwärtigen Diskussion ubiquitäre Begriff wurde somit auf der Grundlage seines originären Bedeutungsgehaltes dienstbar gemacht als heuristische Bezeichnung all dessen, was als Konzeptualisierungen des Erzeugens, Hervorbringens, mithin des Schöpferischen per se umschrieben werden kann. Zugleich wurden damit dezidiert neuere Tendenzen der ökonomiehistorischen Forschung aufgegriffen, welche die Interdependenz zwischen Wirtschaft und Kultur bzw. den Konnex von Wirtschafts- und Kulturgeschichte betonen.19 Der transdisziplinäre Zuschnitt der Tagung insgesamt war seinerseits für eine grundsätzliche Zielsetzung des Arbeitskreises „Argus“ produktiv: Für die Reflexion der je disziplinären diskursiv-terminologischen Konstitution des Gegenstandes – eine Reflexion, die nicht nur die jeweiligen Grenzziehungen zwischen den Disziplinen aufzeigt, sondern sie auch auf ihr Verbindendes hin zu beleuchten vermag und auf diese Weise neue Forschungsfelder eröffnen kann.20 Nicht zuletzt dieses Ziel – weitere 18
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Vgl. dazu für die Literarhistorie exemplarisch die in Anm. 6 und 8 genannten Arbeiten sowie Carl Lofmark: The Authority of the Source in Middle High German Narrative Poetry. London 1981 (Bithell Series of Dissertations 5); sowie jüngst Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen / Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48); für die Kunstgeschichte grundlegend Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 2000. Vgl. Hartmut Berghoff / Jakob Vogel: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale. In: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, hrsg. von dens. Frankfurt a.M. 2004, S. 9-24, hier S. 13: „Jedes Wirtschaftssystem und alles ökonomische Handeln basiert auf Sinnkonstruktionen und produziert zugleich selber Sinn, wirkt also kulturschaffend.“ Vgl. auch Hansjörg Siegenthaler: Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende. In: GG 25 (1999), S. 276-301, hier S. 276, der von einer „kulturalistische[n] Wende“ der Wirtschaftsgeschichte spricht. Zur aktuellen Debatte in der Wirtschaftsgeschichte s. u.a. Peter Temin: Is it Kosher to Talk about Culture? In: Journal of Economic History 57 (1997), S. 267-287; Clemens Wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen. Ein Plädoyer für die Einheit von Kultur und Wirtschaft. In: Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode, hrsg. von Eckhart Schremmer. Stuttgart 1998, S. 21-33; Thomas Eger: Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen. Berlin 2002. Die wirtschaftsgeschichtliche Forschung konzentriert sich freilich nach wie vor weitgehend auf Fragen des 18. und 19. Jahrhunderts. Vgl. zu einem solchen Verständnis von Interdisziplinarität und zur besonderen Bedeutung der Übergangsphase Spätmittelalter – Frühe Neuzeit für in diesem Sinne transdisziplinär orientierte Forschungsunternehmen Helmut Puff u. Christopher Wild: Terminologische Erkundungen. Früh-
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Forschungsanstrengungen über vormoderne Konzepte von Produktivität zu initiieren – eint die hier in der schriftlichen Fassung präsentierten Beiträge, die sich einerseits aufgrund ihrer mikrologischen Analysen von kulturellen Praktiken des Produktiven im Kontext kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, z.B. der Historischen Anthropologie, bewegen, die andererseits und bedingt durch ihre Kernfrage nach Konzeptualisierungen von Produktivität auch einen Beitrag zur intellectual history leisten wollen, der freilich weniger in der Tradition der Cambridge School steht,21 als vielmehr einer ‚Sozialgeschichte der Ideen‘ verpflichtet ist. Dem transdiszipliären Ansatz fügt sich auch die Anordnung der Beiträge, die sich auf drei systematisch angelegte Sektionen verteilen: I. II. III.
Vormoderne Konzepte von Produktivität in der poetischen Praxis und im gelehrten Diskurs. Vormoderne Konzepte von Produktivität in der bildenden Kunst, im klerikalen Diskurs und im religiösen Kult. Vormoderne Konzepte von Produktivität im Kontext sozial-ökonomischer Diskurse und Dispositive.
I. Die erste Abteilung versammelt Studien, die in unterschiedlicher disziplinärer Perspektive entweder der jeweiligen Konzeptionalisierung von Kreationsakten in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur nachgehen (BEATRICE TRINCA, ANNETT VOLMER, TOBIAS BULANG), oder die analysieren, wie aus traditionellen Diskursen und Praktiken der litterati innovatives Kapital geschlagen wurde (ANTJE WITTSTOCK, KARSTEN MACKENSEN). BEATRICE TRINCA widmet sich in ihrem Beitrag (S. 45-65) vor allem anhand des Literaturexkurses im hochmittelalterlichen „Tristan“-Roman Gottfrieds von Straßburg der Frage, wie sich die (Textil-)Handwerksmetaphorik, mit deren Hilfe im Mittelalter vielfach der Prozeß dichterischen Schaffens umschrieben wird, und das mediävale Inspirationsparadigma, das Dichten als göttliche Begabung begreift, zueinander verhalten. Indem im „Tristan“ nicht mehr das Numinose, sondern die (romanhaft-wunderbaren) Feen den Platz der antiken Musen als Inspirationsquellen einnehmen, firmieren sie als Fiktionalitätssignal und als Instanz, die die Dichtung aus sich selbst heraus legitimiert. Und mehr noch: Indem die Feen – genau wie auch der Dichter – als metaphorische Textilhandwerker konzeptioniert werden, verweist Gottfried darauf, daß „Dichtung […] sich in der Darstellung ihrer Gegenstände nicht nach Vorbildern im Außertextlichen [richtet], sondern sie [selbst] erschafft“. (S. 61)
21
neuzeitforschung zwischen den Disziplinen. In: Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, hrsg. von dens. Göttingen 2003, S. 7-20, hier S. 10-13. Vgl. dazu Eckhart Hellmuth u. Christoph von Ehrenstein: Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), Heft 1, S. 149-172.
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Eine andere ‚autopoietische‘ Form literarischer Produktivität verfolgt am Beispiel zweier Renaissance-Autorinnen ANNETT VOLMER (S. 67-87): Sie untersucht die produktiven Aspekte von Intertextualität, die sich bei Isabella Andreini und Moderata Fonte entfalten. Während bislang vor allem eine biographisch orientierte Rezeption die Forschungsgeschichte bestimmte, kann VOLMER durch eine Analyse ihrer Legitimationsstrategien und der Selbstreflexionen dichterischen Schaffens zunächst genderspezifische Aspekte literarischer Produktivität in der Vormoderne in den Blick rücken, die bislang vielfach unterschätzt worden sind. Im zweiten Schritt widmet sie sich einer „Untersuchung der praktischen Umsetzung intertextueller Produktivität“, welche „die Wechselwirkung von Inspiration, Legitimation und Texttradition“ (S. 68) in überraschender Weise aufzeigt. So geht Moderata Fontes Ritterroman hinter ihr zeitgenössisches Referenzsystem – Ariosts „Orlando furioso“ – zurück auf Chrétiens hochmittelalterliche höfische Romane und konterkariert auf diese Weise geradezu den Romanzo. Frühneuzeitliche literarische Formen von Produktivität stehen auch im Zentrum des Beitrags von TOBIAS BULANG (S. 89-118), der sich Johann Fischarts sprachmächtiger „Geschichtklitterung“ annimmt. Vor dem Hintergrund zweier ‚Selbstbeschreibungen‘ literarischer Produktivität aus dem 18. und 19. Jahrhundert, dem Geniekonzept und dem Epigonenbegriff, die die Literaturwissenschaft mittelbar z.T. bis heute noch prägen, beleuchtet Bulang ihre Untauglichkeit zumindest für die Fischartsche Produktivität, auf die sie vielfach angewendet worden sind: Sein vermeintlich ‚genialer‘ Sprachrausch erweist sich oft genug als Ergebnis ‚epigonaler‘ Kompilationskunst. Analytisch präziser läßt sich laut BULANG (nicht nur Fischarts) literarische Produktivität mit einem Modell beschreiben, das mit den linguistisch und diskurstheoretisch modifizierten Kategorien von Verknappung und Entgrenzung arbeitet: „Literarische Produktivität bemißt sich in der Aktivierung der Potentialität, also von all den Möglichkeiten, die dem äußerst verknappten Bereich des Geltenden und Realen vorausliegen. Aktivierung von Potentialität bedeutet dabei die offensive Bearbeitung der jeweiligen Verknappungsregeln. Dadurch wird in der Literatur dem andrängenden Möglichen, dem noch nicht Realisierten Einlaß verschafft.“ (S. 100) Die Beiträge von ANTJE WITTSTOCK und KARSTEN MACKENSEN veranschaulichen Prozesse des Traditionswandels innerhalb des gelehrten Diskurses, welche freilich auch in anderen Diskursfeldern produktiv geworden sind. Sie nehmen speziell ideengeschichtliche und lexikalisch-semantische Umbesetzungen bzw. Verschiebungen in den Blick, die sich sowohl auf dem Gebiet anthropologischer Vorstellungen von Spätmittelalter und Früher Neuzeit als auch innerhalb der Wissensgeschichte und ihrer Techniken vollziehen. ANTJE WITTSTOCK (S. 119-140) weist anhand der gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstandenen Autobiographie des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow nach, daß in der Frühen Neuzeit die traditionelle Temperamentenlehre in produktiver Weise nicht nur in humanistischen Kreisen umbesetzt worden ist: Sastrow schildert
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seinen Aufstieg vom einfachen Schreiber zum Bürgermeister als ein Ergebnis von stetem Arbeitseifer und von Strebsamkeit, die durch den Wandel seines ursprünglich sanguinischen Temperamentes in ein melancholisches befördert worden seien. Die von Sastrow vorgenommene positive Umdeutung der in der Humoralpathologie traditionell gerade durch Krankheit und Trägheit charakterisierten Melancholie ist WITTSTOCK zufolge einerseits zwar vergleichbar mit der humanistischen Aufwertung der Melancholie als Signum des ‚schöpferischen Genies‘ im Florentiner Neuplatonismus. Doch setzt Sastrow, der ohnehin kaum als Humanist zu bezeichnen ist, andererseits auch sehr eigene Akzente, wenn er die Positivierung der Melancholie in seinem Ego-Dokument im Sinne eines gerade nicht ‚genialischen‘ self-fashioning letztlich für die „Apologie und […] Darstellung vorbürgerlicher protestantischer Ideale“ nutzt (S. 137). Deutlich enger verzahnt mit dem gelehrten Diskurs der Frühen Neuzeit und mit konkreten Praktiken des Wissens bzw. seiner Thesaurierung ist das Werk des Humanisten Polydorus Vergilius: die Enzyklopädie „De inventoribus rerum“. KARSTEN MACKENSEN untersucht dieses Kompendium (S. 141-177) in diskursarchäologischer Perspektive vor dem Hintergrund der kombinatorischen Ars Lulliana und im Vergleich mit früheren und nachfolgenden enzyklopädischen Werken daraufhin, wie hier – konkret am Beispiel des Lemmas musica – Wissen produziert wird. Denn Vergilius’ Enzyklopädie fungiert nicht nur als ein Speicher von Wissen, sondern vielmehr als „Wissensmaschine“ (H. Zedelmeier), die durch die Reorganisation von loci communes selbst über ein produktives Potential verfügt. So verliert beispielsweise die musica ihren angestammten Platz im Quadrivium und tritt im neuen Kontext der Kompositionslehre bzw. der praktischen Musikausübung auf den Plan. Das hat bemerkenswerte Folgen auch für die Beurteilung der Produzenten von Musik: „Im 16. Jahrhundert aber etabliert sich im Zusammenhang mit einer Betonung des ‚ingenium‘ eine neue Vorstellung der Herstellung von Musik, die neben der Individualität und Abgeschlossenheit des Kunstwerks auch die schöpferische Individualität seines Urhebers hervorhebt.“ (S. 158.) II. Die Beiträge, die in der zweiten Abteilung zusammengestellt sind, knüpfen insofern hieran an, als in den kunsthistorischen Studien von STEFAN TRINKS und SUSANNE WEGMANN zunächst komplementär zu den Überlegungen MACKENSENS gerade über eine spezifisch vormoderne Wertschätzung der Kopie, ja: der Massenproduktion überhaupt räsonniert wird. Diese kunstwissenschaftliche Perspektive wird – vor allem in den sich anschließenden Studien von GIA TOUSSAINT und HEIKE SCHLIE – durch religions- und theologiegeschichtliche Überlegungen ergänzt. STEFAN TRINKS verfolgt in seinem Beitrag (S. 181-205) das Phänomen der Massenproduktion am Beispiel der Kirchenskulptur entlang des spanischen Pilgerweges nach Santiago de Compostela. Bereits im 11. Jahrhundert sind dort in kürzester Zeit hunderte Kirchen errichtet worden, deren üppige skulpturale Ausstattung in fließbandartiger Produktionsweise erfolgt sein muß, während das Gebäude selbst noch im Bau war. Die
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Kapitell-Skulpturen, so kann TRINKS zeigen, bedienen sich immer wieder einzelner Bildmotive eines sich in der Region befindlichen antiken Sarkophags, auf dem der (dem Mittelalter unbekannte) Orestes-Mythos dargestellt ist. Zwar wird sein Bildprogramm christlich umgedeutet, doch zeugen die Kapitelle insgesamt von der Wertschätzung kopierter Antike – auch als Instrument, die ‚Zweitrangigkeit‘ arabischer Kunst zu demonstrieren. Serielle Produktion im großen Stil konnte hier ohne einen Verlust an „Aura“, der seit Walter Benjamin gemeinhin als Charakteristikum industrieller Produktion gilt, erfolgen. Diese „kreative Inbesitznahme der Antike“ wurde ihrerseits zur „Produktivkraft der Wiedergeburt einer ungekannt plastischen Skulptur“ (S. 203). Mit der Massenproduktion von Kunstwerken, wie sie ein halbes Jahrtausend später in der Werkstatt von Lukas Cranach gefertigt wurden, beschäftigt sich SUSANNE WEGMANN (S. 207-228). Diese weitverbreiteten Luther-Bildnisse können neben der Flugschriften-Literatur als wichtigstes Mittel zur Popularisierung der neuen Glaubenslehre betrachtet werden. Während die Kunstwissenschaft über die serielle Produktion ein negatives Urteil fällte, erschienen ihre Implikationen den Zeitgenossen Cranachs und Luthers indes als Vorzug: Schnelligkeit in der Herstellung von Bildern bezeichnete nach ihrem Zeugnis eine ausgeprägte Gabe zur inventio und galt als eine spezifische Qualität der Werkstatt. Der auffällige Medienwechsel vom Druck zur Malerei, den die Cranach-Werkstatt vollzog, findet im konfessionspolitischen Kontext als Etablierung einer neuen Lehre eine überraschende Erklärung: Zu diesem Zeitpunkt verlangten die reformatorischen Bestrebungen „nicht mehr nur nach aktueller, aber auch vergänglicher und schnell überholter Information durch Druckgraphik, sondern nach Konsolidierung der Lehren, nach Dauerhaftigkeit und eigener Traditionsbildung. Diese Aufgaben konnte die Malerei weit besser erfüllen, denn sie war auf Dauerhaftigkeit und Beständigkeit ausgerichtet“ (S. 224) – wenngleich sie weiterhin auf quasi industriellem Wege gefertigte Bilder hervorbrachte. Religionshistorisch, konkret auf die produktiven Potenzen kultischer Praktiken im Hochmittelalter ausgerichtet, ist auch der Beitrag von GIA TOUSSAINT angelegt (S. 229-242): Am Beispiel von illuminierten Andachtsbüchern verfolgt sie die Frage, wie die reiche mentale Bildwelt des Mittelalters – die z.B. in Predigt und religiösen Erzählungen evozierten imaginativen Bilder – ihrerseits auf die Produktion von äußeren Bildern Einfluß ausüben. In der contemplatio entsteht durch das Zusammenwirken von inneren und äußeren Bildern eine dritte Bildkategorie, die TOUSSAINT mit den Begriffen „mystisches Erfahrungsbild“ bzw. „Imaginatum“ bezeichnet. Diese Bildkategorie ermöglicht demjenigen, der sich der contemplatio widmet, eine Grenzüberschreitung von Medium (Andachtsbuch: Bild / Text), Raum (des heiligen Personals und des eigenen Raumes) und Zeit (der Heilszeit und der Betrachtergegenwart) sowie einen unmittelbaren Kontakt zur transzendenten Bezugsperson (z.B. Maria). Da dieses imaginatum – das durch äußere Bild-Betrachtung und innere Schau gleichermaßen zustandegekommene, verlebendigte Heiligenbild im Innern des Betrachters – wiederum
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selbst neue Illustrationstypen hervorgebracht hat, ist es auch künstlerisch produktiv geworden. Eine nicht zuletzt sich scholastischen Sprachbildern verdankende mittelalterliche Kunsttheorie, die ihrerseits in künstlerischen Artefakten selbst reflektiert worden und somit bildschöpferisch wirksam gewesen ist, führt HEIKE SCHLIE vor (S. 243-286) – und unternimmt damit zugleich eine Korrektur vorherrschender Ansichten über die mittelalterliche Kunst, laut derer sie aufgrund ihrer heteronomen Funktionsbindungen keine ‚Kunst‘ gewesen sein könne. Anläßlich der Frage nach dem Status des vormodernen Künstlers, der weder als Handwerker noch mit dem neuzeitlichen Autonomiepostulat adäquat zu beschreiben ist, untersucht SCHLIE zunächst klerikale ArtefaktTheorien bzw. die immense Bedeutung der Kunstwerk-Metaphorik im scholastischen Diskurs über die artes und ihre (auch erkenntnisgenerierenden) Funktionen für den Menschen. Dieser ausdifferenzierte Kunstdiskurs wird, so kann SCHLIE nachweisen, als bildimmanente Kunsttheorie auch in Jan van Eycks Bildnis von der Heiligen Barbara (1437) greifbar, das den Kunstproduzenten im Sinne des von Thomas von Aquin entwickelten architector-Konzepts entwirft und somit den Künstler als denjenigen nobilitiert, der nicht nur handwerklich ausführt (artifex), sondern der Ursachen und Zusammenhänge des Werkganzen kennt (architector). Auf diese Weise „dient das Kunstwerk nicht der Religion, sondern fordert jene Qualitäten zur Selbstbeschreibung ein, die es als Metapher in der theologischen Literatur so wertvoll gemacht hatte“ (S. 282.). III. In der dritten Abteilung des vorliegenden Bandes sind jene Studien versammelt, die Konzepte von Produktivität im Kontext sozialhistorisch und ökonomiegeschichtlich relevanter Diskursformationen in den Blick nehmen. Sie erschließen einerseits die Begriffsfelder von „Arbeit“ und „Handwerk“ in wirtschafts-, diskurs- oder auch mentalitätshistorischer Hinsicht (ROBERT BRANDT, THOMAS BUCHNER, CLAUDIUS SITTIG) und spüren andererseits ganz konkret dem produktiven Potential handwerklich-technischer Innovationen nach (ANJA VOESTE). Fragen nach der Anwendbarkeit des Produktivitätsbegriffs auf das vorindustrielle Handwerk stehen im Zentrum der Überlegungen von ROBERT BRANDT (S. 289-314). Anhand einer Übersicht über unterschiedliche spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Dokumente kann er zeigen, wie schwierig sich die Spurensuche nach einem mittelalterlichen Verständnis von Arbeit gestaltet. Denn außerhalb des von Kirche und städtischer Obrigkeit normierten Diskurses sind kaum aussagekräftige Zeugnisse bekannt. Angesichts dessen kritisiert BRANDT das von der älteren Forschung, insbesondere von Werner Sombart postulierte und bis in die Gegenwart nachwirkende ‚romantische‘ Verständnis von vormoderner handwerklicher Tätigkeit. Er liefert somit einen wissenschaftshistorisch orientierten Beitrag, der nicht nur differenziertere rezente Forschungsansätze würdigt, sondern auch – geschult an den Erkenntnisprämissen der Diskursanalyse – prinzipiell davor warnt, „neue Meistererzählungen“ zu konstruieren, die
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weder dem „Fragmentarische[n] der Überlieferung“ noch der Diskursivität der Quellen gerecht werden können (S. 309). Speziell den ökonomischen Diskursen des 17. Jahrhunderts widmet sich der Beitrag von THOMAS BUCHNER (S. 315-345). Diese „frühneuzeitlichen Vorfahren ökonomischer Wissenschaft“ (S. 317), nämlich die niederländische und die deutschsprachige Variante des Merkantilismus, werden danach befragt, welche Vorstellungen von Produktivität in ihnen wirksam sind und inwieweit sie der späteren ‚Ökonomisierung‘ des Produktivitätsdiskurses durch die verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze der Moderne Vorschub geleistet haben. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt BUCHNER die Bewertung von Arbeit durch die Merkantilisten: Während die hofnahen deutschsprachigen Autoren Arbeit vornehmlich als Ressource zum Wohle des zentral vom Fürsten gesteuerten Gemeinwesens auffaßten und somit ein „Zirkulationsmodell“ als „ein arbeitsteiliges Gesellschaftsmodell, koordiniert durch den Hof“ vertraten, das ihnen, „als zielführend für die Ausschöpfung des produktiven Potentials eines Landes erschien“, ging es den hoffernen niederländischen Autoren „darum, möglichst günstige Rahmenbedingungen für spezifische Teile des Handels zu installieren“, denen sie selbst angehörten (S. 332). Für sie kann entsprechend ein linear-kausales Gesellschaftsmodell veranschlagt werden, bei dem die Landeswohlfahrt von einer sozialen Elite ausgeht, von der sich alles andere ökonomische Handeln ableitet. Beiden gemein sind freilich auch bereits Vorstellungen von Unproduktivität im modernen Sinne ökonomisch ‚nutzloser‘ Tätigkeiten. Die Studie von CLAUDIUS SITTIG (S. 347-371) knüpft an ein solches modernes Paradigma ‚nutzloser‘, ja ‚schädlicher‘ Tätigkeit an und leistet seine historische Relativierung. Am Beispiel des Wolfenbütteler Stallmeisters und Berghauptmanns Georg Engelhard von Loehneysen aus dem frühen 17. Jahrhundert stellt SITTIG dar, daß Produktivität in der Vormoderne nicht zwangsläufig genuin schöpferischer Leistung entsprungen sein muß: Loehneysen plagiierte in prachtvoll ausgestatteten Folianten über die Reitkunst und den Bergbau, die er in seiner eigenen Privatdruckerei aufwendig herstellen ließ, zahlreiche Texte aus diesen Bereichen, legte aber großen Wert darauf, als ihr geistiger Urheber zu gelten. SITTIG veranschaulicht anhand dieses paradoxen Beispiels Interferenzen zwischen soziokulturellen Rahmenbedingungen und Produktivitätsvorstellungen, da Loehneysen ein Konzept ‚adeliger Produktivität‘ verkörpert, das sich nicht an einer Autorschaft im Sinne des Erfindertums orientiert, sondern auf einer höfischen Vorstellung von Ruhm und Ehre gründet, deren genauere Analyse auch über den ambivalenten Status des frühneuzeitlichen „Hofkünstlers“ weiteren Aufschluß verspricht (S. 365f.). Dem Buchdruck widmet sich auch ANJA VOESTE (S. 373-392) – freilich nicht in höfisch-adliger Perspektive, sondern mit Blick auf ein Spektrum wirtschaftlicher Produktivität, das bereits im Beitrag von BRANDT neu vermessen worden ist: VOESTE demonstriert anhand der Untersuchung des Buchdruckerhandwerks an einem konkreten Beispiel produktive Konsequenzen von Rationalisierungsprozessen, die aber zugleich
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auch bezeichnende Folgen in ganz anderen denn ökonomischen Sphären zeitigten. Mit der Abschaffung der aus der handschriftlichen Tradition zunächst übernommenen Sonderzeichen geht ein Paradigmenwechsel von der mittelalterlichen Schreibvarianz zum Prinzip der Schemakonstanz, also zur gleichbleibenden Schreibung eines Wortes auch bei phonographischer Variation, einher: „Diese grundlegende Abkehr von der Vielfalt der Möglichkeiten hin zur einheitlichen Formwahrung bildet nicht nur die Voraussetzung für die Konstantschreibung im morphologischen Paradigma, sondern auch für die Standardisierung der Schriftsprache schlechthin.“ (S. 377) Das mittelalterliche Variationsprinzip wurde dadurch jedoch nicht gänzlich obsolet. Es hat sich vielmehr, so kann VOESTE zeigen, im bis heute virulenten lexikalischen Alternanzgebot bewahrt. Eingeleitet werden die in den drei Sektionen zusammengestellten Studien durch den Beitrag von ANDREAS URS SOMMER (S. 27-42), dessen Überlegungen zum Skeptizismus als einer für die frühneuzeitliche geistige Produktivität zentralen Kategorie fast wie ein Motto für die Tagung und die aus ihr hervorgegangenen und noch hervorgehenden weiteren Forschungsanstrengungen fungieren können: SOMMERS Analyse des skeptizistisch geprägten Verzichts auf assertiones, auf begriffliche Festschreibungen, der sich in den philosophischen Schriften von Erasmus von Rotterdam ebenso findet wie in fiktional-politischen Staatsentwürfen, speziell in Thomas Morus’ „Utopia“, verdeutlicht, daß dieser Verzicht zu den „faktisch-intellektuellen Möglichkeitsbedingungen eines modernen Begriffs von geistiger Produktivität gehört. Erst wenn Gewißheiten bewußt in der Schwebe gehalten werden, rückt etwas Neues in die Reichweite des Denkens“ (S. 39). In der Tradition dieser frühneuzeitlich-intellektuellen Enthaltsamkeit gegenüber „festen Behauptungen“ stehen auch die Beiträge des vorliegenden Bandes, die durch ihren akribischen Blick auf das jeweilige historische Material immer wieder vor einer naiven Übertragung moderner Vorstellungen von Produktivität auf vormoderne Verhältnisse und den daraus vielfach resultierenden Simplifizierungen warnen. Daß jedoch der Einsatz eines von der französischen Althistorikern Nicole Loraux so genannten „kontrollierten Anachronismus“22 – mithin die Betrachtung historischer Zeugnisse unter Fragestellungen, „die darin nicht oder nicht in unserer Begrifflichkeit formuliert werden […]“ – äußerst fruchtbar sein kann, weil „[g]erade der Vergleich, das Hin und Her, zwischen dem historischen Gegenstand und der modernen Terminologie lehrt, die Unterschiede und Analogien schärfer zu fassen als eine pedantisch-sklavische, zudem unerreichbare Total-Historisierung unseres Beschreibungsvokabulars
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Der Begriff wird für die Mediävistik aufgegriffen durch Peter von Moos: Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus. In: Gert Melville u. Peter von Moos (Hrsgg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10). Köln, Weimar, Wien 1998, S. 3-83, zit. S. 9f. (Herv. C.L. / G.H.)
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[…]“ es ermöglichen würde,23 dies belegen die hier präsentierten Studien gerade in ihrem transdisziplinären Zusammenspiel ebenso eindrücklich. Ihren Verfasserinnen und Verfassern gilt unser Dank für die erfreuliche Zusammenarbeit, die bereits während der Tagung Gestalt annahm – dies nicht zuletzt als lebhafte Diskussion, zu der auch die Tagungsgäste sowie die Moderatorinnen und Moderatoren Fridrun Freise (Göttingen), Wolfgang Fuhrmann (Berlin), Daniel Schläppi (Bern) und Dirk Werle (Berlin) beitrugen, denen wir an dieser Stelle ebenfalls herzlich danken möchten. Der Fritz Thyssen Stiftung gebührt unser Dank für die Förderung sowohl der Tagung als auch der Publikation des Bandes, dem Akademie-Verlag, insbesondere Manfred Karras für die zügige Drucklegung. Timm Reimers danken wir schließlich für seine unermüdliche Aufmerksamkeit während der Durchführung der Tagung, für die vielfältige Hilfe bei der Manuskripteinrichtung und für seine souveräne Gelassenheit im Kampf mit den Unwägbarkeiten des Textverarbeitungsprogramms.
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Konzepte von Produktivität im Wandel. Eine Einleitung
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ANDREAS URS SOMMER
Utopie und Skepsis. Geistige Produktivität in der politischen Philosophie der Frühen Neuzeit*
Mit seiner Diatribe „De libero arbitrio“ wagt sich Erasmus von Rotterdam 1524 aus der Reserve, die er sich den neuen reformatorischen Ideen gegenüber bis dahin vorbehalten hat. Gegen Martin Luther argumentiert er, es sei auf Grundlage der biblischen Zeugnisse und der Kirchenväter sowie vernünftiger Erörterung sehr wohl davon auszugehen, daß der Mensch über Willensfreiheit verfüge. Aber Erasmus scheut letzte Festlegungen. Woher weiß Luther denn, daß sein Interpretationsansatz der richtige ist, äußert sich die Bibel, nach Luther das einzige Glaubenskriterium, in dieser Sache doch keineswegs eindeutig? Ist nicht eher die demütige Haltung des christlichen Toren angebracht? Gleich eingangs schildert Erasmus, wie wenig er sich zu theologischen Streitigkeiten geschaffen fühle, sondern sich lieber in den Gefilden der Musen aufhalte: „Daher habe ich so wenig Freude an festen Behauptungen [assertiones], daß ich leicht geneigt bin, mich auf die Seite der Skeptiker zu schlagen, wo immer es durch die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlaubt ist, denen ich meine Überzeugung überall gerne unterwerfe, ob ich nun verstehe, was sie vorschreiben, oder ob ich es nicht verstehe.“1 Erasmus’ Werk bestimmt weniger eine Skepsis im schulmäßig antiken Sinn, als vielmehr eine sich skeptisch bescheidende Vorsicht, sich nicht in unbedachten Wissensanmaßungen zu verlieren. Skepsis ist bei Erasmus ein intellektueller Habitus, der es ihm erlaubt, die Kirche zu verteidigen, ohne zu behaupten, deren Argumentation sei schlüssig. Luthers Reaktion in „De servo arbitrio“ von 1525 ist harsch und bissig. Gegen die diatribé wird eine assertio in Feld geführt: Für einen Christen könne es kein skeptisches Lavieren geben, insbesondere nicht bei der zentralen Frage nach der Willensfreiheit. Wird dem philosophisch inspirierten Zweifel in Glaubensdingen nur ein wenig Raum eingeräumt, fällt nach Luther der Glaube selbst. Für den Christen darf es keine Zweifel geben, sondern nur die unverbrüchliche Wahrheit. Diese Wahrheit aber wird *
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Für kritische Einwände, die zur Emendation der ursprünglichen Fassung dieses Textes beigetragen haben, danke ich insbesondere Tobias Bulang, Gilbert Heß, Karina Kellermann, Corinna Laude, Christoph O. Mayer, Heike Schlie und Dirk Werle. Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio ∆ΙΑΤΡΙΒΗ sive collatio. In: ders.: Ausgewählte Schriften, hrsg. von Werner Welzig, Bd. 4. Darmstadt 1995, S. 7 (Abschnitt Ia4).
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Andreas Urs Sommer
nicht von der Kirche verwaltet, sondern ist in der Bibel und im individuellen Gewissen jedem einzelnen anvertraut. „Der heilige Geist ist kein Skeptiker, er hat nichts Zweifelhaftes oder unsichere Meinungen [nec dubia aut opiniones] in unsere Herzen geschrieben, sondern feste Gewißheiten, die gewisser und fester sind als das Leben selbst und alle Erfahrung [assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores].“2 Bevor man vorschnell den skeptischen Humanisten für eine „moderne“ Denkungsart in Beschlag nimmt und den Reformator zum religiösen Fanatiker stempelt, wird man zu beachten haben, daß Erasmus es ist, der dem kirchlichen Lehramt die letzte Entscheidung zubilligt, eben weil der Mensch aus eigenen Stücken in diesen Belangen nichts vermag, während Luther sich auf eine individuelle Gewißheit beruft, gegen die auch eine Kirche nichts ausrichten kann. Die Skepsis steht hier durchaus auf Seiten der Institution und kann der Rechtfertigung ihrer Macht dienen.3 Doch was hat all dies mit Konzepten von Produktivität im Wandel zu tun? Die Eingangsüberlegungen sollten zur hier leitenden These hinführen, daß in der Frühen Neuzeit ein Verzicht auf assertiones, auf begriffliche Festschreibungen für das, was wir in der Moderne „geistige Produktivität“ zu nennen uns angewöhnt haben, konstitutiv geworden ist. Dabei haben die Denker der Frühen Neuzeit über einen Begriff für diese spezifische Form der Produktivität noch nicht verfügt. Zwar meint die paragogé (oder proagogé) im neuplatonischen System des Proklos, die man mit productio zu übersetzen pflegt, die Hervorbringung von etwas, was im Hervorbringenden bereits angelegt ist. „Bringt eine niedere Stufe des Seins etwas hervor, dann tut sie dies in der Nachahmung des höchsten Einen; in diesem Sinne ist die Natur als nachgeordnete Hypostase zugleich Produkt und produktiv.“4 Aber gerade diese sehr wirkmächtige Konzeption scheint Überlegungen zu einer spezifischen „geistigen Produktivität“ zunächst nicht beflügelt, sondern die zugehörige Debatte in den Bereich der Ontologie und der Schöpfungslehre abgeschoben zu haben.5 Dennoch kann man sich an der mittelalterlich-früh2
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Martin Luther: De servo arbitrio. In: ders.: Werke in Auswahl, hrsg. von Otto Clemen, Bd. 3. Bonn 1925, S. 100 (WA 18, S. 605). Übersetzung in: Luther deutsch, Bd. 3, hrsg. von Kurt Aland. Stuttgart / Göttingen 1961, S. 160. „Tolle assertiones, et Christianismum tulisti.“ (WA 18, S. 603). Vgl. Günter Bader: Assertio. Drei fortlaufende Lektüren zu Skepsis, Narrheit und Sünde bei Erasmus und Luther. Tübingen 1985; Robert Rosin: Reformers, The Preacher, and Skepticism. Luther, Brenz, Melanchthon and Ecclesiastes. Mainz 1997; Richard H. Popkin: The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley / Los Angeles / London 1979, S. 1-8. Friedrich Kaulbach: Produktion, Produktivität I: Philosophie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel / Darmstadt 1971ff., Bd. 7, Sp. 1418-1426, hier Sp. 1418 nach Proklos: The Elements of Theology, hrsg. von E. R. Dodds. Oxford 21963, S. 28-37. Vgl. z.B. Nikolaus von Kues: Trialogus de potest / Dreiergespräch über das Können-Ist. Mit einer Einführung von Lothar und Renate Steiger. Neu übersetzt und mit Anmerkungen hrsg. von Renate Steiger. Hamburg 1991, S. 4-18, zu dieser Schrift luzide auch Kurt Flasch: Nikolaus von
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neuzeitlichen Unterscheidung von productio und creatio orientieren, derzufolge creatio etwas Neues schafft, während productio einen gegebenen Stoff um- und weiterbildet.6 Produktivität meint in dem hier vorgeschlagenen Wortgebrauch die Fähigkeit von Menschen, etwas hervorzubringen, was vom bis dahin Bekannten und Geläufigen abweicht, ohne dabei doch wie Gott aus dem Nichts Neues zu erschaffen zu müssen. Die These von der Produktivitätsträchtigkeit skeptischen Verzichts auf assertiones soll mit einem Ausflug in die frühneuzeitliche politische Philosophie plausibilisiert werden, nämlich mit einem Ausflug in das damals aufkommende Genre der Utopie. Es handelt sich also bei meinen Ausführungen um einige Mutmaßungen über die faktisch-intellektuellen Möglichkeitsbedingungen des modernen Begriffs von geistiger Produktivität. Zur Plausibilisierung der These, der Verzicht auf assertiones habe die geistige Produktivität im politischen Denken der Frühen Neuzeit beflügelt, gehe ich der Frage nach, inwiefern prominente utopische Entwürfe der Frühen Neuzeit von einem Geist zeugen, den man im weiten, Erasmischen Sinn als „skeptisch“ bezeichnen könnte. Einer Erörterung dieser Frage ist vorauszuschicken, daß zumindest der Begründer der neuzeitlichen Utopik, Thomas Morus, auf den ich mich hier konzentriere, unberührt geblieben sein wird von der erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts breit einsetzenden Rezeption des hellenistisch-römischen Pyrrhonismus aus originalen Quellen.7 Die Kenntnis antiker Skepsis gründete sich bei den Humanisten hauptsächlich auf Cicero, Diogenes Laertius, Galen, Lukian und Augustin.8 Erasmus’ enger Freund Morus erscheint gemeinhin kaum als Skeptiker: So sehr das harmonistische Morus-Bild in den letzten Jahren Risse bekommen hat – galt er lange Zeit als Inbegriff des humanistischen Gelehrten, gerechten Richters, weisen Staatsmanns und großen Heiligen, entpuppt er sich nun in manchen Biographien als skrupellos ehrgeiziger Machtmensch, der nach nichts mehr dürstete als nach dem Blut von protestantischen Häretikern, die er im Auftrag seines Königs bekämpfte9 –, so wenig kann doch ein Zweifel daran bestehen, daß Morus schließlich nicht zögerte, im Dissens mit der Kirchenpolitik von Heinrich VIII. vom Amt des Lordkanzlers zurückzutreten
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Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie. Frankfurt a.M. 2001, S. 517-540. Vgl. Kaulbach: Produktion, Produktivität I (wie Anm. 4), Sp. 1419. Der Begriff der inventio wird schon in der vorchristlichen Literatur an die Teilhabe an einer vis divina gebunden, vgl. Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum, hrsg. von Olof Gigon. München 1951, I 63f., S. 64. Erst 1562 erschienen die „Hypotyposen“, 1569 die „Opera omnia“ des Sextus Empiricus im Druck – jeweils in lateinischen Übersetzungen. 1621 folgte die erste griechische Edition. Popkin: The History of Scepticism (wie Anm. 3), S. 23; Charles B. Schmitt: Cicero Scepticus. A Study of the Influence of the Academica in the Renaissance. Den Haag 1972. Vgl. inbesondere Richard C. Marius: Thomas More. A Biography. New York 1984 (dt. Zürich 1987) – ein Werk, das das schönfärberische Morus-Bild gründlichen revidieren wollte, ferner Peter Ackroyd: The Life of Thomas More. London 1998, und Louis L. Martz: Thomas More. The Search for the Inner Man. New Haven / London 1990.
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und 1535 für assertiones, für seine katholischen Überzeugungen das Martyrium auf sich zu nehmen. Freilich hat man sich stets schwer getan, Morus’ realpolitischen Pragmatismus mit dem revolutionären Kommunismus zusammenzudenken, dem der staatsphilosophische Dialog „Utopia“ von 1516 scheinbar das Wort redet. Noch schwerer ist es katholischen Interpreten gefallen, die auf der Insel Utopia herrschende religiöse Liberalität mit der asketischen Frömmigkeit in Beziehung zu setzen, die schließlich den Hintergrund für Morus’ Heiligsprechung (1935) abgab.10 Die Vermutung, welche die folgenden Überlegungen leitet, ist, daß es jene von Erasmus einige Jahre nach dem Erscheinen von „Utopia“ formulierten, grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber festen Behauptungen, assertiones,11 gewesen sind, die in der frühneuzeitlichen politischen Philosophie bisher unbekannte Spielräume geistiger Produktivität freigesetzt haben. Schöpferischer Umgang mit dem politisch Möglichen und dem politisch Wirklichen ist keine Selbstverständlichkeit. Charakteristisch für das Genre der Utopie, dem hier neben Morus’ „Utopia“ exemplarisch Tommaso Campanellas „Civitas Solis“, Johann Valentin Andreaes „Christianopolis“ und Francis Bacons „Nova Atlantis“ zugeordnet werden,12 ist eine völlige Neuordnung des politischen Raumes im Modus der Fiktion jenseits der Zwänge der jeweils realen Gesellschaften. Ein Seitenblick auf zwei repräsentative Texte der politischen Philosophie des Mittelalters macht erste Unterschiede augenfällig: Johannes von Salisburys (ca. 11151180) „Policraticus“ ist in seinem kritischen Impetus dem ersten Buch von Morus’ „Utopia“ durchaus vergleichbar; sein organologisches Staatsmodell ist aber kein freier Entwurf im Modus der Fiktion, sondern eine assertio der einzig richtigen Organisation des politischen Gemeinwesens. Nur wenn der Staat so beschaffen ist wie der gesunde Organismus, ist er wohlbeschaffen.13 Im Staatsorganismus ist der König zwar der
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Das Standardwerk der katholischen Deutung ist noch immer das vielfach neuaufgelegte Werk von Raymond Wilson Chambers: Thomas More. London 1935. Zur klassischen (und frühneuzeitlichen) Wortverwendung siehe Basilius Faber Soranus: Thesaurus eruditionis scholasticae omnium usui et disciplinis omnibus accomodatus post celeberrimorum virorum Buchneri, Cellarii, Graevii, operas et adnotationes et multiplices Andreae Stübelii curas recensitus, emendatus, locupletatus a Io. Matthia Gesnero, tomus alter. Leipzig 1726, Sp. 604f. (s. v. sero). Vielleicht wäre es aber auch instruktiv, nicht bloß Texte heranzuziehen, die politische Ideengeschichtler gemeinhin als klassische Utopien behandeln. Dabei wäre zu denken an François Rabelais’ „Gargantua et Pantagruel“ (Abtei von Thelème) sowie an Cyrano de Bergeracs „Voyage sur la lune“. Ebenfalls aufschlußreich könnte die vergleichende Betrachtung der zeitgenössischen politischen Pamphletistik (Flugblattliteratur) sein. Zum Vergleich der Abtei von Thelème mit Andreaes „Christianopolis“ s. Dirk Werle: Ordnungsmodell, Naturerforschung und Religionsvorstellung in Johann Valentin Andreaes Christianopolis. In: Scientia poetica 7 (2003), S. 31-48, hier S. 39f. S. auch Dietmar Peil: Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Überlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
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Kopf, die Priesterschaft aber die Seele. Die ganze politische Philosophie gehorcht hier einer theologischen Logik, ist der König doch sacerdotii minister, „Diener des Priestertums“, der sein blutiges Schwert aus der Hand der Kirche empfängt.14 Ganz anders stellt sich die Situation im Defensor pacis des Marsilius von Padua (ca. 1280-1343) dar, der dem päpstlichen Anspruch auf die plenitudo potestatis eine beispiellose Absage erteilt und die weltliche Gewalt von kirchlich-theologischer Legitimation entbindet. In seinen Ausführungen zur politischen Gemeinschaft bleibt Marsilius allerdings an die Vorgaben aus der „Politik“ des Aristoteles gebunden.15 Eine skeptische Distanzierung der Tradition und damit ein produktiver Umgang mit den Elementen des politischen Denkens ist – verglichen mit der „Utopia“ – erst in Ansätzen sichtbar. Ein Traditionsbruch wurde offenbar erst in dem Augenblick möglich, als man sich zu einer skeptischen Fiktionalisierung des Politischen entschloß:16 Das Genre der Utopie unterscheidet sich von anderen Formen politisch-philosophischer Schriftstellerei wesentlich dadurch, daß es das jeweils Dargestellte mit einem fiktionalisierenden „Alsob“ einklammert.17 Hans Vaihinger hat in diesem Zusammengang explizit von „utopischen Fiktionen“ gesprochen.18 Eine solche Narrativitätsklausel hatte schon Sextus Empiricus seinen (politikabstinenten) „Pyrrhonischen Hypotyposen“ als Rechtfertigung dafür vorausgeschickt, daß der Pyrrhoneer überhaupt spricht und nicht in Aphasie fällt: „Ich möchte bemerken, daß ich von keinem der Dinge, die ich sagen werde, mit Sicherheit behaupte, daß es sich in jedem Fall so verhalte, wie ich sage,
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Frankfurt a.M. / Bern / New York 1985 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, Bd. 16). Johannes von Salisbury: Policraticus IV 3. In: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hrsg. von Jacques-Paul Migne, Bd. 199. Paris 1855, S. 516. S. Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2, Teilbd. 2: Das Mittelalter. Stuttgart / Weimar 2004, S. 260-276. Vgl. dazu den Widmungsbrief von Beatus Rhenanus an Willibald Pirckheimer zu Morus’ Epigrammata (Ed. 1518), in dem Rhenanus zum einen betont, die Utopia enthalte „Gesetzesvorlagen, wie man sie weder bei Plato und Aristoteles, noch in den Pandekten eures Justinian finden kann“. Zum anderen amüsiert er sich über eine Unterhaltung, bei der ein Gelehrter Morus jedes literarische Verdienst abspricht, da dieser doch nur Hythlodaeus’ Bericht protokolliert habe (Thomas Morus: Epigramme, hrsg. von Dietrich Lederer. Berlin 1985, S. 11). Verena Olejniczak Lobsien: Skeptische Phantasie – Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur. München 1999, S. 10, sieht die pyrrhonische Skepsis in der frühen Neuzeit als „Modus der Literarisierung der Philosophie“: Skepsis löse die Literatur aus Funktionalisierungszusammenhängen und entpragmatisiere sie. Victoria Kahn: Rhetoric, Prudence, and Skepticism in the Renaissance. Ithaca / London 1985, liest die Literatur der Renaissance demgegenüber als fundamental handlungsmotivierend. Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Berlin 1911, S. 38 u. ö.
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sondern daß ich über jedes einzelne nur nach dem, was mir jetzt erscheint, erzählend (historikôs) berichte.“19 Während sich Erasmus auf eine Form von Skepsis zurückzieht, die unter Hinweis auf die mangelnde Begründbarkeit der Neuerungen und des Neuen bei der kirchlichen Letztentscheidungsinstanz und damit beim Hergebrachten bleibt, gewinnt der implizit skeptische Impuls in den frühneuzeitlichen Utopien aus dem Unwissen um letzte politische Wahrheiten die Freiheit, es im Gewand der Erzählung mit dem Neuen zu versuchen.20 Wäre diese utopische Skepsis nicht nur implizit – und sie ist nur implizit, wird Skepsis doch in keinem der genannten utopischen Texte direkt thematisiert –, könnte man hier jenen Umschwung vorgezeichnet finden, der antike Skepsis grob schematisch von neuzeitlicher unterscheidet: Beraubte die antike Skepsis ihre Adepten jeder Möglichkeit, es mit etwas Neuem zu versuchen, weil das Neue nie hinreichend gerechtfertigt ist, bezogen prominente Strömungen der neuzeitlichen Skepsis aus dem universellen Rechtfertigungsnotstand des Wissens die Lizenz, intellektuell neue, experimentelle Wege einzuschlagen. In den vier exemplarischen Texten von Morus, Campanella, Bacon und Andreae will ich weniger nach bisher übersehenen Bekenntnissen zum Skeptizismus fahnden – denn es gibt sie nicht. Vielmehr interessiert mich, was man mit Verena Olejniczak Lobsien die „strukturelle Skepsis“21 vieler Werke der Frühen Neuzeit nennen könnte, nämlich die in Isosthenien führende Entgegensetzung von Weltdeutungen und Standpunkten, zu denen die jeweiligen Autoren weder zustimmend noch ablehnend Stellung nehmen.22 Wenn bereits, wie ich vermute, in Morus’ „Utopia“ ein solches strukturell skeptisches Verfahren beobachtbar ist, dann wäre für die strukturelle Skepsis in Literatur und Philosophie der Frühen Neuzeit nicht erst die Rezeption des Pyrrhonismus aus den Schriften des Sextus Empiricus grundlegend. Im Blick auf Michel de Montaigne hat Max Horkheimer einmal konstatiert: „In der Praxis bedeutet die Skepsis Verständnis für das Hergebrachte und Mißtrauen gegen jede Utopie.“23 Freilich trifft diese Bemerkung nur auf jene konservative Skepsis zu, 19 20 21 22
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Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, hrsg. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a.M. 21993, I 4, S. 93. Gerade über politische Dinge ist man nach Morus’ Epigramm 184 (wie Anm. 16, S. 96) verschiedener Ansicht, so daß sich da dogmatische Festschreibungen zu verbieten scheinen. Lobsien: Skeptische Phantasie (wie Anm. 17), S. 48. Vgl. Sextus Empiricus: Grundriß (wie Anm. 19), I 8, S. 94: „Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.“ Dieser Gedanke zieht sich durch alle skeptischen Bestrebungen seit der Antike. Siehe auch Andreas Urs Sommer: Die Kunst des Zweifelns. Anleitung zum skeptischen Denken. München 22007, S. 20f. u. ö. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis [1938]. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Schriften 1936-1941, hrsg. von Alfred Schmidt. Frankfurt a.M. 1988, S. 236294, hier 242.
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die Erasmus und Montaigne gleichermaßen davon abhielten, mit fliegenden Fahnen zum Neuen (Glauben) überzutreten, nicht aber auf jene progressive, typisch neuzeitliche Skepsis, die das Alte nicht mehr hinreichend gerechtfertigt findet und so beachtliches produktives Potential freisetzt. Überdies scheint Horkheimer einen Begriff von Utopie vorauszusetzen, der die jeweils vorgestellte utopische Gesellschaft als anzustrebenden Ideal- oder Optimalzustand normativ und präskriptiv versteht. Dieser Begriff von Utopie vernachlässigt das für den Gattungsprototyp, Morus’ „Utopia“, konstitutive Moment einer unaufhebbaren Fiktionalität, obwohl das Erkennen dieser Fiktionalität schon für die Rezeptionen im 16. Jahrhundert charakteristisch gewesen ist.24 Wenn die moderne Forschung unablässig die „Absichten“ und „Funktionen“ der „Utopia“ zu eruieren trachtet, neigt sie dazu, die Fiktionalität als schriftstellerische Vorsichtsmaßnahme zu bagatellisieren.25 Gerade im Hinblick auf Morus erscheint es fraglich, ob man „Utopie als praktische[n] Imperativ“ verstehen soll, wie es Richard Saage für die frühneuzeitliche Utopietradition insgesamt vorschlägt.26 Könnte es statt um die „Produktion von Orientierungswissen“27 in „Utopia“ „als Ergebnis einer Art intellektuellen Spiels“28 nicht eher um eine radikale Wissensverunsicherung zu tun sein? „Die ‚andere Welt‘ der Utopie hat die Funktion, die Wirklichkeit zu relativieren.“29 Aber das vermeintlich ideale Andere ist bei Morus vor Relativierung nicht gefeit. Norbert Elias verlangt mit Recht, man habe bei der Funktionsbestimmung von Utopien nach dem spezifischen Publikum zu fragen, an das diese Texte gerichtet waren.30 Im Falle von „Utopia“ handelt es sich um ein Publikum aus Humanisten, denen, wie Erasmus im Dedikationsbrief an Johannes Froben vom 25. August 1517 sagte, an den
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Vgl. oben Anm. 16 und Gudrun Honke: Die Rezeption der Utopia im frühen 16. Jahrhundert. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hrsg. von Wilhelm Voßkamp, 3 Bde. Frankfurt a.M. 1985, Bd. 2, S. 168-182, hier S. 177, ferner die Zusammenstellung zeitgenössischer Urteile bei Thomas Stapleton: Vita Thomae Mori Angliae cancellarii, hrsg. von Martinus Gottseer. Graecii 1689, S. 51-54. Am wenigsten zimperlich in dieser Frage verfährt Karl Kautsky: Thomas More und seine Utopie. Berlin 1947 (1887), S. 330f., der das Werk bekanntlich für ein zur Realisierung bestimmtes kommunistisches Manifest hält. Vgl. demgegenüber das differenzierte Bild bei Ludwig Stockinger: Überlegungen zur Funktion der utopischen Erzählung in der frühen Neuzeit. In: Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 229-248. Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 71-76. Richard Saage: Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff. In: EWE. Erwägen – Wissen – Ethik 16 (2005), S. 291-298, Abschnitt 26; dazu kritisch Andreas Urs Sommer: Utopiebegriff und Utopiekritik, ebd., S. 337-339. Jack H. Hexter: Das ‚dritte Moment‘ der Utopia und seine Bedeutung. In: Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 151-167, hier S. 152. Thomas Nipperdey: Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit. In: Archiv für Kulturgeschichte 44 (1962), S. 357-378, hier S. 363. Norbert Elias: Thomas Morus’ Staatskritik. Mit Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie. In: Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 101-150, hier S. 105.
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bonae litterae, ja an den optimae litterae gelegen war,31 ein Publikum, das sowohl Erasmus’ „Enkomion Moriae“ wie dessen „Institutio principis christiani“ gelesen hatte und sich in der Lage sah, Morus’ Werk als Antwort auf diese beiden Schriften zu verstehen, „als Synthese beider literarischen Formen“, d.h. der Satire und des Fürstenspiegels.32 Das Werk will nicht als eine wissenschaftliche Abhandlung De optimo reipublicae statu gelesen werden, sondern als libellus uere aureus, nec minus salutaris quam festiuus33 über die Frage nach der besten Staatsform: ein goldenes Büchlein, nicht weniger erbaulich als angenehm.34 Morus schildert eingangs, wie er sich auf Geheiß von Heinrich VIII. in diplomatischer Mission nach Flandern begab, um da negocia quaedam […] controuersa35 mit den Abgesandten Karls von Kastilien zu beraten. Das eigentliche negotium controversum des Werkes sind aber nicht die politischen Tagesgeschäfte, sondern die Frage, wie das Gemeinwesen optimal gestaltet werden kann. Diese Frage bleibt bis zum Ende kontrovers. In Antwerpen, so wird erzählt, begegnete Morus nach der Messe – über Politik läßt sich erst nach der Erfüllung der religiösen Pflichten reden! – dem vielgereisten Raphael Hythlodaeus, der ihn zusammen mit Petrus Aegidius und dem Famulus John Clement in ein Gespräch über gesellschaftlich-politische Einrichtungen in fernen Ländern verwickelte. Morus bemerkt, Hythlodaeus habe vieles berichtet, was „unseren Städten, Nationen, Völkern und Herrschaften als Beispiel dienen könnte, unsere eigenen Fehler zu verbessern. Wie gesagt, an anderer Stelle muß ich davon sprechen.“36 Unmittelbare Handlungsanweisungen werden für das vorliegende Werk nicht in Aussicht gestellt. Das erste der beiden Bücher der „Utopia“ rekapituliert Hythlodaeus’ schroffe Kritik an den desolaten sozialen und politischen Verhältnissen Englands im späten 15. Jahrhundert. Während Hythlodaeus eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse herbeisehnt, optiert der als Morus-Figur konstruierte Ich-Erzähler der Unterredung für kompromißbereites Maßhalten und verwahrt sich gegen revolutionäre Lösungen: Auf Hythlodaeus’ Einwand, an Fürstenhöfen gebe es keinen Platz für Philosophie, erwidert Morus: „Gewiß, es ist wahr: nicht für diese doktrinäre Art [non huic scholasticae], die da meint, jeder beliebige Satz sei überall anwendbar; aber es gibt noch eine andere, mehr weltläufige Art von Philosophie [sed est alia philosophia ciuilior], die den Schauplatz ihres Auftretens kennt, sich ihm anzupassen [accomodans] und ihre Rolle in dem Stück, das gerade agiert wird, gefällig und mit Anstand zu spielen weiß: an 31 32 33 34 35 36
Thomas More: L’Utopie. Présentation du texte original, apparat critique, exégèse, traduction et notes par André Prévost. Paris 1978, S. 312 (Ed. Basel November 1518, S. 2). Wilhelm Voßkamp: Thomas Morus’ Utopia. Zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps. In: ders. (Hrsg.): Utopieforschung (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 183-196, hier S. 188. „De optimo reipublicae statu, deque noua insula Vtopia, libellus uere aureus, nec minus salutaris quam festiuus“ lautet der Titel der Erstausgabe Löwen 1516. Auch Erasmus’ „De ratione studii, ac legendi, interpretandique auctores“ nennt sich beispielsweise ein „libellus aureus“ (Straßburg 1514). More: L’Utopie (wie Anm. 31), S. 359 (Ed. 1518, S. 25). Thomas Morus: Utopia. Übersetzt von Gerhard Ritter. Stuttgart 1985, S. 20.
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diese mußt du dich halten.“37 Gegen die philosophia scholastica mobilisiert die MorusFigur also eine philosophia civilior, die sich nicht um Schulobödienzen kümmert, sondern, sich an die Gegebenheiten akkomodierend, aus jeder konkreten Situation das Bestmögliche macht und das Schlimmste verhindert. Bei dieser philosophia civilior (man beachte den Komparativ!) handelt es sich offenbar um eine jeglichen dogmatischen Festschreibungen abholde Form situativen Philosophierens, die sich aller Verallgemeinerungen, aller definitiven assertiones enthält. Von dieser Philosophie ist der Text der „Utopia“ insgesamt bestimmt; sie ist dem Modus der Fiktion angemessen und vermeidet jede Festlegung, jede Lehre. Sie ist skeptisch in einem nicht-schulmäßigen Sinn des Wortes. Nach dem Mittagessen wird das Gespräch fortgesetzt. Im zweiten Buch gibt Hythlodaeus die sattsam bekannte Schilderung, wie (vortrefflich) es um das Gemeinwesen der Utopier bestellt ist. Im Hinblick auf skeptische Strukturmomente in der utopischen Literatur ist zu vermerken, daß die dialogische Struktur des (nachträglich geschriebenen) ersten Buches im zweiten Buch zugunsten eines Monologs aufgegeben wird, der in einer die Hoffart geißelnden peroratio des Hythlodaeus endet: Während die superbia in der nichtutopischen Welt „das Haupt und der Ursprung allen Unheils [omnium princeps parensque pestium superbia]“ sei,38 bleibt sie in Utopia unbekannt. Damit stehen, wie Jack H. Hexter festgestellt hat, die Utopier nicht unter dem Joch der Erbsünde oder allgemeiner nicht unter dem Joch des Bösen, was sie in den Augen zeitgenössischer Leser sofort als fiktive Figuren ausgewiesen haben müsse, sind die Erbsündenfolgen in der realen Welt mit menschlichen Mitteln doch prinzipiell nicht auszurotten. Daraus folgt, daß „Morus bei seinen Lesern nicht den törichten Eindruck von Sicherheit erwecken“ konnte,39 nämlich Sicherheit über die Erfüllungsgewißheit oder auch nur über die Art und Weise, wie der status optimus zu erreichen wäre. Die strukturelle Skepsis der frühneuzeitlichen utopischen Literatur könnte also eines ihrer starken Motive durchaus in der religiösen Sphäre haben, die zu einem illusionslosen Blick auf das Erkenntnis- und das Tatvermögen des Menschen anleitet.40 Ganz am Ende nimmt der Ich-Erzähler den Faden wieder auf und ist sich nicht ganz sicher, ob Hythlodaeus „es vertragen würde, wenn man abweichende Ansichten äußerte [posset se ferre, ut contra suam sententiam sentiretur]“,41 so daß der IchErzähler, obwohl er ausdrücklich nicht mit allem einverstanden sei, der Schilderung 37 38 39 40
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Morus: Utopia (wie Anm. 36), S. 49 – More: L’Utopie (wie Anm. 31), S. 431f. (Ed. 1518, S. 61). Morus: Utopia (wie Anm. 36), S. 146 – More: L’Utopie (wie Anm. 31), S. 628 (Ed. 1518, S. 160). Hexter: Das ‚dritte Moment’ (wie Anm. 28), S. 165. Dennoch ist die von Ferdinand Seibt: Utopie als Funktion abendländischen Denkens. In: Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 254-279, hier S. 261, bemerkte „auffällige Affinität […] zwischen utopischen Projekten und pelagianischen Tendenzen zur Selbsterlösung des Menschen“ nicht zu übersehen. Morus: Utopia (wie Anm. 36), S. 147 – More: L’Utopie (wie Anm. 31), S. 631 (Ed. 1518, S. 161).
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des Hythlodaeus vorbehaltlos applaudiert. Gleichwohl sei zuzugestehen, daß es im Gemeinwesen der Utopier „sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung [permulta esse in Vtopiensium republica, quae in nostris ciuitatibus optarim uerius, quam sperarim]“.42 Die MorusFigur verweigert jedoch jede Auskunft darüber, welche Dinge diese Zustimmung verdienen und welche nicht. Auf der Inhalts- und der Darstellungsebene lassen sich zahlreiche „Uneindeutigkeiten“ erheben,43 die wiederum keinem anderen Zweck zu dienen scheinen als der Veruneindeutigung einer positiven, verallgemeinerungsfähigen philosophischen assertio oder doctrina. Nicht einmal darin, was der Kritik zu verfallen hat, sind sich Hythlodaeus und die Morus-Figur einig, geschweige denn darin, was auf welche Weise und mit welchen Mitteln an die Stelle des Kritisierten zu treten hätte. Diese Beobachtung könnte sich durchaus anschließen an Elizabeth McCutcheons sorgfältige Analyse der litotes in „Utopia“: „the figure [sc. litotes] becomes, ultimately, a paradigm of the structure and method of the book as a whole“.44 Der exzessive Gebrauch dieser rhetorischen Figur führt zu Ambiguitäten, zu ständigen Veruneindeutigungen. In dem eingangs zitierten Bekenntnis des Erasmus, von assertiones möglichst Abstand nehmen zu wollen, wurde der Bereich dessen, was Gegenstand skeptischer Befragung sein kann, auf das eingeengt, was nicht „durch die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche“ als unbedingt glaubwürdig anzusehen ist. Nur bestimmte Bereiche – zu denen die Willensfreiheit ebenso gehört wie die irdische Politik – dürfen nach der Vorgabe des Erasmus dem Zweifel verfallen. Das literarische Verfahren der Veruneindeutigung, das Morus in „Utopia“ wählt, gibt demgegenüber noch weiter reichende Lizenzen: Auf der Insel Utopia herrscht in Religionsbelangen Toleranz, von der nur bekennende Atheisten ausgenommen sind, und eine religiöse Vielfalt, die eine gemeinsame Basis in der Verehrung eines höchsten, als Schöpfer gedachten Wesens hat. Aggressives Missionieren ist verboten, hat der Grün42 43 44
Morus: Utopia (wie Anm. 36), S. 148 – More: L’Utopie (wie Anm. 31), S. 632 (Ed. 1518, S. 162). Voßkamp: Thomas Morus’ Utopia (wie Anm. 32), S. 192. Elizabeth McCutcheon: Denying the Contrary: More’s Use of Litotes in the Utopia. In: Essential Articles for the Study of Thomas More, hrsg. von Richard S. Sylvester u. Germain Marc’hadour. Hamden 1977, S. 263-274 und S. 623-625, hier S. 265. Demgegenüber spielt die litotes-Figur in Morus’ „History of King Richard III“ eine geringere Rolle: „The Utopia, which can be thought of as presenting at least a two-sided vision, claims to describe the best state of commonwealth in an island that is nowhere but that negates (or purports to negate) the negations that characterize so much of Western Europe. Its very structure is, in some sense, litotic, then. But More’s history can hardly be thought of as anything but negative. The England of Richard III is a very dark world, one where there is no stable or sure point, and there is danger at every turn, so that the irony and the ambiguity are of a different sort.“ Elizabeth McCutcheon: Some Notes on Litotes in Thomas More’s The History of King Richard III. In: Moreana 38 (2001), Heft 146, S. 91-110, hier S. 109; vgl. auch dies.: My Dear Peter. The Ars Poetica and Hermeneutics for More’s Utopia. Angers 1983. Den Hinweis auf die Arbeiten von McCutcheon verdanke ich Gabriela Schmidt (München).
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derkönig Utopos doch festgelegt, „jeder dürfe der Religion anhängen, die ihm beliebe; jedoch noch andere Leute zu seiner Religion zu bekehren dürfe er nur in der Weise versuchen, daß er seine Meinung freundlich und ohne Anmaßung auf Vernunftgründe aufbaue, nicht indem er die anderen Anschauungen mit Heftigkeit herabsetze“.45 Utopos „hatte nicht die Vermessenheit, über die Religion irgend etwas endgültig zu bestimmen, da es ihm nicht sicher war, ob Gott vielleicht selber eine mannigfache und vielfältige Art der Verehrung wünsche [an uarium ac multiplicem expetens cultum deus]“.46 Immerhin erließ der weise König das rationaltheologisch begründete Gebot, jeder Utopier habe an die Unsterblichkeit der Seele, ein künftiges Gericht und an die göttliche Vorsehung zu glauben. Völlige religiöse Beliebigkeit herrscht demnach keineswegs. Gleichwohl erweitert im Vergleich zu Erasmus das von Morus unter dem Schutz der Fiktionalisierung unternommene Gedankenexperiment, was denn wäre, wenn Religion auf einige rationaltheologische Grundsätze diesseits historischer Offenbarung beschränkt bliebe, den gedanklichen Spielraum erheblich. Die strukturelle Skepsis des narrativen Verfahrens macht es möglich, nicht nur im Bereich der Politik eine Ablösung von den Traditionen zu vollziehen, sondern auch den Bereich der Religion in eine Valabilitätsprüfung hineinzuziehen, die nicht mehr von fraglosen Offenbarungsgewißheiten ausgeht. So wenig Morus selbst eine Transformation des Christentums in reine Rationaltheologie befürwortet haben dürfte, so sehr gibt er doch – im Modus der Fiktion – Denkwerkzeuge an die Hand, die später unter Weglassung der fiktionalen Einklammerung die Forderung nach der Ersetzung des Christentums durch eine „vernünftige Religion“ ermöglichen sollten. Der Produktivitätsschub, der in der utopischen Literatur der Frühen Neuzeit zu beobachten ist, hat unmittelbar mit der Fiktionalisierung des Gegenstandes zu tun, die wiederum eine strukturelle Skepsis anzeigt. Diese Produktivität gewinnt eine Eigendynamik, die es schließlich erlauben sollte, das im Modus der Fiktion Gedachte zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung und politischer Programmatik zu machen. Die Veruneindeutigung betrifft in „Utopia“ nicht nur die Religion, sondern, wie schon angedeutet, auch die im Titel des Werkes ausgewiesene Frage nach dem besten Zustand des Gemeinwesens. Gewiß steht die vortreffliche Anlage des utopischen Gemeinwesens in fundamentalem Gegensatz zur Gesellschaft, die Hythlodaeus und Morus im England ihrer Zeit finden. Aber wie wir gesehen haben, enthält der Verfasser sich der Forderung, das utopische Gemeinwesen müsse die Vorlage oder Vorgabe für die Umgestaltung der realen Gesellschaft abgegeben, sondern läßt seinen Ich-Erzähler zugunsten einer pragmatischen philosophia civilior sprechen. Morus scheint mit „Utopia“ eine Strategie der Wissensverunsicherung zu verfolgen, die darin besteht, das politisch Bestehende und für wahr Gehaltene mit radikalen Gegenmodellen in seiner 45 46
Morus: Utopia (wie Anm. 36), S. 129. Morus: Utopia (wie Anm. 36), S. 130 – More: L’Utopie (wie Anm. 31), S. 596 (Ed. 1518, S. 144).
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Selbstverständlichkeit zu erschüttern und zugleich die politisch-philosophische Tradition in ihren Verwirklichungsabsichten zu problematisieren. Ist der Prototyp des utopischen Genres statt eines Modells für neue Realpolitik womöglich eher das Medium einer skeptisch-humanistischen Infragestellung aller Formen von Realpolitik?47 Wäre dem so, erschiene es als welthistorische Ironie, daß Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 Thomas Morus ausgerechnet zum heiligen Patron der Politiker erhoben hat. Wirft man einen Blick auf die Gattungsgeschichte der Utopien, könnte sich der Eindruck aufdrängen, das strukturell skeptische Moment, das der Fiktionalisierung innewohnt, werde im Zeitalter der Konfessionalisierung nach und nach verdrängt: Tommaso Campanellas „Civitas solis“ (1623) ist zwar als Dialog gestaltet, aber der metaphysische Verkündigungs- und politische Weltumgestaltungswille des Verfassers bricht doch allenthalben hervor. Symptomatisch für den Sonnenstaat ist ein ungeheures Sicherheitsbedürfnis, das dessen Bewohner – hinter sieben Mauerringen und bei ständiger Übung im Kriegshandwerk – sowohl in militärisch-politischer wie in religiösmetaphysischer Hinsicht kultivieren. Da wird nichts fragend dahingestellt.48 Francis Bacons „Nova Atlantis“ (1638) verzichtet gleichfalls auf jede veruneindeutigende Ironie und stellt die ganze Gesellschaft von Bensalem in den Dienst der vom „Haus Salomons“ betriebenen, religiös überhöhten experimentellen Wissenschaft, die zwar den Zweifel am bislang für wahr Gehaltenen braucht, aber nur, um Platz für neue Gewißheiten zu schaffen.49 Trotz dieser Minderung des skeptischen Moments, das mit der Minderung des Fiktionalisierungsgrades einhergeht, fällt in diesen späteren utopischen Entwürfen die Abwesenheit von Politik im aristotelischen Sinne auf: Im Sonnenstaat und in Bensalem wird Politik als Praxis überflüssig und macht reiner Verwaltung des schon bestmöglichen Zustands Platz. An diese Beobachtung ließe sich die Vermutung knüpfen, ein skeptischer Impuls tangiere bei Campanella und Bacon immerhin noch Politik als spezifische Form menschlichen Handelns, weil die ideale Gesellschaftsform nun als etwas technisch Herstellbares begriffen wird. Diese sehr neuzeitliche Idee der rationalen Produzierbarkeit von gesellschaftlichen Strukturen verfällt keiner skeptischen Metakritik. Die Frage, inwiefern frühneuzeitliche Utopien Ausdruck eines skeptischen Impulses sind, müßte in weiteren Untersuchungen spezifiziert werden: Was genau wird in diesen Texten Gegenstand des Zweifelns und der fiktionalen Veruneindeutigung – und wa47 48
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Immerhin hat der Skeptiker Samuel Sorbière die „Utopia“ 1643 ins Französische übersetzt. Vgl. aber Rudolf Schicker: Tommaso Campanella (1568-1639) et le scepticisme. Quelques remarques sceptiques sur le premier livre de la Métaphysique. In: Le scepticisme au XVI e et au XVIIe siècle = Le retour des philosophies antiques à l’Âge classique, Bd. 2, hrsg. von PierreFrançois Moreau. Paris 2001, S. 188-201, der im Hinblick auf Campanellas Metaphysik von „antiscepticisme sceptique“ (S. 191) spricht. Vgl. Francis Bacon: Novum Organon. In: The Oxford Francis Bacon, Bd. 11, hrsg. von Graham Rees. Oxford 2004, I 37, S. 79.
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rum? Nur die realen politischen Verhältnisse sowie Politik als Praxis oder auch das Angewiesensein auf göttliche Hilfe im Hinblick auf Weltverbesserung? Wann kommt im utopischen Denken das Vertrauen auf die Machbarkeit des politisch Idealen auf? Oder wird das Ideale fortwährend als nicht machbar ausgewiesen, Zweifeln ausgesetzt? Gibt es in den Utopien ein wahres Wissen vom Idealen? Welche Rolle spielt genau die Fiktionalisierung? Wird dadurch womöglich das begriffliche Geschäft der (praktischpolitischen) Philosophie insgesamt diskreditiert oder (nur?) produktiv unterlaufen? Die vierte exemplarische Utopie, Johann Valentin Andreaes „Christianopolis“ (1619), ein ludicrum ausdrücklich im Geist des Morus,50 stellt den Lesern ein ideales protestantisches Gemeinwesen vor Augen. Daß sich Luther dagegen verwahrt, der Skepsis im Bereich des Glaubens Spielräume zu gewähren, haben wir eingangs gesehen. Dann wird doch auch die Utopie des dezidierten Lutheraners Andreae von allen skeptischen Interpretationen sicher sein? Vielleicht nicht ganz: Das lutherisch geprägte Christentum der Christianopolitaner ist zwar vor skeptischen Rückfragen sicher, dafür aber werden alle irdischen Gewißheiten bei Andreae in Frage gestellt. Im Bereich der Politik kannte das Luthertum (im Unterschied zum Calvinismus) keine direkten göttlich-biblischen Handlungsgebote; das Politische ist in die Verfügung irdischer Vernunft gestellt und kann damit skeptisch problematisiert werden. Ein bemerkenswerter Aspekt der „Christianopolis“ ist ihre eigentümliche Pneumatologie, die den Heiligen Geist als Beistand des Menschen in seiner kulturellen Bewältigung der (außermenschlichen) Natur begreift.51 Dabei kann der Mensch zu unterschiedlichsten, eigensinnigen, auch höchst produktiven Lösungen kommen. Zwar gilt auch hier noch Luthers Wort: Spiritus sanctus non est Scepticus. Aber vielleicht ist der Geist der Utopie ja ein skeptischer Geist. Auf die Ausgangsthese zurückkommend, gibt es zumindest einige Indizien dafür, daß der Verzicht auf assertiones zu den faktisch-intellektuellen Möglichkeitsbedingungen eines modernen Begriffs von geistiger Produktivität gehört. Erst wenn Gewißheiten bewußt in der Schwebe gehalten werden, rückt etwas Neues in die Reichweite des Denkens. Und dieses Denken macht sich in der Frühen Neuzeit auf, Gewißheiten im Modus der Fiktion zu suspendieren. Dies eröffnet Spielräume für das, wofür man später den Begriff der Produktivität bilden wird. Die Normativität des Herkömmlichen wird gebrochen und zumindest in Erwägung gezogen, daß auch das Neue normativ und handlungsbestimmend sein könnte. Dennoch sollten wir nicht vorschnell unsere gegenwärtigen Begriffe von Produktivität, Kreativität und Innovation auf frühneuzeitliche Verhältnisse zurückprojizieren. 50 51
Johann Valentin Andreae: Christianopolis 1619. Originaltext und Übertragung nach D. S. Georgi 1741, hrsg. von Richard van Dülmen. Stuttgart 21982, S. 32-34. Dazu Andreas Urs Sommer: Religion, Wissenschaft und Politik im protestantischen Idealstaat. Johann Valentin Andreaes „Christianopolis“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), S. 114-137, hier S. 123f.
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Wir könnten Gefahr laufen, uns die Vergangenheit ähnlicher zu machen, als sie ist. Die vorgetragenen Mutmaßungen über die Entstehung des politisch-philosophischen Genres der Utopie legen vielleicht gerade nahe, daß das mit diesen gegenwärtigen Begriffen Assoziierte auf Taubenfüßen, gewißermaßen von alleine, als etwas zunächst nicht Intendiertes, im Denkgefüge der Neuzeit mehr und mehr Terrain gewonnen hat. Fiktionalisierung führt auch nicht per se zu skeptischer Distanzierung, sondern kann unterschiedlichste Funktionen haben – ebensowenig bedarf Produktivität ihrerseits notwendig der Fiktionalisierung. Gleichwohl läßt der skeptische Verzicht auf assertiones, auf Positionsbezug dem Neuen Spielraum. Man könnte, statt von der gerade modischen „Entlassungsproduktivität“, vielleicht also von einer skeptischen Entlastungsproduktivität sprechen.
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Vormoderne Konzepte von Produktivität in der poetischen Praxis und im gelehrten Diskurs
BEATRICE TRINCA
Dichter als inspirierte Handwerker? Bligger von Steinach und Gottfried von Straßburg
„›Hört Brüder, hört, ich berichte euch Neues und Großartiges. Es war einmal ein König, der hieß Artus.‹“ Mit diesen Worten weckte Abt Gevard während einer feierlichen Mahnrede seine schlafenden und schnarchenden Zuhörer gegen Anfang des 13. Jahrhunderts, wie uns Caesarius von Heisterbach berichtet.1 In der Rede des Abtes folgen weitere Mahnungen, aber für uns zeugt diese Anekdote heute davon, daß sich Anfang des 13. Jahrhunderts der Name des Königs Artus von Britannien zum Signal für eine Textgattung etabliert hatte, an der nicht nur Laien interessiert waren. Diese Gattung des Artusromans entstand, neben Texten, die andere Stoffe, beispielsweise den Tristan-Stoff, verarbeiteten, im Frankreich des 12. Jahrhunderts, gedichtet von Klerikern. Es handelt sich um weltliche Literatur, der gleichzeitig von klerikaler Seite vorgeworfen wurde, daß sie eine einzige Lüge sei.2 Der erste Artusroman „Erec et Enide“ wurde um 1165 gedichtet. Sein Verfasser, Chrétien de Troyes, verarbeitete mündliche Erzählungen und schriftliche, als historiographisch deklarierte Quellen zu fiktionalen Romanen.3 Kurz nach ihrer Entstehung wurden drei Chrétiensche Artusromane ins Mittelhochdeutsche adaptierend übertragen, von Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach. Artusromane spielen in einer Phantasiezeit. In ihnen spiegelt sich, meist idealisiert, die höfische Lebensform wider,
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Zit. in der Übers. v. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 91999, S. 710. Vgl. Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. In: DVjs 54 (1980), S. 581-611. Diesem Dichter wird insbesondere in der germanistischen Forschung die „Entdeckung der Fiktionalität“ im 12. Jahrhundert zugeschrieben, und zwar in dem Sinne, daß die mittelalterlichen Dichter, nicht nur von Artusromanen, von da an die Fiktionalität ihrer Texte innerhalb derselben Werke (also nicht in Metadiskursen) thematisieren. Vgl. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 21992, S. 105. Vgl. auch ders.: Die Entdeckung der Fiktionalität. In: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 128-144.
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in die das Wunderbare integriert wird (wunderbare Ereignisse und Figuren, beispielsweise Feen).4 Von Feen und von ihren Liebesbeziehungen zu Rittern handeln auch viele altfranzösische Lais, die zum Teil von Marie de France (Mitte des 12. Jh.5) stammen und zum Teil anonym überliefert sind (entstanden im letzten Drittel des 12. bzw. im ersten Viertel des 13. Jh.6). Diese Textgattung ist im Deutschen nicht vertreten; es handelt sich um kurze Verserzählungen, die auf keltische Sagen zurückgehen.7 Ungefähr gleichzeitig mit der Erdichtung des ersten Artusromans wurde der keltische Stoff der verbotenen Liebe zwischen Tristan und Isolde in altfranzösischer Sprache zu Romanen verarbeitet. Nicht lange danach entstanden im Mittelhochdeutschen „Tristan“-Romane (von Eilhart von Oberg um 1170 und von Gottfried von Straßburg um 1210), die sich jeweils nach zwei unterschiedlichen altfranzösischen Versionen richteten.8 Dies alles gehört zum Datenbestand moderner Literaturhistoriker. Das Gleiche, nämlich einen Beitrag zur Literaturgeschichte,9 hat man in dem vieldiskutierten Exkurs gesehen, den Gottfried von Straßburg in seinen „Tristan“-Roman anläßlich der Schilderung der Schwertleite seines Helden einfügt. Der Dichter beteuert, nicht zu wissen, wie er die Ausrüstung Tristans beschreiben solle, weil der höfische Prunk vor ihm und zu seiner Zeit vielfältig beschrieben und dadurch zerredet worden sei. Er könne, heißt es weiter, nicht so davon sprechen, daß es jemanden erfreue. Es folgt eine Aufzählung von deutschen Epikern (unter anderem der Übersetzer Chrétienscher Artusromane) und Lyrikern. Dennoch geschieht dies nicht – wie wir es von modernen Literaturgeschichten gewöhnt sind – systematisch, chronologisch und mit präzisen Angaben zu den Inhalten der Dichtungen. Vielmehr handelt es sich um einen lobenden bzw. abwertenden metaphorischen Diskurs. Der Hinweis darauf, daß der höfische Prunk zerredet sei, und eine spätere Bemerkung, daß viele diesen Prunk nicht besonders gut beschrieben hätten („Tristan“, vv.
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Vgl. Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart 2003, S. 194f. Vgl. Dietmar Rieger: Einleitung. In: Marie de France: Die Lais. Übersetzt, mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger unter Mitarbeit von Renate Kroll. München 1980, S. 7-41, hier S. 8. Dieser Ausgabe entstammen im Folgenden die Zitate aus dem Werk Maries de France und die Versangaben. Vgl. zur Datierung Alexandre Micha: Préface. In: Lais féeriques des XIIe et XIIIe siècles. Présentation, traduction et notes par Alexandre Micha. Paris 1992, S. 5-16, hier S. 7. Ebd. Im Altfranzösischen wurde der Stoff zunächst anonym, dann von Béroul und Thomas von Bretagne bearbeitet. Dem Werk Gottfrieds liegt der Tristan-Roman von Thomas von Bretagne zu Grunde. Vgl. Brunner: Geschichte (wie Anm. 4), S. 158. Vgl. Hans Fromm: Tristans Schwertleite. In: ders.: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 155-172, hier S. 155, S. 161.
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4923-4928),10 zeugen davon, daß Gottfried keinen allzu großen Respekt vor seinen Vorgängern hatte. Doch die in der Dichterschau gelobte Literatur scheint in der Tat seiner Vorstellung von guter Literatur zu entsprechen.11 So zum Beispiel bewundert er die stilistische Klarheit Hartmanns von Aue („Tristan“, vv. 4628f.), und er strebt gleichzeitig in seinem eigenen Werk Klarheit an. Der Literaturexkurs anläßlich der Schwertleite Tristans diente somit den Mediävisten als Quelle für das Verständnis der Auffassung Gottfrieds über das Dichten, und zu diesem Zweck soll er auch im Folgenden analysiert werden.
I.
Bligger von Steinach
Bligger von Steinach erreicht in Gottfrieds Dichterschau „ein Maximum an ästhetischem Reiz“:12 („Tristan“, vv. 4691-4715) Noch ist der verwaere mêr: von Steinahe Blikêr, diu sînen wort sint lussam. si worhten vrouwen an der ram [4694] von golde und ouch von sîden. man möhte s’undersnîden mit criecheschen borten. er hât den wunsch von worten. sînen sin den reinen [4699] ich waene daz in feinen [4700] ze wundere haben gespunnen und haben in in ir brunnen geliutert unde gereinet. er ist binamen gefeinet. sîn zunge, diu die harpfen treit, diu hât zwô volle saelekeit: daz sint diu wort, daz ist der sin. 10
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Die Versangaben und die Zitate richten sich nach der Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde. Stuttgart 1993. Sehr wahrscheinlich hat er auch den literarischen Wert des von ihm kritisierten Wolfram von Eschenbach erkannt. Vgl. dazu Eberhard Nellmann: Wolfram und Kyot als vindære wilder mære. In: ZfdA 117 (1988), S. 31-67. Ulrich Wyss: Tristan und die ›Nachtigallen‹. In: Der »Tristan« Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, hrsg. von Christoph Huber und Victor Millet. Tübingen 2002, S. 327-338, hier S. 331.
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48 diu zwei diu harpfent under in ir maere in vremedem prîse. der selbe wortwîse, nemt war, wie der hier under [4711] an dem umbehange wunder mit spaeher rede entwirfet; wie er diu mezzer wirfet mit behendeclîchen rîmen!
Es gibt noch mehr Färber: von Steinach Bligger, dessen Worte, die sind lieblich. Es verfertigten sie edle Damen am Stickrahmen13 aus Gold und auch aus Seide. Man könnte sie mit griechischen Borten einfassen. Er hat die vollkommenen Worte. Seinen reinen sin [Krohn: „Dichtungsgabe“; Knecht: „Kunst“14; Kramer: „Sinn“15; von Ertzdorff / Scholz / Voelkel: „Sinn“16; Hatto: „invention“17; Buschinger / Pastré: „idées“18], ich glaube, daß ihn Feen wunderbar gesponnen und in ihrer Quelle geläutert und gereinigt haben. Er [MüllerKleimann: „der sin“19; Krohn: „die Dichtungsgabe“; Kramer: „er“; Knecht: „die Kunst“; Hatto: „he“, aus dem Kontext: the poet; Buschinger / Pastré: „il“, aus dem Kontext: le poète] ist wahrhaftig gefeinet [Kramer: „voller Feenzauber“; von Ertzorff / Scholz / Voelkel: „der Sinn kommt nämlich von den Feen“; Krohn: „zauberkräftig“; Müller-Kleimann: „mit feenhafter Zauberkraft begabt“; Knecht: „eine Feengabe“; Hatto: „inspired by the fairies“; Buschinger / Pastré: „inspiré par les fées“]. Seine Zunge, die die Harfe trägt, sie hat die zweifache Fülle der Glückseligkeit: das sind die Worte und das ist der Sinn [Krohn: „sowohl im Ausdruck als auch im gedanklichen Gehalt“; Knecht: „[...] Glückseligkeit: zum einen in den Worten, zum andern im Sinn [...]“; Hatto: „words and inspiration“; Buschinger / Pastré: „le style et les idées“; von Ertzdorff / Scholz / Voelkel: „das sind die Worte, das ist der Sinn“].20 Die zwei, sie „harfen“ gemeinsam ihre Geschichten in wundersamer Herrlichkeit. Dieser
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„Ram“ kann auch Webrahmen bedeuten. Vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde. Leipzig 1872-1878, Bd. 2, Sp. 336. Gottfried von Straßburg: Tristan. Band 2: Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung in das Werk von Tomas Tomasek. Berlin / New York 2004, S. 58. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und erläutert von Günter Kramer. Berlin o.J., Bd. 1, S. 120. Gottfried von Straßburg: Tristan. Übersetzt von Xenja von Ertzdorff, Doris Scholz und Carola Voelkel. München 21994, S. 63f. Gottfried von Strassburg: Tristan. Translated, with an introduction by A. T. Hatto. Edinburgh 1960, S. 106. Gottfried von Strassburg: Tristan. Traduit par Danielle Buschinger et Jean-Marc Pastré. Göppingen 1980, S. 82. Sigrid Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619-4748. Stuttgart 1990, S. 226. Angegeben wurden nur die m.E. sinnvollsten Übersetzungen.
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weise Wortkenner, schaut, wie er dabei mit kunstvoller Rede an dem Wunder des Umhangs21 webt; wie er mit passenden Reimen seine Messer wirft.22
Doch wer ist Bligger von Steinach, dessen Dichtung – durch einen besonderen ästhetischen Reiz, der mittels der Textilmetaphorik ausgedrückt wird – sich so sehr von den Dichtungen anderer Autoren unterscheidet? Uns sind nur sechs Minnestrophen von ihm erhalten,23 und man nimmt an, daß er gegen Ende des 12. Jh. lebte und aus Neckarsteinach (bei Heidelberg) stammte.24 Doch Gottfried erwähnt ihn gemeinsam mit anderen Epikern. Es gab eine Forschungsdiskussion darüber, ob der in Gottfrieds Text von Bligger entworfene „umbehange“ der Titel seines (verlorenen) epischen Werkes sei.25 Mit Sicherheit können wir das nicht wissen. Das Gewebe ist außerdem eine aus antiken Quellen tradierte Metapher für den literarischen Text.26 Das legitimiert unter anderem auch folgende Interpretation: „Der ›Umbehanc‹, mit einem Wort, ist das Kunstwerk der Zukunft, ein Artefakt, wie die Welt es noch nicht gesehen hat. In dessen Text wäre die Luft von einem anderen Planeten zu atmen. Wenn wir ihn zu lesen vermöchten, hätten wir das ideale und utopische Double von Gottfrieds eigener écriture vor uns.“27 Welche Identität man auch immer Bligger von Steinach zuspricht, er ist zweifelsohne, in der Metaphorik der Dichterschau, ein inspirierter Handwerker: Seine Worte (wort) und sein sin – mit diesem Begriff kann sowohl der Sinn der Dichtung als auch die Begabung des Dichters gemeint sein28 – werden für Bligger von Damen bzw. 21 22
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Die meisten Belege sprechen für die eindeutige Bedeutung von einem (bebilderten) Wandteppich. Vgl. Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 13), Bd. 2, Sp. 1731. Übersetzung B.T. „Das Messerwerfen ist im [Mittelalter] zum einen ein Kunststück des Jongleurs [...]. Zum anderen ist es ein gefährliches Waffenspiel [...].“ Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil (wie Anm. 19), S. 266. Vgl. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. I: Texte. Stuttgart 381988, S. 233-235 [MF XVIII]. Vgl. Rüdiger Krohn: Stellenkommentar. In: Gottfried von Straßburg: Tristan (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 100. Vgl. ebd., S. 100f. Vgl. auch Werner Hoffmann: Bligger von Steinach als Dichter des Nibelungenliedes? Zu Peter Honeggers neuer These. In: ZfdPh 112 (1993), S. 434-441. Vgl. dazu: Gregory Nagy: Poetry as performance. Homer and beyond. Cambridge 1996, S. 59-86; John Scheid, Jesper Svenbro: The Craft of Zeus. Myths of Weaving and Fabric. Cambridge u.a. 1996; sowie Renate Schlesier: Idole und Gewebe. Kultur als Bild und Text. In: Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundlagenfaches, hrsg. von Jürgen Paul Schwindt. Heidelberg 2002, S. 1-23, hier S. 17-23. Wyss: Tristan (wie Anm. 12), S. 337. Lexer übersetzt den Begriff mit: „körperlicher, wahrnehmender sinn [...] der innere sinn (gern im pl.), allgem. u. zwar: der denkende geist, verstand [...]; bewusstsein, besinnung; weisheit, kunst (ingenium [...]). [...] gedanke [...] sinn, meinung, ansicht, absicht, bedeutung [...]; verständige handlung, kunstgriff; gesinnung.“ Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 13), Bd. 2, Sp. 926f. Eberhard Nellmann versteht den „sin“ (insbesondere in der Hartmann-Passage der Dichterschau) als „inhaltliches Korrelat zur äußeren Sprachform“. Nellmann: Wolfram und
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Feen verfertigt. Diese Damen („Tristan“, v. 4694) können mit den Feen („Tristan“, v. 4700) gleichgesetzt werden.29 Der Begriff „Inspiration“ bezeichnet in mediävistischen Arbeiten verschiedene Arten der Einwirkung Gottes, der Heiligen oder der Musen auf den dichterischen Kreationsprozeß. Unabhängig also von der ursprünglichen Bedeutung von „inspirare“ („einhauchen“),30 wird mit diesem Begriff in der Forschung oft auch die Verleihung der Dichtergabe, die Eingebung der Inhalte, das Diktieren des Wortlautes, der Beistand beim Dichten bezeichnet.31 In der Bligger von Steinach-Stelle sind mehrere dieser Inspirationsformen präsent: Die Worte erhält Bligger von den Damen, und die Feen stellen ihm – aufgrund der Doppeldeutigkeit des „sin“-Begriffes – den Sinn der Dichtung bzw. die Dichtergabe zur Verfügung. Im Folgenden soll die Einwirkung der Damen bzw. der mit ihnen identischen Feen auf den Prozeß der literarischen Kreation als „Inspiration“ bezeichnet werden, im Bewußtsein, daß der Begriff die hier genannten verschiedenen Einwirkungsformen umfaßt und sich nicht spezifisch auf Einhauchung bezieht. Bligger selbst beteiligt sich auch an der literarischen Kreation: Er webt mit kunstreicher Rede an dem umbehange.32 Die Textpassagen, in denen sich mittelalterliche Autoren metaphorisch als Handwerker bezeichnen, wurden in der germanistischen
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Kyot (wie Anm. 11), S. 32. Christoph Huber und Walter Haug betonen, daß Gottfried mit der Doppeldeutigkeit des „sin“-Begriffes arbeitet. „Denn sin ist zum einen die subjektive Fähigkeit des Autors, sinnvoll zu gestalten, sin ist zum anderen objektiv das sinnvoll Gestaltete, und zwar sowohl als sinnvolle Durchsichtigkeit des Wortes im einzelnen wie als Sinn des ganzen Werkes. Und drittens muß dem wiederum der sin auf seiten des Hörers entsprechen [...].“ Haug: Literaturtheorie (wie Anm. 3), S. 221. Allerdings geht es – seiner Meinung nach – Gottfried „um das dynamische Ineinander von Sinnkonstitution und Sinnerfahrung, um sin als Funktion des Produktions- und Rezeptionsprozesses“. (Ebd.) Das impliziert auch ein Ineinander zweier verschiedener Inspirationsvorstellungen: der Eingebung der Inhalte sowie der Verleihung der dichterischen Fähigkeit. Vgl. auch Christoph Huber: Wort-Ding-Entsprechungen. Zur Sprach- und Stiltheorie Gottfrieds von Straßburg. In: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift für Hans Fromm, hrsg. von Klaus Grubmüller u.a. Tübingen 1979, S. 268-302, insbesondere S. 298. In den Lais und in den Artusromanen sind die Feen immer höfische Damen, die manchmal Textilien herstellen; für Beispiele siehe unten. Vgl. Renate Schlesier: Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung – Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration. In: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hrsg. von Gert Mattenklott. Hamburg 2004, S. 177-194. Vgl. Haug: Literaturtheorie (wie Anm. 3); Friedrich Ohly: Metaphern für die Inspiration. In: Euphorion 87 (1993), S. 119-171; Dorothea Klein: Inspiration und Autorschaft. Ein Beitrag zur mediävistischen Autordebatte. In: DVjs 80 (2006), S. 55-96. Aktiv beteiligt an der Kreation der Dichtung sind nicht nur die Damen bzw. die Feen und Bligger, sondern auch die Worte und der Sinn, die, personifiziert, ihre Geschichten in wundersamer Herrlichkeit „harfen“ („Tristan“ 4707-4709).
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Mediävistik selten analysiert.33 In der Forschung zu dieser Metaphorik wurden daraus zwei Konzepte mittelalterlichen Dichtens abgeleitet: Das eine ist in Sigrid MüllerKleimanns Kommentar (von 1990) der Dichterschau Gottfrieds zu finden und wird als Erklärung für die Metapher des Dichters als Färber (im Lob Hartmanns von Aue und Bliggers von Steinach) angeboten: „Das Spezifikum des poetischen Färbens besteht [...] darin, daß der in der literarischen Quelle enthaltene Sinn enthüllt und in ein neues sprachliches Gewand gekleidet wird.“34 Sabine Obermaier formuliert andererseits die Vorstellung, von der die hier zitierte Interpretation ausgeht, in ihrer Untersuchung des deutschen Minnesangs und der Sangspruchdichtung (von 199535, sie wiederholt sie 200036): „Das Handwerk ist [...] insofern gut geeignet, den Vorgang des Dichtens zu verbildlichen, als dieser Produktion und nicht Kreation ist“.37 „Der Dichter ist […] kein Urheber, kein Autor im neuzeitlichen Sinne, denn seine Planung und Ausführung beschränkt sich auf das Auffinden einer schon vorhandenen materia, ihre dispositio und elocutio, ihre Versifikation und Vertonung [...].“38 Diese Konzeption, die dem Dichter das Schöpfertum aus dem Nichts abspricht, ist im Einklang mit der mittelalterlichen theologischen Auffassung, daß Gott der einzige Schöpfer sei, solus creator est deus, wie es bei Augustinus heißt.39
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Vgl. zu älteren Studien, in denen das Thema gestreift wird, Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil (wie Anm. 19), S. 37f. Nicht „in einem strikt metaphorischen Sinne“ bezeichnet sich Konrad von Heimesfurt als Handwerker, der das Buch in seiner Materialität herstellt, so Bruno Quast: HandWerk. Die Dinglichkeit des Textes bei Konrad von Heimesfurt. In: PBB 123 (2001), S. 65-77, zit. S. 67. Ebd., S. 38. Sabine Obermaier: Von Nachtigallen und Handwerkern. ›Dichtung über Dichtung‹ in Minnesang und Sangspruchdichtung. Tübingen 1995. Vgl. auch Patricia Harant: Poeta Faber. Der Handwerks-Dichter bei Frauenlob. Texte, Übersetzungen und Metapherninterpretationen. Erlangen / Jena 1997. Sabine Obermaier: Der Dichter als Handwerker – Der Handwerker als Dichter. Autorkonzepte zwischen Sangspruchdichtung und Meistersang. In: Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung, hrsg. von Horst Brunner und Helmut Tervooren, Sonderheft 119 der ZfdPh (2000), S. 59-72, hier S. 61-63. Obermaier: Von Nachtigallen (wie Anm. 35), S. 334. Vgl. zur Opposition zwischen „creare“ und „producere“ in der mittelalterlichen Philosophie: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u.a.. Stuttgart 2000-2005, Bd. 5, S. 45f. Obermaier: Der Dichter (wie Anm. 36), S. 63. Sancti Aurelii Augustini: De Trinitate, hrsg. von W. J. Mountain und Fr. Glorie, 2 Bde. Turnholti 1968, Bd. 1, III, VIII, 3, S. 143. Dazu vgl. insbesondere Thomas Cramer: Solus Creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15 (1986), S. 261-276; Walter Haug: Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino. Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott. In: ders.: Die Wahrheit der Fiktion (wie Anm. 3), S. 538-556.
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Darüber hinaus beziehen sich die Rhetoriken auf eine vorhandene materia, die es zu formen gilt.40 Die Vorstellung vom Dichter als Bearbeiter einer materia wurde in der Mediävistik insbesondere auf die Epik angewandt. Da die meisten Texte eine Vorlage hatten (oder eine Quelle vortäuschten), wurde die materia mit dieser Vorlage identifiziert, beispielsweise von Franz-Josef Worstbrock (1999). Worstbrock betont, daß bei einer dichterischen Bearbeitung die Wahrheit der materia erhalten blieb.41 Auch im oben genannten Kommentar Sigrid Müller-Kleimanns wird behauptet, daß der Dichter den Sinn der „materia“ nur enthüllt, nicht verändert. Gegen diese Vorstellung der dichterischen Produktion spricht zum einen, daß sich die Autoren nicht unbedingt an die rhetorische Auffassung gehalten haben. Aber selbst dann heißt dies nicht, daß sie den Sinn ihrer materia nicht ändern durften. Über die Sinnsetzung sprechen die Rhetoriken kaum, und genau darin wäre ein Moment des Schöpferischen erkennbar. In diesem Zusammenhang hat Christoph Huber bereits 1979 angemerkt: „Ohne diese Dimension, die Frage nach dem Schöpferischen, wäre das Dichten tatsächlich nur mechanisch erlernte und ausgeübte Fertigkeit.“42 Zwar sind die mittelalterlichen Rhetoriken als Lehrbücher konzipiert, doch ihre Autoren behaupten,soweit ich sehe, an keiner Stelle, daß sie alles über das Dichten vermitteln können. Die zweite Konzeption des mittelalterlichen Dichtens, die aus der Handwerksmetaphorik abgeleitet wurde, versteht die literarische Kreation als erlernbar, ohne jedoch, wie Christoph Huber, ihr aus diesem Grund das Schöpfertum abzusprechen. Die Kreativität ist in den wenigen Anmerkungen zu dieser zweiten Konzeption kein Gegenstand der Diskussion.43 Daß sie selten in der Forschung erwähnt wurde, erklärt sich dadurch, daß die mittelalterlichen Autoren, soweit mir bekannt, an keiner Stelle das Dichten als erlernbar bezeichnen,44 ganz im Gegenteil: Konrad von Würzburg betont im Prolog des „Trojanerkriegs“ (geschrieben zwischen 1281-1287), daß das literarische Schaffen, das er als kunst45 bzw. list46 bezeichnet, nicht gelernt werden kann. Die Autoren seien auf die Begabung durch Gott angewiesen („Der Trojanische Krieg“, vv. 82-91), 47 die in 40
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Vgl. Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit: Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 128-142, hier S. 135. Ebd. Huber: Wort-Ding-Entsprechungen (wie Anm. 28), S. 296. Vgl. Obermaier: Von Nachtigallen (wie Anm. 35), S. 337; Ohly: Metaphern (wie Anm. 31), S. 120. Vgl. für den Minnesang und für die Sangspruchdichtung auch Obermaier: Von Nachtigallen (wie Anm. 35), S. 337. Der Begriff bedeutet nach Lexer: „das wissen, die kenntnis, weisheit, geschicklichkeit, kunst, allgem. [...].“ Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 13), Bd. I, Sp. 1780. Lexer gibt folgende Übersetzungen an: „weisheit, klugheit, schlauheit; weise, kluge, schlaue absicht od. handlung allgem. [...].“ Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 13), Bd. I, Sp. 1936. Zitiert nach der Ausgabe: Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg, hrsg. von Adelbert von Keller. Stuttgart 1858. Vgl. dazu auch Haug: Literaturtheorie (wie Anm. 3), S. 358.
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der Forschung als eine Form der Inspiration gesehen wurde. Erlernbares Dichten ist somit, wie Friedrich Ohly (1993) betont, ein Gegensatz zur göttlichen Inspiration.48 In der Bligger-Stelle ist sowohl die Vorstellung des Dichters als Handwerker als auch diejenige des inspirierten Autors präsent: Bligger stellt den umbehange her, und die Feen schenken ihm den sin bzw. die Damen diu wort, die sie selbst handwerklich verfertigen. Es gibt aber in diesem Textausschnitt keinen zwingenden Grund dafür, das metaphorische Handwerk als Hinweis auf die Abwesenheit des Schöpferischen oder auf das erlernbare Dichten zu verstehen. Dennoch kann man behaupten, daß in dieser Passage unterschiedliche Vorstellungen von der poetischen Produktion koexistieren, die sich nicht unbedingt ergänzen: Zunächst hat Bligger diu wort und den sin von den Feen, dann weist sie Gottfried seiner, Bliggers, Zunge zu. Am Anfang des Abschnitts stellen die Damen bzw. die Feen Bliggers wort und sin her, später im Text produziert der Dichter selbst das Gewebe (den umbehange). Die Textilienherstellung verbindet die Inspirationsinstanzen mit dem Dichter als Handwerker, so daß diese zwei Vorstellungen nicht unbedingt in Opposition zueinander stehen. Vermutlich geht es Gottfried in dieser Passage nicht primär um die Thematisierung eines einheitlichen Kreationskonzepts von Bligger, sondern um das „Maximum an ästhetischem Reiz“ 49 in der Schilderung aller (auch unzusammenhängender) Details der dichterischen Produktion. Diese zeugen im einzelnen von der Besonderheit der Dichtung Bliggers. Auch wenn die Details also nicht die Herausarbeitung eines einzigen Kreationskonzepts ermöglichen, ergänzen sie sich darin, daß sie dazu beitragen, das Bild eines hervorragenden Autors zu erstellen. Trotzdem stellt sich im Folgenden die Frage, ob Gottfrieds Auswahl der Inspirationsinstanzen und die Handwerksmetaphorik nicht doch mehr über die literarische Produktion Bliggers aussagen.
II. Die Feen Die Feen in der Bligger-Passage wurden in der Forschungsliteratur mit den Musen gleichgesetzt oder aber von ihnen abgegrenzt. Die Musen treten später im Literaturexkurs explizit auf, und zwar nach der Dichterschau. Der Autor behauptet, daß er sich mit seiner Bitte um Begabung an die Musen (die niun wirtinne, „die neun Hausherrinnen“ vom Helikon) wenden will („Tristan“, vv. 4860-4895). Diese antike Vorstellung amalgamiert er mit christlichen Komponenten,50 indem er von der göttlichen Begabung des wahren Helikons spricht und die Musen in den Himmelschören verortet 48 49 50
Vgl. Ohly: Metaphern (wie Anm. 31), S. 120. Wyss: Tristan (wie Anm. 12), S. 331. Vgl. Haug: Literaturtheorie (wie Anm. 3), S. 227; Manfred Kern: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik. Amsterdam / Atlanta 1998, S. 180f.
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(„Tristan“, vv. 4896-4907). Doch darauf folgt die Versicherung, daß er selbst als von Musen begabter Dichter nicht etwas schildern würde, was viele vor ihm, und nicht besonders gut, beschrieben haben. Gottfried betont in diesem Abschnitt, daß seine eigene Entscheidung – und keineswegs das fehlende Talent – den Grund für den Verzicht auf die Beschreibung darstellt. Die Feen an der Bligger-Stelle wurden insbesondere von Herbert Kolb (1962) den Musen gleichgesetzt,51 mit folgender Argumentation: Die Geliebte Gilans, Tristans Freund, schickt diesem das wunderbare Hündchen Petitcrü aus Avalon, dem feinen lant (Land der Feen), und sie wird eine gottinne genannt („Tristan“, vv. 15806-15810). Feen seien somit Göttinnen, wie die Musen, und dafür spreche auch der Vergleich Isoldes mit einer Fee („Tristan“, v. 17477) einerseits und mit einer Göttin andererseits („Tristan“, v. 17470) in der Minnegrotte-Episode.52 Außerdem ist in der BliggerPassage die Rede von dem brunnen, von der Quelle der Feen, und bekanntlich entspringen Quellen vom Musensitz Helikon, wie Gottfried selbst in seinem PseudoGebet erwähnt.53 Es handelt sich dort um die brunnen, „[...] ûz den die gâbe vliezent / der worte unde der sinne“, „[...] aus denen die Gaben der Worte und des Sinns fließen“ („Tristan“, vv. 4868f). Dagegen hat Ursula Schulze (1967) argumentiert, daß das Spinnen der Feen „an Schicksalsgöttinnen [erinnert], die in die Feenvorstellung eingegangen sind“, und sie betont, daß die Musen dieses Handwerk nicht kennen.54 Die Autorin gibt zwar zu, daß es Parallelen zwischen der Bligger-Passage und dem Musenanruf Gottfrieds gibt, aber sie sieht darin keinen Berührungspunkt zwischen Feen und Musen. Die spätere Forschung hat, soweit ich sehe, keine weiteren Beträge zur Gleichsetzung der Feen mit traditionellen inspirierenden Instanzen geleistet.55 Gottfried scheint tatsächlich eine Entsprechung zwischen den inspirierenden Feen und den Musen intendiert zu haben, ohne sie unbedingt miteinander identifizieren zu wollen: Er ist – meines Wissens – der erste mittelalterliche Dichter, der den Feen die Rolle der begabenden bzw. Inhalte eingebenden höheren Wesen zuschreibt. Die Feen übernehmen somit die Rolle, die in den meisten Texten der Antike die Musen spielten, die dichterische Begabung spendeten, bzw. die Funktion, die in der christlichen religiösen Literatur Gott zukommt (als Inhalte, Wortlaut oder Begabung Verleihender).56 Die 51
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Dieselbe Meinung vertritt Lambertus Okken in seinem Kommentar. Vgl. Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg, 2 Bde. Amsterdam 1984/85, Bd. 1, S. 243f. Vgl. Herbert Kolb: Über den Epiker Bligger von Steinach. Zu Gottfrieds Tristan vv. 4691-4722. In: DVjs 36 (1962), S. 507-520, hier S. 515. Die Feen selbst werden in keiner Romanpassage gottinne genannt. Vgl. zu dieser Parallele ebd., S. 515f. Ursula Schulze: Literarkritische Äußerungen im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: PBB 88 (1967), S. 285-310, hier S. 296. Vgl. Müller-Kleimann: Gottfrieds Urteil (wie Anm. 19), S. 246f. Vgl. dazu Ohly: Metaphern (wie Anm. 31); Schlesier: Künstlerische Kreation (wie Anm. 30).
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Erwähnung der Feenquelle ist eine weitere Gemeinsamkeit mit der Musentradition. Die Feen wurden aber bereits vor Gottfried mit Gewässern in Verbindung gebracht. Lanval legt sich beispielsweise im Lai Maries de France neben einem Fluß nieder, und es kommen zwei Damen vorbei, die ihn zu seiner zukünftigen Geliebten, einer Fee, führen („Lanval“, vv. 43-76). Der erste Lai, den Tristan im Roman Gottfrieds am Hof Markes singt, ist uns tatsächlich erhalten. Es handelt sich um den anonymen „Lay de Graalent“ („Tristan“, v. 3587). Darin begegnet der Held einer Fee, die seine Geliebte wird, als diese im Quellwasser badet („Lay de Graalent“, vv. 206-222).57 Dieses literarische Attribut der Feen wird bei Gottfried vermutlich zu einer Anspielung auf die Musen. Die Feenquelle erhält außerdem in diesem Kontext durch die Verwendung der Begriffe luter und reine christlich-religiöse Wertigkeiten. Aber es bleibt bei Anspielungen, die die für die mittelalterliche Dichtung neue Funktion der Feen als inspirierende Instanzen unterstreichen. Die Feen sind also in dieser Passage anders konnotiert als früher in der mittelalterlichen Literatur. Im Hinblick darauf stellt sich die Frage, ob diese wunderbaren Wesen ihre früheren Qualitäten bzw. ihre frühere literaturtheoretische Bedeutung beibehalten. Im Artusroman und in den Lais kommen die Feen als Geliebte vor, zum Beispiel in einer kurzen Anmerkung gegen Anfang des „Erec et Enide“-Romans („Erec et Enide“, vv. 1906-190858) und in den oben genannten Lais. Sie stammen meistens aus Avalon und sind unsichtbar für unerwünschte Blicke (z.B. im „Lay de Graalent“, vv. 307-312 oder in „Lanval“, vv. 159-170). Sie stellen wunderbare, heilende Salben her (z.B. Hartmann von Aue: „Iwein“, vv. 3423-343059), können zaubern (Renaut de Beaujeu: „Bel Inconnu“, v. 228460) und sind zum Teil verwandt mit Mitgliedern des Artushofes.61 Sowohl in den anonymen Lais als auch in den Dichtungen Maries de France werden prachtvolle Stoffe zum Signal, das die Anwesenheit der Feen in der 57
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Die Versangaben und Zitate aus den anonymen Lais richten sich nach der Ausgabe: Micha (Hrsg.): Lais féeriques (wie Anm. 6). Vgl. zu diesem literarischen Motiv auch ebd.: „Lay de Guingamor“ vv. 422-433. Zur Verbindung der feenhaften Wesen mit dem Wasser vgl. auch „Lay de Tydorel“, vv. 90-106; „Lay de Désiré“, v. 141. Die Verszahlen und Zitate richten sich nach der Ausgabe: Chrétien de Troyes: Erec et Enide / Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 1987. Zitiert nach der Ausgabe: Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer. Berlin / New York 42001. Versangabe nach der Edition: Renaut de Beaujeu: Le Bel Inconnu. Roman d’Aventures édité par G. Perrie Williams. Paris 1929. Vgl. zur Übersetzung dieses Verses Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade. Trier 1999, S. 79-81. Artus hat in verschiedenen Texten eine Fee als Schwester oder Cousine und stammt, gemeinsam mit Gawan und Parzival, von einem Geschlecht, dessen Gründerin eine Fee ist. Vgl. zu den Feen auch Brigitte Burrichter: Die narrative Funktion der Feen und ihrer Welt in der französischen Artusliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2003, S. 281-296.
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Erzählung ankündigt bzw. sie begleitet.62 Im ersten Artusroman Chrétiens, „Erec et Enide“, werden Feen zweimal als Herstellerinnen von Textilprodukten genannt („Erec et Enide“ 2355-2358, 6674-6683), unter anderem eines Mantels, der als Sinnbild für den literarischen Text interpretiert wurde.63 Bei Gottfried behalten die Feen ihre Qualität als Geliebte: Gilan wird von einer Dame aus Avalon geliebt, die ihm das Hündchen Petitcrü schenkt. Dieses ist zwar nicht explizit aus Stoff und wurde vermutlich nicht von den Feen hergestellt, aber Gottfried erzählt, daß sein Fell – das sich wie Seide anfühlt – bunt (rot, grün, blau etc.), also unnatürlich gefärbt ist. Außerdem heißt es, daß es nicht bellt, nicht frißt und nichts trinkt („Tristan“ 15797-15890). Während in anderen Dichtungen die Feen mit Textilien in Beziehung gesetzt werden, schreibt Gottfried dem Hündchen Petitcrü die Eigenschaften eines Stofftieres zu. Diese „Tristan“-Szene bekundet – gemeinsam mit der Erwähnung der Quelle in der Bligger-Passage –, daß Gottfried die literarischen Motive kannte, die vor ihm mit den Feen verknüpft waren. Das läßt wiederum vermuten, daß er sich in seinem Text an der Bligger-Stelle möglicherweise auch auf die literaturtheoretische Funktion dieser Figuren in den ihm vorausgehenden Dichtungen bezieht. Im ersten Artusroman „Erec et Enide“ und in mehreren Lais wird die Erwähnung der Feen immer von Wahrheitsbeteuerungen begleitet.64 Die Wahrheit, die veritas 62
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So zum Beispiel möchte sich die von Lanval geliebte Fee dem Artushof zeigen, um dadurch zu beweisen, daß Lanval die Wahrheit sagte, als er behauptete, daß seine Freundin schöner sei als die Königin. Ihre Dienerinnen reiten ihr voraus und – am Hofe angekommen – richten folgende Worte an den König: „Reis, fai tes chambres delivrer / E de palies encurtiner / U ma dame puisse descendre [...].“ „König, laß solche Gemächer herrichten [freimachen] und mit Brokatvorhängen behängen, wo unsere Herrin absteigen kann.“ („Lanval“, vv. 491-493, Übersetzung von Dietmar Rieger [wie Anm. 5].) Vgl. zu den Stoffen als Motiv, das die Feen in den Dichtungen begleitet, auch „Lanval“, vv. 57-59; 173-176; 201f.; 475f.; 511; 571f.; „Yonec“ (von Marie de France), v. 438, und die anonymen „Lay de Graalent“, vv. 225ff., 306, 362ff., 566, 598ff.; „Lay de Guingamor“, vv. 437ff., 511f., 657; „Lai de Desiré“, vv. 135f., 179ff., 532ff., 685f.; „Lay de Tydorel“, v. 45. Vgl. Gerhart von Graevenitz: Contextio und conjointure, Gewebe und Arabeske. Über Zusammenhänge mittelalterlicher und romantischer Literaturtheorie. In: Literatur, Artes und Philosophie, hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1992, S. 229-257, hier S. 229-239; Volker Mertens: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 2005, S. 41. „Erec et Enide“, vv. 1906-1908: „[…] de cestui avons oi dire / qu’il fu amis Morgant la fee, / et ce fu veritez provee.“ „[...] von ihm haben wir sagen hören, daß er der Freund der Fee Morgain war, und das war erwiesene Wahrheit.“ Ebd., vv. 2355-2358: „[…] et une grant chasuble ovree; / tote a fin or estoit brosdee, / et ce fu veritez provee / que l’uevre an fist Morgue la fee […].“ „[...] und ein Meßgewand von feiner Arbeit, das ganz mit lauterem Gold bestickt war; und es war als Wahrheit bewiesen, daß die Fee Morgain es gearbeitet hatte [...].“ Ebd., vv. 6674-6683: „Lisant trovomes an l’estoire / la description de la robe, / si an trai a garant Macrobe / qui an l’estoire mist s’antante, / qui l’antendié, que je ne mante. / Macrobe m’anseigne a descrivre, / si con je l’ai trové el livre, / l’uevre del drap et le portret. / Quatre fees l’avoient fet / par grant san et par grant mestrie.“ „Wir fanden beim Lesen in der Vorlage die Beschreibung des Gewandes, und ich ziehe als Garanten Macrobius heran, der seine Aufmerksamkeit auf die Schilderung richtete und der
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eines mittelalterlichen Textes bedeutete aus klerikaler Perspektive nicht in erster Linie eine Übereinstimmung mit der historischen Faktizität, sondern vielmehr, daß im Text die Wahrheit Gottes und des göttlichen Heilsplans präsent war.65 Diese sollte der Rezipient durch Allegorese herausarbeiten. Doch die höfischen Romane und die Lais konnten in der Forschung nicht überzeugend als Allegorien gelesen werden.66 Außerdem gibt es Hinweise darauf, daß die Wahrheitsbeteuerungen, die sich auf die Feen beziehen, ihre Existenz beglaubigen möchten. Eine der Vorlagen Chrétiens war Waces 1155 vollendeter altfranzösischer „Roman de Brut“, ein historiographisches Werk, das die Geschichte Britanniens, also auch diejenige des Königs Artus erzählt. Im „Roman de Rou“ (entstanden um 1160/7567) kommt Wace erneut auf König Artus und seine Ritter zu sprechen. Er behauptet, er habe selbst überprüft, ob das stimmt, was man über den Wald Brocéliande – den Ort der Abenteuer für Artusritter – erzählt: „Dort sah man früher Feen, wenn die Bretonen uns die Wahrheit sagen, sowie auch viele andere wunderbare Dinge. Habichtshorste hat es früher dort gegeben und ganz viele große Hirsche. Aber die Bauern haben inzwischen alles verwüstet. Ich begab mich dorthin, um wunderbare Dinge zu suchen, ich sah den Wald und ich sah das Land; ich suchte nach den wunderbaren Dingen – gefunden habe ich sie aber nicht [...].“68 Wace geht zunächst davon aus, daß die Feen seiner eigenen – vielleicht auch fiktionalen – Realität angehören müßten, und sucht sie deshalb im Wald. Darauf stützt sich auch die Wahrheit der bretonischen Berichte. Der Autor läßt jedoch Zweifel an der Existenz der Feen
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sich darauf verstand, so daß ich nicht lüge. Macrobius lehrt mich, die Arbeit des Stoffes und die Bilddarstellung zu beschreiben, wie ich sie in dem Buch gefunden habe. – Vier Feen hatten das Gewand mit großem Geschick und großer Meisterschaft verfertigt.“ Übersetzungen von Albert Gier. Wenn die Feen im „Lanval“ Maries de France zum ersten Mal in Erscheinung treten, heißt es: „L’eisnee portout uns bacins / D’or esmeré, bien faiz e fins; / Le veir vus en dirai sanz faile: / L’autre portout une tüaile.“ „Die ältere trug zwei schön gefertigte und feine Becken aus reinem Gold; ich werde euch nur [ohne Fehl] die Wahrheit darüber sagen: Die andere trug ein Handtuch.“ („Lanval“, vv. 61-64, Übersetzung von Dietmar Rieger [wie Anm. 5].) Vermutlich handelt es sich hier auch um eine Ironisierung der Wahrheitsbeteuerungen, weil diese Aussage ein kleines Detail begleitet. Wahrheitsbeteuerungen sind in den anonymen Lais in folgenden Versen anzutreffen: „Lay de Guingamor“, v. 3; „Lai de Desiré“, v. 165, „Lay de Tydorel“, vv. 381 u. 467. Vgl. Mertens: Der deutsche Artusroman (wie Anm. 63), S. 37f.; Corinna Laude: Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im „Eneasroman“ und im „Erec“. In: „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, hrsg. von Thomas Rathmann und Nikolaus Wegmann. Berlin 2004, S. 209-240, hier S. 212. Vgl. Haug: Literaturtheorie (wie Anm. 3), S. 104, S. 231; Rieger: Einleitung (wie Anm. 5); S. 1424, hier S. 38. Die Datierung der Werke Waces richtet sich nach Mertens: Der deutsche Artusroman (wie Anm. 63), S. 19, S. 23. Übersetzung der Verfasserin. „La seut l’en les fees veeir, / se li Breton nos dient veir, / et altres mer(e)veilles plusors; / aires i selt aveir d’ostors / e de grant cers mult grant plenté, / mais vilain ont tot deserté. / La alai jo merveilles querre, / vi la forest e vi la terre, / merveilles quis, mais nes trovai […].“ „Le Roman de Rou“, vv. 6387-6395. Zitiert nach der Ausgabe: Le Roman de Rou de Wace, hrsg. von A. J. Holden, 2 Bde. Paris 1970.
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aufkommen, indem er betont, daß er den Wald nicht mehr im ursprünglichen Zustand vorfindet – und entsprechend ist von den Feen keine Spur mehr zu sehen. In Anlehnung an ihren Zeitgenossen haben insbesondere Marie de France und Chrétien de Troyes in ihren Wahrheitsbeteuerungen sicherlich auf die Skepsis reagiert, mit der die Existenz der Feen betrachtet wurde. Marie de France scheint sich außerdem mit diesem Problem auseinanderzusetzen, indem sie es auf der Handlungsebene thematisiert. Lanval zweifelt an der Wahrheit seiner eigenen Begegnung mit der Fee („Lanval“ 196-200).69 Aber im Anschluß daran belegt Maries Text nicht nur, daß die Fee für Lanval existiert, sondern auch, daß sie für den Artushof sichtbar ist. Chrétien de Troyes, Marie de France sowie einige anonyme Lais-Autoren betonen also in den Wahrheitsbeteuerungen, die die Feen begleiten, daß diese wunderbaren Wesen zumindest innerhalb ihrer Dichtungen – anders als bei Wace – einen unbestreitbaren Wahrheitsstatus besitzen, der aber nicht unbedingt mit der historischen Faktizität übereinstimmen muß. Ganz anders äußert sich der Theologe Guillaume d’Auvergne um 1200: Er nimmt an, daß Feen entweder Dämonen seien oder Erfindungen und Lügen alter Frauen.70 Die Realität, der die Feen als Dämonen angehören (bzw. als Lügen gerade nicht angehören), ist diesmal die historische Faktizität und nicht mehr die Wirklichkeit eines fiktionalen Textes. Im Hinblick auf diese Aussage befinden sich die literarischen Texte selbst in Opposition zur historischen Faktizität, in der die Existenz der Feen – zumindest partiell – negiert wird. So gesehen sprechen sich die literarischen Texte selbst den Status einer Lüge zu. Und die Feen als wunderbare Wesen werden zum Si-
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Nachdem sich Lanval von seiner neuen Geliebten verabschiedet, heißt es: „Mut est Lanval en grant esfrei! / De s’aventure vait pensaunt / E en sun curage dotaunt;/ Esbaiz est, ne seit que creire, / Il ne la quide mie a veire.“ „Lanval ist in sehr großer Verwirrung! Ständig denkt er über sein Abenteuer nach und zweifelt in seinem Innern daran; er ist bestürzt, weiß nicht, was glauben, er hält es [das Abenteuer] gar nicht für wahr(haftig geschehen).“ („Lanval“, vv. 196-200, Übersetzung von Dietmar Rieger [wie Anm. 5]). Der Bischof von Paris scheint nicht recht entscheiden zu können, ob die wunderbaren Wesen, über die er schreibt, Erfindungen sind oder nicht: Eodem modo sentiendum est et de fatabus, hoc est, de falsissimis, et vanissimis deabus, quia non sunt nisi dæmones, cum aliquid sunt, et cum in veritate collocutionis eorum audiuntur, seducere intendentes eos, quibus permittuntur talia, et taliter loqui. Interdum fictiones sunt, et ad inventiones vetularum, aliquid per hujusmodi mendacia ab insipientibus obtinere volentium: quæstuositas enim, et adulatio a vetulis, et maxime pauperibus non facile recedit. Guilielmi Alverni opera omnia [De Universo I, III XXVII]. Paris 1674 (Reprint Frankfurt a.M. 1963), Bd. 1, S. 796. Vgl. dazu Laurence Harf-Lancner: Les fées au Moyen Âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées. Genf 1984, S. 54, die diese Stelle übersetzt: „C’est de la même manière qu’il faut juger les fées, c’est-à-dire les plus trompeuses et les plus vaines des déesses: elles ne sont rien d’autre en effet que des démons, quand elles sont quelque chose et quand on les entend réellement parler, des démons qui cherchent à tromper ceux qui leur permettent de les approcher et de leur parler. Parfois ce sont de pures inventions nées de l’imagination de vieilles femmes qui veulent par de tels mensonges tirer profit des sots: les vieilles femmes, surtout celles qui sont pauvres, ne renoncent pas facilement en effet au gain et aux flatteries.“
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gnal für die Besonderheit der fiktionalen Erzählungen gegenüber der Realität, die diese nur zum Teil widerspiegeln.71 Die Annahme, Gottfried könnte die Bedeutung der Wahrheitsbeteuerungen und implizit die literaturtheoretische Signifikanz der Feenfiguren in der altfranzösischen Literatur vor ihm erkannt haben, wirft ein neues Licht auf die im Bligger-Lob erwähnten inspirierenden Instanzen. Die Anrufung höherer Wesen, die Begabung verleihen bzw. dem Dichter die Inhalte vermitteln, trägt zur Legitimierung des Textes bei.72 Doch wenn nun die Feen diese Rolle übernehmen, werden die Fiktionalitätssignale zu legitimierenden Instanzen. Dichtung legitimiert sich also selbst. Diese Aussage behält ihre Gültigkeit, auch wenn man davon ausgeht, daß Gottfried nicht über die literaturtheoretische Bedeutung der Feen im Artusroman und in den Lais nachgedacht hat. Denn Feen waren für ein literarisch gebildetes Publikum Figuren aus anderen literarischen Texten. Aus der Kenntnis der Feenerzählungen schöpft, wie zu sehen war, Gottfried selbst. Wunderbare73 literarische Figuren legitimieren in diesem Fall Bliggers Dichtung.
III. Wortkunst statt Handwerk Im „Tristan“-Roman werden diu wort und der sin, die die Feen bzw. die Damen Bligger zur Verfügung stellen – vielleicht ausgehend von der Metapher des Textes als Gewebe – metaphorisch zu Stoffprodukten. Die inspirierenden Instanzen sind somit – soweit ich sehe zum ersten Mal in der mittelalterlichen Literatur – im Textilhandwerk tätig,74 genauso wie Bligger, der den umbehange verfertigt, und ähnlich wie andere Autoren, die im Literaturexkurs auftreten. „So gesehen beschwört die Dichterschau 71
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Die Fiktion steht zum Teil in Opposition zur Realität. Eine andere Definition der mittelalterlichen Fiktionalität bietet Walter Haug an: „Man kann [...] durchaus mit der historischen Wirklichkeit der arthurischen Welt rechnen […], aber auf dieses Faktum kommt es nicht an, entscheidend ist allein die Sinngebung durch das Erzählen. […] Die Wahrheit liegt in der Darstellung, das fiktionale Moment liegt in der Verfügung über den Stoff im Blick auf den im Erzählen sich realisierenden Sinn. Die Frage nach der historischen Faktizität eines Königs Artus und seiner Ritter berührt dieses fiktionale Moment nicht. Historische Faktizität und poetische Fiktion schließen sich nicht aus, sie liegen auf unterschiedlichen Ebenen.“ Haug: Die Entdeckung (wie Anm. 3), S. 138f. Vgl. Walter Haug: Autorität und fiktionale Freiheit. In: ders.: Die Wahrheit der Fiktion (wie Anm. 3), S. 115-127, hier S. 119. Ursula Schulze spricht von einer wunderbaren und dadurch hervorragenden Herkunft der Dichtkunst. Vgl. Schulze: Literarkritische Äußerungen (wie Anm. 54), S. 295. Bei Homer treffen in den Figuren Kirke und Kalypso der Status des Göttlichen, das Weben, das gleichzeitige Singen und die erotische Anziehungskraft aufeinander. Ob dieses literarische Motiv in lateinischer Überlieferung das Mittelalter erreicht hat und sich zumindest zum Teil in Gottfrieds Feen wiederfindet, wäre noch zu untersuchen. Vgl. zu Homer Schlesier: Idole und Gewebe (wie Anm. 26), S. 19.
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durch diesen Strang der Metaphernsprache gleichsam eine Schneiderwerkstatt, in der Dichter [und inspirierende Instanzen – B.T.] in verschiedenen Rollen und Phasen der Kleidervorbereitung [bzw. Textilienherstellung – B.T.] tätig sind.“75 Die Dichtung, die Gottfried im Exkurs anläßlich der Schwertleite Tristans thematisiert, ist ein Textilprodukt (bzw. stellen ihre Autoren und die Feen es im Laufe der Erzählung her), also genau das, was für die Einkleidung Tristans benötigt wird. Unter dem Vorwand, von Literatur bzw. von ihrem inspirierten Ursprung zu sprechen, stellt Gottfried in seinem Werk (metaphorisch) genau die Textilien her, die er für die Handlung bräuchte, und die er nicht beschreiben will. Umgekehrt formuliert sind die Textilien Literatur und ihre Herstellung das Dichten. Vielleicht enthält dieser Umkehrschluß auch einen Hinweis auf den Status der Gegenstände – nicht nur der Kleidungsstücke –, die in der Romanhandlung auftreten: Sie sind vermutlich nichts anderes als Dichtung. Im Literaturexkurs spricht Gottfried insbesondere seinem Vorgänger Hartmann von Aue den Dichter-Lorbeer zu. Dennoch ist dieses Lob zwiespältig: Gottfried klagt darüber, daß der höfische Prunk zerredet sei, und nennt, wie zum Zwecke eines Beispiels, gleich darauf Hartmann von Aue.76 Dieser war auch in Gottfrieds Zeit mit Sicherheit berühmt für seine descriptio des bunten Pferdes und seines Sattelzeugs, das Enite gegen Ende des „Erec“-Romans als Geschenk bekommt. Auf dem Sattel ist das Lied von Troja geschnitzt. Darauf liegt eine kostbare Decke mit den Darstellungen aller Wunder der Welt, und auf dem Sattelkissen ist die Geschichte von Tisbe und Pyramus wiedergegeben („Erec“, vv. 7545-7762).77 Dem Rezipienten wird sofort bewußt, daß 75
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Stephen C. Jaeger: Höfisches Fest und Hofästhetik in Gottfrieds ‚Tristan‘: die Dichterschau als Zelebration. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hrsg. von Wolfgang Harms, Klaus Speckenbach und Herfried Vögel. Tübingen 1992, S. 197-216, hier S. 200. Vgl. Alois Wolf: Gottfrieds Dichterschau als Versuch einer Neubegründung der deutschen Literatur aus dem Geist der Mythe von Tristan und Isolde. In: ders.: Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur, hrsg. von Martina Backes, Francis G. Gentry und Eckart Conrad Lutz. Tübingen 1999, S. 339-363, hier S. 354. Die Versangaben und das Zitat richten sich nach der Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer. Frankfurt a.M. 1972. Gottfrieds Schilderung der Schwertleite Tristans unterscheidet sich von Hartmanns Sattelbeschreibung, weil er eben keine descriptio anbietet. Anstelle der descriptio fügt Gottfried eine Literaturgeschichte ein. Hartmanns Sattelbeschreibung gilt in der heutigen Forschung auch als „Literaturgeschichte in Bildern“, weil der Autor auf literarische Stoffe Bezug nimmt. Vgl. Barbara Haupt: Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im „Erec“ Hartmanns von Aue. In: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Klaus Matzel und Hans-Gert Roloff. Bern u.a. 1989, S. 202-219, hier S. 217. Zur literaturtheoretischen Bedeutung des Pferdes und des Sattels in Hartmanns Text vgl. auch Bernd Schirok: Ein rîter, der gelêret was. Literaturtheoretische Aspekte in den Artusromanen Hartmanns von Aue. In: Ze hove und an der strâzen: die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr „Sitz im Leben“. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, hrsg. von Anna Keck und
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solche Artefakte wie der Sattel, das Kissen und die Decke, auf denen so viel abgebildet ist, nur eine literarische Vorstellung sein können, der nichts in der Wirklichkeit entspricht. Trotzdem beteuert Hartmann ironisch, daß der Sattel, der wahrscheinlich metonymisch für den ganzen Schmuck des Pferdes steht, besser gemacht worden sei, als er, Hartmann, ihn überhaupt denken, ihn sich ausdenken konnte (baz dan ichs hân gedâht, „Erec“, v. 7757). Angenommen, Gottfried von Straßburg habe die Ironie Hartmanns nicht verstehen wollen – weil sich wörtlich aufgefaßte Aussagen von Gegnern leicht als Stein des Anstoßes anbieten –, dann kann Gottfrieds Literaturexkurs als Gegenprogramm zu Hartmann verstanden werden. Hartmann (wörtlich verstanden) täuscht die Existenz des Erzählgegenstandes außerhalb des literarischen Textes vor und beteuert, daß die Dichtung ihren Gegenstand nicht übertreffen könne. Genau das Gegenteil deutet Gottfried an: Er weigert sich, einen Gegenstand der Handlung (Tristans Kleidung) zu beschreiben, und erschafft ihn, bzw. läßt ihn erschaffen, indem er über das Dichten seiner Vorgänger – und im Falle Bliggers über die Arbeit der innerliterarischen, inspirierenden Instanzen – berichtet. Während Hartmann durch die Fülle der Bilder seinem Rezipienten signalisiert, daß der Gegenstand seiner Pferde-descriptio genuin literarisch ist, identifiziert Gottfried die Dichtung mit den in der Handlung benötigten Textilien und weist dadurch genau auf das gleiche hin. In der Passage über den vielleicht erfundenen Autor Bligger von Steinach koexistieren die Vorstellungen vom inspirierten Dichter und vom Dichter als Handwerker. Auch wenn sie sich nicht unbedingt ergänzen, versinnbildlichen sie zwei Aspekte des dort thematisierten literarischen Produktes: Dichtung legitimiert sich selbst, und sie richtet sich in der Darstellung ihrer Gegenstände nicht nach Vorbildern im Außertextlichen, sondern sie erschafft sie selbst. Die Urheber dieser literarischen Produktion sind wiederum zum einen Dichter, zum anderen innerliterarische Instanzen, die in anderen Texten als Fiktionalitätssignale fungieren, und letztlich ist es Gottfried selbst, der die Textilien als Metaphern für die Werke seiner Vorgänger dichterisch entwirft. Vermutlich charakterisieren diese Aspekte des literarischen Schaffens und seiner Resultate die Vorstellung Gottfrieds von der eigenen Kunst, oder sie stellen vielleicht in seinen Augen die Utopie dichterischer Produktivität dar.
Theodor Nolte. Stuttgart / Leipzig 1999, S. 184-211, hier S. 201-205; Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin / New York 2003, S. 168-179; Laude: Quelle als Konstrukt (wie Anm. 65), S. 217-233.
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Literaturverzeichnis Quellen Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg, hrsg. von Adelbert von Keller. Stuttgart 1858. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd I: Texte. Stuttgart 381988. Gottfried von Straßburg: Tristan. Translated, with an introduction by A. T. Hatto. Edinburgh 1960. –: Tristan. Traduit par Danielle Buschinger et Jean-Marc Pastré. Göppingen 1980. –: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde. Stuttgart 1993. –: Tristan. Übersetzt von Xenja von Ertzdorff, Doris Scholz und Carola Voelkel. München 1994 (2. Auflage). –: Tristan. Band 2: Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung in das Werk von Tomas Tomasek. Berlin / New York 2004. –: Tristan und Isolde. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und erläutert von Günter Kramer. Berlin o.J. Guilielmi Alverni opera omnia. Paris 1674 (Reprint Frankfurt a.M. 1963). Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer. Frankfurt a.M. 1972. –: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer. Berlin / New York 42001. Lais féeriques des XIIe et XIIIe siècles. Présentation, traduction et notes par Alexandre Micha. Paris 1992. Le Roman de Rou de Wace, hrsg. von A. J. Holden, 2 Bde. Paris 1970. Marie de France: Die Lais. Übersetzt, mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger unter Mitarbeit von Renate Kroll. München 1980. Renaut de Beaujeu: Le Bel Inconnu. Roman d’Aventures édité par G. Perrie Williams. Paris 1929. Sancti Aurelii Augustini: De Trinitate, hrsg. von W. J. Mountain und Fr. Glorie, 2 Bde. Turnholti 1968.
Sekundärliteratur Allgemeines: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart 2000-2005. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 91999. Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart 2003. Hans Fromm: Tristans Schwertleite. In: ders.: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 155-172. Barbara Haupt: Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im „Erec“ Hartmanns von Aue. In: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Klaus Matzel und Hans-Gert Roloff. Bern u.a. 1989, S. 202-219. Werner Hoffmann: Bligger von Steinach als Dichter des Nibelungenliedes? Zu Peter Honeggers neuer These. In: ZfdPh 112 (1993), S. 434-441.
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Beatrice Trinca
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Feen: Brigitte Burrichter: Die narrative Funktion der Feen und ihrer Welt in der französischen Artusliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2003, S. 281-296. Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade. Trier 1999. Laurence Harf-Lancner: Les fées au Moyen Âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées. Genf 1984.
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Dichter als inspirierte Handwerker?
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Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. In: DVjs 54 (1980), 581-611.
ANNETT VOLMER
Intertextuelle Produktivität. Inspiration, Legitimation und Texttradition bei Isabella Andreini und Moderata Fonte
Kunsthaftes Produzieren bedurfte in der Frühen Neuzeit der enthusiastischen Inspiration, des furor poeticus, und der Beherrschung der entsprechenden künstlerischen Techniken, um dem Zweck ihrer nachbildenden Verwendung, der Mimesis, gerecht werden zu können. Die komplexen Wechselwirkungen von Inspiration und Nachahmung in der poetologischen Diskussion der Zeit wie auch in der praktischen Umsetzung des literarischen Textes förderten ein Verständnis von Produktivität zutage, das sich zunehmend durch Individualität und Eigenständigkeit auszeichnete. Daß diese literarische Produktivität auch genderspezifische Implikationen aufwies, wird dieser Aufsatz verdeutlichen. Für die folgenden Ausführungen sei daher eine Überlegung vorausgeschickt: Die Autorinnen des 16. Jahrhunderts verfügen über einen ästhetischen Gestaltungswillen sowie poetologische Kenntnisse und suchen diese in ihren Texten umzusetzen.1 In der Forschung wird das gern übersehen, und aufgrund der von den Autorinnen lancierten Gründe für ihren Schritt in die Öffentlichkeit erhalten die lebenspraktischen Motive eine vordergründige Legitimationsbedeutung, die selten hinterfragt wird.2 Die gesellschaftliche Rollenskala, auf der Frauen als Autorinnen einen Platz zugewiesen bekamen, war restriktiv und häufig durch persönliche Beziehungen oder die finanzielle und soziale Situation der Familie bestimmt. Man kann davon ausgehen, daß Autorinnen, die zu Lebzeiten ein oder mehrere Werke in den Druck geben konnten, keine gesellschaftlichen Außenseiterinnen waren, sondern daß sie spezifische 1
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Vgl. dazu demnächst Annett Volmer: Die Ergreifung des Wortes. Autorstatus und Gattungsbewußtsein in Texten italienischer Autorinnen des Secondo Cinquecento [erscheint im Winter Verlag, Heidelberg 2008]. Ein sehr plastisches Beispiel hierfür ist die römische Autorin Tullia d’Aragona, deren Autorschaft massiv angezweifelt wurde, weil sie eine Kurtisane war. D’Aragona sollte in Florenz einem Gesetz unterstellt werden, das sie zum Tragen des gelben Schleiers der Prostituierten verpflichtete. Um dieser öffentlichen Stigmatisierung zu entgehen, habe sie zwei literarische Werke (die „Rime“ und den „Dialogo dell’infinità d’amore“) unter ihrem Namen veröffentlicht; die tatsächlichen Autoren seien indes in ihrem Umkreis zu suchen. Vgl. dazu Volmer: Ergreifung des Wortes (wie Anm. 1) und Francesco Bausi: „Con agra zampogna“. Tullia d’Aragona a Firenze (1545-1548). In: Schede umanistiche 2 (1993), S. 61-91.
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Strategien entwickelten, um sich innerhalb eines literarischen Marktes zu positionieren. Die Integration in ein literarisches Umfeld war die Voraussetzung, um ein Werk überhaupt publizieren zu können, denn ohne männliche Befürworter war dieser Schritt so gut wie unmöglich.3 Die Probleme weiblicher Produktivität entstehen nämlich hauptsächlich aus einer biographisch fundierten Rezeption ihrer Werke. Die empirische Seinsweise der Autorin rückt dabei in den Vordergrund vor den Text, welcher dadurch nur im Rückgriff auf ihre Biographie interpretierbar zu sein scheint und somit stets eine autobiographische Dimension impliziert. Ein typisches Beispiel für die beschriebene Wahrnehmungsweise stellte Isabella Andreini dar, die in erster Linie als Schauspielerin im späten 16. Jahrhundert berühmt geworden ist, und deren Texte aus genau diesem Grund als Metapher ihrer schauspielerischen Erfahrungen gelesen werden.4 Der ästhetische Eigenwert eines Textes gerät somit aus dem Blick, und insbesondere über die intertextuelle Produktivität gilt es, diesen Eigenwert im Folgenden wieder einzuholen. Im ersten Teil der nun folgenden Ausführungen zum Werk von Isabella Andreini sollen die Probleme weiblicher literarischer Produktivität im 16. Jahrhundert aus einer theoretischen Sicht beleuchtet werden. Die leitenden Fragestellungen betreffen die Wege und Formen, die die Autorinnen suchten, um ihre fehlende Autorität zu kompensieren. Wie wurde geistige Produktivität legitimiert; auf welche Art und Weise konnten die Autorinnen ihr literarisches Können zeigen? Ich konzentriere mich hierbei auf die theoretische Reflexion einer Autorin, Isabella Andreini, über den Anteil von weiblicher, literarischer Produktivität innerhalb des Spannungsfeldes von Nachahmung und Inspiration und schließe eine Untersuchung der praktischen Umsetzung intertextueller Produktivität an. Am Beispiel des Ritterromans „Tredici canti del Floridoro“ der venezianischen Autorin Moderata Fonte läßt sich die Wechselwirkung von Inspiration, Legitimation und Texttradition besonders eindrücklich herausstellen, weil die Autorin neben den zeitgenössisch verbindlichen Referenzsystemen, wie z.B. Ariosts „Orlando furioso“ eines war, mit dem höfischen Roman Chrétiens de Troyes auch auf eine Texttradition verweist, die unsere heutige Rezeption rinascimentaler Texte häufig aus dem Blick verloren hat.
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Vgl. Olwen Hufton: Frauenleben. Eine europäische Geschichte 1500-1800. Frankfurt a.M. 1980; Margret L. King: Frauen in der Renaissance. München 1993. Vgl. z.B. Britta Brandt: Das Spiel mit Gattungen bei Isabella Canali Andreini, 2 Bde. Wilhelmsfeld 2002.
Intertextuelle Produktivität
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I. Inspiration als Legitimation der literarischen Produktion bei Isabella Andreini? In Platons „Ion“ steht das Modell des inspirierten Dichters im Zentrum des Dialogs und ist damit eine der frühesten Reflexionen über literarische Autorschaft.5 Der Autor ist hier ein unbewußtes Medium, das lediglich den Text in seiner Materialität hervorbringt. Der Ursprung einer dichterischen Äußerung liegt jedoch nicht im Dichter selbst, sondern in einer göttlichen Instanz. Ion: […] Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn solange er diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen. Wie sie nun nicht durch Kunst dichtend vieles und Schönes über die Dinge sagen, eben wie du über den Homeros, sondern durch göttliche Schickung […] Nämlich nicht durch Kunst bringen sie dieses hervor, sondern durch göttliche Kraft. […] [D]aß der Gott selbst es ist, der sagt, und daß er nur durch diese [Orakelsänger, Wahrsager – 6 A.V.] zu uns spricht.
Die göttliche Inspiration aus der platonischen Tradition wurde in den poetologischen Traktaten der Renaissance zum eigentlichen Signum der Dichtkunst.7 Im Unterschied zu allen anderen Künsten und Wissenschaften war die Dichtkunst nicht erlernbar und ihr Wesen somit göttlichen Ursprungs. Cristoforo Landino bezeichnet den Dichter demzufolge als Schöpfer einer eigenen Welt, als secundus deus.8 Dieser dichterische Schöpfungsakt, die inventio, wird begleitet von dem dem Menschen eigenen Nachahmungstrieb, der aristotelischen Mimesis, die ebenfalls einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Dichtung hat.9 Erst im Verein mit der Mimesis schafft die individuelle Imaginationskraft neue Erkenntnisse und Einsichten. Der Anteil des Wissens an der Dichtkunst ist im Cinquecento jedoch umstritten. Während für die Neuplatoniker die dichterische Produktion keine Sache des Wissens ist, sondern der göttlich inspirierten Begeisterung, lehnt beispielsweise Leonardo Salvati (1540-1589) als Verfechter eines rationalen Kunstverständnisses die Berufung auf Platons Inspirationslehre und den furor poeticus als lä5 6 7 8
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Platon: Ion. In: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hrsg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 1977, Bd. 1, S. 1-39. Ebd., S. 17. Sabrina Ebbersmeyer: Sinnlichkeit und Vernunft. Studien zur Rezeption und Transformation der Liebestheorie Platons in der Renaissance. München 2002. Rudolf Baehr: Zur Hierarchie der Dichtung und der bildenden Künste in der Traktatliteratur der italienischen Renaissance. In: Italia Viva: Studien zur Sprache und Literatur Italiens. Festschrift für Hans Ludwig Scheel, hrsg. von Willi Hirdt und Reinhard Klesczewski. Tübingen 1983, S. 101-110. Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. München 2000, S. 37-52. Christoph J. Steppich: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance. Wiesbaden 2002.
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cherlich und anmaßend ab.10 In diesem Kontext unterschiedlicher Meinungen wird die weibliche Produktivität, wie dies bei Isabella Andreini sichtbar werden wird, hauptsächlich durch den Anschluß an männliche, kanonisierte und innerhalb des literarischen Diskurses akzeptierte Autoritäten legitimiert. Wichtigstes Instrument für diesen Legitimationsdiskurs sind die Paratexte, die das gedruckte Werk begleiten: Vorworte, Widmungsbriefe und Leseransprachen.11 Bisher liegen keine Studien zu Fragen der weiblichen Inspiration und dichterischen Produktivität vor. Isabella Andreini betont jedoch in ihren Ausführungen sehr explizit den Geschlechterunterschied, indem sie formuliert „Io come donna…“. Ähnliche genderspezifische Argumentationen sind auch bei anderen Autorinnen zu finden, z.B. bei Maddalena Campiglia oder Chiara Matraini. Der folgende Beitrag stellt in diesem Sinne einen ersten Versuch dar, die Positionen der Autorinnen in der zeitgenössischen Debatte zu verorten. Isabella Andreini beschreibt ihren Wunsch nach Erkenntnis und Wissen mit dem Rückbezug auf Aristoteles als ein natürliches, angeborenes und in ihrem Fall stärker als bei anderen Frauen ausgeprägtes Bedürfnis: „[...] che ogn’uno che nasce, nasce con desiderio di sapere; […] & essendo per avventura questo desiderio di sapere nato in me più ardente, che in molt’altre donne dell’età nostra“.12 Bei dieser Selbstbeschreibung bezieht sie sich auf den ersten Satz der aristotelischen Metaphysik13 und fundiert das Menschsein auf der Grundlage von Erkenntnis: „chiamasi l’huomo (mercè del sapere)“.14 Ihr Wunsch nach Wissen und Kultivierung ihres Geistes stehen im Mittelpunkt zweier Widmungsbriefe zu ihren Werken „La Mirtilla“, einem Schäferdrama aus
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I.L. Zupnick: Imitation or Essence: The dilemma of Renaissance Art. In: Platon et Aristote à la Renaissance. XVIe Colloque international de Tours, hrsg. v. Centre National de la Recherche scientifique. Paris 1976, S. 469-479. Vgl. dazu Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M. 2001. Gabriele Jancke: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln 2002, S. 141-152. Sabine Vogel: Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit. Die Vorworte der Lyoner Drucke des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1999. Gabriele Schramm: Widmung, Leser und Drama. Untersuchungen zu Form- und Funktionswandel der Buchwidmung im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg 2003. Isabella Andreini: Al Serenissimo Don Carlo Emanuele Duca di Savoia. In: dies.: Lettere. Venetia 1617, S. [1]-[2]. Seitenzahlen in eckigen Klammern bedeuten, daß keine Seitenzählung vorliegt und die Angaben auf meiner eigenen Auszählung beruhen. „Omnes homines scire natura desiderant.“ Aristoteles: Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, hrsg. von Horst Seidel. Hamburg 1978, S. 3. Andreinis Kenntnis der aristotelischen Schriften war weitaus größer, als es hier sichtbar wird. Nachweislich kannte sie seine „Poetik“ und verarbeitete diese auch in ihren Texten, beispielsweise in dem „Contrasto sopra la comedia“ und dem „Contrasto sopra la tragedia & il poemo heroico“. In: Isabella Andreini: Fragmenti di alcune scritture, raccolti da Francesco Andreini, comico geloso detto il Capitano Spavento e dati in luce da Flamminio Scala Comico. Venetia, Gio. Battista Combi 1617, S. 68-75, S. 81-85. Andreini: Al Serenissimo (wie Anm. 12), S. [2].
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dem Jahr 1588, und den „Lettere“ (Erstausgabe von 1607).15 Die Autorin untersucht hier das Phänomen der weiblichen Inspiration vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen einer auf den Dichter ausgeübten, speziellen göttlichen Einflußnahme. Diese beiden Widmungsbriefe bilden die Grundlage, um ihre kreative und produktionsorientierte Inspiration überzeugend und angemessen legitimieren zu können.16 Mit ihren Studien, so Andreini, habe sie „quasi da scherzo“ begonnen, doch mündeten diese „per avventura troppo ardita“ in ein Unternehmen, das weder ihrem Geschlecht noch ihrer Herkunft angemessen scheine.17 Andreinis über sich selbst erstaunte und zugleich zur Schau gestellte passive Haltung verweist auf die Präsenz einer gewissen inneren Kraft, die von Gott her in ihre Seele eingeflößt worden sei, und die letztlich das Werk „La Mirtilla“ hervorgebracht habe. Die eigens betriebenen Studien charakterisiert sie daher als etwas Spielerisches, Natürliches, sogar Unernstes, das den eigenen Text zu unterminieren sucht. Jede Erklärung, die diese Argumentationsstrategie auf den traditionellen Bescheidenheitstopos reduzieren will, greift zu kurz. Denn ganz davon abgesehen, daß „La Mirtilla“ ein perfekt durchkomponierter, sprachlich ausgefeilter und origineller Text ist, beinhalten diese einleitenden Ausführungen der Autorin Reflexionen über das Ingenium, das schöpferische Vermögen des Dichters, das aus poetologischer Sicht den „natürlichen“ Griff der Autorin zur Feder erklären soll.
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Das Schäferdrama „La Mirtilla“ gehört zu den auflagenstärksten Werken der Autorin. Es erschien in neun Auflagen: Isabella Andreini: La Mirtilla. Favola pastorale. Verona, Girolamo Discepolo 1588 (weitere Ausgaben: Verona, Sebastiano dalle donne e Camillo Franceschini 1588; Ferrara, Vittorio Baldini 1590; Mantova, Francesco Osanna 1590; Bergamo, Comin Ventura 1594; Venezia, Marc’Antonio Bonibelli 1598; Verona, Francesco dalle Donne e Scipione Vargnano 1599; Venezia, L. Spineda 1602; Milano, G. Bordoni e P. Locarno 1605; Venezia, D. Imberti 1616 [und 1620]). Auch ihre „Lettere“ waren ein rezeptionsintensives Werk: Isabella Andreini: Lettere. Venetia, Zaltieri 1607 (weitere Ausgaben: 1612, 1617, 1620, 1625, 1627, 1628, 1634, 1638, 1647, 1663). Brandt: Spiel mit Gattungen (wie Anm. 4) bezweifelt in ihrer Edition der „Lettere“, daß der Widmungsbrief an den Herzog von Savoyen tatsächlich von Isabella Andreini stammt und vermutet, daß der Ehemann Francesco Andreini diesen Widmungsbrief verfaßt habe. Dafür führt sie als Begründung das angegebene Datum der Abfassung (14. März 1607) an, das nach dem Todesjahr der Autorin (1604) liegt. Eine nicht ausreichende Begründung, zumal Argumentation, Stillage und intertextuelle Versatzstücke durchaus eine argumentative Fortführung des „Mirtilla“Widmungsbriefes an Lavinia de la Rovere nahelegen. Meiner Ansicht nach stammt der Widmungsbrief an den Herzog Carlo Emanuele aus der Feder Isabella Andreinis, die Edition ihrer Briefe kam jedoch erst nach ihrem Tod zustande und wurde von Francesco Andreini betreut. Das war in der Renaissance eine verbreitete Praxis, wenn man die zahlreichen postum veröffentlichten Werke von Autorinnen wie Tullia d’Aragona, Olimpia Morata oder Maddalena Salvetti Acciaiuola berücksichtigt, die zumeist ebenfalls unter der Ägide des Ehemannes oder eines Vertrauten vollbracht wurden. Isabella Andreini: Alla illustrissima ed eccellentissima Signora la signora donna Lavinia de la Rovere Marchesa del Vasto. In: dies.: La Mirtilla, hrsg. von Maria Luisa Doglio. Lucca 1995, S. 33.
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Isabella Andreini beginnt mit der Feststellung, daß sie von Natur aus nicht mit intellektuellen Gaben ausgestattet worden sei, ihr habe der Himmel ingegno verweigert. Metaphorisch vergleicht sie ihre Ausgangslage mit denjenigen, die „nati & allevati nell’Alpi nevose o campi sterili“ (S. 33) seien, und kennzeichnet ihren Ausschluß durch die Geburt immer als einen doppelten Ausschluß in sozialer und geschlechtsspezifischer Hinsicht. Nur mit Fleiß und Wissenserwerb werde sie den Mangel an natürlichem Talent und produktiver Schöpferkraft wettmachen können, denn sie gehöre zu denjenigen, die nicht aufgeben, unfruchtbare Felder („campi sterili“) zu bestellen, um sie fruchtbar zu machen (S. 33).18 Hier wird bereits die Problematik der ingegnoVorstellung bei Andreini deutlich: Für sie ist die Vernunft nicht etwas rein natürlich Gegebenes, sondern der durch die Natur bedingte Mangel ist durch eigenes, produktives Bemühen wettzumachen. Das, was ihr die Natur verweigert hat, nämlich die intellektuellen Gaben, läßt sich durch Fleiß und Wissensaneignung beheben. In diesem Sinn ist auch die Landwirtschaftsmetaphorik zu verstehen, denn selbst felsiges und ödes, brachliegendes Land gibt bei entsprechenden Bemühungen einen Ertrag ab. In beiden Widmungsbriefen greift Andreini die Diskussion über den furor poeticus auf und versucht, sich über diese Diskussion eine Legitimation als Autorin zu verschaffen. Der Inspirationslehre oder dem Topos vom göttlichen Wahn des Dichters liege der Gedanke zugrunde, daß die Produktivität und Kreativität des Dichters weit über sein bewußtes Können und Schaffen hinausgehe. Dichtung ist demzufolge etwas nicht zu Erzwingendes und die Dichtkunst selbst etwas nicht vollständig Lehr- und Vermittelbares. Nur dank der Inspiration, dem furor, gelange der Dichter zu seinem Werk. Die religiöse Motivation der Inspiration schwindet in der Frühen Neuzeit, doch es bleibt mit der mania die Präsenz des Göttlichen und des Überirdischen. Allein durch Nachahmung und Ausbildung könne jedoch niemand zu einem echten Künstler werden.19 Andreini diskutiert nun diese Gewichtung des Talents (ingegno) und der dichterischen Kenntnis der Regeln und Vorbilder. Dabei nivelliert sie die traditionelle Gegenüberstellung von Ingenium und Wissen im Sinne von Kunstfertigkeit (ars), indem sie ausführt, daß der menschliche Verstand etwas zu Göttliches sei („l’ingegno umano cosa troppo divina“, S. 33), als daß er durch ständigen Müßiggang beschädigt werden dürfe. Sie begreift das Ingenium als ein jedem Menschen dargebrachtes, göttliches Geschenk und nicht als eine Gnade für wenige Auserwählte. Seit Augustinus und Bonaventura sei die theologische Lehrmeinung, daß jede individuelle Menschenseele von Gott direkt erschaffen worden sei, akzeptiert.
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Der gepflügte und planmäßig bebaute Acker als Metapher für die Einhaltung der Regeln der Kunst ist verbreitet und findet sich beispielsweise bei Scaliger, vgl. R.J. Clemens: Literary Theory and Criticism in Scaliger’s Poemata. In: Studies in Philology 51 (1954), S. 561-584. Zum Topos vom göttlichen Wahnsinn des Dichters vgl. Otto Pöggeler: Dichtungstheorie und Toposforschung. In: Toposforschung, hrsg. von Max L. Baeumer. Darmstadt 1973, S. 22-134, hier S. 31-44.
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Boccaccio bezeichnet in den „Genealogie“ die schöpferische Kraft als „fervor ingenii“, die allen Menschen gemein ist, und die im Dichter zu einem außergewöhnlichen Drang zum sprachlichen Erfinden und Gestalten führt.20 Das labile Gleichgewicht zwischen Ingenium und ars, wie es in der zeitgenössischen Debatte sich spiegelt, stärkt Andreini auf der Seite der ars. Denn jene Vorstellungs- und Erfindungsgabe, als welche das ingegno verstanden wurde, sei bei ihr – traditionellerweise – kaum ausgeprägt: „e come dal Cielo mi sia stato negato ingegno atto a sì alto e nobile esercizio […]“.21 Erasmus plädierte bereits für einen vernünftigen Ausgleich zwischen der imitatio und der auf das Ingenium gestützten inventio. Die Natur habe jedem Menschen ein individuelles ingegno zugeteilt, denn kein Mensch gleiche dem anderen. Die menschliche Vielfalt und individuelle Einzigartigkeit sprächen ebenfalls dafür.22 Andreini erweitert diese humanistische Position auf ihr Geschlecht und versucht mit ihren Texten nachzuweisen, daß das ingegno kultivierbar und entwicklungsfähig sei. Sie fährt in diesem Zusammenhang fort: e come dal Cielo mi sia stato negato ingegno atto a sì alto e nobile essercizio, non per questo mi son’io sgomentata, anzi mi sono ingegnata d’assomigliarmi a quelli, che nati e allevati 23 nell’Alpi nevose o campi sterili […].
Mit ihren metaphorischen Setzungen der „Alpi nevose“, der „campi sterili“ und dem „perpetuo silenio, a guisa che le bestie fanno“ entwirft sie ein Gefängnis der natürlichen Determiniertheit, dem sie durch Wissenserwerb zu entkommen sucht. Indem sie jenen Keim des ingegno zur Ausbildung bringt, kann sie sich über ihre natürliche Ausgangssituation erheben. Sie will nicht im Zustand des reinen Konsums verharren („le bestie […] non sono buoni ad altro che a consumar quello che dalla natura o dalla terra è prodotto“),24 sondern dank ihres literarischen Werkes sich üben und vervollkommnen. Andreini macht sichtbar, wie die Kultivierung des ingegno zu einer weiblichen, neuzeitlichen Subjektivität führen kann und darüber hinaus ein Zeugnis weiblicher Selbstreflexion darstellt, die sich aus den sozialen und geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen zu befreien sucht. Zugang zum Tempel der Unsterblichkeit und des Ruhmes verschafft demzufolge nicht die Zeugung von Nachkommen, sondern der Erkenntnisdrang des Menschen. Dieser Wissensdurst läßt den Menschen zu einem irdischen Gott werden. Die Autorin drückt auf diese Weise ihren Wunsch nach Ruhm und Unsterblichkeit aus. Fernab jeden Müßigganges habe sie ihr Leben nicht in einem ständigen Schlafzustand verbringen wollen, sondern gemäß ihren Pflichten als Bürgerin
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S. dazu Steppich: Numine afflatur (wie Anm. 9), S. 111-126. Andreini: Alla illustrissima (wie Anm. 17), S. 33. Vgl. auch M. Kienpointner: Art. „Inventio“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gerd Ueding. Darmstadt 1998, Bd. 4, Sp. 561-587, hier Sp. 574-578. Andreini: Alla illustrissima (wie Anm. 17), S. 33. Ebd.
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Annett Volmer
(„Cittadina del Mondo“)25 stets danach getrachtet, ihrem Vaterland so viele Wohltaten wie nur möglich zu erbringen. Mit ihrer Neuschöpfung der „Cittadina del Mondo“ reformuliert sie Albertis Modell des buon cittadino, der gleichermaßen in der Öffentlichkeit und im Privaten agiert.26 Der Dienst für das Vaterland, der sich in ihren literarischen Produktionen niederschlägt, widerspricht der geschlechtertypischen Beschränkung der Frau auf die inneren Angelegenheiten der Haushaltsführung. Andreinis deutliche Abkehr von der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung manifestiert sich im Vorwurf an die Frauen ihrer Epoche, die zwar umfangreiche Studien betrieben haben, aber trotzdem bei Nadel, Spinnrocken und Garnwindel ausharrten: […] essendo per avventura questo desiderio di sapere nato in me più ardente, che in molt’altre donne dell’età nostra, lequali come che scuoprano in virtù degli studi molte, e molte esser divenute celebri, & immortali, nondimeno vogliono solamente attender […] 27 all’ago, alla conocchia, & all’arcolaio.
Andreini benutzt darüber hinaus den Topos, der für gewöhnlich im Exordium weit verbreitet ist, nämlich, daß der Besitz von Wissen auch zur Mitteilung verpflichte.28 Das paulinische Schweigegebot verbietet den Frauen jedoch genau diesen öffentlichen Auftritt, wodurch deutlich wird, daß Andreini auf einen Topos zurückgreift, der durch das Geschlecht des Verfassers seine Toposhaftigkeit einbüßt und damit die primäre Bedeutungssetzung wieder einen semantischen Wert erhält. Sie instrumentalisiert eine traditionelle Legitimationsstrategie der Wortergreifung für ihre Belange und formuliert damit einen ihr zeitgenössisch nicht zustehenden Anspruch auf öffentliche Präsenz. Andreini strebt nach einer Ausweitung des Aktionsradius der Frau über die häusliche Umgebung hinaus und will sich nicht mit Ludovico Dolces Zuschreibungsbereich für Frauen, denen „[il] governo della casa“29 obliege, bescheiden, sondern die Erweiterung auf das Vaterland vornehmen: „sapend’io, che ogni buon Cittadino è tenuto, per quanto può, a beneficar la sua Patria“.30 Sie habe nämlich ihre gesamte Kraft eingesetzt, um ihr Wissen zu präsentieren und dies, obwohl das Schicksal bei ihrer Geburt nicht die Bedingungen dafür geschaffen habe. Zwei vordergründige Reflexionen sind abschließend als neuartig hervorzuheben: Zum einen ist Andreini der Schritt vom Studium der Literatur zur eigenen literarischen Pro25 26 27 28 29 30
Der Kontext des Zitats lautet: „hor essend’io stata dalla bontà del Sommo Fattore mandata ad esser Cittadina del Mondo“. Andreini: Al Serenissimo (wie Anm. 12), S. [2]. Leon Battista Alberti: I libri famiglia (1432-1434), hrsg. v. Ruggiero Romano und Alberti Tenenti. Turin 1969, S. 223. Andreini: Al Serenissimo (wie Anm. 12), S. [2]. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Tübingen / Basel 11 1983, S. 97. Lodovico Dolce: Dialogo della Institution delle Donne, da lui medesimo nuovamente ricorretto, et ampliato. Vinegia, appresso Gabriel Giolito de Ferrari 1547, S. 18b. Andreini: Al Serenissimo (wie Anm. 12), S. [3].
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duktivität gelungen. Zum anderen ist sie mit ihrer literarischen Entwicklung einen Weg gegangen, der Frauen aus unteren sozialen Schichten – und Schauspieler zählten zu der untersten Klasse in der Sozialhierarchie – üblicherweise verschlossen blieb. Sie beschrieb ihren Aufstieg von der Analphabetin zur Schriftstellerin („à pena sapea leggere […] mi diedi à comporre la mia Mirtilla“)31 und nahm damit eine Nobilitierung ihres Intellekts und in einem größeren Zusammenhang des weiblichen ingegno im allgemeinen vor.
II. Intertextuelle Produktivität als Texttradition: Moderata Fontes „Tredici canti del Floridoro“ Die praktische Umsetzung dieser theoretischen Reflexion über das Spannungsverhältnis von Produktivität und Inspiration läßt sich exemplarisch am Werk der venezianischen Autorin Moderata Fonte (1555-1592) nachvollziehen. 1581 hat sie den Romanzo „Tredici canti del Floridoro“, mit dem sie sich unmittelbar in die Tradition des „Orlando furioso“ von Ludovico Ariost einschreibt, in Venedig in der Druckerei Rampazetto publiziert.32 Die intertextuelle Produktivität, die die Autorin in diesem Text demonstriert, ist augenscheinlich, wurde jedoch bisher nicht eingehender reflektiert. Daher soll im folgenden zum einen nachgewiesen werden, wie Fonte auf die Ariostsche Vorlage Bezug nimmt, und zum anderen ein völlig neuer intertextueller Referenzrahmen des Textes konturiert werden: die mittelalterlichen Ritterromane Chrétiens de Troyes.33 Moderata Fontes „Tredici canti del Floridoro“ erschien im gleichen Jahr wie Tassos „Gerusalemme liberata“. Daher ist es unwahrscheinlich, daß die Autorin Tassos Werk zur Kenntnis nehmen konnte. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, so verwei31 32
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Andreini: Alla illustrissima (wie Anm. 17), S. 33. Moderata Fonte: Tredici canti del Floridoro. Venezia [eredi Rampazetto] 1581. Einen soliden biographischen Überblick einschließlich der Vorstellung der Werke der Autorin hat Margarete Zimmermann verfaßt: Moderata Fonte. In: Frauen der italienischen Renaissance: Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen, hrsg. von Irmgard Osols-Wehden. Darmstadt 1999, S. 99-109. Zum nicht unproblematischen Bereich der Intertextualität in der Frühen Neuzeit siehe inbesondere: Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtklitterung. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt a.M. 1994, S. 63-109. Rainer Warning: Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca und Baudelaire. In: Interpretationen: das Paradigma der europäischen RenaissainceLiteratur. Festschrift für Noyer-Weidner, hrsg. von Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn. Wiesbaden 1983, S. 288-317.
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sen markante strukturelle Textelemente des „Floridoro“ eindeutig auf die RomanzoTradition in der Nachfolge Ariosts.34 Fontes Zugriff auf eine in den zeitgenössischen poetologischen Diskussionen kritisierte, nicht mehr aktuelle Gattung ist als eine genderspezifische imitatio-Voraussetzung anzusehen. Der These von der Fortentwicklung des Romanzo, der schließlich im klassischen Epos à la Tasso seine Vollendung fand, steht ein Text wie Fontes „Floridoro“ entgegen, der sehr eindrücklich die Distanzierung vom klassischen Romanzo à la Ariost anstrebt, ohne eine signifikante Annäherung an das Heldenepos zu vollziehen. Über die Textentstehung des „Floridoro“ lassen sich aus den historischen Umständen einige Schlußfolgerungen ziehen: Abfassung und Publikation könnten relativ zeitnah erfolgt sein, denn die (inoffizielle) Eheschließung zwischen Bianca Capello und Francesco de’ Medici, den beiden Widmungsadressaten, im Jahr 1578 kann durchaus den Anlaß für die Niederschrift des Romanzo geboten haben. Fonte hat eine Aufwertung des zweifelhaften Rufes von Bianca Capello beabsichtigt, woraus eine weitere Motivation für eine zügige Fertigstellung des Textes entstanden sein kann.35 Die vorangestellten Widmungsgedichte nutzt die Autorin daher für die Glorifikation des Herrscherehepaares: […] e nova Teßino Istoria in lingua atta, e feconda, ch’al tuo merto, al tuo pregio corrisponda, 36 Al gran lume, al gran ben, ch’in te si trova.
Und sie erhofft durch diese Assoziation ebenso Ruhm und Bekanntheit für ihre eigene Person: Io, che d’entrar fra li sentier diversi, E fra l’immense vie bramo, e ardisco, Per quale hor deggio incaminar miei versi? Scopriran li tuoi merti? o’l valor prisco De gli avi illustri? O pur n’andran dispersi? 37 MA gloria è porsi ad honorato risco.
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Finucci versucht, Fonte in eine Entwicklungsabfolge zwischen Ariosts „Orlando furioso“ und Tassos „Gerusalemme liberata“ zu stellen. Vgl. Valeria Finucci: Moderata Fonte e il romanzo cavalleresco al femminile. In: Moderata Fonte: Tredici canti del Floridoro, hrsg. von Valeria Finucci. Modena 1995, S. XV-XVI. Bianca Capello wurde 1548 in einer alten aristokratischen Familie Venedigs geboren, ging gegen den Willen ihrer Familie mit ihrem Verlobten nach Florenz und lernte dort Francesco de’ Medici kennen, der 1564 die Regentschaft übernahm. Die Beziehung zwischen Bianca Capello und Francesco de’ Medici wurde nach dem Tod der jeweiligen Ehepartner 1579 in eine legale Verbindung überführt. Eine erste, inoffizielle Heirat fand bereits wenige Wochen nach dem Tod Johannas von Österreich, der Ehefrau Francescos, im Juni 1578 statt. Moderata Fonte: Alla Sereniss. Sig. Bianca Cappello de Medici Gran Duchessa di Thoscana. In: dies.: Tredici canti (wie Anm. 32), S. [2]. Ebd., S. [1].
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Die Rezeption des „Floridoro“ scheint nur sehr partiell erfolgt zu sein und bildet keine Ausnahmen, wenn man sie mit der Rezeption von Texten anderer Autorinnen vergleicht. Wenn dieser Text Erwähnung fand, so hauptsächlich aufgrund einer Textstelle, die von der jüngeren Nachfolgerin und treuen Leserin Fontes, Lucrezia Marinella, ebenso zitiert wurde wie von Arcangela Tarabotti: das Proömium des 4. Gesangs.38 Hier entwirft Fonte ihre Figur Risamante als ein Symbol weiblicher Fähigkeiten auf militärischem Gebiet und in der Literatur. Die Entscheidung, gerade diesen Romanzo einer genaueren intertextuellen Textanalyse zu unterziehen, ist vor allem durch die Tatsache motiviert, daß der Text ein Beispiel der innovativen Fabulierkunst der Autorin darstellt. Während andere Autorinnen in ihren Epen hauptsächlich auf historisches Material zurückgreifen, schuf Fonte eine neuartige fiktive Handlungswelt mit einem bis dato unbekannten Figurenarsenal, das nicht mehr den Karlsgesten verpflichtet ist, zwar verwandte Züge mit der Welt des „Orlando furioso“ trägt, aber erstaunliche intertextuelle Neuakzentuierungen aufweist.
II.1. Intertextuelle Produktivität I: Ariosts „Orlando furioso“ Als Moderata Fonte ihren Romanzo „Floridoro“ verfaßte, war die aristotelische Poetik bekannt und zu einem dichtungstheoretisch verbindlichen Text avanciert.39 Ariosts „Orlando furioso“ wurde jedoch nicht erst im Zuge der neu auflebenden AristotelesRezeption zu einem problematischen Text, er war es bereits vorher. Der Text widersprach dem Einheitskonzept Horaz’scher Prägung, welches auf ein angemessenes Zusammenwirken aller Teile des Werkes abzielte und somit auch die Handlungseinheit als fundamentales Prinzip proklamierte.40 Die zeitgenössische Poetik trennt in der Regel zwischen dem poema eroico der antiken Tradition und dem Romanzo als einer eigenständigen Gattung, wobei Ariosts Beitrag für letzteren zum Vorbildtext wurde. Allerdings bleibt die Frage, ob der Romanzo als eine eigenständige Gattung aufzufassen sei, das gesamte Cinquecento über umstritten.41 Daher läßt sich durchaus die berechtigte Frage stellen, warum Fonte auf Ariosts Werk rekurrierte, das doch ganz offensichtlich einem überholten, nicht mehr zeitgemäßen Dichtungsverständnis angehörte. Meiner Ansicht nach bot der „Orlando furioso“ dank seiner Gattungshybridität
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Lucrezia Marinella: La Nobiltà et l’eccellenza delle Donne, co’ difetti, et mancamenti de gli Huomini, discorso di Lucretia Marinella, in due parti diviso. Venetia, Gio. Battista Ciotti 1601, S. 11-12; S. 32 (Floridoro IV, 2); S. 34 (Floridoro IV, 4); Arcangela Tarabotti: La Semplicità ingannata, di Galerana Baratotti. Leiden, Appresso Gio. Sambix 1654, S. 159 (Floridoro IV, 4). Vgl. Bernhard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance. Chicago 1961, S. 349-352; S. 478-563. S. Klaus W. Hempfer: Diskrepante Lektüren: Die Orlando-Furioso-Rezeption im Cinquecento. Stuttgart 1987, S. 59f. Ebd., S. 81-130.
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formale und inhaltliche Anknüpfungspunkte, die das poema eroico aufgrund der stärkeren poetologischen Restriktionen nicht eröffnete. Fontes Rekurs auf Ariost wird in der mikro- und makrostrukturellen Textorganisation sichtbar. Sie verweist gerade an den problematischen und zeitgenössisch kritisierten Stellen auf Ariost: Wahl des Titels, Mißachtung des Prinzips der Einheit der Handlung, Verwendung der Oktave statt der Terzine, Bestimmung des Haupthelden, Gestaltung der Erzählerposition, Proömien und nonkonforme Figurenkonzeptionen.42 Der Aufbau des Werks wie auch die Anordnung der Gesänge orientieren sich am „Orlando furioso“. Jeder Gesang wird mit einem Proömium eingeleitet, in der Regel drei Strophen, die einem autoreflexiven Erzählerkommentar zu unterschiedlichen Themen vorbehalten sind. In der Gestaltung der Vermitteltheit der histoire, d.h. in der Autoreflexivität des Erzählerdiskurses, der sich vor allem in den Strangwechselformeln43 äußert, und in der ironischen Erzählerhaltung sind eindeutige Referenzen auf Ariost zu erkennen. Die zeitgenössisch stark kritisierte Subjektivität des Erzählvorganges ist eine der offensichtlichsten Ariost-Referenzen des „Floridoro“. Natürlich darf neben dieser eindeutigen Referenz nicht die Distanzierung übersehen werden, denn im „Floridoro“ treffen wir auf eine Erzählerin.44 Mehrere Protagonisten können als Hauptprotagonist gelten. Der im Titel genannte Floridoro scheint ebensowenig die Hauptfigur zu sein wie Ariosts Orlando. Floridoro tritt als Akteur erst spät in die Handlung ein (im fünften Gesang) und ist keineswegs die dominierende Figur. Die namentlich an Bradamante erinnernde Risamante, die letztlich jedoch sehr wenig mit dieser gemein hat, würde dem Anspruch der Hauptperson eher genügen. Risamante dominiert den ersten Teil des Romanzo, im zweiten Teil tritt Floridoro in den Vordergrund. Ariost schreibt mit der Rolandsgeschichte die mittelalterliche Tradition der chansons de geste fort. Fonte hingegen erfindet die erzählte Welt in toto neu, unter Verwendung von Elementen der Ritterwelt wie dem Turnier, dem Duell, der Prophezeiung, Reisen oder der Magie, um nur einige zu nennen. Die Handlung des „Floridoro“ spielt in einer vorchristlichen, hellenistischen Epoche und besteht im wesentlichen aus drei parallel verlaufenden Erzählsträngen sowie sieben Binnenerzählungen. Makrostrukturelle Textsignale, die eindeutig auf Ariost verweisen, sind das große finale Duell zwischen einer Hauptperson und dem stärksten Kontrahenten (analog zum Kampf zwischen Ruggiero und Rodomonte am Ende des „Orlando furioso“), die Gestaltung der Propheizungen als Ekphrasen und vor allem die Textstellen, an denen die Prophezeiungen verkündet werden. Bei Ariost und Fonte finden diese am Ende des dritten Gesangs, im vorletzten und letzten Gesang statt. Referentialisierungen werden 42 43 44
S. dazu Franz Penzenstadler: Intertextuelle und intratextuelle Bezüge im Orlando furioso. In: Ritterepik der Renaissance, hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 1989, S. 155-184. Damit sind die auktorialen Erzählerkommentare gemeint, die zu einem Wechsel der Erzählebenen führen. Vgl. insbesondere den I. Gesang des „Floridoro“.
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auch in einzelnen Episoden und Binnenerzählungen offensichtlich. Fonte greift die Angelica-Episode auf, in der diese an einen Baum gefesselt von Ruggiero befreit wird, schreibt jedoch eine ‚keusche‘ Variante. Die Nicobaldo-Geschichte im sechsten Gesang ist ein Gegenentwurf zur Fiammetta-Episode. Gleiches gilt für die zahlreichen Vergil-Referenzen bei Ariost, die bei Fonte ebenso vorhanden sind, jedoch ein anderes Sinnpotential evozieren. Im „Floridoro“ konkurrieren die Rekurse auf Vergil mit dem Gesamttext, weil diese nicht mit der hohen Gattung des Versepos vereinbar sind. Fonte rekurriert nämlich nicht auf die „Aeneis“, sondern auf die einem niederen Genre zugehörigen „Georgica“, in denen Vergil ein Lob des Landlebens entfaltet, welches Fonte in ein Lob der unterschiedlichen handwerklichen Tätigkeiten ihrer Zeit umschreibt.45 Mit diesen Referentialisierungen schlägt die Autorin den Weg Ariosts ein, doch durch eine entscheidende Abweichung wird die Referenz zur Distanznahme und erfährt eine signifikante Umdeutung. Auch in diesem Habitus ahmt Fonte eine entscheidende Qualität des „Orlando furioso“ und der rinascimentalen Dichtungspraxis im allgemeinen nach: Sie füllt die referentiellen Anleihen mit neuen Inhalten und Bedeutungssetzungen. Es ist vor allem dieses Zusammenspiel von evozierten Referentialisierungen und an signifikanten Stellen abweichenden Gestaltungslösungen, die Fontes Text prägen und ein Spannungsverhältnis zu Ariost aufbauen. Signifikant hierfür ist die Referenz im Proömium des ersten Gesangs. Gattungskonform, aber in Distanz zu Ariost, beginnt Fonte mit einem Musenanruf und evoziert die beiden Götter Mars und Amor, die im nachfolgenden Text die Schicksale miteinander verknüpfen sollen. Unmittelbar darauf aktualisiert sie das Eingangsthema des „Orlando furioso“, indem sie die ersten beiden Verse: Le donne, i cavallieri, l’arme, gli amori, 46 le cortesie, l’audaci imprese io canto („Orlando furioso“ I, 1: 1-2)
aufnimmt und in Canta l’inclite imprese e i dolci affetti 47 De’ cavallieri e delle donne illustri („Floridoro“ I, 2: 1-2)
variiert. Somit reproduziert die Autorin die chiastische Anordnung, verkehrt aber die Zuordnung. Lediglich durch ein Enjambement getrennt werden die „cavallieri“ stärker mit den „dolci affetti“ assoziiert, während die „inclite imprese“ mit den „donne illustri“ korrelieren. In besonderem Maße ist die Bezugnahme auf den „Orlando furioso“ im Proömium des letzten, dreizehnten Gesangs des „Floridoro“ von einer inhaltlich neuen Bedeutung 45 46 47
IX. und X. Gesang des „Floridoro“. Die hier verwendete, repräsentative Ausgabe: Ludovico Ariosto: Orlando furioso, hrsg. von Davide Puccini. Roma 1999, S. 35. Im Folgenden wird aus der von Finucci herausgegebenen Neuedition des „Floridoro“ zitiert: Moderata Fonte: Tredici canti del Floridoro, hrsg. von Valeria Finucci. Modena 1995.
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geprägt. Die Erzählerin kleidet ihr Schreiben in eine Webstuhl-Metapher und artikuliert damit ihre Selbstermächtigung als Autorin: Der Text ist wie das Leinentuch, welches sie aus einzelnen Fäden herstellt: E io di sì bei fili adorno e tesso La tela mia c’ha in sé rozzo ordimento, Che ben può parer bella e star appresso […] („Floridoro“, XIII, 2: 1-3)
Am Ende des dreizehnten Gesangs hat der Erzähler des „Orlando furioso“ die gleiche Metapher genutzt, um das Schreiben als „Text-Weben“ zu versinnbildlichen: Di molte fila esser bisogno parme a condur la gran tela ch’io lavoro. („Orlando furioso“, XIII, 81: 1-3)
Dieser explizite Verweis auf den Schreibakt zu Beginn des dreizehnten und letzten Gesanges des „Floridoro“ erfüllt eine doppelte Funktion. Zum einen thematisiert Ariost ebenfalls am Ende seines Werks im langen Proömium des 46. Gesangs das Schreiben, zum anderen ist die Wiederaufnahme der gleichen, in Endposition stehenden Metapher des „Orlando furioso“ im positionsidentischen Gesang bei Fonte ein nachdrückliches Signal dafür, daß der Romanzo an dieser Stelle sein Ende erreicht hat. Diese doppelte Referentialisierung ist bisher übersehen worden, denn das Ende des „Floridoro“ ist nicht als Ende interpretiert worden und aus diesem Grund von besonderer Brisanz. Die letzte Zeile: „Ch’ora di Celsidea vuo’ dirvi alquanto“ (Floridoro XIII, 70: 8) verweist auf eine zyklische narrative Struktur, denn der erste Gesang setzt mit der Geschichte Celsideas ein. Die Erzählerin des „Floridoro“ rekurriert folglich mit ihrer Aussage auf den Beginn der Narration, der Kreis schließt sich. In den wenigen bislang zum „Floridoro“ erschienenen Untersuchungen wird das Werk aufgrund dieser letzten Zeile als unvollendet betrachtet. Malpezzi Price sieht in der Unabgeschlossenheit sogar das Eingeständnis eines Scheiterns der Autorin, die der Unmöglichkeit Tribut zollen mußte, ihre weiblichen Figuren gegen das konservative Verständnis der Zeit gestalten zu wollen.48 Immerhin wundert sich die Forschung darüber, daß es überhaupt zu einer Publikation des ‚unvollendeten‘ Werkes gekommen ist. Der Grund für den Abbruch scheint auf der Hand zu liegen: Die Autorin heiratete und hatte damit keine Zeit mehr, ihr Werk zu vollenden. Dieser Interpretationsansatz demonstriert eindrücklich, wie die – eingangs erwähnte – biographische Schlußfolgerung die Lektüre des Werks verstellen und voreilig zu Annahmen führen kann, die der Autorin wie dem Werk nicht gerecht werden.49
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Paola Malpezzi Price: Moderata Fonte. Women and Life in Sixteenth-Century Venice. London 2003. Keine eindeutige Position zu dieser Frage bezieht Stehpen Kolsky: Moderata Fonte’s Tredici canti del Floridoro: Women in a man’s genre. In: Rivista di studi italiani XVII, 1 (1999), S. 165-184, dessen Ausführungen zum „Floridoro“ als die bisher aufschlußreichsten angesehen werden können. Vgl. Finucci: Moderata Fonte (wie Anm. 34), S. XVIII.
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Die Annahme des vorzeitigen Abbruchs des Romanzo kann vor allem aufgrund der signifikanten Ariost-Referenzen als nicht haltbar angesehen werden. Der „Floridoro“ ist ein abgeschlossenes und zudem kunstvoll durchkomponiertes Werk, in dem jede narrative Sequenz in zum Teil unkonventioneller Art und Weise kompositorisch signifikant ist für den makrostrukturellen Aufbau des Gesamttextes.50 Verschiedene Textsignale weisen darauf hin, daß das Werk auf dreizehn Gesänge angelegt ist. Das Übergewicht der enkomiastischen Einschübe in den letzten beiden Gesängen verweist auf Ariost wie auch der abschließende Zweikampf zwischen Risamante und dem Ritter Cloridabello, der stellvertretend für Risamantes Schwester kämpft und die Parallele zum finalen Kampf Ruggieros mit Rodomonte herstellt. Der Sieg Ruggieros und der Gewinn des Königreichs Bulgarien ist wiederum eine Parallele zum Sieg Risamantes und ihrer gewonnenen Herrschaft über das Königreich Armenien. Mit diesem zweiten Duell am Ende des Romanzo wird der wichtigste Erzählstrang gerahmt und mit der Machterlangung auf der histoire-Ebene das wichtigste Ziel im letzten Gesang des Werks realisiert. Entscheidend für Fontes Text sind die textinternen Orte, an denen sie die intertextuellen Verweise anbringt. Nur wenn man die Bedeutungshaftigkeit des ‚Textortes‘ in Rechnung stellt, kann man den entsprechenden interpretatorischen Schluß ziehen.
II.2. Intertextuelle Produktivität II: Der höfische Roman Chrétiens de Troyes Der produktive intertextuelle Umgang Moderata Fontes mit Ariosts „Orlando furioso“ als dem Modelltext der Gattung ist offensichtlich und durch die makrostrukturellen narrativen Strukturen motiviert. Die höfischen Romane Chrétiens de Troyes als sekundäre intertextuelle Referenzmodelle sind bisher weitgehend übersehen worden. Fonte nimmt jedoch gerade im Rückgriff auf Chrétien signifikante Neuakzentuierungen vor, die zur Sinnkonstitution ihres eigenen Textes beitragen. Der wesentliche Unterschied zu den Bezugnahmen auf Ariost ist dabei der vordergründig motivische Charakter der intertextuellen Produktivität, der hier zur Ausführung gelangt. Wir treffen kaum auf makrostrukturelle Verweise, die eine narrative Textkonstitution betreffen, sondern hauptsächlich auf Motivparallelen und Motivanleihen, die in ihrer Auflösung eine kritische Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition offenbaren. Dieser motivische Rückgriff auf Chrétien ist umso erstaunlicher, da er mögliche Rekurse auf Ariost konterkariert. Die Artus- und Gralsepik erlebte über das 12. Jahrhundert hinaus eine intensive Rezeption, die sich hauptsächlich in Neubearbeitungen manifestierte. Die höfische Idea50
Zudem finden sich keine sekundären Quellen, in denen die Autorin Moderata Fonte oder andere Zeitgenossen äußern, daß das Werk nicht zu Ende geführt werden konnte.
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lität lebte in den Prosaromanen des 13. Jahrhunderts fort und zugleich trat der arthurische Versroman hervor, der zwar abhängig von Chrétien war und sich namentlich oft auf ihn bezog, doch häufig auch neue Wege beschritt, indem amor und chevalerie weniger eng miteinander verbunden bzw. ganz voneinander gelöst waren. Obwohl sich auch im 15. und 16. Jahrhundert Belege für Chrétien-Bearbeitungen finden lassen, ist die Rezeption des höfischen Romans Chrétiens für diese Zeit, noch dazu über die Grenzen Frankreichs hinaus, kaum erforscht.51 Die Vorlagen für die weiblichen Figurenkonzeptionen und -konstellationen motivieren sich offensichtlich stärker aus dem höfischen Roman als aus der Romanzo-Tradition in der Nachfolge Boiardos oder Ariosts. Selbst wenn der Name der Ritterin Risamante primär auf den Erfolgstext des „Orlando furioso“ verweist, so erinnert die Figurenkonzeption des weiblichen Ritters stärker an die Aktivität, Unabhängigkeit und den Witz Chrétienscher Frauenfiguren wie Enide oder Lunete.52 Die Figurenkonstellation der zwei um ihr Erbe streitenden Schwestern verweist in der Anlage auf den „Yvain“: Die jeweils als ‚gut‘ bzw. ‚böse‘ ausgewiesenen Schwestern engagieren Helfer, die sich für ihre Angelegenheit verwenden wollen. Während Biondaura sich der Hilfe eines Ritters vergewissern kann, nimmt Risamante ihre Sache selbst in die Hand und versucht, tapfere Mitstreiter um sich zu versammeln. Darin liegt auch die entscheidende Abweichung bei Fonte: Der Wegfall der Hilfsfunktion der Ritter und die Selbstermächtigung der Frau, die ihr Schicksal nicht mehr in die Hände anderer legt. Mit dem Rekurs auf Chrétien kann Fonte diese neuartige Rollenaufteilung sehr viel prägnanter herausstellen und akzentuieren als im Rückgriff auf Ariost, dessen Frauenfiguren ambivalent, zum Teil phantastisch bis realitätsfremd und zeitgenössisch umstritten waren. Bei Fonte stellt dieser geschwisterliche Konflikt ein narratives Grundmuster des gesamten Romanzo dar, das die Handlungsabfolge im wesentlichen motiviert. Bei Chrétien hatte dieser Konflikt hingegen nur einen episodischen Charakter. Am Ende des „Yvain“ führte dieser Konflikt jedoch zum ‚Showdown‘ zwischen dem gleichnamigen Ritter und seinem Freund Gauvain. Fonte löst diesen Konflikt in einem finalen Duell, aus dem Risamante als Siegerin hervorgeht. Bei Chrétien schlichtet Artus als Instanz der Gerichtsbarkeit den Streit. Solch eine verläßliche Macht gibt es bei Fonte nicht mehr, die Ritterin muß sich mit eigener Kraft zu ihrem Recht verhelfen. Dieses abschließende Duell der Ritterin Risamante gegen den Ritter Cloridabello hat einen programmatischen Hintergrund, der sich moralischer Sicht stärker dem Modell der Ritterehre verpflichtet ist und somit stärker auf die mittelalterlichen Texte referiert. Die Ariostsche Unversöhnlichkeit zwischen christlichen und muslimischen Rittern vermeidet Fonte und setzt dagegen die Vermeidbarkeit des Kampfes durch vorange51 52
Zum Beispiel: Le livre de Alixandre empereur de Constentinoble et de Cligès son Filz. Roman en prose du XVe siècle, edition critique par Maria Colombo Timelli. Genève 2004. Chrétien de Troyes: Oeuvres complètes, hrsg. von Daniel Poirion. Paris 1994 (Bibliothèque de la Pléiade).
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hende Verhandlungen. Ganz offensichtlich wird dieses Vorgehen im letzten Kampf des „Floridoro“: Risamante unterbreitet Cloridabello ein Verhandlungsangebot, das dieser ausschlägt. Nach ihrem Sieg verschont sie den Gegner und veranlaßt seine medizinische Versorgung. Die für den höfischen Roman charakteristische Minnethematik wird im „Floridoro“ immer wieder gebrochen. Wenn Risardos Pläne zur Rettung verschiedener Damen so schnell wechseln, daß die Ausführung eines Plans stets durch einen neuen konterkariert wird, scheint die Ergebenheit des Ritters seiner Dame gegenüber parodistische Züge anzunehmen. Floridoro bleibt für seine Dame sogar inkognito, verweigert selbst das ‚Erkannt-Werden‘ und damit die ihm zustehende Belohnung. Gracisa hingegen sucht für den Kampf ihrer Herrin Risamante tapfere Ritter als Unterstützer, kann jedoch keine willigen Ritter finden. Als Risardo sich bereit erklärt, ist seine Zusage bereits desavouiert aufgrund all der Zusagen, die er ohne Auswahl an sämtliche Frauen getätigt hat, die gerade seinen Weg kreuzten. Daß der intertextuellen Produktivität auch ein parodistisches Potential eigen sein kann, verdeutlicht dieses Beispiel eindrücklich. In erster Linie illustriert diese Bezugnahme jedoch die Tatsache, daß die Ritterin zur Durchsetzung ihrer Interessen nur sich selbst vertrauen kann. Der Minnedienst erfährt bei Fonte einen starken Werteverlust, denn ihre Welt zeichnet sich nicht mehr durch die Hilfsbereitschaft und Kampfesfreude des traditionellen Ritters aus. Schwerter, Pferde, Frauen oder gar die Herrschaft über Länder sind auf diesem Weg nicht mehr zu erstreiten. Interessant sind weiterhin die verschiedenen Umkodierungen traditioneller Themen, beispielsweise die positive Konnotierung des Zwerges bei Fonte. Böse, von niedriger Herkunft und sexuell pervertiert tritt der das Unglück auslösende Zwerg in Chrétiens „Erec et Enide“ oder im „Chevalier de la Charrette“ auf. Fonte entwirft ihrerseits ein Gegenbild, denn der Zwerg im „Floridoro“ ist von adliger Herkunft, edelmütig und keusch. Er wird zum ernsthaften Gegenspieler des ‚normalen‘ Ritters um die schöne Dame Raggidora.53 Die positive Konnotierung des Königs der Zwerge liefert letztlich den Schlüssel für das Männlichkeitsbild im „Floridoro“: Der positiv bewertete Mann zeichnet sich nämlich nicht durch seine physische Kraft und Überlegenheit aus, sondern durch seine moralischen Qualitäten wie Treue und Ehre. Bereits Chrétiens doppelter Abenteuerweg modifizierte die Liebeserfüllung des Ritters, denn das Herz der Dame war nicht nur mit dem Schwert zu erringen, sondern bedurfte auch anderer Fähigkeiten und innerer Qualitäten. Die Konfliktsituationen in „Erec et Enide“ oder auch im „Yvain“ werden durch inadäquates Verhalten ausgelöst: Erec ‚verliegt‘ sich bei seiner Dame und Enide widerspricht Erec; Yvain wiederum hält sein Versprechen gegenüber Laudine nicht und ‚verrittert‘ im Übermaß. Floridoros fehlerhaftes Verhalten liegt im Verstoß gegen das väterliche Verbot, am Turnier teilzunehmen. Im narrativen Aufbau greift Fonte hier insbesondere auf die Anonymität der 53
Vgl. die Binnenerzählung im II. und IV. Gesang des „Floridoro“.
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mittelalterlichen Helden zurück. Wie Yvain versucht auch Floridoro nach dem Turniersieg sein Inkognito zu wahren, selbst wenn es dem Ruhm schadet. Der Ruhmesgewinn zählt nichts im Gegensatz zum Ungehorsam dem Vater gegenüber, ebenso wie der ganze Ruhm Yvains als Löwenritter vor seiner Dame sein Fehlverhalten nicht wettmachen konnte. Die Aussöhnung kam bekanntlich durch eine List Lunetes zustande. Fonte minimiert den Anteil des Wunderbaren bzw. relativiert den Einfluß wunderbarer Ereignisse auf die dargestellten Handlungsabläufe. Zauberer und Feen mit magischen Kräften sind zwar wichtig für die Handlungsprogression und Konfliktlösung, sie werden jedoch sehr sparsam eingesetzt. Vielmehr ist es die Auseinandersetzung mit dem Mythos, der die Ebene des Wunderbaren zu ersetzen sucht. Im Proömium des 8. Gesanges wird die Zauberin Circe, die die Metamorphose des Menschen zum Tier veranlaßt, explizit von der Schuld suspendiert, denn die Menschen sind selbst die Verursacher ihrer Verwandlungen. Wie die Verwandlung eines Menschen ausfällt, hängt von ihm selbst ab und nicht von der Kunst bzw. dem Wissen der Zauberin: Ciascun dell’esser proprio è sì buon mago, Che non se seppe tanto ella in quel tempo Quando spese in cangiar la nostra imago Tant’erbe, tanto studio, e tanto tempo, E d’uscir di sé stesso è così vago Che di tornarvi poi non trova il tempo; Di tutti no, ma ben del più ragiono, A cui piace parer quel che non sono. („Floridoro“, 8. Gesang, 4: 1-8)
Diese Strategie der intertextuellen Reflexion des Mythos bei Fonte ist neuartig und verfügt über einen genderspezifischen Eigenwert, der sich auf die Formel ‚Selbstermächtigung der Autorin als Autorin‘ bringen läßt. Weder bei Chrétien noch bei Ariost wird auf diese Art und Weise mit dem Mythos umgegangen.
III. Fazit Die intertextuelle Produktion bei den beiden hier betrachteten Autorinnen wurde in der Argumentation aus zwei Blickrichtungen betrachtet: der theoretischen Reflexion und ihrer produktiven Umsetzung. Dabei wurde das Ziel verfolgt, über die Analyse der intertextuellen Produktivität den ästhetischen Eigenwert der Texte der Autorinnen herauszustellen. Die theoretische Reflexion bei Isabella Andreini sollte verdeutlichen, daß das christliche Autorschaftskonzept seine Bedeutung für die Legitimierung der Schrift am Ende des 16. Jahrhunderts eingebüßt hatte. Die rinascimentale Diskussion über den furor poeticus beschreibt denjenigen, den wir heute begrifflich als Autor bezeichnen, nicht mehr vorrangig als Medium Gottes. Die Kategorie des ingenium tritt hinzu und ermöglicht die Selbstermächtigung des Autors. Isabella Andreini hat in den beiden
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analysierten Widmungsbriefen diese Reflexion aus einer genderspezifischen Sicht theoretisiert, indem sie den Wissensdurst und die öffentliche Wortergreifung von Frauen zu legitimieren suchte. Die Vorstellung von der Unabdingbarkeit der göttlichen Inspiration für das Verfassen eines Textes gerät ins Wanken, denn mit der Betonung des ingegno werden die menschlichen Qualitäten des Geistes und des Verstandes, des Talents und der Begabung, eben einer geistigen und ästhetischen Produktivität, in den Vordergrund gerückt. Diese Voraussetzungen seien es, die Gott dem Menschen mitgegeben habe, argumentiert Andreini. In der Kraft des Menschen selbst liege es aber nun, daraus das Beste zu machen und die verliehenen Fähigkeiten nicht brachliegen zu lassen. Vernunftgeleitetes Handeln werden das die Philosophen im 18. Jahrhundert nennen. Bei Andreini begegnen wir einer frühen, religiös codierten Ausprägung dieses Gedankens, der seinen Akzent auf die Unabhängigkeit menschlichen Handelns von Gott – aber zugleich im Einverständnis mit ihm – legt. Die praktische Umsetzung literarischer Produktivität ließ sich am Phänomen der Intertextualität an einem frühen Text Moderata Fontes nachvollziehen. Über intertextuelle Referenzen verweist Fonte auf ihr Wissen. Neben Ariost und Chrétien de Troyes spielen Boccaccios Werke für die intertextuell konstituierte Sinnvergabe in Fontes Romanzo eine vordergründige Rolle. Die sieben Binnenerzählungen des „Floridoro“ haben einen genuin novellistischen Charakter und reflektieren exemplarisch das Spannungsverhältnis zwischen dem individuellen Frauenschicksal und der gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktion. Die Tradition Boccaccios bleibt für Fonte eminent wichtig – nicht nur der „Floridoro“ zeugt davon, sondern auch der Dialog „Il merito delle donne“, der nach der Tagestruktur des „Decamerone“ aufgebaut ist.54 Während die Ariost-Referenzen dem zeitgenössischen Reflexionsniveau verpflichtet sind, zeigen die Verweise auf den höfischen Roman von Chrétien de Troyes einen neuartigen Zugang zum kulturellen Gedächtnis. Die intertextuelle Analyse in Moderata Fontes „Tredici canti del Floridoro“ hat für die Ariost-Referenzen gezeigt, wie entscheidend der textinterne Ort des Verweises für sein Verständnis ist. Im speziellen Fall hängt von der Berücksichtigung dieser textuellen Eigenart ab, ob der Text als ein abgeschlossenes oder unvollendetes Werk zu betrachten ist. Mit Chrétien aktualisiert die Autorin die Anfänge und Ursprünge der Gattung und stellt insbesondere eine Verbindung zum mittelalterlichen Erzählen her. Hierbei wird die Kontinuität zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit deutlich, zweier Epochen, die eben nicht durch einen Bruch voneinander getrennt sind. In der produktiven Fortschreibung mittelalterlicher Erzählkonstellationen und Motivketten steht Fonte dem zeitgenössischen poetologischen Diskurs konträr gegenüber, für den die „Renaissance“, die Wiedergeburt der Kultur, mit Petrarca und Boccaccio einsetzte.
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Zur Boccaccio-Rezeption in den Texten italienischer Renaissance-Autorinnen befindet sich eine eigene Studie in Vorbereitung.
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Annett Volmer
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TOBIAS BULANG
Literarische Produktivität – Probleme ihrer Begründung am Beispiel Johann Fischarts*
I.
Genie und Epigone – zwei antiquierte Deutungsmuster für literarische Produktivität
Daß Literatur mit Produktivität zu tun hat, leuchtet unmittelbar ein, es scheint aber alles andere als einfach, genauer zu bestimmen, wie es sich mit dieser Produktivität verhält, wie sie zu beschreiben, theoretisch zu fassen und zu begründen ist. Dies war nicht immer so: Zwei wirkmächtige Konzepte, die gegenwärtig eher kritisch distanziert als bedenkenlos beansprucht werden, gehörten im 18. und 19. Jahrhundert zum Inventar literarischer Selbstbeschreibung. Es handelt sich um das Konzept des Genies einerseits und das des Epigonen andererseits. Beide Konzepte sind ganz entschieden von Annahmen über Weisen literarischer Produktivität bestimmt und darin aufeinander zu beziehen. Die historische Semantik literarischer Genialität läßt sich wie folgt zusammenfassen: Das Genie schafft unabhängig aus sich selbst heraus neue Welten. Es ist die rauschende Natur, welche durch die Grenzen hindurchbricht, die ihr durch die Konventionen und Institutionen gesetzt worden sind. Durch geniale Produktivität kommt es damit gleichzeitig zur Zerstörung überkommener Regeln für Kunst als auch zum Zerstören der Zwänge, die dem Individuum gesetzt sind. Das Produkt genialer Begeisterung ist das durch Zerstören des Überkommenen hervorgebrachte Neue.1 Die Bildwelt des *
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Vorliegende Ausführungen beanspruchen nicht mehr zu sein als eine Skizze, die ein literaturtheoretisches Problem zu umreißen sucht und einen möglichen Lösungsansatz aufzeigt. Eine methodische Vertiefung konnte im gegebenen Rahmen ebensowenig geleistet werden wie die ausführliche Auseinandersetzung mit der literaturtheoretischen Forschung. Beides soll einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Für wichtige Hinweise und kritische Anmerkungen danke ich besonders Claudius Sittig, Julia Richter, Ulrich Fröschle und Beate Kellner. Ich verkürze einen komplexen historischen Diskurs auf seine produktionstheoretische Pointe. Differenzierte historische Darstellungen zum Geniegedanken in seinen unterschiedlichen Perspektivierungen finden sich in Jochen Schmidts „Beitrag zur krisenhaften Geschichte des modernen, auf Produktivität gegründeten Selbstbewußtseins“: Jochen Schmidt: Geschichte des Genie-
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Tobias Bulang
Rausches und Rauschens, als Chiffre für die ungebändigte Natur in der Kultur, ist den historischen Selbstbeschreibungen der Genies obligatorisch.2 Ein solches Verständnis genialer Produktivität würdigte letztlich auch die Kritik der Genieästhetik, die in ihr eine rauschhaft das gebotene klassische Maß verfehlende Eskalation des Subjekts sah: Das produktive Grundmodell wird so zwar ästhetisch und moralisch abgewertet, im Prinzip jedoch bestätigt. Auf den Geniebegriff bezogen bleibt das Konzept der Epigonalität, das im 19. Jahrhundert eine charakteristische Neuauflage erfährt.3 Die Autoren der Zeit konstatieren und beklagen immer wieder ihr Unvermögen, „klassische“ oder „geniale“ Werke zu schaffen, ihr Angewiesensein auf die vorgeblich unfruchtbare Nachahmung der Genies. Die Epigonen des 19. Jahrhunderts bezichtigen sich besonderer Unproduktivität: Ihnen ist die Möglichkeit eines authentischen, unmittelbaren und naiven Sprechens immer schon genommen, da alles, was sie artikulieren können, immer nur Zitat sei, immer bereits geäußert von genialeren unbefangeneren Vorgängern. Die ‚spätgeborenen‘ litterati stellen fest, daß es schlecht um sie bestellt sei, da ihre Sprache nie die eigene, sondern immer die andere der Texte, der Tradition, der Diskurse ist.4 Geniekonzept und Epigonalitätsverdacht implizieren jeweils Vorstellungen über Weisen der Konstitution des literarischen Kunstwerkes und über Arten literarischer Produktivität. Dem exzessiven Hervortreiben von Neuem im Geniekonzept steht dabei das unausweichliche und vorgeblich unproduktive Aufbereiten des Vorhandenen im Epigonalitätskonzept gegenüber. Dem Phantasma der Souveränität des Genies kontrastiert die Klage über die Fremdbestimmtheit des Epigonen. Grundsätzlich unterschei-
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gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750-1945, 2 Bde. 2., durchges. Aufl. Darmstadt 1988, Zitat: Bd. 1, S. XIV. Hierzu gehört auch die für die Geniezeit zentrale Metapher des Stroms, deren Inflationierung Georg Friedrich Lichtenberg wünschen ließ, er könne „bei Strafe des Stranges verbieten, künftig das Genie mit einem Strom zu vergleichen“; vgl. Schmidt: Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 271-273. Die Affinität der Genies zum Rausch veranlaßte Hegel in seiner Paraphrase des Geniekonzepts zum bekannten Lakonismus: „Dann erscheint die Hervorbringung des Talents und Genies nur als ein Zustand überhaupt und näher als Zustand der Begeisterung. Zu solchem Zustande, heißt es, werde das Genie teils durch einen Gegenstand erregt, teils könne es sich durch Willkür selber darein versetzen, wobei denn auch des guten Dienstes der Champagnerflasche nicht vergessen ward.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge. Berlin / Weimar 31976, S. 37f. Als „Kehrseite des Geniekultes“ behandelt den Epigonalitätdiskurs des 19. Jahrhunderts Schmidt: Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 83. Ausführlich zur Neufassung des Begriffs der Epigonalität unter den Bedingungen des Historismus: Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München 1999. Vgl. auch Jürgen Fohrmann: Dichter heißen so gerne Schöpfer. Über Genies und andere Epigonen. In: Merkur 39 (1985), S. 980-989; Matthias Kamann: Epigonalität als ästhetisches Vermögen. Untersuchungen zu den Texten Grabbes und Immermanns, Platens und Raabes, zur Literaturkritik des 19. Jahrhunderts und zum Werk Adalbert Stifters. Stuttgart 1994.
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den sich die Konzepte in ihrem Verhältnis zur Tradition: Das Genie praktiziert den radikalen Traditionsbruch, es vernichtet die Vorläufer und setzt seine Rede programmatisch als neuen Ursprung.5 Der Epigone entkommt der Tradition nicht, sie spricht immer schon durch ihn, und seine Stimme kann das Gewirr der Texte nicht dominieren. Die hier stark vereinfachten und typisierten Deutungsmuster hatten auch in der Literaturgeschichtsschreibung eine nachhaltige Wirkung entfaltet, die Selbstbeschreibungskategorien moderner Literatur wurden dabei oft bedenkenlos auf vormoderne Autoren appliziert. Wie bei vielen anderen Autoren läßt sich dies auch bei Johann Fischart und der Forschungsgeschichte zu seinem Roman „Geschichtklitterung“ beobachten.6 Es handelt sich bei der „Geschichtklitterung“ um die deutsche Übersetzung von François Rabelais’ Roman „Gargantua“. Sie erschien zu Lebzeiten ihres Verfassers in drei Ausgaben wachsenden Umfangs. In der dritten Ausgabe von 1590 umfaßt Fischarts Übertragung mehr als das dreifache der französischen Vorlage. Zu dieser Ausweitung tragen insbesondere die eingefügten Wortketten bei, eine copia verborum, die den Erzählfluß des Textes und schon sein syntaktisches Gefüge auf das äußerste strapaziert. Intertextuelle Konstitution und literarische Produktivität sind in diesem Text spannungsreich aufeinander bezogen, und zwar in einer Weise, die sich mit den angeführten Kategorien nicht angemessen fassen läßt. In der älteren FischartForschung zeigte sich noch das zähe Nachleben des Geniediskurses, insbesondere bei den Beschreibungen der Sprachbehandlung in der „Geschichtklitterung“. Dem „Kraftgenie“7 Johann Fischart wurde immer wieder eine besonders exzessive Textproduktion diagnostiziert, von Sprachrausch ist die Rede, von „Worttrunkenheit“8
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Darin liegt eine Variante dessen, was Harold Bloom unter dem Begriff der „Einflußangst“ untersucht hat; Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. London / Oxford / New York 1975; dt.: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem Amerikanischen von Angelika Schweikhart. Basel / Frankfurt a.M. 1995 (nexus 4). Johann Fischart: Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590, mit einem Glossar hrsg. von Ute Nyssen, Nachwort von Hugo Sommerhalder. Düsseldorf 1963. Eberhard Goldemann: Barockstil bei Fischart. Diss., Tübingen 1934, S. 38. Günther Müller: Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock. Wildpark-Potsdam 1927 (Handbuch der Literaturwissenschaft), S. 187; hier heißt es auch: „an der Verwortung der Dinge entzündet sich das Ich zu Ekstasen des eigengesetzlichen Sprechens“. Fischart wird als Protagonist einer „neuen Lehre vom Sprachrausch“ untersucht bei: Paul Hankamer: Die Sprache. Ihr Begriff und ihre Deutung im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Frage der literarhistorischen Gliederung des Zeitraums. Bonn 1927 (Reprint Hildesheim 1965), S. 83f. Die Sprachrausch-Thesen der Forschung werden kritisch bei Seitz, Zymner und Bachorski resümiert, hier finden sich weitere Belege. Zymner akzentuiert gegen solche Rauschdiagnosen Fischarts „Artistik auf der Ausdrucksebene“; vgl. Dieter Seitz: Johann Fischarts ‚Geschichtklitterung‘. Zur Prosastruktur und zum grobianischen Motivkomplex. Frankfurt a.M. 1974 (These N.F. 6), S. 1-15; Rüdiger Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt. Paderborn u.a. 1995, S. 128ff.; vgl. auch den Forschungsrückblick bei Hans-
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von „dionysische(m) Wortrausch“9, von einem „rasenden rauschhaften Schwelgen in Sprache“10, von „mächtigen Trieben“, die sich „dem bewußtlosen Taumel des Rausches entgegenbewegen“11, gelegentlich wird Fischart gar „Besessenheit“12 diagnostiziert. Explizit werden die damit einhergehenden Übertragungen, wenn etwa bei Hugo Sommerhalder von Fischarts Generation die Rede ist, deren Ähnlichkeit mit „der des Sturm und Drang nicht zu verkennen“ sei.13 Die Stereotypen der Genieästhetik äußern sich unabhängig davon, ob Fischart im Sinne einer Feier des Vitalismus affirmativ bewertet oder aufgrund der „Formlosigkeit“ seiner Werke und seines „Mangel[s] an künstlerischer Selbstbeherrschung“14 kritisch abgelehnt wird.15 Andererseits aber hat die intertextuelle Überdetermination der „Geschichtklitterung“ insbesondere im Rahmen positivistischer Einflußforschung es mitunter nicht unproblematisch erscheinen lassen, die „Originalität“ Fischarts gegen die „Fremdbestimmung“ seines Werks zu behaupten.16 In solchen Zuschreibungen und Schwierigkeiten äußert sich die bereits erwähnte Hartnäckigkeit historischer literarischer Semantiken. Daß sie für Fischart wenig taugen, zeigt sich insbesondere dann, wenn sich der ‚geniale‘ Sprachrausch als Resultat ‚epigonaler‘ Kompilation erweist. Folgende Passage ist dafür ein Beispiel:
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Jürgen Bachorski: Irrsinn und Kolportage. Studien zum Ring, zum Lalebuch und zur Geschichtklitterung. Trier 2006 (Literatur, Imagination, Realität 39), S. 347-356. So Goldemann: Barockstil (wie Anm. 7), S. 30; ihm folgend: Johannes Mittenzwei: Dionysischer Wortrausch und sprachmusikalischer Triumph in den Dichtungen Johann Fischarts. In: ders.: Das Musikalische in der Literatur. Ein Überblick von Gottfried von Straßburg bis Brecht. Halle/S. 1962, S. 34-41. Zur Topik genialen Aufbegehrens gegen die Institutionen paßt auch Mittenzweis Einschätzung, Fischart wolle im Namen des Bürgertums die überlebte Welt des Feudalismus in die Klänge der Sprache auflösen, ebd., S. 37. Christoph Mühlemann: Fischarts ‚Geschichtklitterung‘ als manieristisches Kunstwerk. Verwirrtes Muster einer verwirrten Welt. Bern / Frankfurt a.M. 1972 (Europäische Hochschulschriften 1, Deutsche Literatur und Germanistik 63), S. 18f. Kenntlich werden die Muster des Geniediskurses hier auch in der Rede vom „schrankenlosen Individualismus“ Fischarts, von seinem „Sprachrausch persönlichster Prägung“ (S. 31), mit dem sich Fischart über „letztlich jede tradierte Form“ hinwegsetze (S. 18). Zugleich akzentuiert Mühlemann Analogien zum Dadaismus und sieht in der „Geschichtklitterung“ die Widerspiegelung einer historischen Krise, was existenzialistisch gedeutet wird: „Wahnsinn oder Schweigen sind die Alternativen“ (S. 20 u.ö.). Hugo Sommerhalder: Johann Fischarts Werk. Eine Einführung. Berlin 1960 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N.F. 4 128), S. 76. Müller: Deutsche Dichtung (wie Anm. 8), S. 186f. Sommerhalder: Johann Fischarts Werk (wie Anm. 11), S. 122. Gottlieb Schwarz: Rabelais und Fischart. Vergleichung des ‚Gargantua‘ und der ‚Geschichtklitterung‘, von ‚Pantagrueline Prognostication‘ und ‚Aller Practick Großmutter‘. Diss. Zürich Winterthur 1885, S. 63. Eine Revue solcher gegensätzlicher Reaktionen auf Fischart versammelt Zymner: Manierismus (wie Anm. 8), S. 140ff. Vgl. etwa die Kritik der Forschung und den Lösungsvorschlag bei Sommerhalder: Johann Fischarts Werk (wie Anm. 11), S. 33: „Nicht die geschichtliche Deszendenz entscheidet über die Originalität des Werks, sondern seine poetische Evidenz.“
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[…] weil das Schiff Galeenrecht vermag, daß man keinen frembden Passagier auff nimpt, es sey dann aller dings geladen, gebodemet, vergurbet, begordet, verdennet, beschnarret, auffgebuselt, geschnaltzelt, berudert, umbdostet, verstrumpffet, gelaseiet, bepfompffet, gehelmkörbelet, bemastet, verpaternosteret, betonnet, erspritet, verbrauet, bebastet, bezackelet, beanckert, berollet, becompasset, beraseylet, besanet, befanet, getopffseylet, bezugcabebelet, belullet, unnd endtlich wie die Pechstinckende der trei Heyligen König Melchior Morenschiff von Cöllen, verstopfft, verklopfft, verleimt, verdicht, verbicht und verricht, unnd gantz abzu17 stechen fertig.
Es geht bei diesem Zitat nur vordergründig um Nautisches, der Passus taucht auf im Kontext einer misogynen Reihung von Beispielen für die Untreue der Frauen. Fischart verweist in diesem Zusammenhang auch auf des Kaisers Octavian Tochter Julia, die nur dann mit ihrem Leibwächter schlief, wenn sie bereits anderwärtig geschwängert worden war. Fischart vergleicht sie zotig mit einem Schiff, das keinen fremden Passagier aufnimmt und erst „abzustechen fertig“ sei, nachdem es vollständig beladen und abgedichtet wurde. Unter der polyphonen Reihe von Verbalisierungen, die aus verschiedenen Nomina für Schiffszubehör gebildet wurden, und der Rede vom „verstopffen, verklopffen, verleimen, verdichten, verbichten und verrichten“ tönt somit ganz unverhohlen ein imaginäres basso ostinato der Kopulation. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich aber bei diesem „Sprachrausch“ um das Resultat einer Montage. Karl Weidmann hat für diese obszön konnotierte Reihe von Verben das polyglotte und nach Sachgruppen geordnete Wörterbuch des Hadrianus Junius, den „Nomenclator omnium rerum“, als Vorlage belegen können.18 Darin wird unter anderem Schiffsterminologie aufgeführt.19 Bestand und Reihenfolge der Nomina einzelner Schiffsteile bei Hadrianus Junius entsprechen weitgehend Fischarts Verbalbildungen in obigem Zitat.20 Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf Fischarts kompilierendes und interpolierendes Verfahren, und Befunde ausschließlich rauschhafter Produktivität sind vor diesem Hintergrund einzuschränken, wobei freilich Fischarts originelle obszöne Perspek-
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Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 111f.; vgl. hier auch Bachorski: Irrsinn und Kolportage (wie Anm. 8), S. 520. Karl Weidmann: Hadrianus Junius als Quelle für Johann Fischart. Ein Beitrag zur Erforschung des Fischartschen Wortschatzes. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 13 (1911/12), S. 116124. Vgl. den Abschnitt „De re navali“ in: Hadrianus Junius: Nomenclator omnium rerum propria nomina variis linguis explicata […]. Antwerpen, Christoph Plantin 1567 (Reprint Hildesheim 1976 [Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15.-20. Jahrhunderts. Reihe I: Wörterbücher des 15. und 16. Jahrhunderts 1976]), S. 244-253. Die Verwendung des „Nomenclator“ konnte auch als Vorlage für diese und weitere Passagen in der „Geschichtklitterung“ plausibel nachgewiesen werden; vgl. Weidmann: Hadrianus Junius (wie Anm. 18). Zum „Nomenclator“ als Quelle für die von Fischart und Toxites herausgegebenen „Onomastica“ vgl. Hugo Böss: Fischarts Bearbeitung lateinischer Quellen. Reichenberg 1923 (Prager deutsche Studien 28) (Reprint Hildesheim 1975), S. 1-10.
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tivierung der Wortkette naturgemäß nicht im Wörterbuch angelegt ist.21 Das Beispiel zeigt deutlich, daß die schroffe Alternative zwischen Genialität und Epigonalität für die Beschreibung vormoderner literarischer Produktivität unzulässig ist, in jüngerer Zeit wurde dies auch in der Fischart-Forschung Anlaß für angemessene Historisierungen des Gegenstandsbereiches.22 Im Zuge solcher Historisierungen wurde auch den eingangs angeführten Deutungsmustern von Genialität und Epigonalität ihr Ort in modernen Selbstbeschreibungen von Autoren zugewiesen. Oft handelt es sich bei den Ausführungen um Polemik und Programm, und festzuhalten ist, daß beide Selbstbeschreibungen des Literarischen im Kern einseitig, ja unzutreffend sind: Denn selbstverständlich stehen die Texte der Genieperiode in mannigfachen Traditionszusammenhängen, und ebenso selbstverständlich bringen die Texte der Epigonen literarische Innovationen hervor. Und wenn man sagen kann, daß im Geniekonzept eine grundlegende Reflexion über das Innovationspotential des literarischen Systems stattfand,23 so äußert sich im Epigonalitätsverdacht des 19. Jahrhunderts eine Reflexionsform des Historismus und die Erkenntnis der intertextuellen Konstitution literarischer Werke.24 Bei der Kritik von Übertragungen dieser Konzepte ist im Maße einer Berücksichtigung der Alterität vormoderner Literatur insbesondere die Zentriertheit auf das moderne künstlerische Individuum, die beide Deutungsmuster grundsätzlich kennzeichnet, als anachronistisch erkannt worden. Die theoretische Bestimmung literarischer Produktivität jedoch, für welche besagte historische Beschreibungsmodelle immerhin Lösungsvorschläge boten, geriet dabei aus dem Blick. Noch gegenwärtig relevante literaturtheoretische Modelle, wie zum Beispiel die Theorien des Imaginären, der Intertextualität und die Diskursanalyse, die wohl nicht im Verdacht stehen, die subjektzentristischen Implikationen von Genie- und Epigonalitätskonzepten fortzuschreiben, betreiben eine gewisse Arbeitsteilung bei der Verwaltung literarischer Produktivität und Unproduktivität. Können einerseits Intertextualitätstheorien oder Diskursanalysen historisch auflösungsscharf die Konstitution des literarischen Textes aus dem epistemischen und literarischen Material einer Epoche heraus beschreiben, so sind sie doch oft blind bezüglich der Spezifik literarischer Produktivität, die einen Überschuß gegenüber dem bereits Vorhandenen schaffen kann und 21
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Zu Fischarts Schreiben „auf verschiedenen Ebenen“ und der damit einhergehenden Polyphonie der Wortketten vgl. Beate Kellner: Verabschiedung des Humanismus – Fischarts ‚Geschichtklitterung‘. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII Anglo-German Colloquium in Hofgeismar, hrsg. von Hans-Jochen Schiewer u.a. [erscheint Berlin / New York 2007]. Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur am Beispiel von Fischarts ‚Ehzuchtbüchlein‘ und ‚Geschichtklitterung‘. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihrer theoretischen und praktischen Perspektive, hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 63-109. Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Wabern-Bern 1994 (Reihe um 9 – Am Nerv der Zeit. Vorträge im Kunstmuseum Bern), S. 44f. Fauser: Intertextualität (wie Anm. 4).
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offensiv über die Selbstverständlichkeiten und Implikationen der Diskurse bzw. der intertextuell abrufbaren Traditionen hinaus strebt.25 Literatur kommt in diesen Modellen oft lediglich als patchwork, als Collage des literargeschichtlichen bzw. diskursiven Materials in den Blick, als Sammelbehälter für anderwärtig generierte Formen der Rede.26 Das innovative Potential der Literatur, ihre Produktivität, bleibt in diesen Modellen häufig außen vor. Eine Theorie des Imaginären hingegen, wie sie etwa Wolfgang Iser entwickelt hat,27 akzentuiert den Aspekt der Produktivität, Kreativität und Innovation oft um den Preis historischer Auflösungsschärfe, da das imaginative Vermögen anthropologisch, auf einer vorhistorischen Ebene also, angesetzt wird.28 Zudem scheint sich imaginäre Produktivität per definitionem der Bestimmung zu entziehen, da das Imaginäre als das noch Unbestimmte gefaßt wird, das noch nicht Eingelöste, das dem Entstehen von Neuem aber vorausgehende konstitutive Moment.29 Aus solchen Erwägungen hat übrigens bereits Hegel in seiner Kritik des Geniebegriffs das eigentlich produktive Prinzip der Kunst aus dem Kreis philosophischer Betrachtung ausgeschlossen: Wir haben deshalb […] noch zu besprechen, wie das Kunstwerk dem subjektiven Inneren angehört, als dessen Erzeugnis es noch nicht zur Wirklichkeit herausgeboren ist, sondern sich erst in der schöpferischen Subjektivität, im Genie und Talent des Künstlers gestaltet. Doch brauchen wir eher dieser Seite nur deshalb zu erwähnen, um von ihr zu sagen, daß sie aus dem Kreise philosophischer Betrachtung auszuschließen sei oder doch nur wenige allgemeine 25
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Exemplarisch können etwa Jürgen Links Ausführungen zum „Ursprung“ der literarischen Symbolik in der Kollektivsymbolik herangezogen werden, in welcher die elementare Literatur des Journalismus als das „wahrscheinlich größte Reservoir von Kunstliteratur“ ausgewiesen wird: „Diese These wird manchmal als Herabwürdigung der großen Poesie, als ihre Reduktion auf das Niveau anonymer Interdiskurse und kollektiver Stereotypen verstanden – was soll ich dazu sagen. Ich glaube genügend deutlich gemacht zu haben, daß sowohl die polysemische ‚Tiefe‘, wie der Konnotationenreichtum, vor allem aber auch die blitz- oder explosionshafte neue Sinndeutung der Symbole bei den Dichtern nur möglich ist, weil sie auf dem schon vorhandenen Klavier der kulturell paratgehaltenen Versionen des Materials ihr virtuoses Spiel beginnen kann.“ Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symboliken in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hrsg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307, hier S. 303. Als „materialistischen Fehlschluß“ kennzeichnet ein solches Literaturverständnis Matias Martinez: Autorschaft und Intertextualität. In: Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hrsg. von Fotis Janidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Tübingen 1999 (Studien und Texte der Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 465-479, hier S. 470. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993. So die Kritik am Iserschen Konzept bei: Andreas Kablitz: Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion. In: Poetica 35 (2003), S. 251-273; hier S. 262-265. „Zum einen erscheint die Zurückhaltung gegenüber seiner näheren Bestimmung als nachgerade programmatisch. Man gewinnt den Eindruck, als seien die Schwierigkeiten seiner Charakteristik gewissermaßen ein Teil der Eigenschaften des Imaginären selbst.“ Ebd., S. 263.
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Tobias Bulang Bestimmungen liefere – obschon es eine häufig gestellte Frage ist, wo denn der Künstler diese Gabe und Fähigkeit der Konzeption und Ausführung hernehme, wie er das Kunstwerk 30 mache.
Bei dieser Unschärfe des produktiven Prinzips handelt es sich nicht nur um ein Problem der Philosophie der Kunst im engeren, sondern vielmehr um ein generelles Problem philosophischer Begründung des Hervorbringens, des Übergangs von Unbestimmtem zu Bestimmtem, wie es sich etwa auch in Cornelius Castoriadis’ Versuch zeigt, ein radikales Imaginäres als Grund von institutionellem und geschichtlichem Wandel theoretisch zu fassen.31 Die hier nur angedeuteten Theoriemodelle zeigen so hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Produktivitätsaspekt des Literarischen eine Ähnlichkeit zu den skizzierten historischen Konzepten der Genialität und der Epigonalität. So wie das historische Geniekonzept zielt auch eine Theorie des Imaginären und der Imagination auf Phänomene literarischer Innovation, während das Epigonalitätskonzept ebenso wie Theorien des Intertexts oder Interdiskurses auf die Konstitution literarischer Rede aus anderen Texten zielt. Man kann vielleicht pointieren, daß der Aspekt literarischer Produktivität dabei einerseits übertrieben, andererseits untertrieben werde. Ich möchte im folgenden Grundlinien eines Modells skizzieren, welches sowohl der historischen Formiertheit der Literatur wie auch ihrer Produktivität gerecht werden könnte. Dieses Modell literarischer Produktivität werde ich daraufhin an Fischarts „Geschichtklitterung“ erproben.
II. Verknappung und Entgrenzung – ein Modell literarischer Produktivität Literarische Produktivität ist nicht, wie die Genies vermuteten, ein Phänomen der Natur, denn sie entfaltet sich innerhalb von Diskursen. Nach Michel Foucault ist der Diskurs die Menge aller möglichen (vernünftigen, zulässigen) Aussagen. Diese stellen sich aber nicht von selbst ein, sondern sind Resultat von Prozeduren, die „Kräfte und Gefahren des Diskurses bändigen“ und sein „unberechenbares Ereignishaftes bannen“.32 Foucaults Interesse galt nicht vorrangig den Propositionen des Diskurses, sondern den Verfahren der Verknappung und den Prozeduren der Ausschließung, welche die Fülle des Sagbaren begrenzen, wobei Foucault auch auf explizite Verbote, auf Polizei und 30 31
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Hegel: Ästhetik (wie Anm. 2), S. 274. Vgl. zu den Schwierigkeiten, eine Potentialität vor ihrer Bestimmung und ein „radikales Imaginäres“ als „niemals auslotbaren Ursprung“ philosophisch zu bestimmen, die Ausführungen bei Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Übersetzt von Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 1984, S. 559-566, 603ff. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a.M. 1991, S. 11.
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Kontrolle, auf den Zwang zur Wahrheit in der Wissenschaft einging, die diskursiven Verknappungspraktiken also auch auf einer institutionellen Ebene ansetzte. So gesehen ist das im jeweiligen Diskurs Sagbare eine je spezifische historische Formation, die aus konkreten Begrenzungspraktiken resultiert. Fragt man nun nach dem, was durch den Diskurs begrenzt wird, nach den Ereignissen, die durch die diskurskonstitutiven Prozeduren verhindert werden, so sind dies in ganz erheblichem Maße Sätze und Sprechakte, die semantisch, grammatisch und syntaktisch möglich sind. Ferdinand de Saussure hat eine Ebene der Sprache (langue) von einer des Sprechens (parole) geschieden.33 Jeder konkrete Sprechakt generiert sich so gesehen aus einem Reservoir von Möglichkeiten, welche von der Sprache bereitgehalten werden. Saussure hat die Sprache dahingehend bestimmt, sie sei „zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zur menschlichen Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen“.34 Diese Definition impliziert für die Fragestellungen dieser Studie ein sehr spannungsreiches Verhältnis der Sprache zum Diskurs. Einerseits konstituieren Diskurse die Sprache, Saussure bezeichnet die langue als „eine Art Durchschnitt“,35 der sich zwischen den sprechenden Individuen ausbilde. Dennoch ist der Diskurs im Foucaultschen Sinne als wesentlich verknapptere Angelegenheit anzusehen, die Ausschließungspraktiken, die den Diskurs konstituieren, gelten auch und in hohem Maße dem unberechenbaren Möglichkeitsreichtum der Sprache selbst. Eine Metapher Saussures indiziert diesen Reichtum, den die Sprache gegenüber dem Sprechen (und zu ergänzen wäre: gegenüber dem Diskurs) aufweist, er nennt sie einen „Schatz, den die Praxis des Sprechens in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat“.36 Auffällig ist in diesen Bestimmungen, daß Saussure die Konstitution der Sprache durch die „soziale Körperschaft“ bzw. die „Sprachgemeinschaft“ als paritätisches Geschehen zu fassen scheint, was in einem auffälligen Gegensatz zur Akzentuierung des Machtaspekts steht, den Foucault bezüglich der Konstitution des Diskurses betont. Und dies scheint mir weniger in Präferenzen der Theoretiker begründet zu sein, es hat durchaus ein fundamentum in re. Man kann dies daran beobachten, daß der Diskurs der Macht einmal effizienter und einmal weniger effizient immer die Kontrolle des Sprechens der Individuen (parole) betreibt, daß aber letztlich die Sprache (langue) in ganz anderem Maße unverfügbar bleibt. Wenn in der langue alle möglichen sprachlich korrekten Äußerungen enthalten sind, so wäre mit Blick auf Foucault zu ergänzen: auch noch die vom Diskurs ausgegrenzten. Das Sagbare wird aber nicht allein durch die Regeln, die den Diskurs konstituieren, eingeschränkt, sondern bereits zuvor durch die Regeln der Sprache verknappt. Vor den 33 34 35 36
Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. Berlin 21967, S. 9-18. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16.
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von Foucault betonten Prozeduren der Ausschließung liegen andere, welche für die Sprache als solche (langue) konstitutiv sind. Verknappt ist im Sprachsystem die nahezu unendliche Fülle alles prinzipiell Artikulierbaren hin auf bedeutende Wörter und Sätze. Gemessen an der Fülle der durch menschliche Sprechwerkzeuge realisierbaren Geräusche, beschränken sich Sprachen auf ein gewisses Spektrum daraus und sind deshalb distinkt. Dem grundsätzlich Artikulierbaren gegenüber ist die Zahl der in einer bestimmten Sprache zum Einsatz kommenden Laute, Morpheme, Silben und Lexeme und syntaktischen Strukturen begrenzt.37 Dies gilt auch auf der graphematischen Ebene: Alle Kombinationen aus allen Buchstaben des jeweiligen Alphabets einer Einzelsprache sind rechnerisch möglich, die wenigsten nur werden realisiert. Um ein Gedicht wie „Das große Lalula“ von Christian Morgenstern zustandezubringen, muß man gewissermaßen noch hinter die langue zurück. Allem Ausgedrückten, auch dem Literarischen, bleibt somit immer ein Reservoir unrealisierter Alternativen, ein Raum von Möglichkeiten vorgelagert. Welche immensen Ressourcen das Nichtrealisierte bereithält, hat Jorge Luis Borges in seiner schwindelerregenden Phantasie über die Bibliothek von Babel ans Licht gebracht. Das Sagbare ist in den Büchern dieser Bibliothek nicht begrenzt, da diese Bibliothek total ist: […] und […] ihre Regale alle irgend möglichen Kombinationen der zwanzig und so viel orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles was sich irgend ausdrücken läßt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die bis ins einzelne gehende Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolation jeden Buches in allen Büchern, der Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Sachsen, die 38 verlorenen Bücher des Tacitus.
In Borges Bibliotheksphantasie stellen die Bücher, deren Inhalt noch irgendeinen Sinn in irgendeiner erkennbaren Sprache vermitteln, die Ausnahme dar. Der Regelfall sind 37
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Daß hier bereits beim die Erwachsenensprache nachahmenden Spracherwerb der Kinder Möglichkeiten realisiert werden, welche die langue nicht vorsieht, betont Roman Jakobson: „Das Kind schafft, indem es entlehnt. Der Einwand gegen alle Auffassung, die einem ‚gesunkenem Kulturgut‘ jeden autonomen Wert abspricht, gilt auch vom Spracherwerb der Kinder: Die Entlehnung ist keine genaue Kopie; jede Nachahmung bedarf einer Auslese und somit eines schöpferischen Abweichens vom Modell. Einzelne Bestandteile dieses Modells werden ausgeschaltet, andere umgewertet. Somit kann ein kindliches Sprachlautsystem, trotz seiner Abhängigkeit von dem der Erwachsenen, Elemente enthalten, die dem Muster ganz fremd bleiben.“ Roman Jakobson: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt a.M. 1969, S. 8f. Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel. In: ders.: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen, hrsg. von Fritz Rudolf Fries, aus dem Spanischen von August Horst und Wolfgang A. Luchting. Berlin 1987, S. 142-151.
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Bücher voller Buchstabensalat, wie etwa das eine, das ein reines Buchstabenlabyrinth enthält, aber auf dessen vorletzter Seite der Satz „Oh Zeit deine Pyramiden“ steht. „Auf eine einzige verständliche Bemerkung“, so Borges, „entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.“39 Daneben enthält die Bibliothek von Babel jeden denkbaren Diskurs, jedes denkbare Sprachspiel, jeden denkbaren Unsinn und mehr. Angesichts dieser Möglichkeiten erweist sich auch noch ein so ausschweifender Diskurs wie der der Literatur als durchaus verknappte Angelegenheit. Jede noch so spektakuläre literarische Innovation hat in Borges möglichkeitsreicher Bibliothek ihre Begründung.40 Um den hier zugrundeliegenden Gedanken noch einmal zu verdeutlichen, greife ich auf eine besonders drastische Kontrastierung zurück: Gegenüber der nahezu unendlichen Anzahl möglicher, dem menschlichen Ohr vernehmbarer und durch Medien reproduzierbarer Geräusche ist jede Äußerung Resultat extremer Verknappungen. Der Zwischenraum zwischen Geräuschen und Äußerung läßt sich in dem von mir geschilderten Sinne durch hierarchisierbare Verknappungsregeln beschreiben, von denen einige die Transformation von Geräuschen in Sprachliches, einige die Transformation von Sprachlichem in eine historische Einzelsprache und einige die Transformation dieser Sprache in einen konkreten Diskurs und weitere die Transformation des Diskurses in Poesie beschreiben. Von hier aus läßt sich ein Modell literarischer Produktivität entwerfen. Wer sich innerhalb geltender Diskurse richtig verhält und angemessen ausdrückt, beweist damit ausgeprägten Wirklichkeitssinn, denn Diskurse, in denen wir leben, bilden unsere maßgebliche Wirklichkeit. Daneben freilich gibt es, wie Robert Musil unübertroffen deutlich gemacht hat, auch den Möglichkeitssinn, der sich auf die „noch nicht erwachten Absichten Gottes“ 41 richtet. Literarische Produktivität bemißt sich in der Aktivie-
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Ebd., S. 145. Sowohl Rabelais als auch Fischart haben fiktive Bibliotheken entworfen und Bücherverzeichnisse voller satirisch verballhornter Buchtitel erstellt. Hier offenbart sich neben der satirischen Absicht Möglichkeitssinn: Johann Fischart: Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis, mit Einleitung und Erläuterungen hrsg. von Michael Schilling. Tübingen 1993 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, Neue Folge 46); vgl. dazu Jan-Dirk Müller: Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart). In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur: Koloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996. In Verbindnug mit Wolfgang Frühwald hrsg. von Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 285-309. Zu imaginierten Bibliotheken vgl. Dirk Werle: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken. Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 119). Ich danke Dirk Werle für den freundschaftlich gewährten Blick ins Manuskript. Vgl. das Kapitel 4: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“ bei: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frisé, 2 Bde. Reinbeck bei Hamburg 1992, Bd. 1, S. 16-18; vgl. zu Potentialität und Kontingenz den anregenden Essay: Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz. In: ders.: Bartleby oder die Kontingenz, gefolgt von:
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rung der Potentialität, also von all den Möglichkeiten, die dem äußerst verknappten Bereich des Geltenden und Realen vorausliegen.42 Aktivierung von Potentialität bedeutet dabei die offensive Bearbeitung der jeweiligen Verknappungsregeln. Dadurch wird in der Literatur dem andrängenden Möglichen, dem noch nicht Realisierten Einlaß verschafft. Darin liegt die Möglichkeit literarischer Innovation begründet. Der Vorteil eines solchen Modells besteht darin, daß literarische Produktivität sich jenseits einer diskursiven Determination des literarischen Textes und jenseits eines Rekurses auf eine im Dunkel menschlicher Natur und sprachlicher Unbestimmbarkeit verbleibenden imaginären Energie des Subjekts als eine Fülle von konkreten Operationen beschreiben läßt, die sich jeweils auf den Ebenen des Diskurses, der Propositionen, der Semantik oder des Laut- und Buchstabenmaterials einer Sprache (sowohl in Blick auf Artikulation als auch auf Graphie) präzisieren lassen. Aktivierung von Potentialität auf der Ebene der Propositionen aktiviert einen Konterdiskurs, in dem behauptet wird, was im Geltenden nicht vorgesehen ist.43 Aktivierung von Potentialität auf der Ebene der Grammatik und Syntax generiert unter Umständen jene besonders kunstvollen Perioden, die wir an Texten Goethes oder Thomas Manns so schätzen. Aktivierung von Potentialität auf der Ebene der Semantik erzeugt Neologismen und Wortspiele. Aktivierung von Potentialität auf der Ebene der Artikulation erzeugt Sprachspiele, unter Umständen neue Sprachen, man könnte an Joyce’ „Finnegans Wake“ denken. Gegenüber einem im abstrakten Imaginären wurzelnden Konzept der Produktivität läßt sich das skizzierte Modell nicht nur auf den jeweils verschiedenen Ebenen des literarischen Textes differenzieren, es ist auch historisierbar. Die Aktivierungen von Potentialität wären näherhin jeweils als Verfahren zu beschreiben, das spezifische historische Überkommene, das jeweils Geltende abzubauen und für die historische Situation neue Aus-
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Die absolute Immanenz. Aus dem Italienischen von Maria Zinfert und Andreas Hiepko. Berlin 1998 (Internationaler Merve-Diskurs 214), S. 7-65. So bereits Erich Köhler: „Souverän faßt sie [Dichtung] zerstreutes Mögliches zusammen, wählt aus, konzentriert es im selbstgewählten Zufall, realisiert in der Fiktion Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit nicht aktualisiert werden, und die doch wesentliche Elemente dieser Wirklichkeit und der ihr innewohnenden Notwendigkeit sind“. Erich Köhler: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 116f. Ebenso Niklas Luhmann: „Was die Kunst erstrebt, könnte man […] als die Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten bezeichnen. […] so müssen die Normalverweisungen des täglichen Lebens, die Zwecke und Nützlichkeiten gebrochen werden, um die Aufmerksamkeit von diesen Ablenkungen abzulenken.“ Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 352f. (Herv. im Original). Andreas Kablitz hat jüngst vorgeschlagen, die dem Ausdruck vorgelagerte Potentialität einer Theorie der Fiktionalität nutzbar zu machen. Vgl. Kablitz: Kunst des Möglichen (wie Anm. 28). Ich beschränke mich hier auf das Problem der Produktivität, welches andere Implikationen und Konstitutionsprobleme aufweist als das bei Kablitz im Zentrum stehende Problem der Fiktionalität. Rainer Warning: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault. In: ders.: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 313-345.
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drücke, Gedanken, Texte oder Sprachen zu generieren. In den entsprechenden Verfahren äußern sich dann bestimmte historische Formen literarischer Produktivität.
III. Zur Exponierung literarischer Produktivität in Johann Fischarts „Geschichtklitterung“ In Fischarts „Geschichtklitterung“ läßt sich dort, wo literarische Produktivität exponiert wird, die Differenz zu modernen Konzepten wie den eingangs dargestellten verdeutlichen. Ich gehe auf zwei Beispiele ein, auf den Weinrausch, der als Medium gegendiskursiver Produktivität inszeniert wird, und auf die Alchemie, die als Modell sprachschöpferischer Produktivität genutzt wird. Der Weinrausch ist das zentrale Thema von Fischarts zweiter Vorrede zur „Geschichtklitterung“, die sich an „schlampampische gute Schlucker“ und viele weitere ausführlich katalogisierte Freßsäcke und Trunkenbolde richtet. Fischart übernimmt mit dem Entwurf einer Zechgemeinschaft des Autors mit seinen Lesern die in François Rabelais’ Pentalogie inszenierte und mit ‚Pantagruelismus‘ benannte Tradition. Von Rabelais übernimmt Fischart auch die Behauptung, das Abfassen des Textes habe nur die Zeit in Anspruch genommen, die für Essen und Trinken vorgesehen war. Auch die Ausführungen über den Geruch des Öls der Studierlampe und den Weingeruch übernimmt Fischart und behauptet, Horaz habe Ennius vorgeworfen, seine Gedichte hätten mehr mit Wein als mit dem Licht zu tun. Dies klingt in Fischarts charakteristischer Diktion wie folgt: Was schads dem Ennio, wann ihme schon der neidig tropf Horat, der auch an dem bein gehuncken hat, beschuldigt, sein gedicht zeigten meh Weins an dann Liecht, und stinck mehr nach der Weinkant, als dem Unschlittbrand, mehr nach dem Weintranck, dann dem öl44 gestanck.
Die so von Horaz nicht verbürgte45 Polemik gegen Ennius wendet Fischart zum Kompliment und nimmt es für den eigenen Text in Anspruch: Aber wie vil nützlicher, schützlicher, hitziger, kützeliger ist uns der geruch unnd die krafft vom Rebensafft, als daß schwermütig schmutzig öl. […] Nüchtern stinckt eym der Athem, wann man voll ist, schmeckt mans nicht: Ich bin Bienenart, mit öl töd man mich, mit Wein macht man mich lebendich. Nun ist dannoch eyn Bienlin, auch eyn feins Thierlin, dz Honig scheißt. Ich will mir für eyn ruhm rechnen, daß man von mir sagt, ich hab mehr an Wein ge46 henckt, als im Öl ertrenckt.
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Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 29f. Ulrich Seelbach: Ludus lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts. Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion 39), S. 302. Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 30.
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Mit den Ausführungen zum Dichterrausch wird hier zwischen Texten differenziert, nämlich zwischen solchen, die nach dem Lampenöl riechen, und solchen, denen man anmerkt, daß sie vom Wein inspiriert sind. Diese Unterscheidung bezieht sich offensichtlich auf zwei verschiedene Weisen literarischer Produktivität, deren eine für die „Geschichtklitterung“ in Anspruch genommen, deren andere zurückgewiesen wird. Die konkurrierenden Modelle literarischer Produktivität unterscheiden sich in ihrem Traditionsverhalten, sie beanspruchen nämlich das Überlieferte auf unterschiedliche Weise. Da das Überlieferte in diesem Falle Texte sind, kann man auch sagen, daß Fischart mit „Wein“ und „Öl“ zwei verschiedene Modi intertextueller Bezugnahmen chiffriert. Einen Hinweis darauf ist mit dem honigscheißenden Insekt, von dem in der Passage die Rede ist, gegeben: Fischart rekurriert hier auf das Bienengleichnis,47 das innerhalb einer langen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Prinzip schöpferischer imitatio seinen festen Ort hat. Wie Jürgen von Stackelberg gezeigt hat, wurde das Bild der blütenlesenden, honigfertigenden Biene seit der Antike Reflexionen nutzbar gemacht, die dem literarischen Hervorbringen von Neuem, des Honigs, aus den Texten der Vorbilder, den Blüten, galten. Immer wieder behandelt das Bienengleichnis somit das Problem literarischer Produktivität vor dem Hintergrund der intertextuellen Konstitution des Literarischen. In der Auslegungsgeschichte des Bienengleichnisses verschränken sich mitunter Konzepte eklektischer, freier und souveräner imitatio.48 Auch im angeführten Zitat geht es um die eigene Verarbeitung des vielerorts Erlesenen. Fischart akzentuiert den Topos skatologisch, indem er ihn, den Regeln ‚niederen‘ Erzählens entsprechend, mit niederen leiblichen Verrichtungen in Bezug setzt: Sein Bienlein scheißt den Honig. Das im Bienengleichnis beanspruchte Prinzip literarischer Produktivität wird mit dem Weinrausch zusammengeführt, da der Wein die Bienen lebendig mache, das Öl hingegen sie töte. Angespielt ist damit auch das paulinische Wort von tötenden Buchstaben und lebendig machendem Geist. Es ist die ‚tote‘ Literatur, die, solchen Ausführungen gemäß, nach dem Lampenöl riecht. Der Weinrausch wird, wie die Biene, zur Chiffre für eine literarische Produktivität, die nicht gegen Intertextualität profiliert wird, sondern als spezifischer Umgang mit Intertexten be-
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Zymner erwägt die Möglichkeit, daß es sich hier um eine Anspielung auf das Bienengleichnis handle; vgl. Zymner: Manierismus (wie Anm. 8), S. 114, Anm. 68. Ich halte diese Möglichkeit für zwingend, da ich den Passus als grundsätzliche Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Weisen von literarischer Produktivität aus der Fülle der anderen Texte heraus lese. Eine Variation des Bienengleichnisses ist in diesem Zusammenhang durchaus naheliegend. Vgl. Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68 (1956), S. 271-293. Den Intertextualitätsbegriff diskutiert mit Blick auf die vormodernen Konzepte der imitatio und aemulatio: Müller: Texte aus Texten (wie Anm. 22), S. 68-76; vgl. auch Gilbert Heß: Literatur im Lebenszusammenhang. Textund Bedeutungskonstitution im Stammbuch Herzog Augusts des Jüngeren von BraunschweigLüneburg (1579-1666). Frankfurt a.M. 2002 (Mikrokosmos 67), S. 41-70.
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stimmt ist.49 Bei den vom Lampenöl imprägnierten Texten handelt es sich um Literatur, die auch im Kontext der Passage verspottet wird. Die Ausführungen zu Wein und Öl in der zweiten Vorrede stehen im Umfeld einer verstörenden Simultaneität von Auslegungsappellen und Deutungszurückweisungen. Einerseits wird behauptet, die „Geschichtklitterung“ enthalte unter der Oberfläche einen tieferen Sinn, der erst zu erschließen sei, in der Art, wie sich ein Hund vom harten Knochen zum weichen Mark durchbeiße.50 Andererseits aber werden die allegorisierenden Auslegungen homerischer Epen und der „Metamorphosen“ Ovids als „mutwillig gesuchte deutungen“51 lächerlich gemacht.52 Homer, heißt es, hätte solche „lätze bedeutnussen, gekrümte allegorien, verwänte gleichnussen“53 niemals erwogen. In der „Geschichtklitterung“ wird die Unentschiedenheit zwischen tieferer Bedeutung und höherem Unsinn, wie auch bereits bei Rabelais, mit Hinweis auf die weinberauschte dichterische Produktivität sistiert: Denn wenn die „freßglock im Magen sturm schlegt, und der klipffel verstopft ist und gelegt“, beim Essen und Trinken also, ist „die recht Dietalisch zeit zu solchen Gemsenkletterigen und Tritthimmelverzuckten Materien und reinspinnenden gedancken“.54 Die Erzeugung höheren Sinns und tieferer Bedeutung wird solcherart somatisch begründet und als ein hinsichtlich höherer und letzter Wahrheiten indifferentes Geschehen ausgewiesen. Dies ist in der „Geschichtklitterung“ nicht der einzige Hinweis dafür, daß Deuten und Sinnbildung – wie auch bereits bei Rabelais – als unverbindliches Spiel Gegenstand des literarischen Textes selbst geworden sind.55 An anderer Stelle heißt es bei Fischart „Mythologias Pantagruelicas, dz ist Alldurstige Grillengeheimnussen und Märendeitungen“ seien „dieses buches warer Titul“.56 Auch hier werden „deitungen“ und „geheimnusse“ als „Grillen“ (bei Fischart ein wort-
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Die Ausführungen zu Wein und Öl wurden immer wieder im Zeichen von Fischarts ‚Vitalismus‘, gelesen; vgl. etwa Frank Schlossbauer: Literatur als Gegenwelt. Zur Geschichtlichkeit literarischer Komik am Beispiel Fischarts und Lessings. New York u.a. 1998, S. 120-122. Als Reflexion über Literatur kamen sie dabei zuwenig in den Blick. Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 25f. Ebd., S. 27; vgl. zur „Liste der Allegoriker“ Seelbach: Ludus lectoris (wie Anm. 45), S. 203-205. Vgl. Erich Kleinschmidt: Die Metaphorisierung der Welt. Sinn und Sprache bei François Rabelais und Johann Fischart. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, hrsg. von Wolfgang Harms und Jean-Marie Valentin. Amsterdam / Atlanta, GA 1993, S. 37-57. Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 26f. Ebd., S. 28. Signifikant etwa in den beiden konkurrierenden Auslegungen der „Rätselprophezeiung“ am Schluß der „Geschichtklitterung“, aus der Gargantua auf den „Lauff und die Erhaltung Göttlicher Wahrheit“ schließt, während Bruder Jahn in ihr „ein Beschreibung des Katzenspringigen Ballenspiels oder Ballenspiligen Katzensprungs“ sieht; Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 428; vgl. dazu Kellner: Verabschiedung (wie Anm. 21). Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 10f.; entsprechend sind bereits auf dem Titelblatt „Pantadurstige Mythologien oder Geheimnus deutungen“ angekündigt.
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geschichtlich früher Beleg für die Bedeutung: wunderlichen Einfälle, Launen)57 ausgewiesen und in Durst und Suff begründet. Daß Texte, die beim Trinken entstehen, besondere Lizenzen beanspruchen dürfen, was die Verbindlichkeit ihres Umgangs mit Sinn betrifft, steht nicht nur bei Rabelais und Fischart. Auch der berühmte Philologe Julius Caesar Scaliger nimmt dies in seinen „Poemata“ von 1574 für einhundert Rätselgedichte, die er „Logogriphi“ nennt, in Anspruch. In ihnen werden bestimmte Begriffe durch Spiele mit Klängen, Silben und übertragenen Bedeutungen kodiert. Eröffnet wird die Sammlung mit einem Gedicht über die Kabbala, welche dem Leser als Modell für die Rezeption der Logogryphen empfohlen wird und ihm gleichwohl anheim stellt, von ihr zu halten, was er wolle. In der Adresse an den Leser weist Scaliger darauf hin, er habe die Zeit des Trinkens zur Abfassung der Rätsel genutzt: Lectori | Hos centum griphos quam paucis lusimus horis | Dicere non ausim. Malo tacere pudens. | Non credis? Leuitas coget te credere rerum. | […] Ludimus hoc satis est, atque inter pocula. Nec sunt | Tam leuia nequeant addere sæpe moras.58 Anders als während der Zeit, die dem Studium vorbehalten ist, kann inter pocula der Sinn schweifen und spielen. Von hier aus nun läßt sich der Status der Texte, von denen im Zusammenhang von Fischarts Ausführungen über Lampenöl und Wein die Rede ist, genauer bestimmen. Dem Weinrausch können Texte zugeordnet werden, die spielerisch sind und von levitas59 geprägt, sich um die letzte Sinngebung und vollständige hermeneutische Integration nicht scheren, die ihrerseits Deutungspraktiken vielmehr vorführen und als kontingente ridikülisieren und die Fülle der anderen Texte zum Anlaß überraschender 57
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Viele Belege für diese Bedeutung des Wortes „Grille“ finden sich erstmals in der „Geschichtklitterung“. Fischart steht so am Beginn eines Wortfelds, das einer deutschsprachigen Naturgeschichte der Phantasie angehört. Vgl. Art. „grille“. II: laune. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Vierter Band. I. Abteilung. 6. Teil, bearbeitet von Arthur Hübner und Hans Neumann in Verbindung mit der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs. Leipzig 1935, Sp. 318-326; vgl. auch die Art. „grillenfänger“; „grillenfängerei“; „grillenfängerin“; „grillenfängerisch“; „grillenfeder“; „grillenhaft“; „grillenhaftigkeit“; „grillig“, „grillicht“; „grillisch“ und „grillisieren“; ebd., Sp. 326-335. Julius Caesar Scaliger: Poemata in duas partes divisa. Tl. 1. Genf, Jakob Stoer 1574, S. 614. Die Übersetzung des Gedichts bei Kristian Jensen lautet wie folgt: „I would not care to say how little time I have spent in putting these hundred riddles together. I should rather keep an embarrassed silence. If you do not believe me, the light-mindedness of the poems will convince you. Trust me, I have been amusing myself over a drink. Yet they are not so easy that they cannot make you pause.“ Kristian Jensen: Rhetorical Philosophy and Philosophical Grammar. Julius Caesar Scaliger’s Theory of Language. München 1990 (Humanistische Bibliothek: Reihe 1, Bd. 46), S. 154, Anm. 96. Levitas: die Flüchtigkeit, der Leichtsinn, die Veränderlichkeit, die Unbeständigkeit, die schwankenden Grundsätze, die Haltlosigkeit, der Wankelmut, die Charakterlosigkeit. Vgl. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch […]. Zweiter Bd. Unveränderter Nachdruck der achten, verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges. Hannover / Leipzig 1913 (Reprint Darmstadt 1992), Sp. 628.
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Sinneffekte nehmen. Der Ölgeruch der Studierlampe kennzeichnet Texte, die totes Buchwissen versammeln und die Erschließung tieferen Sinns behaupten, also gelehrte Texte ohne spielerische Dimension bzw. ohne explizite Exponierung ihrer Kontingenz. Eine Differenzierung in gelehrte und literarische Texte entspricht dieser Unterscheidung aber nur bedingt. Auch der Weinrausch bleibt in der „Geschichtklitterung“ immer auf den gelehrten Diskurs bezogen – dies ist gegen allzu vitalistische Lektüren der entsprechenden Passagen zu betonen. Weder in den Ausführungen zu Wein und Öl, noch im berühmten achten Kapiel, der „Trunckenen Litanei“, ist das Sprechen im Rausch reine Sprache der Natur: Die „Trunckene Litanei“ montiert verschiedene Liedtexte und Sprichwörter, die im Zustand ihrer progredierenden artikulatorischen Zersetzung vorgeführt werden;60 die Ausführungen zum Weinrausch des Dichters prozessieren gelehrte Traditionen. Der Weinrausch ist bei Fischart das Medium, in dem der gelehrte Diskurs zersetzt, partikularisiert und neu arrangiert, aus den Fesseln des Arguments und des Geltenden befreit wird und macht, was er will – Rhetorik, die Kunst der schönen Rede, wird dabei zur Narrensprache: „Redtorich“.61 Literatur wird dabei zur Instanz solcher Operationen, sie weist eine gegendiskursive Energie auf, was Fischart dadurch deutlich macht, daß er die Traditionen der Dichtung konsequent unter Alkohol setzt: Es gibt doch unter dem Wein die besten keuff, ja die besten rhatschläg, als Tacit von den Teutschen meld und Strabo im 15. Buch von den Persern helt. Wie ihm dann Homer, der sich an Königs Meons Hof blind gesoffen, eyn außbund aller bereythgirigen Philologen inn dem fall wohl zuthun wußt: Deßgleichen der Zihvatter aller Latinischen Poeten der Podagramisch Ennius, inn massen von ihm Horat, so mit gleicher weinlaug gewaschen, schreibet, daß er nie hab sein federwehr geschliffen, unnd ein dapffere schlacht inn reimen angriffen, er hab dann vor eyn gesezlin gepfiffen, wie der fromm C. Scheit im Grobiano zu dem Bacho spricht, Ich muß mich vor eyn wenig kröpffen, Daß ich eyn guten Trunck mög schöpffen: Hör Bache mit dem grossen bauch, Lang mir dorther den vollen schlauch, Eyn gute bratwurst auß dem Sack, Daß mir eyn küler trunck darauff schmack, Da laß mich thun eyn guten suff, Marcolfe sich, der git dir drauff, Hehem, das heyßt eyn guter tranck, Jetzt bin ich gsund, vor war ich 62 kranck.
Literarische Autoritäten der Antike, Tacitus, Strabo, Homer, Ennius, Horaz und schließlich auch Fischarts Zeitgenosse Caspar Scheidt werden so ‚alkoholisiert‘, wobei entweder auf Schilderungen von Räuschen in ihren Texten oder aber auf historische
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So Elisabeth Lienert zur ‚Trunkenen Litanei‘: „Bei dieser poetischen Sprache scheint, analog den Wirkungen des Weins, die Ratio außer Gefecht gesetzt. Der Schein freilich trügt: Kaum ein anderes Stück Literatur zehrt so stark von rationaler Montage und Intertextualität.“ Elisabeth Lienert: Literarische Trunkenheit. Trinklieder und Trinkszenen in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher deutscher Literatur. In: Genußmittel und Literatur, hrsg. von Hans Wolf Jäger und Holger Böning. Bremen u.a. 2003, S. 75-100, hier S. 100; vgl. in diesem Sinne auch Bachorski: Irrsinn und Kolportage (wie Anm. 8), S. 473-477. Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 119. Ebd., S. 28.
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Überlieferungen über den Lebenswandel der Autoren zurückgegriffen wird.63 Anders als bei Rabelais wird die Blindheit Homers, Signum seines auf Mündlichkeit und Schriftferne beruhenden Rhapsodentums, auf Alkoholabusus an König Meons Hof zurückgeführt. Wein wird so das Substrat der großen Literatur, wie Fischart unermüdlich weiter an einer Beispielreihe ausführt, in der Alkaios, Aristophanes, Aischylos und Pindar vorkommen. Schließlich entfaltet Fischart eine Etymologie, in der der Poet auf potare zurückgeführt und die „Göttin Potina“ angerufen wird: […] sintemal Poeten von Potus, Potae, il boit, und Pott kommet, wie Gwido de Monticella im Vocabulista etymologisato & Ecclesiastico auff seyenen eyd behelt, auß dem spruch, Non est Dithyrambus aquam si potitet, vel poietitet, unnd des Martials Possum nil ergo sobrius bibenti, &c. Es gibt gefrorn ding, was man aus brunnen schöpft: Eyn Poet soll auff eyner seit am Gürtel eyn Dintenhorn, auff der andern eyn fläsch hencken haben, das soll sein 64 Brevirbůchlin sein.
Mit dem Getränk als Brevierbuch ist auf Rabelais’ 4. Buch der Pentalogie angespielt, wo sich der Verfasser bei seinen Lesern für das Übersenden eines Brevierbuchs bedankt, welches freilich keinen Text, sondern für jede Tagesstunde eine Dosis Weins enthält.65 Wie bereits die Erwähnung eines etymologischen Wörterbuchs66 und des Brevierbüchleins zeigt, manifestiert sich im Weinrausch nicht die sprechende Natur, wie beim Genie, sondern im Weinrausch erfolgt der Gegendiskurs zum gelehrten Schrifttum und zur Buchkultur. Fischarts Gegendiskurs entfaltet sich als im Zeichen des Rausches erfolgende Aufhebung derjenigen Begrenzungen, die den gelehrten Diskurs als solchen konstituieren. Hier ist der Rausch Medium eines Spiels mit gelehrtem Wissen,67 nicht die Stimme der Natur.68 Eine weitere Exponierung von Produktivität in der „Geschichtklitterung“ erfolgt im Kontext der Auseinandersetzung Fischarts mit der Sprache der Alchemie. Fischarts Partizipation am alchemistischen Diskurs läßt sich nicht allein in seinen literarischen
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Vgl. hierzu die Ausführungen zur „Liste weinseliger Dichter“ bei Seelbach: Ludus lectoris (wie Anm. 45), S. 205f. Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 28; vgl. auch Bachorski: Irrsinn und Kolportage (Anm. 8), S. 503. Vgl. den „Ancien Prologue“ bzw. den „alten Prologus“. Frannois Rabelais: Œuvres complétes. Édition établie, annotée et préfacée par Guy Demerson. Paris 1973, S. 766ff. Meister Franz Rabelais der Arzenei Doctoren Gargantua und Pantagruel. Aus dem Französischen verdeutscht von Gottlob Regis, 2 Bde. Frankfurt a.M. o.J., Bd. 2, S.14ff. Mit dem Ausfindigmachen des zitierten Wörterbuches hat es seine Schwierigkeiten; vgl. dazu Seelbach: Ludus lectoris (wie Anm. 45), S. 353. Beate Kellner: Spiel mit gelehrtem Wissen. Fischarts „Geschichtklitterung“ und Rabelais „Gargantua“. In: Text und Kontext, hrsg. von Jan-Dirk Müller. München 2006 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 219-243. Vgl. Lienert: Literarische Trunkenheit (wie Anm. 60), S. 100.
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Texten ausmachen,69 auch einige seiner fachpublizistischen Schriften widmeten sich der Alchemie. Fischart hatte in der Offizin seines Schwagers Bernhard Jobin zusammen mit dem bedeutenden Frühparacelsisten Michael Schütz (Toxites)70 ein paracelsisches Wörterbuch in Verbindung mit einem medizinischen Onomasticon herausgegeben. In den beiden Verzeichnissen wird auch alchemistischer Wortschatz durch Angabe von Synonymen und Worterklärungen sprachhermeneutisch aufgearbeitet.71 Er war zudem als Editor und Übersetzer alchemistischer Schriften in Erscheinung getreten:72 Seine Ausgabe der Schriften von Richard Anglicus, (Pseudo-)Raimundus Lullus und König Geber enthält ein deutsches Vorwort Fischarts. In ihm findet eine kritische Auseinandersetzung mit der Arkansprache der Alchemisten statt, die einerseits eine Rechtfertigung der Alchemie betreibt, zugleich aber auf satirische Weise zeitgenössisches alchemistisches Schrifttum distanziert.73 Es ist auf diesem Gebiet also die von der Fischart-Forschung wenig genutzte Möglichkeit gegeben, Text-Kontext Relationen zwischen gelehrtem Diskurs und Literatur bei ein und demselben Verfasser nachzugehen. In der „Geschichtklitterung“ wird im 27. Kapitel geschildert, wie Gargantua mit seinen Lehrmeistern an Regentagen verschiedene Werkstätten, Schulen und öffentliche Plätze aufsucht. Fischart ergänzt hier seine Vorlage, das 24. Kapitel in Rabelais’ „Gar69
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Neben den noch zu besprechenden Passagen der „Geschichtklitterung“ sind hier verballhornende Buchtitel aus dem „Catalogus catalogorum“ zu erwähnen, in denen alchemistische Texte evoziert werden; vgl. die Nr. 108 und 226 in: Fischart: Catalogus (wie Anm. 40), S. 11, 18. Vgl. das Biogramm des Toxites (d.i. Michael Schütz) bei Wilhelm Kühlmann / Joachim Telle (Hrsg.): Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Bd. II: Der Frühparacelsismus. 2. Teil. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 89), S. 41-66. Onomastica II. I: Philosophicum, Medicum, Synonymum ex variis vulgaribusque linguis. II: Theophrasti Paracelsi: hoc est, earum vocum, quarum in scriptis eius solet usus esse, explicatio. Nunc primum in commodum omnium Philosophiae ac Medicinae Theophrasticae studiosorum, cuiuscunque nationis sint: fideliter publicata, Gründliche Erklärung in allerlei Sprachen, der Philosophischen, Medizinischen und Chimicischen Namen, welcher sich die Arzet und Apotheker und auch Theophrastus zu gebrauchen pflegen. Nun erstmals idermäniglichen zur mehrerem nuz, richtigerem verstand und förderlicher lesung der Theophrastischen und sonst bücher ordentliche und fleisig inn truck gefärtiget. Straßburg, Bernhard Jobin 1574. [Johann Fischart]: I: Correctorium Alchymiae Richardi Anglici. Das ist Reformierte Alchimy oder Alchimeibesserung, vnd Straffung der Alchimistischen Mißpräuch […]. II: Raimvndi Lulli apertorium et accuratio vegetabilium. Von eröffnung vnd entdeckung wachsender Sachen, vnd des Philosophischen steyns […]. III: Des König Gebers auß hispanien secretum dessen sich die Venetianer hoch außthun […]. Straßburg, Bernhard Jobin 1581. Abgedruckt ist das Vorwort bei: Camillus Wendeler: Fischart als Herausgeber alchymistischer Schriften. In: Archiv für Litteratur-Geschichte VI (1877), S. 487-509, hier: S. 496-501. Wendelers quellengeschichtlich wertvolle Studie wertet die Alchemie aus der modernen Perspektive einer Chemiegeschichte ab („Ich denke, man wird kein weiteres verlangen nach diesen kostbarkeiten einer längst zu den todten geworfenen Wissenschaft haben“, S. 509). Die wissensgeschichtliche Kontextualisierung der Fischartschen Schriften zum Thema bleibt deshalb unbefriedigend.
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gantua“, um ein Vielfaches, indem er über die knappe Erwähnung der Orte in der Vorlage hinaus detaillierte Listen des dort Inspizierten einfügt und mitunter gegen betrügerische Praktiken der verschiedenen Berufsstände polemisiert. So gestaltet sich dieses Kapitel bei Fischart, anders als bei Rabelais, als nach Sachgruppen geordnetes Verzeichnis verschiedener ‚Fachsprachen‘ bzw. Spezialwortschätze: Es finden sich darin die Bezeichnungen der Münzpräger, Listen von Pumpenbezeichnungen, Mühlenbezeichnungen, das Vokabular der Fechtschulen, Apothekerbegriffe und vieles mehr. Die enzyklopädische Sammlung enthält auch die Sprache der Alchemisten: Oder sie giengen auß, oder fuhren herumb etliche künstliche Werck und fünd zubeschauen, wie man die Metall extrahirt und solvirt, scheidet vnd auß ziehet: die Alchemisten, wie sie calcinieren, reverberiren, cimentiren, sublimiren, fixiren, putreficirn, circulirn, ascrudirn, laviren, imbiriren, cohobiren, coaguliren, tingiren, transmutiren, laminiren, stratificiren, den König suchen, den Geist, den lapidem philosophorum, den Mann beim Weib, den entloffenen Mercurium, und per omnes species gradiren, es seien Metall, gemmæ, Mineralien, kräuter, säfft, olea, salia, liquores, oder anders: Item wie man falsche Perlein, Edelgestein und Corallen mach: dann auß dem mißbrauch lehrt man den rechten brauch: der mißbrauch ist aller guten bräuch rost, der sich stets an hängt: also dz auch einer schreibet, Superstitiones seien 74 Religionis Rubigines.
Fischart inventarisiert hier den Diskurs und die facettenreiche Sprache der Alchemisten in verdichteter Form, indem er vier Aspekte besonders akzentuiert. Zum einen versammelt er die in alchemistischen Schriften und Rezepten sich häufenden Verben auf „-ieren“, die in der Praktik verschiedene laborantische Vorgänge innerhalb des opus magnum benennen,75 die mehr oder weniger genau unterscheidbar sind.76 In der sogenannten theorica der Alchemisten chiffrieren dieselben Verben auch Stufen eines Läuterungsprozesses des Adepten. Weiterhin vermerkt Fischart allegorische Bilder („den König suchen, den Mann beim Weib, den entloffenen Mercurium“), die charakteristisch sind für die verdeckte Rede (tecte), den dunklen Stil der alchemistischen Arkansprache.77 Solche Allegorien werden in den alchemistischen Schriften nicht nur 74
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Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 273. Zur literatursoziologischen Dimension von Fischarts enzyklopädischer Auflistung der peraktischen Tätigkeiten vgl. Bachorski: Irrsinn und Kolportage (wie Anm. 8), S. 384f. Vgl. zur Abfolge und Begrifflichkeit des opus magnum Guido Jüttner / Joachim Telle: Art. „Alchemie“. In: Lexikon des Mittelalters. München 2002, Bd. 1, Sp. 329-342, hier: Sp. 334; Bernhard Dietrich Haage: Die Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus. Düsseldorf 2000, S. 15-18. Zur „totalen Synonymie“ in alchemistischen Schriften vgl. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen von Günter Memmert. München / Wien 1992, S. 117ff. Ein beliebig zu vermehrendes Beispiel: „Hie ist geboren der Track / sein hauß sind finsternussen / vnnd schwertze ist in allen denen wohnend. Aber dieses Meer fleuhet der Todt vnd die finsternussen / vnd die glentz vnd schein der Sonnen fleuhet der track / der da l=cher behalt / oder darauff acht hat / Vnnd unser todter Sohn wird kommen / vnnd der K=nig wird kommen auß dem fewr / vnd wird sich der verm#hlung frewen / vnnd die verborgenen oder heimlichen ding werden erscheinen / vnd die Jungkfrewlich Milch wird weiß werden / vnd vnser Sohn jetzund lebendig ge-
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sprachlich vergegenwärtigt, sondern oft auch bildlich dargestellt78 und einzelne dieser Allegorien (Ouroboros, Hermaphrodit u.a.) wandern im 16. Jahrhundert aus den alchemistischen Traktaten in den Bereich der sich neu etablierenden Emblematik. Drittens vermerkt Fischart die im Laboratorium zur Anwendung kommenden Substanzen (Metall, gemmæ, Mineralien, kräuter, säfft, olea, salia, liquores). Hier berühren sich Fischarts Ausführungen mit den Einträgen in den beiden bereits erwähnten, von Fischart und Toxites herausgegebenen „Onomastica“. In ihnen wird neben der sprachhermeneutischen Aufarbeitung alchemistischer und paracelsischer Arkansprache auch eine Vereinheitlichung und Standardisierung medizinischer Terminologie durch Angabe der verschiedensprachigen Synonyme und ihre Zuordnung zu den Begriffen von Apothekern, Salbern und Badern bezweckt – so kündigen es die Vorworte von Toxites und Fischart an.79 Die geraffte Präsentation alchemistischer Sprachformen in der
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macht / wird in fewr ein krieger / vnd vber die tincturen und ferbungen fFraußgehend.“ [Reusner]: Pandora, Das ist, Die edlest Gab Gottes, oder der werde unnd heilsamme Stein der Weysen, mit welchem die alten Philosophi, auch Theophrastus Paracelsus, die unvollkomene Metallen, durch gewalt des Fewrs verbessert: sampt allerley schedliche und unheilsame kranckheiten, innerlich und äußerlich haben vertrieben. Ein Guldener Schatz, welcher durch einen Liebhaber dieser Kunst von seinem Untergang errettet ist worden, unnd zu nutz allen Menschen, fürnemlich den Liebhabern der Paracelsischen Artzney, jetzt wiederumb in Truck verfertiget. Basel, Sebastianus Henricpetri 1598, S. 43. Zur Arkansprache vgl. Gerhard Eis: Von der Rede und dem Schweigen der Alchimisten. In: Vor und nach Paracelsus. Untersuchungen über Hohenheims Traditionsverbundenheit und Nachrichten über seine Anhänger. Stuttgart 21965 (Medizin in Geschichte und Kultur 65), S. 51-73 (mit problematischen Annahmen zur sozialethischen Begründung der Geheimsprache); Herwig Buntz: Deutsche alchemistische Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts. Diss. München 1969, S. 52-60; Jüttner / Telle: Art. „Alchemie“ (wie Anm. 75), Sp. 330f., 335338. Die Arkansprache der Alchemisten konstituiert teilweise auch die Paracelsische Wissenschaftssprache, zum Problem ihrer Hermetik im 16. Jahrhundert Kühlmann / Telle (Hrsg.): Corpus Paracelsisticum (wie Anm. 70), S. 18-27. Außergewöhnliche Beispiele der Zeit bietet [Reusner]: Pandora (wie Anm. 77), passim. Vgl. weiterhin die Abbildungen bei Hans Biedermann: Materia prima. Eine Bildersammlung zur Ideengeschichte der Alchemie. Graz 1973; Buntz: Deutsche alchemistische Traktate (wie Anm. 77); Haage: Alchemie (wie Anm. 75). Fischarts Vorwort zum Onomasticon ist abgedruckt in: Alemannia 1 (1873), S. 145-147; vgl. dazu Adolf Hauffen: Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation. Berlin / Leipzig 1922 (Schriften des wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich), Bd. 2, S. 185. Das Vorwort von Toxites findet sich mit Übersetzung und umfangreichem Kommentar unter der Nr. 55 bei Kühlmann / Telle (Hrsg.): Corpus Paracelsisticum (wie Anm. 70), S. 321331. Zu anderen lexikographischen Hilfsmiteln der Zeit, die der Regellosigkeit der materia medica abhelfen sollten, vgl. ebd., S. 19, 232-249. Im Zusammenhang mit der Auffindung und Untersuchung eines Laboratoriums des 16. Jahrhunderts in Oberstockstall/Kirchberg am Wagram rückten die Onomastika von Fischart und Toxites aufgrund ihrer Widmungsvorrede ins Interesse der chemiegeschichtlichen Forschung; vgl. Werner Rudolf Sokoup / Helmut Mayer: Alchemistisches Gold. Paracelsische Pharmaka. Laboratoriumstechnik im 16. Jahrhundert. Chemiegeschichtliche und archäometrische Untersuchungen am Inventar des Laboratoriums von
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„Geschichtklitterung“ ist somit ein literarisches Seitenstück zur lexikographischen Aufarbeitung eines Spezialwortschatzes. Der vierte Aspekt alchemistischer Sprache, der in der angeführten Passage berücksichtigt wird, ist die Praxis der Rechtfertigung, welche von Alchemisten gegen den Dauerverdacht der Betrügerei und gegen die Kritik an ihrer Arkansprache betrieben wurde.80 Fischart ironisiert hier die Begründung, die von Alchemisten hergestellten Fälschungen dienten lediglich der Übung laborantischer Praktiken. In der zitierten Passage wird durchaus kenntnisreich die Sprachwelt der Alchemie in geraffter Form verzeichnet. Die lexikographische Aufbereitung verschiedenster Spezialwortschätze aus den Bereichen des Handwerks und der Künste im 27. Kapitel der „Geschichtklitterung“ zeigt den Verfasser als Enzyklopädisten. An anderer Stelle aber parodiert Fischart die Sprache der Alchemie in einer Art und Weise, die poetisch weit über das angeführte Verzeichnis hinausgeht. Im Zusammenhang einer aberwitzigen Ätiologie des Krieges heißt es, es seien die Vögel gewesen, die den Krieg auf die Welt brachten. Fischart gibt nach langen Belegen für diese Behauptung schließlich den Eiern für alles die Schuld, ja letztlich wird eine Kosmogonie entworfen, an deren Ursprung ein magisches Ur-Ei steht. Dabei kommt er auch auf die Alchemisten zu sprechen, besonders auf ihren Umgang mit Eiern:81 Und die Alchymisten, wie viel verderben sie Eyer mit ihrem Calcinieren? Aber es sind böß Bruthennen, sie lauffen gemeynlich bald von der Brut? Hat nicht der Roßkäfer dem Adler sein Eyer inn Jupiters Schoß zerstört? Darvon der Londisch Johan vom Ey groß Monadisch heimlichkeit den Keyser lehrt, als er beweißt, die Welt geh wie ein Ey umb: Ja Jupiter, damit er sein Stral Schilttragend Vogelgschlecht erhalt, schafft, das alsdann, wann der Adler übern Eiern sitzt, keine Schalkäfer umbfliegen: Warumb aber die Roßkäferisch Scherabeierisch art den eyerschalen so feind: das macht, weil sie verdreußt, daß sie auß Roßfeigen unnd keinen Eyern kommen: Nun so viel hat dannoch der vom Ey, auß den Grabakarabis Pillulariis
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Oberstockstall / Kirchberg am Wagram. Wien / Köln / Weimar 1997 (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte 10). Die Kritik an der Alchemie findet sich im 16. Jahrhundert allenthalben, so etwa unter der Rubrik „fon falsch und beschiss“ bei Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Fotomechanische Reproduktion der Erstausgabe von 1494. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Virmond. Berlin 1979, Nr. 102. Als Sinnbild der Torheit und der vergeblichen Mühe erscheint der Alchemist bzw. sein Ofen in den Emblembüchern des Sambucus und Covarrubias Orozco; vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart / Weimar 1996, S. 1059f., 1407. Der Pfarrer Johannes Clajus empfiehlt als Mittel zum Wohlstand und Alternative zu alchemistischer Goldmacherei die „Altkumistik“: Damit ist die Kunst, die Felder mit Kuhmist zu düngen, gemeint. Die landwirtschaftlichen Erträge und die aus ihnen gefertigten Produkte führen sodann zuverlässig zu Wohlstand, vgl. Johannes Clajus: Altkumistika. Das ist: die Kunst, aus Mist durch seine Wirckung Gold zu machen. Wider die betrieglichen Alchimisten und ungeschickte vermeinten Theophrastisten. Leipzig, Zacharias Berwaldt 1586. Zum Ei und zum philosophischen Welten-Ei bei den Alchemisten vgl. H. J. Sheppard: Egg Symbolism in Alchemy. In: Ambix 6 (1958), S. 140-148. Zur Unverbindlichkeit von Welterklärungsmodellen und zur Pluralität von Deutungsmöglichkeiten in diesem Zusammenhang vgl. Bachorski: Irrsinn und Kolportage (wie Anm. 8), S. 410f.
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ergarakrabelet, daß wir all auß eim Ey herkommen, weil die Welt ein Ey ist: das hat gelegt ein Adler, das ist die hoch, weit und schnellfliegend Hand des Jupiters, das ist das Chaos, das Cavum, das Chaovum, der offen Ofen, hauffen, Hafen, welches des Adlers Hitz Chaovirt, Fovirt, Feurofirt, Chaoquirt unnd Coquirt: Ja Jupiters krafft war distillirer inn dem Vacuo Cavo Ovo, inn dem Ofen Hafen Ey: Der schoß war der Himmel: O ihr Alchymisten freuet euch, hie geht euer geheimnuß an. Diß schön Ey, hat zerstört die Sündflutisch Mistkäferey, da ein Mistkasten über die Wolcken inn den andern Elementen ist umbgefahren, der Dotter im 82 Eyerklar.
Wie bereits Camillus Wendeler gezeigt hat, greift Fischart mit dem „Londischen Johann vom Ey“ und der „groß Monadisch heimlichkeit“ auf den elisabethanischen Magier John Dee Londinensis und auf dessen Kaiser Maximilian zugeeignetes Werk „Monas Hieroglyphica“ zurück.83 Es handelt sich dabei um ein äußerst rätselhaftes Opus hermetischer Literatur, in dem beansprucht wird, dem Eingeweihten alle Geheimnisse der Schöpfung darzulegen. Dies geschieht durch die ‚Anatomie‘ der Monas-Hieroglyphe – einer Figur, die aus verschiedenen geometrischen Elementen, Planetensymbolen und Sternzeichen zusammengefügt ist. Diese wird hinsichtlich ihrer Proportionen sowie der integrierten Symbole mit allen denkbaren kosmologischen, mathematischen, astronomischen und weiteren Sachverhalten in Beziehung gesetzt.84 Die Monas-Hieroglyphe, so erörtert es Dee im Vorwort an Kaiser Maximilian, solle sowohl den Grammatikern als auch den Mathematikern, Geometern, Musikern, Astronomen, Alchemisten und Ärzten Hilfe bei der Entschlüsselung der Geheimnisse der Schöpfung leisten. In der Nachfolge Dees avancierte diese Monas-Hieroglyphe zu einer Art Leitfossil des hermetischen Diskurses. In angeführter Passage zitiert Fischart John Dees ‚Theorem XVIII‘, in dem die theoretische und himmlische Bewegung der Figur des Eies dargelegt wird.85 Dee wendet hier die „kabbalistischen Augen“ zum Himmel und erkennt in den Bewegungen der Planeten die Figur des Eis. Gerügt werden in diesem Zusammenhang die Alchemisten, welche nicht verstünden, was das Wasser des Eiweißes, das Öl des Eigelbs und der Kalk der Eierschale wirklich bedeuteten und in ihren Praktiken die tiefere Wahrheit verfehlten. Das Ei, von dem Dee spricht, sei auch das Ei des Adlers, das vom Skarabäus zerbrochen worden sei, hier bezieht sich Dee auch auf die Aesopische Fabel vom Adler und dem Skarabäus. Für Fischarts lusorischen Aufgriff dieser Textstelle ist sein Entwurf einer Ätiologie des Krieges aus den Eiern der Anlaß. Fischart nutzt den hermetischen Text für ein eigenes Ursprungskonstrukt, aber nicht, um einen einfachen mythischen Ursprung des Krieges 82 83
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Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 286-288. Monas Hieroglyphica Joannis Dee, Londinensis ad Maximilianum, Dei gratia Romanorum, Bohemiae et Hungariae Regem Sapientissimum, Mathmatice, magice, cabbalistice, anagogice explicata. Antwerpen, Guilelmus Silvius 1564. Die in Frage kommende Passage aus dem Theorem XVIII ist abgedruckt bei Wendeler: Fischart als Herausgeber (wie Anm. 73), S. 492-493. Vgl. die knappe Zusammenfassung mit weiterer Literatur bei Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 21994, S. 194-200. Monas Hieroglyphica (wie Anm. 83), Bl. 17r-18v.
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zu bezeichnen, sondern um in chaotische Zustände, in Mythen- und Sprachsynkretismen vorzudringen.86 Dabei unterstellt er dem „Londisch Johann“, er habe herausgefunden, daß die Menschen einem Ei entstammten und die Welt ein Ei sei. 87 Greifbar wird in Fischarts Aufgriff dieser Passage die in der „Geschichtklitterung“ immer wieder vorkommende poetische Funktionalisierung des hermetischen Diskurses. Fischart geht es, wie bereits gesagt, um „Mythologias Pantagruelicas, […] Alldurstige Grillengeheimnussen und Märendeitungen“88, die behaupteten und beschworenen Geheimnisse der Hermetiker sind bestenfalls Anlaß, solche poetischen „Grillengeheimnusse[]“ voranzutreiben. Aus John Dees Mahnungen an die Alchemisten macht Fischart ein seine Vorlage ausweitendes komplexes Sprachspiel, in welches er die „Fachsprache“ der Laboranten verfremdend einbezieht. Die Rede ist von einem Chaos im Ur-Ei. Durch Assoziation wird aus dem Chaos ein Chavum, also eine Höhle, in der Feuer brennt. Der „offen Ofen“ evoziert den Athanor, den Ofen der Alchemisten. Ebenso zitieren und parodieren die Worte „Hitz, Calzinieren, destillieren, vacuo“ die Sprache der Alchemie. Fischart nimmt die Frage nach dem Ursprung des Krieges hier also zum Anlaß, das vielbeschworene „geheimnus“ der Alchemisten bzw. der Hermetiker überhaupt89 dabei zugleich dem Gelächter preiszugeben. Gunther Hess’ treffende Charakteristik von Fischarts Sprachspielen als „Sprachalchemie“ 90 kann dabei mit Bezug auf den Diskurs der Alchemisten durchaus wörtlich genommen werden: Die Alchemie geht in ihrer theorica und practica davon aus, daß die Dinge, welche als geformte Materie vorliegen, von ihrer Form befreit werden können, wodurch sie auf eine prima materia, eine potentia zurückfallen, und dann mittels alchemistischer Operationen mit neuer Form versehen und somit veredelt werden kön-
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Vgl. meine Studie: Ursprache und Sprachverwandtschaft in Johann Fischarts ‚Geschichtklitterung‘. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 56 (2006), H. 2, S. 127-148, hier: S. 146148. Seelbach: Ludus lectoris (wie Anm. 45), S. 345 zieht den Hinweis Wendelers auf die Textstelle bei Dee in Zweifel, weil dort nicht behauptet werde, die Menschen kämen aus einem Ei und die Welt sei ein Ei, das ein Adler gelegt habe. Es handle sich, so Seelbach, nur um äußerliche Ähnlichkeiten. Mir scheint dagegen – angesichts der Anspielungen auf Maximilian, den Adler, Jupiter, den Skarabäus und die Planetenbahnen – der Bezug recht offensichtlich. Daß Fischart andererseits die Ausführungen bei Dee seinem lusorischen Entwurf einer Ätiologie des Krieges der Eier wegen amalgamiert und sich dabei um ‚korrekte‘ Zitierpraxis nicht weiter bekümmert, sollte bei diesem Autor nun wirklich nicht erstaunen. Fischart: Geschichtklitterung (wie Anm. 6), S. 10f. Daß das unaufhörliche Hinausschieben des Geheimnisses bei den Hermetikern auf das endgültige Geheimnis führe, welches besage, das alles Geheimnis sei, hat Umberto Eco in seiner Untersuchung hermetischer Semiose deutlich gemacht. Vgl. Eco: Grenzen (wie Anm. 76), S. 65. So die treffende Metapher bei: Günther Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literaur des 16. Jahrhunderts. München 1971, S. 221-235, hier S. 226.
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nen.91 Geht es den Alchemisten um die Aufhebung der Begrenzung der Materie und ihre Neuformung gemäß dem alchemistischen Motto solve et coniugo, so geht es Fischart um die Zerstückung und Neuformung der Sprache, ihre Dekonstruktion, wenn man so will. Die Wortkette „Chaos, Cavum, Chaovum, offen Ofen, hauffen, Hafen, Chaovirt, Fovirt, Feurofirt, Chaoquirt Coquirt: Vacuo Cavo Ovo, Ofen Hafen Ey“ bewegt sich recht nah am alchemistischen Schriftum, enthält aber auch spezifisch Fischartsche Verballhornungen und Neologismen, ergänzt z.B. die alchemistischen Verben auf „-ieren“ um einige untypische Neuprägungen. Man sieht hier, wie Fischart ganz analog zu alchemistischem Selbstverständnis die Begrenzungen der Sprache löst, indem er den Diskurs der Alchemie parodiert und sprachschöpferisch neue Lexeme konstruiert.92 Dabei werden durch Manipulationen am Wortkörper93 Möglichkeiten aktiviert, ein sprachlicher Überschuß geschaffen und produktiv Geräusche und neue Wörter in die Welt gesetzt. Um diesen Prozeß auszustellen, nutzt Fischart im angeführten Zitat eine Wissensformation, die sich vom Rückgängigmachen der Formiertheit und der Umformung der prima materia eine Veredelung mineralischer Substanzen versprach. Dabei konstruiert er ein Chaos als Ursprung der Welt, damit aber auch, so könnte man sagen, einen Raum unendlicher Möglichkeit und insuffizienter Verknappung. Aus einem solchen Raum generiert Fischart auch die über 300 Neologismen, die die Forschung in der „Geschichtklitterung“ ausgemacht hat.94 Diese beeindruckende Produktivität hat sich übrigens im Lexikon niedergeschlagen: Einige der Neologismen gehören noch der deutschen Gegenwartssprache an (‚Geschichtklitterung‘ ist dafür nur ein Beispiel). Die Fachsprache der Alchemisten wird also in der „Geschichtklitterung“ sowohl inventarisiert als auch poetisch umgeformt und den Verfahren sprachschöpferischer Zersetzung und Umordnung unterzogen. Die Alchemie wird so zu einem Modell, das Fischart für die Exponierung sprachschöpferischer Produktivität nutzt.
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Zum hylomorphischen Materie-Verständnis der Alchemisten vgl. Haage: Alchemie (wie Anm. 75), S. 18ff. Fischarts „Manipulationen am sprachlichen Material“ untersucht besonders Seitz: Fischarts ‚Geschichtklitterung‘ (wie Anm. 8), S. 26, 28f. u.ö.; zur „Grenze zwischen semantischer und materialer Sprachnutzung“ in Fischarts Wortspielen vgl. Kleinschmidt: Metaphorisierung (wie Anm. 52), S. 49ff. Seitz: Fischarts ‚Geschichtklitterung‘ (wie Anm. 8). Zur Arbeit am sprachlichen Material im Modus einer „silenischen Rede“ vgl. die bezwingende Interpretation des Dirnenkataloges aus dem fünften Kapitel der „Geschichtklitterung“ bei Müller: Texte aus Texten (wie Anm. 22), S. 85ff. Zu Fischarts Wortmanipulationen, -verdichtungen und -zusammensetzungen jüngst Bachorski: Irrsinn und Kolportage (wie Anm. 8), 460-466 Walther Eckehart Spengler, Johann Fischart, genannt Mentzer. Studie zur Sprache und Literatur des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Göppingen 1969 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 10), S. 170ff.; vgl. auch Zymner: Manierismus (wie Anm. 8), S. 130ff. Daß so „unweigerlich ein Gefühl der absoluten Unendlichkeit der erst einmal von all ihren pragmatischen Verwendungszusammenhängen befreiten Sprache“ vermittel werde betont Bachorski: Irrsinn und Kolportage (wie Anm. 8), S. 489.
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Tobias Bulang
Die gegendiskursive Produktivität, die sich in der „Geschichtklitterung“ im Zeichen des Weinrauschs entfaltet, sowie die sprachschöpferische Produktivität, die unter anderem sich des Modells der Alchemie bedient, lassen sich durch die oben entfalteten anachronistischen Beschreibungsmodelle für künstlerische Produktivität nicht angemessen erfassen. Anders als der Rausch der Genies ist der Weinrausch bei Fischart programmatisch auf Wissen, Intertexte, auf andere Autoren und literarische Traditionen bezogen und sucht diesen Tatbestand auch nicht auf eine authentische Stimme der Natur hin zu invisibilisieren, sondern reflektiert ihn vielmehr, wie am Beispiel von Fischarts charakteristischer Fassung des Bienengleichnisses gezeigt werden konnte. Gerade im verfremdenden Rückgriff auf die vielen Texte ereignet und bewährt sich in der „Geschichtklitterung“ literarische Produktivität. Dies zeigt sich auch dort, wo Fischart andere Diskurse, wie den hier untersuchten der Alchemie, aufgreift und enzyklopädisch inventarisiert. Durch Manipulationen am Wortkörper und Sprachentgrenzung kann ein solcher Diskurs plötzlich auf die Materialität seiner sprachlichen Zeichen zurückgeworfen werden und von da aus produktive Impulse für sprachschöpferische Innovationen bilden. Seine sprachschöpferische Produktivität zielt dabei auch auf den noch unerschöpften Möglichkeitsreichtum der deutschen Sprache. Die „Geschichtklitterung“ kennt Epigonalität nicht als unproduktives Verfahren und Genialität nicht als Rausch der Natur. Faßt man literarische Produktivität als Effekt eines offensiven Arbeitens an den Begrenzungen des Wissens, der Diskurse, der Sprache auf ihren verschiedenen Ebenen, so scheint mir damit ein konzeptuell belastbares und ausbaufähiges Modell angedeutet zu sein, das auch in dichten Lektüren der Texte in seiner jeweiligen historischen Fassung ausgewiesen werden kann.
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Tobias Bulang
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Literarische Produktivität
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ANTJE WITTSTOCK
Melancholie und asketisches Arbeitsethos bei Bartholomäus Sastrow*
Multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit, Qui cupit optatam cursu contingere metam, und 1 weret auch mein Lebelang hindurch, biß an mein letstes Stundlein.
Zum Ausgang des 16. Jahrhunderts erfreute sich die Melancholie großer Beliebtheit und spielte in der Bildenden Kunst wie auch in der Literatur eine bedeutende Rolle.2 Hier begegnet sie insbesondere in Selbstzeugnissen und fungiert als Darstellungsmittel des schreibenden Ichs. Dabei belegen die Texte nicht nur ein umfangreiches Spektrum an Vorstellungen, was jeweils unter ‚Melancholie‘ verstanden oder als ‚melancholisch‘ bezeichnet wird; ebenso vielfältig sind die Arten der Bezugnahme auf das Thema ‚Melancholie‘:3 Sie reichen von expliziten Verweisen auf oder dem Bekenntnis zum melan-
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Die freundlichen Anregungen aus der Diskussion meines Vortrages habe ich für die schriftliche Fassung des Beitrages dankend aufgenommen. Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens, auch was sich in dem Denckwerdiges zugetragen, so er mehrentheils selbst gesehen und gegenwärtig mit angehöret hat, von ihm selbst beschriben, hrsg. von Gottlieb Christian Friedrich Mohnike, 3 Bde. Greifswald 1823-24, Bd. I, S. 213. „Wer sich bemüht, im Wettlauf das ersehnte Ziel zu erreichen, hat schon als Junge vieles ertragen und geleistet; er hat geschwitzt und gefroren.“ Die deutsche Übersetzung aus Horaz, Ars poetica 412, ist zitiert nach Quintus Horatius Flaccus: Ars poetica, lat./dt. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1984, S. 31. Zu dem Thema liegt eine Vielzahl von Darstellungen und Untersuchungen vor. Für einen ersten Einblick vgl. nach wie vor die von Dürers Kupferstich „Melencolia I“ ausgehende Studie von Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt a.M. 1998 mit zahlreichen Belegen und weiterführenden Literaturhinweisen. Einen Überblick über die Rolle der Melancholie in der Bildenden Kunst und die Dehnbarkeit des Melancholiebegriffs vermittelte die Ausstellung „Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst“. Galeries nationales du Grand Palais, Paris / Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, die mit dem gleichnamigen Katalog, hrsg. von Jean Clair. Ostfildern-Ruit 2005, dokumentiert wird. Auf die bedeutende Rolle der Melancholie in Selbstzeugnissen als ‚Deutungsfaktor‘ ist vielfach hingewiesen worden. Einen Einblick in die „Melancholie als Leitmotiv der europäischen Selbstanalyse“ mit Fokus auf österreichischen Selbstzeugnissen des Späthumanismus gibt Harald
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cholischen Temperament bis hin zu melancholischer Stilisierung – mit jeweils unterschiedlichen Funktionen für den Text und den darin dargestellten Lebensentwurf. Auch in der Selbstbeschreibung des Rostocker Bürgermeisters und bekennenden Lutheraners Bartholomäus Sastrow „Von Herkunfft, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens“,4 in der er Rückschau auf sein arbeitsames, entbehrungsreiches und ausgesprochen erfolgreiches Leben hält, wird das melancholische Temperament thematisiert und – so meine These – im Sinne einer Selbststilisierung funktionalisiert.5 Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet eine Passage aus Sastrows Jugendbeschreibung, in der er angibt, sein Temperament sei bereits zu Jugendzeiten von einem ursprünglich sanguinischen in ein melancholisches gewandelt worden: „Historien werden genuchsam geben, wordurch in mihr Complexio sanguinea sei in melancholicam vorwendet, meine Wiltheit vnnd Fr=ligheit wol gestillet vnnd zuruckgetriben worden.“6 Dieser Temperamentenwandel vom Sanguiniker zum Melancholiker wird in der retrospektiven Darstellung und Wertung seines Lebens zur Bedingung für Sastrows großen beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg und zum Schlüssel seiner literarischen Selbstdarstellung. Setzt man diese Selbstaussage in begriffshistorischer Perspektive in Beziehung zum Melancholiediskurs insbesondere des 16. Jahrhunderts, wird diese zunächst nebensächlich scheinende Aussage in folgender Weise bemerkenswert:7 Zunächst scheint hier der Gedanke auf, daß sich das menschliche Temperament, die Komplexion, aufgrund äußerer Umstände im Leben eines Menschen ändern kann – eine Vorstellung, die nur bedingt mit den gängigen Melancholievorstellungen in Verbindung gebracht werden kann und vielmehr auf eine Funktionalisierung der Temperamentszuordnung zur rückwirkenden Beschreibung und vor allem Deutung des zu beschreibenden Lebens hinweist.8 Darüber hinaus ist das Konzept der Melancholie
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Tersch: Melancholie in österreichischen Selbstzeugnissen des Späthumanismus. Ein Beitrag zur Historischen Anthropologie. In: MIÖG 105 (1997), S. 130-155, zit. S. 130. Dem vorliegenden Beitrag zugrundegelegt ist die Textausgabe Bartholomäi Sastrowen Herkommen (wie Anm. 1), im Folgenden abgekürzt als: Sastrow, Bde. I-III. Zu Sastrows Autobiographie vgl. Stephan Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur historischen Psychologie. Trier 1993, sowie Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1995. Beide Studien enthalten Überlegungen zur Funktion der Melancholie in Sastrows Selbstbeschreibung, die mir als Ausgangspunkt für die hier präsentierten Überlegungen dienten. Sastrow, Bd. I, S. 62. Veltens Einschätzung, es handle sich bei dieser Passage um eine „typisierte[...] Gemütsdarstellung durch die Temperamentenlehre, die für das 16. Jahrhundert gängig war“ (Velten: Das selbst geschriebene Leben [wie Anm. 4], S. 324), kann ich mich aus verschiedenen, im Folgenden weiter zu entfaltenden Gründen nicht anschließen. Zwar existiert innerhalb der Aetasdarstellungen im Rahmen des ‚humoralen Viererschemas‘ eine Zuordnung von (Greisen-)Alter und Melancholie (vgl. hierzu Klaus T. Wirag: Cursus Aetatis – Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. München 1995) und wäre somit als
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selbst im Vergleich zum traditionellen und im Mittelalter vorherrschenden gewandelt oder um eine Facette erweitert: Sonst eher mit Schwermut und Trägheit assoziiert, steht das melancholische Temperament bei Sastrow als Voraussetzung für beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg und erscheint in enger Verbindung mit moralischen Werten wie Ordnung, Fleiß und Disziplin, die auch angesichts großer Entbehrungen als Handlungsideale gesetzt und angestrebt werden, und die sich als ‚asketisches Arbeitsethos‘ begrifflich fassen lassen. Dieser moralischen Aufwertung des melancholischen Temperaments, die damit impliziert ist, steht im Text gleichzeitig die ‚Herabstufung‘ des Sanguinikers als dem in der traditionellen Charakter- und Typenlehre ‚edelsten‘ der vier Temperamente zum Trieb- und Lotterhaften gegenüber. Der folgende Beitrag nun will dieser Verbindung der Konzepte von Melancholie und Arbeit, wie sie in Sastrows Text greifbar werden, nachgehen. Zum einen gilt es, ausgehend vom Melancholiebegriff zu fragen, inwiefern die historischen Diskurse, in denen der Begriff verhandelt wird, Möglichkeiten der Erklärung bieten. Hieraus wird deutlich werden, daß das Konzept variabel ist und stark differiert, so daß jeweils die einzelne Realisierung und der Kontext des Gebrauchs in den Vordergrund rücken und die Frage nach der Funktion der Temperamentenzuschreibung für den Text anzuschließen ist. Dabei soll im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Perspektive auf das Thema nicht der Versuch unternommen werden, die historische Wirklichkeit zu rekonstruieren und den Text als ereignishistorische Quelle zu lesen.9 Vielmehr stellt sich die Frage der Funktionalisierung der Temperamentendarstellung im Rahmen literarischer Selbstkonzeption und ist zu zeigen, inwiefern der ‚Melancholiker‘ in Sastrows Autobiographie als autobiographisches Deutungsmuster benutzt wird.
‚Melancholie‘ und ‚Arbeit‘: Verbindungen im historischen Diskurs Melancholie und Arbeit (oder auch Produktivität) scheinen zumindest in der holzschnittartig verknappten Auffassung des Temperaments, die auch heute noch geläufig ist, zwei eher kontrastive Konzepte zu sein: Die Melancholie als ein Sammelbegriff für Trübsinn, Traurigkeit, Unlust und Stillstand verhält sich diametral zum Gedanken von Leistung, Zuwachs und Schaffenskraft. Bei genauerem Blick auf die Begriffskonzepte, die zudem je nach ihrem Gebrauchskontext sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive stark variieren können, relativiert sich jedoch dieses Bild und es werden mehrere Schnittpunkte und Verbindungsmöglichkeiten sichtbar.
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Deutungsansatz für den Temperamentenwandel Sastrows zumindest denkbar. Sie ist, wie ich im Folgenden zeige, bei Sastrow jedoch nicht zutreffend. Zu diesem Erkenntnisinteresse vgl. Karl-Reinhart Trauner: Identität in der Frühen Neuzeit. Die Autobiographie des Bartholomäus Sastrow. Münster 2004, S. 8.
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So ist aus der modernen Psychologie durchaus eine Verbindung von Melancholie und Vorstellungen von Arbeit und Leistung bekannt.10 Der Psychologe Hubert Tellenbach beispielsweise postuliert einen Typus Melancholicus als prämorbiden Persönlichkeitstypus, der „auf Ordentlichkeit festgelegt, fleißig, gewissenhaft, pflichtbewußt und genau im Leisten ist und einen überdurchschnittlich hohen Anspruch an das eigene Leisten hat“.11 Diese grundsätzliche Disposition des Typus Melancholicus kann die Ursache für Erkrankung sein: „Geraten Menschen vom Typus Melancholicus in bestimmte Situationen, die ihrer Wesensstruktur entsprechen und die sie sich aufgrund eben dieses Wesens auch selbst schaffen (situieren), so ist die Inklination zur Krankheit Melancholie gegeben.“12 So wie in aktuellen Forschungsansätzen der Psychologie also ein Zusammenhang von zwanghaftem Leistungswillen und Melancholie gesehen wird, finden sich auch im historischen Diskurs unterschiedliche Berührungspunkte von Melancholie und Leistung bzw. Arbeit, wie der folgende kursorische Abriß zeigt. In popularisierten Darstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts der vier Temperamente Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Choleriker werden jene bei jeweils typisierten Tätigkeiten präsentiert (Abb. 1a). So zeigt z.B. der Augsburger Volkskalender von 1480 (Abb. 1b) den Choleriker beim gestenreichen Streiten, den Sanguiniker bei (amouröser) Geselligkeit und den Phlegmatiker beim Musizieren. Im Falle des Melancholikers wird die ihm zugeschriebene Trägheit in Handlung umgesetzt und bildlich dargestellt: Ein Mann ist – eventuell schlafend – über einem Tisch zusammengesunken; vor ihm sitzt eine Frau mit Spinnrad und Rocken (vgl. auch Abb. 1a). Hinsichtlich der Verbindung zum Arbeitsgedanken verweist bereits diese stark typisierte, populäre Darstellung auf zwei Deutungsmöglichkeiten, die der Melancholievorstellung inhärent sind. Zunächst ist der Gedanke der Untätigkeit impliziert, der nicht unternommenen und erfüllten Aufgabe – kurz: des Unproduktiven, das hier im ‚Nicht-Tätigen‘ des Mannes dargestellt ist. Hierin überschneidet sich die Vorstellung der Melancholie mit derjenigen von der Todsünde Acedia. Diese Verbindung ist gerade im klerikalen Kontext des Mittelalters wichtig, in dem die Melancholie als Anfeindung des Teufels gesehen und vor der
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Für einen Überblick über die Theorie- und Begriffsbildung der Termini ‚Melancholie‘ und ‚Depression‘ in der Psychologie vgl. z.B. Michael Schmidt-Degenhardt: Melancholie und Depression: zur Problemgeschichte der depressiven Erkrankungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1983. Tellenbachs Überlegungen werden hier referiert von Wolfram Schmitt: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie. In: Melancholie in Literatur und Kunst, hrsg. von Udo Benzenhöfer u.a. Tübingen 1990, S. 14-28, hier S. 26. Ebd., S. 26.
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‚Mönchsmelancholie‘ gewarnt wurde.13 Diese Auffassung wurde im konfessionellen Kontext insbesondere von Luther wieder aufgegriffen, der sich den alten Spruch von der Melancholie als „ein für den Teufel zugerichtet Bad“ wieder zu eigen machte.14
Abb. 1a: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Straßburger Kalender, ca. 1500.
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Vgl. hierzu: Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne: Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin 1996, S. 3. Martin Luther: Werke. Weimarer Ausgabe, Tischreden Bd. 1. Weimar 1912 (Reprint Weimar / Graz 1967), S. 51.
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Eng an die Warnung vor dem Nichtstun ist das Gebot der Arbeit und des Fleißes gekoppelt, die in dem Satz: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ sprichwörtlich kondensiert ist.15 Damit verbunden ist die Forderung nach rastlosem Fleiß und Arbeit zur Ehre Gottes als die in der Folge der Erbsünde dem menschlichen Geschlecht auferlegten Strafen.16 Verbunden mit der Forderung nach der genügsamen und fleißigen Erfüllung der Pflicht und der Verurteilung vom Streben nach Ruhm bleibt der mit Mühsal und Schmerzen verbundene Charakter von Arbeit während der Frühen Neuzeit die herrschende theologische Lehre.
Abb. 1b: Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker. Augsburger Kalender, ca. 1480.
Kehrt man zu der populären Abbildung des Volkskalenders zurück, ist die Melancholie auch mit dem Mühevollen verbunden, bildlich repräsentiert im ewig gleichen Drehen des Spinnrades und dem Lauf des gesponnenen Fadens. Sie erscheint hier assoziiert mit 15 16
Vgl. hierzu: Wander: Deutsches Sprichwörter Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Leipzig 1867, Bd. 3, S. 791. Vgl. dazu Paul Münch: Lebensformen in der frühen Neuzeit. 1500 bis 1800. Frankfurt a.M. / Berlin 1992, insbes. das Kapitel „Arbeit und Fleiß“, S. 355-413.
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Monotonie und dem ewigen Kreisen um sich selbst, das keinen Fortschritt und keine Richtungsänderung ermöglicht.17 Anknüpfungspunkte von Melancholie und Leistung bestehen jedoch auch im (ursprünglich antiken) humoralpathologischen Diskurs, der allen anderen Auffassungen vorausgeht, und in dem bestimmte Eigenschaften mit der Melancholie in Verbindung gebracht werden. Dieser Zuordnung von spezifischen Eigenschaften und einem Temperament liegt der Gedanke zugrunde, daß jeweils einer der vier im Menschen vorherrschenden Körpersäfte (Blut, gelbe und schwarze Galle, Schleim) charakterbildend ist. Der schwarzen Galle wird dabei eine zusammenziehende und konzentrierende Wirkung zugesprochen – Eigenschaften, die auch der mit der Melancholie verbundene Planet Saturn besitzt und an die ‚in seinem Zeichen Geborenen‘ weitergibt.18 Nach dem Denkschema der Analogie erfolgte im Viererschema die Übertragung spezifischer Eigenschaften auf Jahreszeiten und Lebensalter, im Falle des Melancholikers die Zuordnung zu Herbst und fortgeschrittenem Mannes- bzw. Greisenalter.19 Aus den Eigenschaften der schwarzen Galle wurden für den Melancholiker physische Charakteristika (wie ein trockener Körper und eine dunkle Hautfarbe) wie auch charakterliche abgeleitet. Letztere qualifizieren ihn im weitesten Sinne als beharrlich. 17
18
19
Dieses Monoton-Gleichförmige der Melancholie bzw. die zirkuläre Bewegung, die beständig auf sich zurückverweist und jegliche Handlung ins Leere laufen läßt, werden als wesentliche Momente der Melancholie insbesondere für die Moderne bedeutsam. Vgl. z.B. Julia Kristeva: Le soleil noir. Dépression et mélancolie. Paris 1987, die diesen ‚melancholischen Gestus‘ mit Bezug auf die Zeitstruktur im Kapitel „Un temps qui ne passe pas“ wie folgt beschreibt: „Le temps dans lequel nous vivons étant le temps de notre discours, la parole étrangère, ralentie ou dissipée du mélancolique, le conduit à vivre dans une temporalité décentrée. Elle ne s’écoule pas, le vecteur avant/après ne la gouverne pas, elle ne la dirige pas d’un passé vers un but. Massif, pesant, sans doute traumatique parce que chargé de trop de peine ou de trop de joie, un moment bouche l’horizon de la temporalité dépressive, ou plutot lui enlève tout horizon, toute perspective.“ (S. 70f.) Ausgehend von dem Merkmal der zirkulären Struktur wäre zu fragen, ob und inwiefern über diese nicht ein übergreifendes Struktur- und Beschreibungsmuster von Melancholie zu bestimmen wäre, in dem historischer und moderner Diskurs gemeinsam gefaßt werden könnten. Wie dem Melancholiker werden auch den ‚Saturnkindern‘, das heißt allen unter diesem Planeten Geborenen, bestimmte Tätigkeiten und Berufe zugeschrieben. Saturnkinder sind danach insbesondere Bauern, Geldwechsler, Bettler und Betrüger. Zwar fließen in der Saturnvorstellung, wie auch beim Melancholiker, mehrere Traditionen zusammen, was zu ebenfalls breiten und teils gegensätzlichen assoziierten Gaben des Planeten-Gottes führt – wie z.B. der Fähigkeit zu höchster geistiger Kontemplation. Der Grundcharakter des Düsteren bleibt jedoch auch hier beherrschend. Zur Saturnvorstellung und dem Zusammenhang zur Melancholie vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 2). Das Analogieschema wird auch auf Dinge, wie z.B. Nahrungsmittel, übertragen, denen bestimmte ‚Qualitäten‘ zugesprochen werden: So gilt z.B. Hasenfleisch, wie Wild allgemein, als von trockener und damit melancholischer Qualität. Auch Tiere werden im Rahmen der Temperamentenlehre klassifiziert. Zu den ‚melancholischen Tieren‘ werden – vielleicht über die Analogie zum Monotonen und Mühsamen – Esel und Rind gezählt, vgl. ebd., S. 172.
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Diese Beharrlichkeit, die sich negativ als Furcht, Geiz, Mißgunst, Unehrlichkeit und betrügerisches Wesen manifestierte, konnte jedoch – positiv gewendet – zu Stetigkeit, Studiereifer und gutem Gedächtnis führen. Durch Analogiebildung entstand so eine Art ‚Katalog‘ von Merkmalen, die dem Melancholiker (wie auch den jeweils anderen Temperamenten) zugeschrieben wurden.20 In komprimiertester Form wurden sie als Merkverse, wie dem folgenden, tradiert: Gott hat gegeben vngehure mir melancholicus eyn nature glich der erden kalt vnd druge ertuar haut swartz vnd vngefuge karch hessich girich vnd bose vnmudig falsch lois vnd blode Ich enachten eren noch frowen hulde 21 Saturnus vnd herbst habent die schulde.
Während in dieser stark vereinfachten Aufzählung nur die negativen Eigenschaften genannt werden, gibt es auch Texte, die den Melancholiker als Gelehrten bezeichnen. Insbesondere die Merkverse des „Regimen Salernitanum“, eines weit verbreiteten und im Mittelalter äußerst populären Medizintextes, nennen den Studiereifer und das gute Gedächtnis des Melancholikers; dazugehörige Illustrationen zeigen ihn als Gelehrten und Astronom (Abb.2, unten rechts):22 Restat adhuc tristis colerae substantia nigra, quae reddit pravos, pertristes, pauca loquentes. Hi vigilant studiis, nec mens est dedita somno. Servant propositum, sibi nil reputant fore tutum. 20
21 22
Dieses Wissen wird in Abhängigkeit vom jeweiligen Wissens- und Gebrauchskontext unterschiedlich aktualisiert und führt von der Antike bis in die Moderne zu teilweise stark differierenden Begriffsvorstellungen. Vgl. hierzu die Studie von Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 2), die, auch wenn sie hinsichtlich einiger Aspekte zu differenzieren und zu ergänzen ist, für diese Thematik nach wie vor einschlägig ist. Die vier Temperamente. Mitte 15. Jahrhundert, Zürich, Zentralbibliothek. Zitiert nach Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 2), S. 191 sowie Tafel 79. Nach Peter-Klaus Schuster wird die Verbindung von Melancholie und geistiger Tätigkeit nicht erst in der Folge der Melancholiekonzeption von Marsilio Ficino virulent, sondern lag schon vorher mit der Tradition der Salerner Schule breiten Bevölkerungsschichten als Wissen vor: „Formulierungen wie ‚melancholici sunt apti studio‘, ‚hi vigilant studiis‘ oder ‚semper alta loquentes‘, wie sie im Regimen Salernitanum und seinem Kommentar begegnen, [sind] ganz auffällig verschieden von der bisher bekannt gemachten Temperamentenliteratur des Mittelalters, die im Melancholiker nur einen trägen, traurigen und geizigen Menschen sieht, dem obendrein alle geistigen Fähigkeiten abgesprochen werden. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung ist daher festzuhalten, daß das Mittelalter nicht nur einen durchgängig negativen Melancholiker kannte, sondern daß ihm daneben auch die Auffassung vom gelehrten Melancholiker durch die Merkverse des Regimen Salernitanum, dem populärsten Text der gesamten Temperamentenliteratur überhaupt, hinreichend bekannt war.“ Peter-Klaus Schuster: Melencolia I. Dürers Denkbild, 2 Bde. Berlin 1991, Bd. I, S. 111.
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Invidus et tristis, cupidus dextraeque tenacis, 23 non expers fraudis, timidus, luteique coloris.
Abb. 2: Vier Temperamente (Sanguinicus, Cholericus, Phlegmaticus, Melancholicus). Holzschnitte aus Laufenberg: Versehrung des Leibs, Ausburg 1491.
Wurde in den vorangegangenen Beispielen für das melancholische Temperament eine Disposition zu Arbeit und Mühsal postuliert, so existierte daneben auch der Gedanke, daß mühevolle und monotone Tätigkeit – vor allem geistiger Art – die Ursache von Melancholie sein kann, die sich dann als Stimmung, vor allem aber als Erkrankung äußert.24 In diesem Kontext steht die Warnung vor der einsamen Lektüre schwieriger, insbesondere philosophischer Texte und vor langem angestrengtem Nachdenken, wie sie sich z.B. in dem Traktat „De melancholia“ des Constantinus Africanus (11. Jh.) findet: [...] die Tätigkeiten der vernünftigen Seele aber sind angestrengtes Denken, Erinnern, Studieren, Forschen, Einbilden, Untersuchen der Bedeutung der Dinge sowie die Phantasie und Urteile, seien diese nun zutreffend oder bloße Vermutungen. Und all diese Zustände, die teils 23
24
„Es gibt noch die schwarze Substanz der unheilvollen Galle, / die die Menschen böse, sehr schwermütig, schweigsam werden läßt. Diese sind unermüdlich im Studium, und ihr Geist gibt sich nicht dem Schlaf hin. / Sie bleiben ihren Vorsätzen treu, sie glauben, daß nichts ihnen sicher sei. / Neidisch und traurig, begehrlich, von hartnäckiger Art, / nicht abgeneigt dem Betrug, furchtsam und von gelber Hautfarbe.“ Zitat und Übersetzung nach Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 2), S. 188. Auf diesen Zusammenhang wird in mittelalterlichen und dann insbesondere frühneuzeitlichen (Gelehrten-)Diätetiken eingegangen. Sie empfehlen Gegenmittel, wie z.B. regelmäßige Bewegung, leichte Musik, Gesellschaft und angemessene Ernährung, um die ‚melancholischen‘ Qualitäten ‚kalt und trocken‘ auszugleichen.
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permanente Kräfte, teils zufällige Erscheinungen sind, können die Seele, wenn sie sich zu sehr in sie vertieft, innerhalb kurzer Zeit in Melancholie versetzen. [...] Und es verfällt in Melancholie, wer sich überanstrengt beim Lesen philosophischer Bücher, Bücher über Medizin und Logik, oder Bücher, die einen Einblick in alle Dinge gestatten, ferner von Büchern über den Ursprung des Rechnens, über die Wissenschaft, die bei den Griechen Arithmetik heißt, über den Ursprung der Himmelssphären und der Sterne, d.i. die Wissenschaft der Sternkunde, die die Griechen Astronomie nennen, über die Geometrie [...], endlich die Wissenschaft der Komposition, nämlich des Gesangs und der Töne, gleichbedeutend mit dem griechischen Wort ‚Musik‘. [...] Ebenso wie die körperliche Überanstrengung zu schweren Krankheiten führt, von denen die Ermüdung die leichteste ist, so führt geistige Überanstren25 gung zu schweren Krankheiten, deren schwerste die Melancholie ist.
Obwohl die Verbindung von Melancholie und geistiger Tätigkeit unter den assoziierten Wirkungen und Merkmalen also vorhanden war, bewirkte sie dadurch keine Umwertung in der Gesamteinschätzung des Melancholikers: Er galt aufgrund seiner unangenehmen Physis und eher zweifelhaften Charaktermerkmale als der ungünstigste unter den vier Temperamentstypen. Diesem stand der Sanguiniker als positivster Typus gegenüber: Das Vorherrschen des Blutes verleiht ihm eine rosige, angenehme Physis und macht ihn gesellig; auf Illustrationen erscheint er als der Inbegriff des ‚höfischen Menschen‘.26 Das Element Luft, das ihm beigeordnet ist, verstärkt das Leichte seines Temperaments. Innerhalb der assoziierten Vorstellungen war es aber auch für die Triebhaftigkeit und Wollust verantwortlich, die dem Sanguiniker als mögliche Charaktereigenschaften bisweilen zugeschrieben wurden. Spiegelbildlich zum Melancholiker trug jedoch dieser einzelne Aspekt im Mittelalter nicht zu einer negativen Beeinflussung des generell positiven Bildes bei. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts verschoben sich die Wertungen: Während die Vorstellung vom melancholischen Temperament einem partiellen semantischen Wandel unterlag, indem das Arbeitsame und Stetige herausgestrichen wurde, erschien der Sanguiniker im Gegenzug nun auch in der Rolle des amüsierfreudigen, triebbeherrschten Lüstlings.27 Neben den bereits skizzierten Verbindungen von Arbeit respektive Produktivität und Melancholie gilt es abschließend – gerade mit Blick auf den frühneuzeitlichen Kontext – auf die Vorstellung vom melancholischen Genie hinzuweisen, die im wesentlichen mit dem Namen des Florentiner Neuplatonikers Marsilio Ficino und dessen humanistischem Umkreis verbunden ist und gegen Ende des 15. Jahrhunderts von Italien aus ihren Siegeszug durch Europa antrat. Ficino postulierte einen Zusammenhang zwischen Melancholie und besonderer geistiger Leistung u.a. über die Einbeziehung des pseudoaristotelischen Problems XXX,1 und durch einen neuen Bezug auf die neuplatonische 25 26 27
Zitiert nach Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 2), S. 147f. Vgl. die entsprechende Abbildung des Straßburger Kalenders. Diesen Wandel, vornehmlich bezogen auf bildliche Darstellungen, dokumentiert die Studie von Gerlinde Lütke Notarp: Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie. Studien zur Ikonographie der vier Temperamente in der niederländischen Serien- und Genregraphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Münster 1998.
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Saturnvorstellung.28 Das stets angelegte geistig-schöpferische Potential der schwarzen Galle erschien hier unter neuen Vorzeichen akzentuiert und wurde zur Bedingung für (geistige) Kreativität. Gleichwohl behielt die Melancholie auch bei Ficino ihre Janusköpfigkeit: Zum einen barg sie den rehabilitierten Gedanken des qua melancholischer Disposition ermöglichten Genies, zum anderen implizierte sie die Vorstellung einer Gefährdung, die von der fordernden und mühevollen geistigen Tätigkeit ausgeht. Nicht zuletzt übernahm auch Ficino das alte Bild des mühsamen und gefahrvollen Aufstiegs zum Parnaß im Kontext seiner Ausführungen über die Melancholie: Quicunque iter illud asperum arduumque et longum ingrediuntur, quod quidem vix tandem ad excelsum novem Musarum templum assidue labore perducit, novem omnino itineris huius ducibus indigere videntur.29 Die Melancholie-Vorstellung von Ficino war zunächst im humanistischen Umfeld wirksam und wurde dort zu einem der wichtigsten Beschreibungsmerkmale humanistischer Identität. Die Möglichkeit der Zurechnung bestand über das Horoskop, das die ‚Patronage‘ von Saturn und Melancholie bezeugte, aber auch über die ausgeübte, gelehrte Tätigkeit. Während der Blick auf Aussagen zur Melancholie in mittelalterlichen Quellen den Eindruck vermittelt, daß es sich bei der Qualifikation zum Melancholicus um ein externes Beschreibungsmittel handelt, wird es im Humanismus und dann in der Frühen Neuzeit zu einem wichtigen Mittel der Introspektion und Selbstdarstellung.
Bartholomäus Sastrow: „Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens [...]“ Als Bartholomäus Sastrow im Jahre 1595 im Alter von 75 Jahren begann, seine Autobiographie zu schreiben,30 befand er sich als Bürgermeister von Stralsund auf der Höhe seines bemerkenswerten beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. Zwar stammte er bereits aus einer wohlhabenden Familie, die sich zu gesellschaftlichem Ansehen und Wohlstand hochgearbeitet hatte; der finanzielle Ruin des Vaters hatte jedoch die Karrierepläne des Sohnes, ein Theologiestudium zu absolvieren, früh und jäh zunichte 28 29
30
Zum Melancholiebegriff bei Ficino und dessen wesentlichen Quellen vgl. die Darstellung bei Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 2), bes. S. 55-92 und S. 367-394. „Anyone who enters upon that rough, arduous, and long journey which barely, at the last, by continual hardship leads through to the high temple of the Nine Muses, seems to need exactly nine guides in this journey.“ Zitat und Übersetzung aus Marsilio Ficino: Three books on life. A critical edition and translation with introduction and notes, hrsg. von Carol V. Kaske und John R. Clark. Binghampton / New York 1989, S. 108f. Der Text war vermutlich nicht vor 1599 beendet. Für Angaben zu Sastrows Leben und Werk vgl. neben Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung (wie Anm. 5), und Velten: Das selbst geschriebene Leben (wie Anm. 5), die Studie von Trauner: Identität in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 9).
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gemacht: „Was ist das lucrum cessans? Das mein Vater sein Geld in die 40 Jhar entraten mussen; item die merckliche grosse Angelegenheit, so aus disser Sache meinen Alltern vnnd jren Kindern entstanden; ich bin von meinem Studiren, vnnd mein Bruder M. Johannes umbs Leben kommen.“31 Diese als unverschuldet und ungerecht bewertete Existenznot bestimmte fortan das Geschick der Familie und zieht sich wie ein roter Faden durch Sastrows Text. Anstatt also mit den ursprünglichen guten Startbedingungen als Sohn aus wohlhabendem Hause und humanistischer Schulung mit einem Studium eine erfolgversprechende Laufbahn anstreben zu können,32 mußte Sastrow ganz von vorn – und von unten – anfangen. Zunächst versuchte er noch, das Studium selber zu finanzieren, machte dann jedoch eine juristische Ausbildung als Schreiber an der Pforzheimer Kanzlei, war Gesandtschaftssekretär der pommerschen Herzöge am Reichskammergericht und ließ sich später als Notar und Prokurator in Stralsund nieder. Hier heiratete er die Tochter eines Bürgermeisters, wurde Stadtschreiber, Ratsherr und schließlich selbst Bürgermeister. Sastrows Autobiographie „Von Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens [...]“ ist zwischen den Polen einer Dokumentation der eigenen und der Familiengeschichte einerseits und historischer Ereignisse andererseits gespannt.33 Dem entspricht auch der doppelte Adressatenkreis der Autobiographie: Zum einen richtete Sastrow den Text an die eigenen Nachkommen, denen er eine Familienchronik bereitstellen wollte; zum anderen wendete er sich an ein öffentliches und überregionales Publikum, das er insbesondere mit seinen Geschichtsdarstellungen zu interessieren hoffte. So verweist er auf die Richtigstellung historischer Begebenheiten, an denen er teilweise in seiner Funktion als Schreiber persönlich teilgenommen hatte, wie dem Augsburger Reichstag von 1547/48, oder er gibt Berichte von seinen zahlreichen Reisen, wie z.B. seinem Romaufenthalt im Jahre 1546. Unter den verschiedenen Schreibabsichten, die dem Text zugrunde liegen, tritt besonders der apologetische Charakter hervor, der generell für autobiographische Texte dieser Zeit bedeutsam ist. Zwar war Sastrows wirtschaftliche und soziale Stellung gut, als er den Text verfaßte; er war jedoch in einen Prozeß verwickelt und sah sich ungerechtfertigt angeklagt und schlecht behandelt.34 Primär zielt er mit seinem Text also auf die Wiederherstellung seiner Ehre und seines guten Rufes ab.
31 32
33
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Sastrow, Bd. I, S. 97. Sastrow hatte die Schule in Greifswald und dann in Stralsund besucht. Darauf begann er ein Studium hauptsächlich der Humaniora in Rostock und Greifswald, das er jedoch 1542 aufgrund der finanziellen Not seiner Eltern abbrechen mußte. Zu Aufbau und Inhalt des ursprünglich vier Teile umfassenden Textes vgl. die entsprechenden Passagen bei Velten: Das selbst geschriebene Leben (wie Anm. 5), sowie Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung (wie Anm. 5). Vgl. dazu Sastrow, Bd. I, S. 6f. und 10f., sowie Sastrow, Bd. III, S. 18f.
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Seine Identität ist in hohem Maße durch den ehrenvollen Beruf und den selbst erarbeiteten Erfolg geprägt, in wesentlichem Maße auch durch den dadurch ermöglichten finanziellen Wohlstand, den er trotz der fehlenden Unterstützung durch die Eltern bzw. der desolaten finanziellen Situation der Familie erlangt hatte. Diese beiden Aspekte, sein ehrbarer Schreiberberuf und der zäh erarbeitete Erfolg, werden von ihm besonders betont. Seinen Beruf beschreibt Sastrow als ein Handwerk, das sich „nicht allerdinge studieren l(st, sonder grossen Fleis, memoriam, Lust vnnd stettige Ubunge erfordert“35 und „so ferne es woll gelernet, recht vnnd geburlich getrieben vnnd gebraucht wurrt, keinen in Armuth leben l(st. Schreiber ist woll ein vor(chtlicher Name, ich aber habe menniches leckerisch Bislein vnnd mennichen guten naturlichen Drunck bey dem vor(chtlichen Namen bekommen, genossen vnnd gebraucht.“36 Die zentrale Rolle in Sastrows Darstellung kommt der eigenen Willenskraft und seinem Fleiß zu. Im wesentlichen sind es seine Zähigkeit und die erfolgreich durchstandenen Entbehrungen, die es ihm ermöglicht haben, auch ohne Studium und elterlichen finanziellen Hintergrund eine bedeutsame Karriere zu machen: Das Gluck ist m(nnichem in die Augen geschienen, in dem mein Exempell willen volgen, vnnd sich zur Schreiberei begeben, das Vordriesliche aber (so allewege vorher gehen mus) viell vnschlaffende N(chte, arbeitsamer Tage, bisweilen Hunger vnnd Durst, furstende Sorge vnnd Gefahr hatt man geschewet, nicht ertragen wollen, in der Gefahr bestecken geblieben, ja 37 under hunderten kaum einer durchbrechen k=nnen.
Gerade dagegen entwirft er im Text das Selbstbild eines starken Individuums, das sich in der Gesellschaft anhand selber gewählter Normen durchgesetzt hat. So führt er beispielsweise selbstbewußt Verhandlungen um bessere Anstellungen oder nimmt – bereits im fortgeschrittenen Alter von über 30 Jahren – gegen den Willen seiner Frau und ihrer Familie ein Studium auf, für das er eigens ein Haus mietet, weil es ihm für seine Arbeit nutzbringend erscheint: Hierauf weren die Leute fast schimpflich; so war mein Weib nicht woll darmit zufriden, sagt: es were bey menniglich ver(chtlich, das ich wieder in die Schule ginge; mein Avia materna, [...], fragt: ob ich yetzt erst lernen wolte, wie ich Weib vnnd Kinder erneren solte? u.s.w. Ich lies mich aber nichts anfechten, dan ich h=rte von Joachim Moritzen Institutiones; vorstundt besser (wie mich deuchte) wie ichs fast t(glich ad praxin vortbringen solte, als einnander, derowegen ich auch von Tag zu Tag mehr Lust bekam nutzlichen Buchern fleissig obzuliegen, wie man sagt: Crescit amor studii, quantum ipsa scientia crescit. Das Crescit 38 amor nummi, quantum ipsa pecunia crescit fing ich auch an zu practiciern. 35 36 37
38
Sastrow, Bd. II, S. 665. Sastrow, Bd. II, S. 610. Sastrow, Bd. II, S. 665. Tatsächlich leidet er gerade zu Beginn seiner Schreiberlaufbahn bittere Armut: Hunger und „schlechte Wohnung“ lassen ihn so „grindig“ werden, daß er seine Schreibfeder nicht mehr halten kann. Er besitzt nur noch die Kleidung, die er am Leib trägt, und kann sich nur den billigsten Schlafplatz auf der Küchenbank leisten. Sastrow, Bd. III, S. 22. Das Dictum Crescit amor nummi, quantum ipsa pecunia crescit zitiert Juvenal, Satiren 14, 139.
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Auffällig ist auch hier die Ausrichtung von Sastrows Studien auf den finanziellen Gewinn, denn er betont, daß sich das Gelernte in barer Münze niederschlägt. In ähnlicher Perspektive stellt Sastrow die Ernennung des Bruders zum poeta laureatus dar: Hierzu zitiert er das lateinische Ernennungsschreiben des Kaisers, mit dem neben dem begehrten Titel auch eine lebenslange finanzielle Honorierung des Bruders verbunden ist, ausführlich. Dem läßt er eine kurze Erwähnung folgen, daß der Dichter Johannes Stigelius mit seiner Ernennung zum poeta laureatus zwar ebenfalls den Titel, ausdrücklich aber kein Geld erhalten habe.39 Bildung und Gelehrsamkeit wird in Sastrows Text also weniger ein Wert an sich zugemessen, sondern sie gelten vielmehr in Beziehung auf den damit verbundenen finanziellen (respektive gesellschaftlichen) Nutzen. Neben der Betonung der individuellen Leistung und des finanziellen Gewinns ist in Sastrows Beschreibung jedoch auch das religiöse Moment wesentlich, das sich durch den gesamten Text zieht. Sastrow stellt sich als einen von Gott Auserwählten dar und seinen Aufstieg als ein Zeichen, als rechtgläubiger Protestant dazu bestimmt worden zu sein: Dagegen werden auch meine Kinder vielfeltig sehen, wie wunderbarlich aus allem Creutz, Ungluck, Gefahr vnnd Widerstant, darin alle menschliche Hulff vorgebs, der getreuwer, warhafftiger Gott so offtermaln ubernaturlicherweise mich errettet, durch seine heilige Engeln beschutzett vnnd hindurch gefurtt hatt, damit ye warhafftig, das der Koniglich Prophet, Psal. 34 spricht: »Der Engell des Herrn lagert sich umb die her, so jne furchten, vnnd hulfft jnen aus,« vnnd vormittels sollichs zugestandenen Creutzs, ge=geden [d.h.: vor Augen liegenden – A.W.] Gefahr vnnd auf dem Hals liegenden Ungluck mich zu Digniteten, Ehren, zimblichen Vormugen vnnd Wollstande (dazu ich sonst nimmer geraten were) befurdert und gebracht hatt; also die eusserste vnnd sorglichste Leibs- vnnd Lebens-Gefahr, hartes Leben vnnd Ungluck ein Anfang vnnd Vortsetzunge meines Heils vnnd augenscheinlichen Glucks sein, 40 mir vnnd den Meinen zu Ehren vnnd aller Wolfart [...].
Damit wird die auch für Sastrows Zeit schon erstaunliche Karriere in der Selbstdarstellung doppelt begründet und legitimiert: zum einen als seine individuelle Leistung und zum anderen als Erfüllung der göttlichen Vorsehung, die diese Leistung erst ermöglicht hat.
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„Eben umb dieselbige Zeit hat auch Joannes Stigelius dem Keyser scriptum poeticum offeriert, dem hat der Keyser [...] disse Antwurt geben lassen: «Carmen placet Imperatori; Poeta petat, quid velit, habebit; si voluerit esse Nobilis, erit; si Poeta Laureatus, erit id quoque; sed pecuniam non petat, pecuniam non habebit.» Darumb auch einem Rathe disser Statt nicht zuvordencken, das sie nicht einem jedern, der jnen auf einem Bogen versicul dediciert, mit Gelde fort vorehren.“ (Sastrow, Bd. I, S. 246f.) Sastrow, Bd. I, S. 5.
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Sastrow – ein Melancholiker? Angesichts dieses im Text entworfenen Selbstbildes eines durchsetzungsstarken, aktiven und sich selbst wenig reflektierenden Menschen stellt sich die Frage, wo der Text mögliche Räume für Melancholie bietet: Tatsächlich werden durchaus Zustände oder Befindlichkeiten von Personen geschildert, denen Sastrow Attribute wie ‚schwermütig‘ oder ‚traurig‘ verleiht. Damit sind Synonyme für Melancholie im Sinne einer vorübergehenden sorgenvollen Stimmung genannt und in einer gerade im autobiographischen Kontext des 16. Jahrhunderts gängigen Art verwendet.41 Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen per se melancholischen Zustand oder eine Stimmung, sondern dieser Traurigkeit geht ein Auslöser voraus, wie zum Beispiel eine Sorge oder ein zu betrauernder Verlust. Als einen melancholischen Charakter stellt Sastrow seinen Bruder Johannes dar, den er auch explizit als „mein[en] Melancholicus“ bezeichnet42 und dessen Züge des Nachdenklichen, Traurigen und von bösen Zukunftsvorahnungen Geplagten er – vielleicht in Kontrast zum Entwurf des eigenen Charakters – besonders herausstellt.43 So heißt es bei Sastrow über den Aufbruch der beiden Brüder zu einer riskanten Reise, deren Ausgang für sie völlig ungewiß ist: Ich war fr=lich vnnd gueter Dinge, mein Bruder aber melancholisch vnnd traurig. Mein Mutter sagte zu meinem Bruder: ›Mein lieber Sohn, sieh, wie guter Ding sich doch dein Bruder macht; warum bistu doch so traurig?‹ Ille: ›Ja, mein Bruder ist ohne das freyes Gemuts, 44 kans alles in den Windt schlan, er vorsteth es nicht, was volgendts ervolgen wirt.‹
Während die Melancholie im Text also durchaus Erwähnung findet, um andere Personen und Situationen zu charakterisieren, wird sie für Sastrow selbst gerade nicht formuliert. Im Gegenteil: Sastrow führt für seine Charakterisierung gerade jene Eigenschaften an, die traditionell mit dem sanguinischen Temperament in Verbindung gebracht werden.
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So heißt es beispielsweise bei der Beschreibung der Mutter: „Das meine Mutter, in jrer Jugendt ohne Haupt bei jren vier kleinen vnerzogenen Kindern haußzuhalten mit schwermutigen, traurigen Gedancken beladen gewesen, hatt man leichtlich zu ermessen.“ (Sastrow, Bd. I, S. 57.) Sastrow, Bd. I, S. 210. Tatsächlich trägt die Figur des Bruders auch unverkennbare Züge des ‚modernen Melancholikers‘: Johannes war der ‚Intellektuelle und Dichter‘ der Familie, er studierte, verfaßte Gedichte und wurde mit dem Titel poeta laureatus geehrt (Sastrow, Bd. I, S. 242-246). Gleichzeitig streicht Sastrow die tragischen Momente in der Biographie des Bruders heraus: Die Pläne, nach einem Studienaufenthalt in Italien zu heiraten, wurden durch die Brauteltern zugunsten eines Schwiegersohnes mit besserem finanziellen Hintergrund vereitelt. Während seines Romaufenthaltes im Jahre 1545 kommt Johannes auf ungeklärte Weise ums Leben. Sastrow, Bd. I, S. 207.
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So beschreibt er sich als einen Jungen, der lieber draußen zu Pferde unterwegs ist, als für die Schule zu lernen45 und dessen ungestümes Temperament sich in Eskapaden und übermütigen Jungenstreichen entlädt: „Man sagt mihr, ich soll in meinen kindtlichen Jharen fast wilt gewest sein, das ich auf S. Nicolaus Thurm m(nnigmal gestigen, einsmals ausserhalb des Thurms in der H=gede gegen den Glocken umb den Thurm gangen.“46 Diese ‚Wiltheit und Fr=ligheit‘, die ihn an stetiger, disziplinierter Arbeit hindern, wird von ihm mehrfach herausgestrichen: „Ich ging in die Schule, lernete so viel als ich vor Wiltheit konte; das Ingenium (lies sich ansehen), war zimblich, aber Stetigheit war nicht vorhanden.“47 Der ‚sanguinischen‘ Unbeherrschtheit, die er insbesondere für seine Jugendjahre beschreibt, wird also die – ebenfalls in der Jugendzeit einsetzende – ‚melancholische‘ Stetigkeit gegenübergestellt. Dieser suggerierte Wandel wird explizit in der eingangs zitierten Passage gefaßt, derzufolge sich Sastrows sanguinisches Temperament in ein melancholisches gewandelt habe. Dem Schlüsselsatz für Sastrows Selbstdarstellung geht die Beschreibung seiner Schulzeit in Gripswald voran: Dieweil meine Mutter zum Gripswalde wonete, ging ich daselbst in die Schule, lernete nicht allein lesen, sondern auch ex Donato declineren, compareren, conjugeren; begunten mihr Torrentinum furzulegen; moste in die Palmarum, nachdem ich die vorgehenden Jhare erstlich das kleine, darnach das grosse Hic est, vnnd nach demselben das Quantus singen. Das war den Knaben eine grosse Ehre vnnd iren Alltern nicht die geringste Frewde, dan man gebrauchte darzu aus denn Schulen die wackersten Knaben, die sich nicht entsetzten fur der grossen Menge der Cleresei, auch weltlicher Personen, vnnd mit heller Stimme, sonderlich 48 das Quantus, herauß erheben konnten.
In dieser Beschreibung aus der frühen Schulzeit sind wichtige Elemente versammelt, die für Sastrows Selbstverständnis konstitutiv sind, und die sich wie ein roter Faden durch den Text ziehen: Schulische Disziplin, dadurch errungene Ehre und schließlich der Mut, aus der Masse hervorzutreten, der sich bereits im couragierten Auftritt vor der Schulgemeinde manifestiert, stellen die zentralen und immer wiederkehrenden Elemente von Sastrows ‚Erfolgsstory‘ dar. Der Auftritt in der Schule fungiert jedoch auch als ein Beispiel für eine Reihe anderer, später berichteter Ereignisse („Historien“), die den Wandel vom sanguinischen Temperament zu einem melancholischen bewirkt hätten, da es direkt im Anschluß 45
46 47 48
„Ich studierte aber gar weinig, hette die Pferde vnnd darauf spatziren zu reuten vnnd mit dem Großvatter auf der Stadt Dorffer zu fahren, lieber, alß die Bucher, derwegen auch in studiis desto weiniger proficierte.“ (Sastrow, Bd. I, S. 64.) Sastrow, Bd. I, S. 61. Sastrow, Bd. I, S. 75f. Ebd., S. 61f. Sastrow schildert hier seine Teilnahme an der Zeremonie von Palmsonntag (Palmarum), bei der ein Chor von Schülern mitwirkte und Teile der Liturgie aufführte. Zu den Feierlichkeiten an Palmsonntag vgl. den Überblick und die Literaturhinweise bei Jürgen Küster: Wörterbuch der Feste und Bräuche im Jahreslauf. Eine Einführung in den Festkalender. Freiburg i.Br. 1985, S. 159-160 und S. 210-211.
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heißt: „Aber volgende Historien werden genuchsam geben, wordurch in mihr Complexio sanguinea sei in melancholicam vorwendet, meine Wiltheit vnnd Fr=ligheit wol gestillet vnnd zuruckgetriben worden.“49 So fügen sich die geschilderten Ereignisse zu einer Kette von erzählten Begebenheiten, die in der Darstellung letztlich alle mit der desolaten finanziellen Situation der Familie zusammenhängen oder direkt darin ihren Ursprung nehmen: „Ich hab […] in mennicherlei Gefahr mich begeben vnnd grosse Arbeit Tag vnnd Nacht ertragen mussen, wie solliches disse gantze Historia viellfaltig zeuget.“50 In der wertenden und ordnenden Rückschau des Schreibenden datiert Sastrow diesen Wandel, der sonst mit den Zuordnungen Sanguiniker-Jugend und Melancholiker-reifes Mannes- bzw. Greisenalter einer einfachen Lebensalterdarstellung entsprechen würde, schon in seine Jugendzeit.51 Dieser Wandel beinhaltet eine charakterliche Entwicklung vom Wilden und Triebhaften hin zum Kontrollierten, Ehrgeizigen und Erfolgreichen – zumindest wird eine solche Entwicklung hier postuliert.
Vom Sanguiniker zum Melancholiker: Zur Funktionalisierung der Temperamentenzuschreibung Die für diesen Beitrag zentrale Textstelle des behaupteten Temperamentenwandels bei Sastrow ist in der Forschung bereits mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert worden: Während Hans Rudolf Velten darin im wesentlichen eine „typisierte Gemütsdarstellung durch die Temperamentenlehre“ sieht, die der Gegenüberstellung von kindlicher und erwachsener Identität dient,52 wird sie von Stephan Pastenaci als „Umwertung der kontingenten Lebenserfahrung“ interpretiert. Er sieht darin einen „Kunstgriff“, mittels dessen bei Sastrow die individuelle Besonderheit, die sich in besonderer Leistung äußert, noch zusätzlich als eine Auserwähltheit durch Gott legitimiert werden kann: 49 50 51
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Sastrow, Bd. I, S. 62. Sastrow, Bd. II, S. 665. In dem gleichen Kontext steht auch das eingangs angeführte Zitat aus der „Ars poetica“ des Horaz, das Sastrow einem Kapitel als Motto voranstellt. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie seine Bemühungen um eine Stellung nun endlich anfangen, Früchte zu tragen: „Hir fangt ahn die Prophecey Horatii de arte poetica an mir zu wirken vnnd wahr zu werden: Multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit, Qui cupit optatam cursu contingere metam, unnd weret auch mein Lebelang hindurch, biß an mein letstes Stundlein, das rechte metam optatam, so ich stundtlich von dem Gnedigen Gott mir widerfaren zulassen, mit Vorlangen, yedoch nach seinem Gottlichen Willen, erwarte.“ (Sastrow, Bd. I, S. 213.) Bezeichnenderweise zitiert Sastrow nur den ersten Teil des Horaz-Textes; das Ende des Satzes: „abstinuit venere et vino“ (‚er hat sich der Liebe/Wollust und des Weines enthalten‘), läßt er weg. Vgl. Horaz: Ars poetica (wie Anm. 1), S. 412. Vgl. Velten: Das selbst geschriebene Leben (wie Anm. 5), S. 324.
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[Sastrow] behauptet, daß sein sanguinisches Temperament und seine angeborene Wildheit in der häuslichen, geborgenen Atmosphäre einen stetigen Lernerfolg verhindert hätten. Aus diesem Grunde habe ihn Gott in die Fremde geschickt, deren Fährnisse sein Temperament umgeformt und ihn zum Lernen bereit gemacht hätten. [...] Sastrow beschreibt diesen Hinauswurf aus der behüteten Atmosphäre des heimischen Herdes als eine Voraussetzung seines späteren ‚augenscheinlichen‘ Glücks, der ihm von Gott zu seinem Heil ausersehen sei. Sein sanguini53 sches Temperament habe ihn nämlich anfällig zu sündhaftem, faulem Leben gemacht.
Mit Blick auf die Frage nach der literarischen Funktion der Temperamentenzuschreibung ist die Beobachtung weiterführend, daß es sich dabei offensichtlich um einen postulierten Wandel handelt.54 Dabei ist hier nicht die ‚historische Person‘ Sastrow zu rekonstruieren, indem die literarische Darstellung auf Übereinstimmungen mit realen Gegebenheiten überprüft und ggf. Widersprüche aufgezeigt werden. Dies gilt es zu betonen, denn immer noch scheint es ein vorrangiges Interesse der Autobiographieund Selbstzeugnisforschung zu sein, die literarischen Zeugnisse vorwiegend als (kultur-)geschichtliche Quellen aufzufassen55 und mit autobiographischem Schreiben in der Frühen Neuzeit wesentlich ‚lebensgeschichtliches Schreiben‘ zu verbinden. Demgegenüber existieren jedoch auch in der Autobiographieforschung gerade in Hinblick auf frühneuzeitliche Texte Ansätze, die über dieses eingeschränkte Erkenntnisinteresse hinausgehen. Jenseits der überholten Idee eines sich selbst frei entwerfenden Ichs im Zuge einer emphatischen Renaissance- und Frühneuzeitforschung gibt es spätestens mit dem Gedanken des self-fashioning in der Folge Greenblatts56 seit längerem Versuche, autobiographische Texte in ihrer Konstruiertheit zu sehen.57 Mit dem 53 54
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Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung (wie Anm. 5), S. 38. Diese These kann ich allerdings in dieser Form nicht am Text nachvollziehen. Dazu auch Pastenaci: „Eine solche Wandlung scheint eher dem Wunschbild Sastrows als der Realität entsprochen zu haben. Besonders im Kontrast zu dem anscheinend wirklich melancholischen Bruder Johannes wird deutlich, daß Sastrow Trübsal lieber ‚in den Wind schlug‘ und sich sein sanguinisches Temperament bewahrte.“ (Ebd., S. 38.) Pastenaci sieht in dem vorgegebenen Wandel allerdings eine Stilisierung vom ‚Lotterleben‘ zu späterer Heiligkeit nach dem Muster von Heiligenlegenden, indem Sastrow mit dem Melancholicus auch die vom Geistigen beherrschte Natur in der Folge des Begriffs von Pseudo-Aristoteles anzitiere. Dieses Erkenntnisinteresse spiegelt sich auch in den Editionen der Selbstzeugnisse wider: Zum großen Teil existieren die Texte nach wie vor nur in Ausgaben, die um die Wende zum 20. Jahrhundert unternommen wurden und die die Texte mit teils erheblichen redaktionellen Eingriffen und stark gekürzt repräsentieren. Daß sich daraus weitreichende Konsequenzen für die Interpretation der Texte ergeben, muß nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago 1980. So stellt z.B. die Historikerin Gabriele Jancke in ihrer Studie „Autobiographie als soziale Praxis“ die Beziehungskonzepte, die in und durch Selbstzeugnisse wirksam werden, in den Vordergrund, indem sie u.a. nach den Beziehungsnetzen und Patronageverhältnissen fragt, als deren ‚Handeln‘ die Texte aufzufassen seien (Gabriele Jancke: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln / Weimar / Wien 2002).
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wachsenden Problembewußtsein darüber, daß es sich bei Selbstzeugnissen um „Texte zwischen Erfahrung und Diskurs“58 handelt, wird auch deren gattungsmäßige und kulturelle Stilisierung in zunehmendem Maße bedeutsam. Und genau bei der Prämisse einer literarischen Konstruktion von Selbstzeugnissen gilt es m.E. anzusetzen, wenn der Temperamentenwandel vom Sanguiniker zum Melancholiker bei Sastrow auf seine Funktion hin befragt werden soll. Damit jedoch wird gleichzeitig ein weites Feld diffiziler Probleme eröffnet, denn mit der Frage nach der Rolle und Funktion im Text stellt sich alsbald die Problematik der Intention und ggf. die der Bewußtheit der Stilisierung: Funktionalisierte Sastrow das melancholische Temperament also, um sich dadurch – wie andere Autoren seiner Zeit auch – dem gelehrten humanistischen Umkreis zuzurechnen?59 Ist Sastrow ein Humanist?60 Zwar hat er humanistische Studien absolviert, beweist in seinem Text Kenntnisse der lateinischen Sprache sowie antiker Texte, und nicht zuletzt bewegte sich sein Bruder als poeta laureatus eindeutig in humanistischer Tradition. Trotzdem ist in seinem Text nicht die Intention erkennbar, als Humanist zu schreiben oder sich als solcher darstellen zu wollen. Wenngleich bei Sastrow also durchaus von einer humanistischen Bildung auszugehen ist – die gemeinhin noch immer als eines der Hauptkriterien für die Zurechnung zur humanistischen Gemeinschaft gilt – zielt sein Text doch eher auf die Apologie und die Darstellung vorbürgerlicher protestantischer Ideale. So erwähnt Sastrow nicht nur mehrfach Begegnungen oder Briefwechsel mit Luther und Melanchthon,61 vielmehr ist auch die hervorgehobene Bedeutung von Fleiß, Disziplin und Sparsamkeit als Bekenntnis zu zentralen protestantischen Tugenden zu lesen.
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Vgl. Fabian Brändle / Kaspar von Greyerz / Lorenz Heiligensetzer / Sebastian Leutert / Gudrun Piller: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung. In: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), hrsg. von Kaspar von Greyerz, Hans Medick und Patrice Veit unter Mitarbeit von Sebastian Leutert und Gudrun Piller. Köln / Weimar / Wien 2001, S. 3-31. Hierzu gehören z.B. Girolamo Cardano (Des Girolamo Cardano eigene Lebensbeschreibung. Übers. von Hermann Hefele. München 1969) und Hieronymus Wolf (Hieronymus Wolf: Commentariolus de vita sua, hrsg. von Helmut Zäh. München 1998), die als bedeutende Humanisten ihre literarischen Selbstdarstellungen auf eine Stilisierung zum Melancholiker hin anlegten und deren Texte die zentrale Rolle der Melancholie in humanistischen Selbstzeugnissen belegen. Diesen Aspekt werde ich in einer größeren Studie ausführlicher untersuchen. Selbstverständlich kann dieser Frage im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht adäquat nachgegangen werden; er soll eher auf die generelle Problematik hinweisen. Zu den Schwierigkeiten mit dem Begriff ‚Humanismus‘ und der Qualifizierung frühneuzeitlicher Autoren vgl. aktuell den Aufsatz von Jan-Dirk Müller: Wickram – ein Humanist? In: Vergessene Texte – verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung, hrsg. von Maria E. Müller und Michael Mecklenburg unter Mitarbeit von Andrea Sieber. Bern u.a. 2007, S. 21-39, der die etablierten Positionen am Beispiel dieses Autors auf ihre Praktikabilität und Tragweite überprüft und problematisiert. Vgl. z.B. Sastrow, Bd. I, S. 184-186, und Sastrow, Bd. II, S. 612f.
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Ich kehre zur Ausgangsfrage nach dem besonderen Melancholiekonzept und dessen Funktion bei Sastrow zurück: Sicher wäre es gewagt zu behaupten, daß über das ‚Anzitieren‘ des Melancholicus eine Zuschreibung zum gelehrten Diskurs stattfindet, da es sich zum einen bei Sastrows Autobiographie nicht um eines der ‚typischen‘ humanistischen Selbstzeugnisse handelt, die sich das durch Ficino nobilitierte Konzept der Melancholie zu eigen machen,62 und zum anderen Sastrows Zuordnung zur humanistischen ‚respublica‘ – wie gesehen – generell fraglich ist.63 Dennoch zeigt der freiwillige Rückgriff auf das melancholische Temperament, daß das Konzept nun für die eigene Stilisierung im Selbstentwurf brauchbar geworden ist und als ein weiteres mögliches neben der negativen Melancholie-Vorstellung der Volkskalender und anderer populärer Darstellungen – aber auch neben dem Acediabegriff und dessen lutherscher Fortführung – steht. Dabei zeigt die Verwendung des Begriffs bei Sastrow, daß eine klare Trennung nach Diskursen, in denen er verwendet wird, pauschal nicht aufrechtzuerhalten ist, sondern das Konzept individuell realisiert und variiert wird: Der Sanguiniker ‚verkommt‘ zum Lüstling, während der Melancholiker zum ‚strebsamen Erfolgsmenschen‘ aufgewertet wird, indem er zwar die Konnotation des Mühseligen behält, über die Betonung des Stetigen und Beharrlichen jedoch mit einem moralisch hoch valorisierten Arbeitsethos verbunden wird. Die negativen Implikationen, wie die fast ‚kanonischen‘ Merkmale der unangenehmen Physis und des schlechten Charakters, die die mittelalterlichen und auch die späteren populären Darstellungen noch so nachhaltig kennzeichnen, fehlen indes. Daß der Melancholicus zur Zeit Sastrows für die Selbstdarstellung überhaupt verfügbar ist, läßt sich nur über einen generellen ‚Imagewandel‘ dieses Temperaments erklären. Ohne explizit (und bewußt?) auf den gelehrten Diskurs und den durch Ficino 62
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Wenngleich es im Text keine Hinweise auf eine Kenntnis des Melancholie-Konzepts von Ficino oder seiner Texte gibt, erscheint doch an einer Stelle die Verbindung von Melancholie und geistigem Einfall: Es handelt sich um den Ritt, den die beiden Brüder nach Speyer unternehmen müssen und während dessen sie an eine Weggabelung geraten. Hierzu heißt es im Anschluß: „Als wir nun so auf der Wegescheiden still hielten, beide Wege entlangst sahen, diese Sache jrer Wichtigkeit nach pro et contra erwugen, fill uns (als Melancholici pflecht geschehen) dis prudens consilium ein, wir wolten die Zugele den Pferden auf den Kopff legen, vnnd greiffen sie mit den Sporen ahn, wollichen Weg sie dan gingen, den wolten wir reiten.“ (Sastrow, Bd. II, S. 579f.) Dieses Bild des Scheidewegs ist im Zusammenhang mit der Melancholie bekannt und gehört zu den beliebten Topoi des Renaissance-Humanismus, dann jedoch generell in der Weise, daß die Einsicht in die Disparatheit der Entscheidungsmöglichkeiten mit Melancholie gleichgesetzt wird. Hier aber scheint tatsächlich die mit dem Melancholiker verbundene Idee der Inspiration, wenn auch in anderer Konsequenz, impliziert zu sein. Zum Bild des Scheidewegs in der Literatur allg. vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970. Zur Vorstellung und deren Bedeutung im Renaissance-Humanismus vgl. die Ausführungen von Schuster: Melencolia I (wie Anm. 22), Bd. I, S. 165. Anders Velten: Das selbst geschriebene Leben (wie Anm. 5), S. 166-177, der in Sastrows Selbstbeschreibung die Zugehörigkeit zu einer humanistischen Bildungselite realisiert sieht.
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nobilitierten Begriff zu rekurrieren, liegt doch eine positiv konnotierte Vorstellung als ‚allgemeines Bildungsgut‘ vor, die, wie das Beispiel Sastrows zeigt, gegen Ende des 16. Jahrhunderts für individuelle Realisierungen in literarischen Selbstdarstellungen zur Verfügung steht.
Literaturverzeichnis Quellen Des Girolamo Cardano eigene Lebensbeschreibung. Übers. von Hermann Hefele. München 1969. Marsilio Ficino: Three books on life. A critical edition and translation with introduction and notes, hrsg. von Carol V. Kaske und John R. Clark. Binghampton / New York 1989. Quintus Horatius Flaccus: Ars poetica, lat./dt. Mit einem Nachwort hrsg. von Bernhard Kytzler. Stuttgart 1992 u.ö. Martin Luther: Werke. Weimarer Ausgabe, Tischreden Bd. 1. Weimar 1912 (Reprint Weimar / Graz 1967). Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens, auch was sich in dem Denckwerdiges zugetragen, so er mehrentheils selbst gesehen und gegenwärtig mit angehöret hat, von ihm selbst beschriben, hrsg. von Gottlieb Christian Friedrich Mohnike, 3 Bde. Greifswald 1823-1824. Hieronymus Wolf: Commentariolus de vita sua, hrsg. von Helmut Zäh. München 1998.
Sekundärliteratur Forschungen zur Melancholie Jean Clair (Hrsg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Katalog zur Ausstellung „Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst“. Galeries nationales du Grand Palais, Paris / Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin. Ostfildern-Ruit 2005. Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt a.M. 1998 (1990). Julia Kristeva: Le soleil noir. Dépression et mélancolie. Paris 1987. Gerlinde Lütke Notarp: Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie. Studien zur Ikonographie der vier Temperamente in der niederländischen Serien- und Genregraphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Münster 1998. Michael Schmidt-Degenhardt: Melancholie und Depression: zur Problemgeschichte der depressiven Erkrankungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1983. Wolfram Schmitt: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie. In: Melancholie in Literatur und Kunst, hrsg. von Udo Benzenhöfer, Walter Blank, Horst Fritz u.a. Tübingen 1990, S. 14-28. Peter-Klaus Schuster: Melencolia I. Dürers Denkbild, 2 Bde. Berlin 1991. Harald Tersch: Melancholie in österreichischen Selbstzeugnissen des Späthumanismus. Ein Beitrag zur Historischen Anthropologie. In: MIÖG 105 (1997), S. 130-155. Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne: Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin 1996.
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Forschungen zu Renaissance / Humanismus Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago 1980. Jan-Dirk Müller: Wickram – ein Humanist? In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung, hrsg. von Maria E. Müller und Michael Mecklenburg unter Mitarbeit von Andrea Sieber. Bern u.a. 2007, S. 21-39. Paul Münch: Lebensformen in der frühen Neuzeit. 1500 bis 1800. Frankfurt a.M. / Berlin 1992. Klaus T. Wirag: Cursus Aetatis – Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. München 1995.
Forschungen zur Autobiographie Fabian Brändle / Kaspar von Greyerz / Lorenz Heiligensetzer / Sebastian Leutert / Gudrun Piller: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung. In: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), hrsg. von Kaspar von Greyerz, Hans Medick und Patrice Veit unter Mitarbeit von Sebastian Leutert und Gudrun Piller. Köln / Weimar / Wien 2001, S. 3-31. Gabriele Jancke: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln / Weimar / Wien 2002. Stephan Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur historischen Psychologie. Trier 1993. Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1995.
Abbildungsnachweis Abb.1a: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Straßburger Kalender, ca. 1500. In: Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt a.M. 1998 (1990), Tafeln 92-95. Abb. 1b: Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker. Augsburger Kalender, ca. 1480. In: Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt a.M. 1998 (1990), Tafeln 88-91. Abb. 2: Vier Temperamente (Sanguineus, Cholericus, Phlegmaticus, Melancholicus), Holzschnitte aus Laufenberg, Versehung des Leibs, Augsburg 1491. In: Peter-Klaus Schuster: Melencolia I. Dürers Denkbild. 2 Bde. Berlin 1991, Bd. 2, Tafel 12.
KARSTEN MACKENSEN
Zur Operationalisierung des musikalischen Wissens in Enzyklopädien der Frühen Neuzeit
I.
Einleitung
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Bernard de Lavinheta eröffnet 1523 seine enzyklopädische Darstellung einer Anwendung des Lullismus auf alle Künste und Wissenschaften mit einem Terenz-Zitat: „Nihil dictum quin fuerit prius iam dictum.“2 Alles Gesagte ist bereits zuvor schon gesagt worden. Die Wahrscheinlichkeit neuen Wissens wäre demnach gering zu veranschlagen. Keineswegs resignativ oder bescheiden aber ist diese Konzession eines dem menschlichen Verstand entsprechend endlichen, allerdings gottgegebenen Wissens; vielmehr enthält sie ihr eigenes Selbstbewußtsein, wenn Lavinheta fortfährt: „wenn [allerdings] von uns irgendetwas Neues in diesem Werk erfunden [inventum] worden sein sollte, so sind wir Gott dankbar: da ohnehin (wie Ambrosius bezeugt) alle Wahrheit, von wem auch immer sie gesprochen wird, von Gott stammt.“3 Der solcherart verwendete Begriff des invenire und damit auch des inventor steht in seiner Vielschichtigkeit geradezu exemplarisch für Funktion, Aufbau und Verwendung von Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit insgesamt. Denn nicht nur behauptet er die unbedingte Möglichkeit des Findens, Auffindens, ja Erfindens von Dingen, er impliziert auch die Emergenz genau dieser inventio aus dem schriftlich fixierten Wissen in Gestalt des Buches selbst. Damit formuliert der katalanische Lullist das Prinzip von Enzyklopädie sui generis. Wissenssummen dienen, worauf in der jüngeren Forschung hingewiesen wurde, nicht als bloße Speicher von Informationsbeständen, sie befördern darüber hin-
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Für wertvolle Hinweise und Kommentare zur Druckfassung dieses Beitrags danke ich Gilbert Heß und Corinna Laude. Bernard de Lavinheta: Explanatio compendiosaque applicatio artis Raymundi Lulli. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Lyon 1523, mit einer Einleitung und einem Personenverzeichnis hrsg. von Erhard-Wolfram Platzeck. Hildesheim 1977, Exordium (unpag.). In Terenz’ „Eunuch“ heißt es im Original: „Nullum est iam dictum, quod non sit dictum prius.“ „[...] ideo si aliquid noui in hoc opere a nobis inuentum fuerit: gratias deo agamus: quoniam (teste Ambrosio) Omnis veritas a quocumque dicatur semper a deo est“; Lavinheta: Explanatio (wie Anm. 2), Exordium (unpag.).
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aus die selbständige Aneignung von Wissen.4 Dieser pragmatisch zu nennende Aspekt kennzeichnet in besonderer Weise Enzyklopädien der Frühen Neuzeit.5 Sie lassen sich geradezu als Wissens- oder Argumentationsmaschinen begreifen; sie produzieren Wissen. Es ist aus diesem Grund naheliegend, daß sie – in vermittelter Weise zugleich – Arbeitsinstrument und Resultat polyhistorischer, humanistischer Gelehrsamkeit sind, deren grundlegendste wie auch höchste der Künste die Rhetorik darstellt. Über jeden Gegenstand in der Welt fundiert reden und schreiben zu können, ist das ehrgeizige Ziel junger, angehender Gelehrter, die einen Platz an der Universität oder in ihrem Umfeld anstreben.6 Im Begriff des invenire ist eine Doppelstruktur angelegt, die mit seiner Herkunft aus der Rhetorik zusammenhängt: Inhaltliche und strukturelle Intension überlagern einander. Denn auch wenn die kombinatorische und bereits stark säkularisierte Ars Lulliana – auf die unten noch näher einzugehen sein wird – im 16. Jahrhundert besonders als Topik gelesen wird, d.h. mit einer ausgeprägten inhaltlich-konkreten Akzentuierung der Argumentationsorte, ist der Erfolg dieser spezifischen Llull-Rezeption ohne die Attraktivität der Struktur praktisch unendlicher Rekombinationsmöglichkeiten einer begrenzten Anzahl von Elementen, mithin ohne eine erkenntnistheoretische Lesart kaum denkbar. So bezieht sich das invenire sowohl auf Weisen des Auffindens des Ortes, an dem ein Argument gefunden werden kann – dies mitsamt seinen Kombinationsmöglichkeiten –, als auch auf den konkreten Inhalt eher im Sinne eines locus communis, eines „Gemeinplatzes“, wie die moderne und leicht pejorative Lesart lauten würde. Der locus bezeichnet also – die Welt einmal als Bibliothek gedacht – nicht nur den Ort im Regal, den ich zur Konstituierung eines neuen Textes aufsuchen muß, sondern, gleichsam als Sigle oder Chiffre, auch den Inhalt des Buches, Kapitels, Abschnitts, den ich dort finden werde. Die Frage, in welcher Weise Enzyklopädien in bestimmter Weise an Wissensvermehrung, an Wissensproduktion beteiligt sein können, impliziert immer auch die Frage nach den übergeordneten Strukturmodellen, die eine themenbezogene Unabhängigkeit der Argumentations- bzw. Inventionsweisen gewährleisten. Nicht immer müssen diese kombinatorischer Natur sein, wenngleich ein Paradigma der ein4
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Vgl. Helmut Zedelmaier: „Facilitas inveniendi“. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister. In: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, hrsg. von Theo Stammen und Wolfgang E. J. Weber. Berlin 2004 (Colloquia Augustana, Bd. 18), S. 191-203, hier S. 193. Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Bücher als Wissensmaschinen. In: Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Darmstadt 2006, S. 9-20, hier S. 16f. Auf S. 17 heißt es definierend: „Enzyklopädien sind im pragmatischen Sinn Wissensmaschinen mit einem Anspruch auf Orientierung, mit einer hohen Leistung der Informationsvermittlung und mit einer Ausrichtung auf möglichst unkomplizierte Benutzbarkeit.“ Diese Rhetorik muß dementsprechend höchst praktisch orientiert und weniger bloß theoretisch expliziert vorgestellt werden. Vgl. Anthony Grafton: The World of the Polyhistors: Humanism and Encyclopedism. In: Central European History 18 (1985), S. 31-47, hier S. 34f.
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schlägigen Literaturgeschichte, die Synonymen- und Metaphernsammlung „De duplici copia rerum ac verborum“ des Erasmus von Rotterdam, durchaus auf je neue Rekombinationen eleganter, überlieferter Formulierungen setzt, die in ausführlichen Listen zur Auswahl geboten werden.7 Eher noch wichtiger als diese über Jahrhunderte von angehenden Gelehrten genutzte Sprichwortsammlung erscheint das enzyklopädische Werk des italienischen, lange Zeit in England wirkenden Humanisten Polydorus Vergilius.8 „De inventoribus rerum“, erschienen zuerst in Venedig 1499, elaboriert den Topos des invenire historisch und konzeptionell. Daß diese hoch einflußreiche und noch bis ins 18. Jahrhundert rezipierte Wissenssumme gleichsam selbstreferentiell die Produktionslogik solchen Invenierens paradigmatisch vorführt (woran sich ihr enzyklopädischer Charakter erweist), deutet sich beiläufig in dem – letztlich freundschaftlichen – Streit mit Erasmus von Rotterdam über die Frage nach der Erstmaligkeit der von beiden fast zeitgleich publizierten Sammlungen von Proverbien an: Die Veröffentlichung des „Proverbiorum libellus“ (1498) erfolgte nur zwei Jahre vor dem ersten Druck der berühmten „Adagia“ des Erasmus (1500); so konkurrierten die beiden Sammlungen von Sprichwörtern um den Rang einer Erfindung dieses Texttypus. Nun bestehen die „Adagia“ und das Büchlein mit den Proverbien keineswegs einfach aus Auflistungen gängiger Sprichwörter. Wilhelm Schmidt-Biggemann weist darauf hin, daß Erasmus in seinem letztlich gut 4000 Einträge umfassenden Werk eine inhaltliche Wende der Topik vollzieht, die sich wesentlich auf die aristotelische Rhetorik stützt.9 Die „Sprichwörter“ sind loci communes, also Argumentationsorte, die vielfältig disponierbar und miteinander in Beziehung setzbar sind, um ein Neues hervorzubringen. In eine ähnliche Richtung denkt auch Vergilius. Sein Buch über die Erfinder der Dinge war ungeheuer erfolgreich, ein internationaler Bestseller; es erschienen bis ins 18. Jahrhundert über hundert Ausgaben in acht verschiedenen Sprachen.10 In einem der erweiterten Ausgabe von „De rerum inventoribus“11 von 1517 vorangestellten Gruß an den Bruder, Gian Matteo, hebt Vergilius stolz hervor, daß er, „Polydorus, der erste unter den Lateinern [sei], der beide Themen behandelt hat“, nämlich Adagia und In-
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Die erste von vielen Ausgaben ist erschienen unter dem Titel: D. Erasmi Roterodami De duplici copia rerum ac verborum commentarii duo. London 1512. Siehe hierzu das jüngst an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel unter der Leitung von Helmut Zedelmaier durchgeführte DFG-Projekt „Die Frage nach dem Ursprung der Kultur. Das gelehrte Wissen im Spannungsgefüge von Autorität und Pluralisierung“: , 04.03.2007. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata, Bd. 1), S. 16. Vgl. Helmut Zedelmaier: Karriere eines Buches. Polydorus Vergilius’ „De inventoribus rerum“. In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Frank Büttner u.a. Münster 2003 (Pluralisierung und Autorität, Bd. 2), S. 175-203. Diese gegenüber der Erstausgabe abweichende Form des Titels hat sich bereits ab der ersten Folgeauflage durchgesetzt.
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ventores.12 Trotz der offensichtlichen Anknüpfung an die antike Gattung der Heurematologie13 betont er also bei aller Bescheidenheit die Neuheit seines Unterfangens, den Erfindungsgeist seines Schöpfers. Durch eine Konfrontation von Vergilius’ Text mit der zu Beginn angeführten Enzyklopädie von Lavinheta und durch eine Verortung im Kontext weiterer Wissenssummen soll es in einem späteren Abschnitt des vorliegenden Beitrags gelten, in spezifischer Anwendung einer Archäologie des Wissens – ganz im Sinne Foucaults – der den Ansätzen zugrundeliegenden, in diesem Sinne fundamentalen Diskursformation auf die Spur zu kommen.14 Es ist gerade die Unterschiedlichkeit der philosophischen und methodischen Prämissen dieser Werke, die sie für eine vergleichende Betrachtung prädestinieren. Ziel ist es, die Existenz eines derartigen, die Denkformen der Zeit übergreifend bestimmenden und gleichsam „subkutan“ wirkenden Diskurses auch und besonders in „ungleichzeitigen“ und voneinander abweichenden Wissenskonzepten plausibel zu machen. Die unterschiedliche geographische und ideengeschichtliche Herkunft der Ansätze – deren umfassende Rezeption allerdings wiederum vergleichbar ist – vermag dabei als Indikator für die Breite des Diskurses zu dienen. Konkret am Beispiel der „Musik“ (musica) soll auf drei Ebenen gezeigt werden, wie enzyklopädische Texte zur Wissensgewinnung operationalisiert werden können, um ein invenire nicht nur zu beschreiben, sondern auch paradigmatisch selbst vorzuführen. Diese Ebenen betreffen erstens die Inhalte, zweitens die Ordnungsprinzipien und drittens die in einer Tiefenschicht zugrundeliegenden Denkformen der Wissensdisposition. Insbesondere auf der dritten Ebene, der vielleicht wichtigsten, bietet sich der Kurzschluß zwischen Vergilius und Lavinheta an.
II. Die Erfindung der Dinge Zwei wesentliche Dispositionsprinzipien überlagern sich in den ersten drei Büchern von Vergilius’ „De inventoribus rerum“, in denen auch die musica ihren Ort findet: Am Inhaltsverzeichnis des ersten Buches läßt sich unproblematisch die Orientierung an einem – allerdings bereits zeittypisch erweiterten – mittelalterlich-universitären Curriculum erkennen; ergänzt wird diese Struktur der septem artes durch eine narrative Logik, die ebenfalls andeutungsweise im Inhaltsverzeichnis aufscheint. Die aufstei12
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Polydorus Vergilius: De inventoribus rerum. On discovery, hrsg. und übersetzt von Brian P. Copenhaver. Cambridge, Mass. u.a. 2002 (The I Tatti Renaissance library, Bd. 6), S. 14: „Sic Polydorus ego primus apud Latinos urtriusque rei argumentum attentavi“. Die Übersetzungen stammen – so nicht anders angegeben – vom Verfasser. Vgl. Brian P. Copenhaver: The Historiography of Discovery in the Renaissance. The Sources and Composition of Polydor Vergil’s De inventoribus rerum, I-III. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 41 (1978), S. 192-214, hier S. 193. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1994 (1973), S. 31ff.
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gende Rangordnung der Gegenstände repräsentiert im ersten der drei Bücher einerseits die Figur des Aufstiegs vom Elementaren zum Himmlischen, andererseits den intellektuellen Aufstieg von Grundlagen und einfachen Dingen hin zu den höheren Fakultäten.15 Noch vor der zur Grundlage aller Künste und Wissenschaften habilitierten Grammatik, mithin vor der Fähigkeit zu sprachlichem Ausdruck, steht in der hier durchaus historisch verstandenen Erzählung der Ursprung der Götter, der Anfang der Dinge, Mensch, Sprache, Heirat, Religion und Schrift. (De prima deorum origine; De initiis rerum; De primo hominum ortu: & linguarum uarietatis origine; De origine coniugii; De religionis origine; Quis primus litteras inuenerit.) Erst dann beginnt der Cursus der studia humanitatis, also des hier durch Geschichte und Poetik erweiterten Triviums. (De originae grammaticae; De poeticae artis origine; De origine metri & qui metrorum plura sunt genera; De tragoediae atque comoediae initiis; De origine satyrae; Quis primus historiam condiderit; De origine rhetorices.) Musica nimmt, gemeinsam mit Philosophie, eine Mittelstellung ein zwischen Trivium und ihrem traditionellen Ort, dem Quadrivium. Damit ist sie einer Disziplin gleichgestellt, der in der Lehrstruktur der Universität traditionell eine eigene Fakultät eingeräumt wird. Unterstrichen wird die Verlagerung der musica aus ihrem angestammten Bereich der mathematisch-spekulativen Wissenschaften durch ihre Ausdifferenzierung in die Erfindung der musica und diejenige der Musikinstrumente mitsamt ihrer praktischen Nutzanwendung. (Quis primus musicam reppererit; Qui primum instrumenta musica diuersi generis inuenerint. Et ea in latium attulerint: & de antiquissimo usu tibiarum in praeliis; De origine philosophiae; Qui primitus astrologiam adinuenerint; Qui primiter geometriam & arithmeticam inuenerint.) Erwartungsgemäß folgt auf dieser Stufenleiter nicht nur der Erfindungen, sondern auch des intellektuellen Rangs ihres Fachgebietes, die Medizin als höhere Fakultät. Aus diesem Gegenstand ergibt sich zwanglos die Frage nach Heilkräutern und Medikamenten, der Überlegungen zu divinatorischen, magischen Künsten folgen. (Quis primus medicinam inuenerit; De herbariae & medicamentariae atque melleae medicinae inuentoribus; Quis primo magicam artem inuenerit; Die origine Necromantiae: Pyromantiae: Aeromantiae: Hydromantiae: Geomantiae: & Chiromantiae; De duobus diuinandi generibus.) In Buch zwei orientiert sich Vergilius, ausgehend von der Gesetzgebung, vor allem an Institutionen. Die Betrachtungen führen ihn über Fragen der Regierung bis hin zum Kalender. Im Zentrum des dritten Buches steht die Darstellung landwirtschaftlicher Belange und Errungenschaften. Hier spätestens wird die grobe Anlehnung an den Universitäts-Lehrplan wieder aufgegeben zugunsten der überlieferten literarischen Vorlagen und Quellen für derartige Erfinder-Sammlungen.16 In den fünf weiteren Büchern der späteren Ausgabe 15 16
Einen Überblick über den Inhalt der drei ersten Bücher gibt Copenhaver: Introduction. In: Vergilius: De inventoribus rerum (wie Anm. 12), S. VI-XXX, hier S. IXf. Dazu gehören zeitnahe Schriften wie etwa Zacharias Giglio [Lilius]: De Origine et Laudibus Scientiarum. Florenz 1496 (Mikrofiche-Ausgabe Stuttgart [ca. 1996/97], Brasilien-Bibliothek, Bd. 53), und klassische Vorbilder wie Plinius’ „Naturalis historia“.
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von 1521 verfaßt Vergilius eine Analyse der Kirche, ihrer Institutionen, Riten und Zeremonien17 und ergänzt so die Diskussion vorwiegend in der Antike datierender Erfindungen und Erfinder durch die Darstellung wesentlicher Errungenschaften nach der Zeitenwende, nach der Fleischwerdung Christi. Wie realisiert sich nun die „facilitas inveniendi“, die dynamische Wissensgenerierung aus dem Geist der Enzyklopädie, wie sie von Agrippa von Nettesheim bei Llull erkannt worden ist?18 Wie kann die enzyklopädische Darstellung als Dispositiv eines Wissenszuwachses fungieren? Es ist von Brian Copenhaver und anderen beschrieben worden, welch akribisches Quellenstudium Vergilius betrieben hat, um eine möglichst große Zahl von auctores und loci zum Thema anführen zu können.19 Sein Ziel ist dabei, nichts weniger als die Wahrheit selbst aus der Vielzahl der fabelhaften und mythischen Überlieferungen herauszuarbeiten: Kann irgendetwas uns mehr beschämen oder entwürdigen, als Possen zu verbreiten, die Quelle der Wahrheit preiszugeben und den Bächen der Fabel zu folgen, insbesondere da die Natur so eingerichtet besteht, daß der Geist keine süßere Nahrung findet als wahre Erkenntnis? Und so habe ich ein Werk über die Erfinder der Dinge unternommen, teils damit niemand um seinen Ruhm betrogen wird, denn zu erfinden bedeutet, der erste vor anderen zu sein, und viele treibt die Ehre, der erste zu sein, in so große Selbstliebe, daß sie alle sich wünschten, auctores zu sein, wenn sie könnten; und teils, damit jene, die nachahmen wollen, wissen, wem sie folgen sollten. Hierin habe ich versucht nichts falsch zu machen und alles so genau wie möglich wiederzugeben, insbesondere wenn wir den Ursprung der Götter und deren Verehrung, den Anfang der Welt und den Ursprung der Menschheit behandeln, was keineswegs 20 leicht war, zumal all das bereits mit Unsinn angefüllt worden ist.
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Vgl. Catherine Atkinson: Deutsche Zusammenfassung der Dissertation „Inventing inventors in Renaissance Europe. Polydore Vergil’s De rerum inventoribus“. Unveröff. Manuskript 2006, S. 5. Atkinson weist darauf hin, daß Religion als Teil antiker Kultur auch in den drei ersten Büchern bereits eine ausgeprägte Rolle spielt; vgl. ebd., S. 9. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Epistola dedicatoria. In: Ramon Llull: Opera. Reprint of the Strasbourg 1651 edition with an Introduction by Anthony Bonner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 787-789, hier S. 787; vgl. Anita Traninger: Mühelose Wissenschaft. Lullismus und Rhetorik in den deutschsprachigen Ländern der frühen Neuzeit. München 2001 (Humanistische Bibliothek, Reihe 1, Abhandlungen, Bd. 50), S. 88. Copenhaver: The Historiography of Discovery (wie Anm. 13). [...] quid turpius magisve pidendum esse potest quam nugas terere et fonte veritatis omisso fabularum rivulos sectari, quum praesertim ita natura comparatum constet ut nullas suavior animo cibus sit quam vero cognitio? Ego itaque opus de rerum inventoribus orsus, partim ut nemo sua laude, invenire enim primum praecipuum est, reique inventae dignitas adeo multos trahit in amorem sui et singuli si fieri possit auctores se dici velint, fraudetur: partim ut qui imitari volent sciant quos sequi debeant. Ne quid criminis subirem quam verissime potui omnia tradidi, maxime quum de origine deorum et eorum cultu, de rerum initiis, de hominis ortu prodidimus, quod neutiquam facile fuit quando iam nugae cuncta oppleverant. Widmung von „De inventoribus rerum“ an Lodovico Odassio von Padua; Vergilius: De inventoribus rerum (wie Anm. 12), S. 2-7.
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Ein genauer und kritischer Blick zeigt aber – und ich komme zur ersten der drei angeführten Ebenen – eine produktive und individuelle Umgangsweise mit den Quellen hinsichtlich Auswahl, inhaltlicher Interpretation und Anordnung. Wer die Musik erfunden hat, muß für „De inventoribus rerum“ die zentrale Frage sein. Der in diesem Zusammenhang klassisch-antike Ort ist die Schmied-Legende des Pythagoras, wie sie beispielsweise in einer der wichtigsten Quellen für das gesamte Mittelalter seit dem späten 9. Jahrhundert überliefert wird, in Boethius’ „De institutione musica“ (entstanden ca. 500-507). Der römische Konsul Anicius Manlius Severinus Boethius (um 480 bis 525 oder 526) gilt als der Schöpfer des Begriffs quadrivium, worunter er alle mathematischen artes einschließlich der musica zusammenfaßte. In seiner Abhandlung zur Musik, die Fragment geblieben ist und unter anderem Schriften von Nikomachus und Ptolemaios in den lateinischen Sprachraum und ins christliche Mittelalter vermittelt, wendet sich Boethius vor allem theoretischen Fragen der Proportionen von Klängen und der Darstellungen von entsprechenden Saitenteilungen am Monochord zu.21 Im einleitenden ersten Buch berichtet er über die Entdeckung der harmonischen Proportionen durch Pythagoras, der, an einer Schmiede vorbeispazierend, einen Zusammenhang zwischen dem Klang der verschiedenen Hämmer und ihrem Gewicht feststellt. Aus dieser (so übrigens nicht korrekten) Beobachtung ergibt sich direkt die Tetraktys 6 : 8 : 9 : 12, deren Verhältnisse unter anderem die konsonanten Intervalle Oktave (6:12 = 1:2), Quint (6:9 = 2:3) und Quart (6:8 = 3:4) einschließen. Ebenfalls topisch ist spätestens seit Isidor von Sevilla22 (um 560 bis 636) der Verweis auf den biblischen Jubal bzw. Tubal aus dem Geschlecht Kains. Im dritten Buch der um 630 entstandenen „Etymologiae“ stellt Isidor ihn, dem Bericht Moses’ folgend, als Erfinder neben Protagonisten weiterer Überlieferungen, etwa die griechische mit Pythagoras.23 Er bezieht sich seinerseits unter anderem auf Cassiodor (um 485 bis um 580), der Nachfolger des Boethius als römischer Magister officiorum war.24 Die Debatte um den Vorrang von Pythagoras oder Jubal zieht sich durch das Schrifttum des
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Das Monochord ist in diesem Sinne weniger ein Musikinstrument als ein Meßinstrument. Allerdings werden die Verhältnisse der nach rationalen Proportionen geteilten Saite durch das Gehör sinnfällig gemacht, etwa durch den Vergleich des durch Saitenkürzung entstandenen Tons mit dem der Grundlänge der Saite. Zur Unterstützung dieser Funktion können Monochorde durchaus auch zwei oder mehr Saiten haben. Michael Bernhard: Art. „Isidor von Sevilla“. In: MGG2, Personenteil, Bd. 9. Kassel u.a. und Stuttgart / Weimar 2003, Sp. 700f. Moyses dicit repertorem musicae artis fuisse Tubal, qui fuit de stirpe Cain ante dilivium. Graeci vero Pythagoram dicunt huius artis invenisse primordia ex malleorum sonitu et cordarum extensione percussa. Isidor von Sevilla: Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von Wallace Martin Lindsay, 2 Bde. Oxford 1911, f. K6v, wiedergegeben nach: Thesaurus Musicarum Latinarum, , 08.12.2003. Vgl. Michael Bernhard: Art. „Cassiodorus“. In: MGG2, Personenteil, Bd. 4. Kassel u.a. und Stuttgart / Weimar 2000, Sp. 376-379.
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gesamten Mittelalters.25 Je nach Quelle kommt noch Tubal ins Spiel, gelegentlich identifiziert mit Tubalkain, einem Halbbruder des Jubal, der seines Zeichens Schmied war und dessen Schlägen Jubal – ganz wie Pythagoras – die Proportionen ablauschte. Bei Vergilius liest sich die Angelegenheit folgendermaßen: „Aber die Vernunft erfordert, daß Amphion und die anderen zu einem späteren Zeitpunkt Urheber [autores] dieser Kunst waren, denn das erste Buch der Altertümer des Flavius Josephus sagt, daß der Hebräer Tubal, Sohn des Lamech, der all den anderen als Erfinder der Musik Genannten um viele Jahre vorhergeht, gründlich daran gearbeitet und Lyra und Cithara gespielt habe.“26 Der Bezug auf Tubal (hier offenbar identifiziert mit Jubal) unterstreicht Vergilius’ Eröffnung des Musikkapitels mit dem Bericht über Orpheus und Linus, die beide als Beispiele praktizierender Musiker eingeführt werden, und nicht als spekulierende Musiktheoretiker. Orpheus beispielsweise ist imstande, sogar Steine, Pflanzen und Tiere durch seine Musik zu bewegen – ganz abgesehen von der erfolgreichen Besänftigung der Herren des Hades zur Rettung Eurydikes. Linus, ebenfalls Sohn einer Muse, Musiklehrer des Herkules und manchmal auch als Bruder oder Lehrer von Orpheus genannt, ist wie dieser einer der großen mythischen Sänger: „Nach dem Zeugnis der besten Dichter ist die Musik sehr alt, denn Orpheus und Linus, beide göttlicher Herkunft, waren hervorragende Musiker.“27 Damit stehen praktische Musikausübung und die affektiv-körperliche, ja sogar elementare Wirkmächtigkeit nicht neben einem spekulativ-theoretischen Musikbegriff, wie er sich mit dem Namen Pythagoras verbindet; dieser wird vielmehr vollständig ausgeklammert. James W. McKinnon hat darauf hingewiesen, daß von neun mittelalterlichen Theoretikern, die den Erfindungstopos anführen, nur drei Jubal nennen, alle neun hingegen Pythagoras.28 Und zumindest im Zusammenhang mythischer Wirkungen der Musik hätte dessen Name fallen können; schließlich war auch er einer der großen magi der Antike, der durch gezielten Einsatz von Musik Menschen in ihrem Handeln beeinflussen konnte.29 Aber selbst dieser Hinweis auf Pythagoras entfällt. 25 26
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Vgl. hierzu James W. McKinnon: Jubal vel Pythagoras, quis sit inventor musicae? In: The Musical Quarterly 64 (1978), S. 1-28. Verum Amphionem et caeteros posthac huius rei autores fuisse ratio poscit, cum Tubal Hebraeum, Lamech filium, qui multis aetatibus praecesserat omnes illos qui musicae inventores produntur, Iosephus in primo Antiquitatum dicat musicam studiose coluisse et psalterio citharaque cecinisse. Vergilius: De inventoribus rerum (wie Anm. 12), S. 118. Musicen [sic!] antiquissimam esse poetae clarissimi testimonio sunt, nam Orpheus & Linus, ambo diis geniti musici insignes fuerunt; ebd., S. 116. McKinnon: Jubal vel Pythagoras (wie Anm. 25), S. 2. Vgl. Anicius Manlius Severinus Boethius: De institutione musica, hrsg. v. Gottfried Friedlein. Leipzig 1867 (Reprint Frankfurt a.M. 1966), S. 184f. (Buch I, Proemium), wiedergegeben nach: Thesaurus Musicarum Latinarum, , 08.12.2003: Cui enim est illud ignotum, quod Pythagoras ebrium adulescentem Tauromenitanum subphrygii modi sono incitatum spondeo succinente reddiderit mitiorem et sui compotem? Nam cum scortum in rivalis domo esset clausum atque ille furens domum vellet amburere, cumque Pythagoras stellarum cursus, ut ei mos, nocturnus inspiceret, ubi intellexit, sono phrygii modi incitatum multis
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Vergilius’ Auslassung jenes Traditionsstrangs bedeutet eine klare inhaltliche Entscheidung nicht nur zugunsten der biblischen Überlieferung – und damit der Vorrangigkeit der jüdisch-christlichen Tradition vor der griechisch-heidnischen –, sondern auch und besonders zugunsten eines an der musikalischen Praxis, am Erklingenden und konkret sich musikalisch Ereignenden orientierten Musikbegriffs. Daß die Auslassung bewußt erfolgt und nicht in der Quellenlage begründet ist, läßt sich mit einer gewissen Sicherheit sagen. Die wahrscheinlich wichtigste zeitnahe Referenz für die Erfinderliste Vergilius’, Niccolo Perottis „Cornucopiae“ kennt tatsächlich Pythagoras in diesem Zusammenhang nicht.30 In Zacharias Giglios „De origine et laudibus scientiarum“, 1496 in Florenz erschienen und mögliche Vorlage Vergilius’ für die Anordnung der ersten drei Bücher, sind dagegen, in direkter Übernahme aus Isidor, beide Figuren genannt: „Bei Moses steht geschrieben, daß Tubal die Musik erfunden hat. [...] Die Griechen sagen, daß Pythagoras diese Kunst in Erfahrung gebracht hat.“31 Genau diese Ergänzung aber findet sich bei Vergilius nicht mehr. Trotz der Konzentration auf historisch weit zurückliegende Ursprünge impliziert solch selektive Darstellung auch die Propagierung eines modernen Ideals des musikalischen Schaffens. Bestätigt wird nämlich die Pythagoras-Auslassung durch eine subtile, aber nicht unerhebliche Modifikation der Lesart einer ebenfalls topischen und vielzitierten Boethius-Passage. In der ersten Ausgabe von 1499 gibt Vergilius den Passus wortgetreu wieder: „Es gibt drei Arten [von Musikern], die sich mit der ars musica beschäftigen: Die einen, welche Instrumente spielen [...], die zweiten, die Gesänge erfinden – woraus ersichtlich ist, daß Dichtung ein Teil der Musik ist –, und die dritten, die das Instrumentalspiel und die [komponierten] Gesänge beurteilen.“32 Nur den dritten Typus von Musikern erkannte Boethius als eigentlichen „Musicus“ an: „Denn der Kitharoede wird nach der Kithara, der Auloede nach dem Aulos, und andere ausübende Musiker werden nach den Namen ihrer Instrumente benannt. Derjenige aber ist ein Musicus, der durch vernünftige Beurteilung sich die Kenntnis der Musik nicht in der
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amicorum monitionibus a facinore noluisse desistere, mutari modum praecepit atque ita furentis animum adulescentis ad statum mentis pacatissimae temperavit. Niccolo Perotti: Cornucopie, siue linguae latinae commentarii, ubi quamplurima loca, quae in aliis impressis, incorrecta leguntur emendata sunt. Multa praeterea, quae in iis, etiam, quos ex archetypo excriptos habuimus, mendosa erant, emaculauimus. Venedig 1499. [Musicam] Moses scribit invenisse Tubal de stirpe Cain. Graeci vero dicunt Pythagoram eius artis initium comperisse ex malleorum sonitus & cordarum extensione percussa. Giglio [Lilius]: De Origine et Laudibus Scientiarum (wie Anm. 16), unpag. Tria praeterea genera sunt: quae circa artem musicam uersantur. Vnum genus est: quod instrumentis agitur: de quo mox dicetur. Aliud: quod fingit carmina: ex quo ut poesis pars sit musices: necesse est. Tertium: quod instrumentorum opus carmenque di[i]udicat. Polydorus Vergilius: De inventoribus rerum. Venedig 1499, Buch I, Kap. 14.
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Knechtschaft der Ausführung, sondern unter der Herrschaft des (rationalen, vernünftigen) Nachdenkens [imperio speculationis] zu eigen macht.“33 Für Vergilius ist aber die Aufwertung der ausgeübten, praktischen Musik ein wichtiges Anliegen; dies in Übereinstimmung mit einer nicht erst in der Renaissance zu beobachtenden Habilitierung des „Cantor“. Tatsächlich übernimmt Vergilius die zunächst ja neutrale angeführte Aufzählung von Instrumentalist, Komponist und theoretisch gebildetem Musicus; vermutlich gibt er sie nach dem „Cornucopiae“ von Perotti wieder.34 Die implizite Hierarchie, die in der Herkunft des Topos begründet liegt, wird dann gegenüber der ursprünglichen Autorität des Boethius geradezu verkehrt – der praktizierende Musiker wird zum Repräsentanten der musica selbst. In einer noch zu Lebzeiten erschienenen, späteren Ausgabe verändert sich der Text beinahe unmerklich: „Es gibt drei Arten von musica.“35 Aus denen, die auf verschiedene Weise mit der musikalischen Kunst beschäftigt sind (Tria praeterea genera sunt: quae circa artem musicam uersantur), ergo den Musikern, wird die Musik selbst (ex quibus musica constet). Es ist nur folgerichtig, daß Vergilius im Anschluß hieran den Erfindern der Musikinstrumente und ihres Gebrauchs ein eigenes Kapitel widmet. Und auch hier fehlt – zufällig? – ausgerechnet Pythagoras. Denn dieser ist es, der – wiederum nach Boethius – die achte Saite zur Lyra hinzufügt.36 Vergilius nennt dagegen, Plinius folgend, Simonides.37
III. Ordnungsprinzipien Nur einerseits ist Vergilius’ Text eine sich schlüssig und folgerichtig gerierende historische Erzählung, die der wahren Darstellung von Sachverhalten dient, und hierzu – so ihr Anspruch – das gesamte zuhandene Wissen zum Thema sammelt, ordnet und darstellt. Die Auswahl und Rekombination von loci communes reagiert nicht nur, sie prägt auch ein modernes Begriffsverständnis von „Musik“ mit – und erst hier möchte ich von 33
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Nam citharoedus ex cithara, auloedus ex tibia, ceterique suorum instrumentorum vocabulis nuncupantur. Is vero est musicus, qui ratione perpensa canendi scientiam non servitio operis sed imperio speculationis adsumpsit. Boethius: De institutione musica (wie Anm. 29), S. 224 (Buch I, 34). Vgl. Niccolo Perotti: Cornucopie (wie Anm. 30), S. 318. Auch Perotti führt das Boethius-Zitat nicht mehr bis zur exklusiven Definition des „Musicus“ fort, die sich bei Boethius anschließt. Tria praeterea genera sunt ex quibus musica constet. Vergilius: De inventoribus rerum (wie Anm. 12), S. 122. His octavam Samius Lycaon adiunxit; Boethius: De institutione musica (wie Anm. 29), S. 207 (Buch I, 20). Vgl. dazu Calvin M. Bower: Introduction. In: Boethius: Fundamentals of music (De institutione musica, engl.), hrsg. von Claude V. Palisca. New Haven u.a. 1989, S. XXI. Octavam apposuit Simonides, nonam Timotheus; Vergilius: De inventoribus rerum (wie Anm. 12), S. 126.
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musica umschwenken auf den unserem heutigen Verständnis näheren Begriff. Denn ganz offensichtlich ist unser modernes, stark vom Klang ausgehendes Begriffsverständnis bestenfalls ein Bestandteil – und vielleicht nicht einmal der wichtigste – einer spätmittelalterlichen Konzeptualisierung.38 Nicht nur der umfangreiche Bereich dessen, was wir heute unter „Musiktheorie“ verstehen, also Satzlehre (die im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als musica practica gefaßt wurde), sondern der Kosmos harmonisch-proportionaler Analogien von Makro- und Mikrokosmos, von Himmlischem und Irdischem, die Vorstellung eines sympathetisch-magischen Zusammenhangs aller Dinge in der Welt, konstituieren den älteren Begriff wesentlich. Ausgeführte, praktische Musik kann ein Teil davon sein, muß es aber nicht. In diesem Sinne kann die subtile Umdeutung der traditionellen und etablierten Topoi durch Vergilius als ein Inventionsvorgang verstanden werden, als innovativ also über ein bloßes invenire geeigneter Argumentationsorte hinaus. So stellt sich die Frage erneut nach den notwendigen Dispositiven solchen Findens oder Erfindens. Damit bin ich bei der zweiten angekündigten Ebene angelangt: dem Problem der Ordnungsprinzipien in enzyklopädischen Wissenssammlungen. Neben die Narration tritt in „De inventoribus rerum“ eine dissoziative Ordnung, die fragmentiertes und diskontinuierliches Lesen ermöglicht. Schon im Mittelalter – worauf Helmut Zedelmaier hingewiesen hat – läßt sich vereinzelt ein Bemühen um die facilitas inveniendi nachweisen: in Form von alphabetischen Registern, Indices.39 Auch Ann Blair geht davon aus, daß auch vor der Frühen Neuzeit verschiedene Lesemodi in verschiedenen Lesesituationen zur Verfügung stehen mußten, so daß sie kaum von einer Lese-Evolution, geschweige denn von einer Lese-Revolution sprechen möchte.40 Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ist keineswegs Bedingung sine qua non für die Anfertigung und Verwendung von Registern, erleichtert allerdings 38
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Vgl. hierzu Christian Kaden: Art. „Musik“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u.a., Bd. 4. Stuttgart / Weimar 2002, S. 256-275. Erstmals im 13. Jahrhundert bei Vincenz von Beauvais; vgl. Zedelmaier: Facilitas inveniendi (wie Anm. 4), S. 192. Gilbert Heß bestätigt diese Tendenz für den Bereich der Florilegien-Literatur des 16. Jahrhunderts, wenn er schreibt: „Zugleich zeigt die zunehmende Verbreitung von Buchindizes einen Wandel des Lektüremodus an: Während systematisch organisierte Werke – zumindest potentiell – eine durchlaufende Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite oder zumindest von größeren Sinnzusammenhängen intendieren, ermöglichen durch Register erschlossene Bücher die punktuelle Konsultation und somit den unmittelbaren Zugriff auf einzelne, aus dem Wissenssystem herauslösbare Bestandteile“; Gilbert Heß: Florilegien. In: Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen, hrsg. v. Frank Grunert und Anette Syndikus. Berlin 2007. Band in Vorbereitung. Vgl. hierzu auch Helmut Zedelmaier: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit, Bd. 64), S. 11-30, bes. S. 19-25. Vgl. Ann Blair: Reading Strategies for Coping With Information Overload ca. 1550-1700. In: Journal of the History of Ideas 64 (2003), S. 11-28.
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durch die Möglichkeit zur Reproduktion des gleichen Textkorpus’ in großen Auflagen die Verzettelung und Indizierung der nun überall identischen Kopien nach Seitenzahlen. Noch lange bleibt das Verfahren gebräuchlich, Register nur nach den Anfangsbuchstaben der Schlagworte alphabetisch zu ordnen, innerhalb der Buchstaben aber die Reihenfolge des Vorkommens im Haupttext beizubehalten. Die Unabhängigkeit der Register von der Textordnung erfordert in der Tat ein neuartiges Dispositiv – sowohl als Denkform wie auch als Werkzeug. Welche Hilfsmittel Vergilius verwendet hat, ist unbekannt; erst 1548 beschreibt Conrad Gesner ein bewegliches Dispositiv zur Verzettelung und Registererstellung in Form eines Buches mit leeren, mit Fäden bespannten Seiten, auf denen kleine Exzerpt-Zettel in variable Ordnungen gebracht werden können.41 Vergilius’ Enzyklopädie ermöglicht durch ihre Textstruktur ein punktuelles Lesen nach im Register festgehaltenen Stichwörtern – dies allerdings in unterschiedlichen Ausgaben und damit Nutzungs- und Entstehungszusammenhängen in unterschiedlicher Weise.42 Die Stichwörter repräsentieren in Form von Marginalien jene loci communes, die in einem kombinatorischen Prozedere neue Texte zu konstituieren vermögen. Auf analoge Weise hat auch Vergilius seinen Text zusammengesetzt. Besonders deutlich läßt sich der dynamische Aspekt der Enzyklopädie43 in der ersten deutschen Ausgabe zeigen, die 1537 unter dem Titel „Von den erfyndern der dyngen“ in Augsburg erschienen ist (vgl. Abb. 1).
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Vgl. Zedelmaier: Facilitas inveniendi (wie Anm. 4), S. 197f. Vgl. Zedelmaier: Karriere eines Buches (wie Anm. 10), S. 192-199. Schon für mittelalterliche Enzyklopädien hat sich die Unterscheidung von dynamischen und statischen Enzyklopädien als heuristisch hilfreich erwiesen. Beschränken sich statische Werke auf die Inventarisierung von Auffassungen zu bestimmten Themen, geht es dem dynamischen Ansatz auch um eine Herleitung bzw. Begründung dieser Standpunkte von spezifischen Ausgangspunkten aus. Vgl. Mariateresa Fumagalli / Massimo Parodi: Due enciclopedie dell’ Occidente Medievale: Alessandro Neckam e Bartolomeo Anglico. In: Rivista di storia della filosofia 1 (1985), S. 51-90. „De inventoribus“ nimmt eine Zwischenstellung ein, betont aber implizit den dynamischen Charakter.
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Abb. 1: Vergilius: Von den erfyndern der dyngen, fol. XIXr.
Diese Ausgabe, die kürzlich von Catherine Atkinson beschrieben worden ist,44 enthält ein umfangreiches Register, das auf die glossierten Argumentationsorte verweist. So gibt es jetzt neben dem Oberbegriff „Musica“ beispielsweise die spezielleren Orte „Musice erfinder“, „Musice warer ursprung“ und „Zeugknus der Musices eher“ (vgl. Abb. 1). Zu den beiden eingangs genannten Ordnungssystemen „Curriculum“ und „Erzählung“ tritt solchermaßen – und zunehmend dominierend – die Inventionsordnung des Registers. Wählen wir solche Leseperspektive, ergibt sich ein überra44
Vgl. Catherine Atkinson: Polidore Vergil’s Reception in Germany. In: Polidoro Virgili e la cultura umanistica europea, hrsg. v. Rolando Bacchielli. [Urbino] 2003, S. 303-320.
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schender Befund: Der Zugriff auf den Absatz zu „Musica“ – der jetzt die in der Textanordnung noch gleichsam als Sediment vorhandene Nähe zu Astrologie, Geometrie und Arithmetik ganz vernachlässigen kann, eröffnet ein gänzlich neues MusikVerständnis, das nun endlich von Boethius gar nichts mehr weiß, um so mehr aber vom jüngeren Musikbegriff, wie er massenhaft und geradezu katechetisch just zu jener Zeit in musikalischen Elementarlehren verbreitet wird: „DIe aller berümptesten Poeten seind zeügnus / das die Musica / das ist / die kunst des gesangs / seer alt sey / Dann der Orpheus / vnd Linus / baide von den Göttern hergeporen / fürtreffenlich Musici / das ist / singer gewesen seind [...]“.45 Musica wird also explizit und exklusiv als „Kunst des Gesangs“ gefaßt. Die Bedeutung des Singens und damit die Aufwertung des Kantors – und zwar sicherlich des gebildeten, komponierenden, des prudens cantor – geht so weit, daß auch Tubal nun zu Lyra und Harfe singt, statt, wie in der lateinischen Ausgabe, auf ihnen zu spielen: Aber die rechnung erheyschets / das Amphion vnd die andere darnach / auch nit vrheber diser sache gewesen seynd / so doch Josephus im ersten buch der alten geschichtenn sagt / wie der Jüdisch Tubal / des Lamechs sun [...] fleyssig der Musice aufgewartet / vnd auff dem Psalterio / das ist / auff dem vierecket instrument von zehen seytten / vnd zu der harpffen gesungen habe.46
Nebenbei wird auch die in der lateinischen Fassung noch mitgedachte Möglichkeit einer gleichsam zeitunabhängigen und gleichberechtigten, mehrfachen ersten Erfindung bestimmter Errungenschaften in verschiedenen Kulturräumen durch die unscheinbare Negation „nit vrheber diser sache“ endgültig ausgeschlossen – wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die produktive Aneignung der Musik-Ursprungs-Topoi findet hier, unschwer erkennbar, in einem protestantisch geprägten Umfeld statt. Bei dem Drucker der deutschen Ausgabe, Heinrich Steiner (oder Stayner), erscheinen zahlreiche populäre Traktate und Schriften Luthers und weiterer Reformatoren.47 Der Übersetzer, Marcus Tatius Alpinus, ist zwar Poetiklehrer an der katholischen Universität von Ingolstadt, die nur wenig später zu einem Zentrum der süddeutschen Gegenreformation wird; gleichwohl sind Sympathien für die Reformation unter gebildeten Humanisten dieser Zeit keine Seltenheit, auch ohne daß sie konvertieren. Hinzu kommt, daß die Zuspitzung der konfessionellen Positionen noch nicht solche Ausmaße erreicht hat, daß Sympathien für Luther in einer katholischen Umgebung ausgeschlossen gewesen wären. Daher widerspricht auch das Druckprivileg durch den Habsburger König Ferdinand nicht einer Lesart, die eine neuartige religiöse Kontextualisierung vermutet. Alpinus selber bemüht sich durch seine Übersetzung ganz bewußt um eine Vermittlung zwischen den verfein45 46
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Vergilius: Von den erfyndern der dyngen. Augsburg 1537, fol. XIXr (Herv. K.M.). Ebd., fol. XIXv. Im lateinischen Original heißt es: [Tubal] Iosephus [...] dicat [...] musicam coluisse et psalterio citharaque cecinisse; Vergilius: De inventoribus rerum (wie Anm. 12), S. 118. Vgl. Atkinson: Vergil’s Reception (wie Anm. 44), S. 304f.
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deten Positionen; ihm liegt an einem Ausgleich, ermöglicht durch den Rückgang auf erste Autoritäten – in religiöser Hinsicht sind dies die Kirchenväter.48 1537, also zeitgleich mit der deutschen Vergilius-Ausgabe, erscheint im protestantischen Wittenberg die „Musica“ des Nicolaus Listenius; eine erste Fassung hiervon wurde schon 1533 als „Rudimenta Musicae“ publiziert. Sie enthält eine einflußreiche und in der Folgezeit geradezu gebetsmühlenhaft wiederholte – oft in Lehrdialogen vermittelte – Formulierung: Musica est rite ac bene cantandi scientia.49 Praktisch gleichlautend findet sie sich wieder in Heinrich Fabers „Compendiolum musicae pro incipientibus“ von 1548.50 Es ist diese Formel, durch die Alpinus den Vergilius-Text in schöpferischer Weise umdeutet und neu kontextualisiert. Die beiden genannten und zahlreiche nachfolgende ähnliche Musiklehren dienen dem Unterricht an protestantischen Lateinschulen, in deren Curriculum der Musik- bzw. Gesangsunterricht – gemäß Luthers Wertschätzung der Musik für den Glauben und die Erziehung – eine wichtige Rolle spielt. Durch die Verbindlichkeit des Musikunterrichts an den entsprechenden Schulen wächst die Bedeutung der für den Unterricht herangezogenen Elementarlehren – Listenius’ Schrift wurde im 16. Jahrhundert nach und nach Pflichtlektüre in neunzehn deutschen Ländern bzw. Städten; Fabers „Compendiolum“ sogar in über dreißig.51 Ihre Wurzel hat die Formulierung von der Musik als Wissenschaft des moralisch guten und schönen Singens in einer weiteren für das Mittelalter unverzichtbaren Autorität, die allerdings Vergilius trotz seiner Bezugnahme auch auf patristische Quellen nicht anführt: Aurelius Augustinus formuliert in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts den eröffnenden Kernsatz zum ersten Buch von „De musica“ mit Musica est scientia bene modulandi.52 Zwar liegt ihm an einer fortschreitenden Erkenntnis eines durch wohlproportionierte Zahlenverhältnisse charakterisierten ordo des Irdischen und Überirdischen (die sich auch im Aufbau der sechs Bücher seiner Musikschrift widerspiegelt), der Begriff des „modulari“ impliziert allerdings mehr als
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Vergilius: Von den erfyndern der dyngen (wie Anm. 45), fol. A iiiirf.; vgl. Atkinson: Vergil’s Reception (wie Anm. 44), S. 306. Nicolaus Listenius: Musica Nicolai Listenij, ab authore denuo recognita, multisque nouis regulis & exemplis adaucta. Wittenberg 1537, fol. A iiii. In den Rudimenta heißt es schlicht: „Musica est ars bene canendi“; Listenius: Rudimenta Musicae. Wittenberg 1533, fol. A iiiv. Heinrich Faber: Compendiolum musicae pro incipientibus. Per Magistrum Heinricum Fabrum conscriptum, ac nunc denuo, cum additione alterius Compendioli, recognitum. [Braunschweig 1548], fol. A3r. Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Deutsche Musiktheorie im 16. Jahrhundert: Geistes- und institutionsgeschichtliche Grundlagen. In: Geschichte der Musiktheorie, Bd. 8/1: Deutsche Musiktheorie des 15. bis 17. Jahrhunderts, Teil 1: Von Paumann bis Calvisius, hrsg. von Theodor Göllner u.a. Darmstadt 2003, S. 69-98, hier S. 90f. Aurelius Augustinus: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Hentschel (Lateinisch – Deutsch). Hamburg 2002, S. 6 (Buch I, Abschnitt II.2). „De musica“ entstand nach Angaben Augustinus’ zwischen 387 und 389 in Mailand und in Thagaste (Afrika).
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Karsten Mackensen
nur ein mathematisch-akustisches Moment.53 Über die Bedeutung hinaus, die das Wort durch seine Herkunft von modus trägt, und die in der Tat auf das Abmessen von Klängen abhebt, konnotiert es einen Bewegungscharakter, der letztlich auf aktives musikalisches Handeln verweist. Hintergrund ist die Überlegung, daß einerseits kein Abmessen ohne Bewegung denkbar ist, und daß zudem diese Bewegungen als bene – als moralisch gut – um ihrer selbst willen ausgeführt werden müssen. Dies ist zum Beispiel im Tanz der Fall.54 So erklärt sich die allmähliche Abschleifung und Umdeutung dieser im Mittelalter topischen Wendung zum cantare bzw. canere. Dieses ist das praktische musikalische Handeln in einer an Listenius angelehnten Definition: „Daher [ist der] ein Practicus Musicus, der über die Kenntnis der Kunst hinaus andere lehrt und sich darin im Singen übt, weshalb er gemeinhin auch Cantor genannt wird.“55 Daß auch ein solches, auf das Singen gerichtetes Musikverständnis noch mit der Augustinischen Betonung der Musica als einer scientia kompatibel ist, erhellt aus der Abhängigkeit der musica practica von der musica theorica, dem mehrfach angeführten Bereich der spekulativen Musiktheorie: Keineswegs geht es beim canere um einfache Reproduktion einer Vorlage (z.B. komponierte Noten), vielmehr „>überträgt< [der Cantor – K.M.] die >Vorschriften der Kunstuntersucht< hat, >in den Gebrauchpolitischen JakobusHac in sculptura, lector, si gnoscere cura< Bemerkungen zur Antikenrezeption der Skulptur in Jaca. In: PEGASUS. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike 1 (1999), S. 35-52.
Modelltransfer Herbert Beck / Horst Bredekamp (Hrsg.): Kunst um 1400 am Mittelrhein. Ein Teil der Wirklichkeit, Ausst.Kat. Frankfurt a.M. 1975. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. I/2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1990, S. 431-469. Horst Bredekamp: Der simulierte Benjamin. Mittelalterliche Bemerkungen zu seiner Aktualität. In: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, hrsg. von Andreas Berndt, Peter Kaiser, Angela Rosenberg und Diana Trinkner. Berlin 1992, S. 117-140. Martin Büchsel: Ademar von Chabannes. Aus dem Nachlaß eines Fälschers (Leiden, Universiteitsbibliotheek, Vossianus, lat. 8° 15, fol. 212r). In: Das Modell in der bildenden Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit: Festschrift für Herbert Beck, hrsg. vom Städelschen Museums-Verein, betreut von Peter C. Bol. Petersberg 2006, S. 13-23. Norberto Gramaccini: Die Aura der Reproduzierbarkeit. Zum Aufkommen der Bronzestatuetten und des Kupferstichs im 15. Jahrhundert. In: Das Modell in der bildenden Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit: Festschrift für Herbert Beck, hrsg. vom Städelschen Museums-Verein, betreut von Peter C. Bol. Petersberg 2006, S. 57-64. Serafin Moralejo Alvarez: Modelo, Copia y originalidad, en el marco de las relaciones artísticas hispano-francesas (ss. XI – XIII). In: Actas del Vo Congreso Español de Historia del Arte, Barcelona, 29 de octubre al 3 de noviembre de 1984. Barcelona 1987, S. 89-112. Robert W. Scheller: Exemplum: Model-book Drawings and the Practice of Artistic Transmission in the Middle Ages (ca. 900 - ca. 1470). Amsterdam 1995. Peter Springer: Modelle und Muster, Vorlage und Kopie, Serien. In: Ornamenta Ecclesiae, Bd. 1, hrsg. von Anton Legner, Ausst.Kat. Köln 1985, S. 301-314. Vers et à travers l’art roman: la transmission des modèles artistiques. Les Cahiers de Saint-Michel de Cuxa 37 (2006). Marie Thérèse Zenner (Hrsg.): Villards Legacy. Studies in Medieval Technology and Art in Memory of Jean Gimpel. Aldershot 2004.
Abbildungsnachweis Abb. 1-4 und 6-13: Archiv des Verfassers; Abb. 5: nach Serafín Moralejo Alvarez: La reutilización e influencia de los sarcófagos antiguos en la España medieval. In: Marburger Winckelmann-Programm 1983. Marburg 1984, S. 197.
SUSANNE WEGMANN
Lucas Cranach d.Ä. und das Lob der Schnelligkeit – Aspekte der Produktivität im Kontext von Humanismus und Reformation
I.
Der ‚Malerunternehmer‘ Wäre Cranach 1505 gestorben, so würde er im Gedächtnis leben wie geladen mit Explosivstoff. Er ist aber erst 1553 gestorben, und wir beobachten statt der Explosion ein Ausrinnen. Aus der Kenntnis des gesamten Werkes wird der Kunstfreund mit einiger Skepsis gegen den genialischen Anbruch erfüllt. Der wache Cranach hält nicht, was der träumende versprochen hat. Seine Wittenberger Kunst gleicht einer glatten Kastanie, die aus stachlig grüner Schale gesprungen ist. Phlegmatisch verständige und saubere Darlegung tritt an die Stelle leiden1 schaftlich tönenden Naturlauts. (Max J. Friedländer)
Bis heute hallt dieses Urteil Max J. Friedländers über Lucas Cranach d.Ä. in der kunsthistorischen Forschung nach. Cranachs Werke der Wittenberger Phase, als er 1505 zum Hofmaler an den kursächsischen Hof Friedrichs des Weisen berufen wurde, zeigen einen deutlichen Stilbruch zu seinem Schaffen der Wiener Phase, das mit dem sogenannten Donaustil in Verbindung gebracht wird. Die Gründe für diesen Stilwechsel sah die Forschung lange Zeit fast ausschließlich in der Werkstattgründung: Der an der altniederländischen Malerei orientierte Stil sei schlichtweg leichter kopierbar gewesen, was die Entstehung eines unverwechselbaren Werkstattstils ermöglicht habe. Der neue Stil habe damit sozusagen die Entwicklung einer für die Massenproduktion geeigneten Marke „Cranach“ begünstigt.2 Die Serienproduktion wiederum wurde durchgängig als 1
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Max J. Friedländer / Jakob Rosenberg: Die Gemälde von Lucas Cranach. Stuttgart 1989 (1932), S. 17. Für diverse Anregungen und Literaturhinweise sei Albert Dietl und Thomas Packeiser herzlich gedankt. Vgl. beispielsweise Gunnar Heydenreich: Herstellung, Grundierung und Rahmung der Holzbildträger in den Werkstätten Lucas Cranachs d.Ä. In: Unsichtbare Meisterzeichnungen auf dem Malgrund. Cranach und seine Zeitgenossen, hrsg. von Ingo Sandner. Regensburg 1998, S. 181200, hier S. 181: „Es leuchtet ein, daß die handwerklichen Techniken den Erfordernissen des rationellen Werkstattbetriebes entsprechen mußten und Traditionen der mittelalterlichen Tafelbildfertigung und Altarbaukunst in den Wittenberger Produktionsstätten modifiziert wurden. [...] Zusammen mit den erhaltenen Quellen läßt sich ein präziseres Bild von der effizienten Werkstattorganisation gewinnen, das nicht unwesentlich zu Cranachs Ruf als Schnellmaler beitrug.“ Vgl.
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Susanne Wegmann
Ausdruck von Cranachs ausgeprägtem Unternehmergeist und besonderer Geschäftstüchtigkeit angesehen.3 Erst in jüngster Zeit rückt die Forschung von der durch den Künstlergeniekult des 19. Jahrhunderts geprägten negativen Einschätzung ab: So sieht etwa Edgar Bierende den Wechsel des Stils im Zusammenhang mit dem Hofmaleramt. Cranach habe damit dem Wunsch und der Kunstvorliebe seines Auftraggebers entsprochen und zudem durch die Übernahme des burgundisch-niederländischen Stils die politische Abgrenzung gegen die Habsburger in der höfischen Repräsentationskunst sichtbar bekundet.4 Damit erscheint es auch sinnvoll, den Aspekt der Produktivität vor dem Hintergrund des Hofmaleramtes und der damit verbundenen Aufgaben zu betrachten.
II. Der Hofmaler [W]enn ich den einzigen Albrecht Dürer, meinen Landsmann, dieses unzweifelhafte Genie, ausnehme, so gewährt, nach meinem Urteil, nur Dir unser Jahrhundert den ersten Platz in der
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ebenfalls Armin Kunz: Gedruckte und andere Heilige. Zur Rolle der Graphik im Werk Cranachs des Älteren. In: Cranach. Meisterwerke auf Vorrat. Die Erlanger Handzeichnungen der Universitätsbibliothek, Bestands- und Ausstellungskatalog, hrsg. von Andreas Tacke. München 1994, S. 93-104, hier S. 99: „Der stilistischen Verflachung ist [...] offenbar eine bewußte und gewollte Entwicklung inhärent. Cranachs malerisch brillierendes Frühwerk [...] wäre auch von talentierteren Werkstattmitarbeitern kaum ohne deutliche Abstriche zu kopieren gewesen. Eine Wiederholung hätte sich in jeder Gegenüberstellung als von deutlich minderer Qualität entlarvt. [...] So konnten große Quantitäten bei relativ gleichbleibender Qualität produziert werden.“ Siehe etwa Claus Grimm: Lucas Cranach 1994. In: Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken. Katalog zur Landesausstellung in der Festung Rosenberg, Kronach, 17. Mai bis 21. August 1994, hrsg. von Claus Grimm, Johannes Erichsen und Evamaria Brockhoff. Augsburg 1994, S. 19-43. Der in diesem Zusammenhang unternommene Versuch, die malerische Entwicklung Cranachs abgerückt vom Künstlerbegriff des 19. Jahrhunderts im historischen Kontext zu betrachten, macht aus der Cranach-Werkstatt einen reinen Handwerksbetrieb; die Motivation für die Produktivität und Serienproduktion wird einzig im Unternehmergeist Cranachs vermutet: „Cranach war erfolgreich als Maler-Unternehmer – in der Verbindung von eigenem, sicheren Entwurf und geschickter Arbeitsdelegation. Seine eingängigen Bilder beruhen auf wenigen Kompositionsschemata und einfacher Montage aus dem angelegten Vorbild- und Studienvorrat. [...] Disziplin und Ökonomie im erlernten Beruf ermöglichten Cranach die geschäftliche Ausweitung in andere Erwerbszweige und die Wahrnehmung politischer Ämter und Kontakte. Nur die wenigen erhaltenen Frühwerke, einige Zeichnungen und Vorstudien sowie einzelne Ausnahmewerke und Bildpartien nach 1505 sind eigenhändig ausgeführt. Die Regel ist die Ausführungsdelegation.“ (Ebd., S. 42.) Vgl. Edgar Bierende: Lucas Cranach d.Ä. und der deutsche Humanismus. Tafelmalerei im Kontext von Rhetorik, Chroniken und Fürstenspiegeln. München / Berlin 2002, S. 157-167.
Cranach und das Lob der Schnelligkeit
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Malerei [...]. Die übrigen Deutschen treten zurück, die Italiener, sonst so ruhmsüchtig, bieten 5 Dir die Hand, die Franzosen begrüßen Dich als ihren Meister. (Christoph Scheurl 1509)
Als Cranach 1505 das Amt des Hofmalers am Hof Friedrichs des Weisen übernahm, war es seine Aufgabe, das Ansehen seines Dienstherrn zu unterstützen. Das 1509 verfaßte Künstlerlob des Nürnberger Juristen und Humanisten Christoph Scheurl, der 1507 vom sächsischen Kurfürsten an die Wittenberger Universität berufen worden war, thematisiert deshalb auch ausführlich die mit dem Hofmaleramt verbundenen Aufgaben und Tätigkeiten Cranachs.6 Scheurl hatte 1508 eine Rede zu einem akademischen Festakt an der Universität in Wittenberg gehalten. Ihrer Druckausgabe setzte er einen an Cranach gerichteten lateinischen Widmungsbrief voran, der sich ausführlich antiker Künstlertopik bedient, zum Beweis der eigenen humanistischen Bildung und zur Überhöhung des gerühmten Malers. Nicht fehlen darf beim humanistischen Künstlerlob der Hinweis auf den Wettkampf, den der Künstler mit der Natur ausficht, wobei des Künstlers Sieg oder zumindest seine Gleichrangigkeit sich im Ideal der täuschenden Naturnachahmung erweist, einer Täuschung, der alle Geschöpfe, Tiere und Menschen gleichermaßen, erliegen. In unterschiedlichen, mehr oder weniger auf Realität beruhenden Szenen werden diverse antike Künstlerlegenden auf Cranach projiziert. Daneben gibt Scheurl auch Zeugnis von der Tätigkeit Cranachs im Dienst Friedrichs des Weisen: Er malt die Porträts der Fürsten und ihre Jagden, sorgt für Festdekorationen und die Ausgestaltung der Residenzen, ist ebenso für die Ausstattung der Wittenberger Schloßkirche tätig, geht zudem auf diplomatische Repräsentationsreisen und überzeugt dabei konkurrierende Höfe zu Lob und Ruhm seines Fürsten von seiner Kunstfertigkeit: Als unsere Fürsten Dich vorigen Sommer nach den Niederlanden schickten, um mit Deinem Talent zu prunken, [...] hast [Du] gleich beim Eintritt ins Gasthaus mit einer [...] Kohle das Bildnis [...] des Kaisers Maximilian so auf die Wand gezeichnet, daß es von allen erkannt und bewundert wurde. Daher gelang es dir auch, daß die Ankunft des bis dahin nur dem Namen nach bekannten Lucas in derselben Weise angekündigt wurde wie die des Apelles, als er nach
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6
Christoph Scheurl: Oratio attingens litterarum prestantiam, hec non laudem Ecclesie Collegiate Vittenburgesis. Leipzig, Martin Landsberg, Dez. 1509. Der Widmungsbrief an Lucas Cranach d. Ä. wird im folgenden zit. nach der Übersetzung von: Heinz Lüdecke: Lucas Cranach d. Ä. im Spiegel seiner Zeit. Berlin 1953, S. 49-55, hier S. 49. Die lateinischen Einschübe folgen dem Druck von 1509 (BSB München Res/4 P.o.lat. 752,2 t). Zur humanistisch geprägten Künstlertopik des Widmungsbriefes vgl. Barbara Marx: Kunst und Repräsentation an den kursächsischen Höfen. In: Kunst und Repräsentation am Dresdner Hof, hrsg. von Barbara Marx. München / Berlin 2005, S. 9-39, hier S. 18-21. Zur Struktur des Wittenberger Hofes und Cranachs Aufgaben siehe Dieter Stievermann: Lucas Cranach und der kursächsische Hof. In: Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken. Katalog zur Landesausstellung in der Festung Rosenberg, Kronach, 17. Mai bis 21. August 1994, hrsg. von Claus Grimm, Johannes Erichsen und Evamaria Brockhoff. Augsburg 1994, S. 66-77.
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Susanne Wegmann
Rhodus kam und auf des Protogenes Gemälde jenen zarten, kaum sichtbaren Umriß zeich7 nete.
Als besondere Tugend hebt Scheurl Cranachs Schnelligkeit hervor, die er als Beweis für das Genie des Malers erkennt, und die ihn sogar über die antiken Malerheroen erhebt: [W]ohingegen es dem Protogenes und vielen anderen, nach dem bekannten Satz, daß übertriebene Sorgfalt [nimiam diligentiam] schade, häufig zum Vorwurf gemacht worden ist, daß sie nicht endigen könnten – Dich jedermann wegen der wunderbaren Schnelligkeit [mira celeritate] lobt, mit der Du malst und durch die Du [...] allen Malern überlegen bist; welche Schnelligkeit Du nach meinem Darfürhalten, durch fortwährendes Studium und beständigen Fleiß [celeritatem ex continuo studio et assidua diligentia] dir erworben hast. Plinius schreibt, Apelles habe die Gewohnheit gehabt, keinen auch sonst so beschäftigten Tag zu verbringen, ohne wenigstens durch einen Pinselstrich die Kunst zu üben [...]. Soviel ich sehe, bist Du, ich will nicht sagen keinen Tag, sondern vielmehr nicht eine Stunde müßig; immer ist der Pinsel geschäftig [penicillus presto est]. Sooft die Fürsten Dich mit zur Jagd nehmen, führst Du eine Tafel mit Dir [...]. Wenn die Staatsgeschäfte und der Gottesdienst, denen die Fürsten einen großen Teil des Tages und der Nacht widmen, es ihnen gestatten, so kommen sie in Deine Werkstatt, [...] um mit dem höchsten Staunen die Denkmäler Deines Genies zu bewundern und [...] Deine Meisterstücke zu loben, deren in der Tat so viele und so große sind, daß man, sooft man zu Dir kommt – und ich komme häufig – im Zweifel ist, was man hauptsächlich 8 betrachten soll; täglich tritt Neues hervor [...].
Diligentia wendet sich also nach der Meinung des humanistischen Künstlerlobs gegen den Maler, wenn die übergroße Sorgfalt (nimia diligentia) auf Kosten der Produktivität geht. Schnelligkeit zeichnet den Maler dagegen besonders aus, da er so die Aufgaben seines Dienstherrn angemessen erfüllen kann. Trotzdem ist der Verweis auf die Grundlagen dieser Schnelligkeit – beständiges Studium und Fleiß (assidua diligentia) – notwendig, um keinen Zweifel an der handwerklichen Qualität der Malerei aufkommen zu lassen. Prestezza als Tugend eines Malers wurde nach Martin Warnke mit der Herausbildung und Etablierung der Hofmaler-Stellung in der Frühen Neuzeit eine gefragte Eigenschaft. Den Grund, daß gerade diese Eigenschaft einen Hofmaler auszuzeichnen hatte, sieht Warnke im fürstlichen Repräsentationsbedürfnis und in der Notwendigkeit der Legitimierung, wobei dem Bild eine wichtige Bedeutung zukam.9 Der von Jacobo de Barbari, der Cranach in seiner Hofmalerstellung beim sächsichen Kurfürsten vorausgegangen war, erhobene Anspruch, mit dem Hofmaleramt einen Status zu erlangen, der ihn vom handwerklichen Produktionszwang zum Unterhaltserwerb freistellte
7 8 9
Scheurl: Widmungsbrief (wie Anm. 5), S. 51. Ebd., S. 52-54. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985, S. 267-269. Vgl. auch Marx: Kunst und Repräsentation (wie Anm. 6), S. 9. Marx sieht den bildenden Künsten nicht nur „den Vorrang unter den Medien der [fürstlichen] Repräsentation“ eingeräumt, sondern ihnen vielmehr die „Macht einer realen Substitution: Vergänglichkeit gegen die Gewährung immer währenden Lebens im Bild, unterstellt“.
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und ihm darüber hinaus wissenschaftliche Betätigung erlaubte, war in der Praxis allerdings wohl wenig realistisch.10 Daß fürstliche Auftraggeber nördlich und südlich der Alpen die Maler zur Eile antrieben oder ihrer Schnelligkeit Bewunderung und Lob zollten, belegen etliche Quellen. Bekannt sind der Forschung eine Reihe von fürstlichen ‚Drängel‘-Briefen an Tizian:11 Der Herzog von Ferrara bestellte 1531 ein Magdalenenbild als Geschenk für den Marchese del Guasto. Er forderte von Tizian neben guter vor allem schnelle Ausführung, und dieser fertigte das gewünschte Bild tatsächlich innerhalb von nur vier Wochen. 1534 ist ein erneuter Auftrag des Herzogs an Tizian überliefert, der wiederum auf prestezza drängte, da die Gemälde als Geschenke nach Spanien geschickt werden sollten. Dem Maler verhieß er mit der schnellen Ausführung auch eine Mehrung seines Ruhmes. Giorgio Vasari thematisierte in seinen Viten ebenfalls die Schnelligkeit der Maler, grundsätzlich erfährt diese auch auf dieser kunsttheoretischen Ebene eine positive Bewertung. Sich selbst charakterisiert im Demutstopos Vasari als Maler, der seine Gemälde, Erfindungen und Zeichnungen zwar nicht mit größter prestezza auszuführen vermochte, aber mit unglaublicher Leichtigkeit und ohne Anstrengung.12 Ebenso gab Dürer selbst ein berühmtes Bekenntnis zur Schnellmalerei, als er 1506 sein Werk „Christus und die Schriftgelehrten“13 mit dem Verweis signierte, dieses in fünf Tagen fertiggestellt zu haben.14 Dieses schnell ausgeführte Bild ist dabei programmatisch im Zusammenhang mit dem ebenfalls laut Bildinschrift im selben Jahr innerhalb von fünf Monaten fertiggestellten „Rosenkranzfest“15 zu sehen. Diese beiden vermutlich gemeinsam in Dürers venezianischem Atelier ausgestellten Werke zeugen von Dürers prestezza einerseits und diligentia anderseits. Sie belegen Genie und handwerkliches Können des Künstlers in der Ausführung. Und sie führten dem Besucher 10
11 12
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Vgl. dazu Marx: Kunst und Repräsentation (wie Anm. 6), S. 16. Dieter Koepplin / Tilman Falk: Lucas Cranach. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik. Ausstellung im Kunstmuseum Basel, 15. Juni bis 8. September 1974. Basel / Stuttgart 21974, Bd. 1, S. 44-46, interpretieren de Barbaris Auftreten in Wittenberg als überzogen anspruchsvoll. Vgl. Hans Ost: Tizian-Studien. Köln / Weimar / Wien 1992, S. 45-49. Giorgio Vasari: Le Vite de più eccellenti Pittori, Scultori ed Architettori, 2. Aufl. 1568, hrsg. von Gaetano Milanesi. Florenz 1881, Bd. 7, S. 670: „[...] d’avere sempre fatte le mie pitture, invenzione e disegni, comunque sieno, non dico con grandissima prestezza, ma si bene con incredibile facilità e senza stento.“ Vgl. Warnke: Hofkünstler (wie Anm. 9), S. 268, und Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt a.M. 1995 (1934), S. 126f. Sammlung Thyssen-Bornemisza. Ost: Tizian-Studien (wie Anm. 11), S. 46. Die Forschung tendiert allerdings zur Auffassung, daß die Ausführungszeit wohl tatsächlich länger war. Prag, Nationalmuseum. Vgl. außerdem: Martin Schawe: „...vnd lest nach dem sin...“. Albrecht Dürers Darstellung des Zwölfjährigen Jesus im Tempel von 1506. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst, 3. Folge, 48 (1997), S. 43-66. Peter Humfrey: Dürer’s Feast of the Rosegarlands: Venetian altarpiece. In: Bulletin of the National Gallery in Prague 1 (1991), S. 21-33.
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der Werkstatt exemplarisch vor Augen, daß Dürer den Wünschen der Auftraggeber in jeglicher Hinsicht, auch in diesen – offenbar durchaus als widersprüchliche Extreme wahrgenommenen – Ansprüchen, nachkommen konnte. In einem Entwurf für den „Ästhetischen Exkurs“ zur „Lehre von menschlicher Proportion“ (um 1515/20) stellte Dürer ebenfalls Überlegungen zur Schnelligkeit als Tugend des Malers an: [D]as mencher künstner jn eim dag mit der federn etwas awff ein halben bogen babirs reist, ist künstlicher weder eins ander gros werck, doran mit allem fleis der selb ein jor macht.16 Hans Ost ebenso wie Jan Białostocki sehen in dieser Aussage „ein Bekenntnis zur Improvisationsfähigkeit des modernen, sich selbst als inspiriertes Genie begreifenden Künstlers“.17 Die Leistung des Genies besteht und beweist sich in der inventio, nicht in der mühsamen handwerklichen Ausführung.18 So legte auch Vasari die Betonung auf die Feststellung, daß ihm die Malerei keine Anstrengung oder Mühe gekostet habe. Dürer dagegen dokumentierte in der sorgfältigen, zeitaufwendigen Ausführung des „Rosenkranzfestes“ gebenüber seinen Auftraggebern die vollendete Beherrschung seines Malerhandwerks. Gleichzeitig zeigen seine kunsttheoretischen Überlegungen ebenso wie der Verweis auf die schnelle Ausführung des „Christus unter den Schriftgelehrten“, daß sich für ihn das Genie des Künstlers und die Inspiration in der Schnelligkeit des Entwurfs erweisen. Die schnelle, mühelose Übertragung der Erfindung auf das Papier offenbart den inspirierten Geist des Malers, denn die von ihm erfundenen Bilder sind bereits in seinem Inneren vorhanden und müssen nicht durch Anstrengung erarbeitet werden: Es ist auch kein wunder, das ein künstlicher meyster mancherley vnderschiden der gestalt betracht, die er all künt machen [...]. Dann solch zufel sind bey den künstnern vnzelich vil vnd jr gemüt voller bildnuß, das jn muglich zu machen wer. [...] der wirdet durch die krafft, die Gott dem menschen geben hat, alle tag vil newer gestalt der menschen vnd andrer creaturen 19 auß zu giessen vnd zu machen haben, das man for nit gesehen noch ein ander gedacht het.
So ist die Schnelligkeit im literarischen Künstlerlob nicht unbedingt primäre Tugend, sondern Folge und Beweis der herausragenden, göttlichen Begabung des Künstlers, die außerdem auf der Basis von Studium und Fleiß angesiedelt sein muß. In der Praxis war Schnelligkeit eine vom Auftraggeber eingeforderte Eigenschaft, die es ihm ermöglichte, seinen Repräsentationsanspruch angemessen erfüllen zu können. Doch konnte sich die positive Eigenschaft der Schnelligkeit auch leicht ins Negative wandeln, da sie zur Vernachlässigung der Ausführung und Oberflächlichkeit füh16 17
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Albrecht Dürer: Entwurf zum Ästhetischen Exkurs um 1515 und 1520. In: ders.: Schriftlicher Nachlaß, hrsg. von Hans Rupprich, Bd. 3. Berlin 1969, S. 282-289, hier S. 284. Ost: Tizian-Studien (wie Anm. 11), S. 46; vgl. auch Jan Białostocki: „Opus quinque dierum“: Dürer’s ‚Christ among the Doctors‘ and its Sources. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 22 (1959), S. 17-34, hier S. 18f., 34. Vgl. Warnke: Hofkünstler (wie Anm. 9), S. 52. Albrecht Dürer: Lehre von menschlicher Proportion. Der ästhetischer Exkurs im Druck von 1528. In: ders.: Schriftlicher Nachlaß, hrsg. von Hans Rupprich, Bd. 3. Berlin 1969, S. 290-299, hier S. 291.
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ren konnte. So traf auch Tizian die Kritik, aufgrund der schnellen Ausführung die Sorgfalt vernachlässigt zu haben: Philipp II. kritisierte, daß man seinem Porträt aus Tizians Hand die Eile ansehen könne.20 Prominentes Beispiel einer kritischen Beurteilung der prestezza, einer Umwertung dieser Eigenschaft ins Negative, gab Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) in seiner 1763 erschienenen „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen“. Er verglich dabei Giambattista Tiepolo – dem in Künstlerlegenden ähnlich wie Cranach nachgesagt wurde, ein Gemälde bereits fertiggestellt zu haben, während ein anderer noch seine Farben reiben würde21 – und Anton Raphael Mengs: „Thiepolo macht mehr an einem Tage, als Mengs in einer Woche, aber jenes ist gesehen vnd vergessen; dieses bleibt ewig.“22 Schnell Gemaltes wird nach Winckelmann damit auch schnell gesehen und schnell vergessen. Natürlich fiel die Wahl seiner Exempel nicht zufällig auf je einen Vertreter des Rokoko und des Klassizismus, und natürlich mischte sich hier die ästhetische Vorliebe eines Antikenverehrers mit der Abneigung gegen die antiken Idealen scheinbar widersprechende Malerei eines Tiepolo.
III. Der Schnellmaler der Reformation Im Kontext der Reformation gewann die Tugend der Schnelligkeit einen neuen Stellenwert, sie wurde notwendige Grundlage für den Erfolg des religiösen und politischen Wandels. Der Hofmaler Lucas Cranach d.Ä. gilt dabei als der Künstler, der die Lehren der Wittenberger Reformatoren in das Medium des Bildes übertrug und für die „Imagebildung“23 der führenden Köpfe sorgte. Die Bedeutung von Produktivität und Schnelligkeit im Kontext der Reformation und die unterschiedliche Einschätzung und Nutzung der Medien ‚Graphik‘ und ‚Malerei‘ wird im folgenden beispielhaft an den Bildnissen Martin Luthers aus der Werkstatt Lucas Cranachs nachvollzogen. Die Cranach-Werkstatt lieferte mit Beginn des öffentlichen Auftretens von Luther bis zu seinem Tode 1546 exklusiv die authentischen Porträts des Reformators.24 Die ersten Porträts des eigentlich für diese Zeit nicht gerade porträtwürdigen25 Augustinermönchs aus einer Bauern- und Bergbau-Familie fertigte Lucas Cranach d.Ä. im Vor20 21 22
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Ost: Tizian-Studien (wie Anm. 11), S. 47. Vgl. Kris / Kurz: Legende (wie Anm. 12), S. 126. Johann Joachim Winckelmann: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen (1763). Hier zit. nach: Svetlana Alpers / Michael Baxandall: Tiepolo und die Intelligenz der Malerei. Berlin 1996, S. 7. Vgl. Martin Warnke: Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image. Frankfurt a.M. 1984. Vgl. Günter Schuchardt: Luther seitenrichtig – Luther seitenverkehrt? Die Bildnisse im Leben und im Tod – Werkstattprinzip und Werkstattprivileg Cranachs und seiner Mitarbeiter. In: Wartburg-Jahrbuch 2003 (2004), S. 9-30, hier S. 10. Warnke: Cranachs Luther (wie Anm. 23), S. 5.
214
Susanne Wegmann feld des Wormser Reichstages. Die Verteidigung der Lehren des bereits rechtskräftig zum Ketzer verurteilten Mönches vor Kaiser und päpstlichen Gesandten verlangte nach bildlicher Unterstützung bzw. nach einer rechtfertigenden ‚Imagebildung‘, die ein zustimmungsfähiges Bild des Mönches und seiner Lehren entwarf. Wohl im Auftrag des sächsischen Kurfürsten schuf Cranach zwei Kupferstichversionen26 von „Luther als Augustinermönch“. Der erste Entwurf, der Luther im Büstenausschnitt vor neutralen Grund stellt, erschien offenbar für den vorgesehenen Zweck unpassend. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde dieser Druck in größerer Auflage verbreitet.27 Die zweite Version (Abb. 1), die schließlich sofort in großer Stückzahl
in Umlauf kam, umgibt Luther mit der überhöhenden Würdeformel einer Rundbogennische. Mit der Bibel in der Hand verweist der Mönch auf seine Glaubensgrundlage und das auch für die Gegner unangreifbare Argument seiner Lehren. Vermutlich noch vor Luthers Abreise aus Worms erschien ein weiterer Kupferstich Cranachs: „Luther mit dem Doktorhut“. Wie schon die Inschrift unter dem Augustinermönch verweisen auch hier die beigefügten Worte auf einen Künstlertopos:28 Der Abb. 1: Lucas Cranach: Luther als Augustinermönch
26
27 28
Diese zwei Versionen sind die Hauptvarianten des „Augustinermönchs“. Von der ersten Version des Augustinermönchs vor neutralem Grund sind mehrere Versionen bekannt, die die Inschrift mit einfacher oder doppelter Linie vom Bild absetzen. Zudem wird im oberen linken Eck ein Kopf hinzugefügt und später wieder getilgt. Vgl. Koepplin / Falk: Cranach (wie Anm. 10), Bd. 1, Kat. Nr. 35. Warnke: Cranachs Luther (wie Anm. 23), S. 24-26. Schuchardt: Luther (wie Anm. 24), S. 13f. Koepplin / Falk: Cranach (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 91. Die dem „Augustinermönch“ beigefügte Inschrift lautet: „Aetherna ipse suae mentis simulacra Lutherus exprimit at vultus cera Lucae occiduos. MDXX“, unter „Luther mit dem Doktorhut“ ist zu lesen: „Lucae opus effigies hac est moritura Lutheri Aethernam mentis exprimit ipse suae“. Vgl. dazu Klaus-Peter Schuster: Individuelle Ewigkeit: Hoffungen und Ansprüche im Bildnis der Lutherzeit. In: Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 1. bis 3. November 1982, hrsg. von August Buck. Wiesbaden 1983 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung Bd. 4), S. 122-129.
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Künstler sei mit seinen Mitteln lediglich in der Lage, die äußeren vergänglichen Züge festzuhalten, das Innere, Geist und Intellekt blieben seiner Kunst dagegen entzogen. Der Dargestellte, also Luther, sorgt laut der Inschrift selbst mit seinen Schriften für die Unvergänglichkeit seines Geistes. Doch waren sich die Künstler durchaus dessen bewußt, daß ein großer, wenn nicht sogar entscheidender Teil des Gedächtnisses vom Bildnis getragen wurde. Bekannt ist in diesem Zusammenhang Dürers Aussage, der 1520 den Wunsch äußerte, Luther zu porträtieren, um ihm so zu einem „langen Gedächtnüs“ zu verhelfen.29 Das mit Hilfe der Druckgraphik schnell und weit in Umlauf gebrachte Bild vermochte es, den bislang ausschließlich über das Wort seiner Schriften und Predigten bekannten Wittenberger Mönch in kürzester Zeit aus der gesichtslosen Anonymität zu reißen und die Aufmerksamkeit eines großen Rezipientenkreises auf die Person Luther zu lenken.30 Der päpstliche Legat Hieronymus Aleander berichtet beunruhigt von Menschenmengen beim Verkauf und generell vom reißenden Absatz, den das Lutherporträt fand.31 Die in dieser Situation aktueller Bedrohung notwendige Produktivität konnte hier mit technischen Mitteln erreicht werden. Schnelligkeit war damit weniger Ausdruck künstlerischen Genies, sondern weit mehr ein handwerklich-technischer Effekt. Cranachs vorgegebene Bildformulare fanden zunächst ausschließlich über die Druckgraphik Verbreitung, sie wurden vielfach nachgedruckt und in diesen Nachdrukken, inhaltlich teilweise eingreifend, verändert. Sowohl dem Bild des „Augustinermönchs“ als auch „Luther mit dem Doktorhut“ wurde die Taube des Heiligen Geistes und ein Nimbus hinzugefügt (Abb. 2), die Luther zum Werkzeug Gottes werden ließen. Insbesondere diese zum Heiligenbild gesteigerten Porträts evozierten bei ihren Betrachtern – Anhängern wie Gegnern – Vorstellungen über den durch göttlichen Geist inspirierten Luther und regten in der Folge entsprechende Legendenbildungen an.32 Im Kontext des Wormser Reichstages wurde der Druck zum Fundament einer weitreichenden publizistischen Kampagne, wodurch das zunächst eher abgeschirmt „hinter Klostermauern“ stattfindende theologische Umdenken zum multimedial getragenen, Bild und Text, Schriftlichkeit und Mündlichkeit vereinenden Ereignis wurde. Diese Art der Produktivität erreichte eine Aktualität, die auf jegliche Ereignisse schnell reagieren
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Schuster zeigt diesen Künstlertopos an den humanistisch geprägten Porträts auf, beispielsweise Dürers Erasmus-Porträt, das die Inschrift „Viventis potvit Dvrerius ora Philippi mentem non potvit pingere docta manus“ trägt. Warnke: Cranachs Luther (wie Anm. 23), S. 15. Bernd Moeller: Das Berühmtwerden Luthers. In: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), S. 65-92, knüpft Luthers „Berühmtwerden“ allein an das Schrifttum bzw. die Zahl und Auflage seiner Schriften, die Frage des Porträts und dessen Rolle für die öffentliche Wahrnehmung Luthers wird nicht berührt. Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 1521, hrsg. von Paul Kalkoff. Halle 1886 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 17), S. 34f. Vgl. Robert W. Scribner: Incombustible Luther: The Image of the Reformer in early modern Germany. In: Past and Present 110 (1986), S. 38-68.
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konnte, und sie erlaubte es dem Volk in völlig unbekannter und neuartiger Weise, an aktuellen theologischen Diskursen und politischen Auseinandersetzungen teilzuhaben.33 Auf diese Weise verbindet sich Produktivität im Kontext von reformatorischem Informationsaustausch beinahe automatisch mit den druckgraphischen Techniken. Berndt Hamm sieht in der Reformation „die erste Ketzerei der Kirchengeschichte“ und „die erste epochale Bewegung der Geschichte überhaupt“, „die ihren Durchbruch der neuen und seit Gutenberg zu hoher Leistungskraft entwickelten Technologie des Buchdrucks und dem damit verbundenen Aufbau eines zügig funktionierenden Vertriebsnetzes verdankte“.34 Für die Cranach-Werkstatt und das Lutherporträt läßt sich ein unter dieser Vorgabe erstaunlicher Medienwechsel feststellen: Schon Abb. 2: Luther als Augustinerder zeitlich nächste Porträttypus, „Luther als Junmönch (nach Lucas Cranach) ker Jörg“, entstand nahezu gleichzeitig in einer druckgraphischen und einer gemalten Version. Möglicherweise wurde der 1522 datierte Holzschnitt (Abb. 3) sogar erst nach der Gemäldeversion angefertigt, denn der sich auf der Wartburg unter dem Namen Junker Jörg versteckt haltende Luther suchte bereits 1521 Cranach heimlich in Wittenberg auf, damit dieser ein Porträt anfertigen konnte.35 Die beiden erhaltenen Gemälde des 33
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Berndt Hamm: Die Reformation als Medienereignis. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 11 (1996), S. 137-166. Vgl. dazu die umfangreiche Forschungsliteratur, z. B. Bernd Moeller: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozess. In: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von Hartmut Boockmann. Göttingen 1994, S. 148-164. Robert W. Scribner: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen? In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980, hrsg. von Hans-Joachim Köhler. Stuttgart 1981, S. 65-76. Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. Hamm: Reformation als Medienereignis (wie Anm. 33), S. 141. Koepplin / Falk: Cranach (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 98, vermuten, daß das Bildnis erst nach der Rückkehr im März 1522 entstand. Schuchardt: Luther (wie Anm. 24), S. 16, behauptet ohne weitere Quellenangabe die Entstehung der Porträtskizze für den Dezember 1521. Ebenso Ernst Ullmann: Die Luther-Bildnisse Lukas Cranachs d.Ä. In: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, hrsg. von Günter Vogler. Berlin 1983, S. 45-52, hier S. 48. Zum Weimarer Bild vgl. Helga Hoffmann: Die deutschen Gemälde des XVI. Jahrhunderts. Kunstsammlungen zu Weimar. Weimar o. J. (Manuskriptabgabe 1988), Kat. Nr. 7. Zum Holzschnitt vgl. Gerhard Bott (Hrsg.): Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin
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Junkers Jörg im Weimarer Schloßmuseum (Abb. 4) und im Museum der bildenden Künste in Leipzig sind jedoch undatiert.
Abb. 3: Cranach-Werkstatt: Luther als Junker Jörg.
Abb. 4: Lucas Cranach: Luther als Junker Jörg
Die späteren Porträttypen werden vorrangig bzw. – im Blick auf die Cranach-Werkstatt – ausschließlich durch die Malerei getragen. So folgt ab 1525 das Doppelporträt von Martin Luther und der ehemaligen Nonne Katharina von Bora. Die früheste der bekannten drei Hauptversionen dieses Doppelbildnisses, das sogenannte Verlobungsbild (Abb. 5),36 bedient sich des konventionellen, für diesen Zweck üblichen Porträttypus.
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Luthers. Germanisches Nationalmuseum, 25. Juni bis 25. September 1983. Frankfurt a.M. 1983, Kat. Nr. 260. Vgl. dazu Schuchardt: Luther (wie Anm. 24), S. 21f.; Koepplin / Falk: Cranach (wie Anm. 10), Bd. 1, Kat. 177-180. Grundsätzlich zum Ehepaarbildnis vgl. Berthold Hinz: Studien zur Geschichte des Ehepaarbildnisses. In: Marburger Jahrbuch 19 (1974), S. 139-218, der zwar auf das Ehepaarbildnis eines Lutheranhängers (Conrad Faber von Creuznach, Bildnisse des Justinan von Holzhausen und der Anna von Fürstenberg, 1536, Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut) eingeht, das Bild des Ehepaares Luther jedoch nicht erwähnt und ebenso die mit diesem Bildnis in die Gattung des Ehepaarporträts einfließende konfessionelle Komponente unberücksichtigt läßt.
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Die Bilder verzichten in der Darstellung auf jegliche propagandistische oder polemisierende Zusätze im Bildformular ebenso wie innerhalb der Inschriften, die sich allenfalls auf Namensbezeichnungen beschränken. Allein die Tatsache, daß ein ehemaliger Mönch und eine Nonne, der dieser Mönch zur Flucht aus dem Kloster verholfen und ihr anschließend Versteck gewährt hatte, ihre Verlobung und Hochzeit in dieser Form kundtaten, war Provokation genug. Daß ihr Bildnis in der Anfertigung und Ausformulierung einer Konvention und Tradition folgte, die den Dargestellten eigentlich weder aus moralischer oder rechtlicher Sicht noch über ihren Stand zugekommen wäre, forderte heraus und machte den Bruch mit
Abb. 5: Cranach(-Werkstatt): Martin Luther und Katharina von Bora (Verlobungsbildnis)
der römischen Kirche und ihrem Recht öffentlich. Vor dem Hintergrund ihres Verstoßes gegen das Recht durch ihre Eheschließung beanspruchte das Paar eine ihm nicht zustehende Konvention, um gerade durch diese formal unpolemische, den Gewohnheiten entsprechende Porträtanfertigung sein Ansinnen zu dokumentieren, den Rechtsverstoß als gültiges Recht festzuschreiben. Das unauffällige Porträt provoziert und rechtfertigt so gerade durch seine bewußt unauffällige Konventionalität. Eine wesentliche Abweichung von der Tradition der Ehepaar- und Verlobungsbildnisse stellt allerdings die immens große Anzahl von Gemäldekopien dar, durch die das Verlöbnis und die Eheschließung Luthers publik gemacht wurden. Die Bildnisse wurden, um eine hohe ‚Auflage‘ erreichen zu können, auf vorgefertigten Bildträgern produziert. Die Bildträgermaße beschränkten sich dabei auf wenige Formate: 37,5 x 24,5 cm bzw. 21,5 x 15,5 cm und im Rundbild 10 cm im Durchmesser. Vermutlich mit
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Hilfe von Lochpausen wurden die Porträts auf die Bildträger übertragen,37 was die Anfertigung beschleunigte und eine gewisse Normierung der Darstellungen bedeutete. Doch letztlich stimmt kein Bildnis genau mit einem anderen überein. Offensichtlich wurde innerhalb dieser Massenproduktion weiterhin Wert auf Varianz gelegt: Verschiedene Details in der Kleidung, etwa Varianten im Brokatmuster des Kleides von Katharina, beim Schmuck oder in der Handhaltung, lassen jedes Werk doch als individuelles Einzelwerk und nicht als reine Kopie erscheinen. Die Provokation des Bildnisses wurde durch die massenhafte Verbreitung38 und durch die damit hergestellte Öffentlichkeit immens gesteigert. Das Ehepaarbildnis war nicht mehr private Angelegenheit der Familie und repräsentatives Geschenk an eine ausgewählte Öffentlichkeit. Das Bild des Ehepaars Luther richtete sich an ein wesentlich breiteres Publikum, das sich in der Lehre, im Glauben und in der Opposition zur römischen Kirche mit dem Paar vereint sah. Für dieses nahm das Paar eine Vorbildfunktion in Lebensführung und Glaubenshaltung ein. Das Ehepaarbildnis Luthers setzte ebenfalls ein Zeichen gegen das Konkubinat vieler gerade hochrangiger Vertreter der Kirche. Das Paar präsentierte sich im geordneten, von Gott gesegneten Ehestand und zeigte somit ein positives Gegenbild zu den eigentlich moralisch verwerflichen und von der Kirche doch geduldeten Verhältnissen ihrer der Ehelosigkeit verpflichteten Priesterschaft. Im Kontext der Formulierung und Überreichung der Confessio Augustana auf dem Augsburger Reichstag 1530 entstand schließlich das Porträt, das bis heute das ‚Image‘ des Reformators am nachhaltigsten prägt. Es zeigt Luther im fortgeschritteneren Alter mit Barett und Talar als Universitätsprofessor. Das Porträt erscheint als Einzelbild, als Ehepaarbildnis mit Katharina – und vor allem als Doppelbildnis mit Philipp Melanchthon (Abb. 6a/b). Auch Luthers Alterspoträt, das ab 1539 entsteht, ihn bar37
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Vgl. Koepplin / Falk: Cranach (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 296; Grimm / Erichsen / Brockhoff (Hrsg.): Cranach (wie Anm. 3), Kat Nr. 175; Bernd Büsche: Die Verwendung von Lochpausen bei der Anfertigung der Fürstenportraits durch Lucas Cranach den Älteren. In: Unsichtbare Meisterzeichnungen auf dem Malgrund. Cranach und seine Zeitgenossen, hrsg. von Ingo Sandner. Regensburg 1998, S. 61-64. Genaue Angaben zu der Anzahl der noch erhaltenen Bildnisse liegen nicht vor. Eine Katalogisierung wurde seit Friedländer / Rosenberg nicht mehr vorgenommen. Vom Verlobungsbildnis zählen Friedländer / Rosenberg: Cranach (wie Anm. 1), Kat. Nr. 187-190, allein 11 erhaltene Exemplare auf, wobei dort die großformatige Version im Landesmuseum Münster nicht erwähnt wird. Johannes Ficker: Die Bildnisse Luthers aus der Zeit seines Lebens. In: Luther-Jahrbuch 16 (1934), S. 103-161, hier S. 126, listete 1934 15 Porträts des Ehemannes Luther auf, wobei er zwei Hans Holbein zugeschriebene Beispiele mitzählt und nicht ersichtlich ist, ob seine Einordnung der Typisierung des Bildnisses nach Schuchardt: Luther (wie Anm. 24), S. 21f., entspricht. Ficker erwähnt das Münsteraner Beispiel ebenfalls nicht. Problematisch an ihrer Identifizierung bleiben grundsätzlich die unterschiedlichen, in Privatbesitz erwähnten Beispiele. Man darf mit Sicherheit annehmen, daß sich noch etliche dieser Bilder erhalten haben, die bislang keine Erwähnung in der Literatur gefunden haben.
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häuptig im Talar und häufig mit Buch in der Hand zeigt, kann mit dem Porträt Melanchthons zum Diptychon zusammengeschlossen werden.39
Abb. 6a: Lucas Cranach: Luther als Professor
Abb. 6b: Lucas Cranach: Philipp Melanchthon
Das Doppelporträt mit Melanchthon wurde insbesondere ab 1532 in ungekannter und einzigartiger Weise massenhaft durch die Cranach-Werkstatt in Serie hergestellt, genau zu dem Zeitpunkt, als Johann Friedrich nach dem Tod Johanns des Beständigen seine Nachfolge als Kurfürst angetreten hatte. In Johann Friedrich muß offenbar der Initiator dieser unvergleichlichen Bildniskampagne gesehen werden, einer Bilderflut, die die Reformation personalisierte.40 Der in der Confessio nun schriftlich fixierten Lehre ver-
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Schuchardt: Luther (wie Anm. 24), S. 22-25. Im Ausstellungskatalog von 1994 wurden die Doppelporträts rein als „Ausdruck des humanistischen Freundschaftskultes“ gedeutet, vgl. Grimm / Erichsen / Bockhoff (Hrsg.): Cranach (wie Anm. 3), S. 354, Kat. Nr. 178. Schuchardt: Luther (wie Anm. 24), S. 24, verweist auf den Kontext des Augsburger Reichstages und betont, daß die Bildnisse „zur Propagierung der neuen Theologie entstanden“. Außerdem: Harald Marx / Ingrid Mössinger (Hrsg.): Cranach. Gemälde aus Dresden. Kunstsammlungen Chemnitz, 13. November 2005 bis 12. März 2006. Mit einem Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, erarbeitet von Karin Kolb. Dresden 2005, Kat. Nr. 42, S. 474-479. Kolb sieht in Johann Friedrich den „Auftraggeber für diese neue
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liehen die Porträts wortwörtlich ein Gesicht und demonstrierten die Einheit der beiden führenden Köpfe der Reformation. Die Bekenntnisschrift formulierte die Lehre und definierte die gemeinsame Glaubensgrundlage, deren Annahme oder Ablehnung Freund und Feind unterscheiden ließ. Die Bilder stellten dabei mehr als eine visuelle Begleitmaßnahme dar. Sie transportierten zwar keine erläuternden Aussagen zu den Inhalten der Glaubenslehre, aber sie boten eine sichtbare Identifikationsmöglichkeit, da sie zum unmißverständlichen Kennzeichen für diejenigen werden konnten, die sich im Glauben mit den beiden Wittenbergern vereint sahen. Schließlich markierten die in der Cranach-Werkstatt gefertigten Porträts von Luther und Melanchthon – wie Zeitgenossen feststellten41 – Kirchenräume, Schlösser, Schulen und Privathäuser in ihrem Bekenntnis. Das Bildnis Luthers wurde allgegenwärtig. Dabei spielte die Graphik keine Vorreiterrolle mehr. Im Gegenteil: Nach heutigem Forschungsstand ist zu Luthers Lebzeiten nach dem 1522 datierten Holzschnitt des Junkers Jörg aus der Cranach-Werkstatt kein druckgraphisches Porträt des Reformators mehr hervorgegangen.42 Um so bemerkenswerter erscheint es, welch immense Verbreitung der Porträttypen allein die Gemäldeproduktion der Cranachwerkstatt zu erreichen vermochte. Bewußt wandte sich offenbar ausgerechnet die Werkstatt, die als Zentrum der reformatorischen Bildproduktion gesehen wird, von den Medien ab, die als entscheidend für den Erfolg der Reformation gelten. Auch wenn der Bekanntheitsgrad der Porträttypen durch Nachdrucke außerhalb Wittenbergs, durch ihre Verwendung auf Flugblättern, Medaillen und Münzen zusätzlich gesteigert wurde,43 so war doch hier das Medium der Malerei tonangebend.
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‚Bildniskampagne‘ zugunsten der Verbreitung der Reformation und der Porträts ihrer wichtigsten Vertreter“ (Ebd., S. 478). Vgl. hierzu unten die Ausführungen zu Georg Mylius, 1585-89 Prediger und Professor in Wittenberg. Ullmann: Luther-Bildnisse (wie Anm. 35), S. 51. Vgl. ebenso die Auflistung der Werke bei Schuchardt: Luther (wie Anm. 24). Vgl. etwa die zu Lebzeiten Luthers entstandenen Münzen und Medaillen, die die Porträttypen der Cranach-Werkstatt aufgreifen: Uta Wallenstein: Renaissancemedaillen. In: Gotteswort und Menschenbild. Werke von Cranach und seinen Zeitgenossen, Katalog zur Ausstellung auf Schloß Friedenstein zu Gotha vom 1. Juni bis 4. September 1994, Red. Allmuth Schuttwolf. Gotha 1994, Teil II. Renaissancemedaillen, Renaissanceplaketten, Statthaltermedaillen, S. 9-32, hier Kat. Nr. 4.9 und 4.31. Hugo Schnell: Martin Luther und die Reformation auf Münzen und Medaillen. München 1983, S. 40-42. Lore Börner: Medaillen zum Gedenken Martin Luthers und der Reformation. In: Luther-Ehrungen auf Münzen und Medaillen, Begleitheft zur VII. Bezirksmünzausstellung 1983, hrsg. vom Kulturbund der DDR. Gotha 1983, S. 5-11, hier S. 5-6. Die außerhalb Wittenbergs zu Lebzeiten Luthers entstandenen druckgraphischen Lutherporträts sind bislang nicht systematisch untersucht, dort wurde sicher kein eigenständiger Lutherportättypus hervorgebracht, der sich behaupten konnte, aber inwieweit die Nachdrucke der Cranachschen Vorbilder auf die generelle Bekanntheit dieser Bildnistypen Auswirkungen hatten, kann kaum eingeschätzt werden. Tatsache bleibt jedoch, daß die Nachdrucke stets um eine getreue Wiederholung der in
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Die Cranachschen Porträttypen Luthers galten aufgrund des unmittelbaren Kontaktes des Malers mit dem Dargestellten als die einzig authentischen Bildnisse, die ausschließlich zur Vorlage ungezählter, sehr getreuer Kopien dienten. Aus keiner anderen Werkstatt ging zu Lebzeiten Luthers ein eigenständiger Porträttypus des Reformators hervor. Dies war möglich, obwohl Cranachs Luther-‚Ikonen‘ nicht als schnell und flächendeckend in Umlauf zu bringende Druckgraphiken verbreitet wurden. Vielmehr griff die Werkstatt auf ein eigentlich für diesen Zweck als überholt anzusehendes Medium zurück. Die massenhafte Bildnisproduktion der Cranach-Werkstatt war für die Kunstgeschichte lange kein befriedigendes Betätigungsfeld. Bis heute liegt keine Inventarisierung, Zählung oder Katalogisierung der Luther-Bildnisse aus der CranachWerkstatt vor, geschweige denn zu den außerhalb Wittenbergs entstandenen Kopien. Das erscheint nicht unverständlich, denn beinahe jede protestantische Kirche, jede Dorfkirche, jedes Museum, jede Sammlung besitzt mindestens ein Luther-Porträt, das aus der Cranach-Werkstatt stammt oder in der Cranach-Nachfolge steht. Die massenhafte Gemäldeproduktion ist, ähnlich wie die druckgraphische Produktion, ein Phänomen, das sich – in seiner medialen Qualität ernst genommen – als lohnende Fragestellung für die Reformations- und Konfessionalisierungsforschung erweist. Daß sich die Cranach-Werkstatt zunehmend von der Druckgraphik abwandte, die als Gelderwerbsquelle effektiveren Gewinn abgeworfen hätte, wertet Armin Kunz gewissermaßen als positive Entwicklung für den Künstler Cranach.44 Dieser hätte es dank seiner geschickten Organisation nicht nötig gehabt, etwa wie Dürer, sein Einkommen mit Hilfe der Drucktechnik zu sichern. Nach eigener Aussage war Cranach in der Lage, „in
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der Cranach-Werkstatt als Gemälde entstandenen Vorbilder bemüht waren. Vgl. dazu etwa die Hans Brosamer zugeschriebenen Holzschnitte von Martin Luther und Katharina von Bora (Hollstein’s German engravings, etchings and woodcuts, hrsg. von Friedrich W. H. Hollstein u.a., Bd. 4. Amsterdam 1957, S. 259-261), außerdem Heinrich Aldegrevers 1540 datierte Kupferstiche von Melanchthon und Luther (Hollstein’s German engravings, etchings and woodcuts, hrsg. von Friedrich W. H. Hollstein u.a., Bd. 1. Amsterdam 1954, S. 82-83). Auf Flugblättern oder in illustrierten Flugschriften ist Luther in den Jahren von 1519-1525 die zentrale Gestalt; neben eher allgemein gehaltenen Darstellungen ohne Porträtähnlichkeit werden dabei häufig Cranachs druckgraphische Porträts „Luther als Augustinermönch“ oder „Luther mit dem Doktorhut“ rezipiert, vgl. Harry Oelke: Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin / New York 1992, S. 231-239 und 289-291; Bott (Hrsg.): Luther (wie Anm. 35), Kat. Nr. 284, 310. Die Phase nach dem Bauernkrieg und vor Luthers Tod (1525-1546) wendet sich anderen Themen – „zeitgeschichtlichen Problembereichen“ (Oelke: Konfessionsbildung, S. 289) – zu. Erst nach Luthers Tod konzentriert sich die Flugblattproduktion wieder auf seine Person, die nun zur „Symbolfigur“ der neuen Kirche (vgl. Oelke: Konfessionsbildung, S. 295) erhoben wird. Zu diesem Zeitpunkt kehrt auch die Cranach-Werkstatt zu dem Medium der Druckgraphik zurück und gibt wiederum die entscheidenden Impulse für das posthume Luther-Bild. Kunz: Gedruckte Heilige (wie Anm. 2), S. 99.
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einem Jahr nicht weniger als 60 kleine Kurfürstenbildnisse“45 anzufertigen. Er hätte sich also dank der großen und straff geführten Werkstatt – nach Kunz’ Interpretation – dem höherstehenden Medium zuwenden und damit sowohl Einkommen als auch Renomée sichern können.46 Doch scheint der Ansatz als Erklärung des Phänomens allein nicht auszureichen. Georg Mylius, Pfarrer an der Stadtkirche in Wittenberg, Professor der Theologie und Vizekanzler an der dortigen Universität, verfaßte 1586 die Leichenpredigt zum Tode Lucas Cranachs des Jüngeren und formulierte dabei auf Vater und Sohn ein Künstlerlob: Dieser Geist Gottes vnd künstliche weisheit hat sich in diesen beiden Künstlern/ Vater vnd Sone/ der freien Mahlkunst halben/ auch gewaltig sehen lassen. Denn sie nicht nun/ wie sonst gemeine Maler thun/ frembde Kunststück zierlich nachmachen/ abreissen/ nachmalen/ abmodeln/ illuminieren vnd Patronieren können (welchs gleichwol auch ein feine Kunst und gabe Gottes ist) sondern (wie Gott den Künstlern gemeiniglich einen besondern geist vnd gabe gibt) aus eigener inuention vnd ersinnung haben sie von freier hand ein fein inuention dichten/ ein artige possierung stellen/ vnd was jnen jr geist vnd erfindung gegeben/ auff die Tafel vnd papier/ ins werck selb richten vnd bringen können: Mit solcher hurtiger behendigkeit/ das ehe vnd ein anderer seine Pensel vnd farben zusamen gesuchet/ vnd sich bedacht 47 hat/ was er malen wölle: Hie das Werck schon vollendet/ vnd gantz vor augen gestanden ist.
Mylius eröffnet in seinem Künstlerlob den Gegensatz zwischen der Malerei und den druckgraphischen Techniken, dem „abreissen, nachmalen, abmodeln, illuminieren und Patronieren“, die der eigenständigen Invention in der Malerei eindeutig untergeordnet werden. Die eigenständige Bilderfindung steht vor der handwerklichen Vervielfältigung, die aber ausdrücklich keine Verurteilung erfährt, sondern ebenfalls als göttliche Gabe hervorgehoben wird. Vor dem Hintergrund ihrer erfolgreichen Einsatzmöglichkeiten für die Verbreitung der eigenen Lehre und der Kritik am Papsttum ist diese Feststellung aus der Perspektive eines protestantischen Theologen und Pfarrers am Ende des 16. Jahrhunderts nur folgerichtig. Mylius steht mit seinem Künstlerlob offensichtlich in der Tradition der Künstlertopoi, auf die auch Vasari oder Dürer Bezug nahmen und die sie für sich beanspruchten: Die geniale Erfindungskraft aus der göttlichen Inspiration des Künstlers beweist sich auch für Mylius in der Schnelligkeit, mit der die beiden Cranachs ihre Werke ausführten. Der Künstlertopos erhält im Zusammenhang mit der Reformation allerdings 45
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Bernd Bünsche / Claus Grimm: Bildnisse in Serienfertigung. In: Grimm / Erichsen / Brockhoff (Hrsg.): Cranach (wie Anm. 3), S. 352. 1533 erhält Cranach Zahlungen für 60 Tafeln, die die sächsischen Kurfürsten zeigen, siehe Bünsche: Lochpausen (wie Anm. 37), S. 61. Kunz: Gedruckte Heilige (wie Anm. 2), S. 99. Nachdruck der Leichenpredigt, die 1586 in Wittenberg gedruckt wurde, bei: Marina Arnold: Der Tod des Künstlers. Die Leichenpredigt auf Lucas Cranach d.J. In: Autobiographie und Selbstporträt in der Renaissance, hrsg. von Gunter Schweikhart. Köln 1998, S. 145-175, hier S. 171. Zum Autor s. B. Pünjer: Art. „Mylius, Georg“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 23. Leipzig 1886, S. 142f.
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eine neue Aktualität: Die Erfindungskraft des Malers wird deshalb so notwendig und über die Reproduktionstechniken der Druckgraphik erhoben, da es nicht mehr genügte, lediglich Altbekanntes abzuzeichnen und nachzustechen. Die neuen Lehren bedurften auch neuer Bildformulare, die ohne die inventio Cranachs nicht hätten entstehen können. Auch die Schnelligkeit, die künstlertopische Folge der inventio, steht nun im Kontext der Reformation in einem neuen Licht und erhält eine praktische Notwendigkeit. Zwar war sie wie bei der Repräsentation des Fürsten durch den Hofmaler zur Erlangung einer Produktivität wichtig, die für eine schnelle Verbreitung der Inhalte, beispielsweise des Porträts, sorgte. Doch erforderte nun die ungleich größere Zahl anzusprechender Rezipienten eine entsprechende Quantität an Bildwerken und damit eine effektiv organisierte Massenproduktion dieser Bilder. Mylius liefert nun auch das Argument, warum diese Aufgabe, die Lehre und das Bild der Reformatoren schnell für ein breites Publikum zugänglich zu machen, nicht ausschließlich mit dem ‚bequemeren‘ Medium der Druckgraphik ausgeführt wurde. Er betont die Wichtigkeit der weiten Verbreitung der Gemälde mit Blick auf die nachfolgenden Generationen: Dessen viel gedachten beiden frommen Herren/ Vater vnd Sone nicht allein hie/ vnd in diesen Landen: sondern auch wol in der Frembden zeugnis geben werden/ die schöne Tafeln/ Contrafect, Epitaphia vnd dergleichen gemälde/ so von jrer Hand gemalet/ hin vnd wider in Kirchen vnd Schulen/ in Schlössern und Heusern gesehen werden/ darüber sich noch die 48 danckbare posteritet verwundern und sagen wird [...].
Der Medienwechsel vom Druck zum gemalten Porträt Luthers geschieht in der Cranach-Werkstatt nicht zufällig nach dem Wormser Reichstag, als sich eine Phase des Bedenkens bot, die nicht zu hektischem Handeln anhielt. Auch wird der Medienwechsel nicht zufällig im Kontext der Heirat und Confessio Augustana zur Massenproduktion forciert. Diese Abschnitte der Konfessionalisierungsgeschichte verlangten nicht mehr nur nach aktueller, aber auch vergänglicher und schnell überholter Information durch Druckgraphik, sondern nach Konsolidierung der Lehren, nach Dauerhaftigkeit und eigener Traditionsbildung. Diese Aufgaben konnte die Malerei weit besser erfüllen, denn sie war auf Dauerhaftigkeit und Beständigkeit ausgerichtet und konnte noch den späteren Generationen, denen Mylius bereits angehört, Zeugnis vom Glauben der ‚Heroen‘ der Frühzeit geben. Diesen nachfolgenden Generationen dienten die Bilder als beständige Mahnung und Erinnerung. Ihnen stand durch das überdauernde Medium der Malerei stets das Vorbild ihrer Vorfahren vor Augen. Die Beständigkeit des Mediums schützte die Lehre Christi vor erneuter Verfälschung – wie man sie dem Papsttum vorwarf; ebenso bot sie Schutz vor neuerlichem Widerspruch der Gegner, da dieses Medium im Unterschied zu Flugblättern und -schriften grundsätzlich weniger diskursiv angelegt war. Die Cranachsche Massenproduktion ermöglichte zudem eine zuverlässige Wiedererkennbarkeit seiner Werke, allerorten sah man Bilder der beiden 48
Arnold: Tod des Künstlers (wie Anm. 47), S. 171f.
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Cranachs, und schon der Stil ihrer Hand wurde für die Nachfahren zum unverwechselbaren Identifikationszeichen.49 Als einziges konkretes Werk nennt Mylius aus der Cranach-Werkstatt die Porträts Luthers und Melanchthons als die Garanten und Bezugspunkte der wahren Lehre, die den Nachfahren stets als Maßstab dienen sollten: Mit des heiligen Mannes Gottes Lutheri Contrafect, desgleichen des frommen Philippi seligen Bildnus haben sich zwar diese Menner [Lucas Cranach d.Ä und d.J. – S.W.] also erliebet/ das sie jnen selbige mit stetigen Conterfecten gleichsam gar eigen gemachet/ vnd dessen jnen alle 50 frome hertzen viel danck und lob zu wissen haben.
Offensichtlich denkt Mylius hier an die Porträtdiptychen Luthers und Melanchthons, die im Zusammenhang mit dem Verfassen und der Vorlage der Confessio Zeugnis für die beiden Reformatoren als gemeinsame Vordenker der reformatorischen Lehre ablegten und gleichzeitig die Einheit gegen die Verfälschung der reformatorischen Lehre beschworen. Die Porträts sollten den Nachgeborenen als Ersatz für die verstorbenen und verehrten Vorkämpfer dienen, bis sie dieses Mittels nicht mehr bedürfen und ihnen die Gnade widerfahren würde, die die beiden Maler nach Mylius’ Vorstellung schon erfahren hatten: So lebet vnd schwebt nu sein seel vnd geist in ewigen Himelsfreuden/ vnd ist vnser lieber fromer Vater [Lucas Cranach d.J. – S.W.] nicht mehr ein Bürger in Wittemberg: sondern er ist auffgenomen zur Bürgerschafft auff den rechten Montem vitae, den Berg des lebens/ da er nicht nu mit den Bildnissen vnd Contrafecten des heiligen vnd grossen mans Gottes Lutheri, des fromen Philippi etc. sich zuerlieben/ sondern nu mit dieser/ beider seiner guten Freund vnd bekandten Geist und Seelen/ mit vielen frommen alten Wittembergern mündlichs 51 gesprech/ vnd Himelische gemeinschafft [...] hat.
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Vgl. hierzu auch Marx: Kunst und Repräsentation (wie Anm. 6), S. 11. Cranachs ‚Handschrift‘ – insbesondere bezogen auf die Porträts des Kurfürsten Johann Friedrich – stellt für Marx eine europaweite „politische und konfessionelle Markierung“ dar, als Ergebnis eines „nachhaltig formulierten institutionellen Pakt[s] zwischen Kunst und Repräsentation“. Wobei hier sicherlich bereits bei Mylius eine konfessionelle Vereinnahmung des Künstlers zu beobachten ist, welche die Tatsache, daß Cranach seine unverwechselbare Handschrift auch in den Dienst von altgläubigen Gegnern Luthers gestellt hat, bewußt ignoriert. Die konfessionelle Vereinnahmung scheint damit nicht erst Produkt des preußischen Kulturprotestantismus, vgl. dazu Birgit Ulrike Münch: Apelles am Scheideweg? Der frühneuzeitliche Künstler zwischen Konfession und Ökonomie. In: Der Kardinal Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen, Bd. 2: Essays, hrsg. von Andreas Tacke. Regensburg 2006, S. 379-384. Arnold: Tod des Künstlers (wie Anm. 47), S. 172. Ebd., S. 174.
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Susanne Wegmann
Literaturverzeichnis Quellen Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 1521, hrsg. von Paul Kalkoff. Halle 1886 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 17). Albrecht Dürer: Entwurf zum Ästhetischen Exkurs um 1515 und 1520. In: ders.: Schriftlicher Nachlaß, hrsg. von Hans Rupprich, Bd. 3. Berlin 1969, S. 282-289. –: Lehre von menschlicher Proportion. Der ästhetischer Exkurs im Druck von 1528. In: ders.: Schriftlicher Nachlaß, hrsg. von Hans Rupprich, Bd. 3. Berlin 1969, S. 290-299. Giorgio Vasari: Le Vite de più eccellenti Pittori, Scultori ed Architettori, 2. Aufl. 1568, hrsg. von Gaetano Minesi. Florenz 1881.
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Cranach und das Lob der Schnelligkeit
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Arbeiten zur Stellung des Hofkünstlers und der Schnelligkeit als Eigenschaft des Künstlers Svetlana Alpers / Michael Baxandall: Tiepolo und die Intelligenz der Malerei. Berlin 1996. Jan Białostocki: „Opus quinque dierum“: Dürer’s ‚Christ among the Doctors‘ and its Sources. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 22 (1959), S. 17-34. Peter Humfrey: Dürer’s Feast of the Rosegarlands: Venetian altarpiece. In: Bulletin of the National Gallery in Prague 1 (1991), S. 21-33. Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt 1995 (1934). Barbara Marx: Kunst und Repräsentation an den kursächsischen Höfen. In: Kunst und Repräsentation am Dresdner Hof, hrsg. von Barbara Marx. München / Berlin 2005, 9-39. Hans Ost: Tizian-Studien. Köln / Weimar / Wien 1992. Martin Schawe: „... vnd lest nach dem sin ...“. Albrecht Dürers Darstellung des Zwölfjährigen Jesus im Tempel von 1506. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst, 3. Folge, 48 (1997), S. 43-66. Dieter Stievermann: Lucas Cranach und der kursächsische Hof. In: Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken. Katalog zur Landesausstellung in der Festung Rosenberg, Kronach, 17. Mai bis 21. August 1994, hrsg. von Claus Grimm, Johannes Erichsen und Evamaria Brockhoff. Augsburg 1994, S. 66-77. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985.
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Abbildungsnachweis Nach Warnke: Luther: Abb. 1, 2; Bott: Luther: Abb. 3; Hoffmann: Gemälde: Abb. 4: Koepplin / Falk: Cranach: Abb. 5; Marx / Mössinger: Cranach: Abb. 6a/b.
GIA TOUSSAINT
Imago und Imaginatum. Der Gebrauch illuminierter Andachtsbücher als Ort religiöser Produktivität
Die mittelalterliche Bildproduktion war immens, doch überraschenderweise bilden die Artefakte nur einen Bruchteil dessen, was die reiche Bilderwelt ausmachte. Vor allem aus Sprache geschöpften Bildern kommt ein hoher Stellenwert zu. Kaum eine Predigt kam ohne Allegorien aus, und Metaphern halfen, das sich sprachlichem Zugriff Entziehende gleichnishaft einzukleiden. Nicht nur elaborierte Sprachbilder, auch einfache Beschreibungen, sei es historischer Zusammenhänge oder religiöser Inhalte, waren darauf angelegt, Bilder in der Seele zu erzeugen. Diese inneren, imaginierten Bilder bargen ein ungeheures Potential in sich, denn sie steuerten sowohl kognitive als auch sinnliche Prozesse.1 Welchen Einfluß hatten diese mentalen auf die äußeren materiellen Bilder, gab es eine Wechselwirkung, und welcher Art war sie? Anhand ausgewählter Text- und Bildbeispiele aus dem Zeitraum um 1300 soll diesen Fragen nachgegangen werden. Mit seinem weitverbreiteten Werk „Le Bestiaire d’Amour“ liefert uns der Kanoniker Richard de Fournival († 1260) ein aufschlußreiches Dokument zum Verständnis mittelalterlicher Text-Bild-Rezeption.2 In „Le Bestiaire d’Amour“ wendet sich der von Liebeskummer geplagte Richard an die Dame seines Herzens, um ihr seine Verehrung, aber auch sein Leid mitzuteilen. Eindrucksvoll beschreibt er die Vielschichtigkeit der 1
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In der kunsthistorischen Forschung hat sich in den letzten Jahren eine breite Diskussion um das imaginative Bild entwickelt. An dieser Stelle sei nur exemplarisch auf einige Titel verwiesen: Klaus Krüger / Alessandro Nova (Hrsg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Mainz 2000; David Ganz / Thomas Lentes (Hrsg.): Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne. Berlin 2004 sowie Lodi Nauta / Detlev Pätzold (Hrsg.): Imagination in the later Middle Ages and early modern times. Leuven 2004. Richard de Fournival war 1240 zunächst Kanoniker an der Kathedrale von Amiens, danach in Rouen; er starb nicht später als 1260. Vgl. Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990, S. 223. Sein Werk „Li Bestiaire d’Amour“ ist in knapp 20, zumeist illuminierten Handschriften überliefert, vgl. Helen Solterer: Letter Writing and Picture Reading: Medieval Textuality and the Bestiaire d’Amour. In: Word & Image 5 (1989), S. 131-147, hier S. 146, Anm. 22.
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Rezeptionsprozesse, das Ineinanderwirken von Text und Bild sowie die Wirkung der durch den Text provozierten inneren Bilder auf Seele und Gedächtnis. Malerei, painture, wie Richard de Fournival sie versteht, bezieht sich nicht nur auf äußere, gemalte Bilder, sondern darüber hinaus auf jene, die sich rein über das Wort oder die Sprache, parole, vermitteln. Nach Richard umfaßt ein Text beides: painture (Malerei) und parole (Sprache, Worte): Denn ich schicke euch [gemeint ist die Geliebte – G.T.] hier ein Werk bestehend aus Gemaltem und mit Worten Geschriebenem, damit, wenn ich nicht anwesend bin, es so ist, als wäre ich durch das Gemalte und die Schrift für eure Erinnerung [euer Gedächtnis – G.T.] wie an3 wesend.
Die painture eines Textes umfaßt auch jene mentalen Bilder, die im Leser oder Zuhörer entstehen: Denn wenn man eine Geschichte gemalt sieht – die von Troja oder eine andere –, sieht man die edlen Taten der Vergangenheit so, als wären sie gegenwärtig. Und genauso verhält es sich mit dem Wort [der Sprache / parole – G.T.]. Wenn nämlich eine Geschichte laut gelesen 4 wird, hört man die Abenteuer, als ob man sie vor sich sähe.
Nach Richard wirken nicht nur verbale und visuelle Bilder gleichermaßen auf das Gedächtnis, sie vereint in Hinblick auf painture die gleiche Qualität. Auch mit Worten läßt sich malen, doch wenden sich die daraus resultierenden Bilder allein an das Gedächtnis des Lesers oder Hörers. In diesem Sinne gleicht der Autor einem Maler, und aus demselben Grund ‚sprechen‘ in einem Buch oder Codex alle sichtbaren Formen, wie beispielsweise Spruchbänder und tituli; sie haben parole.5 Ohne an dieser Stelle auf weitere Details mittelalterlicher Lesetechniken eingehen zu können sei daran erinnert, daß man laut, d.h. hörbar las.6 In diesem Sinne spricht Richard vom Hören der Abenteuer. Im Rahmen der im Mittelalter entwickelten Vorstellungen erscheinen Lesen, Hören und Sehen als nahe verwandt, wenn nicht als gleichbedeutend. Der Kunsthistoriker Michael Camille zog aus diesem Befund folgenden Schluß: „Die [...] radikalste Einsicht besteht darin, daß unsere Dichotomien von ‚Text und Bild‘ [sowie – G.T.] ‚Wort und Bild‘ [...] auf einem Denken fußen, das dem 14. Jahrhundert fremd war, denn in jener Zeit waren Sehen und Lesen Teil derselben 3
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Richard de Fournival: Le Bestiaire d’Amour, hrsg. von Célestin Hippeau. Paris 1860, S. 2: Car je vous envoie en cest escrit par painture et par parole, pour cou, que qant je ne serais presens, que cis escris par sa painture et par sa parole me rendie à vostre memoire come present. Ebd.: Car quant on voit une estoire, ou de Troies ou d’autre, on voit les fès des preudomes qi cà en arriere furent, aussi com s’ils fussent present; et ainsi est-il de parole: car quant on oi 1 roumans lire, on entent les aventures, aussi com s’eles fussent empresent. Vgl. Carruthers: Book of Memory (wie Anm. 2), S. 229. Leises Lesen ist die Ausnahme, vgl. Paul Saenger: Space between Words: The Origins of Silent Reading. Stanford 1997 sowie Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 133-156.
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körperlichen Tätigkeit, zu der auch Wahrnehmung und Erkenntnis im Dienste des Wissens gehörten.“7 Die Sinnestätigkeit des Hörens und Sehens zur Imagination hin zu überschreiten und zu erweitern, war nur noch ein letzter Schritt: Jede Lesung stimuliert die imaginatio in ihrer passiven und in ihrer aktiven Dimension, nämlich als rezeptiver Eindruck (passiv) und reproduktive Vorstellung (aktiv).8 Dieser Befund soll nun an Bildbeispielen aus illuminierten Handschriften exemplifiziert werden, die mit Bildern oder genauer: mit Miniaturen in unmittelbarer Textnähe ausgestattet sind. Wozu diente eine Illumination? Neben dem hohen repräsentativen Wert, der zum Beispiel die prächtig ausgestalteten Stundenbücher privater Auftraggeber auszeichnet, kommt der Illustration eine eigene Aufgabe zu. Sie bereichert nicht nur den Text, sondern dient ihm als komplementäres Pendant, indem sie ihn auf ihre spezifische Weise erläutert, erweitert und ergänzt oder ihn visuell strukturiert.9 Eine beigefügte Miniatur bereichert den Codex aber nicht nur im künstlerisch-dekorativen Sinne, sondern schafft auch ein erweitertes Rezeptionsangebot. Generell konnten Bilder, wie Bonaventura erkannte, stimulierend auf den Betrachter wirken, denn „unser Gefühl ist durch Gesehenes stärker erschüttert als durch Gehörtes“.10 Aber noch eine weitere Eigenschaft spricht Bonaventura bildlichen Darstellungen zu, nämlich „daß dasjenige, was gesehen wird, nicht so schnell in Vergessenheit gerät und besser in der Erinnerung haftet, als jenes, von dem man nur gehört hat“.11 Kurz gesagt: Bilder wirken auf Gefühl und auf Gedächtnis. Um den Rahmen noch etwas enger zu stecken, wähle ich Beispiele allein aus jener Gattung von Handschriften, die einem bestimmten Zweck diente, nämlich der privaten Andacht. Ziel der Andacht und schließlich der Kontemplation war die Begegnung mit 7
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Michael Camille: Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing. In: Visuality Before and Beyond the Renaissance, hrsg. von Robert S. Nelson. Cambridge 2000, S. 197-223; hier S. 216 (Übers. der Verf.): „Seeing and reading, within the theoretical system described here are presented as synonymous. This is the most radical idea for art history, that our dichotomies of ‚text and image‘, ‚word and image‘ even our bifurcated semiotics, is based upon thinking that would have been alien to the fourteenth century, when seeing and reading were part of the same bodily operation, involving perception and cognition in the search for knowledge.“ Vgl. Horst Wenzel: Schrift und Gemeld. Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativik der Bilder. In: Bild und Text im Dialog, hrsg. von Klaus Dirscherl. Passau 1993, S. 29-51, hier S. 50. Dieser Gedanke wurde in der Studie von Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, insbes. S. 292-337 erneut aufgegriffen und in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt. Zur Funktion der Miniatur in Handschriften vgl. Maurice Smeyers: La Miniature. Turnhout 1974, insb. Kap. IV: Aspect fonctionell de la miniature, S. 96-101, mit zahlreichen Quellenbelegen. Plus enim excitatur affectus noster per ea quae videt, quam per ea quae audit. Bonaventura: Commentarium in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, lib. III, dist. IX, art. I, q. 2, concl. In: ders.: Opera Omnia, hrsg. von Alois Lauer, Bd. III. Quarrachi 1887, S. 203. Propter memoriae labilitatem, quia ea quae audiuntur solem, facilius traduntur oblivioni, quam ea quae videntur. Bonaventura: Commentarium (wie Anm. 10), S. 203.
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der transzendenten Welt, mit Engeln, Heiligen, Maria oder Christus selbst. Schon die meditative Lektüre der Texte mit ihrer weit ausgreifenden Bilderwelt vermochte es, den Leser zur imaginatio anzuregen, und ihm, im Sinne Richards de Fournival, einen reichen Bildersegen zu bescheren. Die unermüdlich repetierte Heilsgeschichte formte in den Rezipienten eine innere Bilderwelt aus, die sie ständig begleiten sollte. Imperative Anweisungen mahnten den Leser. Ein Beispiel aus dem sogenannten Kunigundenpassional, einem Anfang des 14. Jahrhunderts entstandenen Andachtsbuches, mag dies verdeutlichen: Siehe, wieviel der Sohn Gottes für dich litt [...]. Nie sollen die Zeichen seines Leidens von deinen Lippen weichen, nicht sollen sie sich entfernen aus deinem Herzen, nicht sollen sie aus deinem Blickfeld verschwinden, denn, so sagt Hieronymus: Ist das Leiden einmal in dein Gedächtnis eingegangen, dann kann es nichts mehr geben, was sich nicht mit Gleichmut ertragen 12 ließe.
Dieser kurze Textauszug, den das Wort vide – siehe – einleitet, steht jedoch nicht etwa neben einer Miniatur, die all die Dinge zeigt, von denen der Text kündet, sondern in einem Andachtstext, der sich mit der Passion beschäftigt. Der Leser wird also aufgefordert, neben seinen leiblichen auch seine inneren Augen zu betätigen. Bilder zu sehen war nicht nur ein äußeres Phänomen, sondern weitaus mehr ein inneres. Seelenbilder – und damit sind nicht Visionen, sondern Imaginationen gemeint – hatten jedoch auch eine Wirkung auf die Wahrnehmung äußerlich sichtbarer Bilder und Bildwerke. Es entstand ein Dialog zwischen innerem und äußerem Bild, wobei letzteres seiner Starre enthoben und verlebendigt werden konnte. Die contemplatio wurde zum Begegnungsraum. Der lesende bzw. hörende Betrachter – in den folgenden Beispielen sind es ausschließlich Betrachterinnen – war mit zweierlei Bildern konfrontiert: Den über den Text gesteuerten imaginierten und den visuell wahrnehmbaren, materiellen Bildern; der Blick richtete sich also nach innen und außen zugleich. Was geschah, wenn – was offensichtlich häufig geschah – die contemplatio durch den Blick auf ein äußerlich sichtbares Bildwerk, etwa eine Skulptur, ergänzt wurde? Als ein erstes, scheinbar wenig spektakuläres Beispiel läßt sich die Darstellung der ins Gebet versunkenen Edelfrau Yolande de Soissons heranziehen (Abb. 1).13
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Sog. Kunigundenpassional (Státní knihovna Praha: MS XIV A 17, fol. 9r-9v): Vide quanta pro te Dei Filius sustinuit [...]. Non recedant de ore, non avellantur a corde tuo, non auferantur ab oculis tuis sue passionis insignia, quia, ut ait Ieronimus, si passio Cristi ad memoriam reducitur, nichil est, quod non equo animo toleretur. Zum Kunigundenpassional vgl. Gia Toussaint: Das Passional der Kunigunde von Böhmen. Bildrhetorik und Spiritualität. Paderborn 2003. MS M. 729, Pierpont Morgan Library, New York, fol. 232v. Die Handschrift umfaßt Stundenbuch und Psalter; grundlegend zu dem Codex: Karen Gould: The Psalter and Hours of Yolande de Soissons. Cambridge / Mass. 1978; kürzere Beiträge zu der Handschrift finden sich vor allem in Ausstellungskatalogen, vgl. zuletzt François Avril (Hrsg.): L’Art au temps des rois maudits, Ausstellungskatalog. Paris 1998, Nr. 202 mit weiteren Literaturhinweisen.
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233 Das ca. 1280-90 wahrscheinlich in Amiens entstandene Stundenbuch Yolandes zeigt die vornehme Dame selbst in ihrem privaten Oratorium anbetend vor einer thronenden Madonna mit Kind, auf einem Altar plaziert. Unterhalb des Altares liegt auf einer Bank ihr aufgeschlagenes Gebetbuch, das sie noch eben andächtig betrachtet hat; nun aber wendet sich ihr Blick der Marienstatue zu. Die betende Betrachterin und Maria stehen zwar in Blickkontakt, doch bleiben wir von einer darüber hinausführenden Kommunikation ausgeschlossen. Statue und Betende wahren – zumindest äußerlich – Distanz.14
Was jedoch tatsächlich geschehen kann, wenn der Blick von außen nach innen gleitet, überliefert uns eine weitere Handschrift, die für Jeanne, Comtesse d’Eu, zu Anfang Abb. 1: Yolande de Soissons im Gebet des 14. Jahrhunderts wahrscheinlich ebenfalls in Amiens angefertigt wurde (Abb. 2).15 Auch Jeanne hat ihre Hände zum 14
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Dennoch ist diese Darstellung innerhalb der Handschrift mit Sorgfalt gewählt, ist sie doch dem Marienoffizium vorgeschaltet, das auf der gegenüberliegenden Seite mit folgendem Gebet einsetzt: Domine, labia mea aperies. Et os meum annuntiabit laudem tuam („Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde“, Ps 50,17 Vg). Yolande erblickt sich nicht nur andächtig mit aufgeschlagenem Gebetbuch vor der Marienfigur kniend, sie erhält zugleich eine visualisierte Anleitung der einzunehmenden Haltung und der uneingeschränkt geforderten Hingabe, in deren Rahmen die Worte des Offiziums erst ihre Berechtigung finden können. Die „La Somme le Roy“-Handschrift ist 1311 entstanden (MS 6329, Bibliothèque l’Arsenal, Paris, fol. 1v). Die 6 Vollbilder des Zyklus sind zu einander gegenüberliegenden Paaren angeordnet, die jeweils von zwei nicht illuminierten Seiten getrennt werden, so daß der Eindruck von drei Diptychen entstehen kann: fol. 1v u. 2r: Jeanne d’Eu / Kreuzigung; fol. 2v u. 3r: vacat; fol. 3v u. 4r: Noli me tangere / das leere Grab; fol. 4v u. 5r: vacat; fol. 5v u. 6r: maiestas domini / das jüngste Gericht. Zur weiteren Beschreibung der Handschrift s. Peter Brieger / Pierre Verdier (Hrsg.): Art and the Courts. France and England from 1259 to 1328, Ausstellungskatalog. Ottawa 1972, Nr. 16; Avril (Hrsg.): L’Art (wie Anm. 13), Nr. 205 und zuletzt Richard Rouse / Mary Rouse: Manuscripts and Their Makers. Commercial Book Production in Medieval Paris, 2 Bde. Turnhout 2000, Bd. 1, S. 161-162. Jeannes Codex gehört in den Kreis prominenter Somme-Handschriften,
234 Gebet erhoben, doch wirkt die Szenerie raum- und zeitlos: Keine Architektur, kein aufgeschlagenes Buch, nicht einmal ein Altar stören die Begegnung Jeannes mit der Gottesmutter. Auf alles Beiwerk verzichtend konzentriert sich die Miniatur ganz auf die Interaktion zwischen der Betrachterin und dem, was sie betrachtend schaut: eine stehende Madonna mit Kind, ein gängiges Andachtsbild, wie es auch bei Yolande zu sehen ist. Doch handelt es sich in diesem Fall nicht mehr um eine Schnitzfigur im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr um ihr imaginiertes, verlebendigtes Bild, das in der Seele der Betrachterin entsteht: Maria neigt sich der Anbetenden zu, mit ihrer Rechten umschließt sie die Handgelenke Jeannes und berührt schließlich mit dem Fuß den Saum ihres Gewandes. Auch das Kind scheint diese Bewegung mitzuvollziehen, indem es sich mit segnender Geste ebenfalls zur Knienden hinwendet.
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Abb. 2: Die kontemplative Schau der Jeanne d’Eu
Die Betrachtung der Marienstatue ist einer unmittelbaren Schau Marias gewichen; dem äußeren und zugleich inneren Blick hat sich ein Raum erschlossen, der, den Augen eigentlich unsichtbar, durch die Miniatur sichtbar gemacht wird. Aus der Berührung der Blicke – bei Yolande trotz formalem Abstand spürbar – hat sich ein vertiefter, deutlich wahrnehmbarer Kontakt aufgebaut. Innerhalb der contemplatio steigert sich die zunächst aus einer gewissen Distanz vollzogene Andacht zu unmittelbarer Begegnung, die nicht im geistigen Schauen verbleibt, sondern auch körperlich erfahrbar wird. Der Realitätsgehalt des imaginierten Bildes ist so gegenwärtig, daß Schauende und Geschautes in ein unmittelbares lebendiges Wechselverhältnis eintreten können. Vor diesem Hintergrund mag nicht mehr überraschen, wenn Bonaventura im „Lignum vitae“ eine kontemplative Begegnung beschreibt: „Beschaue denn nun, o Seele, im Geiste
die am französischen Hof oder in dessen direktem Umfeld entstanden; vermutlich kannte sie auch die sog. „Maubuisson-Somme“ von Blanche de Brienne et d’Eu, vgl. ebd., S. 161.
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jene göttliche Krippe; drücke deine Lippen auf die Füße des Knaben und bedecke sie wiederholt mit Küssen.“16 Als ein Zwischenergebnis sind – vereinfacht und schematisch – drei Typen von Bildern oder Bildräumen festzuhalten: 1. Das materielle, äußerlich wahrnehmbare Bild. 2. Das durch sprachliche und materielle Bilder vermittelte, innere Bild. 3. Das aus der contemplatio geschöpfte Bild, das aus dem Zusammenwirken der beiden anderen Bildtypen – äußeren und inneren Bildern – entsteht. Dieses zuletzt genannte, aus der contemplatio geschöpfte Bild ist begrifflich schwer zu fassen, ist es doch weniger ein Bild als vielmehr ein bildhaftes Erleben. Die vorher noch relativ gut beschreibbaren Grenzen von innen und außen sind aufgehoben, denn es handelt sich um ein dramatisiertes, ein verlebendigtes und aller Starre enthobenes Bild. Obwohl diese Art von Bildern bekannt ist, gibt es für sie keinen etablierten Begriff. Eine Möglichkeit, die Bilder zu verorten, bietet eine geistige Strömung, die seit dem 17. Jahrhundert als „Mystik“ bezeichnet wird. Mit aller Vorsicht und in Anlehnung an das, was Thomas von Aquin oder Bonaventura unter Mystik verstanden, nämlich die cognitio experimentalis de Deo17, also die Erfahrungserkenntnis von Gott, soll es vorläufig als mystisches Erfahrungsbild bezeichnet werden. Die während der Kontemplation gemachten Erfahrungen sind komplexe innerseelische Vorgänge. Um sie auch nur annähernd adäquat beschreiben zu können, bemühte man im Mittelalter verschiedene Kategorien von Bildern, die in ihrem Zusammenwirken einen Eindruck des schwierigen Sachverhalts vermitteln sollten. Als ein Beispiel hierfür kann ein Traktat „Über die Zustände Seele“ („De lestat de lâme“) in einer am Ende des 13. Jahrhunderts im Lothringer Raum entstandenen Sammelhandschrift gelten, die heute in der British Library London aufbewahrt wird (Abb. 3).18 16
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Bonaventura, Lignum Vitae, de mysterio originis I. In: ders.: Opera Omnia, hrsg. von Alois Lauer, Bd. VIII. Quaracchi 1898, S. 68-87, hier S. 72: Complectere [Lesart: contemplare – G.T.] itaque nunc anima mea, divinum illud praesepe, ut pueri pedibus labia tua figas et oscula gemines. Josef Sudbrack: Art. „Mystik“. In: Wörterbuch der Mystik, hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989, S. 368. MS Add. 39843, British Library, London (fol. 28v-51v). Die Entstehungszeit von Add. 39843 wird auf ca. 1290-1300 datiert, die Illuminationen sind wohl in Lothringen entstanden. Vgl. Patrick de Winter: Une réalisation exceptionelle d’enlumineurs français et anglais vers 1300. Le bréviaire de Renaud de Bar, Evêque de Metz. In: La Lorraine. Actes du 103e Congrès des Sociétés Savantes. Paris 1980, S. 27-62, hier S. 43f. Geschichte und Aufbau der Sammelhandschrift sind nicht ganz unkompliziert und zogen vielfach fehlerhafte Angaben in der Forschungsliteratur nach sich. Die Texte der Traktate in Add. 39843 sind nicht ediert. Beschreibungen des Inhalts und der Illustrationen finden sich in: British Museum. Catalogue of Additions to the Manuscripts 1916-1920. London 1933, S. 210-212, sowie in: A Descriptive Catalogue of Fifty Manuscripts from the Collection of Henry Yates Thompson by Montague Rhodes James. Cambridge 1898, S. 225-232. Innerhalb Add. 39843 bilden die „Trois estaz de bones ames“ nur einen kleineren Trak-
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Abb. 3: „Über die Zustände der Seele“ (De lestat de lâme) während Andacht und kontemplativer Versenkung
tat. Ursprünglich war die Sammelhandschrift wesentlich umfangreicher; sie ist heute in zwei Bände geteilt, in Add. 28162 und Add. 39843. Unter MS Add. 28162 bewahrt die British Library denjenigen Teil auf, der die Schrift „La Somme le Roy“ umfaßt. Add. 39843 beinhaltet neben den „Trois estaz de bones ames“ noch weitere Traktate: Der Band beginnt mit einem kurzen Traktat ohne Titel, der, neben einem Vollbild auf fol. 1v, mit den Worten „La sainte Abbaie et la religion doit estre fondee esperituelment“ einsetzt und auf fol. 6v mit einem weiteren Vollbild – einem Kloster mit Meßprozession – endet. Manchmal wurde in der Literatur der gesamte Inhalt von Add. 39843 mit „La sainte Abbaie“ identifiziert, was ebenso unzutreffend wie verwirrend ist. An den kurzen Abschnitt „La sainte Abbaie“ schließen sich noch weitere Traktate an, die sich, wie „La sainte Abbaie“, thematisch mit der „Seele“ auseinandersetzen: Auf fol. 7r beginnt ein Traktat über die verschiedenen Arten der Liebe Gottes und den Trost der Seele. Auf diesen nicht illustrierten Teil folgt ab fol. 28v der Traktat über die verschiedenen Zustände der Seele, die „lestat de lame“. Mit der Bitte um die immerwährende Schau des Angesichts Christi endet dieser Teil auf fol. 51v. Auf fol. 52v befindet sich ein weiteres Vollbild, in dessen untere Rahmenleiste „Dieux qui fait la Pater Nostre“ eingetragen ist. Diese Illumination ist offenbar falsch eingebunden und gehört gem. dem Katalogeintrag in: British Museum. Catalogue of Additions to the Manuscripts 1916-1920, London 1933, S. 212, eigentlich in den „La Somme le Roy“-Teil (Add. 28162). Ein Traktat „De Tribulatione“ beschließt den Band.
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Auf den beiden einander gegenüberliegenden Eröffnungsseiten des Traktates sind sowohl aus Sprache als auch aus Farbe geformte Bilder eingesetzt, um dieses Phänomen zu veranschaulichen. Drei Zustände guter Seelen finden wir in der heiligen Schrift (Trois estaz de bones ames sunt que nous trouuons en la sainte escriture), mit diesen Worten beginnt die komplexe Abhandlung, deren Anfang durch ein der Textseite gegenüberliegendes Vollbild ergänzt ist. Das in vier Quadranten – zwei obere und zwei untere – geteilte Bild erinnert mit seinen Bogenstellungen an einen Kirchenraum – ein Eindruck, der sich durch einen schmalen Glockenturm, der die oberen beiden Kompartimente scheidet, und den in drei Szenen sichtbaren Altar verstärkt. Die Szene links oben bietet den Einstieg und zeigt die Voraussetzung einer gelungenen Andacht, die Bußfertigkeit: Die Seele, dargestellt als vornehme Dame,19 kniet zu Füßen eines ihr die Absolution erteilenden Mönchs.20 Von reinigendem Sakrament und Segen gestärkt, ist die Seele zur Andacht bereit. In der rechts anschließenden Szene kniet die Seele, d.h. die sie personifizierende Dame, mit betend erhobenen Händen vor einem Altar, dessen Mensa eine geschnitzte Marienkrönung ziert. Die von einem Engel herangetragene Leuchterkerze, der mit einem Tuch bedeckte Altar sowie der Kelch in den beiden unteren Szenen schaffen eine liturgische Atmosphäre, wiewohl kein zelebrierender Priester sichtbar ist. Die Andacht steigert sich nun zu kontemplativer Versenkung: Wie die dritte Szene links unten zeigt, liegt die Dame in Proskynese fast ganz auf dem Boden – nur eine kleine Bank bewahrt ihre Arme davor, ihn zu berühren. Mit dem Wechsel in die untere Bildzone verändert sich auch die Räumlichkeit: Rundbögen 19
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Bei der Personifikation der Seele handelt es sich, obwohl vielfach in der Literatur so angegeben, nicht um eine Nonne, sondern um eine Laiin. Die Tracht der Personifikation, insbesondere ihr weißer Schleier, weisen sie als weltliche Frau, allenfalls als Laienschwester oder Novizin aus. Der Schleier der Nonnen war gemeinhin schwarz, vgl. Ernst Krenn: Die Trachten der katholischen Ordensleute. Regensburg 1932, S. 11. Die Verwechslung kommt offenbar durch den Umstand zustande, daß innerhalb dieser Handschrift tatsächlich auch Nonnen gezeigt werden, innerhalb der beiden Illuminationen zu dem ersten Traktat „La Sainte Abbaie“, fol. 1v und 6v. Diese in eine Klosterszenerie eingestellten Frauen tragen entsprechende Nonnentracht: dunkelgrauen Habit, weißen Wimpel und schwarzen Schleier. Allerdings handelt es sich auch in diesem Fall um Personifikationen: Der Text gibt darüber Auskunft, daß „Madame Charité“ Äbtissin der „Sainte Abbaie“, „Sainte Sapience“ Priorin und „Honesté“ deren Novizenmeisterin seien. Zum Inhalt von „La Sainte Abbaie” vgl. A Descriptive Catalogue (wie Anm. 18), S. 229, sowie Leo Carruthers: In Pursuit of Holiness outside the Cloister. Religion of the Heart in The Abbey of the Holy Ghost. In: Models of Holiness in Medieval Sermons, hrsg. von Beverly M. Kienzle. Louvain-la-Neuve 1996, S. 211-227. Eine spätere Überarbeitung von „La Sainte Abbaie“ findet sich in dem Traktat „The Abbey of the Holy Ghost”, vgl. A Descriptive Catalogue (wie Anm. 18), S. 226. Leo Carruthers weist darauf hin, daß dieser Traktat für Laien verfaßt wurde, wobei die „abbey“ als umfassende Allegorie des Menschen und seines Gewissens zu verstehen sei (vgl. ebd., S. 211). Si uis delere tua crimina dic miserere (Wenn du deine Vergehen tilgen willst, sag: erbarme dich meiner), lautet in diesem Sinne das Spruchband, das ein aus dem Dreipaß des Bogens fliegender Engel in Händen hält.
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lösen die Spitzbögen ab und das vormals auf dem Altar stehende Bildwerk ist gegen einen Kelch ausgetauscht. Hinter der Dame strebt ein kräftiges Reis mit rotem und blauem, feigenbaumartigem Blattwerk auf, das, bis in die Bogenöffnungen hinaufreichend, der Szene etwas Irreales verleiht. Der Eindruck, nunmehr mit transzendent Geschautem konfrontiert zu sein, bestätigt sich durch die Zugabe weiterer Bildelemente: Rechts neben dem Astwerk, in die mittlere Bildachse gestellt, präsentiert ein Engel ein Leidenswerkzeug der Passion – das Kreuz. Oberhalb des Altares, dem einzigen Gegenstand, der an die Situation der vorangehenden Szene erinnert, lehnt sich der dornengekrönte Christus als Halbfigur aus üppigen Wolkenbändern. Blutströme ergießen sich aus Hand- und Seitenwunde, um vom Kelch auf dem Altar aufgefangen zu werden. Zwischen Christus und der Kontemplierenden entrollt sich ein Schriftband: Pro vita populi respice quanta tuli („Siehe, wieviel ich für das Leben des Volkes getragen habe“). Mit diesem Reimwort wendet sich Christus an die in Andacht Versunkene, deren realer Blick zwar auf den Boden fällt, während ihr inneres Auge aber Leiden und Erlösung – angedeutet durch den eucharistischen Kelch – schaut, wobei sie zugleich das Wort Christi vernimmt. Die Aufforderung respice gewinnt in der letzten Szene weiter an Kontur: Die Dame hat sich aufgerichtet, die Arme in kontemplativem oransGestus erhoben,21 und sieht vor ihrem geistigen Auge einen Gnadenstuhl, das Geheimnis der Trinität: „Vater, Wort [Sohn] und Heiliger Geist: diese drei sind eins“ (Pater uerbum spiritus sanctus hii tres unum sunt), erläutert das Spruchband, das die Dame mit dem Geschauten verbindet. Innerhalb der Kontemplation kommt es – ähnlich wie bei Jeanne (Abb. 2) – zu einer Wechselbeziehung zwischen Schauendem und Geschautem. Der durch ein Wolkenband abgegrenzte imaginierte Raum ist nicht hermetisch verschlossen, im Gegenteil: Christus, die Kontemplierende aus dem Wolkenband heraus unmittelbar ansprechend (respice), fordert sie zur Betrachtung seines Leidens auf; gleichzeitig füllt das aus seinen Wundmalen rinnende Blut den Kelch auf dem Altar. In beiden Szenen der unteren Zone überlappen sich die Realitätsebenen und sind nicht eindeutig voneinander geschieden. Zwar markiert der Wolkenrahmen eine Grenze, doch ist diese durchlässig, so daß sich imaginierte und reale Welt in kontemplativer Erfahrung durchdringen. Der auf der gegenüberliegenden Seite beigefügte Text erläutert die ganzseitige Miniatur und unterscheidet drei Zustände der Seele: die des Anfängers, des Fortgeschrit-
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Zu demselben Gestus innerhalb der im gleichen Zeitraum entstandenen Burckhardt-Wildt-Apokalypse vgl. Michael Camille: ‚Him whom you have ardently desired you may see‘. Cistercian Exegesis and the Prefatory Pictures in a French Apocalypse. In: Studies in Cistercian Art and Architecture, hrsg. von Meredith P. Lillich, Bd. 3. Kalamazoo 1987, S. 137-160, hier S. 148, und Abb. 3. Fol. 3v der Burckhardt-Wildt-Apokalypse zeigt nach Ausweis des Schriftbandes anima in contemplatione, eine als Braut personifizierte Seele, die in ihrer kontemplativen Schau in gleicher Weise wie die Kontemplierende in Add. 39843 die Arme nach Art frühchristlicher Oranten erhebt.
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tenen und des Vollendeten.22 Diesen drei Stufen sind Qualitäten zugeordnet: der ersten die Bitterkeit der Buße (amertume de contriction), der zweiten die Süße der Hingabe (douceur de devotion) und der dritten schließlich die Reinheit der Kontemplation (purtez de contemplacion).23 Der zweite Zustand ist uns bereits bekannt: die Devotion, die Hingabe im Gebet, wie sie auch Yolande (Abb. 1) vollzieht. Auch in dieser Handschrift kniet die Dame andächtig vor dem Altar, den in diesem Fall eine Krönungsgruppe schmückt. Was sich dann in der „vollendeten“ (parfaiz) Seele im Rahmen der Kontemplation vollzieht, zeigt das untere Register: die Imagination von Passion und Trinität. Überraschenderweise gibt es – zumindest in diesem Fall – keinen offensichtlichen inhaltlichen Zusammenhang zwischen dem während der Devotion betrachteten Andachtsbild – der Marienkrönung – und den in der Kontemplation geschauten Bildern, werden doch Bilder imaginiert, die, verbunden mit Passion und Trinität, sich heilsgeschichtlich nur weitläufig anknüpfen. Das auf dem Altar plazierte Andachtsbild gibt weder Auskunft, worüber meditiert wird, noch in welche Richtung sich die imaginatio entwickelt; es dient als Stimulans und äußerer Blickfang der Devotion. Der Blick mit leiblichen Augen auf ein Andachtsbild regt den inneren Sehprozeß an. Doch mehr als das äußerlich sichtbare Bild – das Andachtsbild – ermöglichen die im Gedächtnis, der memoria, gespeicherten mentalen Bilder eine bildhafte Schau. Auch wenn das Andachtsbild im wesentlichen als Stimulans wirkt, bleibt seine äußere Gestalt nicht ohne Einfluß auf die imaginative Schau und liefert ihr bildprägende Vorgaben: „Willst du aber unsichtbarer Dinge gedenken“, sagt Magister Hainricus, „[wie einer Seele oder eines Engels – G.T.], so setze ein Bild, das du in einer Kirche gemalt gesehen hast, als Gleichnis des Unsichtbaren ein“.24 Tatsächlich entspricht in einer Vielzahl von Visionsberichten die äußere Gestalt der geschauten Personen den Darstellungen auf Andachtsbildern in der unmittelbaren Umgebung des Visionärs. So sah beispielsweise Katharina von Siena – wie die „Miracoli“ überliefern – den heiligen Dominicus „in der Gestalt, in der sie ihn in der Kirche gemalt gesehen hatte“.25
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25
Fol. 28v: Trois estaz de bones ames sunt que nous trouuons en la sainte escriture. Li premiers est des commencanz [...]. Li seconz est des profitanz [...]. Li tierz est des parfaiz [...]. Fol. 28v: Au premier estat apartient amertume de contriction. Au secont douceur de devotion. Au tierz purtez de contemplacion. Tractatus Magistri Hainrici (München, Clm 4749). In: Ars und Scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur, hrsg. von Sabine Heilmann-Seelbach. Tübingen 2000, S. 263: Si vis substancias invisibiles memorari, pone ymagines quas vidisti alias depictas in ecclesia („Willst du aber unsichtbarer Dinge gedenken [wie einer Seele oder eines Engels, s. S. 273], so setze ein Bild, das du in einer Kirche gemalt gesehen hast, als Gleichnis des Unsichtbaren ein“). I miracoli della beata Caterina: [...] in quella forma che veduto l’avea dipinto nella chiesa; zit. nach Millard Meiss: Painting in Florence and Siena after the Black Death. The Arts, Religion and Society in the Mid-Fourteenth Century. New York 1964, S. 106.
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Erst die Reinheit und Ruhe der Kontemplation (purtez de contemplacion; quiete de contemplacion) vermag jene Bilder hervorzubringen, die die Grenzen von Raum und Zeit überschreiten und die Seele in ein Geschehen einbeziehen, das zwar in historischer Vergangenheit gründet, innerseelisch jedoch so aktuell und sichtbar entsteht, als wäre es gegenwärtig. Damit löst sich eine Forderung ein, die auszusprechen die weit verbreiteten und von Sprachbildern gesättigten „Meditationes vitae Christi“ nicht müde werden: Betrachte alles so, als wärest du selbst – körperlich – zugegen gewesen (ac si presens esses corpore)!26 Die Illuminationen einer solchen Handschrift – auch von den „Meditationes vitae Christi“ gab es illustrierte Ausgaben27 – mögen diesen Sehprozeß anstoßen, ihn in Gang setzen und ihm Anregung liefern, doch vollzieht sich das Wesentliche vor dem inneren Auge, das den Fundus der aus Sprache und materiellen Bildern geschöpften bildhaften Vorstellungen (Imaginationen) abtastet und in einer Weise verlebendigt, die diese Bilder in reale Gegenwartserfahrung transformieren. Alle Wahrnehmung, alles Denken soll sich – in kontemplativer Übung – auf die beständige Vergegenwärtigung und Aktualisierung des Heilsgeschehens richten. Die Einbeziehung des Rezipienten ist vollständig; sie vermittelt sich in mehreren Stufen, die noch einmal aufgezählt seien: 1. Ein Text wird gelesen, die sprachlichen Bilder werden in das Gedächtnis aufgenommen, mit schon vorhandenen Bildern abgeglichen und eingeordnet; ergänzend fällt der Blick auf die Miniaturen, die in entsprechender Weise in den Fundus mentaler Bilder eingespeist werden. 2. Die Betrachtung der Illuminationen kann durch Bildwerke ergänzt werden (wie bei Yolande de Soissons; Abb. 1); das Buch als Vehikel der mentalen Bildproduktion ist in der Miniatur, d.h. im Bild, anwesend. 3. Das Buch als Ausgangspunkt der Imagination ist aus dem Bild verschwunden und imaginierte Bilder herrschen vor (Jeanne d’Eu; Abb. 2); innerhalb der transzendenten Begegnung berühren sich die mentalen Bilder mit der transzendenten Wirklichkeit. 4. Die Sublimierung des Buches bzw. seines Textes darf nicht so verstanden werden, als werde das Buch überflüssig, vielmehr ist das Buch stets gegenwärtig, weil der gesamte Prozeß durch Texte und Bilder im Buch fixiert ist. Das Bild – imago – kann die Andachtsbemühung unterstützen und verstärken, indem es dem Leser und Betrachter der Handschrift als Ausgangspunkt weitläufiger imaginatio oder bereits als imaginatum selbst (wie im Fall der Jeanne d’Eu) vor dem leiblichen Auge steht. Bilder zeugen Bilder.
26 27
Iohannes de Caulibus: Meditaciones uite Christi olim S. Bonauenturo attributae, hrsg. von Mary Stallings-Taney. Turnhout 1997 (CCCM 153), Cap. LXXXV, S. 307. Vgl. Isa Ragusa / Rosalie Green (Hrsg.): Meditations on the Life of Christ. An Illustrated Manuscript of the Fourteenth Century. Princeton 1961.
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Literaturverzeichnis Quellen Bonaventura: Commentarium in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi. In: ders.: Opera Omnia, hrsg. von Alois Lauer, Bd. III, Quarracchi 1887. –: Lignum Vitae, de mysterio originis I. In: ders.: Opera Omnia, hrsg. von Alois Lauer, Bd. VIII. Quaracchi 1898, S. 68-87. Tractatus Magistri Hainrici (München, Clm 4749). In: Ars und Scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur, hrsg. von Sabine Heilmann-Seelbach. Tübingen 2000, S. 260-265. Iohannes de Caulibus: Meditaciones uite Christi olim S. Bonauenturo attributae, hrsg. von Mary Stallings-Taney. Turnhout 1997 (CCCM 153). Meditations on the Life of Christ. An Illustrated Manuscript of the Fourteenth Century, hrsg. von Isa Ragusa und Rosalie Green. Princeton 1961. Richard de Fournival: Le Bestiaire d’Amour, hrsg. von Célestin Hippeau. Paris 1860.
Sekundärliteratur Ausstellungskataloge François Avril (Hrsg.): L’Art au temps des rois maudits, Ausstellungskatalog. Paris 1998. Peter Brieger / Pierre Verdier (Hrsg.): Art and the Courts. France and England from 1259 to 1328. Ottawa 1972.
Handschriftenkataloge British Museum. Catalogue of Additions to the Manuscripts 1916-1920. London 1933. A Descriptive Catalogue of Fifty Manuscripts from the Collection of Henry Yates Thompson by Montague Rhodes James. Cambridge 1898.
Weitere Sekundärliteratur Michael Camille: ‚Him whom you have ardently desired you may see‘. Cistercian Exegesis and the Prefatory Pictures in a French Apocalypse. In: Studies in Cistercian Art and Architecture, hrsg. von Meredith P. Lillich, Bd. 3. Kalamazoo 1987, 137-160. –: Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing. In: Visualty Before and Beyond the Renaissance, hrsg. von Robert S. Nelson. Cambridge 2000, S. 197-223. Leo Carruthers: In Pursuit of Holiness outside the Cloister. Religion of the Heart in The Abbey of the Holy Ghost. In: Models of Holiness in Medieval Sermons, hrsg. von Beverly M. Kienzle. Louvain-la-Neuve 1996, S. 211-227. Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990. Karen Gould: The Psalter and Hours of Yolande de Soissons. Cambridge, Mass. 1978. Ernst Krenn: Die Trachten der katholischen Ordensleute. Regensburg 1932. Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Reinbek bei Hamburg 1998. Millard Meiss: Painting in Florence and Siena after the Black Death. The Arts, Religion and Society in the Mid-Fourteenth Century. New York 1964. Richard Rouse / Mary Rouse: Manuscripts and Their Makers. Commercial Book Production in Medieval Paris, 2 Bde. Turnhout 2000. Paul Saenger: Space between Words: The Origines of Silent Reading. Stanford 1997.
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Maurice Smeyers: La Miniature. Turnhout 1974. Helen Solterer: Letter Writing and Picture Reading: Medieval Textuality and the Bestiaire d’Amour. In: Word & Image 5 (1989), S. 131-147. Josef Sudbrack: Art. „Mystik“. In: Wörterbuch der Mystik, hrsg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989. Gia Toussaint: Das Passional der Kunigunde von Böhmen. Bildrhetorik und Spiritualität. Paderborn 2003. Horst Wenzel: Schrift und Gemeld. Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativik der Bilder. In: Bild und Text im Dialog, hrsg. von Klaus Dirscherl. Passau 1993, S. 29-51. Patrick de Winter: Une réalisation exceptionelle d’enlumineurs français et anglais vers 1300. Le bréviaire de Renaud de Bar, Evêque de Metz. In: La Lorraine. Actes du 103e Congrès des Sociétés Savantes. Paris 1980, S. 27-62.
Abbildungsnachweis Abb. 1: Yolande de Soissons im Gebet (MS M. 729, Pierpont Morgan Library, New York, fol. 232v). Abb. 2: Die kontemplative Schau der Jeanne d’Eu (MS 6329, Bibliothèque l’Arsenal, Paris, fol. 1v). Abb. 3: „Über die Zustände der Seele“ (De lestat de lâme) während Andacht und kontemplativer Versenkung. Illustration zu dem Traktat De lestat de lâme (MS Add. 39843, British Library, London, fol. 29r). Alle Abbildungen entstammen dem Archiv der Verfasserin.
HEIKE SCHLIE
Ein „Kunststück“ Jan van Eycks in der Nachfolge der mittelalterlichen Artefakt- und Kunsttheorie
Am 19. Mai 1425 wird Jan van Eyck am Hofe Philipps des Guten als varlet de chambre und Hofmaler angestellt und damit erneut in Ämter eingesetzt, die er die drei vorangehenden Jahre bereits bei Johann von Bayern, dem Grafen von Holland, in ’s-Gravenhage innehatte.1 In der Einstellungsakte werden seine Qualitäten hervorgehoben, namentlich abilité – Fähigkeit, Tüchtigkeit; souffisance (was auf Neufranzösisch mit science im Sinne von Gelehrsamkeit übersetzt wird); loyauté – Treue; preudomie – Ehrenhaftigkeit. Neben einer jährlichen Pension werden ihm die üblichen Ehren, Privilegien, Freiheiten, Rechte, Bezüge und Vergütungen, die mit dem Amt verbunden sind, gewährt. Die Pension wird nicht für bestimmte Dienste gezahlt, sondern für seine virtus; es wird von ihm erwartet, sein Talent im Kreis der am Hof versammelten Gelehrsamkeit zu vervollkommnen. In der Tat nimmt van Eyck Gepflogenheiten seiner Umgebung an, indem er sich dem Beispiel des Adels folgend ein Motto zulegt, das er manchen Werken als Signatur und Geste vorgeblicher Bescheidenheit beifügt: „ALC ICH XAN“. Wir verfügen über keinerlei Kenntnisse, welcher Art die Ausbildung van Eycks war. Es liegt nahe anzunehmen, daß Philipp der Gute ihn nicht nur wegen seines Talents als Maler angestellt hat, da er in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre mehrfach hohe Summen für geheime und diplomatische Missionen sowie für Pilgerreisen in Vertretung erhält. 1435 betont Philipp der Gute in einem Brief an die Chambre des Comptes, die van Eyck seine Pension als Hofmaler nicht zahlt, die Qualitäten seines „bien amé varlet de chambre et peintre“ nicht nur mit einem Verweis auf seine ars, sondern auf seine unvergleichliche science: „nous trouverions point le pareil à nostre gré ne si excellent en son art et science“.2 Der spezifische Status bei Hof sowie van 1
2
Die folgenden Daten zur Biographie und zur Stellung van Eycks am Hofe Philipps des Guten bei Catherine Reynolds: The King of Painters. In: The National Gallery. Investigating Jan van Eyck, hrsg. von Susan Foister u.a. Turnhout 2000, S. 1-16; Cyriel Stroo / Maurits Smeyers: Hubert et Jan van Eyck. In: Les Primitifs Flamands et leur temps, hrsg. von Roger van Schoute und Brigitte de Patoul. Louvain-la-Neuve 1994, S. 287-309, hier S. 288, 292-296. W.H.J. Weale: Hubert and John van Eyck. Their Life and Work. London / New York 1908, doc. 24 (Freie Übersetzung: Wir würden niemanden finden, der in unseren Augen hinsichtlich seiner Kunstfertigkeit und Wissenschaft vergleichbar wäre).
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Eycks Umgang mit theologischen Inhalten, Astronomie, Paleographie etc. lassen auf einen hohen Ausbildungsstand schließen. Doch bewegt sich van Eyck nicht nur in diesem Umfeld. 1430 verläßt er die Residenz in Lille und läßt sich in Brügge nieder. Dort führt er Aufträge von Hofbeamten und Bürgern aus, in einem städtischen Milieu, das sicher von einer anderen Erwartungshaltung gegenüber dem Maler geprägt gewesen sein muß. Wie verstand Jan van Eyck seinen Status als Künstler? Wie ordnete er selbst die Stellung seines Werkes innerhalb einer Gesellschaft ein, die eher durch audiovisuelle Kultur denn durch Schriftkultur geprägt war, obwohl ihre religiöse Grundstruktur auf der Kanonisierung von Texten gründete? Welchen Blick hatte er auf die Artefakte aus seiner Hand, die in soziologischer Hinsicht als minderwertige Produkte einer ars mechanica galten, aber dennoch schon zu seinen Lebzeiten zu einem Ruhm gelangten, der schwer mit dem handwerklichen Status der Malerei in Deckung zu bringen ist? Im Jahre 1437 rahmte und signierte Jan van Eyck eine Zeichnung auf Holz, die die Hl. Barbara mit einem sehr auffälligen Attribut zeigt (Abb. 1): Ihr Turm nimmt nicht nur einen großen Teil der Bildfläche ein, sondern wächst quasi aus ihrer Gestalt im Zentrum heraus; er scheint nicht Beigabe zu sein, sondern Hauptfigur. Van Eyck stellt ihn als im Bau befindliches Werk dar und integriert minutiös alle einzelnen Werkphasen vom Bruch der Rohlinge bis zum Einpassen der geschnittenen Steine. Der Künstler führt das Entstehen des Artefakts vor, die Gestaltung der sinnhaften Form aus der Materie, die auch für sein eigenes Werk gilt. Die Zeichnung ist ein ‚Kunststück‘, ein programmatisches Bild zu van Eycks Kunsttheorie. Sie spitzt die Argumente einer hochmittelalterlichen Kunsttheorie zu, die ihrerseits u.a. aus einer komplexen Artefakttheorie erwachsen ist.
Zur Frage einer Kunsttheorie im Mittelalter Der mittelalterliche Status des Artefakts in dem Bereich, der seit dem 18. Jahrhundert unter den Begriff der „Schönen Künste“ fällt, ist ebenso umstritten wie der Künstlerbegriff im Mittelalter. Einer immer wieder vertretenen kunsthistorischen Ansicht zufolge gab es im Mittelalter keine Kunst, sondern nur ‚Bilder‘. Von Kunst sei erst mit der Ausbildung der frühneuzeitlichen Kunsttheorie zu sprechen, die einer autonomen Kunst ihren eigenen Ort im intellektuellen System verleiht. Vorausgesetzt wird hier zum einen die Einordnung der ‚Kunst‘ als bloßes ‚Handwerk‘ in der mittelalterlichen Selbstbeschreibung und zum anderen eine notwendige geistige und funktionale (‚dienende‘) Bindung an Theologie und Religion. Stellvertetend sei hier eine neuere Studie zu „Bildwirklichkeiten“ von Martin Warnke genannt, in der es heißt:
Ein „Kunststück“ Jan van Eycks
Abb. 1: Jan van Eyck, Heilige Barbara, 1437, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten
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Heute steht die Malerei hoch über den Zimmerleuten, Barbieren, Schmieden und Webern. Sie wird in Akademien gelehrt, und Kunsthistoriker erforschen ihre Geschichte. Sie gehört zu den Hochformen der nationalen Kultur. Wie konnte es geschehen, daß diese handwerklichen Tätigkeiten alle anderen Handwerke übersteigen und den Status einer geistigen Tätigkeit gewinnen? Wie konnten die Artes, die im Souterrain der Artes Mechanicae fast verschüttet 3 scheinen – wie konnten diese servilen Handlungen zu Handlungen des Geistes werden?
Im Gegensatz zu dem religiös-funktionalen Konzept des Mittelalters wird für die Kunst seit der Frühen Neuzeit eine zunehmende geistige und funktionale „Autonomie“ und ein grundsätzliches theoretisches Bewußtsein ihrer spezifischen Medialität und Ästhetik jenseits ihres ‚Zwecks‘ unterstellt. Warnke selbst hat die Entwicklung des ‚Bildes‘ zur ‚Kunst‘ mit einem sozialgeschichtlichen Modell der frühen „höfischen Privilegierung der Künstler“ erklärt, die Zunft- und Steuerfreiheit einschloß, und wendet sich gegen die Vorstellung eines „heroische[n] Streben[s] der Künstler nach Autonomie und bürgerlicher Freiheit“.4 In Warnkes Studie zum „Hofkünstler“ ist Jan van Eyck neben Dürer, Rubens und einigen italienischen Künstlern der meistgenannte Protagonist; und in der Tat scheint der Hofkünstler Philipps des Guten ein Prototyp oder zumindest Wegbereiter des frühneuzeitlichen ‚echten‘ Künstlers zu sein, der stolz seine Werke signiert,5 dessen Werke gar von dem Bewußtsein einer Kunsttheorie zeugen.6 Aber wenn es auch so sein mag, daß das Phänomen des Hofkünstlers einen Bruch in der Geschichte des sozialen Status des Künstlers markiert, so sind damit noch nicht die 3
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Martin Warnke: Bildwirklichkeiten. Essen 2004 (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 8), S. 19. Warnke polarisiert in diesem Text das artes-Verständnis beispielsweise von Hugo von St. Victor einerseits und das der Neuzeit andererseits, ohne zu berücksichtigen, daß der Ansatz des Victoriners zu seiner Zeit eine Aufwertung der mechanica im Wissenschaftssystem und Voraussetzung für das Konzept der Frühen Neuzeit ist. Symptomatisch ist hier die Übersetzung des Begriffs „adulterina“, den Hugo der mechanica zuordnet. Warnke übersetzt pejorativ mit „ehebrecherisch“ (S. 10), was einem etymologischen Irrtum aus dem neunten Jahrhundert entspricht: Man identifizierte µηχανή (Werkzeug, Maschine) mit µοιχός (Ehebrecher), während Hugo den Begriff im Zusammenhang seines epistemologischen Nachahmungsbegriffs positiv konnotiert. Siehe dazu Elspeth Whitney: Paradise Restored. The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century. In: Transactions of the American Philosophical Society 80 (1990), S. 1-169, hier S. 85; Thilo Offergeld: Einleitung. In: Hugo von St. Victor: Didascalicon – De Studio Legendi, übers. u. eingel. von Thilo Offergeld. Freiburg u.a. 1997 (Fontes Christianae 27), S. 7-102, nach dieser Ausgabe wird Hugo im Folgenden auch zitiert. Warnke: Bildwirklichkeiten (wie Anm. 3), S. 19; er bezieht sich hier auf seine Hauptthese in ders.: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1996 (1985). Vgl. Borchert zu der Tatsache, daß van Eyck als erster niederländischer Maler signiert, und zur Wahl der Devise „ALC ICH XAN“: „Die mit gräzisierenden Lettern geschriebene Signatur zeugt nicht nur von gelehrtem Anspruch und dem stolzen Selbstbewußtsein des Malers, sondern beurkundete den Zeitgenossen womöglich bereits die Authentizität der Gemälde des herzoglichen Hofmalers.“ Till-Holger Borchert: Zur Einführung: Jan van Eyck und seiner Werkstatt. In: Jan van Eyck und seine Zeit. Flämische Meister und der Süden 1430-1530, Ausstellungskatalog, hrsg. von dems. Brügge 2002, S. 17. Erstmals untersucht von Rudolf Preimesberger: Zu Jan van Eycks Diptychon in der Sammlung Thyssen-Bornemisza. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 54 (1991), S. 459-489.
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Fragen einer Kunsttheorie zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit vollständig beantwortet, da der Status des Werkes selbst nicht allein mit soziologischen Kategorien zu fassen ist. Van Eyck ist den Traditionen einer mittelalterlichen Artefakt- und Kunsttheorie verpflichtet und bringt diese auf ein neues Reflexionsniveau. Die mittelalterliche Kunsttheorie ist einerseits der Diskussion der philosophischen Bedeutung der artes mechanicae inhärent, deren Bewertung im Mittelalter selbst sehr heterogen ausfällt. Zwar erfährt die Handwerkskunst in soziologischer Hinsicht bis in die Neuzeit hinein Abwertungen, in wissenschaftstheoretischer Hinsicht jedoch wird die mechanica den artes liberales im 12. bis 13. Jahrhundert gleichgestellt.7 Zudem ist eine Kunsttheorie des Mittelalters aus der jeweiligen Instrumentalisierung des ‚Kunstwerkes‘ als Metapher, Vergleich oder Gleichnis8 in verschiedenen geistigen Zusammenhängen deduzierbar. Daß der Kunstbegriff gerade in der Forschungsdebatte der letzten Jahre aus dem Mittelalter ausgeschlossen wurde, obwohl Mediävisten in der jüngeren Vergangenheit zunehmend eine Revision des Künstlerbildes und des mittelalterlichen Status der Kunst gefordert haben, hat verschiedene Ursachen. Moderne Leittheorien wie beispielsweise die Systemtheorie, in der notwendigerweise für das Mittelalter ein ausdifferenziertes Kunstsystem negiert wird, scheinen die alten Argumente in der Einkleidung einer umfassenden Gesellschaftstheorie zu bestätigen.9 Zudem gilt, daß in den letzten beiden Jahrzehnten ausgerechnet die verdienstvolle Forschung zu Kontext und Funktion der mittelalterlichen Werke, die unser Verständnis ihrer Semantik und Rezeption entscheidend befördert hat, gleichzeitig – und gerade in der Betonung der Funktionalität – die Reduzierung der Werke auf das Nicht-Künstlerische mit sich geführt, und so die Wahrnehmung der Aspekte außerhalb der reinen Funktionalität verstellt hat. Zudem scheint die allgemeine Entwicklung des kunstgeschichtlichen Fachs zur Bildwissenschaft die ‚Kunstfrage‘ geradezu obsolet zu machen. Die ‚Bilderfrage‘, die eher der Macht der Bilder, ihrer Funktion, ihrem ontologischen Status sowie einem anthropologisch gefärbtem Erkenntnisinteresse gilt, schließt die Frage nach dem Kunstbegriff mehr oder weniger aus. Die Trennung zwischen der ‚Bilderfrage‘ im Kontext der 7
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Vgl. Hans Martin Klinkenberg: Art. „Artes liberales/artes mechanicae“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 1. Darmstadt 1971, S. 531-535, hier S. 534, Sp. 2. Ob es sich bei den im Folgenden genannten Fällen jeweils tatsächlich eher um eine Metapher, einen Vergleich oder ein Gleichnis handelt, wird in dieser Studie nicht diskutiert, weil es um ein „bildhaftes“ Potential geht, das sich in allen drei Formen äußern kann und in semantischen Übertragungen besteht. Zudem herrscht keine einheitliche Auffassung über die Festlegung der exakten Grenzen zwischen den Begriffen vor. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995. Luhmann setzt allerdings für eine Ausdifferenzierung auch die Lösung der Kunst von der Imitation der Natur voraus, S. 33 u. 44. Zur Behauptung des Selbstzwecks als Selbstbeschreibung des Kunstsystems siehe S. 43. Siehe auch Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem. Köln 2006, S. 48f., 58, 117-124.
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neuen Medien und des iconic turn einerseits und der „Kunsttheorie“ andererseits wird besonders deutlich bei Belting: Eine allgemeine Theorie der Bildmedien steht […] noch aus. Man kann historische Gründe dafür ausfindig machen, daß dieser Diskurs wenig Aufmerksamkeit fand. Die alte Theologie, die mit Bildern und ihren Medien reiche Erfahrungen gemacht hatte, wurde in der Renaissance von der Kunsttheorie beerbt, die an einer genuinen Bildtheorie nicht mehr interessiert war und dem visuellen Bild nur Beachtung schenkte, wenn es sich in Kunst verwandelte oder 10 eine wissenschaftliche Neugier auf optische Phänomene befriedigte.
Es ist hier nicht der Ort zu diskutieren, ob diese Trennung sinnvoll ist, oder ob es andere Ansätze geben kann, mit denen der Nachweis geführt werden könnte, daß der Diskurs der aktuellen Bilderfrage gerade auch von der Prägung durch die neuzeitliche Kunsttheorie gefärbt ist, oder anders gesagt: daß es nicht die neuzeitliche Kunsttheorie oder Kunst war, welche die Bilderfrage grundsätzlich ausgeschlossen hat, sondern eher die Kunstgeschichte im 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts.11 Es gilt daher, zunächst dem Status des ‚Kunstwerks‘ im Mittelalter mit der bewußten Fokussierung seines „Herstellens“ nachzugehen, unter der einstweiligen Annahme, daß weder ein frühneuzeitlicher Kunstbegriff (noch einer, der im 19. Jahrhundert für die Frühe Neuzeit geprägt wurde) noch ein von Handwerklichkeit und absoluter theologischer Abhängigkeit geprägter Begriff den Werken gerecht werden und ihr Verstehen befördern kann. Betrachtet man die mittelalterlichen Texte, die das künstlerische Artefakt thematisieren, so ist festzuhalten, daß die Umstände und das Wesen des Produzierens weit mehr interessieren als der ‚Produzent‘ oder das Werk selbst und in hohem Maße theoretisch reflektiert werden. Es ist der Prozeß der Herstellung, der das Wesen des Werks bestimmt, und bezeichnenderweise dürfte dies ein Kennzeichen sein, das die Artefakttheorie des Mittelalters und der Frührenaissance verbindet, während der Herstellungsprozeß seit der späteren Neuzeit aus der Kunsttheorie eher ausgeblendet wird und statt dessen der Genius des Künstlers und die inventio bzw. Idee im Vordergrund stehen. Zwar gibt es vor allem vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine Fülle von Handbüchern zur Technik der Künste, die jedoch mit dem Diskurs der Kunsttheorie nicht mehr verknüpft werden. Der Anspruch der Kunst, eine wirklich ‚freie‘ ars zu sein, verlangte erst in der Neuzeit eine Absetzung von dem Aspekt der materiellen Herstellung und der theoretischen Fundierung der Produktion. Leon Battista Alberti hatte dagegen noch versucht, gerade die Aspekte der Technik
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Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001, S. 14. Siehe dazu beispielsweise Hans Ulrich Reck: Bild als Medium – Zeichen der Kunst. In: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, hrsg. von Hans Belting und Dietmar Kamper. München 2000, S. 173-209, hier S. 176: „Die im Medium der Kunst entwickelte bildtheoretische Argumentation in Hinblick auf ein spezifisches Medium ist genuin an die Austauschprozesse des Systems Kunst gebunden, also immer schon auf geschichtete Modelle der Bezugnahmen zwischen Poetik, Wissenschaft, Technologie und Alltag verwiesen.“
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selbst in die artes liberales einzubinden, indem er beispielsweise in der ‚Erfindung‘ der Zentralperspektive die Geometrie mit der Technik der Malerei verband. Da das Fach Kunstgeschichte sich selbst traditionell der Diskussion der Bezüge zwischen Form und geistigem Gehalt methodisch eng verschrieben hat, im Sinne des Hegelianischen Diktums des „sinnlichen Scheinens der Idee“,12 stehen sowohl der Herstellungsprozeß und seine theoretischen Aspekte wie auch die pragmatische Funktionalität der Kunstwerke traditionell eher außerhalb des Fokus’. ‚Kunst‘ soll das zweckfreie Artefakt sein, in dem die Geschichte seiner materiellen Herstellung getilgt ist; das Kunstwerk ist das anschauliche Ergebnis und der ästhetische Träger oder die ästhetische Form der „Idee“. Daß dieser Begriff von Kunst ein Konstrukt des Faches selbst und zumindest bis zum 19. Jahrhundert ahistorisch ist, wenigstens was die Zweckfreiheit betrifft, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Dieser Kunstbegriff hatte aber zur Folge, daß für das Mittelalter die Existenz von ‚Kunst‘ grundsätzlich ausgeschlossen wurde. Diese Studie versteht sich dagegen als Plädoyer für eine Kunsttheorie des Mittelalters, die auf der Grundlage eines differenzierten Begriffes von Kunst die mittelalterlichen Theorien zu ihrer Herstellung und Funktion einschließt. Es gilt: Wenn Herstellungsprozesse und der Status von Artefakten theoretisch reflektiert werden, dann ist von einer Artefakttheorie zu sprechen. Wenn darüber hinaus die künstlerischen Artefakte eine andere theoretische Behandlung erfahren als die Artefakte nichtkünstlerischer Art, dann liegt eine Kunsttheorie vor – auch wenn sich diese von einer Kunsttheorie der Neuzeit unterscheidet, so wie letzere wiederum von nachfolgenden Konzepten zu differenzieren ist.13 Man hat in der Vergangenheit unterschiedliche Wege auf der Suche nach einer mittelalterlichen Ästhetik bzw. ganz explizit auf der Suche nach einer mittelalterlichen Kunsttheorie beschritten. Andreas Speer hat in mehreren Studien sowohl Kunsthistoriker als auch diejenigen Philosophiehistoriker kritisiert, die seiner Meinung nach zu Unrecht von geschlossenen ästhetischen Theorien bei mittelalterlichen Autoren und insbesondere bei Thomas von Aquin ausgehen.14 Tatsächlich finden sich bei Thomas Bemerkungen über das Schöne und seinen Zusammenhang mit Erkenntnis unter Behandlung von Begriffen wie Vollkommenheit (perfectio), Proportion (proportio), Harmonie (consonantia, commensuratio), die so oder ähnlich in der frühneuzeitlichen Kunsttheorie eine Rolle spielen und deshalb besonderes Interesse erregen. Speer weist 12 13
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Vgl. Reck: Bild als Medium (wie Anm. 11), S. 177. Vgl. ebd., S. 176, der im Zusammenhang mit einer Definition von Kunst als Medium von einer „historische[n] Pluralität von Kunstmodellen, die alle nicht in eine monolithische Struktur überführt werden können“, spricht. Andreas Speer: Vom Verstehen mittelalterlicher Kunst. In: Mittelalterliches Kunsterleben, hrsg. von Günther Binding und Andreas Speer. Stuttgart 1994, S. 13-52. Siehe auch ders.: Thomas Aquinas und die Frage einer mittelalterlichen Ästhetik. In: Wort und Antwort 13 (1999), S. 4-8 (URL: http://www.wort-und-antwort.de/pdf/artikel/speer.pdf [21.05.2007]).
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jedoch darauf hin, daß diese Betrachtungen allein auf die creatio ex nihilo des Schöpfergottes und Gott selbst, die Trinität beispielsweise, bezogen werden. Von der ursprünglichen Schöpfung werden zwei weitere Arten von Produktivität unterschieden: die Hervorbringung durch die Natur und die Hervorbringung von Gegenständen durch den Menschen, das facere. Wenn hier explizit von einer imitatio naturae gesprochen wird, dann mit einer doppelten Einschränkung. Wenn der Mensch etwas herstellt, dann ist er als artifex an „die Vorgabe der Materie wie der substantiellen Formen gebunden“.15 Hinzu kommt die auf Aristoteles bezogene Unterscheidung zwischen Herstellungs- und Handlungswissen und die Begrenzung der ars auf ihre poietischtechnische Natur. All das, was bei Thomas überhaupt mit den zuvor genannten Begriffen zu tun haben könnte, betrifft entweder Gott (oder die Trinität) selbst oder geht im Falle der herstellenden artes über das subjektive Erscheinungsbild des Gegenstandes sowie die individuellen Absichten des Herstellers hinaus und betrifft allein die rechte Herstellung nach dem Formvorbild der Natur und die mit der Praxis verbundenen Zielvorstellungen. Darauf wird zurückzukommen sein, und es sei nochmals Speer zitiert, um das Anliegen dieses Beitrags zu umreißen: „[Es gilt], ein dem mittelalterlichen Verständnis adäquates ästhetisches Paradigma erst zu gewinnen, welches zunächst rekonstruktiv verfahren und sich dabei von der Frage leiten lassen muß: Wie wird dasjenige, was wir heute als Kunst im neuzeitlichen Verständnis bezeichnen, von den Menschen der damaligen Zeit wahrgenommen, erfahren und möglicherweise theoretisch reflektiert und interpretiert?“16 Festzuhalten ist, daß eine mittelalterliche Ästhetik oder ‚Kunsttheorie‘ aus dem theologischen Diskurs über das ‚Schöne‘ nicht abzuleiten ist, wie es manche Autoren, z.B. Assunto und Eco, versucht haben – was von Speer und anderen zu Recht kritisiert wurde.17
Artefakttheorien und das Kunstwerk im rhetorischen Gleichnis Nähern wir uns also einer möglichen Kunsttheorie nicht über den Diskurs des ‚Schönen‘, sondern zunächst über die Theorien zum Artefakt im allgemeinen, um dort wieder Positionen zu ‚Kunstwerken‘ auszudifferenzieren. Im Mittelalter gab es bereits vor Thomas von Aquin eine konzise Theorie zum Artefakt, das sich zunächst durch seine Absenz im Paradies definiert. Erst durch die Verbannung aus dem Garten Eden waren die Menschen gezwungen, Dinge herzustellen, die ihnen das harte Leben auf der 15 16 17
Speer: Vom Verstehen mittelaterlicher Kunst (wie Anm. 14), S. 24. Ebd., S. 37. Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1982; Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Köln 1986; Umberto Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München 1991.
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Erde erleichterten und Funktionen übernahmen, die im Paradies obsolet waren. Der Sündenfall hatte einen status corruptionis des Menschen zur Folge, und sowohl die artes liberales als auch die artes mechanicae, die das Artefakt hervorbringen, wurden als Mittel betrachtet, den status incorruptionis teilweise wiederzuerlangen.18 Betrachtet man beispielsweise die hochmittlelalterlichen Theorien zur mechanica, denen zufolge die Arbeitserleichterung durch ihr Instrumentarium als eine partielle Rückgewinnung paradiesischer Zustände zu verstehen ist, so wird deutlich, daß das Artefakt grundsätzlich Kompensationsleistungen erbringt. Gott hat die Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen geschaffen. Seine Schöpfung zeichnet sich durch Perfektion und Schönheit aus. Die von Menschen geschaffenen Dinge sind unvollkommene, wenn auch nach dem Modell der Natur geschaffene Hilfsmittel eines „im Schweiße des Angesichts sollst Du Dein Brot essen“ (Gen. 3,19). Letztlich gilt dies auch für diejenigen Artefakte, denen hier mein Augenmerk gilt. Kirchenarchitektur und Bilder kompensieren die durch die Verbannung aus dem Paradies entstandene ‚Gottferne‘, die vor Auferstehung und Jüngstem Gericht nur im Kult und im Gebet überbrückt werden kann. Die Stellung des Artefakts im Mittelalter bedingt es, daß auch das Kunstwerk sowohl durch den Herstellungsprozeß der Nachahmung von Schöpfungsprinzipien definiert ist, der es in das System der artes einordnet, als auch in seiner Funktion zur Rückgewinnung von Integrität; zur partiellen Korrektur des status corruptionis. Das gilt auch für den Menschen selbst, der zwar nach der imago Dei geschaffen wurde, diese in sich selbst jedoch nur noch in gebrochenem Zustand trägt. Bereits im Frühmittelalter waren die noch nicht als artes benannten mechanicae aufgewertet und wie beispielsweise auch die medicina als erweiterter Anteil der artes liberales bzw. der philosophia benannt worden.19 Unter dem Einfluß arabischer Schriften entsteht die Vorstellung, Handwerk und Handlungswissen – beispielsweise der Medizin – seien „operative und praktische Aspekte des theoretischen Wissens“.20 Verschiedene Einflüsse, wie die Aufwertung der Handarbeit im religiösen Leben, das Desiderat einer Taxonomie des gesamten Wissens und letztlich eine Flut technischer Innovationen seit dem späten 11. Jahrhundert führten schließlich dazu, daß die den artes liberales nicht zugehörigen Wissensgebiete als artes mechanicae zusammengefaßt und nach dem Schema der ersteren (als trivium: lanificium, armatura, navigatio, als quadrivium: agricultura, venatio, medicina, theatrica) klassifiziert wurden: Im ca. 1127 verfaßten „Didascalicon“ des Hugo von St. Victor (um 1097-1141) werden bekanntlich die artes mechanicae als Teil der actiones humanae in ihrem Zusammenhang mit der Rekonstitution der durch den Sündenfall verlorenen integritas beschrieben. 18 19 20
Dazu ausführlich Whitney: Paradise Restored (wie Anm. 3). Zu Beispielen bei Boethius (der beispielsweise die Architektur nennt) und Isidor von Sevilla siehe ebd., S. 61. „[T]he operative and practical aspect of theoretical knowledge“; ebd., S. 81, zu „De Divisione Philosophiae“ (1150) von Domingo Gundisalvo.
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Hugo bezeichnet die mechanica neben theorica, practica und logica als Teil der Philosophie. Er ordnet sie zwar den artes liberales unter, schließt sie aber in das Wissenssystem ein: agricultura ratio philosophiae est.21 Die Theorie der Landwirtschaft ist Sache des Philosophen, und lediglich die Praxis ist die des Landarbeiters. Wie später Thomas von Aquin teilt Hugo die Werke, d.h. das Produzieren in drei Teile ein: die göttliche creatio, das Werk der Natur, das in Wirklichkeit überführt, was verborgen war, und das Werk des Menschen, das die Natur nachahmt. Der Mensch tut dies, um sich die Arbeit zu erleichtern, die ihm nach dem Sündenfall aufgegeben ist, indem er sich beispielsweise Dinge aus formlosen Stoffen herstellt, aus „Stein, Holz, Metall, Sand und Ton“,22 oder um seine Nacktheit zu bekleiden, was vor dem Sündenfall nicht notwendig war. Naturnachahmung meint hier nicht etwa Mimesis, die Nachahmung der äußeren Form der Natur, sondern daß der artifex wie die Natur aus bereits gegebenen Stoffen etwas zur Form bringt und dabei auch die Strategien der Natur zum Vorbild nimmt. Die Nachahmung erfüllt nicht nur praktische Lebenszwecke, sondern eröffnet aufgrund des analogen Verfahrens eine Erkenntnis über das Wesen der Schöpfung selbst. Über ihren Nachahmungscharakter kann […, i.e. die mechanica – H. S.] jedoch Schlüssel zum Verständnis des Wirkens der Natur (clavis subintroducta) werden und auf diesem Weg den Menschen zur Weisheit führen. Denn […] als clavis adulterina, als Nachschlüssel also, öffnet die Mechanik die Tür zur Erkenntnis, deren Zugang mit dem Sündenfall (dem Verlust 23 des ‚Originalschlüssels‘) endgültig verschlossen schien.
Indem der Mensch das Schöpfungsprinzip – wenn auch auf unvollkommene Art – nachahmt, erlangt er Einblick in die göttliche Schöpfung. Um den Begriff der Naturnachahmung zu erläutern, benutzt Hugo folgendes Beispiel. Wer eine Statue schaffe, der habe zuvor die Form bei einem Menschen als Modell studiert:
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22 23
Hugo von St. Victor: Didascalicon (wie Anm. 3), I.4, S. 126. Vgl. Nicola Senger: Der Ort der „Kunst“ im Wissenschaftssystem des Hugo von St. Viktor. In: Mittelalterliches Kunsterleben, hrsg. von Günther Binding und Andreas Speer. Stuttgart 1994, S. 53-75, hier S. 66. Hugo von St. Victor: Didascalicon (wie Anm. 3), II, 22, S. 197. Jutta Bacher: Artes Mechanicae. In: Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16.-19. Jahrhundert, hrsg. von Hans Holländer. Berlin 2000, S. 35-50, hier S. 36; zu Hugo von St. Victor: Didascalicon (wie Anm. 3), I, 9, S. 141. Eine ausführliche Diskussion dieser Textpassage bei Whitney: Paradise Restored (wie Anm. 3), S. 91ff. Hier wird deutlich, daß Hugo den der mechanica seit der Antike zugeordneten Begriff „adulterina“ völlig neu auffaßt und ihn – positiv konnotiert – an sein Konzept der Erkenntnis durch Nachahmung der Schöpfung einbindet. Vgl. Anm 3 und außerdem Whitney: Paradise Restored (wie Anm. 3), bes. S. 84f., 88, 105, 108.
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qualiter autem opus artificis imitetur naturam, longum est et onerosum prosequi per singula. possumus tamen exemplis causa in paucis id demonstare. Qui statuam fudit, hominem intuitus 24 est. Qui domum fecit, montem respexit.
Es folgen weitere Beispiele der Nachahmung in den artes. Wer z.B. Kleidung herstelle, der kenne vergleichbare Schutzvorrichtungen der Tiere. Wie bereits Kruse feststellte, läßt sich die Statue im Gegensatz zum Beispiel der Kleidung nicht in die von Hugo aufgestellte Argumentation einfügen, da für sie keine konkrete Funktion in der Rückgewinnung der integritas im Text formuliert wird.25 Sie ist vielmehr ein wirkmächtiger, suggestiver Fremdkörper. Bei genauer Betrachtung erweist es sich, daß es sich um einen Vergleich handelt, nicht um einen konkreten Fall. Die Statue ist ein illustratives Exemplum, das Hugo zur imitatio naturae nennt, und im ‚Bild‘ der Statue wird anschaulich kondensiert, wie Hugo das Prinzip der Naturnachahmung innerhalb der Theorie der artes mechanicae versteht. Ein komplexer Sachverhalt wird in Kürze veranschaulicht. Das Beispiel ist deshalb nicht leicht als ‚Bild‘ oder Gleichnis zu erkennen, weil die bildhauerische Nachahmung des Menschen in einer Statue ein Konzept von Mimesis nahelegt, die in der Renaissance im Kontext der Kunst von großer Bedeutung ist. Hugos Statue ahmt jedoch nicht die anatomische oder auch physiognomische Erscheinungsform eines Menschen nach, sondern dient ihm zur Exemplifizierung für das allgemeine schöpferische Prinzip, nach dem die Natur den Menschen auf Grundlage der Schöpfung Gottes schafft. Deutlich wird dies in dem oben zitierten, der Statue folgenden Beispiel mit der Erbauung eines Hauses, für die die Betrachtung eines Berges Grundlage ist. Hugos Konzept hat nichts mit Mimesis zu tun und beugt einer solchen Rezeption geradezu vor. Der Mensch führt sich die Erschaffung des Berges durch Gott vor Augen, erschafft auf dieser Grundlage das Haus und erhält durch den Akt der Produktion partielle Erkenntnis über das seit dem Sündenfall verschüttete Geheimnis der Schöpfung. Zudem ist das Haus in seiner Schutzfunktion Rückgewinnungsinstrument der integritas. Daraus folgt, daß Hugo mit dem Beispiel der Statue nicht generell die Bildhauerei als besondere ars der Naturnachahmung anspricht, sondern sich hier nur für einen zu dem von ihm verhandelten Prinzip der Naturnachahmung analogen Ausschnitt interessiert. In der Ordnung der artes weist Hugo Malerei und Plastik wie alle anderen herstellenden Handwerkskünste, die Materialien verarbeiten (mit Ausnahme der Tuchherstellung), der armatura (Waffenkunst) im trivium zu, ohne daß sie dort in beson24
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„Wie das Werk des Handwerkers die Natur imitiert, ist langwierig und schwierig im Einzelnen zu verfolgen. Trotzdem können wir den Fall hier in Kürze in einem Beispiel illustrieren. Wer eine Statue gießt, hat die Form durch Anschauung eines Menschen gewonnen. Wer ein Haus baut, hat einen Berg im Blick gehabt.“ (Hugo von St. Victor: Didascalicon [wie Anm. 3], I, 9, S. 140; Übersetzung H. S.) – Auch Senger (Senger: Der Ort der „Kunst“ [wie Anm. 21], S. 65) zitiert diese Stelle, um das Verhältnis von ars und Natur bei Hugo von St. Victor zu belegen, läßt aber ausgerechnet das Beispiel der Statue aus, obwohl es ihr um „den Ort der Kunst“ bei Hugo geht. Vgl. Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums. München 2003, S. 62.
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derer Weise namentlich benannt würden.26 Die Bedeutung der Statue als Werk kommt nur in der Definition des Prinzips der Naturnachahmung vor. Auch die Malerei ist explizit nur als Metapher vorhanden. Im liber III heißt es zu den Dichtern und Philosophen, daß sie „die verschiedensten Dinge in eins zusammen[werfen] und […] so gewissermaßen aus einer Menge von Farben und Formen ein einziges Bild [machen]“.27 Der Topos eines „ut pictura poesis“ beschreibt die Stoffsammlung und dispositio der Poetik und Rhetorik anhand von Grundprinzipien der Komposition in der Malerei, um etwas ‚anschaulich‘ zu machen, um eine abstrakte Qualität in ein ‚Bild‘ zu überführen. Doch auch wenn er hier eigentlich nicht explizit über Malerei sprechen will, so wird in dem Vergleich doch deutlich, daß er über ein Theorem zur Malerei verfügt. Mehr noch: Die Malerei erscheint hier als das geeignete Medium, um jegliche ‚Ordnung‘ zu visualisieren. Was ist nun insgesamt daraus zu folgern? Hugos Absicht war es, die artes mechanicae in das System der Wissenschaften einzufügen und so ihren Erkenntnischarakter zu postulieren. Die Rezeptionsgeschichte zeigt zwar, daß die exakte Kanonbildung von Trivium und Quadrivium nicht nachhaltig war und sich auch der Begriff der scientia bei manchen der nachfolgenden Autoren wieder von der mechanica trennte, andererseits war der Einfluß dieses Textes und anderer groß genug, die artes mechanicae später als Teil der Wissenschaft zu etablieren. Spätestens am Anfang des 12. Jahrhunderts wird ein Konzept der Aufwertung der mechanica entwickelt, das im 15. Jahrhundert im Bereich der Malerei und Skulptur einen Höhepunkt erfahren wird, zu jener Zeit aber nicht völlig neu einsetzt. Auch wenn sozialgeschichtliche Bedingungen zu einer neuen Dimension dieses Wissenschaftsbegriffs führen, wie von Warnke gezeigt, sind seine Wurzeln für eine Geschichte der Kunsttheorie zu berücksichtigen. Die Rolle der ‚Kunst‘ ist in Hugos System nicht nur ihrem Artefaktstatus geschuldet, sondern ihrem Bild-Wert, ihrer ästhetischen Grundstruktur. Zwar läßt sie sich bei Hugo – wie gesehen – nicht eindeutig in das wissenschaftliche bzw. epistemologische System einfügen, bietet aber ein vielfältiges Reservoir zur gleichnishaften Veranschaulichung von Sachverhalten. Der „Ort der Kunst“28 im „Didascalicon“ ist weitgehend ein Ort der Ikonizität im Gleichnis: Das Kunstwerk und seine Bedingungen machen weniger anschauliche Phänomene im ‚Bild‘ erkennbar. Die Werke der Kunst gelten als Produkte der artes mechanicae, können aber als solche für sich nicht behandelt werden, weil sowohl der Modus der Naturnachahmung wie auch der Status als 26 27 28
Hugo von St. Victor: Didascalicon (wie Anm. 3), II, 22, S. 197. Vgl. Senger: Der Ort der „Kunst“ (wie Anm. 21), S. 74. Vel etiam diversa simul compilantes, quasi de multis coloribus et formis, unam picturam facere. (Hugo von St. Victor: Didascalicon [wie Anm. 3], III, 4, S. 232, Übersetzung ebd., S. 233.) Vgl. Senger: Der Ort der „Kunst“ (wie Anm. 21), die, wie schon erwähnt, ausgerechnet das Gleichnis der Statue aus ihren Überlegungen zum „Ort der Kunst“ im „Didascalicon“ ausnimmt, vgl. Anm. 24.
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Rückgewinnungsinstrument der heilsrelevanten Integrität des Menschen sich fundamental von anderen Produkten der artes mechanicae unterscheidet. Die mannigfaltige gleichnishafte Verwendung der Kunst scheint indes zwei Ziele zu verfolgen: 1. ihre Einbindung in das System, weil zunächst keine andere Ordnung zur Verfügung steht, und 2. eine Verbildlichung der ‚rein‘ handwerklichen Produkte der artes mechanicae (im Sinne ihrer theologischen Bedeutung). Grundsätzlich ändert sich hieran nichts bis zum 15. Jahrhundert. So werden Erzeugnisse der Künste sowohl in der Scholastik wie auch in der Mystik in Gleichnissen inflationär verwendet, um rein geistige Phänomene und Systeme zu erläutern und zu veranschaulichen: Wie wir noch sehen werden, „visualisiert“ Thomas von Aquin (um 1225-1274) mit ihnen die Struktur und Ordnung der Wissenschaften und der Theologie. Am Übergang zum Spätmittelalter stellt Meister Eckhart (um 1260-1327) mit Kunstwerke enthaltenden Gleichnissen die Prinzipien einer eigentlich bildlosen Imagination und Seelentätigkeit dar. Nach Eckhart hat der gläubige Mensch Gott „ane [ohne] alle mitel und ane bilder zu suchen“.29 Er erkennt den Kunstwerken eher Schaden als religiösen Nutzen zu, verwendet jedoch in hohem Maße Werke der Plastik und vor allem der Malerei, um Bibelstellen auszulegen und das Wesen und die ideale Tätigkeit der geläuterten Seele zu beschreiben. Es seien im Folgenden einige Beispiele genannt. In der „Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem“ legt er sehr umfangreich die ersten Worte des Johannesevangeliums aus, indem er u.a. Gott mit dem Maler und das Wort mit der Malkunst analog setzt: Denn es steht erstens fest, daß der Maler die Form der Gestalt und das Bild dessen, was er draußen auf die Wand malt, als eine ihm innehaftende Form besitzt. Das besagt dieser Ausspruch: im Anfang war das Wort. Zudem muß zweitens das Bild bei ihm sein als das Vorbild, auf das er hinschaut und nach dem er arbeitet – ‚Es macht aber nichts aus, ob er draußen ein Vorbild hat, dem er seine Augen zuwendet, oder eins drinnen, das er sich selbst entwirft‘, wie Seneca in einem Brief sagt. Das besagt dieser Ausspruch: das Wort war bei Gott. Wiederum ein drittes: das gemalte Bild im Geiste des Malers ist die Kunst selbst, durch die der Maler der Ursprung des gemalten Bildes ist. Das besagt der Ausspruch: Gott war das 30 Wort. 29
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Zum Beispiel in der Predigt „Renouamini spiritu“, Meister Eckhart: Werke, 2 Bde., hrsg. von Niklaus Largier. Frankfurt a.M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20, 21), hier Bd. 2, S. 189-196. Siehe auch Thomas Lentes: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Auswertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.-16. Jahrhunderts. In: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, hrsg. von Klaus Krüger und Alessandro Nova. Mainz 2000, S. 21-46, hier S. 27. Constat enim primo quod in pictore sit forma figurae et imago eius, quod depingit foris in pariete, per modum formae inhaerentis. Et hoc est quod hic dicitur: in principio erat verbum. Adhuc autem oportet secundo quod apud ipsum sit imago per modum exemplaris, secundum quod et ad quod ascipiens operatur. ‚Nihil autem ad rem pertinet, utrum foris habent exemplar, ad quod referat oculos, an intus quod sibi ipse concipit.‘, ut ait Seneca in epistula quadam. Et hoc est
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Meister Eckhart definiert hier keine Theorie der Malkunst, aber er wendet sie selbstverständlich an, um eine exegetische Aussage zu treffen. Ganz offensichtlich hat er eine sehr konkrete Vorstellung von Kategorien wie imitatio und inventio und von einer geistigen Grundlage der Kunst und setzt diese auch beim Leser bzw. Hörer voraus. Im „buoch der goetlîchen troestunge“ verwendet Eckhart ein Skulpturtheorem, um das Wesen der geläuterten, von allem Äußeren und Überflüssigen befreiten Seele zu veranschaulichen: Wenn ein Meister ein Bild macht aus Holz oder Stein, so trägt er das Bild nicht in das Holz hinein, sondern er schnitzt die Späne ab, die das Bild verborgen und verdeckt hatten; er gibt dem Holze nichts, sondern er benimmt und gräbt ihm die Decke ab und nimmt den Rost weg, und dann erglänzt, was darunter verborgen lag. Dies ist der Schatz, der verborgen lag im 31 Acker, wie unser Herr im Evangelium spricht (Matth. 13, 44).
Dieses Gleichnis von Seele und Skulptur, mit dem Meister Eckhart das biblische Gleichnis des Schatzes noch einmal auf einer Metaebene in einem neuen Gleichnis doppelt, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich für eine Kunsttheorie des Mittelalters. Auch hier wird explizit nicht über Bildhauerei geredet, aber ganz selbstverständlich ein Theorem zur Skulptur verwendet. In „De Statua“ (vor 1435) formuliert Leon Battista Alberti ganz ähnlich das Prinzip des ‚Wegnehmens‘ von Material, das er als das zweite plastische Prinzip der ‚hinzufügenden‘ Arbeit (Ton, Wachs, das Treiben von Silber) an die Seite stellt:
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quod hic dicitur: verbum erat apud deum. Rursus tertio imago depicta in mente pictoris est arte ipsa, qua pictor est principium imaginis depictae. Et hoc est quod hic dicitur: deus erat verbum. („Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem“. In: Meister Eckhart: Werke [wie Anm. 29], Bd. 2, S. 522, Z. 9-30, Übersetzung ebd., S. 523.) Es sei hier angemerkt, daß in dem Seneca-Zitat im Grunde nicht nur inventio steckt, sondern implizit auch fantasia (versus imitatio). Das bedeutet, daß bereits vor Cennino Cenninis Malereitraktat von 1390 dieses Theorem für die Kunsttheorie im Mittelalter benannt wird. Cennini formulierte in einem kurzen Prolog zum Wesen der Malerei in einem ansonsten rein technischen Handbuch: „[…] e quest’è un’arte que si chiama dipignere, che conviene avere fantasia e operazione di mano, di trovare cose non vedute, cacciandosi sotto ombra di naturali, e fermarle con la mano, dando a dimostrare quello que non è, sia.“ (Cennino Cennini: Il libro dell’arte, hrsg. von F. Brunello. Vicenza 1982, S. 3f.). „[…] und dies ist eine Kunst, die man Malerei nennt, die es erfordert, Phantasie zu haben und eine Ausführung mit der Hand zu vollziehen, um nie gesehene Dinge zu finden, die sich im Schatten der natürlichen Dinge verstecken, und sie mit der Hand festzuhalten, um zu zeigen, daß das, was nicht ist, sei.“ (Übers. H. S.) [S]ô ein meister bilde machet von einem holze oder von einem steine, er entreget daz bilde in daz holz niht, mêr er snîdet abe die spæne, die daz bilde verborgen und bedecket hâten; er engibet dem holze niht, sunder er benimet im und grebet ûz die decke und nimet abe den rost, und denne sô glenzet, daz dar under verborgen lac in dem acker, als unser herre sprichet in dem êwangeliô. (Traktat 1, Liber Benedictus, 1. Daz buoch der goetlîchen troestunge. In: Meister Eckhart: Werke [wie Anm. 29], Bd. 2, S. 322, Z. 4-11. Übersetzung ebd., S. 323.)
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Andere verminderten lediglich: genau wie diejenigen, die eine gesuchte Menschengestalt, als sei sie in einen Marmorblock eingelassen und in ihm verborgen, ans Licht befördern, indem 32 sie gleichsam das Überflüssige wegschlagen.
Meister Eckhart hält die fertige Skulptur aus Stein oder Holz, die von dem Überflüssigen befreite Form, für edel genug, Gleichnis für die Seele zu sein – der Schatz im Acker aus dem Gleichnis Christi mußte noch aus Gold sein –, obwohl er die Materialien Holz und Stein für nichtswürdig hält, wie er an anderer Stelle im Kontext einer Predigt bemerkt: „Der Mensch ist weder Stein noch Holz, denn das ist alles Unzulängliches und ‚Nichts‘.“33 Obwohl es ihm nicht darum geht, mit einem „opus superat materiam“34 ein bestimmtes Kunstwerk zu loben, ist dieser kunsttheoretische, das Werk aufwertende Grundsatz so verinnerlicht, daß er für das Gleichnis der Statue wie selbstverständlich abrufbar ist. An den Verwendungen von Kunstwerken in Gleichnissen wird ihre besondere Stellung unter den Artefakten und ein entsprechendes Bewußtsein ihres Erkenntniswertes und ihrer Eindringlichkeit deutlich. Dabei geht es nie um eine religiöse Funktion von Kunstwerken in ihrem realen Kontext, sondern um die Theorie ihrer Herstellung und ihren durch die Kunstfertigkeit entstehenden, vom Material unabhängigen Wert. Die genannten Kunsttheoreme, die in den Gleichnissen aufgerufen werden, um in verschiedenen theologischen und religiösen Bereichen Erkenntnis herzustellen, sind selbst – wie gesehen – ihrer Struktur nach nicht theologisch bedingt. Das bedeutet, daß zwar nicht über die Kunst um der Kunst willen geschrieben wird – warum sollten Theologen dies auch tun? –, die Autoren der genannten Texte aber Kenntnis der von der Theologie unabhängigen Kunsttheoreme haben und für rhetorische Zwecke über sie verfügen können.
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Alii solum detrahentes veluti qui superflua discutiendo quaesitam hominis figuram intra marmoris glebam inditam atque absconditam producunt in lucem. (Leon Battista Alberti: Das Standbild – Die Malkunst – Grundlagen der Malerei, hrsg. von Oskar Bätschmann. Darmstadt 2000, S. 143/145. Übersetzung ebd., S. 144/146.) Der mensche enist noch stein noch holz, wan daz ist allez gebreste und niht. (Predigt 76 Videte qualem caritatem dedit nobis pater, ut filii dei nominemur et simus. In: Meister Eckhart: Werke [wie Anm. 29], Bd. 2, S. 134, Z. 6f. Übersetzung ebd., S. 135.) Siehe unten Anm. 58. – Die von mir hier vorgeschlagene methodische Vorgehensweise gehört in denjenigen Bereich der Historischen Semantik, in dem man die Bedeutung von Begriffen in den Schriften nicht primär dort aufsucht, wo sie bewußt und explizit definiert werden, sondern dort, wo sie in diversen Kontexten selbstverständlich gebraucht werden. Das ist auch – wie bei unserem Beispiel – bei Begriffen innerhalb von Vergleichen und Metaphern der Fall, weil dort das Verständnis dieser Begriffe notwendigerweise vorausgesetzt wird, um anderes zu definieren.
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Kunsttheorie bei Theophilus Presbyter Der aussagekräftigste mittelalterliche Text zum Status des künstlerischen Artefakts ist „De diversis artibus“ des Theophilus Presbyter (um 1070-1125),35 verfaßt um 11001125 (also vor dem „Didascalicon“), den man als ersten kunsttheoretischen Text des Mittelalters bezeichnen könnte.36 Wurde er von der älteren Forschung noch als reines Handbuch für Werkstattrezepte und Materialkunde betrachtet, hat er in der Kunstgeschichte zuletzt von Reudenbach und Kruse auch Beachtung hinsichtlich seines theoretischen Gehaltes erfahren.37 Den eher technisch orientierten Hauptteilen sind Prologe vorangestellt, die einerseits den enzyklopädischen Charakter des ganzen Werkes betonen und zum anderen die beschriebenen artes intellektualisieren, indem ihnen höchster Erkenntnischarakter zugebilligt wird. Reudenbach und Kruse betonen beide die Fokussierung auf das aufgewertete Selbstverständnis des Künstlers,38 schränken den kunsttheoretischen Wert aber insofern ein, als hier eine „auf Bildrezeption fußende Medienanthropologie“ (Kruse)39 noch ganz im Rahmen der Theologie formuliert werde. Theophilus versteht die artes mechanicae wie sein Zeitgenosse Hugo von St. Victor als Wissenschaften, die aus einem theoretischen und einem praktischen Teil bestehen und dazu dienen, die nach dem Sündenfall verlorene similitudo Dei wiederzugewinnen. Wie Rupert von Deutz vertritt Theophilus die Ansicht, daß der Mensch sich dazu der rationalitas bedienen müsse, über die er als imago Dei auch nach dem Sündenfall verfüge.40 Zur rationalitas rechnet Theophilus auch die schöpferische Tätigkeit des Menschen, die humana sollertia, die so zum Instrumentarium der Wiedererlangung der Gottesebenbildlichkeit wird.41 Es ist daher programmatisch zu verstehen, daß 35
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Theophilus ist vermutlich identisch mit Frater Rugerus aus dem Helmarshausener Benediktinerkonvent, der dort auch als Künstler tätig war. Siehe dazu Bruno Reudenbach: Praxisorientierung und Theologie: Die Neubewertung der Werkkünste in De Diversis Artibus des Theophilus Presbyter. In: Helmarshausen: Buchkultur und Goldschmiedekunst im Mittelalter, hrsg. von Ingrid Baumgärtner. Kassel 2003, S. 199-218, hier S. 199. Theophilus Presbyter: Schedula Diversarum Artium. Ich zitiere den Text nach Erhard Brepohl: Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk, 2 Bde. Köln 1999. Siehe auch Wilhelm Hanke: Kunst und Geist. Das philosophische und theologische Gedankengut der Schrift „De Diversis Artibus“ des Priesters und Mönches Theophilus Rugerus. Bonn 1962. Trotz der zumindest partiellen Fragwürdigkeit des bei Hanke vertretenen Kunstbegriffs finden sich hier bereits die wichtigsten Argumente für eine Würdigung der Schrift als mittelalterliche Kunsttheorie. Kruse: Wozu Menschen malen (wie Anm. 25), S. 67; Reudenbach: Praxisorientierung und Theologie (wie Anm. 35), S. 209. Kruse: Wozu Menschen malen (wie Anm. 25), S. 69. Siehe Reudenbach: Praxisorientierung und Theologie (wie Anm. 35), S. 206. Reudenbach weist darauf hin, daß diese Sichtweise ein Ergebnis der Veränderung des Gottesbildes zu einer dynamisierten Auffassung zu Anfang des 12. Jahrhunderts ist. Während das Wesen Gottes zuvor als ein statisches So-Sein begriffen wurde, wird Gott nun als im Prozeß
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Theophilus die Erschaffung der Welt und des Menschen ad imaginem et similitudinem Dei (Gen 1,26) an den Anfang des ersten Prologs stellt.42 Parallel dazu beginnt der Praxisteil des ersten Buches mit den Anweisung für die Farbmischung des Inkarnats („De Temperamente colorum in nudis corporibus“).43 Die Ordnung des Textes legt somit eine Analogie zwischen dem Schöpfertum Gottes und dem des Künstlers fest. Im Gegensatz zu Rupert jedoch teilt Theophilus die von ihm behandelten Künste (Buch-, Wand- und Glasmalerei, Goldschmiedekunst) nicht den scientiae illitteralis, sondern den scientiae litteralis zu.44 Das hat nicht nur Auswirkungen für den Status des Künstlers, sondern auch für das Produkt der ars. Während Hugo den artes mechanicae nur in ihrem theoretischen Teil Erkenntniswert zumißt, hat bei Theophilus auch das Produkt, also das Artefakt selbst, eminenten Erkenntniswert. Dieser ist allerdings insofern bei Hugo für das Produkt von Bildhauerei und Malerei in nuce vorhanden, als er es als Gleichnis zur Erkenntnis des Wesens der artes verwendet. Hier könnte sich ein Ansatz zur Definition von Kunst im Mittelalter ergeben: Statt den Werken den Kunstcharakter abzusprechen, weil sie im System der Theologie funktionalisiert werden, wäre es vermutlich sinnvoller, ihren medialen Wissenschafts- und Erkenntnischarakter mehr in den Vordergrund zu stellen. Die Differenz zu einem neuzeitlichen Kunstbegriff müßte dann anders beschrieben werden, als es bisher der Fall ist. Denn auch die neuzeitliche Kunst ist der Funktionalität von gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen unterworfen, während sich allerdings das Verständnis von Wissenschaft und Erkenntnis und vor allem ihrer Gegenstände ändert. Der Gedanke kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, es sei aber daran erinnert, daß das System der Kunst im Mittelalter zumindest insoweit über eine gewisse Eigenständigkeit verfügen konnte, als Bilder nicht notwendigerweise zum Kult gehörten. Sie waren innerhalb des theologischen oder religiösen Systems ein erkenntnistheoretisches Surplus, was ihnen ein gewisses Maß an Freiheit vom System der Theologie garantierte.45 Auch
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tätiger Schöpfer gesehen (Reudenbach: Praxisorientierung und Theologie [wie Anm. 35], S. 205). Damit gehe auch eine „Nobilitierung der praktischen und materiellen Tätigkeit“ einher (ebd.). Die Frage ist allerdings, ob man das Kausalitätsprinzip hier nicht umkehren bzw. zumindest eine wechselseitige Bedingung annehmen müßte. Die Frage nach dem Warum der Aufwertung des Produzierens müßte dann noch einmal neu gestellt werden – unter Umständen auch außerhalb des theologischen Systems. Dies wird deutlich bei Bonaventura (1221-1274), für den die artes mechanicae die Prinzipien der göttlichen Schöpfung und sogar das zu Fleisch gewordene Wort durch Analogie sichtbar machen bzw. exemplifizieren. Bonaventura: De reductione artium ad theologiam 12. In: ders.: Opera Omnia. Quaracchi 1882-1902, Bd. V, S. 317-325. Theophilus Presbyter: Schedula (wie Anm. 36), Bd. 1, S. 49. Vgl. Reudenbach: Praxisorientierung und Theologie (wie Anm. 35) , S. 205. Theophilus Presbyter: Schedula (wie Anm. 36), Bd. 1, S. 53. Vgl. Reudenbach: Praxisorientierung und Theologie (wie Anm. 35), S. 205. Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang Rudolf Berliner: The Freedom of Medieval Art. In: ders.: „The Freedom of Medieval Art“ und andere Studien zum christlichen Bild, hrsg. von Robert Suckale. Berlin 2003, S. 60-75. Vorsicht geboten ist auch beim Umgang mit Äußerungen im Zusammenhang mit der Legitimation der Bilder in den Auseinandersetzungen um das alttesta-
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bezüglich dieser Aspekte könnte man sich dem Text des Theophilus noch einmal mit neuen Fragestellungen widmen, da Begriffe wie Neugier,46 die Freiheit des Künstlers,47 inventio,48 Innovation in den Bildfindungen und andere Aspekte, die wir eher der Kunsttheorie der Neuzeit zuordnen würden, dort einen prominenten und vor allem in Bezug auf die Gesamtaussagen konzeptuellen Platz haben. Hanke stellt fest, daß Begriffe wie mens, ratio, prudentia, consilium, ingenium, intelligentia, intellectus, studium, sapientia in den Prologen eine Schlüsselstellung einnehmen und mit den artes der ‚Bildenden Kunst‘ verbunden werden. Varietas, ordo und mensura des Werks werden als Ideale genannt, ohne selbst konkret theologisch begründet zu sein.49 Zu diesem Befund paßt, daß jeglicher Hinweis auf den Farbkanon der mystischen Allegorese fehlt.50 Zudem können wir davon ausgehen, daß Theophilus breit rezipiert und die „Schedula“ für Jahrhunderte zum Standardwerk über künstlerische Techniken wurde, wie zahlreiche Abschriften aus dem 13., 14. und 15. Jahrhundert deutlich machen. Es kann nicht belegt werden, daß van Eyck ein eifriger Rezipient der „Schedula“ war, aber ein Künstler, der die Ölmalerei auf ein zuvor nicht denkbares Niveau brachte, wird sich auch für die technischen Beschreibungen dieses Standardwerks interessiert haben. Daß van Eyck Argumente, die sich bei Theophilus über das Wesen und die Funktion der Kunst finden lassen, in visuelle Argumente umformt, läßt sich stellvertretend an einem weiteren Beispiel belegen. Der Prolog zum dritten Buch der „Schedula“ verbindet die Arbeit der Künstler, die Ausstattungstücke für Kirche und Kult fertigen, wie beispielsweise liturgische Geräte, mit der biblischen Nennung des Baus und der ‚künstlerischen‘ Ausstattung der Stiftshütte und des Tempels durch Salomon (Ex. 31,3), nicht
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mentliche oder kirchenpolitisch gefärbte Bilderverbot. Das oft wiederholte gregorianische Diktum, die Bilder seien der Schriftersatz für die illitterati, ist ein gutes Beispiel dafür. In einem Diskurs der Verteidigung der Bilder gegen den Ikonoklasmus mußte ihre heilsgeschichtliche oder auch frömmigkeitstechnische Notwendigkeit betont werden, die aber de facto eigentlich nicht besteht. Zwar betont Gregor den Nutzen der Bilder für die illitterati, es dürfte aber Konsens darüber bestehen, daß der größte Anteil der Kunst eher für die litterati und vor allem nicht als medialer Ersatz für Schrifttum geschaffen wurde. Theophilus bezeichnet sich im Prolog des zweiten Buches selbst als als „curiosus explorator“. (Theophilus Presbyter: Schedula [wie Anm. 36], Bd. 1, S. 45.) [A]rbitriique libertate donatus solius Conditoris sui suspiceret heißt es im Prolog zum ersten Buch. Der Künstler ist zwar in allem Gott verpflichtet, ansonsten in seiner Kunst frei und keinen Zwängen unterworfen. (Theophilus Presbyter: Schedula [wie Anm. 36], Bd. 1, S. 49.) Der Begriff „excogitare“ steht hier für die Erfindung, z.B. quicquid […] intelligere vel excogitare possis artium (was du in den Künsten verstehen und entwerfen/erfinden kannst; Übers. H. S.). (Theophilus Presbyter: Schedula [wie Anm. 36], Bd. 2, S. 16.) Per spiritum intellectus cepisti capacitatem ingenii, quo ordine qua varietate qua mensura valeas insistere diverso operi tuo (Theophilus Presbyter: Schedula [wie Anm. 36], Bd. 2, S. 25, Herv. H. S.). Vgl. Hanke: Kunst und Geist (wie Anm. 37), S. 57. Zudem weist Hanke darauf hin, daß Selektionsprinzipien bei Theophilus ästhetischer und nicht theologischer Natur sind, ebd., S. 68. Auf diese bezeichnende Lehrstelle verwies bereits Hanke: Kunst und Geist (wie Anm. 37), S. 63.
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nur, um diese künstlerische Arbeit zu legitimieren, sondern auch um sie durch die Schrift selbst aufzuwerten.51 Im Genter Retabel läßt van Eyck Maria in der Verkündigungsszene in einem Buch lesen, in dem sich folgender Schriftzug ablesen läßt, auf den mit der Marginalie eines notandum besonders verwiesen wird: dicit sapiens: ut possim edificare [...]. Der Rest ist nicht mehr lesbar; ansonsten ist auf der Seite Schrift angedeutet, die aber vermutlich nie als konkreter, zu entziffernder Text konzipiert war. Der lesbare Text bezieht sich auf II. Chronik 2,5 oder 2,6 (je nach Zählung): Quantus ego sum ut possim ei edificare domum – Wer bin ich denn, daß ich ihm ein Haus bauen könnte? Im 2. Buch der Chronik folgt auf diesen Bescheidenheitsgestus des mit dem Tempelbau befaßten Salomo das einzige Künstlerlob der Bibel. Dort ist die Rede von einem bei Hiram von Tyrus durch Salomo angeforderten Künstler, der „mit Gold, Silber, Kupfer, Eisen, rotem Purpur, Scharlach und blauem Purpur arbeiten kann und der Bildwerk zu schnitzen versteht“ (II. Chronik 2,6 bzw. 7). Van Eyck wiederholt hier meiner Meinung nach eine Argumentation des Theophilus, indem er sich selbst mit der Ausführung des Retabels als Ausstattungsstück einer Kirche in diese biblische Tradition stellt.52 Die „Schedula“ des Theophilus repräsentiert sicher nicht die generelle Denkweise des Mittelalters über ‚Kunst‘. Sie zeigt aber, daß dieses Kunstkonzept vor 1125 – gar im klösterlichen Kontext – möglich war. Und sicherlich haben wir es sowohl mit Produktionsbedingungen als auch mit Rezeptionserwartungen zu tun, die dem Rechnung tragen. Abgesehen von dem Text des Theophilus, von dem zwar bis in das 18. Jahrhundert Abschriften verbreitet wurden, der jedoch keine unmittelbare Nachfolge erfuhr, wurden die bildenden Künste selten um ihrer selbst willen, sondern in ganz bestimmten außerkünstlerischen Kontexten thematisiert. Eine Ausnahme bilden allerdings die Signierungen durch die Künstler, die Aufschluß über die Frage nach der Auffassung des ‚Produzierens‘ eines Kunstwerks und der Stellung dieser ars und seiner Vertreter geben. Claussen, der sich ausführlich mit mittelalterlichen Signaturen in Architektur und Plastik und dem Selbstverständnis der Künstler befaßt hat, hält verschiedene Phasen von 1100 bis 1300 fest.53 Die Zeit von 1100 bis 1150 – jene Zeit also, aus der die „Schedula“ des Theophilus datiert – bezeichnet er als heroische Phase, in der in den Signaturen die Tugenden des Künstlers (oder Bauherrn) und die hervor51
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Theophilus Presbyter: Schedula (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 16. Theophilus ist der erste, der Ex. 31,3 auf die zeitgenössischen Künstler bezieht. Vgl. Hanke: Kunst und Geist (wie Anm. 37), S. 102. Theophilus weist mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß die Werkmeister von Stiftshütte und Tempel mit Namen berufen werden. Zur Nennung des Bezaleel als Werkmeister der Stiftshütte bei Rupert von Deutz siehe Whitney: Paradise Restored (wie Anm. 3), S. 79. Siehe dazu ausführlicher Heike Schlie: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch. Berlin 2002, S. 37-39. Peter Cornelius Claussen: Früher Künstlerstolz. Mittelalterliche Signaturen als Quelle der Kunstsoziologie. In: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter, hrsg. von Karl Clausberg u.a. Gießen 1981, S. 7-34.
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ragenden Eigenschaften des Werks genannt werden. Nach 1150 sind Signaturen zahlreicher vertreten und zeichnen sich durch größere Einheitlichkeit aus. Ab 1200 werden Signaturen wieder komplexer und zielen primär auf die Gelehrsamkeit des Künstlers ab (Magister doctissimus). Eine erneute Vereinfachung der Signaturen seit 1250 deutet Claussen als Indiz dafür, daß sich zu dieser Zeit das Bild vom Künstler als das eines Gelehrten bereits durchgesetzt habe und deshalb eine Signatur wie „Hoc opus fecit Arnulfus“ oder „Vasselletto me fecit“ ausreiche. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, daß zahlreiche Befunde auf verschiedenen Überlieferungsebenen für eine Art ‚Kunstrevolution‘ um 1100 sprechen.54 Aus dem Gesamtbild des mittelalterlichen Schrifttums zu Malerei, Bildhauerei und Architektur läßt sich m.E. schließen, daß diesen artes große Aufmerksamkeit zukam und sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht ausgesprochen wirkmächtig waren. Sie nehmen im theologisch-philosophischen System insofern eine Sonderstellung ein, als sie in die als scientiae illitteralis eingestuften artes mechanicae nicht einzuordnen sind, aber dort in wirksamen Gleichnissen fungieren, während sie – wie Theophilus zeigt – nur als scientiae litteralis in ihrem Wesen konkret beschreibbar sind. Der klassische Weg der Kunstgeschichte wäre der zu sagen, daß es im strengen Sinn im Mittelalter keine Kunst und keine Kunsttheorie gibt, weil die Kunst eng und untrennbar an ihre religiösen Funktionen gebunden ist. Dies ist jedoch meiner Meinung nach zu kurz gegriffen. Im Gebrauch der Gleichnisse reden Hugo von St. Victor und Meister Eckhart ja gerade nicht von der möglichen religiösen Funktion der Bildhauerei selbst. Richtig ist, daß wir in den Schriften kein ausdifferenziertes Kunstsystem im neuzeitlichen Sinne vorfinden. Das heißt aber nicht, daß es keine theoretische Reflexion zu Werken der Malerei, Skulptur und Architektur innerhalb und außerhalb des theologischen Systems gebe, die über das rein Handwerkliche hinausginge. Im Gegenteil, der allgemeine Gebrauch ihrer Werke als wirkmächtige Gleichnisse setzt eine solche Reflexion geradezu voraus. Wie also könnte der methodische Zugriff auf ein mittelalterliches theoretisches Verständnis von Kunst aussehen? Allein auf die Texte können wir uns hier nicht beschränken, zumal sie uns zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Als These sei formuliert, daß selbstreferentielle Aussagen ganz bewußt von den Künstlern in den Werken selbst positioniert werden, um sich an einem Kunstdiskurs zu beteiligen. Es gibt in der mediävistischen Forschung bereits Ansätze zu einer solchen Sicht – auch in der Literaturwissenschaft, dies dürfte vor allem für den Autorbegriff gelten.55 Sehr breit vertreten 54
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Dazu zählt u.a. auch das Wiederaufkommen monumentaler Plastik in Frankreich und Spanien, das vor allem in Spanien in seiner Art der Aufnahme antiker Vorbilder von Phänomenen begleitet wird, die man fast als Tabubrüche bezeichnen könnte. Siehe dazu den Beitrag von Stefan Trinks in diesem Band. Timo Reuvekamp-Felber: Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jhs. In: ZfdPh 120 (2001), S. 1-23;
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wird ein solcher Ansatz für die nordalpine Malerei des 15. Jahrhunderts, für die eine schriftliche Kunsttheorie fehlt, die aber unübersehbar eine solche in den Werken explizit macht.56
Jan van Eyck als architector Jan van Eyck schuf mit der programmatischen Zeichnung der Heiligen Barbara (Abb. 1) ein Werk, das die Malerei in das theologisch-philosophisch definierte wissenschaftliche System der artes einfügen sollte. Dabei geht er – zwei Jahre nach „De Pictura“ von Alberti – eigene Wege, um diesen Anspruch samt einer Annäherung seiner Kunst an die artes liberales zu formulieren. Indem er in der Tradition der Schriften des Victoriners und des Theophilus argumentiert, erweitert er diese zu einem komplexen, bildsprachlichen System. Die kleine Tafel mit dem prominent dargestellten Turmattribut ist ein ungewöhnliches, weil in vielfacher Hinsicht von der Norm abweichendes Werk. Auf einer mit weißem Kalk und Knochenleim präparierten Holztafel, die mit Rahmung 41,2 x 27,5 cm (ohne Rahmung 31 x 18 cm) mißt, hat van Eyck eine Vielzahl graphischer Techniken zur Anwendung gebracht.57 Die meisten Partien sind durch Pinselzeichnung entstanden, für die van Eyck eine schwarze Farbe auf Wasserbasis verwendete, die er je nach Bedarf verdünnte, sodaß sich ein Farbspektrum von hellgrau bis schwarz ergab. Mit einem stichelähnlichen Gerät wurden an verschiedenen Stellen Einritzungen in den Kreidegrund eingebracht. So finden sich sehr feine vertikale, mit einem Lineal ausgeführte Linien an der Architektur sowie oben eine horizontale Linie, die die Höhe markiert. Diese Ritzlinien dienen der Orientierung für die Gesamtstruktur, die parallel zu diesen Linien freihändig ausgeführt ist. Sie sind nur sichtbar, wenn sie sich unbeabsichtigt mit Farbe oder Schmutz füllen, und oft entsprechen sie auch nicht einer mimetischen Erfassung des Motivs. Es lassen sich weitere Einritzungen nachweisen, die van Eyck als konkrete Zeichentechnik eingesetzt hat, so zum Beispiel am Palm-
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Corinna Laude: Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im Eneasroman und im Erec. In: „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, hrsg. von Thomas Rathmann und Nikolaus Wegmann. Berlin 2004 (Beiheft zur ZfdPh 12), S. 209-240; einen Überblick über die altgermanistische Forschung zur Autorschaftsproblematik zuletzt bei: Dorothea Klein: Inspiration und Autorschaft. Ein Beitrag zur mediävistischen Autordebatte. In: DVjs 80 (2006), S. 55-96, hier S. 56-64. Vgl. Preimesberger: Zu Jan van Eycks Diptychon (wie Anm. 6); Hans Belting / Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert niederländischer Malerei. München 1994; Schlie: Bilder des Corpus Christi (wie Anm. 52). Der technische Befund nach Rachel Billinge u.a.: The National Gallery, London and University of Louvain-la-Neuve: The Saint Barbara. In: The National Gallery. Investigating Jan van Eyck, hrsg. von Susan Foister u.a. Turnhout 2000, S. 41-48.
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zweig, an den Händen, dem Buch und einigen Falten des Gewandes. Diese Einritzungen sind freihändig ausgeführt, tiefer und breiter als die Hilfslinien und zum Teil durch sehr feine Schraffuren begleitet. Diese Linien wurden mit Farbe angefüllt und erscheinen aufgrund ihrer Tiefe sehr dunkel. Weitere Einritzungen wurden wie in einem sgraffito auf bereits gezeichneten Partien angebracht, um Aufhellungen zu erzielen, wie bei dem Tretrad des Kranes, der durch das dreigeteilte Fenster des Turmes sichtbar wird (Abb. 2). An einigen Stellen findet sich weiße Ölfarbe, am auffälligsten im Maßwerk des dreiteiligen Fensters und als Weißhöhung an verschiedenen plastisch herausgearbeiteten Elementen. Die gelbe und blaue Farbe des Himmels wurde vermutlich Ende des 16. oder im 17. Jahrhundert aufgebracht, dies läßt sich aus der Partikelgröße des Lapislazuli schließen. Der Rahmen hat eine vergleichsweise aufwendige Profilierung und simuliert zwei verschiedene Marmorarten. Der äußere Rahmen imitiert graugrünen Marmor und hat eine relativ einfache und zurückhaltende Struktur. Der innere Rahmen simuliert nicht nur roten Marmor, sondern gibt vor, aus mehreren zugerichteten Steinblöcken geschnitten zu sein, die sich in der Struktur der Marmorierung und Äderung variantenreich unterscheiden (Abb. 3). Die sogenannte gerade Gehrung, das Verbinden der Marmorrahmung in den Ecken im Winkel von ca. 45 Grad, ist ebenfalls reine malerische Simulation (s. Schemazeichnung, Abb. 4), da die Holzleisten des Rahmens ohne Gehrung verbunden sind (s. Schemazeichnung, Abb. 5).58 Letzteres ist in handwerklicher Hinsicht die einfachere, billigere Lösung, d.h. daß die durch Schreinerleistung entstandene, tatsächlich handwerkliche, materielle Rahmung durch die Kunst der Malerei aufgewertet wird. Dies entspricht der aus Ovids „Metamorphosen“ stammenden Devise „Opus superat materiam“, das seit der ottonischen Zeit zur Preisung von Kunstwerken verwendet wurde.59 Das Dissimulieren der ‚Gemachtheit‘ läßt sich mit Forderungen des Theophilus vergleichen, der von seinen Künstlerkollegen fordert, die konkreten Spuren des Herstellungsprozesses und die ‚Materialverhältnisse‘ bzw. den Verbund der Einzelteile für das Auge unsichtbar zu machen, um beim Betrachter Bewunderung für das Werk zu erzeugen.60
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Siehe dazu Hélène Verougstraete-Marcq / Roger van Schoute: Cadres et supports dans la peinture flamande au 15e et 16e siècles. Heure-le-Romain 1989, S. 127, mit Schaubild der Bauweise der Rahmung. Thomas Raff: „Materia superat opus“. Materialien als Bedeutungsträger bei mittelalterlichen Kunstwerken. In: Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck und Kerstin Hengevoss-Dürkopp. Frankfurt a.M. 1994, S. 17-28, hier S. 25. Raff übersetzt sinngemäß: „Der Wert des Kunstwerks übertrifft den Wert des verwendeten Materials“. Siehe die Anweisungen zur Befestigung der Henkel an Goldschmiedearbeiten von Theophilus Presbyter: Schedula (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 80f., und zur Herstellung von mit Goldblättern hinterlegten Elfenbeingriffen von Messern (ebd., S. 271). Siehe dazu auch Hanke: Kunst und Geist (wie Anm. 37), S. 55.
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Abb. 2: Detail aus Abb. 1 (Fenster mit Kranrad)
Abb. 3: Detail aus Abb. 1 (rechte obere Ecke des Rahmens mit gemalter gerader Gehrung)
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Abb. 4: Schemazeichnung der gemalten Gehrung des Rahmens
Abb. 6: Detail aus Abb. 1 (Signatur)
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Abb. 5: Schemazeichung des Aufbaus des Rahmens und der Verbindung der Holzleisten
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Unten trägt der Rahmen die Signatur „JOĤES DE EYCK ME FECIT“ und das Jahr 1437 in wie in den Stein eingemeißelten, antikisierenden Lettern (Abb. 6). Auch die Rückseite der Rahmung und der Tafel, die mit der gleichen Grundierung belegt ist wie die Vorderseite, hat van Eyck mit verschiedenen Farben im Sinne einer Marmorimitation gefaßt. In die Ecken des Rahmens sind auf beiden Seiten Nägel mit runden Köpfen eingebracht worden, was auf die beidseitige Rezeption eines aufliegenden Bildes schließen läßt. Die technische Beschreibung macht deutlich, daß wir es mit einem sehr speziellen Objekt mit singulärem Werkstatus zu tun haben. Gegen die Funktion als Vor- oder Nachzeichnung spricht bereits der Bildträger selbst. Letzterer ließe eine Unterzeichnung vermuten, doch die Art der Zeichnung weicht von anderen Unterzeichnungen van Eycks ab, vor allem die verschiedenen Techniken und die subtilen Reliefstrukturen wären unter der Malerei nicht mehr sichtbar gewesen. Das entscheidende Gegenargument ist aber, daß das Werk eigenhändig gerahmt, signiert und datiert ist und sorgfältig zu einer die Bildfläche schonenden Betrachtung ausgerüstet wurde. Doch kennt die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts die autonome Zeichnung noch nicht, auch wenn Alberti zwei Jahre vor Entstehung der Tafel auf die selbstgenügenden Qualitäten einer guten Zeichnung hingewiesen hatte: Et non raro pur si vede solo una buona circoncriptione, cioè uno buono disegno, per se essere gratissimo.61 So muß man davon ausgehen, daß Technik und Erscheinungsform in diesem Fall einen eigenen semantischen Gehalt haben, dem innerhalb des gesamten Bedeutungsgefüges der Tafel schon allein deshalb eine gewisse Priorität zukommt, weil ein Ausnahmestatus betont wird, dem weitere Bedeutungsstrukturen inhärent sind. Winkler war der erste, der sich dafür aussprach, hier nicht eine Unterzeichnung, sondern ein abgeschlossenes Werk zu sehen, mit dem Hinweis auf die Detailfreudigkeit, den Rahmen und die Signatur.62 Panofsky schlug eine Art Kompromiß vor: Das Werk sei als Unterzeichnung begonnen worden, dann aber habe van Eyck es bewußt als autonome Zeichnung belassen.63 Die meisten Autoren sind diesen beiden Ansätzen gefolgt. In dem Katalog der Antwerpener Ausstellung altniederländischer Zeichnungen von 2002 hat Zeman dagegen erneut die Unterzeichnungsthese vertreten. Er hält das 61
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„[…] nicht selten sieht man, daß ein guter Umriß, d.h. eine gute Zeichnung, für sich allein auf das Angenehmste wirkt.“ (Leon Battista Alberti: Della Pittura. In: Leone Battista Albertis kleinere kunsttheoretische Schriften, hrsg. und erläutert von Hubert Janitschek. Osnabrück 1970 (1877), S. 100f.) Friedrich Winkler: Jan van Eyck’s Madonna von Ypern. In: Pantheon 4 (1929), S. 490-494, hier S. 493. Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character. Cambridge 1953, S. 185. „I do not believe, however, that it can be accepted as typical of Eyckian underdrawings.“ Und in der Tat weiß man heute dank der technischen Untersuchungsmöglichkeiten der Infrarotreflektographie – genauer als Panofsky es wissen konnte –, daß sich die Zeichnung erheblich von Unterzeichnungen unterscheidet.
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Werk für unvollendet, was er so auch unter der Sparte „Etat de conversation“ bei den technischen Daten vermerkt, ohne dafür neue überzeugende Argumente zu nennen oder die Gegenargumente wirklich zu entkräften.64 Vor allem aber blendet Zeman vollständig das Thema und die Ikonographie des Werkes aus, die ebenfalls ein im Entstehen begriffenes Werk beinhaltet. Bisher ist diese besondere mediale Sinnstruktur in der Forschung kaum thematisiert worden. Dhanens sah die vollendete Nichtvollendung in Zusammenhang mit dem nicht vollendeten Turmbau als moralisches Argument für die Wertlosigkeit des menschlichen Tuns und aller Artefakte.65 Belting interpretierte die Nichtvollendung als Selbstreferenz eines Kunstwerkes, das seinen eigenen Werkprozeß zeigt.66 Dhanens Deutung setzt voraus, daß van Eyck sein eigenes Werk in eine Reihe der nutzlosen Artefakte stellen möchte, während Belting nahelegt, daß das Bild faktisch ein Stadium des Werkprozesses festhält, womit wir wieder bei der Unterzeichnung und dem damit verbundenen und zumindest virtuellen Vorhandensein einer Malschicht über der Zeichnung wären. Dennoch möchte ich an diese beiden Thesen anknüpfen. Es geht bei unserem Bild um eine Auseinandersetzung mit dem Status und Wert des Artefakts und um die kategoriale Trennung von Wissenschaft und Ausführung bzw. von Idee und Material im Werkprozeß. Die Tafel mit der Zeichnung ist ein programmatisches ‚Kunststück‘, und es ist sicher kein Zufall, daß es sich im 16. Jahrhundert wohl im Besitz eines Künstlers befand, der eine Ode auf den Genter Altar verfaßt hat.67 Die Heilige Barbara sitzt auf einer Anhöhe mit einem bis an die seitlichen Bildränder in reichem Faltenwurf ausgebreiteten Gewand. Mit der Rechten blättert sie in einer illuminierten Schrift, deren aufgeschlagene Seite eine aufwendige Initiale andeutet (Abb. 7). In der rechten Hand trägt sie die Märtyrerpalme, auffällig ist hier allerdings, daß sie diese nicht nur wie ein Schreibgerät faßt, sondern den Daumen an die erwähnte Seite hält, um sie festzuhalten. Die Begrenzungslinie des Hügels oder der Anhöhe trennt die Heilige von dem Bereich des Mittelgrundes des Bildes, aus dem sich ihr Attribut, in diesem Fall ein mächtiger, im Bau befindlicher spätgotischer Turm erhebt. Eine weitere Landschaftslinie nimmt die Führung der vorderen Hügellinie auf und trennt den Bereich des Turms von einer Hintergrundlandschaft, die Distanz und Weite suggeriert. 64 65 66
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Georg Zeman: Eintrag „La Sainte Barbe“. In: Dessins de Jan van Eyck à Hieronymus Bosch, hrsg. von Fritz Koreny, Ausstellungskatalog. Antwerpen 2002, S. 39. Elisabeth Dhanens: Hubert und Jan van Eyck. Königstein/Taunus 1980, S. 265. Belting / Kruse: Die Erfindung des Gemäldes (wie Anm. 56), S. 67. Goodgal hielt die Zeichnung für vollendet, „highly satisfactory in itself“, schränkte ihre Funktion aber auf die Ausbildung der Mitglieder der Werkstatt ein (Dana Goodgal: The Iconography of the Ghent Altarpiece. Ann Arbor 1983, S. 148). Die Tafel ist vermutlich identisch mit einem Werk im Besitz des Lucas de Heere, das Karel van Mander 1604 erwähnt. Zu dieser Identifikation siehe Dhanens: Hubert und Jan van Eyck (wie Anm. 65), S. 254.
Ein „Kunststück“ Jan van Eycks
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Abb. 7: Detail aus Abb. 1 (Das Buch der Heiligen Barbara)
Abb. 8: Detail aus Abb. 1 (Reitergruppe, Steinbruch, Transport der Steine und des Mörtels)
Der gesamte Streifen des Mittelgrundes, den Architektur und Heiligenfigur frei lassen, ist mit Personen und Handlungen gefüllt, die im Zusammenhang mit dem Bau des Turmes stehen. Am linken Bildrand befindet sich der Steinbruch, in dem Arbeiter mit großen Hebeln Steine brechen und lösen; ein weiterer Arbeiter richtet die gewonnenen Steine mit einer Spitzhacke grob zu (Abb. 8). Unterhalb dieser Szene wird Mörtel gemischt. Steine und Mörtel werden in Karren und auf Tragen auf die rechte Seite des Turms transportiert, dabei differenziert van Eyck sehr subtil die räumliche Dynamik, indem er beiden Gruppen verschiedene Richtungsbewegungen zuordnet. Am rechten Bildrand ist das Baumaterial angehäuft, das die Steinmetze unter einem am Turm angebrachten hölzernen Dach bearbeiten (Abb. 9). Rechts oberhalb des Steinhaufens vermißt ein weite-
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rer Steinmetz einen noch roh behauenen Stein. Zwei übereinandergelegte Werkstücke zeugen von einer bereits ausgeführten Paßprobe, wie man an der Fuge erkennen kann. Van Eyck zeigt verschiedene bearbeitete Stücke, die eine Figur umgeben, in der wir mindestens den die Planung ausführenden Baumeister sehen müssen, vermutlich aber auch den Architekten, der die Risse zu dem Bau angefertigt hat. Er weist mit dem Meßstab in der linken Hand auf die Arbeit der Steinmetze und mit der rechten auf die Höhe des Turmes, zu der die behauenen Steine mittels eines Kranes emporgezogen und paßgenau eingesetzt werden (Abb. 3). Jeder einzelne Arbeitsschritt, alle wirkenden Kräfte werden gezeigt, wie auch das Tretrad des Kranes, das durch das dreiteilige Fenster der Turmfassade sichtbar wird (Abb. 2). Neben dem Produktionsprozeß werden auch Szenen einer Rezeptionsdynamik gezeigt: Eine Reitergruppe nähert sich auf der linken Seite und sieht den Turm zu diesem Zeitpunkt aus der Distanz (Abb. 8). Links am Portal steht eine Gruppe und blickt zum Turm empor (Abb. 8), während sich rechts vor dem Turm eine Gruppe von Patriziern eingefunden hat, die – wenn sie auch in der Zuwendung zum Betrachter dem Turm den Rücken kehrt – ebenfalls für eine Nahbetrachtung von Abb. 9: Detail aus Abb. 1 Turm und Baustelle steht (Abb. 9). (Steinmetze, Architekt, Paßprobe)
Die Ikonographie des Bauens ist für das Mittelalter hauptsächlich im Zusammenhang des babylonischen Turms gegeben. Solche Abbildungen finden sich vor allem in Weltchroniken, in Handschriften von Augustinus’ „Gottesstaat“ und in Heilsspiegeln, wo der Bau als alttestamentlicher Typus typologisch auf Pfingsten bezogen wird. Die babylonische Sprachverwirrung präfiguriert das Sprechen der Apostel in neuen Zungen. Zudem gilt der Turm zu Babel als Negativpendant des Templum Salomonis, und als solches ist er zugleich auch negativer Typus zum Kirchenbau, zur Ecclesia materialis. Dies zeigt die Miniatur aus dem Stundenbuch des Herzogs von Bedford, das zwischen 1424 und 1430 entstanden ist und wie nahezu alle vergleichbaren Abbildungen eine gewisse Ambivalenz beinhaltet: Die zeitgenössische Bautechnik wird mit dem Scheitern des Bauwerks verbunden, angezeigt durch das Eingreifen der Engel und die herabstürzenden Bauleute (Abb. 10).68 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun68
Seit dem 12. Jahrhundert war eine positive Deutung der Sprachverwirrung möglich, da die Sprache selbst als Erfindung und Aufbau der ratio galt, und der Bildtypus wurde als Präfiguration des Pfingstwunders eingesetzt, siehe Günther Binding: Der mittelalterliche Baubetrieb in zeitgenössischen Abbildungen. Darmstadt 2001, S. 11. Auf die Ambivalenz und die Heterogenität der
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derts ist eine Flut von Darstellungen des Babylonischen Turmes zu verzeichnen, die sowohl negativ im Sinne von menschlicher Hybris und Anmaßung besetzt sein können, aber auch positiv im kunsttheoretischen Sinne die fantasia verbildlichen, die in der Malerei nicht baubare Werke verwirklichen kann.69 Am Ende des 16. Jahrhunderts bestimmte der Kontext des jeweiligen Werkes, ob die Darstellung als Ausdruck des Künstlerstolzes oder aber als Mahnung vor menschlicher Hybris zu lesen ist. Daher konnten die Nürnberger Steinmetze das Sujet im Jahre 1587 im Sinne einer Corporate Identity auf eine Zunftlade malen lassen.70
Abb. 10: Turmbau zu Babel, Stundenbuch des Herzogs von Bedford, London, British Library, Add. Ms. 18850, f. 17v
69
70
Halten wir einstweilen fest, daß van Eyck die zu seiner Zeit bekannten Darstellungen des babylonischen Turmbaus als eine Art Vorlage verwendet hat. Gerade die Miniatur im Bedford-Stundenbuch ist in vielfältiger Hinsicht vergleichbar. Auch hier haben wir es beispielsweise mit einer weiten Landschaft zu tun, die auf der linken Seite Architektur aufweist; einer dieser Türme scheint sogar zitiert. Für van Eycks Zwecke ist der Babylonische Turm aber im 15. Jahrhundert noch zu negativ besetzt, und daher verlegt er die Schilderung der Bautätigkeit in den Zusammenhang nicht nur eines anderen
Exegese sowie der Semantisierung in den mittelalterlichen Darstellungen wies auch Minkowski hin (Helmut Minkowski: Vermutungen über den Turmbau zu Babel. Freren 1991, S. 55). Vgl. Susanne Kolter: Die gestörte Form. Zur Tradition und Bedeutung eines gestörten Topos. Weimar 2002, S. 86. Kolter sieht hier auch eine Verbindung zur Gattung der Utopie. Wegener weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die durch Gottes Strafe für die Hybris erfolgte Sprachverwirrung im 16. Jahrhundert aufgrund eines erstarkenden Nationalbewußtseins und der Zunahme der Bedeutug der Landessprachen durchaus positiv besetzt war. Den Grund für den semantischen Wandel sieht sie in der Technikfaszination der Zeit, da die Ikonographie besonders häufig bei mechanischen Apparaten und Uhren auftritt (Ulrike Wegener: Die Faszination des Maßlosen. Der Turm zu Babel von Pieter Brueghel bis Athanasius Kircher. Hildesheim 1995, S. 12). Vgl. Wegener: Faszination des Maßlosen (wie Anm. 69), S. 13. Farbabb. der Flügellade bei Minkowski: Vermutungen (wie Anm. 68), Abb. 507.
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Bauwerks, sondern in einen Kontext, der nicht von einem wie auch immer gearteten Scheitern des Bauwerks geprägt ist. So ist der Turm hier nicht nur Attribut der Heiligen Barbara, sondern pars pro toto einer im Bau befindlichen Kirche. Innerhalb der Planimetrie erscheint Barbara als Fundament der Kirche, gemäß der Metapher der Apostel und Heiligen als Fundament der Ecclesia spiritualis. Der Bau der irdischen Kirche ist vom Bau des Himmlischen Jerusalem nicht zu trennen. In den Kirchweihpredigten des Gottfried Babion vom Anfang des 12. Jahrhunderts wird letzteres wie folgt beschrieben: „Die Stadt, auch Ecclesia genannt, wird im Himmel gebaut, die Steine aber werden auf der Erde zugerichtet und dann in den Himmel erhoben. Für die Arbeit werden in der diesseitigen Welt viele Arbeiter benötigt. Bevor die Engel die vorbereiteten Steine abholen, gehen diese durch die Hand der artifices, der Kunstfertigen, in der Gestalt der Erzbischöfe, Bischöfe und Priester, die wiederum die operarii, die Werkleute, beaufsichtigen und unterrichten.“71 Barbara war aus gutem Grund Patronin der Architekten und Bauleute. Der Legende nach hatte sie ein Badehaus bauen lassen, in das sie ein dreiteiliges Fenster brechen ließ, welches die Trinität symbolisieren sollte. Diese Tat, ihr sichtbares Bekenntnis, führte letztlich zu ihrem Märtyrertod. Die im 15. Jahrhundert rezipierte Legendenversion berichtet von einem Streitgespräch mit den Handwerkern, die den Sinn der Änderung des von Barbaras Vater angefertigten Planes mit zwei vorgesehenen Fenstern nicht verstehen und ihrem Wunsch erst folgen, nachdem sie sich bereit erklärt, selbst die Verantwortung zu übernehmen.72 Barbara erfindet also gleichsam die christliche Architekturikonologie. Die fortdauernde Notwendigkeit, die Ecclesia auf die durch die Apostel gelegten Fundamente in einem permanenten Bauvorgang zu errichten, zieht sich durch das Schrifttum des Mittelalters. Hier sind die Heiligen konkret als die Bausteine der Kirche angesprochen. Barbara ist als ein solches Exemplum zu sehen; mit ihrem Bekenntnis und ihrem Märtyrertod hat sie sich in das Gebäude eingefügt. Durch das dreibahnige Fenster, quasi die heiligste Stelle im Bild, ist ein riesiger Kran zu sehen, die von Menschen erfundene und bewegte Maschinerie, die den gewaltigen Turmbau möglich macht. Wäre die Tafel die Unterzeichnung für eine Malerei, so würden wir das Bild der Gattung des privaten Andachtsbildes zurechnen. Barbara wäre die Adressatin der Gebete des Betrachters. In dieser Funktion öffnet sie das Buch auch für seine Blicke – 71
72
Gottfried Babion: Sermones de Sanctis 83, In dedicatione ecclesiae II, PL 171, 733A-736B. Vgl. Günther Binding: Planen und Bauen im frühen und hohen Mittelalter nach den Schriftquellen bis 1250. Darmstadt 2002, S. 23, dort auch die oben zit. Übers. Helmut Eberhart: Hl. Barbara. Legende, Darstellung und Tradition einer populären Heilgen. Graz 1988, S. 17f., 26f. Zu der Überlieferungsgeschichte der Barbaralegende siehe auch Baudoin de Gaiffier: La Legende latine de Sainte Barbe par Jean de Wackerzeele. In: Analecta Bollandia 77 (1959), S. 5-41. Barbara findet erst in den im 14. und 15. Jahrhundert angefertigten Abschriften Eingang in die 1263-1273 verfaßte „Legenda Aurea“ des Jacobus von Voragine, in Folge der zunehmenden Popularität der Heiligen.
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vielleicht hat er selbst auch einen Gebetstext vorliegen – und ist Garantin der Fürbitte beim dreieinigen Gott, der in dem dreiteiligen Fenster des Turmes präsent ist und zu dem sie im Bild visuell vermittelt. Der Betrachter, der sich ein solches Bild leisten konnte, wußte, daß er selbst zu einem lebendigen Stein der Ecclesia werden sollte. Durch seine Gebete richtete er sich als Baustein der Kirche zu, bzw. die Gebete waren selbst die Steine der Kirche. Beide Traditionen finden sich in den theologischen Schriften. Beim Betrachten des Bildes und bei der Rezitation der Gebete sieht der handelnde Rezipient die Auswirkung seiner ausgeübten Frömmigkeit. Die Handlungen vor und im Bild werden zu einer Sinneinheit zusammengeschlossen – das Bild wird gleichsam erst durch Performanz sinnfällig. Die im Bild minutiös geschilderte Behandlung der Steine ist eine Metapher der Heilskarriere eines jeden einzelnen „lebendigen Steins“: Das Herausbrechen aus dem Steinbruch ist die seperatio, der Sündenfall; das Glätten und Bearbeiten der Steine die politio, das Fegefeuer; die positio, das Einfügen der Steine, bedeutet das Erheben in den Himmel.73 Auch dies ist ein Aspekt mittelalterlicher Produktivität. Aber es steckt weit mehr in diesem bizarren Werk als die theologischen und frömmigkeitstechnischen Implikationen eines Andachtsbildes, und es ist einmal mehr zu betonen, daß das Erscheinungsbild des Werkes auf die Zeitgenossen weit irritierender gewirkt haben muß, als wir uns dies heute vorstellen können. Neben der medialen Besonderheit der Zeichnung fällt die minutiöse Systematisierung des Bauhergangs mit der fortschreitenden Dynamik von links nach rechts auf, die man auf einer abstrakten Ebene als Verwandlung der Materie in Form bezeichnen könnte. Der Architekt auf der rechten Seite ist als Figur nicht nur durch vergleichsweise viel leeren Raum um ihn herum betont, sondern durch die planimetrische Führung des Palmzweiges nobilitiert (Abb. 1 und 9). Das Bild verlangt ein längeres und genaueres Hinschauen und legt in seiner Detailgenauigkeit nahe, daß van Eyck einen dezidiert kunsttheoretischen Anspruch mit dem Werk verbindet. Das Bild mit der Heiligen Barbara richtet sich nicht nur an den Andachtswilligen, sondern vor allem an ein gelehrtes Publikum. Mittels einer Zeichnung, in die er eine modifizierte Architekturzeichnung und die Figur eines Architekten einbringt, thematisiert van Eyck seinen Status als Künstler und den Status der Malerei, indem er sich als Architekt und die Kunst als Architektur identifiziert. Die Grundlage der Formwerdung in der Architektur, die Zeichnung, wird als Grundlage der Formwerdung in der Malerei postuliert und damit einer ganz konkreten konzeptionellen Eigenleistung des Künstlers anheimgestellt, was um 1437 keine Selbstverständlichkeit darstellt. Die dem Architekten bereits längere Zeit zugebilligte scientia wird so auf den Maler übertragen.
73
Diese Auslegung findet sich in der dritten Kirchweihpredigt des Gottfried Babion: Sermones de Sanctis 83, In dedicatione ecclesiae II, PL 171, 739c-743c. Vgl. Binding: Planen und Bauen (wie Anm. 71), S. 24.
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Vom 12. bis 14. Jahrhundert hatte der Beruf des Architekten eine kontinuierliche Aufwertung seines Status erfahren, was eng mit einer neuen medialen Bedeutung der Architekturzeichnung zusammenhing.74 Zuvor änderte sich das Konzept eines Baus mit jedem Wechsel des Magister operis und man orientierte sich an rohen Ritzzeichnungen an den Wänden bereits fertiggestellter Bauteile. Die Steine wurden vor Ort zugerichtet und eingesetzt, wie sie paßten. Das änderte sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, als man Steine nach Einzelschablonen fertigte und Fugenpläne im Aufriß benutzte. Einerseits ist dies ein Kennzeichen früher Industrialisierung, weil man die Steine nach Plan im Winter vorfertigen konnte, wenn der Baubetrieb selbst eingestellt war, andererseits sind Schablonen und Fugenplan maßgeblich für eine Arbeitsteilung, die das Planen, Konzipieren und Berechnen deutlich von der manuellen Zurichtung und Verfugung der Steine trennt. Die Bauweise der Hoch- und Spätgotik verlangte nicht nur die breite Kenntnis geometrischer Regeln, sondern auch eine verläßliche Planung, die für den exakten Steinschnitt unverzichtbar war und seit der Verwendung sehr großer Werkstücke bereits für den Bruch der Steine berücksichtigt werden mußte75 – insofern zeigt van Eyck wirklich die ganze Bandbreite an Handlungsvorgängen der ars, die durch das Konzept des Architekten ihre Ordnung erhalten. Links oberhalb des Portals hat van Eyck sehr deutlich ein sauberes und regelmäßiges Fugenmuster gezeichnet. Der Architekt selbst arbeitet nicht manuell an der Baustelle, sondern überwacht lediglich das Einhalten eines von ihm entworfenen Ordnungsschemas: Die Steine, die nach auf seiner Planung beruhenden Schablonen gefertigt sind, erhalten nun ihren materiellen Platz in dieser Ordnung. Das hohe Ansehen der Architekten war mit einem immensen wirtschaftlichen Aufstieg verbunden; und es läßt sich nachweisen, daß die größten Summen für die Planung und das Anfertigen der Zeichnungen gezahlt wurden, d.h. es gab innerhalb der Architektenklasse Kategorien für eine Definition des jeweiligen Status.76 Die Planung und Zeichnung erforderte breite Kenntnisse der Arithmetik und Geometrie, sie erforderte scientia, und war auf diese Weise mit den artes liberales verbunden. Van Eyck weist entsprechende Kenntnisse an einer für das Bild modifizierten perspektivischen, 74
75 76
Die folgenden Ausführungen zur Veränderung des Baubetriebs und zum Status des Architekten im wesentlichen nach Dieter Kimpel: Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe. Ihre sozioökonomischen Grundlagen und ihre ästhetisch-künstlerischen Auswirkungen. In: Architektur des Mittelalters. Funktion und Gestalt, hrsg. von Friedrich Möbius und Ernst Schubert. Weimar 1984, S. 246-272. Siehe Dieter Kimpel / Robert Suckale: Die gotische Architektur in Frankreich 1130-1270. München 1985, S. 220. In diesem Zusammenhang ist die Klage des Franziskanermönchs Nicolas de Biard aus dem Jahr 1261 zu verstehen: „Die Maurermeister mit Meßstab und Handschuhen in den Händen sagen den anderen: Du sollst mir das formen, und sie arbeiten nichts; und dennoch erhalten sie einen höheren Lohn.“ (Magistri cementariorium virgam et cyrothecasin manibus habentesaliis dicunt: Par ci le me taille, et nihil laborant; et tamen maiorem mercedem accipiunt. Zit. und Übers. nach Binding: Planen und Bauen [wie Anm. 71], S. 130.)
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aber ebenso konstruierten und ausgemessenen Architekturzeichnung nach. Vergleichbar ist der Aufriß des südlichen Chorturms der Abteikirche von Melk von 1450 (Abb. 11).77 Van Eyck orientierte sich an derartigen Rißzeichnungen, auch in der Art der Konstruktion, wobei er die Zeichnung aber dreidimensional gestaltet.
Abb. 11: Aufriß des südl. Chorturms der Abteikirche von Melk, 1450, Wien, Akademie der Bildenden Künste 77
Abb. 12: Riß einer Chorapsis, 1504, Wien, Akademie der Bildenden Künste
222 x 616 mm, Nr. 16835 in Johann Josef Böker: Architektur der Gotik. Bestandskatalog der weltgrößten Sammlung an gotischen Baurissen der Akademie der bildenden Künste Wien. Salzburg 2005.
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Der Aufriß einer offenbar nicht ausgeführten Chorapsis von 1504 (Abb. 12)78 zeigt, daß die sehr viel später üblichen perspektivischen Ansichten der Risse in der Zeichnung van Eycks gewissermaßen präfiguriert sind, denn die perspektivische Zeichnung des Chorfensters erinnert frappierend an das Portal in der Heiligen Barbara. Der Turm selbst ist ein Pasticcio von klassischen und innovativen Architekturelementen – zu letzteren gehören die geschwungenen Filialen, die Maßwerkbrücken und der Wechsel von zwei zu drei Achsen. Er erweist sich somit als potentieller Entwurf und als Erfindung einer durchaus realisierbaren Architektur. Im unteren Teil gleicht er dem Südwestturm des Kölner Doms, der im Mittelalter tatsächlich als freistehender Solitär wahrgenommen werden konnte, wie eine Zeichnung von 1809 zeigt (Abb. 13), weil Langhaus und Südwestturm erst im 19. Jahrhundert nach den alten Rissen fertiggestellt wurden. Die Maßwerkblenden des Eyckschen Turmes sind dagegen eher niederländisch.79 Das Fenster mit dem überhöhten Mittelteil kennt man in der Architektur zu jener Zeit nicht. An dieser sensiblen Stelle – mit dem Hinweis auf Barbaras Erfindung eines Symbols für die Trinität – positioniert van Eyck sich selbst mit einer eigenen inventio. Er stellt darüber hinaus eine Beziehung zwischen der sich in der Zeichnung manifestierenden Realisierung der mentalen Form in der Malerei einerseits und in der Architektur andererseits her. Der rhetorische Begriff der inventio ist die Basis für den Ruhm des Architekten und wird auf den Maler übertragen.
Abb. 13: Angelo Quaglio, Zeichnung des Kölner Doms, 1809
78 79
805 x 260mm, Nr. 16816 in Böker: Architektur der Gotik (wie Anm. 77). Ich danke an dieser Stelle Günther Binding und Stephan Hoppe für Hinweise zur architekturhistorischen Einordnung des Turms.
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Bereits mehrfach ist der „gesellschaftliche Aufstieg des Architekten [im 13. Jahrhundert – H. S.] und [… seine ] Schrittmacherrolle in der Geschichte des Künstlerberufs“80 im Zusammenhang des Autonomiegewinns der Kunst Gegenstand der Forschung gewesen. Vor allem gilt dies für die marxistisch-soziologische Forschung der 70er und 80er Jahre, die den Grund für diese Entwicklung in Phänomenen wie Arbeitsteilung, manufakturartigen vorindustriellen Bedingungen, Massenproduktion und Qualitätssicherung sahen. Neben der Spezialisierung auf verschiedene manuelle Tätigkeiten (Steinbrucharbeiter, Transporteure, Mörtelmischer, Steinmetze und Versetzer) war dies die Geburtsstunde des „Architekten am Reißbrett“, der auf der Grundlage der Gesetzmäßigkeiten der Geometrie und der Statik ein „autonomes Formengut“ schuf, das eine erste Gestalt in der verkleinerten, maßstabsgetreuen Werkzeichnung annahm und auf dieser Grundlage mit der weniger hoch eingeschätzten manuellen labor umgesetzt werden konnte.81 Im Grunde beschreibt van Eyck genau diese Arbeitsteilung und die daraus gewonnene Position des Architekten und positioniert letzteren als veritablen „Schrittmacher“ für seinen eigenen künstlerischen Anspruch. Aber auch unabhängig von dem klarer definierten Status des Architekten könnte van Eyck noch weitere Veranlassung gehabt haben, seine Kunst mit der Architektur und sich selbst mit der Figur des Architekten zu vergleichen. In einem im Mittelalter weitgefaßten Diskurs werden einer antiken Tradition folgend Gleichnisse der artes mechanicae herangezogen, um das Wesen, die Dynamik und Entwicklung komplexer Wissens- und Erkenntnissysteme zu beschreiben und zu erklären. In diesen Gleichnissen findet sich die Unterscheidung zwischen dem gewöhnlichen artifex und dem architector. Der Begriff architector bezeichnet zunächst alle diejenigen, die auf den Gebieten der verschiedenen artes verantwortlich für Konzepte und Dispositionen sind, die über das Wissen übergeordneter Zusammenhänge und Ursachen verfügen, die Verknüpfungsleistungen erstellen können und die die Tätigkeit der untergeordneten artifices steuern und koordinieren. Das Konzept geht auf die „Metaphysica“ des Aristoteles zurück, der sogar drei Stufen einer Wissenshierarchie unterschied: die experti, die Erfahrenen; die artifices, die gewohnheitsmäßig Herstellungswissen anwenden, aber über kein Handlungswissen der ars verfügen; schließlich die architectores, die an der Spitze der Hierarchie stehen und die Bezüge der ars zum gesamten Wissenssystem herzustellen in der Lage sind.82 80 81
82
Kimpel: Entfaltung der gotischen Baubetriebe (wie Anm. 74), S. 270. Vgl. ebd. Kimpel bemerkt u.a.: „Wenn all dies auch nicht ganz neu ist, so hat man doch übersehen, daß der sich im 13. Jahrhundert herausbildende Künstlerstatus der Architekten letztlich aus betriebswirtschaftlichen Bedingungen hervorgeht. Der ‚autonome‘ Künstler ist nicht etwa ein Produkt der sogenannten Renaissance.“ (Ebd., S. 271.) Aristoteles: Metaphysik, Lib. I, cap 1 (A 1 981 ab). Der entsprechende Text ist dem Kommentar des Thomas in folgender kritischen Ausgabe vorangestellt: S. Thomae Aquinatis in Duodecim Libros Metaphysicorum Aristotelis Expositio, hrsg. von M. R. Cathala u.a. Rom / Turin 1950; vgl. Nicola Senger: Der Begriff „architector“ bei Thomas von Aquin. In: Mittelalterliches Kunsterleben, hrsg. von Günther Binding und Andreas Speer. Stuttgart 1994, S. 208-223, hier S. 209f.
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Aristoteles definiert hier das Wesen und die Struktur des Wissens sowie das Aufkommen und Tradieren der Wissenschaften. Erfahrung ist die Voraussetzung für Wissen, aber nur die Deduktion von Erfahrungen, das Auffinden und die Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten, das Urteil über Zusammenhänge kann Erfahrung zu Wissen umformen. Der architector bei Aristoteles hat mit dem Architekten nichts zu tun; auch nennt er kein entsprechendes Beispiel, um seine Ausführungen in ein Bild zu überführen. Anders bei Thomas von Aquin, der in seinem Kommentar zu eben jener Stelle der „Metaphysica“ zunächst ein Beispiel aus dem Schiffsbau gibt, um die abstrakten Ausführungen bei Aristoteles anschaulicher zu machen: Jene, die die Ursachen und das Weswegen wissen, verhalten sich zu denen, die allein das Daß wissen, wie die architektonischen artes zu den handwerklichen artes. Aber die architektonischen artes sind die edleren. Also sind diejenigen, die die Ursachen und das Weswegen kennen, wissender und weiser als jene, die nur das Daß wissen. Der Obersatz des Beweises wird klar dadurch, daß nur die architectores die Ursachen des Hergestellten kennen. Um dieses zu verstehen, muß man wissen, daß architector gewissermaßen der oberste artifex genannt wird: von archos, das ist ‚der Oberste‘ und von techne, das ist ars. Die höhere ars wird hingegen jene genannt, die die höheren Tätigkeiten hat. Die Tätigkeiten der artifices werden aber auf diese Weise unterschieden: Einige Tätigkeiten bereiten die Materie des Werkes vor, wie der Zimmermann, der die Materie für die Form des Schiffes vorbereitet, indem er das Holz sägt und glättet. Eine andere ist die Tätigkeit der Anbringung der Form, wie wenn jemand aus dem geordneten und vorbereiteten Holz das Schiff zusammenbaut. Eine andere ist die Tätigkeit des Gebrauchs einer schon konstituierten Sache, und diese ist die alleroberste. Die erste aber ist die unterste, weil die erste auf die zweite hingeordnet ist, die zweite wiederum auf die dritte. [...] Und, weil die Materie um der Form willen ist, und derart die Materie sein muß, die nach der Form strebt, deshalb weiß der Schiffbauer die Ursache, weshalb das Holz so angeordnet sein muß, was diejenigen nicht wissen, die das Holz 83 vorbereiten.
Die Parallelen zu unserer Zeichnung sind offensichtlich. Van Eyck betont nicht nur den schrittweisen Übergang von der formlosen Materie zu der Form des Werkstücks, des 83
Illi qui sciunt causam et propter quid comparantur ad scientes tantum quia, sicut architectonicae artes ad artes artificium manu operantium. Sed architectonicae artes sunt nobiliores: ergo et illi qui sciunt causas et propter quid, sunt scientores et sapientores scientibus tantum quia. / Huius probationis prima ex hoc apparet, quia archtectores sciunt causas factorum. Ad cuius intellectum sciendum est, quod architector dicitur quasi principalis artifex: ab ‚archos‘ quod est princeps, et ‚techne‘ quod est ars. Dicitur autem ars prinicipalior illa, quae principaliorem operationem habet. Operationes autem artificum hoc modo distinguuntur: quia quaedam sunt ad disponendum materiam artificii, sicut carpentarii secando ligna et complanando disponunt materiam ad formam navis. Alia est operatio ad inductionem formae; sicut cum aliquis ex lignis dispositis et praeparatis navem compaginat. Alia est operatio in usumrei iam constitutae; et ista est principalissima. Prima autem est infima, quia prima ordinatur ad secundam, et secunda ad tertiam. [...] Et, quia materia est propter formam, et talis debet esse materia quae formae competat, ideo navisfactor scit causam, quare ligna debeant esse sic deposita; quod nesciunt illi qui praeparant ligna. (S. Thomae Aquinatis in Duodecim Libros Metaphysicorum Aristotelis Expositio, Lib. 1, lect. 1, c.1 [n. 25/26], zitiert nach Senger: Der Begriff „architector“ [wie Anm. 82], S. 211, Übersetzung ebd., S. 212.)
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Fragments, das durch dispositio zum Teil der Gesamtform wird, sondern auch die Hierarchie der artifices, ausgehend von den Arbeitern im Steinbruch, die vielleicht nicht einmal wissen, daß die Steine für den Bau einer Kirche bestimmt sind, übergehend zu den Steinmetzen, die dem einzelnen Stein ihre Form geben, bis zum Architekten, dessen Plan befolgt wird, und der die Koordination der Gesamtform leitet. Thomas von Aquin beschreibt den Vorgang des Bauens aber nicht um seiner selbst willen, sondern um das bei Aristoteles entwickelte System des Wissens und der Wissenschaften zu erläutern und anschaulich zu machen. Dennoch fällt auf, daß Thomas den Terminus architector überaus häufig im Sinne des Baumeisters (architectus) gebraucht, oft mit Bezug auf das Pauluswort im 1. Korintherbrief 3, 10: „secundum gratiam Dei quae data est mihi ut sapiens architectus fundamentum posui.“ (Nach der mir von Gott verliehenen Gnade habe ich das Fundament wie ein weiser Baumeister gelegt.) Auch bei Paulus handelt es sich um einen architektonischen Vergleich, der auf ein abstraktes System, die Institution der Kirche, bezogen wird. In der „Summa Theologiae“ amalgamiert Thomas von Aquin das tektonisch aufgefaßte System des Aristoteles mit dem architektonischen Vergleich des Paulus zur Beantwortung der Frage, ob Theologia auch Sapientia ist: Diese Lehre (Theologia) ist die höchste Weisheit von allen menschlichen Weisheiten, und das nicht nur in einem bestimmten Bereich, sondern schlechthin. Es ist nämlich Sache der Weisen zu ordnen und zu urteilen; ein Urteil aber erfolgt stets von der höheren Ursache aus über die jeweils unter ihr stehenden. Daher wird in allen Bereichen derjenige weise genannt, der sein Urteil je aus der Betrachtung der höchsten und letzten Ursache jenes Bereiches schöpft. So nennt man im Bereich des Bauens denjenigen artifex, der die Form des Hauses entwirft, weise und architector gegenüber den untergeordneten artifices, die das Holz behauen und die Steine bereiten, wie in 1. Kor. 3 gesagt wird: Wie ein weiser architector habe ich das Fundament 84 gelegt.
Thomas von Aquin zitiert hier gewissermaßen falsch aus der Vulgata (architector statt architectus), um das Wissenssystem des Aristoteles mit der biblischen Metaphorik zu verbinden und somit Aussagen über das Wesen theologischen Wissens und theologischer Wissenschaft zu treffen. Wenngleich sich Thomas nicht explizit über den Status der Architektur oder des Architekten äußert oder diesen gar definiert, ist dem Text dennoch die zeitgenössische Bedeutung der Architektur und die Stellung des Architekten in der Hierarchie dieser ars eingeschrieben. Insofern scheint das Gleichnis 84
Respondeo dicendum quod haec doctrina maxime sapientia est inter omnes sapientias humanas, non quidem in aliquo genere tantum sed simpliciter. Cum enim sapientis sit ordinare et judicare, judicium autem per altiorem causam de inferioribus habeatur; ille sapiens dicitur in unoquoque genere, qui considerat causam altissimam illius generis. Ut in genere aedificii, artifex qui disponit formam domus, dicitur sapiens et architector, respectu inferiorum artificium, qui dolant ligna vel parant lapides: unde dicitur I Cor.3, 10: Ut sapiens architector fundamentum posui. (S. Thomae Aquinatis Summa Theologiae, Prima pars, Editio Leonina. Turin / Rom 1948, hier S th I q 1 a 6c, Text und Übersetzung zitiert nach Senger: Der Begriff „architector“ [wie Anm. 82], S. 216.)
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den gerade in dieser Zeit veränderten Verhältnissen bereits Rechnung zu tragen. Natürlich interessiert sich Thomas nicht für Architektur und den Status des Architekten und definiert sie nicht explizit; indirekt – über die Gleichnisse – sagt er aber, wie er sie versteht.85 Von dieser Zeit an waren die Metaphorik und die Verknüpfung der Architektur mit der Struktur des Wissenschaftssystems für eine entsprechende Wertung verfügbar. Damit soll nicht gesagt sein, daß van Eyck sich konkret auf einen bestimmten Text bezogen hat, geschweige denn diesen illustriert. Er transformiert eine Metaphorik, die längst zum kulturellen Allgemeingut gehört, indem er quasi einen ganzen Apparat antiker Wissensdefinition und biblischer und kirchengeschichtlicher Metaphorik umkehrt. Wenn sich die Architektur im Sinne einer ars als ein Gleichnis der inneren Ordnung und Struktur der Wissenschaften etabliert, kann sie selbst als scientia plausibel gemacht werden. Van Eyck nimmt in dieser semantischen Umkehrung für die Architektur selbst den Status einer Wissenschaft in Anspruch und überträgt ebendiesen Anspruch auf die Zeichnung bzw. die Malerei. Außerdem trennt er mit dem Kunstgriff der steingerahmten Zeichnung die in der Malerei bisher kaum thematisierte Trennung von Form (im Sinne von Idee) und Materie (im Sinne der Ausführung), die man für die Architektur bereits kannte. Die Simulation einer aus mehreren Blöcken geschnittenen Marmorprofilierung und die wie in Stein gemeißelte, ebenfalls malerisch ausgeführte Signatur sind auf den Status der Zeichnung oder des Werks zu beziehen. Van Eyck gibt dem Werkstück seine Form mit den Mitteln der Malerei und präsentiert so seinen eigenen ‚Stein‘ als Teil der Ecclesia. Das Rohmaterial, die wie der Stein aus dem Boden gewonnenen Farbpigmente, wird in eine sinnreiche Form gebracht.86 Aufschlußreich ist hier ein Vergleich der Zeichnung des Steinhaufens auf der rechten Seite (Abb. 14) und der Binnenzeichnung des Marmors oben rechts (Abb. 3). Van Eyck imitiert hier das Nach-Zeichnen der Natur, d.h. genauer gesagt, das Nachzeichnen des Zeichnens der Natur im Stein, das er wiederum auf das artifizielle Zurichten des Steins zum Werkstück bezieht. Der erste Zeichner der Äderung realen Marmors ist Gott selbst. Van Eyck vergleicht seinen eigenen Schaffensprozeß, sein Erfinden des Marmors, den Übergang von einer Materie zu einer anderen, mit ebendiesem göttlichen Schaffens85
86
U.a. hat bereits Senger darauf hingewiesen, daß Thomas von Aquin keine Aussagen über den Status des Architekten selbst machen will (Senger: Der Begriff „architector“ [wie Anm. 82], S. 208f.). Dennoch ist festzuhalten – und hier möchte ich das Argument Sengers zumindest modifizieren –, daß man eine dort vorhandene, für den Vergleich notwendige Theorie zum Status des Architekten ableiten kann. Auch Albertus Magnus (1193-1280), Vinzenz und Beauvais in seinem „Speculum maior“ (um 1250) und Robert Grosseteste (1168-1253) verwenden den aristotelischen Begriff des architector im Zusammenhang mit der Architektur häufig in diesem Sinn. Zu vergleichen ist van Eycks Strategie mit dem Babylonischen Turm Brueghels im Kunsthistorischen Museum in Wien, wo ein Teil des Turmes direkt aus dem Felsen gehauen wird. Fels und Turm durchdringen sich optisch in einer Weise, daß der Fokus deutlich auf den Prozeß gelegt ist, wie Natur zum Werk des Menschen transformiert wird. Vgl. Wegener: Faszination des Maßlosen (wie Anm. 69), S. 30. Auch bei Brueghel vermute ich eine kunsttheoretische Aussage über „Malerei“.
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prozeß. Vielleicht ist hier der Grund dafür zu sehen, daß man das Werk von beiden Seiten betrachten sollte und die Simulation der Blöcke auf beiden Seiten identisch ist. Das Objekthafte des Artefakts wird betont, nicht in seiner negativen, sondern positiven Konnotation, denn das Objekt, das Materielle, ist Träger der Idee, der Zeichnung. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Maße der Tafel mit Rahmen. In der Breite beträgt sie genau einen Brügger Fuß, in der Höhe 1,5 Brügger Fuß und bezieht sich damit auf die in der Architektur verwendeten Maßeinheiten.87 Die planimetrische Barbara-Turmfigur mißt in der Höhe ebenfalls einen Brügger Fuß, der Turm allein ist exakt so hoch wie die Tafel ohne Rahmung breit ist. Auch durch Maße oder Messen werden die Werkstücke der Architektur und der Malerei parallelisiert, durch Maß und Form wird die Materie nobilitiert.88 Die Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, in welchem Ausmaß van Eyck die im Hochmittelalter entstandene Artefakttheorie umgesetzt hat. Er beschränkt sich allerdings nicht auf die genannten artes, sondern schließt das eigentliche Medium der Gelehrten, die Schrift, mit in seine komplexe Kunst- und Medienreflexion ein. Ich erinnere noch einmal daran, wie Barbara Buch und Schreibgerät hält: ihr Blättern im Buch betont die Materialität eben dieses Mediums; mit der Palme zielt sie wie mit einem Schreibgerät auf eine weiße Stelle der Tafel, als wolle sie selbst in einen Schreib- oder Zeichnungsprozeß eingreifen (Abb. 7). Palme und Architektenstab gehen hier gleichsam eine Fusion ein – bereits im 12. Jahrhundert wurden die Werkzeuge der Architekten mit dem calamus, dem Schreibgerät der scriptores u.a. als exemplae mensurae verglichen, so zum Beispiel im Ezechiel-Kommentar von Abaelard (10791142): Hier ist das Meßrohr, das er als kleiner Mensch in der Hand trägt, um das Gebäude zu vermessen, das auf dem Berg gelegen ist. Das Meßrohr nun, von dem es heißt, daß er, der die Schrift in seinem Werk erfüllt, es in der Hand trage, dieses Meßrohr ist das Buch des Evan89 geliums. Damit wird die Kirche, die darauf gelegt ist, gemessen.
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Die Vorgänge des Messens und Vermessens in den artes mechanicae werden bereits seit dem Hochmittelalter mit der Geometrie als ars liberalis in Verbindung gebracht, was zu einer partiellen Auflösung des Subordinationsgedankens auch bei den Autoren führt, die die mechanicae explizit als scientiae inferiores bezeichnen. Siehe dazu Whitney: Paradise Restored (wie Anm. 3), S. 140. Die Technik ist der strategischen Argumentation des Theophilus Presbyter vergleichbar, wenn der erste Prolog mit der Erwähnung der Erschaffung des Menschen ad imaginem et similitudinem Dei einsetzt und das darauf folgende erste Buch mit der Anweisung zur Farbmischung für die Darstellung menschlichen Inkarnats beginnt, vgl. oben Anm. 43. „Hic est mensurae calamus / Quem gestat manu parvulus / Ut supra montem positum / Mensuret aedificium / Mensurae quippe calamus / Liber est evangelicus / Quem manu fertur gerere / Qui scriptum complet opere. / Hoc super ipsum posita / Mensuratur ecclesia“. Zitiert und übersetzt nach Binding: Planen und Bauen (wie Anm. 71), S. 124f. Der Kommentar bezieht sich auf das Vermessen des Neuen Jerusalems in den Visionen des Ezechiel, Ez. 40,3; 40,5.
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Hugo von St. Victor vergleicht im Kapitel „De ordine qui est in disciplinis“ des „Didascalicon“ das Studium der Schrift mit der Errichtung eines Gebäudes.90 Der Kontext verdeutlicht, daß die Architekturmetapher vor allem die sinnstiftende „Ordnung“ meint, in welche die spezifischen Elemente, die „medialen Bausteine“, der jeweiligen Disziplinen gebracht werden. Auch die ersten Lexikographien und Grammatiken der Volkssprache aus dem 13. Jahrhundert verwenden Metaphern und Gleichnisse des Bauens, um das Verhältnis von Schrift und Textverständnis zu exemplifizieren.91 Van Eyck kompiliert anschaulich eine ihm zur Verfügung stehende komplexe Medientheorie, um das Bild als Medium und Kunstwerk taxonomisch zu fassen. In diesem Kontext dient das Kunstwerk nicht der Religion, sondern fordert jene Qualitäten zur Selbstbeschreibung ein, die es als Metapher in der theologischen Literatur so wertvoll gemacht hatte. Mehr noch: Die durch die Kunstwerkmetapher beschriebene Ordnung der Wissenschaften wird auf die Kunst rückübertragen, die insgesamt ein komplexes theoretisches Gerüst aus der Theologie bezieht, um sich selbst zu positionieren. In unserem Bild wird die Schrift selbst auf die Architektur bezogen. Das Buch zeigt das geschriebene Wort, das auch in der Architektur und der Malerei sichtbar gemacht und durch die anschaulichen Artefakte ausgelegt werden kann. Die Offenbarung des Wortes wird Form in den Artefakten. Barbara, als templum Domini und Teil der universellen Kirche, hält ihren calamus, den Palmzweig, in ihrer linken Hand und sieht auf das geschriebene Wort; der Architekt hält seinen calamus, den Meßstab, in seiner Linken und blickt auf sein Werk, die Ecclesia materialis, und vielleicht können wir uns nun den Künstler vor dem Bild vorstellen, mit dem Silberstift in der Hand, der mit seiner entstehenden Zeichnung befaßt ist. Die Rahmenstruktur, durch die der Betrachter in das Bild „Eingang“ erhält, gleicht der Laibung und dem Gewände des Portals der fiktiven Architektur, die im Bild auch tatsächlich durch eine Figur betreten wird (Abb. 15) und die geradezu paradigmatisch für eine intermediale Schwellensituation steht.92
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Hugo von St. Victor: Didascalicon (wie Anm. 3), VI, 2, S. 358. Die Vorstellung der Schrift oder des Textes als „Architektur“ ist beispielsweise in den Begriffen „Satzbau“ oder „Textgebäude“ enthalten. Noch heute spricht man selbstverständlich in Fachbüchern zur Textverarbeitung von der „Architektur der Schrift“ (Roger Parker: Looking Good in Print – Grundlagen der DTP-Gestaltung. Zürich 2006). Jan van Eyck ist der Erfinder dieser Rahmenform, die mit der Art der Profilierung und dem Wasserschlag ein gotisches Fenster imitiert. Zur Ikonologie dieser Rahmenform siehe Alfred Stange / Leo Cremer: Alte Bilderrahmen. Darmstadt 1958, S. 25f.; Claus Grimm: Alte Bilderrahmen. Epoche – Typen – Material. München 1978, S. 18f.; Schoute / Verougstraete: Cadres et supports (wie Anm. 58), S. 61.
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Abb. 14: Detail aus Abb. 1 (Steinhaufen)
Abb. 15: Detail aus Abb. 1 (Turmportal hinter der Hl. Barbara)
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Diese Schwelle, auf der der Künstler seine Signatur hinterlassen hat, offenbart das komplexe multimediale System einer Wissensmaschinerie, die van Eyck in seinem ureigenen formgebenden Medium reflektiert, und in der er sich selbst positioniert.
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Abbildungsnachweis Alle Abbildungen entstammen dem Archiv der Verfasserin.
III.
Vormoderne Konzepte von Produktivität im Kontext sozial-ökonomischer Diskurse und Dispositive
ROBERT BRANDT
Handwerk und Arbeit. Anmerkungen zur deutschsprachigen Handwerksgeschichtsschreibung und zur Geschichte des vorindustriellen Handwerks in Mitteleuropa während der Frühen Neuzeit Bethe und arbeite. Diese Worte sollten in allen Handwercksstuben angeschrieben seyn, und von allen Handwercks=Leuten täglich behertziget, aber auch in eine stetswährende Ubung gebracht werden.“ Denn nur dort, „wo nun dieses Beydes , Bethe und Arbeite , bey einem Menschen zusammen kommet, da wird der Seegen Gottes nicht außenbleiben; und wird ein 1 solcher Mensch seine gute Nahrung und ein gedeyliches Auskommen wohl haben.
Diese Sätze finden sich in einer Predigt, die ein gewisser Johann Georg Pritius anläßlich eines Treffens von Vertretern des Wagnerhandwerks aus dem Ober- und Mittelrheinischen 1718 in Frankfurt am Main gehalten hatte. Pritius (1662-1732) stand seit 1710 dem lutherischen Kirchenwesen Frankfurts vor und war Pfarrer an den beiden wichtigsten Kirchen der Stadt, zunächst an der Barfüßer-, danach an der Katharinenkirche, der Hauptkirche der Frankfurter Lutheraner, in der er auch 1718 vor den Wagnern sprach. Theologisch bewegte er sich zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus, wobei er mit zunehmendem Alter immer öfter der pietistischen Reform zugeneigt gewesen sein soll.2 Seine Predigt wirkt auf den ersten Blick wie eine Bestätigung 1
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Johann Georg Pritius: Der von Gott geseegnete Handwercks = Mann / an dem Freyheits = Tage / welchen das Löbliche Wagner=Handwerck von Hagenau biß an Bingen / an den beyden Gebürgen des Rheins den 7 November im Jahr 1718 Montags nach dem XXI Sonntag nach dem Fest der heiligen Dreyeinigkeit in der des heiligen Römischen Rechs Kayserlichen Freyen Reich= und Wahl=Stadt Franckfurth am Mayn begieng, in der sanct Catharinen Kirche zur gemeinen Erbauung vorgestellet von IO. GEORGIO PRITIO, der heiligen Schrifft Doctorn / und des Ministerii daselbst Seniorn. O.O. und o.J., S. 10f. und 14. Für Lektüre und Diskussion dieses Aufsatzes danke ich Thomas Buchner (Linz), für sachdienliche Hinweise Gabriele Marcussen-Gwiazda (Frankfurt am Main). Zu Pritius vgl. Hermann Dechent: Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, Bd. 2. Leipzig / Frankfurt a.M. 1921, S. 123-140; ders.: Ich sah sie noch, die alte Zeit. Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte. Frankfurt a.M. 1985, S. 85-93; Martin Brecht / Klaus Deppermann (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1995, S. 199. Zu den Handwerkerbünden vgl. Frank Göttmann: Handwerk und Bündnispolitik. Die Handwerkerbünde am Mittelrhein vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Wiesbaden 1977 (Forschungen zur Entwicklung der Bünde seit dem Dreißigjährigen Krieg liegen bisher nicht vor). Zu den Wagnern, die Wagen, Gestelle für Wagen und Pflüge sowie Räder
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altbekannter Ansichten über das vormoderne Handwerk, wie sie auch heute noch in Handbüchern zur Geschichte der Frühen Neuzeit anzutreffen sind: Stetige Arbeit, „Nahrung“ und christliche Religion werden hier in einem inneren Zusammenhang mit dem Zunfthandwerk gesehen. Den Text für seine Predigt hatte Pritius dem Psalm 128 (1, 2) entnommen: „Wohl dem, der den Herrn fürchtet, und auff seinen Wegen gehet. Du wirst dich nähren deiner Hände Arbeit: Wohl dir, du hast es gut!“. Der Psalm gilt bis heute als ein zentraler Beleg für die christliche Tradition einer Wertschätzung von Arbeit, und auch für Pritius stellte dieser Psalm „das Ebenbild eines gottseeligen Menschen in seiner Glückseeligkeit insgemein vor“.3 Auch verweist er auf die berühmte paulinische Warnung vor dem Müßiggang bzw. das Plädoyer für Arbeitspflicht: „Wer nicht arbeiten will, der, der soll auch nicht eßen“ (2. Thess. 3, 10). Und so ist es vermutlich auch kein Zufall, daß er als Kriterien, an denen ein „von Gott geseegneter Handwercks=Mann“ gemessen werden kann, als erstes benennt die „Gottseeligkeit, dardurch er sich den Seegen Gottes zuziehet : Zum andern, nach seinem Fleiß und Arbeitsamkeit, dabey er den Seegen Gottes zu genießen hat : Und zum dritten , nach seinem Wohlstand, darinnen der Seegen Gottes bestehet“.4 Arbeit wird bei Pritius also noch nicht ökonomisch, sondern religiös begründet; „denn Gott hat die Schöpfung so geordnet, daß der Mensch in dieser Schöpfung nur durch Arbeit seine irdische Existenz finden kann“.5 Nun wußte Pritius als erfahrener Prediger „natürlich“ auch vom Elend der Handarbeit zu berichten, also von Mühsal der Arbeit als einer Folge des Sündenfalls. Und er warnt auch ausführlich vor den vielen, welche den falschen Idealen folgen: den Müßiggängern oder den Individualisten, die sich weder an Gott noch an die Zunftordnungen halten. Doch kann er schließlich mit Gewißheit verkünden: „Arbeite mit deinen Händen, und so wird auch der Seegen Gottes bey deiner Arbeit nicht aussenbleiben.“6 Pritius’ Ausführungen ähneln, wie erwähnt, allzusehr dem, was man über das vorindustrielle Handwerk noch heute in den gängigen Überblicksdarstellungen zur Frühen Neuzeit oder zur Wirtschaftsgeschichte lesen kann und was bis vor wenigen Jahren auch Mainstream der deutschsprachigen Handwerksgeschichtsschreibung war: Auf der Grundlage normativer Quellen wurde Handwerk auf Arbeit und Zunft reduziert und die
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herstellten, vgl. Otto Kettemann: Art. „Wagner“. In: Lexikon des alten Handwerks. Vom späten Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. von Reinhold Reith. München 21991, S. 252-256. Pritius: Handwercks = Mann (wie Anm. 1), S. 6, 15, 39 und 43-48; zum Psalm 128 und seiner Bedeutung für die christliche Arbeitsethik vgl. Walther Bienert: Die Arbeit nach der Lehre der Bibel. Eine Grundlegung evangelischer Sozialethik. Stuttgart 1954, S. 48, 52, 70, 72 und 392f. Pritius: Handwercks = Mann (wie Anm. 1), S. 49 und 15. Bienert: Arbeit (wie Anm. 3), S. 392. Pritius: Handwercks = Mann (wie Anm. 1), S. 33. Pritius weist übrigens seine Zuhörer darauf hin, daß auch im Paradies gearbeitet werden mußte, denn „Gott der Herr setzte den Menschen in den Garten Eden, daß er ihn bauete und bewahrete“ (ebd., S. 13; im Original hervorgehoben); zur menschlichen Arbeit im Paradiesgarten vgl. Wolfhart Pannenberg: Fluch und Segen der Arbeit. In: Der Mensch und seine Arbeit, hrsg.von Venanz Schubert. St. Ottilien 1986, S. 23-46, 31-34.
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gewerbliche Arbeit des Handwerks galt als unproduktiv, da sie auf falschen Wirtschaftsmentalitäten beruht haben soll.7 Normative Texte wie der von Pritius waren Teil eines vormodernen Arbeitsdiskurses, der während der Frühen Neuzeit in Theologie, Philosophie und Kameralistik um den Begriff der Arbeit geführt wurde. Kennzeichnend für diese, sozusagen von Luther bis Smith geführten, Debatten war, daß sie „abstrakt und eindimensional“ blieben. „Sie schweigen in bezug auf die Praxis der Arbeit und bieten kaum einen Zugang zu der Fülle und Vielfalt dessen, was die Menschen in ihrem alltäglichen Leben tatsächlich“ taten.8 Deswegen läßt sich aus den vormodernen Arbeitsdiskursen nicht unmittelbar auf die Arbeitserfahrung und das Arbeitsverständnis der Arbeitenden rückschließen und deshalb sagt Pritius’ Predigt strenggenommen nur, wie sich aus Sicht eines Theologen Handwerker zu verhalten hatten. Von der Forschung wurde lange Zeit nicht berücksichtigt, daß sich aus solchen normativen Texten nun eben nicht unmittelbar die Praktiken, Mentalitäten und Institutionen des Handwerks erschließen lassen.9 Aus den beständigen Ermahnungen eines führenden Vertre7
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Einzelbelege in dem Forschungs- und Literaturüberblick bei Thomas Buchner: Überlegungen zur Rezeption von Nahrung in der handwerksgeschichtlichen Forschung seit dem Nationalsozialismus. In: Robert Brandt / Thomas Buchner (Hrsg.): Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk. Bielefeld 2004, S. 67-94 sowie bei Josef Ehmer: Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft. In: Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, hrsg. von Friedrich Lenger. Bielefeld 1998, S. 19-77, 19-35. Josef Ehmer / Peter Gutschner: Befreiung und Verkrümmung durch Arbeit. In: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, hrsg. von Richard van Dülmen, Wien / Köln / Weimar 1998, S. 283-303, 292-294, zit. S. 292. Zu den Arbeitsdiskursen in der „Höhenkammliteratur“ vgl. Werner Conze / Manfred Riedel: Art. „Arbeit“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 154-215; Hans Frambach: Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Marburg 1999; Peter Gutschner: Von der Norm zur Normalität? Begriff und Bedeutung von Arbeit im Diskurs der Neuzeit. In: „Arbeit“. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, hrsg. von Josef Ehmer, Helga Grebing, und Peter Gutschner. Leipzig 2002, S. 137-148; Michael S. Aßländer: Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit. Marburg 2005. Symptomatisch ist vermutlich, daß Jürgen Kocka noch 2003 in einem Aufsatz über „Arbeit als Problem der europäischen Geschichte“ über mehrere Seiten Höhenkammliteratur von Luther bis Smith zitiert, wenn er das vormoderne Verständnis von Arbeit zu skizzieren versucht, um dann abschließend in ganzen zwei Sätzen auf die Praxis der Arbeit einzugehen: „Die Arbeitserfahrung und das Arbeitsverständnis der Arbeitenden dürfte sich von den Arbeitsvorstellungen der darüber Schreibenden erheblich unterschieden haben. Sie waren überdies höchst differenziert“(!).Vgl. Jürgen Kocka: Arbeit als Problem der europäischen Geschichte. In: Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, hrsg. von Manfred Bierwisch. Berlin 2003, S. 77-92, 85. Daß man einen solchen Ritt über den Höhenkamm auch anders vornehmen kann, indem man nicht nur die Diskurse, sondern auch die strukturellen Entwicklungen sowie die sozialen Praktiken im Auge zu halten versucht, zeigen Ludolf Kuchenbuch / Thomas Sokoll: Vom Brauch-
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ters der lutherischen Kirche Frankfurts, das Leben vollständig auf die Arbeit auszurichten, erfährt man sicher einiges über „eine im Christentum verwurzelte positive Arbeitsethik“ und ihre Radikalisierung im Protestantismus.10 Nur, was sagt das eigentlich über das Handwerk aus? Welche Vorstellungen von Arbeit hatten die Männer und Frauen, die im Handwerk tätig waren? Welche Funktion hatte ihre Arbeit in der vormodernen Gesellschaft? Im Folgenden soll das Thema „Handwerk und Arbeit“ in drei Schritten eingekreist werden. Zunächst werden am Beispiel Werner Sombarts kurz Annahmen und Widersprüche der älteren Handwerksgeschichtsschreibung skizziert, um dann in Auswahl die Ergebnisse der jüngeren, sozial- und kulturgeschichtlich inspirierten Handwerksforschungen vorzustellen, welche in den letzten Jahren die ältere Lehrmeinung vom vorindustriellen Handwerk grundsätzlich in Frage gestellt haben und zeigen konnten, daß die Praktiken und Mentalitäten des vormodernen Handwerks längst nicht so eindimensional strukturiert waren, wie gemeinhin angenommen wurde. Abschließend werden noch einige quellenkritische Anmerkungen zu den Quellen vorgestellt, mit denen die jüngere Handwerksforschung vornehmlich arbeitet. Die Ausführungen beziehen sich überwiegend, dies sei vorausgeschickt, auf die Handwerksmeister, vereinzelt auch auf die im Handwerk tätigen Frauen und nur im begrenzten Maße auf die Gesellen.
I.
Die ältere Handwerksforschung
So wie Produktivität für die moderne und auch für die postindustrielle Gesellschaft ein Schlüsselbegriff ist,11 so ist Arbeit eine zentrale Kategorie der Historiographie für die Betrachtung des vorindustriellen Handwerks: Für Meister, Gesellen und Lehrlinge soll sie, so war sich die ältere Handwerksforschung seit dem 19. Jahrhundert sicher, sinnstiftend und identitätsbildend gewesen sein. Dabei soll der Handwerksmeister ganz seiner Arbeit verpflichtet gewesen sein und im schützenden Gehäuse der Zunft eigent-
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Werk zum Tauschwert: Überlegungen zur Arbeit im vorindustriellen Europa. In: Sozialphilosophie der industriellen Arbeit, hrsg. von Helmut König, Bodo von Greiff und Helmut Schauer. Opladen 1990, S. 26-50; Christof Jeggle: „Arbeit“ als Norm – Normierung durch „Arbeit“: Historische Perspektiven. In: Normativität und soziale Praxis. Gesellschaftspolitische und historische Beiträge, hrsg. von Angelika Klampfl und Margareth Lanzinger. Wien 2006, S. 51-68. Thomas Sokoll: Art. „Arbeitsmoral“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp. 557f., zit. S. 557. Zur Semantik von Produktivität in vorindustrieller Zeit, vornehmlich an Beispielen aus der Kameralistik, vgl. Volker Hentschel: Art. „Produktion, Produktivität“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 1-26.
Handwerk und Arbeit
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lich nur für den eigenen Bedarf produziert haben bzw. nur soviel produziert und verkauft haben, wie für die Deckung seiner „Nahrung“, seines standesgemäßen Unterhalts, notwendig war. Er sei damit nicht dem Erwerbsprinzip, sondern der „Idee der Nahrung“ (Werner Sombart) verpflichtet gewesen und er agierte wegen eines eklatanten Mangels an Gewinnstreben überwiegend marktfern. Produktivität und Wachstum seien ihm folglich eigentlich fremd gewesen.12 Werner Sombart beispielsweise konstatierte in der zweiten Auflage seiner mehrbändigen, breit rezipierten Darstellung der Geschichte des modernen Kapitalismus, daß „die Arbeit [...] des echten Handwerkers [...] einsame Werkschöpfung [ist]: in stiller Versunkenheit gibt er sich seiner Beschäftigung hin. Er lebt in seinem Werk, wie der Künstler darin lebt, er gäbe es am liebsten gar nicht dem Markte preis“. Außerdem habe „Handwerk zur Voraussetzung seines Gedeihens die Nichterfüllung derjenigen Bedingungen [...], an die die Existenz des Kapitalismus geknüpft ist“. Denn „weder wollte es noch konnte es sich den neuen Verhältnissen anpassen. Das Handwerk wollte nicht: es konnte nicht wollen. Denn seinem innersten Geiste widersprach alle Neuerung, wie sie von ihm erheischt wäre. Dem Handwerk eingeboren ist der horror novi. Dahinleben in der alten Form entspricht allein seiner Idee. Dem Handwerk als solchem fehlte aller Unternehmungsgeist: der hätte es selbst aufgehoben.“13 Sombart lieferte der Handwerksforschung bis in die jüngste Zeit hinein die Schlagworte. Seine Dichotomien „Nahrung“ statt Erwerb bzw. Handwerk versus Kapitalismus wurden von der Gewerbegeschichtsschreibung freudig aufgenommen und mit einem Verlaufsmodell verbunden, das Gründung und „Blütezeit“ des Zunfthandwerks im Mittelalter ansetzte und in der Frühen Neuzeit nur noch den „Verfall“ des Zunftwesens sah. Als Merkmale dieses „Verfalls“ galten beispielsweise die Vielzahl von Konflikten, die zwischen den einzelnen Zünften bzw. zwischen ihnen und den Obrigkeiten überliefert sind, sowie die Verfolgung von „Pfuschern“, d.h. außerzünftigen Handwerkern, die ohne obrigkeitliche Gewerbeerlaubnis arbeiteten; zugleich wurde
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Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450-1900. Stuttgart 1999, S. 2448; Wilfried Reininghaus: Gewerbe in der frühen Neuzeit. München 1990, S. 49-53; Buchner: Überlegungen (wie Anm. 7); Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 19-35; Jan Ziekow: Freiheit und Bindung des Gewerbes. Berlin 1992, 16-44. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Drei Bände in sechs Halbbänden. München / Leipzig 21916-27 (Reprint München 1987). Zitate: I/1, S. 36 und 211; II/2, S. 890f.; die „Idee der Nahrung“ in: I/1, S. 34, 188 (alle Herv. im Original). Zu Sombarts „Kapitalismus“ mit all seinen Annahmen und Widersprüchen vgl. Robert Brandt / Thomas Buchner: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Nahrung (wie Anm. 7), S. 9-35; zu Sombarts Biographie und Werk vgl. generell Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie. München 1994.
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eine nochmals gesteigerte Innovationsfeindlichkeit bei Technik und Technologie unterstellt („horror novi“).14 Schaut man sich jedoch die Ergebnisse dieser von der Historischen Schule der Nationalökonomie und ihrem Umfeld (Werner Sombart, Gustav Schmoller, Max Weber etc.) geprägten deutschsprachigen Handwerksgeschichtsschreibung näher an, so fällt auf, daß selbst in verdienstvollen empirischen Studien all zu häufig idealtypische Konstruktionen dominieren, die auf der Grundlage normativer Quellen entwickelt wurden, und daß man beispielsweise relativ wenig über die Handwerksökonomie, über Praktiken sowie über die praktische Relevanz von Arbeit für die handwerkliche Lebenswelt erfährt. Ob vorindustrielle handwerkliche Arbeit individuelles Gewinnstreben, Wachstum und Vorstellungen von Produktivität grundsätzlich ausschloß, wie die Historische Schule annahm, ist empirisch alles andere als belegt.
II. Neue Ansätze – aber ohne Praktiken der Arbeit? In den letzten Jahren hat sich nun die deutschsprachige Handwerksforschung schrittweise von den problematischen Dichotomien verabschiedet.15 An die Stelle empirisch 14 15
Wilhelm Stieda: Art. „Zunftwesen“. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 3Jena 1911, Bd. 8., S. 1088-1111, vor allem 1095ff.; Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 25f. Folgende Ausführungen beziehen sich auf die Entwicklung in der BRD und in Österreich. Zur Entwicklung der Handwerksgeschichtsschreibung im „Westen“ vgl. die Forschungsüberblicke: Dietrich Ebeling: Zur Ökonomie des Handwerks in der frühen Neuzeit. Anmerkungen zur Historiographie und gegenwärtigen Debatte. In: Kultur und Staat in der Provinz, hrsg. von Stefan Brakensiek. Bielefeld 1992, S. 41-66; Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 19-77; Heinz-Gerhard Haupt: Neue Wege zur Geschichte der Zünfte in Europa. In: ders. (Hrsg.), Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich. Göttingen 2002, S. 9-37; Christof Jeggle: Gewerbliche Produktion und Arbeitsorganisation: Perspektiven der Forschung. In: Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Mark Häberlein und Christof Jeggle. Konstanz 2004, S. 19-35; Otto Gerhard Oexle: Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 118 (1982), S. 1-44; Reininghaus: Gewerbe (wie Anm. 12), S. 49-91; ders.: Stadt und Handwerk. Eine Einführung in Forschungsprobleme und Forschungsfragen. In: Stadt und Handwerk in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Karl Heinrich Kaufhold und Wilfried Reininghaus. Köln / Weimar / Wien 2000, S. 1-19; ders.: Handwerk und Handwerker in Europa und Deutschland. Anmerkungen zur Forschung seit 1975. In: Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Universität und Museum. Festschrift für Hinrich Siuts zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ruth-E. Mohrmann. Münster u.a. 1997, S. 381-393; Reinhold Reith: Praxis der Arbeit. Überlegungen zur Rekonstruktion von Arbeitsprozessen in der handwerklichen Produktion. In: ders. (Hrsg.): Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung. Frankfurt a.M. / New York 1998, S. 11-54. Zur Handwerksforschung in der DDR vgl. Wilfried Reininghaus: Handwerksgeschichte in der DDR. Bemerkungen zu den Forschungen zwischen 1970 und 1989. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 126 (1990), S. 283-299 sowie Helmut Bräuer: Entwicklungstendenzen und
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unterkomplexer Systematisierungen sind mikrohistorische Analysen getreten, welche auf breiterer Quellengrundlage eine situative Verortung der handwerklichen Lebenswelt anstreben. Kennzeichnend für die neuen Ansätze ist der Versuch, die Handwerker und ihre Familien als Subjekte der Geschichte, als Akteure wahrzunehmen – bei allem Fragmentarischen in der Überlieferung, die diesen Bemühungen fast regelmäßig im Wege stehen – und in ihnen nicht nur Objekte landesherrlicher oder kommunaler Disziplinierungsbestrebungen zu sehen. Auch wurden normative Quellen wie die Handwerksordnungen einer genaueren Quellenkritik unterzogen und damit in den Kontext ihrer Entstehung gestellt, so daß sich Zunftordnungen mittlerweile nicht mehr vorschnell und einseitig als Ausdruck von protektionistischer Reglementierung und „Verfall“ ausgelegt werden können, sondern als Antwort auf immer komplexere sozialökonomische Entwicklungen während der Frühen Neuzeit interpretiert werden. Überhaupt konnte das Quellenkorpus erweitert werden: Hatte schon die sozialgeschichtlich beeinflußte Handwerksforschung seit den 1970er Jahren serielle Quellen ausfindig gemacht und Daten quantifiziert, so werden in den ambitionierteren Handwerksstudien inzwischen neben den bekannten normativen Quellen unterschiedlichste Ego-Dokumente ausgewertet, beispielsweise Verhörprotokolle oder andere Gerichtsakten und sogar Autobiographien, die von Handwerkern geschrieben wurden.16 Zugleich sind auch die Entstehungszusammenhänge dieser Quellen Gegenstand intensiver Betrachtung geworden, und es wird in diesem Zusammenhang mittlerweile auch der Gebrauch der Schrift durch Handwerker untersucht.17 Quellen, die über so etwas wie ökonomische Konzepte im Handwerk informieren könnten, über Konzeptualisierungen des Erzeugens und Hervorbringens, sind – soweit erkennbar – kaum überliefert; wie überhaupt Quellen aus der Arbeitswelt rar sind: Es „fehlen zeitgenössische Schilderungen vollständiger Arbeitsgänge im Kleingewerbe“; Ordnungen liefern in diesen Fragen vereinzelt Hinweise.18 Handwerksforschung basiert deshalb auf Quellenarten, die häufig eher beiläufig über ökonomische Praktiken infor-
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Perspektiven der Erforschung sächsischer Zunfthandwerksgeschichte. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 19 (1993/94), S. 35-56. Zum internationalen Forschungsstand vgl. die Gesamtdarstellung von James R. Farr: Artisans in Europe 1300-1914. Cambridge 2000. Zur Diskussion um Status und Quellenwert von Ego-Dokumenten vgl. den Forschungsüberblick bei Jaana Eichhorn: Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung. Göttingen 2006, S. 213230 sowie Winfried Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996. Der Zusammenhang zwischen Literalität und Produktionsbedingungen von Quellen wird beispielsweise untersucht bei Thomas Buchner: Möglichkeiten von Zunft. Wiener und Amsterdamer Zünfte im Vergleich. Wien 2004, S. 31-46. Wilfried Reininghaus: Arbeit im städtischen Handwerk an der Wende zur Neuzeit. In: Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte, hrsg. von Klaus Tenfelde. Göttingen 1986, S. 9-31, zit. S. 16.
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mieren, wie beispielsweise die erwähnten Gerichtsakten, und aus denen sich im Idealfall eine Art Wirtschaftsmentalität rekonstruieren läßt, d.h. auch Vorstellungen von Arbeit und Produktivität im Handwerk.19 Gegenüber dem Essentialismus der älteren Handwerksforschung, der das vorindustrielle Handwerk auf Gemeinschaft, Brüderlichkeit und Gleichheit reduzierte, konnte gezeigt werden, daß vermeintlich liberale Gesellschaftsideale wie Individualität, Mobilität und Privateigentum auch für das vormoderne Handwerk zentrale Werte bildeten.20 Ganz offensichtlich gab es in der Frühen Neuzeit nicht nur einzelne, um mit Sombart zu sprechen, „kapitalistisch“ orientierte Individuen unter den Handwerkern und Handwerkerinnen, sondern das ganze „System“ Handwerk war sowohl auf Tausch und Markt als auch auf Erwerb und Gewinn ausgelegt: Wettbewerb unter den Meistern war alltäglich, Konkurrenten außerhalb der Korporationen drängten immer wieder auf die Märkte des Zunfthandwerks. Markt und Regulierung waren in der Vormoderne kein Gegensatz, sondern elementarer Bestandteil „einer handwerklichen Marktwirtschaft“. Im Anschluß an Craig Muldrew, der für England die Entwicklung von der vorindustriellen hin zur modernen Gesellschaft untersucht hat, könnte man auch für das Handwerk in Mitteleuropa eher von einer „Transformation des, nicht eine[r] Transformation zu einem marktorientierten ökonomischen Verhalten“ sprechen.21 Ausgehend von der Beobachtung dieser handwerklichen Marktwirtschaft konnten wesentlich deutlicher als bisher die sozialen Unterschiede herausgestellt werden, und zwar sowohl in den einzelnen Zünften als auch zwischen den Handwerken. Lassen schon die Zunftordnungen soziale Differenzierung erkennen – beispielsweise finden sich immer wieder Sonderbestimmungen für ärmere Meister – so sind auf breiterer Quellengrundlage noch wesentlich deutlicher die Unterschiede bei Vermögen, Einkommen oder Pro19
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Unter Wirtschaftsmentalitäten sollen an dieser Stelle mentale Dispositionen, kollektive Einstellungen und Verhaltensweisen verstanden werden, welche eher einer langsamen, Generationen übergreifenden Veränderung unterliegen (Stichwort longue durée) und welche über die Analyse von Selbst- und Fremdbeschreibungen, von Praktiken und Strategien sowie von Institutionen des vorindustriellen Handwerks rekonstruiert werden können. Der Begriff Mentalität bzw. Wirtschaftsmentalität ist trotz der hier vorgestellten Definitionsversuche vielleicht „eher als programmatische Suchanweisung denn als klar umreißbare Definition zu verstehen“ (Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. 3., verbesserte Aufl. Frankfurt a.M. 2002, S. 224); vgl. Robert Brandt: Frankfurt sei doch eine „Freye=Reichs=Statt, dahin jedermann zu arbeithen frey stünde“. Das Innungshandwerk in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert – zwischen Nahrungssemantik und handwerklicher Marktwirtschaft. In: ders. / Thomas Buchner (Hrsg.): Nahrung (wie Anm. 7), S. 155-199, S. 158f., Anm. 9. Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 19f. Craig Muldrew: Zur Anthropologie des Kapitalismus. Kredit, Vertrauen, Tausch und die Geschichte des Marktes in England 1500-1750. In: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 167199, zit. S. 172 (Herv. im Original). Zum Begriff der handwerklichen Marktwirtschaft vgl. Brandt: Frankfurt (wie Anm. 19), S. 195-197.
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duktionsumfang sichtbar geworden. So war etwa „die Verteilung der Lehrlinge und Gesellen auf die Meister [...] in der Regel ungleichgewichtig gewesen [...], unabhängig davon, was die Zunft- und Zuschickordnungen vorsahen“.22 Dort, wo ausnahmsweise Steuerlisten überliefert sind, werden zum Teil extreme Unterschiede bei Vermögen und Betriebsgrößen deutlich sichtbar. Bei langfristig stabilem Geschäftsgang, etwa in den Nahrungsmittelhandwerken (Bäcker, Metzger, Brauer etc.), „konnte handwerkliche Tätigkeit durchaus zu Vermögensakkumulationen und sozialem Aufstieg über das Handwerk hinaus führen, während gerade in den konjunkturabhängigen Massengewerben“, etwa bei Schneidern und Schuhmachern, „soziale Abstiegsprozesse in den Lebensläufen der Zunftmeister“ zu beobachten sind.23 Ob eine Folge dieser Differenzierungen „Unterordnungs- und Abhängigkeitsverhältnisse bzw. Patron-KlientBeziehungen innerhalb der Zünfte“ waren, ist für den mitteleuropäischen Raum bisher selten untersucht worden. Neuere Forschungen legen aber nahe, daß es auch im deutschsprachigen Europa in den Zünften jenseits der Gleichheitsrhetorik vielfältige Hierarchien und eben keine Homogenität gab.24 „Die ‚gleiche Nahrung‘ der Zunftgenossen war unter diesen Bedingungen eine Fiktion“, wobei Inhalt und Funktion der Nahrungssemantik sich nur situativ und nicht pauschal für „die“ vormoderne Gesellschaft bestimmen lassen.25 Ihren Ausdruck fanden die zunftinternen Hierarchien auch in der Festkultur des Handwerks; Festumzüge und andere ritualisierte Feiern dienten den Meistern wie auch den Gesellen zur symbolischen Konstruktion von Rangordnungen.26 Die soziale Differenzierung im zünftigen Handwerk ging allerdings nur zum Teil auf Unterschiede in der gewerblichen Tätigkeit zurück, denn wichtig waren Faktoren wie Hausbesitz oder Eigentum an Grund und Boden, „die außerhalb der Zunft und ihres Einflusses lagen.“27 Dabei war vor allem die Mitgift, welche die Ehefrau des Handwerksmeisters in die Ehe eingebracht hatte, von zentraler Bedeutung für die Vermögensbildung und für den Aufbau leistungsfähiger Betriebe – erst recht dann, wenn ein Geselle eine Meisterwitwe heiratete.
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Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 61. Ebd., S. 62. Farr: Artisans (wie Anm. 15), S. 160-164, 259f.; Buchner: Möglichkeiten (wie Anm. 17), S. 187204. Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 63. Ein erster Versuch zur Historisierung der Nahrungssemantik bei Brandt / Buchner (Hrsg.): Nahrung (wie Anm. 7). Vgl. dazu die Frankfurter Beispiele bei Heinz Lenhardt: Feste und Feiern des Frankfurter Handwerks. Frankfurt a.M. 1950 (= Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst Fünfte Folge 1, 2. Heft). Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 62.
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Überhaupt konnte in den letzten Jahren die Arbeit von Frauen im Handwerk und auch als Handelsfrauen erstmals deutlich herausgearbeitet werden.28 Wo die ältere Forschung, sofern sie sich überhaupt für die Geschichte der Frauen interessierte, nur ihre Verdrängung aus dem Zunfthandwerk spätestens seit dem 16. Jahrhundert konstatierte – Verdrängung im Kontext echter oder vermeintlicher Abschließungstendenzen des Handwerks während der Frühen Neuzeit, aber auch im Zuge der Reformation, als ein neues Frauenideal durchgesetzt wurde –, da haben neuere Arbeiten auf die vielfältigen qualifizierten weiblichen Tätigkeiten in den Werkstätten aufmerksam gemacht, die sich jenseits der normativen Quellen für Meisterfrauen und Meistertöchter und vereinzelt sogar für das weibliche Gesinde nachweisen lassen. Das Ehepaar als Arbeitspaar darf aber nicht dazu verleiten, die frühneuzeitliche Handwerksökonomie einzig auf Familienwirtschaft zu reduzieren, denn mittlerweile liegen genug Hinweise auf die gewerbliche Tätigkeit von Witwen vor, welche auf der Grundlage des sogenannten Witwenprivilegs den Betrieb ihres verstorbenen Gatten weiterführten.29 Über die Werkstatt und den eigentlichen Arbeitsplatz der Menschen ist – jenseits der Idealzustände, welche die Abbildungen in den Lexika des 18. Jahrhunderts zeigen – eigentlich relativ wenig bekannt.30 Zu betonen ist „die Vielfalt der Räume, in denen die Arbeit stattfand. Die Kürschner und die Gerber säuberten und spülten die Häute am Flußufer; die Seiler brauchten lange Gassen, auf denen sie die Stricke zusammendrehten; die Schlosser, Spengler oder Kupferschmiede pendelten zwischen Werkstatt und >AußenarbeitKunst< des Handwerkers ab“, die während der mehrjährigen Ausbildung als Lehrling und Geselle erlernt worden war.37 Da die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit in der Frühen Neuzeit relativ niedrig und die Ausgaben für Rohstoffe relativ hoch waren, waren diese individuellen Fähigkeiten der Handwerker zwecks eines rationalen, d.h. sparsamen Umgangs mit den teuren Rohstoffen ganz besonders gefordert.38 Zugleich wurde Recycling betrieben und blühten entsprechende Sekundärmärkte sowie vermutlich auch der Schwarzmarkt.39 Die Arbeitsrhythmen waren aufgrund der Abhängigkeit von Natur und Märkten unregelmäßig, und, bei allen regionalen sowie gewerbe- und geschlechtsspezifischen Unterschieden, die ebenfalls zu berücksichtigen sind, man wird von einem Wechsel von intensiver Arbeit und geruhsameren Perioden ausgehen müssen.40 Die Arbeitszeiten lassen sich für die Meister und ihre Ehefrauen mangels Quellen nur schwer bestimmen; auf der Grundlage von Baurechnungen konnte ermittelt werden, daß im Bauhandwerk während des Spätmittelalters im Jahresdurchschnitt an fünf Tagen in der Woche gearbeitet wurde. Die effektiven Arbeitszeiten in den anderen Gewerben sind weitgehend unbekannt, so daß wir beispielsweise bis heute nicht wissen, wie das Zeitbudget eines 36
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Ehmer / Saurer: Art. „Arbeit“ (wie Anm. 34), Sp. 529; Wolfgang U. Eckart: Art. „Arbeitsmedizin“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp. 545-549; Georg Adelmann: Über die Krankheiten der Künstler und Handwerker nach den Tabellen des Instituts für kranke Gesellen der Künstler und Handwerker in Würzburg von den Jahren 1786 bis 1802 nebst einigen allgemeinen Bemerkungen. Würzburg 1803; Annemarie Steidl: „... Trost für die Zukunft der Zurückgelassenen“. Die Funktion der Witwenpensionskassen im Wiener Handwerk im 18. und 19. Jahrhundert. In: Das Alter im Spiel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, hrsg. von Josef Ehmer und Peter Gutschner. Wien / Köln / Weimar 2000, S. 320-347; Katrin Keller: Armut und Tod im alten Handwerk. Formen sozialer Sicherung im sächsischen Zunftwesen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800, hrsg. von Peter Johanek. Köln / Weimar / Wien 2000, S. 199-223. Reininghaus: Arbeit (wie Anm. 18), S. 16. Reinhold Reith: Vom Umgang mit Rohstoffen in historischer Perspektive. Rohstoffe und ihre Kosten als ökonomische und ökologische Determinanten der Technikentwicklung. In: Umorientierungen. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft im Wandel, hrsg. von Wolfgang König. Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 47-69, 54-57. Reinhold Reith: Recycling im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit – eine Materialsammlung. In: Frühneuzeit-Info 14 (2003), S. 47-65, 56; ders.: Recycling – Stoffströme in der Geschichte. In: Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder, Forschungsansätze, Perspektiven, hrsg. von Sylvia Hahn und Reinhold Reith. Wien / München 2001, S. 99-120. Ehmer /Saurer: Art. „Arbeit“ (wie Anm. 36), Sp. 530.
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durchschnittlichen Handwerksmeisters während der Frühen Neuzeit aussah und wieviel Zeit er jenseits der normativen Quellen tatsächlich in seinem Tagesablauf mit handwerklicher Arbeit für die eigene Werkstatt verbrachte.41 Wegen der Reduktion der Feiertage im Zuge der Reformation und da u. a. schon seit dem Spätmittelalter relativ viele Hinweise auf Arbeit an Sonn- und Feiertagen vorliegen, geht die Forschung mittlerweile von steigender Arbeitsintensität und Arbeitsdisziplin in der Frühen Neuzeit aus. Unklar ist, ob zu diesem Trend auch die frühneuzeitlichen Arbeits- und Disziplinierungsdiskurse beitrugen, also Arbeit als religiöse oder weltliche Pflicht à la Pritius, oder ob man von einer Mischung aus Fremd- und Selbstdisziplinierung auszugehen hat, hinter der nicht nur soziale Anpassung („Prozeß der Zivilisation“), sondern beispielsweise auch das Verlangen nach erweitertem Konsum stand.42 Eines wird man aber trotz aller Forschungsdesiderata festhalten können: Von „dem privilegierten Schlendrian des alten Zunfthandwerkers“ kann man sicher nicht ausgehen.43 Mit der handwerklichen Arbeit waren vielfältige Bräuche verbunden, die sich u.a. auf das Arbeitsjahr sowie auf Arbeitsanfang bzw. Arbeitsabschluß bezogen, wie beispiels41
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Stefan Wulf: Arbeit und Nichtarbeit in norddeutschen Städten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Studien zur Geschichte sozialer Zeitordnung. Hamburg 1991; Helmut Bräuer: Herren der Arbeitszeit? Zu Organisation, Intensität und Dauer handwerklicher Arbeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2 (1990), S. 75-95; Gerhard Fouquet: Zeit, Arbeit und Muße im Wandel spätmittelalterlicher Kommunikationsformen. Die Regulierung von Arbeits- und Geschäftszeiten im städtischen Handwerk und Gewerbe. In: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden, hrsg. von Alfred Haverkamp. München 1998, S. 237-275; Reinhold Reith: Arbeitszeit und Arbeitslohn im städtischen Gewerbe der Frühen Neuzeit. In: Zeitbegriff. Zeitmessung und Zeitverständnis im städtischen Kontext, hrsg. von Willibald Katzinger. Linz 2002, S. 39-64. Generell geht die neuere Forschung bei allen regionalen, konfessionellen und sozialökonomischen Differenzierungen „von rund 100 Nichtarbeitstagen im Jahr aus. Berücksichtigt man die verkürzten Arbeitszeiten an den Vorabenden hoher Feiertage, ergibt sich rechnerisch eine 5-Tage Woche. Die Reduktion der Feiertage seit der Reformation führte tendenziell zur Ausdehnung der Jahresarbeitszeit“, vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum: Art. „Arbeitszeit“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp. 568-570, 569. Ehmer / Saurer: Art. „Arbeit“ (wie Anm. 34), Sp. 530; Jan de Vries: The Industrial Revolution and the Industrious Revolution. In: The Journal of Economic History 54 (1994), S. 249-270; Günther Lottes: Die Zähmung des Menschen durch Drill und Dressur. In: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, hrsg. von Richard van Dülmen. Wien / Köln / Weimar 1998, S. 221-239. Max Weber: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. von Johannes Winckelmann. Gütersloh 81991. Eine ähnliche Formulierung findet sich übrigens selbst bei einem sehr quellennah arbeitenden Handwerksforscher wie Rudolf Wissell: „Sehr eilig hatten es die Handwerker der alten Zeit mit ihrer Arbeit nicht gerade; für sie war morgen auch noch ein Tag.“ (Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit. 2. erweiterte und bearbeitete Ausgabe, Bd. 2. Berlin 1974, S. 401); zu Wissells Werk und Biographie vgl. Reinhold Reith: The social history of craft in Germany. A new edition of the work of Rudolf Wissell. In: International review of social history 36 (1991), S. 92-102.
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weise das auch heute noch praktizierte Richtfest.44 Unklar ist in diesem Zusammenhang, welche praktische Bedeutung Religion für Brauch und Arbeit hatte. Die jüngere Handwerksforschung hat sich für dieses Thema nicht interessiert, eine eingehende Beschäftigung mit der Religion und ihrer Wirkung auf die handwerkliche Lebenswelt fehlt bis heute. Wenn überhaupt darauf eingegangen wird, wird kurz auf die christliche Arbeitsethik oder auf die Patrone der einzelnen Zünfte verwiesen.45 Da die ältere Forschung in Handwerk und Marktwirtschaft einen Gegensatz sah, sind die realen Märkte der Handwerker ausgesprochen selten untersucht worden. In den letzten Jahren hat sich aber auf diesem Feld einiges getan, was sicher nicht nur mit der fachinternen Abkehr von den älteren Dogmen zu tun hat, sondern auch mit den grundlegenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert (Stichwort „Globalisierung“). Die Arbeitsmärkte des Handwerks waren aufgrund der Gesellenwanderung von hoher Flexibilität gekennzeichnet, einer „Flexibilität, die der saisonal und aus vielen anderen Gründen stark schwankenden Nachfrage nach handwerklichen Produkten angemessen war“.46 Dieser instabilen Nachfrage, die natürlich nicht alle Berufe gleichermaßen betraf – bei den Nahrungsmittelhandwerken beispielsweise kann man von einer relativ konstanten Nachfrage ausgehen –, entsprach ein vielfältiges System von Löhnen und Arbeitszeiten für die Gesellen. Neben Zeitlöhnen lassen sich dabei auch schon vor dem Fabrikzeitalter Stücklöhne nachweisen, beides mit Leistungskomponenten.47 In diesem Zusammenhang kam es im 18. Jahrhundert immer wieder zu Streiks der Gesellen, die ihre ökonomischen Interessen gegen Meister und Obrigkeit durch das Aussetzen der Arbeit bis hin zum Wanderboykott ganzer Orte durchzusetzen versuchten.48 In diesen Kontext gehörte auch der Blaue Montag, der als vollständig oder teilweise arbeitsfreier Tag seit dem Spätmittelalter 44 45
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Reinhold Reith: Art. „Arbeitsbräuche“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp. 536-539. Ganz kurze Hinweise bei Reininghaus: Arbeit (wie Anm. 18), S. 14f. Die Arbeits- und Berufsverbote für Juden erwähnt Reininghaus in diesem Zusammenhang nicht; jüdische Handwerker durften nur für ihre Community und nicht für christliche Kunden arbeiten. In Josef Ehmers sozialgeschichtlich inspiriertem Forschungsüberblick (Traditionelles Denken, wie Anm. 7) wird Religion mit keinem Wort erwähnt; angesichts des generellen Desinteresses des Mainstreams der deutschsprachigen Sozialgeschichtsschreibung (Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler etc.) an den Themen Religion und Theologie liegt Ehmer damit ganz im Trend. Jan Lucassen / Leo Lucassen: Art. „Arbeitsmigration“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. 1. Stuttgart 2005, Sp. 549-557, 556. Einen Überblick über die einzelnen Handwerke und das Wandern bei Reinhold Reith: Arbeitsmigration und Gruppenkultur deutscher Handwerksgesellen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Scripta Mercaturae 23 (1989), H. 1/2, S. 1-35. Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450-1900. Stuttgart 1999. Reinhold Reith / Andreas Grießinger / Petra Eggers: Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Materialien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des städtischen Handwerks 1700-1806. Göttingen 1992.
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nachgewiesen ist und der von den Gesellen gegen alle Disziplinierungsversuche von Meistern und Obrigkeit vor allem im 18. Jahrhundert verteidigt wurde.49 Vielfältig und zum Teil widersprüchlich sind dagegen die Ergebnisse für die Absatzmärkte.50 Zunächst konnte gezeigt werden, daß es sowohl im Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit zahlreiche Handwerker gab, die nicht nur für den lokalen Bedarf produzierten, sondern die auch regionale und überregionale Märkte belieferten. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Wochenmärkte, Jahrmärkte oder Kirchtage, welche die Meister entweder selbst besuchten oder sich der Vermittlung von Kaufleuten und Wanderhändlern bedienten, welche ihre Waren dann in den mitunter weit entfernten Marktorten gegen Provision verkauften. Die hohe Mobilität des vorindustriellen Handwerks findet nicht nur in der Gesellenwanderung oder in der weitgefächerten regionalen Herkunft von Lehrlingen und Meistern ihren Ausdruck, sondern gerade auch in diesen überlokalen und überregionalen Marktbeziehungen. Dabei konnte die Grenze zwischen handwerklichem Produzenten und Kaufmann durchaus fließend erscheinen. Denn Handwerksmeister beschränkten sich mitunter nicht auf den Verkauf ihrer eigenen Produkte. Dies trifft nicht nur für die großen Exportgewerbe zu, in denen einzelne Meister zu Verlegern aufstiegen, sondern ist auch im kleineren Rahmen nachweisbar. Auf den überlokalen Märkten traten die Handwerker dann in Konkurrenz zu den Mitgliedern der lokalen Zünfte, und dabei konnte es mitunter zu heftigen Konflikten kommen, wie das Wiener und das Frankfurter Beispiel zeigen. Josef Ehmer hat für Wien hervorgehoben, daß auf den dortigen lokalen Märkten im 18. Jahrhundert nicht nur zünftige Meister anzutreffen waren, sondern daß es auch eine große Zahl von Unzünftigen gab, die mit obrigkeitlicher Genehmigung oder einfach nur mit Duldung der Behörden der Hauptstadt ihre Waren und Dienstleistungen anbieten konnten.51 Die eigentlichen Zunfthandwerker, die bürgerlichen Meister, machten bei einer Zählung 1736 deshalb nur 31% der Handwerker aus. Die ältere Forschung ging dabei von harten Konflikten zwischen den Zünftigen auf der einen Seite und den, wie sie von den Zunfthandwerkern genannt wurden, „Pfuschern“, „Störern“ oder „Bönhasen“ auf der anderen Seite aus und verwies auf die zum Teil brutalen Verfolgungen von Störern durch Zunfthandwerker, die sich für manche Orte und Regionen tatsächlich auch nachweisen lassen.52 In Wien war die Situation offensichtlich eine an49 50 51
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Thomas Buchner: Art. „Blauer Montag“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jaeger, Bd. 2. Stuttgart 2005, Sp. 287-289. Ehmer: Traditionelles Denken (wie Anm. 7), S. 73-77. Ebd., S. 65-73, zit. S. 65; vgl. zu Wien auch die bei Ehmer entstandenen Dissertationen von Thomas Buchner: Möglichkeiten (wie Anm. 17) sowie Annemarie Steidl: Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Hauptund Residenzstadt. Wien / München 2003. Zu Störern, Bönhasen, Pfuschern etc. vgl. Philip R. Hoffmann: Winkelarbeiter, Nahrungsdiebe und rechte Amtsmeister: Die „Bönhaserei“ als Forschungsproblem der vorindustriellen Gewerbe-
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dere: Zwar sind auch hier Verfolgungen belegt, doch war die Nachfrage in der expandierenden Residenzstadt anscheinend so groß, daß alle Gruppen des Handwerks ihr Auskommen fanden und daß man in diesem Fall nicht von einem „antagonistischen Gegensatz“, sondern von einem modus vivendi zwischen zünftigen und unzünftigen Handwerkern ausgehen kann. In Frankfurt am Main kann man auf den ersten Blick in den Quellen aus dem 18. Jahrhundert ähnliches beobachten, wie es die Forschung in den letzten Jahren herausgestellt hat.53 Im Rahmen der Zunft ist ein ausgeprägtes Gewinnstreben erkennbar; Märkte, Preise und Konkurrenz wurden aufmerksam beobachtet, Informationsasymetrien suchte man auszugleichen. Wettbewerb und Konkurrenz waren nicht nur zur Messezeit, wenn jeweils in den Wochen vor Ostern und Ende August/Anfang September ein weitgehend freier Markt existierte, sondern auch außerhalb dieser Zeiträume Alltag. Wohlhabende Meister konnten offensichtlich immer wieder die Normen umgehen und im großen Stil produzieren; ärmere Handwerkerfamilien versuchten sich gegen die Übermacht der Großen in der Stadt zu wehren und forderten von der Obrigkeit den Schutz ihrer „Nahrung“. Mal kämpften die Zunfthandwerker um ihr Existenzminimum – beispielsweise in Auseinandersetzung mit der Marktmacht der größeren Meister –, mal ging es um die Verteilung satter Gewinne von mehreren Tausend Gulden. Vorherrschend war ganz offensichtlich ein ausgeprägtes Gewinnstreben sowie ökonomische Expansion bzw. – für so manchen ärmeren Handwerksmeister – Stagnation oder sogar Regression. Zugleich sind aber für das Frankfurter Handwerk im 18. Jahrhundert auch heftige Verteilungs- und Anerkennungskämpfe überliefert, Konflikte zwischen dem Zunfthandwerk auf der einen und einem heterogenen Kreis unzünftiger Handwerker, Kaufleute und Krämer beiderlei Geschlechts aus Stadt und Land auf der anderen Seite, die ohne obrigkeitliche Gewerbeerlaubnis arbeiteten oder Handwerkerwaren nach Frankfurt zu importieren versuchten. Die Einfuhr dieser auswärts produzierten Handwerkerwaren war aber, von Ausnahmen vor allem in den Nahrungsmittelhandwerken abgesehen, grundsätzlich verboten; nur während der Frühjahrs- und der Herbstmesse wandelte sich der regulierte Markt für einige Wochen in einen freien Markt. Die Zünfte, die in Frankfurt politisch bereits im 14. Jahrhundert weitgehend entmachtet worden waren und die im übrigen von Seiten der Obrigkeit auch nicht mehr Zünfte, sondern nur noch
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geschichte und deren Bedeutung für das frühneuzeitliche Handwerk am Beispiel Lübecks. In: Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Mark Häberlein und Christof Jeggle. Konstanz 2004, S. 183-210, 183197. Zu Frankfurt vgl. Brandt: Frankfurt (wie Anm. 19); ders.: Autonomie und Schutz der „Nahrung“. Bürgerrecht und Judenfeindschaft: Das Frankfurter Innungshandwerk während des Verfassungskonflikts 1705-1732. In: Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Mark Häberlein und Christof Jeggle. Konstanz 2004, S. 229-248.
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einfach „die Handwerke“ genannt wurden, organisierten im 18. Jahrhundert über 50 Berufe in rund 30 Handwerken; inklusive ihrer Familien dürften sie innerhalb der Bürgerschaft die größte soziale Gruppe gestellt haben. Wegen der zahlreichen Eingriffe in die „Nahrung“ richteten die Handwerke nun während des gesamten 18. Jahrhunderts schier unzählige Supplikationen an den Rat der Stadt, in denen sie die praktische Durchsetzung des Verbots dieser informellen Ökonomie forderten. In diesen Texten wurde alles andere als ein modus vivendi angestrebt; die Supplikationen zielten durchweg auf das Verhindern von Wettbewerb mit den Illegalen. In den Nahrungsmittelhandwerken ging man sogar noch einen Schritt weiter: Bei Bäckern, Bierbrauern und Metzgern wurde sogar ein Verbot der Einfuhr gefordert, welche den Handwerkern von den Frankfurter Dörfern und aus dem übrigen Umland an den beiden Markttagen unter bestimmten Auflagen möglich war. Dieses Verbot wurde gefordert, obwohl allen Beteiligten klar war, daß die Stadt nicht autark und auf die Nahrungsmittelzufuhr aus dem Umland existentiell angewiesen war. In den Supplikationen ist also eine Wirtschaftsmentalität erkennbar, die eigentlich den Markt ablehnte und die Konkurrenz auf den Wettbewerb mit den eigenen Frankfurter Mitmeistern reduzieren wollte. Um diese stark auf die eigene Kommune, das Lokale fixierte Position zu untermauern, verwiesen die Frankfurter Meister in ihren Supplikationen immer wieder darauf, daß man Bürger der Stadt sei und daß man damit nicht nur ökonomische Nachteile in Kauf nehme – höhere Mieten, generell höhere Lebenshaltungs- und Produktionskosten –, sondern damit eigentlich auch Anspruch auf besondere Rechte und Freiheiten bzw. auf Schutz durch die Obrigkeit habe. Dieses politisch argumentierende Konzept von Arbeit war verbunden mit einem Selbstverständnis, das auf Autonomie zielte. Die Meister betonten nämlich in den Supplikationen immer wieder ihre Selbständigkeit; „ihr Leitbild war“ – nicht nur in diesen Texten – „die individuelle, autonome Arbeit“.54 Semantisch auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß in den Supplikationen und Vernehmungsprotokollen, d.h. in den nicht-normativen Quellen, sehr oft von Arbeit gesprochen wird: Nämlich immer dann, wenn es beispielsweise um die verbotenen Einfuhren geht, stehen Formulierungen wie „sie nehmen uns die Arbeit weg“ oder „sie greifen uns in die Arbeit ein“. Diese Formulierungen können als Indizien dafür herangezogen werden, daß es sich nicht um „rhetorische Floskeln“ handelt, sondern daß „Grundüberzeugungen von Handwerkern“ vorliegen, „ohne daß präjudiziert wäre, welche Existenz durch Arbeit begründet wurde. Sie konnte ebenso den sozialen Aufstieg ermöglichen wie im Zeichen des Kampfes gegen die Armut stehen.“55 Ob und in welcher Form Arbeit identitätstiftend wirkte, läßt sich aufgrund der problematischen Quellenlage nur bedingt sagen. Neuere Arbeiten zur Autobiographik von 54 55
Reininghaus: Arbeit (wie Anm. 18), S. 15. Ebd., S. 11 (das Zitat bezieht sich auf Beispiele aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Herv. im Original).
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Handwerkern legen nahe, nicht mehr im Sinne Sombarts von ein-, sondern von mehrdimensionalen Mentalitäten im Handwerk auszugehen. Arbeit war in der vorindustriellen Gesellschaft Gegenstand der staatlichen Regulierung und Förderung, Arbeit war die Basis der Ökonomie und des entstehenden Kapitalismus. Doch das Leben eines Handwerkers kannte während der Frühen Neuzeit außer Arbeit durchaus auch noch andere prägende Aspekte: Gesellen beispielsweise gingen nicht nur zwecks Erweiterung ihres beruflichen Wissens auf Wanderschaft, sondern verfolgten dabei auch vielfältige andere Interessen, etwa das Ziel der individuellen Persönlichkeitsbildung durch eine Bildungsreise. Und selbst bei den Gesellen, bei denen die Arbeit im Zentrum der Wanderung stand, ging es so manchem nicht nur um Arbeitssuche und Ausbildung, wie die ältere Forschung vermutete, sondern häufig auch um das Vermeiden von Arbeit.56 Zu Produktivität, verstanden als Konzeptualisierungen des Erzeugens und Hervorbringens, geben die Quellen strenggenommen nichts her; dieser Mangel an Quellen delegitimiert die Behauptung, dem vormodernen Handwerk habe es an Produktivität gefehlt. Betrachtet man aber die schwankenden Märkte des Handwerks und den flexiblen Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit, Rohstoffe und Werkzeuge durch die Meister, so ist doch – wenn man ein Resümee ziehen möchte – ein produktiver Mitteleinsatz im Handwerk durchaus erkennbar.
III. Quellenkritik und Diskurse Wer spricht eigentlich in den Quellen zu uns, auf denen die neuere Handwerksforschung basiert? Das bunte und mehrdimensionale Bild vom vormodernen Handwerk, welches diese Forschungen zeichnen, wurde vor allem auf der Grundlage von Quellen wie Supplikationen und Verhörprotokollen gewonnen. Da es um die „ÜberlieferungsChance“ des Handwerks vielerorts eher schlecht steht und da Ego-Dokumente aus der 56
Sigrid Wadauer: Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. / New York 2005; Ehmer / Saurer: Art. Arbeit (wie Anm. 34), Sp. 513; Sven Steffens: Frankreich – Wanderschaft und berufliche Ausbildung im Spiegel von Selbstzeugnissen deutscher und belgischer Handwerksgesellen des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert, hrsg. von Mareike König. München 2003, S. 27-47. Angesichts der problematischen Quellenlage sind auch so selbstgewisse Zuordnungen, wie sie Jürgen Kocka am Ende seines Ritts über den Höhenkamm präsentiert, mit Vorsicht zu genießen. Am Ende der Arbeitsdiskurse, konstatiert er, stand die Arbeit als Selbstzweck; im Europa des 17./18. Jahrhunderts „setzte sich der moderne, allgemeine Begriff von Arbeit durch, der die verschiedensten körperlichen und geistigen Tätigkeiten umfaßte und hauptsächlich positiv konnotiert war: Arbeit als bewußtes, intentionales Handeln zur Befriedigung von Bedürfnissen und gleichzeitig als Teil der Daseinserfüllung des Menschen“, vgl. Kocka: Arbeit (wie Anm. 9), S. 82.
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Feder des Handwerks rar gesät sind, glauben weite Teile der kulturgeschichtlich inspirierten Forschung, wenigstens in den Protokollen und Supplikationen die authentischen Stimmen der „kleinen Leute“ zu vernehmen.57 Nun sind aber, um zum Frankfurter Beispiel zurückzukommen, die wenigsten Supplikationen vom Handwerk selbst, sondern von Advokaten und deren Schreibern aufgezeichnet worden. Welche Strategien und Semantiken diese Rechtsgelehrten wählten, um im Auftrag ihrer Mandanten mit der Obrigkeit zu kommunizieren, und wie sie damit bis heute unser Bild vom Handwerk prägen, ist bisher für Frankfurt nicht untersucht worden. Und wer spricht eigentlich in den Verhörprotokollen, welche die Vernehmungen in indirekter Rede festgehalten haben und die aufgrund der Anzeigen bzw. der Supplikationen des Handwerks angelegt wurden? Hört man da wirklich die Stimmen der kleinen Leute oder liest man nur die Semantik der gelehrten Experten, über deren Schreib- und Aufschreibkonventionen wir für Frankfurt so gut wie gar nichts wissen? Wer ist in diesen Verhörprotokollen eigentlich der Herr bzw. die Herrin der Diskurse? Die Ratsherren, die in der Regel die Verhöre leiteten? Die Advokaten? Oder vielleicht die juristisch gebildeten Stadt- und Ratsschreiber? Oder doch die kleinen Leute, die Handwerksmeister und Handwerkerwitwen, welche sich der Listen der Ohnmacht zu bedienen wußten? Durften die Meister oder die Vorsteher der Handwerke die Verhörprotokolle vielleicht sogar einsehen und Einfluß auf die Aufzeichnungen nehmen oder waren diese ein Arkanum, gehütet von der Obrigkeit und ihren Helfern? Wer unter den Handwerkern konnte eigentlich lesen und schreiben? Diese skeptischen, quellenkritischen Anmerkungen sollen kein Plädoyer für die Abschaffung der Geschichtsschreibung sein. Aber Gerichtsakten und Supplikationen sind problematische Quellen und allzuoft weiß man über die Umstände, unter denen sie entstanden, nur ungenügend Bescheid; sie erlauben nur einen getrübten Blick auf das „Leben“. „Möglichkeiten und Grenzen sinnvoller Rede“ über das Frankfurter Handwerk bzw. Möglichkeiten und Grenzen „kohärenten sozialen Handelns“ des vorindustriellen Handwerks werden bis heute vor allem von der reichsstädtischen Obrigkeit und von Juristen festgelegt sowie von einer Geschichtsschreibung, die seit dem 19. Jahrhundert diesen Quellen ohne weitergehende Quellenkritik oder Diskursanalyse folgt.58 Von der bloßen Erwähnung von Arbeit in diesen Quellen kann vermutlich nicht unmittelbar auf die eine hohe Wertschätzung von Arbeit unter den Handwerkern rück57 58
Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers. In: HZ 240 (1985), S. 529-570. Philipp Sarasin: Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte. In: Kulturgeschichte Heute, hrsg. von Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1996, S. 131-165, 142; Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt a.M. 2003, S. 10-60. Ausführlich zu den quellenkritischen Problemen demnächst in meinem Aufsatz: Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Zur Rechtsgeschichte des Frankfurter „Zunfthandwerks“ während der Frühen Neuzeit. In: Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft, hrsg. von Anja Amend, Anette Baumann und Stephan Wendehorst (vermutlich München 2007).
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geschlossen werden. Es lassen sich in den Quellen, mit denen die Handwerksforschung üblicherweise arbeitet, sicherlich Muster, semantische Repertoires sowie markante Abweichungen ausmachen. Aber bevor neue Meistererzählungen konstruiert werden, sollte man sich das Fragmentarische der Überlieferung noch einmal vor Augen führen und vielleicht die Frage stellen: Wer legt eigentlich die Grenzen des Sagbaren und Machbaren in der Handwerksgeschichtsschreibung fest?59
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Arbeit, Ordnung – Produktivität? Ein Vergleich von niederländischem Merkantilismus und deutschsprachigem Kameralismus im 17. Jahrhundert∗ I.
Produktivität und Ökonomie
Im Gegensatz zu unserem alltäglichen Verständnis konzipiert die dominante, neoklassisch fundierte Ökonomie der Gegenwart Produktivität als Maß. Allgemein und in den Worten eines aktuellen Volkswirtschaftslexikons formuliert, bezeichnet Produktivität das „Verhältnis zwischen Output und den für die Produktion verwendeten Inputs“.1 Sie ist demnach eine relationale Kategorie, die den ökonomisch effizienten Einsatz von Mitteln markiert. Seine Aussagekraft erlangt der Begriff damit im Grunde genommen erst durch die Gegenüberstellung der Produktivitätsgrade vergleichbarer ökonomischer Aktivitäten. Im Unterschied zum alltäglichen Gebrauch des Wortes spielt hier die abwertende Zuschreibung des Unproduktiv-Seins oder allgemein die Vorstellung einer unproduktiven Tätigkeit grundsätzlich keine Rolle, wenn auch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Produktivitätsgrade durchaus eine entsprechende Wertung nahelegt. Dieses Verständnis unterscheidet sich nicht unwesentlich von einer älteren lexikalischen Definition, die der marxistisch fundierten Ökonomie zuzurechnen ist. Im entsprechenden Eintrag wird beispielsweise auch auf nichtproduktive Arbeit verwiesen, die aber durch ihre gesellschaftliche Notwendigkeit letztlich doch den produktiven Tätigkeiten zuzurechnen sei: „Im Sozialismus ist jede Arbeit produktiv, die ein Produkt für die Gesellschaft schafft“.2 Als produktive Arbeit werden in diesem Verständnis primär Produktionsarbeit bzw. technisch-wissenschaftliche Tätigkeiten verstanden. Der nichtproduktiven Arbeit, die im übrigen nahezu ausschließlich Aktivitäten umfaßt, die im üblichen Sinne als nichtmanuell aufgefaßt werden, kommt in dieser Definition die Rolle zu, die Ergebnisse produktiver Arbeit „rationell“ zu verteilen, einzusetzen und zu verwenden. Hierzu wird in erster Linie der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich ∗ 1 2
Für Hinweise und Kritik danke ich Christina Altenstraßer. Art.: „Produktivität“. In: Michael Hohlstein u.a.: Lexikon der Volkswirtschaft. München 22003, S. 602. Art.: „Produktive Arbeit“. In: Lexikon der Ökonomie. Sozialismus, hrsg. von Willi Ehlert u.a. Berlin 1967, S. 383f., zit. S. 383.
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gezählt. Nichtsdestotrotz verweist der zitierte Eintrag aber auch auf „Arbeit für nichtproduktive, parasitäre Zwecke“, die insbesondere in der Verwaltung zu finden sei.3 Im Gegensatz zum neoklassischen Verständnis und seiner scheinbar objektiven, weil durch mathematische Modellbildung ermittelten Berechnung unterschiedlicher Grade von Produktivität ist für das marxistisch basierte Verständnis also durchaus eine grundsätzlich wertende Unterscheidung von produktiven und unproduktiven Tätigkeiten konstitutiv. Der maßgebliche Hintergrund für diese offensichtlichere Wertung ist im gesamtwirtschaftlichen bzw. -gesellschaftlichen Bezugspunkt zu sehen, der hier als Ausgangspunkt dient. Die beiden skizzierten Verständnisweisen bauen auf Traditionen der ökonomischen Theorie des 18. bis 20. Jahrhunderts auf, die dieses Spannungsverhältnis von Produktivität entweder als Maß oder als Wert konstituiert haben.4 Ein erster Theoriestrang wird bis auf die französischen Physiokraten des 18. Jahrhunderts zurückgeführt und interpretiert Produktivität aus der Perspektive eines gesamtwirtschaftlichen Zusammenhangs. Der Begriff selbst wurde hier erstmals in Beziehung zu ökonomischen Tätigkeiten gesetzt. Als produktiv galt den Physiokraten die Landwirtschaft. Nur der Boden, d.h. die Natur, wäre in der Lage, den Reichtum einer Nation Jahr für Jahr aufs Neue zu gewährleisten, während Gewerbe und Handel insofern „steril“ wären, als sie zwar in der Lage seien, Stoffe umzuwandeln, nicht aber, deren Wert zu steigern.5 Obgleich die Physiokraten damit im Grunde genommen Arbeit generell als nicht produktiv auffaßten, da selbst die Tätigkeit der in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen nur darin bestand, die an sich gegebene Produktivität freizusetzen, beruhten auch Adam Smiths Überlegungen auf einer Auseinandersetzung mit den Physiokraten, die ihrerseits wiederum Ausgangspunkt für die ökonomische Klassik und für Karl Marx darstellte.6 Für diese Tradition gilt, daß die grundlegende Bestimmung produktiver Tätigkeiten formal vorgenommen wurde. Eine quantitative Bestimmung von Produktivität hingegen ist hier nicht von primärem Interesse. Den Bezugspunkt dieser Überlegungen bildeten stets eine Gesamtwirtschaft, eine Nation oder eine Gesellschaft, was
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Art.: „Produktive Arbeit“ (wie Anm. 2), S. 384. Vgl. zum folgenden Volker Hentschel: Art. „Produktion, Produktivität“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 1-26; Jakob Baxa: Geschichte der Produktivitätstheorie. Jena 1926; Johannes Burckhardt: Das Verhaltensleitbild ‚Produktivität‘ und seine historisch-anthropologische Voraussetzung. In: Saeculum 25 (1974), S. 277-289. Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1998, S. 207ff.; Hans Frambach: Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Marburg 1999, S. 87-90. Burckhardt: Verhaltensleitbild (wie Anm. 4), S. 278f.; Hentschel: Art. „Produktion, Produktivität“ (wie Anm. 5), S. 5-8.
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deutlich macht, daß sich hier sozial und kulturell begründete Bewertungen von Tätigkeiten und deren Zusammenhängen widerspiegeln. Ein zweiter Theoriestrang, auf dem das heute in der ökonomischen Theorie gültige Verständnis beruht, hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa im Rahmen der Grenznutzenschule, entwickelt.7 Hier findet sich ein vom gesamtwirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Bezugspunkt gelöster Begriff von Produktivität, der diese als quantifizierbare Relation von Ergebnis und (Faktor-)Einsatz und damit als zu ermittelndes Maß versteht.8 Allerdings ist auch hier nur scheinbar eine objektivere Bestimmung von Produktivität gegeben: Schließlich gelten dabei nur jene Tätigkeiten als produktiv, deren Produktivität im Rahmen ökonomischer Modellbildung auch berechnet wird bzw. werden kann. Alle anderen Tätigkeiten – traditionell v.a. nicht erwerbswirtschaftliche – sind zwar nicht „unproduktiv“, aber doch „nicht produktiv“. Sie stehen damit gewissermaßen per se außerhalb dieses Produktivitätsdiskurses und – so ließe sich der Gedanke weiterführen – damit auch außerhalb der Ökonomie selbst. Die französischen Physiokraten des 18. Jahrhunderts gelten demnach als die ersten, die den Begriff der Produktivität im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Vorgängen verwendeten. Eine Auseinandersetzung mit Produktivität in der Geschichte der ökonomischen Theorie verspricht demnach bei dieser Gruppe von Autoren erste weiterführende Ergebnisse. Damit wird das Thema in seiner ökonomischen Ausformulierung als Kind der Moderne verstanden – oder besser gesagt: als Kind der industriellen Produktionsweise, des zunehmenden staatlichen Interesses am wirtschaftlichen Treiben und dessen Nutzen, ermittelt durch ein begriffliches und methodisches Rüstzeug, das in zunehmendem Maße durch die Ausbildung der Ökonomie als Wissenschaft bereitgestellt wurde.9 Im Rahmen dieses Beitrags soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Produktivität als Thema der Ökonomie tatsächlich mit den genannten Entwicklungen in Verbindung steht oder, anders formuliert: Inwieweit lassen sich in der Frühen Neuzeit Vorstellungen erkennen, die, obgleich in anderer begrifflicher Form, dennoch eine Thematisierung von Produktivität darstellen. Dieser Frage soll auf Grundlage eines Vergleichs der frühneuzeitlichen Vorfahren ökonomischer Wissenschaft, den Varianten des Merkantilismus in den höchst unterschiedlichen Kontexten der Niederlande und des deutschsprachigen Zentraleuropas, nachgegangen werden. Im Vordergrund steht dabei die Literatur des 17. Jahrhunderts, bei der Einflüsse durch physiokratische Texte auszuschließen sind, die vielmehr selbst als ein wichtiges Fundament der ökonomischen Theorien des 18. Jahrhunderts gelten darf. 7 8 9
Vgl. Hentschel: Art. „Produktion, Produktivität“ (wie Anm. 4), S. 24-26. Vgl. etwa Hans Mayer: Produktion. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. von Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser, Bd. 6. Jena 41925, S. 1108-1122. Vgl. etwa Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin / Heidelberg 2005.
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Dieser Gedanke ist an sich nicht neu. Bereits der Nationalökonom Werner Sombart verwies 1916 auf die Vorstellung einer „volkswirtschaftlichen Produktivität“ bei den Merkantilisten.10 Zwar sei dieser Begriff, so Sombart, bei keinem dieser Autoren voll entwickelt gewesen, aber „wir können doch spüren, daß er – sagen wir: im Unterbewußtsein – vorhanden war, daß er gleichsam geahnt, gleichsam gefühlt wurde“.11 Sombart verstand unter volkswirtschaftlicher Produktivität „das Ergebnis der Leistung der gesamten Produktivkraft eines Volkes, die in dem Zusammenwirken sachlicher und persönlicher Elemente zutage tritt“.12 Er lehnte damit eine Smithsche Reduktion der Produktivität auf Arbeitsproduktivität ab, ohne auf den physiokratischen Ausgangspunkt zurückzufallen. Der Ansatzpunkt der Merkantilisten war für Sombart dynamischer als die „Statik“ der klassischen Betrachtungsweise bei Smith, womit er den – nicht ausgesprochenen – Schluß nahelegt, der Merkantilismus sei die den realen ökonomischen Verhältnissen besser entsprechende Betrachtungsweise gewesen. Ziel der Merkantilisten war seiner Ansicht nach die Verwandlung der „in einem Lande vorhandenen produktiven Möglichkeiten in produktive Wirklichkeiten“.13 Gehen wir von diesem Sombartschen Verständnis aus, das durchaus mit den aktuellen Überlegungen zum Merkantilismus in Einklang zu bringen ist, bietet es sich an, diesem Bemühen um die Verwandlung von Möglichkeiten in Wirklichkeiten nachzugehen. Hier wiederum soll die Bedeutung und Bewertung von Arbeit, ihrer Formen und Organisationsweisen, ihrer Bedingungen und ihrer Effekte untersucht werden. Dabei soll nicht unterstellt werden, daß die Merkantilisten Arbeit als einzige oder auch nur primäre Quelle von Produktivität verstanden hatten, wenn auch Arbeit in zunehmendem Maße eine wesentliche Funktion bei der Bestimmung des Reichtums eines Staates oder einer Nation zukam.14 Vielmehr wird Arbeit hier als Feld der Analyse verstanden, in dem ökonomische und soziale Dimensionen dieser Transformation produktiver Möglichkeiten in produktive Wirklichkeiten verhandelt wurden.
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Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Bd., 2. Halbbd. München / Leipzig 21916 (Reprint München / Leipzig 1928), S. 929. Ebd., S. 929. Ebd., S. 932. Ebd., S. 931. Frambach: Arbeit (wie Anm. 5), S. 78ff.
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II. Niederländischer und deutschsprachiger Merkantilismus Der Merkantilismus und seine deutschsprachige Spielart, der Kameralismus, sind nicht als homogene theoretische Gebäude zu verstehen.15 Vielmehr waren jene Texte, die unter diesen Begriffen subsumiert werden, vielfach Gelegenheitsarbeiten, die entstanden sind, um jeweils aktuelle Probleme zu diskutieren und Vorschläge zu deren Lösung zu unterbreiten. Die Autoren waren zumeist selbst als Kaufleute oder Unternehmer ökonomisch tätig oder als „Projektemacher“ in unterschiedlichen Positionen mit frühneuzeitlichen Höfen verbunden. Dies ist auch jener Bereich, wo sich regionale Unterschiede am deutlichsten festmachen lassen: Insbesondere deutsche Autoren bewegten sich zumindest in der Nähe der Höfe im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, deren Zahl nach dem Dreißigjährigen Krieg rasant gestiegen war; ihr sozialer Status wie auch ihre materiellen Möglichkeiten beruhten auf diesem „metahöfischen Netz“.16 Dabei waren Kameralisten selten auf die Rolle eines Beraters in ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen beschränkt. Vielmehr bildeten alchemistische, physikalische, medizinische und kameralistische Texte und Projekte, wie Pamela H. Smith eindrucksvoll zeigen konnte, einen Diskurs, innerhalb dessen einzelne Elemente als Transmissionsriemen für andere Elemente dieses Diskurses dienten.17 15
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Vgl. einführend zum Merkantilismus Elise S. Brezis: Mercantilism. In: The Oxford Encyclopedia of Economic History, hrsg. von Joel Mokyr, Bd. 3. Oxford 2003, S. 482-485. Dieser aktuelle Überblick berücksichtigt die zentrale Arbeit der jüngeren Merkantilismusforschung von Lars Magnusson leider nicht, was seinen Wert etwas einschränkt. Vgl. Lars Magnusson: Mercantilism. The Shaping of an Economic Language. London / New York 1994. Vgl. ferner Ernesto Screpanti / Stefano Zamagni: An Outline of the History of Economic Thought. Oxford 1995, S. 23-41; Richard C. Wiles: The Development of Mercantilist Economic Thought. In: Pre-Classical Economic Thought. From the Greeks to the Scottish Enlightenment, hrsg. von S. Todd Lowry. Boston / Dordrecht / Lancaster 1987, S. 147-173; Pribram: Geschichte (wie Anm. 5), S. 73-193. Zum niederländischen Merkantilismus vgl. im Überblick Karel Davids: From de la Court to Vreede. Regulation and Self-Regulation in Dutch Economic Discourse from c. 1660 to the Napoleonic Era. In: Journal of European Economic History 30 (2001), S. 245-289; Theo van Tijn: Dutch economic thought in the seventeenth century. In: Economic thought in the Netherlands 1650-1950, hrsg. von J. van Daal und A. Heertje. Aldershot 1992, S. 7-28. Zum Kameralismus vgl. Keith Tribe: Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 17501840. Cambridge 1988; ders.: Strategies of economic order. German economic discourse, 17501950. Cambridge 1995; Erhard Dittrich: Die deutschen und österreichischen Kameralisten. Darmstadt 1974; Louise Sommer: Die österreichischen Kameralisten in dogmengeschichtlicher Darstellung, 2 Bde. Wien 1920-25. Volker Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus. Wien / Köln / Weimar 1997, S. 33. Pamela H. Smith: The Business of Alchemy. Science and Culture in the Holy Roman Empire. Princeton 1993. Vgl. auch Mikulás Teich: Interdisciplinarity in J. J. Becher’s Thought. In: History of European Ideas 9 (1988), S. 145-160. Vgl. allgemein für die europäische Dimension dieses Zu-
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Die niederländischen Autoren des 17. Jahrhunderts wiederum waren eher der ersten Gruppe von Unternehmern und Kaufleuten zuzurechnen. Sie waren demnach zumeist weder finanziell noch bei der Definition ihrer sozialen Rolle auf einen Hof angewiesen, was sich in der Anlage ihrer Texte auch deutlich erkennen läßt.18 Was sie überdies von ihren kameralistischen Pendants trennte, war die Tatsache, daß sie, vor dem Hintergrund der niederländischen Stellung in der zeitgenössischen Weltwirtschaft, aus einer Position der realen Stärke heraus argumentieren konnten: „The Dutch only needed to defend themselves against the defensive measures of others“.19 Für die Kameralisten hingegen bildete der rückständige Status der deutschen Territorien den Ausgangspunkt ihrer Schriften. Entsprechend wird die deutsche Tradition des Merkantilismus nunmehr von einzelnen Autoren als Frühform einer „Entwicklungsökonomie“ verstanden, bei der im Gegensatz zu den niederländischen Texten das Motiv der gesamtstaatlichen bzw. gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung zur Beseitigung relativer Rückständigkeit tragend sei.20 All dies macht deutlich, wie schwierig es ist, einen gemeinsamen Nenner für den Merkantilismus zu definieren. Als tragfähig erweist sich ein neueres Verständnis, wie es etwa bei Gianni Vaggi und Peter Groenewegen ausgedrückt ist, die den Merkantilismus „as a way of approaching and devising solutions for the economic problems of the period“21 begreifen. Sie berufen sich damit auf die einflußreiche Studie Lars Magnussons, der den europäischen Merkantilismus der Frühen Neuzeit weder als Programm der Staatsbildung noch als Schule des ökonomischen Denkens noch als Überbegriff für wirtschaftspolitische Praxis in dieser Periode begreift, sondern als Art und Weise, Probleme zu definieren und zu behandeln.22 Die Autoren der Zeit, gleich ob Engländer, Niederländer, Spanier, Schweden oder Deutsche, beschäftigten sich dabei in erster Linie mit den Möglichkeiten, wie eine Vielzahl von Angelegenheiten, von der Landwirtschaft bis zu den Steuern, zum Wohle des jeweiligen Staates, der Nation oder des Herrschers geordnet und entwickelt werden konnten. Die besondere Bedeutung dieser Literaturgattung läßt sich darin erkennen, daß sie an einer
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sammenhangs das Supplement der Zeitschrift „History of Political Economy“ 35 (2003) zum Thema „Oeconomies in the Age of Newton“. Gleichwohl zeichnen sich eine Reihe niederländischer Merkantilisten durchaus durch ihre Nähe zu städtischen politischen Fraktionen aus, so etwa Arend Tollenaar oder Pieter de la Court. Vgl. dazu C. W. Roldanus: Coenraad van Beuningen. Staatsman en libertijn. ’s-Gravenhage 1931, v.a. S. 95-100; H. W. Blom: Political Science in the Golden Age. Criticism, History and Theory in Dutch Seventeenth Century Political Thought. In: The Netherlands’ Journal of Sociology 15 (1979), S. 47-71. Van Tijn: Dutch economic thought (wie Anm. 15), S. 8. Vgl. für diese Perspektive beispielsweise Sophus A. Reinert: Cameralism and Commercial Rivalry: Nationbuilding through Economic Autarky in Seckendorff’s 1665 Additiones. In: European Journal of Law and Economics 19 (2005), S. 271-286. Gianni Viaggi / Peter Groenewegen: A Concise History of Economic Thought. From Mercantilism to Monetarism. Houndmills, New York 2003, S. 16. Magnusson: Mercantilism (wie Anm. 15).
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Schnittstelle von gelehrter Debatte und ökonomischer bzw. wirtschaftspolitischer Praxis angesiedelt war. Autoren wie Becher etwa waren dabei nicht nur umtriebige „Projektemacher“, sondern auch am Wissen von Handwerkern interessiert, mit denen er häufig Gespräche führte und versuchte, deren praktische Innovationen in die höfische Welt zu „übersetzen“.23 Dabei lassen sich, wie angedeutet, durchaus wesentliche Unterschiede zwischen den Texten niederländischer und mitteleuropäischer Provenienz erkennen. Gleichwohl zeigen Ansätze in der neueren Forschung, daß die einzelnen „nationalen Schulen“ keineswegs voneinander abgeschottet, wie lange zumindest implizit unterstellt, sondern durchaus Teil einer europäischen Debatte waren, wenn dies auch bisher erst für einzelne Beispiele herausgearbeitet werden konnte. 24 Insgesamt bedeutet dies aber, daß die Grenze selbst zwischen so scheinbar divergenten Kontexten wie den Niederlanden und den deutschen Territorien zumindest a priori nicht zu scharf zu ziehen ist. Die erkennbaren Unterschiede zwischen der niederländischen und der zentraleuropäischen Literatur reflektieren dabei bis zu einem gewissen Grad Unterschiede dieser Regionen selbst. Die Republik der Niederlande galt ausländischen Zeitgenossen als ökonomisch beispielgebende Nation.25 Dieses durch Bildungsreisen ausgedrückte Interesse zahlreicher Beobachter ist jedoch nicht nur auf den ökonomischen Erfolg dieses Landes an sich zurückzuführen, sondern auch und insbesondere auf die zeitgenössische Einschätzung, daß die Republik damit als Beispiel eines merkantilistischen Paradoxons gelten konnte: Wie konnte ein „kleiner sandhaufen“,26
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Vgl. Smith: Business (wie Anm. 17), S. 72-74. Bislang wurde dies primär für das 18. Jahrhundert nachgewiesen, es lassen sich aber auch für das 17. Jahrhundert einzelne Hinweise anführen (s.u.). Vgl. zum 18. Jahrhundert beispielsweise Ernest Lluch: Der Kameralismus, ein vieldimensionales Lehrgebäude: Seine Rezeption bei Adam Smith und im Spanien des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2000/2, S. 133-156; am Beispiel Johann Heinrich Gottlob von Justis vgl. Ulrich Adam: The Political Economy of J.H.G. Justi. Bern 2006. Volker Bauer spricht in diesem Zusammenhang allgemein von einer „offenen diskursiven Struktur“ des Kameralismus. Bauer: Hofökonomie (wie Anm. 16), S. 164. Vgl. Erik S. Reinert: Benchmarking Success: The Dutch Republic (1500-1750) as seen by Contemporary European Economists. In: Ders.: How Rich nations got Rich. Essays in the History of Economic Policy, Working Paper Nr. 2004/01, University of Oslo, Centre for Development and the Environment. Oslo 2004, S. 1-24. Es gibt Anzeichen dafür, daß sich dieses Interesse für das Land auch auf Teile der niederländischen Literatur bezog, beispielsweise auf die Publikationen von Pieter de la Court, dem prominentesten Merkantilisten des Landes. Vgl. I.W. Wildenberg: Appreciaties van de gebroeders De la Court ten tijde van de Republiek. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 98 (1985), S. 540-556. Wilhelm von Schröder: Fürstliche Schatz- und Rentkammer, nebst seinem Tractat vom Goldmachen, wie auch vom Ministrissimo oder Oberstaatsbedienten […]. Leipzig 1686 (Reprint Königstein / Leipzig 1752, Reprint Frankfurt a.M. 1978), S. 214.
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wie Wilhelm von Schröder (1640-1688)27 die Niederlande 1686 nannte, als „Mutter vom Handel in der gantzen Welt“,28 wie Johann Joachim Becher (1635-1682)29 im Jahre 1678 das Land beschrieb, fungieren? Gerade zu einer Zeit, in der in weiten Teilen der deutschen Territorien noch die ökonomischen Folgen des Dreißigjährigen Krieges direkt oder indirekt zu erleiden waren, besaß ein kleines Land ohne nennenswerte Bodenschätze wirtschaftliche Weltgeltung. Diese Beobachtung stand in lebhaftem Widerspruch zum kameralistischen Leitsatz, wonach ökonomischer und politischer Einfluß notwendig mit Art und Ausmaß der Ressourcennutzung in Zusammenhang stand.30 Die Niederlande, so war man der Ansicht, konnten international nur deshalb so erfolgreich positioniert sein, weil sie auf Kosten anderer Länder lebten: Jene Rohstoffe etwa, die dem Lande fehlten, wurden beispielsweise aus deutschen Territorien importiert und die daraus gewonnenen Fertigprodukte wieder in diese Länder exportiert, was einen Verstoß gegen ein fundamentales kameralistisches Prinzip darstellte:31 „[W]o Holländer hinkommen / da wächst kein Gras mehr / da ist nemlich nichts mehr zu thun / dann durch ihren Handel saugen und ziehen sie das Geld von allen Orten an sich […]“.32 Die Niederlande waren somit Objekt der Bewunderung, aber auch ein Symptom für das Unvermögen anderer Länder, ihr eigenes Potential, das die Kameralisten für die deutschen Territorien als grundsätzlich günstig einstuften, zu entwickeln. Der Blick auf die Niederlande legte etwa Johann Joachim Becher, der das Land mehrere Male bereist hatte, und der auch mit Teilen des niederländischen Merkantilismus vertraut war, nahe, bei der Stärkung der deutschen Territorien den „Commercien“ eine wesentliche Rolle zuzuweisen.33 Gleichwohl 27
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Zu Schröder vgl. Heinrich von Srbik: Wilhelm von Schröder. Ein Beitrag zur Geschichte der Staatswissenschaften. In: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 164. Wien 1910, S. 1-161. Johann Joachim Becher: Wohlgemeintes unvorgreiffliches Gutachten / Wie das Reichs-Edict in bannisierung der Frantzösischen Waaren in praxin und zum effect zu bringen […]. O.O. 1678, zitiert nach Kurt Zielenziger: Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus. Jena 1914, S. 256. Zu Becher vgl. Smith: Business (wie Anm. 17); Herbert Hassinger: Johann Joachim Becher 16351682. Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus. Wien 1951. Zur Bedeutung der natürlichen Ausstattung eines Landes im Kameralismus vgl. Alix Cooper: ‚The Possibilities of the Land‘: The Inventory of ‚Natural Riches‘ in Early Modern German Territories. In: History of Political Economy 35 (2003), S. 129-153. Vgl. Angela Raupach: Zum Verhältnis von Ökonomie und Politik im Kameralismus – Ein Beitrag zur sozialen Theoriebildung in Deutschland und ihrer Genese als Polizei. Diss., Univ. Hamburg 1982, S. 181f. Johann Joachim Becher: Politische Discurs, Von den eigentlichen Ursachen / deß Auff- und Abnehmens der Stadt / Länder und Republicken […]. Frankfurt 1688 (Reprint Glashütten/Taunus 1972), S. 175. Ebd., S. 173. Zu den wenigen Autoren, die Becher in diesem Werk zitiert, zählen die Brüder de la Court. Vgl. ebd., S. 12f. Vgl. dazu Smith: Business (wie Anm. 17), S. 123-125. Zu Bechers Reisen in die Niederlande vgl. F. M. Jaeger: Over Johan Joachim Becher en zijne relaties met de Nederlanden. In: Economisch-Historisch Jaarboek 5 (1919), S. 60-135; Smith: Business (wie Anm.
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versuchte er, aus der Perspektive einer nachholenden Entwicklung die Fehler der Vorreiter zu vermeiden: Durch die – wie Becher irrtümlich annahm – Abschaffung der Zünfte in den Niederlanden wäre der Zugang zu den Handwerken dort nicht reguliert, was zur Folge habe, daß „die Handwercks-Leut im Zaum und Schlaverey der Kaufleuten […]“34 gehalten würden. Daraus war für ihn die Notwendigkeit von Zünften, wenn auch in reformierter Form, klar erkennbar.35 Dem niederländischen, aber auch englischen Beispiel nachzueifern, ohne dabei die Fehler dieser Vorbilder zu begehen, stellte für die Kameralisten eine zentrale Frage nicht nur der nachholenden Entwicklung, sondern allgemein des Überlebens eines Territoriums innerhalb der konkurrierenden Staatenwelt ihrer Zeit dar. Diese Kraftanstrengung konnte ihrer Ansicht nach nur vom Staat selbst ausgehen, bei dem wiederum der jeweilige Fürst eine zentrale Rolle einnahm.
III. Der Kontext von Arbeit Mit dem Verweis auf den Fürsten ist eines der Grundcharakteristika kameralistischer Argumentation angedeutet, nämlich der spezifische Herrschaftszusammenhang der einschlägigen Texte. Diese Perspektive stellt eines der besonders nachhaltigen Elemente des deutschsprachigen Merkantilismus dar. Auch Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717-1771), der wichtigste Vertreter des Kameralismus im 18. Jahrhundert, konnte und wollte, obgleich er die Bedeutung individueller Freiheit und privaten Eigentums betonte, nicht auf eine zentrale monarchische Lenkung des Gemeinwesens verzichten.36 Für die Autoren des 17. Jahrhunderts läßt sich noch viel deutlicher der Bezug zur zeitgenössischen höfischen Gesellschaft zeigen. Wilhelm von Schröder beispielsweise begründete seine 1686 erschienenen Ausführungen zur Hebung der Wohlfahrt des Landes mit den daraus erwachsenden Einkünften für den Fürsten.37
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17), S. 141-172; A. Hulshof: Een Duitsch Econoom in en over ons land, omstreeks 1670. In: Onze Eeuw 10 (1910), S. 65-96; H.A.M. Snelders: Johann Joachim Becher und sein Gold-aus-SandProjekt. In: Johann Joachim Becher (1635-1682), hrsg. von Gotthardt Frühsorge und Gerhard F. Strasser. Wiesbaden 1993, S. 103-114. Wie sehr die Niederlande für Becher als Symbol für Fortschritt, Handel und Wohlstand standen, zeigt, daß das Frontispiz von „Politische Discurs“ die Amsterdamer Börse und mehrere Handelsschiffe zeigt. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 265. Ebd., S. 265. Vgl. Adam: Political Economy (wie Anm. 24). Vgl. Schröder: Schatz- und Rentkammer (wie Anm. 26). Das Frontispiz dieses Werks zeigt zwei Bilder mit Schafherden, deren eine geschoren, die andere hingegen geschlachtet wird. Schröder vermerkt dazu: „Wann eines klugen Fürsten Heerden / Auff diesen Fuß genützet werden / So können sie recht glücklich leben / Und den Regenten Wolle geben / Doch wer sogleich das Fell abzieht / Bringt sich um künfftigen Profit“. Eine vergleichbare Perspektive findet sich auch bei Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten-Stat, oder Gründliche und kurtze Beschreibung,
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Dieser Bezugspunkt war teils Vorbildern der politischen Theorie,38 teils der prekären sozialen Position der Autoren geschuldet, ist zum Teil aber auch als Reflexion der ökonomischen Konsequenzen der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts rasant wachsenden Höfe im Heiligen Römischen Reich zu sehen.39 Gleichwohl war der Hof für den Großteil der Kameralisten eher ein Begründungszusammenhang als ein Ziel an sich. In erster Linie intendierte man eine Ausschöpfung des Potentials des jeweiligen Territoriums, wenn auch der Staat, repräsentiert durch den Hof, als zentraler Impulsgeber vorgesehen war.40 Die kameralistische Perspektive beruhte damit auf einer allmächtigen und, ob der Schwäche zeitgenössischer staatlicher bzw. imperialer Lenkungsmacht, in gewisser Hinsicht auch utopischen Machtzentrale. Die ökonomische Entwicklung und der Ausbau zentraler Institutionen stellten dabei einen dialektischen Prozeß dar. Um das ökonomische Potential eines Landes entsprechend ausschöpfen zu können, war die Entwicklung der zahlreichen geplanten und teilweise auch installierten zentralstaatlichen Institutionen nötig, deren Stärkung auf Kosten der korporativen und ständischen Gewalten vorgesehen war. Dies aber wiederum war erst dann möglich, wenn die Mobilisierung größerer ökonomischer Ressourcen für den Staat gelang.41 Auch in Bezug auf die gesamte Gesellschaft ergab sich eine ähnliche Abhängigkeit: Von der Machtzentrale erwarteten die Kameralisten die Förderung des
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welcher gestalt Fürstenthümer, Graff- und Herrschafften im H. Römischen Reich teutscher Nation […] beschaffen zu seyn, regiret […] zu werden pflegen. Frankfurt a.M. 1656. Zu Seckendorff (1626-1692) vgl. Günther Chaloupek: Seckendorff as an Economist in Comparison with Contemporary Writers. In: European Journal of Law and Economics 19 (2005), S. 235-247; Reinert: Cameralism (wie Anm. 20). Vgl. etwa zum Hintergrund der politischen Literatur Wolfgang Weber: ‚What a Good Ruler Should Not Do‘. Theoretical Limits of Royal Power in European Theories of Absolutism, 15001700. In: Sixteenth Century Journal 26 (1995), S. 897-915. Vgl. Bauer: Hofökonomie (wie Anm. 16), S. 166. Keith Tribe hat in seiner grundlegenden Studie zum deutschen ökonomischen Denken betont, daß die Kameralisten des 17. Jahrhunderts noch keinen eigenständigen „Staat“ identifizierten. Vielmehr wurde dieser mit der Person bzw. dem Haushalt des Fürsten vermengt. Vgl. Tribe: Governing Economy (wie Anm. 15), S. 21f. Ohne auf die Schwierigkeiten, im 17. Jahrhundert von „Staat“ sprechen zu können, näher eingehen zu können, lassen sich m.E. doch gerade im Kameralismus Überlegungen erkennen, die an zentraler Stelle die Bedingungen und Möglichkeiten „frühmoderner Staatlichkeit“ reflektierten. Vgl. zum frühmodernen Staat am deutschen Beispiel Paul Münch: Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600-1700. Stuttgart 1999, S. 92-108. Vgl. ferner zu Bechers Staatsverständnis Wilhelm Brauneder: Bechers Lehre vom Staat. In: Johann Joachim Becher (1635-1682), hrsg. von Gotthardt Frühsorge und Gerhard F. Strasser. Wiesbaden 1993, S. 41-67. Insofern überrascht es nicht, daß die Errichtung kameralistischer Lehrstühle (die ersten wurden 1727 in Halle und Frankfurt/Oder errichtet) der Ausbildung von Personal für die Verwaltung dienen sollte. Vgl. Mack Walker: Rights and Functions: The Social Categories of Eighteenth-Century German Jurists and Cameralists. In: The Journal of Modern History 50 (1978), S. 234-251, hier S. 236. Allgemein vgl. Hubert C. Johnson: The Concept of Bureaucracy in Cameralism. In: Political Science Quarterly 79 (1964), S. 378-402.
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Gemeinwohls, was wiederum die Stärkung der politischen und militärischen Macht des Landes bedeutete und damit auch förderlich für die Machtposition des Fürsten war. Für die Kameralisten waren somit Menschen und Dinge zunächst Ressourcen, die durch ein politisches Zentrum lenkbar waren; diese Ressourcen – und darauf zielten die Vorschläge der Autoren ab – sollten künftig besser als bislang zum gemeinen Besten instrumentalisiert werden. Der Ansatzpunkt niederländischer Schriften scheint demgegenüber geradezu konträr zu sein. Das Interesse der niederländischen Autoren galt nie einem Fürsten oder einem Hof.42 Sogar eine Perspektive, die sich auf die gesamte Republik der Niederlande erstreckte, war die Ausnahme.43 Vielmehr argumentierten die Autoren aus einem Blickwinkel, der im wesentlichen jener der großen städtischen Kaufleute und Unternehmer im Kontext einer Stadt oder einer Provinz war. Für Arend Tollenaar etwa waren die im Export tätigen Textilunternehmer – zu denen er selbst zählte – die „vollkommenen Gold- und Silberminen eines Landes“.44 Diese Wertschätzung war einerseits auf die offensichtliche Bedeutung von Fernhandel und Exportindustrie für die wirtschaftliche Weltgeltung des Landes zurückzuführen, andererseits aber auch, wie bereits erwähnt, der eigenen Biographie geschuldet: Viele der wichtigsten niederländischen Merkantilisten des 17. Jahrhunderts waren selbst einschlägig in der Wirtschaft tätig, so etwa Pieter de la Court (1618-1685),45 Willem Usselinx (1567-1647/48)46 oder eben auch Arend Tollenaar.47 42
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Zum politisch-philosophischen Hintergrund vgl. M. van der Bijl: Pieter de la Court en de politieke werkelijkheid. In: Pieter de la Court in zijn tijd. Aspecten van een veelzijdig publicist (1618-1685), hrsg. von H.W. Blom und I.W. Wildenberg. Amsterdam / Maarssen 1986, S. 65-92; Blom: Political Science (wie Anm. 18); E. H. Kossmann: Politieke theorie in het zeventiendeeeuwse Nederland. Amsterdam 1960. Eine dieser Ausnahmen findet sich bei: Arend Tollenaar: Remonstratie ofte Vertoogh, Inhoudende verscheyden schatten van groote Consideratie Tot behoudinge ende vermeerderinge van het welvaren van de Republique van Hollandt ende West-Vrieslandt [...].’s-Gravenhage 1672. Tollenaar: Remonstratie (wie Anm. 43), S. 4. Zu de la Court vgl. mit weiteren Hinweisen Blom / Wildenberg: Pieter de la Court (wie Anm. 42); Peter Berger: Pieter de la Court (1618-1685). Unternehmer, Ökonom, politischer Theoretiker des neuen Wirtschaftsbürgertums. In: Auf Heller und Cent. Beiträge zur Finanz- und Währungsgeschichte, hrsg. von Karl Bachinger und Dieter Stiefel. Frankfurt a. M. / Wien 2001, S. 43-68; Jan Lucassen: Het welvaren van Leiden (1659-1662). De wording van een economische theorie over gilden en ondernemerschap. In: De kracht der zwakken. Studies over arbeid en arbeidersbeweging in het verleden, hrsg. von Boudien de Vries u.a. Amsterdam 1992, S. 13-48. Zu Usselinx vgl. C. Ligtenberg: Willem Usselinx. Utrecht 1915; J. Franklin Jameson: Willem Usselinx, founder of the Dutch and Swedish West India companies. New York / London 1887; R. Limburg: Cultuurdraagers in bewogen Tijden. Den Haag o.J., S. 285-313; J. G. van Dillen: De West-Indische Compagnie, het calvinisme en de politiek. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 74 (1961), S. 145-171. Zu Tollenaar liegen keine biographischen Informationen vor. Vgl. aber zum politischen Kontext seiner Arbeiten Roldanus: Coenraad van Beuningen (wie Anm. 18), v.a. S. 95-100; Etienne
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Sie vertraten damit eine Perspektive, die sich zunächst als deutlich selektiver erweist als jene der deutschsprachigen Literatur, da deutlich größere Teile des Spektrums ökonomischer Aktivitäten unberücksichtigt blieben. Bei genauerer Betrachtung wurde damit eine spezifische Hierarchie von Tätigkeiten, den damit beschäftigten Menschen und deren räumlichen Kontexten festgelegt, die sich in dieser Form im Kameralismus nicht nachweisen läßt. Anders als der kameralistische Fürst, der sich für alle Teile eines Gemeinwesens zu gleichen Teilen verantwortlich zeichnete, entwickelten die niederländischen Autoren ihre Argumentation dezidiert aus der Perspektive einer dem Eigennutz verpflichteten sozialen Gruppe. Diese schmale gesellschaftliche Schicht bildete eine Schlüsselgruppe, deren Wohl notwendigerweise das Wohl des gesamten Gemeinwesens nach sich ziehen mußte. Besonders deutlich wird dies in einer Passage aus einem 1659 erschienenen Werk Pieter de la Courts: Ein Gemeinwesen, so de la Court, sei einem Körper vergleichbar. Der Körper „wird nicht genährt, wenn aus dem Magen Nahrung oder Blut zu einem anderen Teil des Körpers geführt wird […], sondern nur allein, wenn von auszen neue Nahrung zugeführt wird“.48 Daher beruhe die Wohlfahrt eines Landes nicht auf der Produktion, sondern auf dem „Consum und dem Verkauf, nicht innerhalb sondern auszerhalb der Stadt“.49 Dies bedeutet, daß de la Court zwar argumentativ den Vorrang des Gemeinwohls beibehielt, dessen Sicherung aber nur durch die Vorrangstellung von Händlern in einer Gesellschaft gewährleistet sah. Seine Vorschläge konzentrierten sich demnach auf eine rechtliche und soziale Privilegierung dieser Schlüsselgruppen. Autarkiebestrebungen oder auch die Erhöhung von Importzöllen zum Schutz und zur Förderung eigener Industrien waren dem niederländischen Merkantilismus des 17. Jahrhunderts – von Ausnahmen wie Arend Tollenaar abgesehen – fremd.50
48 49 50
Laspeyres: Geschichte der volkswirtschaftlichen Anschauungen der Niederländer und ihrer Litteratur zur Zeit der Republik. Leipzig 1863, S. 120, 136. Pieter de la Court: Het Welvaren van Leiden. Handschrift uit het jaar 1659, hrsg. von Felix Driessen. ’s-Gravenhage 1911, S. 41, Übers. ebd. Ebd. Tollenaar befürwortete durchaus etwa ein Importverbot von französischen Textilwaren, was er mit Autoren wie Becher oder Hörnigk gemein hatte. Seine Position stellte aber eine Ausnahme dar, ebenso wie die Handelspolitik der niederländischen Städte im 17. Jahrhundert selbst in so sensiblen Bereichen wie dem Getreidehandel durchaus bemerkenswert war. Vgl. etwa Arend Tollenaar: De Voor-Looper, wegens de ontdeckinge van diversche seer schadelijcke en schandelijcke In ende Uytheemsche Landtverraders ende Landtverraderessen, in Hollandt ende West-Vrieslandt […].’s-Gravenhage 1674. Vgl. allgemein W. D. Voorthuijsen: De Republiek der vereenigde Nederlanden en het mercantilisme. ’s-Gravenhage 1964, S. 72-93.
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IV. Grundlegende Dimensionen von Arbeit im Vergleich Ausgehend von der grundlegenden Perspektive der Machtzentrale lassen sich im Kameralismus des 17. Jahrhunderts zwei eng miteinander verwobene Dimensionen von Arbeit erkennen. Zum ersten diente Arbeit dazu, Ressourcen mobilisieren zu können, und zum zweiten stellte Arbeit selbst eine Ressource dar. Die erste Dimension, also die Mobilisierung und Veredelung anderer Ressourcen, insbesondere von Rohstoffen, ist vor dem Hintergrund einer verbreiteten merkantilistischen Annahme zu interpretieren, der zufolge insbesondere der Export von Fertigprodukten die Wohlfahrt eines Landes steigerte. Dies implizierte in weiterer Folge, daß stärker darauf Bedacht genommen werden sollte, heimische Rohstoffe im Lande selbst zu verarbeiten, wodurch Arbeit in eine wesentliche Schlüsselstellung rückte. Dies bedeutete zum einen, daß die Kameralisten Landwirtschaft und Bergbau größeres Interesse entgegenbrachten als ihre niederländischen Pendants. Zum anderen implizierte dies aber auch, daß es eines gedeihlichen und wohlgeordneten Zusammenspiels unterschiedlicher sozialer Gruppen und Elemente bedurfte, um die Wohlfahrt eines Staates zu befördern. Arbeit war demnach trotz ihrer großen Bedeutung für sich genommen kein hinreichendes Mittel zur Erreichung kameralistischer Ziele.51 Entsprechend ging etwa Johann Joachim Bechers Schwager Philipp Wilhelm von Hörnigk (1640-1714)52 im Jahre 1684 davon aus, daß die Niederlande trotz der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte mittelfristig aufgrund ihres Mangels an Rohstoffen gegenüber England das Nachsehen haben würden.53 51
52
53
Hörnigk deutete allerdings in einer Passage an, daß es durchaus Konstellationen gab, in denen Arbeit bzw. ihre Intensität naturräumliche Nachteile ausgleichen konnte: „Sehen wir doch solches im kleinen, daß auch bei uns die Bauren in rauhen unfruchtbaren Gebürgen und auf ungeschlachtem Boden, die sich mit Spinnen, Holzhauen und hunderterlei andern Mühseligkeiten ernähren müssen, gemeiniglich mehr Geld haben, ihre Landsanlagen und Herrschaftsgaben besser entrichten, als in denen besten Korn- und Weinländern? Antwort: Es ist solches nicht selten freilich wahr, aber nicht lobwürdig, zugleich nicht weniger klar, daß die Bauren in den Gebürgen fleißige Leute seind, die andere aber oftmals faule Lümmel“. Philipp Wilhelm von Hörnigk: Österreich über alles, wenn es nur will, hrsg. von Gustav Otruba. Wien 1964 (nach der Ausgabe o. O. 1684), S. 86. Zu Hörnigks Werk vgl. zusammenfassend Bertram Schefold: P. W. v. Hörnigk: Oesterreich ueber alles / wann es nur will. Wirtschaft und nationale Identität im Zeitalter des Kameralismus. In: Wirtschaftsgesellschaft und Kultur. Gottfried Eisermann zum 80. Geburtstag, hrsg. von Dieter Fritz-Assmus. Bern / Stuttgart / Wien 1998, S. 133-150; vgl. ausführlicher Herbert Matis u.a.: Philipp Wilhelm von Hörnigks „Oesterreich über alles“. Vademecum zu einem Klassiker absolutistischer Wirtschaftspolitik. Düsseldorf 1997, sowie Heinz-Joachim Brauleke: Leben und Werk des Kameralisten Philipp Wilhelm von Hörnigk. Versuch einer wissenschaftlichen Biographie. Frankfurt a.M. / Bern / Las Vegas 1978. Hörnigk: Österreich (wie Anm. 51), S. 67f.
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In ihrer zweiten Dimension war Arbeit selbst eine Ressource. Dies bedeutete für die Kameralisten in erster Linie, daß das Reservoir vorhandener Arbeitskräfte analog zu anderen Ressourcen bestmöglich im Inland ausgeschöpft bzw. vermehrt werden sollte. Dies legte es zum einen nahe, die Immigration insbesondere qualifizierter Arbeitskräfte wie Handwerker oder Kaufleute durch Steuernachlässe oder religiöse Toleranz zu fördern, worin die Kameralisten mit der Mehrzahl der europäischen Merkantilisten übereinstimmten. Zum anderen lenkte der Ressourcencharakter von Arbeit den Blick auf die Bevölkerung eines Landes. Angesichts großteils fehlender Möglichkeiten, den Erfolg wirtschaftspolitischer Maßnahmen tatsächlich bewerten zu können, galten dichtbevölkerte Landschaften und große Städte als maßgebliche Indikatoren. Ernesto Screpanti und Stefano Zamagni gehen sogar soweit, von einer „mercantilist psychosis in regard to population scarcity“ zu sprechen.54 Eine große Bevölkerungszahl erlaubte es, über ein großes Arbeitskräftepotential zu verfügen, sprach für eine gelungene Politik, die viele Menschen zur Immigration bewogen hatte, was das Steueraufkommen steigen ließ und damit direkt dem Wohle des Staates und des Hofes zugute kam. Gleichwohl waren Kameralisten keine Fürsprecher eines Bevölkerungswachstums um jeden Preis: Becher warnte beispielsweise vor den Folgen einer Bevölkerungsvermehrung, die nicht in Einklang mit den zur Verfügung stehenden Subsistenzmitteln stand: „[...] es ist aber nicht genug die populirung und Volckreichmachung einer Stadt oder Lands / wann die Nahrung nicht darbey ist; dann damit eine volckreiche Versamlung bestehen könne / muß sie zu leben haben“.55 Ein Bevölkerungszuwachs ohne Rücksichtnahme auf die Erwerbsmöglichkeiten habe letztlich in Form von Massenarmut und Kriminalität einen nachteiligen Effekt zur Folge und führe zu einer Schädigung des Gemeinwesens.56 Abgesehen von der Größe der Bevölkerung lenkte der Ressourcencharakter von Arbeit den Blick der Kameralisten darauf, welchen Tätigkeiten die Untertanen nachgingen und wie diese zu bewerten seien. Nahezu alle Kameralisten des 17. Jahrhunderts bemühten sich, dazu konkrete Vorschläge und Projekte zu entwickeln. Johann Joachim Becher und Philipp Wilhelm von Hörnigk etwa führten Gewerbeerhebungen durch,
54
55 56
Screpanti / Zamagni: Outline (wie Anm. 15), S. 27. Gleichwohl lassen sich auch hier vereinzelte Gegenpositionen feststellen. Franciscus van den Enden (1602-1674) etwa begründete in einer Schrift den Nutzen einer niederländischen Kolonie in Nordamerika damit, daß der „Garten“ Amsterdam mit Menschen „überladen“ sei. Franciscus van den Enden: Kort Verhael van Nieuw Nederlants Gelegentheid, Deughden, Natuerlijke Voorrechten, en byzondere bequaemheidt ter bevolkingh […]. O.O. 1662, S. 70. Zu van den Enden vgl. Wim Klever: Mannen rond Spinoza. Presentatie van een emanciperende generatie 1650-1700. Hilversum 1997, S. 31-52; Jan V. Meininger / Guido van Suchtelen: Liever met wercken, als met woorden. De levensreis van Franciscus van den Enden, leermeester van Spinoza, complotteur tegen Lodewijk de Veertiende. Weesp 1980. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 2. Vgl. Hassinger: Johann Joachim Becher (wie Anm. 29), S. 74.
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Hörnigk systematisierte überdies die Verwaltung einer kleinen Pfarre.57 Die systematischsten Überlegungen zu Zweck und Durchführung einschlägiger Erhebungen wurden aber von Wilhelm von Schröder publiziert. In seiner 1686 veröffentlichten und Kaiser Leopold I. gewidmeten Schrift „Fürstliche Schatz- und Rentkammer“ empfahl Schröder die Anlegung eines „inuentarium“ aller Manufakturen und Handwerker im Lande.58 Dieses „inuentarium“ oder die „staatsbrille“,59 wie Schröder es auch nannte, solle detaillierte Informationen enthalten: Die Zahl der Arbeitskräfte, Rohstoffverbrauch, wieviel produziert und wieviel verkauft werde, wieviel Geld ins Land, wieviel aus dem Land gebracht und wieviel wieder investiert werde.60 Die Erstellung und beständige Aktualisierung dieses nach Gewerben zu unterteilenden und in Tabellen zu führenden Manufakturinventariums sei zwar „eine saure und schwere arbeyt“,61 so Schröder. Sein Nutzen liege aber dennoch auf der Hand: Schließlich erlaube die kontinuierliche und korrekte Führung des „inuentariums“ nicht nur, den „überschluß eines jeden gewerbs zu erforschen“, sondern auch zu ermitteln, wie viele Personen in einem Handwerk beschäftigt seien, „wie viel eine person arbeiten kan“, wie viel von einem Handwerk aus dem Ausland bezogen werde und daher „wie viel ein jedes andere land aus einem lande für nutzen ziehet“.62 All dies gestatte es, den „werth“ eines Handwerks zu bestimmen. Demnach bestimme sich der Nutzen eines Gewerbes danach, „welches mehr geld ins land bringt, oder mehr geld im land behält, […] welches am meisten von des landes selbst eignem ertrag consumiret […], welches am meisten rohe materialien von fremden orten herbey gebracht, consumiret, und also verarbeitet, selbige wieder aus dem lande führet und verkauft […], welches die meisten leute ernähret“ und „welches am meisten geld verwechselt“, also wieder investiert.63 Jene Tätigkeiten, die zwar viel gewinnen „und wenig wieder auf ihre handthierung wenden“, nutzen wenig, „denn was sie in kasten legen, dessen gebrauch wird dem publico entzogen. Darum nutzen ein armer tuchmacher dem publico mehr, denn ein künstlicher mahler, tanzmeister oder musicant“.64 57
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Josef Ehmer: Wien und seine Handwerker im 18. Jahrhundert. In: Stadt und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Karl Heinrich Kaufhold und Wilfried Reininghaus. Köln / Weimar / Wien 2000, S. 195-210, S. 197; Fritz Posch: Philipp Wilhelm von Hörnigk. Werdejahre und österreichisch-steirische Beziehungen. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61 (1953), S. 335-358. Schröder: Schatz- und Rentkammer (wie Anm. 26), S. 56. Schröder gibt an, die Idee des „inuentarium“ von persischen Beispielen bezogen zu haben. Vgl. ebd., S. 65f. Ebd., S. 65. „Unter dem verwechseln wird verstanden, was er [der Handwerker, T.B.] zu seiner handthierung kauft, und wieder ausgeben muß, i. e. das, was nicht gewinst ist“. Ebd., S. 61. Ebd., S. 65. Vgl. im übrigen die tabellarische Übersicht über die Kappelmacher und Zeugmacher, ebd., S. 62f., 77. Ebd., S. 69. Ebd., S. 78. Ebd.
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Die Kameralisten beschränkten sich aber nicht auf die Untersuchung des Nutzens einzelner Gewerbe für den Staat. Vielmehr waren sie auch daran interessiert, ihre Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. So versuchten etwa Becher oder Hörnigk mit finanzieller Unterstützung des Hofes eine Reihe von Projekten zu initiieren, die neue oder besonders zukunftsträchtige Gewerbe im Lande ansässig machen sollten, etwa im Rahmen von Werk- oder Manufakturhäusern. Damit sollte auch die optimale Ordnung und Nutzung von Arbeitskraft demonstriert werden; die Mehrzahl dieser Projekte scheiterte aber binnen kurzer Zeit.65 Überlegungen zur Rentabilität von Arbeit lassen sich durchaus auch im niederländischen Merkantilismus erkennen: Willem Usselinx etwa räsonierte im frühen 17. Jahrhundert über Vor- und Nachteile von Sklaverei gegenüber freier Lohnarbeit in den Besitzungen der niederländischen Westindischen Kompanie. Von leitendem Interesse war für ihn dabei der Nutzen für jene, die sich der Sklaven bedienten. Seiner Ansicht nach wäre der Lohnarbeit der Vorzug zu geben, da Sklaven wenig Anreiz zu intensiver Arbeit hätten, was bei bezahlter Arbeit nicht zuletzt durch die Möglichkeiten des Konsums gegeben sei.66 Diese Überlegungen erreichten aber nie jenen differenzierten Grad der Kalkulation wie bei Schröder. Dies ist bis zu einem gewissen Maße dem Ausgangspunkt der einschlägigen Texte geschuldet. Wie bereits erwähnt, bildeten die Kaufleute und Unternehmer die Grundlage und die Spitze eines Gemeinwesens, ihr postulierter Eigennutz stand keineswegs im Widerspruch zum Gemeinnutz, sondern war, im Gegenteil, mit diesem eng verwoben. Entsprechend war das maßgebliche ökonomische Handeln in einer Gesellschaft in erster Linie jenes dieser gesellschaftlichen Gruppen, dem sich die als nachrangig definierten Akteure, insbesondere Bauern und große Teile der Handwerkerschaft, anzupassen hatten. Dies wiederum bedeutete beispielsweise, daß das im Kameralismus bemerkbare Interesse für Rohstoffe und jene ökonomischen Bereiche, die damit in Verbindung stan65
66
Vgl. beispielsweise Hans J. Hatschek: Das Manufakturhaus auf dem Tabor in Wien. Ein Beitrag zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1886. Vgl. nun auch für das 18. und 19. Jahrhundert, aber mit Rückgriffen auf ältere Traditionen Gerhard Pfeisinger: Arbeitsdisziplinierung und frühe Industrialisierung 1750-1820. Wien / Köln / Weimar 2006. Willem Usselinx: Vertoogh, hoe nootwendich, nut ende profijtelick het sy voor de vereenighde Nederlanden te behouden de Vryheyt van te handelen op West-Indien, Inden vrede metten Coninck van Spaignen. O.O. o.J., S. 17 (Herv. im Original); ders.: Octroy ofte Privilegie, Soo by den Alderdoorluchtigsten Grootmachtigen Vorst ende Heer Heer Gustaeff Adolph / […] Aen de nieuw opgerichte Zuyder Compagnie in´t Koningrijck Sweden / onlangs Genadigst gegeven ende verleend is […].’s-Gravenhage 1627, S. 45f. Es gab aber unter den Zeitgenossen Usselinx’ durchaus auch grundsätzliche Bedenken gegen die Sklaverei, etwa bei van den Enden: Kort Verhael (wie Anm. 54), S. 26; ders.: Vrye Politijke Stellingen, en Consideratien van Staat, Gedaen na der ware Christenens Even gelijke vryheits gronden, strekkende tot een rechtschape, en ware verbeeteringh van Staat, en Kerk […], hrsg. von Wim Klever. Amsterdam 1992 (nach der Ausgabe Amsterdam 1665), S. 158.
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den, also insbesondere die Landwirtschaft und der Bergbau, in der niederländischen Literatur kaum auf Interesse stieß.67 Vereinzelt wurde diese Perspektive sogar ins Gegenteil verkehrt: Gerade der Mangel an Bodenschätzen wurde von niederländischen Autoren betont, um angesichts der hohen Bevölkerungsdichte und des unleugbaren wirtschaftlichen Erfolgs des Landes auf dessen daraus zu folgernde Auserwähltheit, den natürlichen Fleiß seiner Einwohner, der den anderer Nationen übertraf, oder auf die Lebensnotwendigkeit des Handels zu schließen: 1669 beispielsweise bemerkte Pieter de la Court, der holländische Boden sei es im Grunde genommen gar nicht wert, von Menschen bewohnt zu werden. Gleichwohl sei ersichtlich, daß das Land nunmehr von „zahllosen Menschen“ bewohnt sei, woraus gefolgert werden könne, daß „Holland in keiner Weise auf seinem eigenen Boden besteht“, sondern vielmehr seine Nahrung außerhalb des Landes suchen müsse.68 Innerhalb dieser Perspektive war damit Arbeit nach ihrem unmittelbaren Nutzen für eine von den Prärogativen des internationalen Handels geprägte Gesellschaft bewertet. Dadurch waren im niederländischen Merkantilismus Hierarchien festgelegt, die menschliche Tätigkeiten selektiver ins Auge faßten und bewerteten als im Kameralismus. Insbesondere ländliche Arbeit fand dabei erstaunlich wenig Beachtung wie im allgemeinen Arbeit, die – in der Perspektive jener gesellschaftlichen Schlüsselgruppen – in keinen nutzbringenden Marktzusammenhang eingebunden war. Dabei waren allerdings Überschneidungen zum Kameralismus nicht auszuschließen: Frauenarbeit wurde in beiden Textgruppen großteils nicht erwähnt und wenn, dann als nachrangig betrachtet.69 Auch geistige Tätigkeiten waren nie per se von Nutzen, sondern bestenfalls in dem Sinne, als Universitäten Studenten, Buchhändler und Professoren und damit Geld in die Stadt lockten, wie Pieter de la Court am Beispiel der Stadt Leiden zu verdeutlichen suchte: Studenten seien unter den genannten Gruppen die wichtigsten. Ihnen 67
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Vgl. A.C.A.M. Bots: Economisch denken tijdens de Republiek. In: Algemene Geschiedenis der Nederlanden, Bd. 7. Bussum 1980, S. 320-324. Nur Dirk Graswinckel (1600-1666) beschäftigte sich mit der Landwirtschaft, allerdings auch primär in Bezug auf den Getreidehandel. Vgl. Laspeyres: Geschichte (wie Anm. 47), S. 12f.; D.P.M. Graswinckel: Graswinckel. Geschiedenis van een Delftse brouwers- en regenten-geslacht. ’s-Gravenhage 1956; Otto van Rees: Geschiedens der staathuishoudkunde in Nederland tot het einde der achttiende eeuw, Bd. 1. Utrecht 1865, S. 324-342. Pieter de la Court: Aanwysing der heilsame politike Gronden en Maximen van de Republike van Holland en West-Vriesland. Leiden / Rotterdam 1669, S. 26f. Vgl. auch die frühe deutsche Übersetzung von einem seiner Werke: ders.: Interest von Holland / Oder: Grundfäste der Holländischen Wolfahrt […]. Amsterdam 1665, S. 19, dort auch das Zitat. Auch im 18. Jahrhundert tauchte dieses Motiv noch auf. Der an der Universität Leiden lehrende gebürtige Deutsche Friedrich Wilhelm Pestel etwa betonte 1784 die drohende Gefahr durch das Wasser und deren Auswirkungen auf den Fleiß der Niederländer. Friedrich Wilhelm Pestel: Vollständige Nachrichten von der Republik Holland aus authentischen Quellen gesammlet. Berlin 1784, S. 46, 58f., 190. Vgl. dazu auch Simon Schama: The embarrassment of riches. An interpretation of Dutch culture in the golden age. London 1991, S. 15-50. Etwa bei van den Enden: Kort Verhael (wie Anm. 54), S. 29.
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würden die Buchhändler folgen, um ihre Bücher verkaufen zu können. Studenten seien demnach aber auch wichtiger als Professoren, denn „ohne Studenten sind dieselben nur teure unnutze Möbel“.70
V. Arbeit und Gesellschaft Im niederländischen Merkantilismus läßt sich demnach ein Gesellschaftsmodell erkennen, das im Unterschied zum kameralistischen Ansatz nicht den Anspruch verfolgte, alle Teile einer Gesellschaft zu gleichen Teilen zu berücksichtigen. Es ging vielmehr darum, möglichst günstige Rahmenbedingungen für spezifische Teile des Handels zu installieren, was als Aufgabe der politischen Führung einer Stadt bzw. eines Landes gesehen wurde. Darüber hinausreichende regulierende Interventionen wurden hingegen vom Großteil der Autoren mit Skepsis betrachtet. Insgesamt gesehen könnte man daher von einem linear-kausalen Gesellschaftsmodell des niederländischen Merkantilismus sprechen: Linear bedeutet hier, daß die Wohlfahrt eines Landes grundsätzlich von einer kleinen Gruppe von Menschen ausgeht, während kausal darauf verweist, daß alle anderen sozial und ökonomisch relevanten Elemente von diesem Kernpunkt abgeleitet werden. Dem ist das Zirkulationsmodell des Kameralismus gegenüberzustellen. Besonders klar wird dies von Johann Joachim Becher dargelegt, dem ein arbeitsteiliges Gesellschaftsmodell, koordiniert durch den Hof, als zielführend für die Ausschöpfung des produktiven Potentials eines Landes erschien.71 Die Grundlage dieses Modells bildeten die Bauern, jene Schicht also, die sich durch die größte Nähe zu den natürlichen Ressourcen eines Landes auszeichnete und deren Handeln auch als am meisten durch die Natur determiniert betrachtet wurde. Ihre Aufgabe war es, den Handwerkern jene Rohstoffe zu liefern, die diese weiter verarbeiteten, bevor sich die Händler dieser Waren annahmen und damit Handel trieben. Aus der Sicht des Hofes war letztlich keine dieser Gruppen privilegiert, konnte doch nur in ihrem geordneten Zusammenspiel die nötige Grundlage für das Wohl des Gemeinwesens erreicht werden. Dieses Modell bildete damit einen zirkulären Zusammenhang ab, in dem der Bauer vom Handwerker und dieser seinerseits vom Händler abhing. Der Handwerker hing von den Rohstoffen, die ihm der Bauer vermittelt hatte, aber auch von dessen Nachfrage ab. Der Händler wiederum sollte sein Brot aufgrund der geplanten Einschränkung des Zwischenhandels 70 71
De la Court: Welvaren (wie Anm. 48), S. 31. Vgl. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 4-11, 98ff. Vgl. dazu ferner Smith: Business (wie Anm. 17), S. 121f.; Jutta Brückner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. München 1977, S. 44f.
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und des Handels mit inländischen Rohstoffen mit dem Vertrieb von Fertigprodukten aus den Werkstätten einheimischer Handwerker erwerben. Die Wohlfahrt eines Landes stieg mit dem gelungenen Zusammenspiel der einzelnen Teile; dies zu ermöglichen und zu koordinieren, war Aufgabe des Fürsten. Dieser hatte das Gleichgewicht der einzelnen Kräfte dieses Systems zu gewährleisten, was wiederum als Grundlage, Ziel und Symptom fürstlicher Stärke interpretiert wurde. Ein funktionierendes Zusammenspiel der einzelnen Elemente erlaubte es etwa den Bauern, ihre Güter zu „versilbern“ und so um so besser ihre Steuern bezahlen zu können, was wiederum nicht nur das Gemeinwesen, sondern auch den Fürsten stärkte. Das Bindeglied zwischen den einzelnen Ständen war die „Consumption“, die Zirkulation von Waren also, womit Becher seine Erkenntnis aus dem holländischen Vorbild, wonach die „Commercien“ zentral für das Gedeihen eines Staates wären, umsetzte. Für die Bedeutung von „Consumption“ und „Commercien“ spricht auch, daß sich die zentralen Störungen des Systems aus Störungen der Zirkulation ergaben, die Becher drei Gruppen zuordnete: 72 dem „Monopolium“, wo wenige Teilnehmer eine Seite des Marktes zum Schaden anderer dominieren,73 dem „Polypolium“, bei dem zu vielen Akteuren die Teilnahme am Markt ermöglicht ist, wodurch die „bürgerliche Nahrung“ aller nicht mehr gewährleistet ist,74 was Becher insbesondere für die Niederlande konstatierte, sowie dem „Propolium“, also dem durch einige Wenige monopolisierten „Vorkauf“75 von Waren.76 Diese Störungen zu verhindern oder aus dem Weg zu räumen, war Aufgabe des Fürsten. Innerhalb dieses Gesellschaftsmodells weist die Bedeutung von Arbeit vielfältige Verbindungslinien auf. Auf einer ersten Ebene stellte „Consumption“ den Motor der Zirkulation dar, was bedeutet, wie etwa Schröder dargelegt hat, daß Geld nicht im „kasten“ zu horten, sondern beständig in Umlauf zu halten sei.77 „Consumption“ setze 72 73
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Vgl. dazu auch Artur Karisch: Die Marktformenlehre bei Johann Joachim Becher. In: Zeitschrift für Nationalökonomie 22 (1962/63), S. 165-178. Das „Monopolium“ besteht dann, „wann ein Glied in der Gemeind das allein hat in der Nahrung / worvon sonsten in der Gemeinde viel andere leben könten“. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 110. Das Polypolium gibt „allen dieses / worvon nur etliche leben können“, und ist daher „ein Verderb der bürgerlichen Nahrung“, ebd., S. 110. Zum komplexen Begriff der Nahrung und seinen frühneuzeitlichen Gebrauchsweisen vgl. Robert Brandt / Thomas Buchner (Hrsg.): Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk. Bielefeld 2004. Als Vorkauf wird die als ungebührlich betrachtete Form des Zwischenhandels betrachtet, die zu einer Preissteigerung oder zu einer Verknappung des Angebots und damit zur Schädigung der Konsumentinnen und Konsumenten führte. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 205-207. Dies galt im übrigen auch für den Fürsten, dem Schröder empfahl, keinen zu großen Schatz zu horten. „Die gesunde vernunft zeiget mir auch durch ein schlechtes, aber deutliches exempel, daß, wenn ein Fürst ohne grose vernunft viel geld von seinen unterthanen nimmt, und solches in seinen kasten verschliesen, und als einen schatz aufheben will, endlich der Fürst und das Land ruiniret und arm werden müssen“. Vielmehr gelte als Grundsatz: „Denn gemeine leute sind reich an
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aber, wie Becher festhielt, Einkommen voraus. Entsprechend war die den Kameralisten erwünschte Form von Arbeit grundsätzlich Erwerbsarbeit. Dies bedeutet aber auch, wie bereits bemerkt, daß arbeitsfähige Hände nur dann von Vorteil waren, wenn auch ausreichende Möglichkeiten zur Erringung der Subsistenz durch Arbeit gegeben waren. Hier zeigt sich, daß Arbeit trotz ihres Ressourcencharakters doch von Rohstoffen anderer Art unterschieden wurde: Nicht genutzte Bodenschätze beispielsweise waren den Kameralisten zwar ein Dorn im Auge, doch zumindest nicht gefährlich für das Gemeinwesen, während dies für müßige Hände durchaus galt.78 Dieses Motiv der grundsätzlichen und an den Grundfesten sozialer Ordnung rüttelnden Gefahr des Müßiggangs läßt sich in dieser Deutlichkeit im niederländischen Merkantilismus nicht feststellen. Zugleich war damit im Kameralismus ein enger Zusammenhang zwischen den ökonomischen und den moralischen Grundlagen eines Gemeinwesens festgelegt. Daraus abgeleitet definierte dieses Modell auf einer zweiten Ebene, wer aktiven Anteil an der sozialen Ordnung hatte und wer nicht. Die Teilhabe wurde nicht durch die Geburt oder andere Merkmale entschieden, sondern war durch die Möglichkeit einer funktionalen Zuordnung zum Becherschen Modell bestimmt. Diese Zuordenbarkeit wiederum ergab sich durch „nützliche Arbeit“, wodurch das Modell zumindest die Möglichkeit sozialer Mobilität beinhaltete. Entsprechend war es zur Ausschöpfung des Potentials eines Landes unumgänglich, als nutzlos bewertete Tätigkeiten in „nützliche Arbeit“ zu überführen sowie deren Ausübung regelmäßiger und intensiver zu gestalten. Bemerkenswerterweise galt dies weder für Edelleute, von denen bekannt sei, „daß dieselbe per se nicht arbeiten“, noch für die Geistlichkeit: Beide liegen „den andern Leuten auff dem Halß / und vermindern ihnen die Nahrung“.79 Becher begnügte sich damit darzulegen, daß bereits eine Nichtzunahme dieser Gruppe als ausreichend erachtet werden konnte. Als dritte Bedeutungsebene von Arbeit im kameralistischen Gesellschaftsmodell läßt sich das bereits angedeutete Motiv der Ordnung noch vertiefen: Wer Händler war, sollte nicht zugleich Handwerker sein oder umgekehrt. Bechers Modell konnte nur funktionieren, wenn jeder „seinen“ Platz kannte, der allerdings weniger durch eine traditionelle Ordnung festgelegt war als vielmehr durch den Nutzen für das Gesamtsystem. Dennoch sah Becher trotz weitreichender Versuche, das Potential des Landes auszuschöpfen, im Gegensatz etwa zu Justi im 18. Jahrhundert, keinen Anlaß, grundlegende soziale Reformen in Angriff zu nehmen:80 Bäuerliche Untertänigkeit etwa sprach er nicht an, vor der Abschaffung der Zünfte warnte er explizit.81 Zu groß schien
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gelde; ein Fürst aber ist alsdenn reich zu schätzen, wenn er reiche unterthanen hat“. Schröder: Schatz- und Rentkammer (wie Anm. 26), S. 30, 34. Vgl. dazu auch Hörnigk: Österreich (wie Anm. 51), S. 140. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 313. Adam: Political Economy (wie Anm. 24), S. 215. Eine deutlich negativere Sicht auf Zünfte findet sich bei Wilhelm von Schröder, der gegen die „närrischen und vermaledeyten geschlossene zünfte“ wetterte. Schröder: Schatz- und Rent-
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Becher die Gefahr der „Unordnung“ und damit grundsätzlichen Störung der Zirkulation und folglich der Gesellschaft bei einer grundlegenden Änderung des sozialen Aufbaus. Die scharfe Trennung nützlicher und nutzloser Tätigkeiten geschah innerhalb des skizzierten Herrschaftszusammenhangs. Dementsprechend wurde Arbeit im Kameralismus des 17. Jahrhunderts weniger als Tätigkeit gedacht, die mit dem individuellen Wohl, ausgedrückt etwa in Form von Einkommen, als vielmehr mit dem Wohle des Gemeinwesens in Zusammenhang stand. Gleichwohl entwickelte sich gerade aus dieser Perspektive im Kameralismus des 18. Jahrhunderts ein Normenkatalog, der Arbeit und Fleiß zusehends auch als individuell begriffene Pflicht auffaßte.82 Da aber auch der Mensch im kameralistischen Bild des 17. Jahrhunderts eher der Faulheit als dem Fleiß zugeneigt war, sahen sich die deutschsprachigen Autoren dazu genötigt, vielfach detaillierte Vorschläge zu entwickeln, wie dem allerorten beobachtbaren Müßiggang begegnet werden konnte. Entsprechend war Arbeit in eng miteinander verquickte Kontexte von Erziehung und Zwang eingeordnet.83 Dabei galt es als Zeichen einer guten „Polizey“, das vorhandene Potential an Arbeitskraft auch tatsächlich auszuschöpfen. Daher forderten die Kameralisten geradezu gebetsmühlenartig mehr Fleiß, aber auch regelmäßigere Arbeit, beides Ergebnisse, die durch die Errichtung von Arbeitshäusern erreicht werden könnten, wofür die zeitgenössisch allseits bekannten Londoner und Amsterdamer Vorbilder Pate standen. Auch die Ausweitung jener Zeiten, die der Erwerbsarbeit dienen sollten, war ein erklärtes Ziel, das sich beispielsweise in der Abschaffung von Feiertagen manifestieren sollte. Neben der Unterscheidung von nützlicher und unnützer Arbeit oder dem Gegensatzpaar Faulheit und Fleiß spielten andere Hierarchien wie jene von qualifizierter und unqualifizierter Arbeit im Rahmen des kameralistischen Gesellschaftsmodells eine nur nachrangige Rolle. Die Fokussierung auf Erwerbsarbeit unter den spezifischen Bedin-
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kammer (wie Am. 26), S. 198. Die Forderung eines grundsätzlichen Verbots von Zünften läßt sich m.E. aber auch hier nicht erkennen. Etwa bei Joseph von Sonnenfels, der in seinen 1787 in fünfter Auflage erschienenen „Grundsätze[n] der Polizey“ bemerkte: „Die Erfahrung bestättiget es, daß der Müssiggang gewissermassen die Pflanzschule der Laster ist. Man beugt also den Lastern vor, wenn man dem Müssiggange vorbeugt […]. Die oberste Gewalt hat ein Recht, alles dasjenige aus dem Wege zu räumen, was dem Fortgange der guten Sitten nachtheilig, und den Lastern beförderlich ist; sie hat ein Recht, den schicklichsten Gebrauch der gemeinschaftlichen Kräfte zu bestimmen. Ist nun, woran niemand zweifelt, der Müssiggang den Sitten nachtheilig, befördert er die Laster, werden durch denselben ein Theil der Kräfte, welche nutzbar angewendet werden könnten, unthätig und unnütze; so ist ihr Recht, demselben bey allen Bürgern zu wehren, gänzlich nicht zweydeutig. Jedem Rechte der obersten Gewalt aber muß von Seiten der Bürger eine Pflicht zusagen, da sie ihr Folgleistung schuldig sind“. Joseph von Sonnenfels: Grundsätze der Polizey, hrsg. von Werner Ogris. München 2003 (nach der 5. Auflage Wien 1787), S. 68f. (Herv. im Original). Hörnigk etwa räsonierte über die Frage, wie jene „Inländer zur Arbeit zu gewöhnen [sind], die nur gewohnt sind, im Luder zu liegen?“, und empfahl die Einrichtung von Zucht- und Arbeitshäusern nach holländischem Vorbilde. Hörnigk: Österreich (wie Anm. 51) S. 140.
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gungen der Zirkulation implizierte ferner, daß, wie bereits erwähnt, geistige Arbeit und zu einem überwiegenden Teil auch Frauenarbeit in den Erörterungen der Kameralisten praktisch keine Rolle spielten oder – im Falle geistiger Tätigkeiten – ambivalent betrachtet wurden.84 Insofern ist hier ein Unterschied etwa zur parallel präsenten Tradition der Hausväterliteratur zu sehen, als Frauen zwar auch im Kameralismus überwiegend der häuslichen Sphäre zugeordnet wurden, aber damit kaum als Teil des Wirtschaftens betrachtet worden sind.85 Der niederländische Merkantilismus hatte nicht nur ein anderes, wenn auch nicht explizit formuliertes, Gesellschaftsmodell vor Augen, sondern verortete auch Arbeit – trotz teils bemerkenswerter Parallelen – in anderen Zusammenhängen. Arbeit wurde zunächst als individuelle Tätigkeit zum Zwecke des Erwerbs betrachtet. Ihr fehlte der im Kameralismus so deutlich ausgeprägte Ressourcencharakter ebenso wie der Bezug zu politischer Herrschaft. Dies bedeutete, daß zwar die Vorstellung nutzloser Tätigkeiten oder brachliegender Arbeitskraft durchaus bekannt war, gleichwohl aber eine Mobilisierung oder Ordnung von Arbeit nicht in dem Ausmaß wie bei den kameralistischen Pendants zu zentralen Imperativen des niederländischen Merkantilismus zählte, wenn auch die Forderung nach niedrigen Löhnen als Disziplinierungsinstrument bekannt war.86 Die gesellschaftliche Dimension von Arbeit ist bei den niederländischen Texten vor allem im Zusammenhang mit Märkten erkennbar.
VI. Arbeit und Märkte Der Hintergrund dafür, daß die niederländischen Autoren ihre Vorstellungen von Gesellschaft nicht in ein dem Becherschen vergleichbares Modell gegossen haben, ist primär darin zu sehen, daß hier der ordnende Imperativ einer politischen Zentrale fehlte. Arbeit entzog sich ganz einfach jener umfassenden Lenkbarkeit durch ein poli84
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Wilhelm von Schröder etwa klagte über die „verachtung der handwerksleute in Deutschland“, die sich darin ausdrücke, daß ihnen jeder „dintenklecker“ vorgezogen werde. Schröder: Schatz- und Rentkammer (wie Anm. 26), S. 302. Trotz aller Unterschiede zeigen sich zahlreiche Überlappungen zwischen dem Kameralismus, v.a. des 17. Jahrhunderts, und der Hausväterliteratur. Becher selbst hatte ein – nicht publiziertes – Werk erarbeitet, das dem Genre der Hausväterliteratur zuzuordnen ist. Vgl. Smith: Business (wie Anm. 17), S. 66; allgemein Marion W. Gray: Kameralismus: Die säkulare Ökonomie und die getrennten Geschlechtersphären. In: WerkstattGeschichte 19 (1998), S. 41-57; ders.: Productive Men, Reproductive Women. The Agrarian Household and the Emergence of Separate Spheres during the German Enlightenment. New York 2000. Vgl. allgemein John Hatcher: Labour, Leisure and Economic Thought before the Nineteenth Century. In: Past and Present 160 (1998), S. 64-115. Prägnanter Ausdruck für einschlägige Annahmen ist ein Zitat von de la Court, der 1659 meinte: „die Not läßt auch ein altes Weib traben“. De la Court: Welvaren (wie Anm. 48), S. 113.
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tisches Machtzentrum, wie dies im Kameralismus durch den Hof repräsentiert wurde. Eine lenkende Wirkung wurde stärker als in den deutschsprachigen Texten Märkten zugewiesen. Pieter de la Court etwa sprach sich mehrmals in seinen Schriften für eine stärkere Besteuerung jener Teile der Bevölkerung aus, die aufgrund ihrer Tätigkeit an lokalen Märkten orientiert waren, primär also Handwerker außerhalb der Textilindustrie und Bauern. Seines Erachtens wären diese Gruppen nicht nur weniger nützlich als andere, sondern auch aufgrund ihrer Tätigkeit weniger mobil.87 Damit sprach er also politischen Maßnahmen – in diesem Fall der Steuererhebung – geringere Auswirkungen zu (daß diese Handwerker aufgrund zu hoher Steuern emigrieren könnten, zog er nicht in Betracht) als ökonomischen Einflüssen wie den jeweiligen Marktbedingungen der entsprechenden Professionen. Auch in einem anderen Bereich wird die regulierende Bedeutung von Märkten deutlich: Für den niederländischen Merkantilismus spielten beispielsweise Lohnunterschiede bei der Erklärung von Arbeitsmigration eine größere Rolle als im Kameralismus. Einerseits erschien nahezu allen Autoren Migration durch den Verweis auf entsprechende Erwerbsmöglichkeiten hinreichend begründet: Becher etwa meinte, „dann wo ein Aaß ist / da sammlen sich die Adler“,88 und verwendete dabei eine frappant ähnliche Formulierung wie de la Court, der an einer Stelle meinte, die Buchhändler würden den Studenten nach Leiden folgen „wie die Vögel dem Aas“.89 Darüber hinaus aber erachtete de la Court Lohnunterschiede zwischen Städten und Regionen als maßgeblich für Arbeitsmigration. Könnte ein Tuchmacher, so de la Court 1659, in Amsterdam wöchentlich einen Gulden und ein Weber fünf Stüber mehr als in Leiden verdienen, würden diese die Stadt zugunsten der besseren Erwerbsmöglichkeiten umgehend verlassen.90 Die Kameralisten gingen zwar durchaus von Märkten aus, Bechers Gesellschaftsmodell intendierte im Kern sogar die Schaffung funktionierender Märkte; nichtsdestotrotz läßt sich in der Diskussion von Lohnrelationen erkennen, daß die niederländischen Merkantilisten ein anderes Verständnis von Märkten in Betracht zogen. Lokale Märkte galten als nachrangig. Wer – wie ein Handwerker – nur vom lokalen Publikum lebte, liege diesem im Grunde genommen auf der Tasche und trage nichts zum Gemeinwohl bei, da er kein Geld in die Stadt ziehe.91 Andere hingegen operierten auf überregionalen Märkten, brächten damit Geld in die Stadt und wären demnach, unabhängig davon, welche Art von Handel getrieben wurde, die Stützen der Gesellschaft. Auch hier zeigt sich ein bemerkenswerter Unterschied zur mitteleuropäischen Tra87 88 89
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De la Court: Aanwysing (wie Anm. 68), S. 109f. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 306. De la Court: Welvaren (wie Anm. 48), S. 31. Dieselbe Formulierung findet sich bereits bei Willem Usselinx: Bedenckinghen Over den staet vande vereenichde Nederlanden: Nopende de Zeevaert / Coop-handel / ende de gemeyne Neeringe inde selve […]. O.O. 1608, S. 5. De la Court: Welvaren (wie Anm. 48), S. 54. Ebd., S. 5; ders.: Aanwysing (wie Anm. 68), S. 109f.
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dition. Während die Kameralisten zwar auch den Handel als wesentlich erachteten, hatten sie doch nur bestimmte Formen im Auge: Zwischenhandel, Vorkauf, der Export von Rohstoffen oder der Import von Fertigprodukten wurden als schädlich erachtet; jene, die damit ihr Brot verdienten, galten beispielsweise bei Becher als „Blut- und Saugigel“, die den Ruin des Staates nach sich zögen.92 Ein gestaltender Einfluß von Märkten bei der Bewertung von Arbeit läßt sich auch in der Wahrnehmung von sozialer Mobilität und Konsum erkennen. Fleiß konnte nicht nur als Legitimation der führenden Stellung der Niederlande betont werden, sondern bei de la Court beispielsweise auch, um daraus den Reichtum Einzelner zu erklären: Wer reich war, mußte notwendigerweise auch fleißig sein. Die gesellschaftlich führende Position einzelner sozialer Gruppen wurde also nicht nur in Beziehung zum Gemeinwohl gesetzt, sondern auch mit ihrem in Form von Einkommen ausgedrückten individuellen Engagement begründet.93 Auf den Konnex von Arbeit und sozialer Mobilität im negativen Sinne verwies Willem Usselinx 1627, als er vor den Risiken der Lohnarbeit warnte: Jene, die ihre Subsistenz nur auf der Grundlage von Lohnarbeit, nicht aber auch von Landbesitz gründeten, hätten ein größeres Risiko zu verarmen, was er, der selbst aus den südlichen Niederlanden in den Norden emigriert war, insbesondere bei Migranten verortete.94 Er empfahl demnach u.a., daß Kinder niemals dieselbe Profession wie die Eltern lernen sollten, um nicht in Konkurrenz zueinander zu treten und einander letztlich ins Elend zu stürzen.95 Usselinx – einer der geistigen Väter der niederländischen Westindischen Kompanie – war es auch, der im Rahmen seiner Diskussion über den Nutzen von Kolonien den Blick auf den Konsum als motivierenden Faktor für Lohnarbeit lenkte. Seiner Ansicht nach würde die Möglichkeit, niederländische Manufakturwaren zu kaufen, die im Dienste der Niederländer stehenden Indianer zu größerer Arbeitsleistung anspornen, als dies durch Sklaverei möglich wäre.96 Arbeit gestaltete sich also als individuelle Handlung, die bestimmte, vom Gemeinwesen zunächst unabhängige Ziele verfolgte. Auch hier ist wiederum darauf zu verweisen, daß die Annahme von niedrigen Löhnen als probatem Mittel zur Leistungssteigerung bei Lohnabhängigen bekannt war, doch gehen die Überlegungen der niederländischen Autoren zumindest ansatzweise über diesen Punkt hinaus. Zwar spielte der 92
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Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 104. Auch Hörnigk unterschied zwischen unterschiedlichen Formen des Handels, von denen nur manche dem Lande zum Vorteil gereichten. Vgl. Hörnigk: Österreich (wie Anm. 51), S. 57f. Vgl. etwa de la Court: Welvaren (wie Anm. 48), S. 115. Usselinx: Bedenckinghen (wie Anm. 89), S. 7. Usselinx: Octroy (wie Anm. 66), S. 56f. Usselinx: Vertoogh (wie Anm. 66), S. 13; ders.: Octroy (wie Anm. 66), S. 47. Die niederländische Westindische Kompanie (WIC) allerdings beurteilte die Möglichkeiten des Handels mit den Indianern nicht als vielversprechend. 1633 bewertete man das Konsumniveau der Indianer als so niedrig, daß man für die einschlägigen Handelswaren nur zwei bis drei Schiffsladungen pro Jahr als ausreichend erachtete. Vgl. S. van Brakel: De Hollandsche handelscompagnieen der zeventiende eeuw. Hun ontstaan – hunne inrichting. ’s-Gravenhage 1908, S. 33.
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Konsum auch im Kameralismus eine Rolle, doch in erster Linie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gemeinwohl.97 Überlegungen zur Einschränkung des Imports französischer Luxuswaren und damit zu dem als schädlich für das Gemeinwohl erachteten Konsumverhalten der gesellschaftlichen Eliten spielten daher auch im Kameralismus eine größere Rolle als im niederländischen Merkantilismus.
VII. Schluß Die niederländischen und deutschsprachigen Spielarten des Merkantilismus im 17. Jahrhundert entwarfen sehr differenzierte Vorstellungen von Arbeit und ihrer Bedeutung innerhalb der jeweiligen Kontexte. Gemein war beiden Traditionen, daß Arbeit, ihre Intensität und ihr Verwertungszusammenhang als zentrale Indikatoren für die Bewertung eines Gemeinwesens und seiner Prosperität erachtet wurden. Beide Autorengruppen erachteten eine Tätigkeit dann als relevant, wenn sie in erwerbswirtschaftliche Zusammenhänge eingebunden war. Selbst die Rolle des Fürsten im Kameralismus war im Becherschen Gesellschaftsmodell jener eines „Verlegers“98 nachempfunden und seine koordinierende Tätigkeit damit zu einem integralen Teil der „Commercien“ erklärt worden. Ebenfalls als Gemeinsamkeit der beiden Textgruppen ist zu erachten, daß der jeweiligen Tätigkeit eine zentrale Rolle bei Art und Grad der Teilhabe an der jeweils entworfenen Gesellschaft zugewiesen wurde. Dies bedeutet in weiterer Folge, daß beide Gruppen Arbeit sehr selektiv wahrnahmen: Geistige Arbeit, Nichterwerbsarbeit und auch Frauenarbeit spielen in beiden Traditionen keine oder eine nur untergeordnete Rolle. Wenn der Kameralismus dabei dennoch weniger selektiv wirkt, so liegt dies primär an der vom niederländischen Merkantilismus zu unterscheidenden Perspektive. Die kameralistische Argumentation sah in Form des Fürsten eine politische Lenkungszentrale vor, die zum Wohle der gedeihlichen Entwicklung des Staates alle Teile einer Gesellschaft in gleichem Maße zu gleichen Teilen berücksichtigen sollte. Menschen und ihre Tätigkeiten wurden demnach als durch dieses Zentrum lenkbar erachtet. Ihr geordnetes Zusammenspiel, koordiniert durch den Fürsten, stellte den Schlüssel für die Mobilisierung des vorhandenen Potentials eines Landes dar.
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Becher etwa meinte, die Bauern, Handwerker und Kaufleute hätten die „consumption“ zur ihrer „Erhaltung“ nötig: „dann wo der Kauffmann solchen hat / nimt er dem Handwercksmann die Wahren ab / und wo der Handwercksmann seinen manufacturen einen gewissen Verschleiß weiß / da arbeitet er nit allein Tag und Nacht / sondern weil er solcher gestalt seine Arbeit versilbern kann / lebt er nit allein besser / trinckt an statt Wassers / Wein oder Bier / und gibt dem Landmann Geld zu lösen / er kaufft ihm auch neue Materien zu manufacturen ab“. Becher: Politische Discurs (wie Anm. 32), S. 101. Vgl. dazu Smith: Business (wie Anm. 17), S. 131.
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Im niederländischen Merkantilismus hingegen dominierte eine Argumentation, die von der zentralen Bedeutung gesellschaftlicher Schlüsselgruppen ausging. Deren durch Eigennutz angestrebtes oder erreichtes Wohl war letztlich entscheidend für Wohl und Wehe der gesamten Gesellschaft. Für eine absolute politische Lenkungsmacht war in dieser Perspektive kein Platz. Eine dem kameralistischen Fürsten vergleichbare Rolle wurde im niederländischen Merkantilismus den Märkten zugewiesen. Obgleich die kameralistische Argumentation ebenfalls von Märkten ausging und diese vereinzelt sogar ins Zentrum rückte, haftete ihnen im Gegensatz etwa zu Pieter de la Courts Position keine gesellschaftsordnende Kraft an.99 Dieser bewertete bestimmte Formen von Märkten als hinreichend regulierende Kraft, die sich zwangsläufig zum Wohle der Gesellschaft auswirkte. Die enge Verknüpfung von politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ordnung im Kameralismus ließ gewisse Tätigkeiten nicht nur als nutzlos, sondern auch als gefährlich erscheinen – eine Perspektive, die dem niederländischen Merkantilismus weitgehend fremd war. Als Aufgabe der Politik wurde es dort erachtet, die mit den überregionalen Märkten in Zusammenhang stehenden Gruppen zum Nachteil anderer sozialer Gruppen bzw. ökonomischer Akteure zu privilegieren. Ausgehend von diesem Vertrauen in die Ordnungsmacht bestimmter Märkte, finden sich auch im Merkantilismus eher als im Kameralismus Ansätze, die eine Förderung und Intensivierung der bevorzugten Arten von Tätigkeiten in einen marktbezogenen Zusammenhang stellten. Erwerbsarbeit konnte unter bestimmten Umständen Reichtum generieren, unter anderen Umständen hingegen sozialen Abstieg. Konsum galt als eine Möglichkeit, Arbeit zu intensivieren. Konsum und soziale Mobilität waren zwar auch im Kameralismus nicht unbekannt, eine differenziertere Ausformulierung findet sich aber dennoch bei den niederländischen Merkantilisten. Damit wären bei diesen Autoren zentrale Voraussetzungen für ein Verständnis von Produktivität gegeben, das dem modernen Begriff durchaus nahe käme. Allerdings finden sich klarer ausgearbeitete Hinweise auf Vorstellungen von Produktivität im Kameralismus. Vorstellungen von Produktivität waren im deutschsprachigen Raum im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Bezugspunkts zu interpretieren. Zwar konnte ein Land auch durch eine extensive Art und Weise sein Potential mobilisieren, etwa durch eine zeitliche (Abschaffung von Feiertagen) oder soziale (Beschäftigung von Bettlern in Arbeitshäusern) Ausdehnung „nützlicher“ Tätigkeiten. Gleichwohl beinhaltete der Kameralismus auch die Idee einer Intensivierung von Arbeit im Wege der besseren Ordnung und Koordinierung. Als produktiv lassen sich jene Tätigkeiten interpretieren, die im Rahmen des skizzierten Zirkulationszusammenhangs aufeinander abgestimmt sind und harmonisch ineinandergreifen. Unter der Voraussetzung des kameralistischen 99
Vgl. anhand eines Vergleiches von Merkantilismus und Adam Smith: Ann Firth: Moral supervision and autonomous social order: wages and consumption in 18th-century economic thought. In: History of the Human Sciences 15 (2002), S. 39-57.
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Herrschaftszusammenhangs sind diese Produktivitätsvorstellungen demnach auf einen gesamtgesellschaftlichen Bezugspunkt orientiert. Gleichwohl aber schließt dies, wie anhand von Schröders „staatsbrille“ veranschaulicht, einen Ansatz von Produktivität als quantifizierbarem Verhältnis von Input und Output und damit als Maß nicht aus. In den niederländischen Texten läßt sich allenfalls ein Produktivitätsverständnis erkennen, das im Zusammenhang mit überregionalen Märkten steht. Zwar fehlte auch in dieser Tradition ein gesamtwirtschaftlicher Bezugspunkt nicht, wohl aber der Imperativ eines gedeihlichen Zusammenspiels der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, wie dies etwa von Becher ausformuliert worden ist. Größere Bedeutung wurde hingegen dem Eigennutz zugeschrieben. Einerseits war er ein für die Gesellschaft maßgeblicher Motor auf individueller Ebene. Andererseits schien er insbesondere dann produktivitätssteigernd zu wirken, wenn hinreichende Bedingungen dafür gegeben waren, daß er sich bei den gesellschaftlichen Schlüsselgruppen der Händler und Unternehmer entfaltete. Produktivität scheint also im Kameralismus ein Potential darzustellen, das grundsätzlich breiteren Schichten der Bevölkerung zugeschrieben wurde als in den Vorstellungen der niederländischen Autoren. Beiden Traditionen war damit aber die Idee der Steigerung von Produktivität bekannt. Entsprechend beinhalteten beide Textgruppen auch Vorstellungen von Unproduktivität, die in erster Linie als jeweils unterschiedliche Wahrnehmung „nutzloser“ Tätigkeiten kodiert waren.
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CLAUDIUS SITTIG
Loehneysens Plagiate. Die Produktion von Reputation
Über das Verhältnis von Büchern und Menschen besagt eine bekannte Maxime des Herzogs von La Rochefoucauld: „Il est plus nécessaire d’étudier les hommes que les livres.“1 Man könnte diese pointierte Formulierung im Kontext der „Réflexions ou Sentences et Maximes morales“ aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts etwa so paraphrasieren: Relevantes Wissen ist Wissen über den Menschen, und es gründet sich nicht auf weltfremde Buchgelehrsamkeit, sondern es setzt eine lebensnahe und weltzugewandte Einstellung voraus. Nötiger als das Studium der Bücher, so lautet die provokative Gegenüberstellung darum, ist die Beobachtung menschlichen Verhaltens.2 – Unter derselben Prämisse läßt sich allerdings auch ein Studium der Bücher und Texte denken, das gleichzeitig ein Studium der Menschen ist. Dann nämlich, wenn Bücher nicht nur als zu vernachlässigende Trägermedien von Texten verstanden werden, sondern auch als materielle Objekte, deren Herstellung sowohl mit der Bedeutungskonstitution der Texte wie mit Menschenleben in einem engen Zusammenhang steht.3 Von einem besonderen Fall dieser Verbindung von Büchern, Texten und Menschenleben soll im Folgenden die Rede sein. Es geht um die Bücher des Braunschweigischen Stallmeisters und Berghauptmanns Georg Engelhard von Loehneysen, eines homme de lettres im buchstäblichen Sinn: Er war nicht nur Autor, sondern zugleich auch sein eigener Drucker und Verleger. Loehneysen und seine Bücher werden im Zentrum des 1
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François de la Rochefoucauld: Maximes suivies des Réflexions diverses, du Portrait de La Rochefoucauld par lui-même et des Remarques de Christine de Suède sur les Maximes. Texte établi, avec introduction, chronologie, bibliographie, notices, notes, documents sur la genèse du texte, tableau de concordance, glossaire et index par Jacques Truchet. Paris 1967, S. 172 (Maximes posthumes, Nr. 51). Es gibt eine Reihe von späteren Reaktionen auf die pointierte Formulierung, vgl. stellvertretend die Preisfrage der „Académie des sciences, arts et belles lettres de Dijon“ um die Mitte des 18. Jahrhunderts, ob es nützlicher sei, Bücher statt Menschen zu studieren. Vgl. Martine ChauneyBouillot: Un concours de l’Académie des sciences, arts et belles-lettres de Dijon au 18e siècle: „Est-il plus utile d’étudier les hommes que les livres?“ (1757). In: Annales de Bourgogne 305/306 (2005), S. 227-236. Vgl. stellvertretend für eine solche Perspektive Lisa Jardine: Erasmus, Man of Lettters. The Construction of Charisma in Print. Princeton, New Jersey 1993; Franz M. Eybl: Die Konstruktion des Autors durch den Druck: Grimmelshausen. In: Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche, hrsg. von Peter J. Burgard. Wien u.a. 2001, S. 145-160.
Claudius Sittig
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Beitrags stehen, weil sich in seiner Publikationspraxis die Begriffe ‚Produktivität‘ und ‚Plagiat‘ auf eine Weise engführen lassen, die für die Frühe Neuzeit charakteristisch sein dürfte. Um dies entwickeln zu können, ist es nötig, zunächst einige Stationen der Lebensgeschichte Loehneysens und einige Stationen der Druckgeschichte seiner Bücher zu skizzieren. Im Anschluß daran sollen zwei Fragen diskutiert werden: zum einen die Frage, ob mit dem Begriff des ‚Plagiats‘ auch Konzepte von ‚Produktivität‘ ex negativo ansprechbar werden; und zum zweiten die Frage, ob sich die Problemkonstellation im höfischen Kontext, in dem sie situiert ist, positiv wenden läßt.
I.
Loehneysens Bücher
Die drei Bücher des Georg Engelhard von Loehneysen sind allesamt auf ähnliche Weise mit seinem Lebensweg und seiner Karriere verbunden. Diese Karriere hatte im Jahr 1575 begonnen, als Loehneysen, aus pfälzischem Adel stammend, im Alter von 23 Jahren als Stallmeister in die Dienste des sächsischen Kurfürsten eingetreten war.4 Für seine Arbeit in Dresden war anfangs ein jährlicher Lohn von 200 Reichstalern ausgehandelt worden, aber schon ein gutes Jahr später wurde sein Salär verdoppelt, und auch die übrigen Gratifikationen, die man ihm gewährt hatte, wurden erheblich vermehrt. Über die Ursachen für diesen Karrieresprung ist nichts Genaues bekannt, aber es liegt nahe, ihn mit einer Handschrift in Verbindung zu bringen, die Loehneysen gerade in der Zeit nach Dienstantritt und noch vor den Verhandlungen um die Gehaltserhöhung abgeschlossen und seinem Dienstherrn, dem Kurfürsten, gewidmet hatte. Überschrieben war sie mit dem Titel „Gründtlicher Bericht vnnd Ordnung der Gebis wie ein jedes nach eines jeden Pferds art vnd eigenschafft von Jugend auf sol gebraucht werden“ (Abb. 1).5 Dieser „Gründtliche Bericht“ dürfte für den Stallmeister Loehneysen eine Art Laufbahnschrift gewesen sein, denn es handelt sich um ein Kompendium, in dem systematisch das hippologische Wissen der Zeit ausgebreitet wird. Auf 249 Folioseiten informiert Loehneysen über den Umgang mit Pferden und alle Arten von Zaumzeug: über Mundstücke, Zügel, Kandaren, Trensen und ihren Gebrauch.
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Zum Folgenden vgl. zuletzt Mara Wade: Publication, Pageantry, Patronage: Georg Engelhard von Loehneyss’ Della Cavalleria (1609; 1624) and His Hamburg Tournament Pageant for King Christian IV of Denmark (1603). In: Daphnis 32 (2003), S. 165-197, bes. S. 166-170; Jesper Düring Jørgensen: Introduktion til Georg Engelhard Löhneyssens ridebøger i Det kongelige Bibliotek. In: Fund og Forskning i Det Kongelige Biblioteks Samlinger 34 (1995), S. 35-60, bes. S. 36-39. Georg Engelhard von Loehneysen: Gründtlicher Bericht vnnd Ordnung der Gebis wie ein jedes nach eines jeden Pferds art vnd eigenschafft von Jugend auf sol gebraucht werden. M.D.LXXVI. (Sächsische Landesbibliothek Dresden mscr. KA 496).
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Von jedem Objekt werden mehrere Ausführungen speziell für jeden nur denkbaren Einsatz in exakten und maßstabsgetreuen großformatigen Abbildungen präsentiert, so daß am Musterbuchcharakter des Ganzen kein Zweifel bestehen kann. Gleichzeitig sind aber sowohl der Text als auch die kolorierten Federzeichnungen so exquisit ausgeführt, daß die entfaltete repräsentative Pracht den Gebrauchswert überwiegt. Es war eine imposante Schrift, und die Annahme scheint durchaus plausibel, daß die Verbesserung von Loehneysens Vertrag im folgenden Jahr auch eine Konsequenz der Dedikation war.6 Sie wird um so plausibler, wenn man die weiteren Schriften in den Blick nimmt, die Loehneysen im Lauf der folgenden Jahre angefertigt hat, denn sie alle stehen mit seinen DienstverhältnisAbb. 1: Georg Engelhard von Lohneysen: sen in engem Zusammenhang. Das gilt „Gründtlicher Bericht vnnd Ordnung der Gebis“ schon für die Druckausgabe des (1576), Sächsische Landes-, Staats- und „Gründtlichen Berichts“ ein gutes JahrUniversitätsbibliothek Dresden zehnt nach der ersten Handschrift: Im Jahr 1582 war Loehneysen vom kurfürstlichen Hof in Dresden an den Hof des späteren Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel nach Gröningen ausgeliehen worden, um ihm Kenntnisse im Reiten und Turnierwesen zu vermitteln. Nachdem sein Aufenthalt zunächst mehrfach verlängert worden war, wechselte er bald endgültig in die Dienste des jungen Braunschweigischen Herzogs. Und noch bevor Heinrich Julius 1589 seine Herrschaft in Wolfenbüttel antrat, erschien ein Jahr zuvor in Gröningen zum ersten Mal der erwähnte Druck des „Gründtlichen Berichts“, nun unter dem Titel
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Vgl. Wade: Publication (wie Anm. 4), S. 166f. Zwei Jahre später fertigte Loehneysen eine zweite Handschrift an, dieses Mal nur mit den Abbildungen der Zaumzeuge, und sandte sie mit einer Widmung an den Herzog von Württemberg (vgl. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 10 794). Zur frühneuzeitlichen Dedikationspraxis vgl. stellvertretend Gabriele Schramm: Widmung, Leser und Drama. Untersuchungen zu Form und Funktionswandel der Buchwidmung im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg 2003.
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„Von Zeumen“ (Abb. 2) und mit einer Widmung an den neuen Dienstherrn.7 Der repräsentative Druck im Folioformat war der Handschrift in vielerlei Hinsicht verpflichtet,8 und er stand ihr an Pracht kaum nach, so überreich war er mit Schmuckinitialen, Ornamenten und Kupferstichen ausgestattet. Diese exquisite Ausstattung seiner Werke war bei Loehneysen offenbar Programm, und eine entsprechende extravagante Tendenz scheint sich auch in seinem Lebenswandel zu zeigen. Unmittelbar nach dem Regierungsantritt seines neuen Dienstherrn im Jahr 1589 kaufte er zwei Rittergüter in der Nähe von Wolfenbüttel und nannte sich seitdem „Erbherr in Remlingen und Neundorf“. Das Haus in Remlingen hat überdies wegen eines architektonischen Details die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erregt: Matheus Merian berichtet, es sei „auff Italianische Manier / mit einem flachen Dache erbawet“. Abb. 2: Georg Engelhard von Loehneysen: Und Merian berichtet außerdem, „Von Zeumen“ (1588), Staats- und UniversitätsLoehneysen habe dort „als ein bibliothek Göttingen sonderlicher Liebhaber guter Künste / […] mit grossen Unkosten eine eigene Truckerey anrichten / auch unterschiedliche grosse Bücher / mit sonderlichen guten Letteren / allhie zu Remlingen drucken lassen“.9 Gemeint ist damit die 1596 eingerichtete und komplett ausgestattete 7
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Georg Engelhard von Loehneysen: Von Zeumen. Gründtlicher Bericht des Zeumens vnd ordentliche Außteilung der Mündtstück [sic!] vnd Stangen wie dieselben nach eines Jeden Pferdts arth vnd eigenschafft sollenn gebraucht werden. Mit Rom: Kay: May: Freiheit nicht nachzudrücken etc. [Gröningen] 1588. Vgl. zum Verhältnis von Handschrift und Druck Jesper Düring Jørgensen: Georg Engelhard Löhneysen. Fra den skrevne bidbog til den trykte ridebog. In: Fund og Forskning i Det Kongelige Biblioteks Samlinger 36 (1997), S. 11-43. Mattheus Merian: Topographia vnd Eigentliche Beschreibung Der Vornembsten Stäte, Schlösser auch anderer Plätze und Örter in denen Hertzogthümern Braunschweig vnd Lüneburg vnd denen
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frühe deutsche Privatdruckerei, die Loehneysen betrieb.10 Nach einer späteren Auskunft seines Typographen beschäftigte er dort „Reisser, Kupfferstecher und Formschneider / auch Illuministen / Mahler und andere Künstler“,11 und neben der Druckerpresse verfügte er, mit Erlaubnis seines Herzogs, auch über eine Kupferpresse und eine Papiermühle. Gedruckt wurden dort allerdings – nach allem, was man weiß – nur Loehneysens eigene Schriften, so daß die Verbindung von Autor, Drucker und Verleger in einer Person offenbar besonders eng gewesen ist. Und wenn man die Energie betrachtet, die Loehneysen in die Herstellung seiner Bücher investierte, 12 kann man davon ausgehen, daß die Bücher, die diese Druckerpresse verließen, seinen Vorstellungen und Ansprüchen weitestgehend entsprachen.
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dazu gehörenden Grafschafften, Herrschafften vnd Landen. Frankfurt a.M. 1654 (Reprint Kassel 1961), S. 175. Vgl. zur Druckerei den knappen und nicht immer zuverlässigen Überblick von Moritz Sondheim: Die Druckerei zu Remlingen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M. 1927, S. 221-224; Sondheim kennt allerdings die früheren Handschriften aus den Jahren 1576 und 1578 nicht. Die Spekulation Wilhelm Prandtls, Loehneysen habe seine Druckerei vermutlich nach dem Vorbild der Druckerei Tycho Brahes auf der Insel Hven eingerichtet, ist haltlos (Wilhelm Prandtl: Die erste Ausgabe von Georg Engelhard von Löhneyß’ Bericht vom Bergwerck. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 39 (1935), S. 15-22, hier S. 16). Michael Bötner in der unpaginierten Vorrede zu Georg Engelhard von Loehneysen: Della Cavalleria. Gründtlicher und außführlicher Bericht / von allem was zu der löblichen Reutterei gehörig / vnd einem Cavallier zu wissen von nöhten: Insonderheit von Turnier- und Ritterspielen / Erkentnis vnd Unterschied / Auch Cur vnd Wartung der Pferde / vnd wie man dieselben auff allerley Manier abrichten vnd zeumen sol. Allen Liebhabern solcher Künste / zu Dienste vnd freundlichem Gefallen beschrieben durch Den Weiland Woledlen / Gestrengen / Vesten vnd Mannhafften Georg Engelhard Löhneyß / auff Remling vnd Neivndorff Erbgesessen: Fürstl. Br. Stallmeister / Rath vnd Berghauptman / seliger Gedechtnus. Itzo aber auffs newe mit nützlichem gutem Bericht / auch herrlichen schönen Figuren / allenthalben vermehrt / verbessert vnd zum dritten mal Gedruckt zu Remlingen. Cum Gratia & Priuilegio 1624. Vgl. exemplarisch in der Widmung seiner „Aulico Politica“ Loehneysens Hinweise auf die vielfältigen Korrekturen, die er noch vor Drucklegung habe vornehmen müssen, weil die Kupferstiche, die in seiner Abwesenheit angefertigt worden waren, nicht seinen Vorstellungen entsprachen (Georg Engelhard von Loehneysen: Aulico Politica. Darin gehandelt wird 1. Von Erziehung vnd Information Junger Herrn. 2. Vom Ampt Tugent vnd Qualitet der Fürsten / vnd bestellung derselben Raht vnd Officiren. 3. Von bestellung der Concilien, die ein Fürst in seinem Lande haben mus. Allen Regenten / furstlichen Räthenn, Hoff- vnd LandOfficirern. auch sonst den Vnderthanen vnd Idermennig lieben Zu nutz vnd gut beschriebenn Durch Georg Engelhard Löhneyß [Remlingen] 1622, Widmungsvorrede, unpaginiert).
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Claudius Sittig
Diese Ansprüche waren hoch, und nur mit Hilfe einer kompletten Druckerei konnte Loehneysen ihnen offenbar gerecht werden. Merian lobt sie darum auch für ihre „sonderlichen guten Letteren“: Als in den Jahren 1609 und 1610 das erwähnte Buch „Von Zeumen“ vielfach erweitert in zwei Bänden unter dem neuen Titel „Della Cavalleria“ als erste Publikation diese Druckerpresse verließ (Abb. 3), jetzt mit einer Widmung an Friedrich Ulrich von Braunschweig-Lüneburg, da war es endgültig eines der prächtigsten illustrierten Bücher der Frühen Neuzeit geworden und ein Standardwerk der Hippologie dazu, das bis ins 18. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt worden ist.13 Neben dem Bericht „Von Zeumen“, der mit seinen 255 Folioseiten nur mehr den zweiten Band Abb. 3: Georg Engelhard von Loehneysen: bildet, enthielt das Kompendium nun im „Della Cavalleria“, ersten Band auf gut 500 Seiten in sieben Bd. 1 (1609), Staats- und Universitätsbibliothek Büchern zuerst einen längeren Abschnitt Göttingen über die Adelserziehung, dann Informationen über Tugenden und Laster der Pferde, es folgen ausführliche veterinärmedizi13
Georg Engelhard von Loehneysen: Della Cavalleria. Gründtlicher Bericht von allem was Zu der Reutterei gehorig vnd einem Cauallier dauon zuwissen geburt. Mitt Röm: Kay: May: Priuilegio [Remlingen] 1609; ders.: Das ander Theil. Grundtlicher Bericht vom Zeumen vnd ordentliche außtheilung der Mundstück vnd Stangen / wie dieselben nach eines jeden Pferdes arth vnd eygenschafft sollen gebraucht werden. Deßgleichen auch von allerleij Ritterspielen sampt den darzu gehörigen Cardellen vnd Inventionen. Item wie man die Pferde auff allerley Manier schmücken vnd zieren sol / vnd letztlich von mancherley arth vnd Inventionen der Schlitten. Allen liebhabern der Reuterey zu ehren vnd gefallen gestellet. Mitt Rom Kaij Maij Priuilegio [Remlingen] 1610. Vgl. zur späteren Rezeption Mara Wade: Georg Engelhardt Loehneyss’ Della Cavalleria als höfische Kunstlehre. In: Künste und Natur, 2 Bde, hrsg. von Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 35), Bd. 1, S. 577-589, hier S. 578; zur Geschichte des hippologischen Wissens und den entsprechenden Publikationen in der Frühen Neuzeit vgl. Helen Watanabe-O’Kelly: Triumphall Shews. Tournaments at German speaking Courts in their European Context 1560-1730. Berlin 1992, S. 65-84; Jørgensen: Introduktion (wie Anm. 4), S. 40-55; zu Loehneysens Buch im Kontext der Geschichte der Veterinärmedizin vgl. Werner Perino: Die Pferdearzneibücher des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Eine geschichtliche Studie über ihre Entwicklung und Entfaltung. München 1957, bes. S. 67, 74f. u. 80.
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nische Ratschläge auf dem neuesten Stand der Zeit (Abb. 4), außerdem differenzierte Hinweise zur Ausrichtung höfischer Turniere, entsprechende Textvorlagen, in die nur mehr die Namen der Teilnehmer einzutragen waren, und eine große Zahl von Abbildungen, die den Fundus der zeitgenössischen Festpraxis katalogartig in allen Aspekten dokumentieren. Neben idealen Turnierdarstellungen zeigt Loehneysen auch einzelne Inventionen, Rüstungen, Pferdedecken oder Schlitten (Abb. 5) – Bildprogramme und Ausstattungsdetails also, die er von seiner eigenen Tätigkeit am Hof kannte. 14
Abb. 4: Anatomische Abbildung aus Georg Engehard von Loehneysens „Della Cavalleria“, Bd. 1 (1609), Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Abb. 5: Abbildung von Prunkschlitten aus Georg Engelhard von Loehneysen: „Della Cavalleria“, Bd. 2 (1610), Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen
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Dieser dokumentarische Aspekt des Buchs steht im Vordergrund der Arbeiten von Mara Wade (wie Anm. 4 u. 13).
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Loehneysen teilt allerdings kaum je mit, bei welcher Gelegenheit sie Verwendung gefunden hatten. Sicher stand hinter dieser Praxis eine Absicht zur Verallgemeinerung, die dem kompendiösen Charakter des Musterbuchs entsprach,15 aber auffällig ist diese mangelnde Präzision doch, weil eine Einordnung der Aufzüge in spezifische dynastische und konfessionelle Kontexte nicht unerheblich gewesen wäre,16 und überdies hätte die Information darüber, wo und wann sie verwendet worden waren, durchaus zu ihrer Dignität beitragen können. Von den gezeigten Inventionen für das Ringrennen sagt Loehneysen statt dessen nur allgemein, sie seien „auff Chur vnd Fürstlichen coniunctionen […] gebraucht worden“, es seien außerdem Aufzüge darunter, die er „selbsten inventirt“ habe.17 Und tatsächlich kann man sieben der abgebildeten Inventionen mit zwei Festen in Verbindung bringen, an deren Ausstattung Loehneysen in den Jahren 1585 und 1604 mitgewirkt hat.18 Und nur für fünf Inventionen nennt Loehneysen doch einmal den Ort, wo sie zum Einsatz gekommen waren, allerdings ohne seine Urheberschaft zu markieren.19 Auf diesen Befund, daß Loehneysen zwar signalisiert, daß sich eigene Inventionen unter den abgebildeten befinden, aber nicht kenntlich macht, um welche es sich handelt, wird noch einmal zurückzukommen sein. Auch nach dem Erscheinen dieser zweiten Auflage hat Loehneysen weiter an seinem Buch gearbeitet. Es ist 1624, zwei Jahre nach seinem Tod, noch einmal in einer dritten, wiederum erweiterten Auflage erschienen.20 Vorher sind allerdings noch die bereits erwähnten anderen beiden Bücher Loehneysens in Druck gegangen. Das zweite Buch, der „Bericht vom Bergwerck“, erschien im Jahr 1617 in Zellerfeld (Abb. 6).21 Dorthin war Loehneysen im Jahr 1613 auf Wunsch des neuen Herzogs Friedrich Ulrich, offenbar mitsamt seiner Druckerei, übergesiedelt, nachdem er knapp zwei Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1594, Braunschweigischer Berghauptmann geworden war und seine Pflichten seitdem von Remlingen aus wahrgenommen hatte. Nach der Übersiedlung hat auch dieses Buch seinen Ort in Loehneysens höfischer Karriere: Wie schon in seinen hippologischen Büchern entfaltete er auch im „Bericht vom Bergwerck“ ein umfassendes Panorama seines Metiers, der frühneuzeitlichen Montanwissenschaft – so 15 16
17 18
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Vgl. Wade: Della Cavalleria (wie Anm. 13), S. 585. Zu konfessionellen Konnotationen von Bildprogrammen vgl. Helen Watanabe-O’Kelly: The iconography of German protestant tournaments in the years before the Thirty Years War. In: Image et spectacle, hrsg. von Pierre Béhar. Amsterdam 1993, S. 47-64. Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 13), Bd. II, fol. 383. Zwei Aufzüge wurden bei Hochzeitsfeierlichkeiten in Wolfenbüttel im Jahr 1585 verwendet, zwei weitere Aufzüge gehören in den Kontext der Huldigung Hamburgs an Christian IV. von Dänemark im Jahr 1603; vgl. Wade: Publication (wie Anm. 4), S. 175. Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 13), Bd. II, fol. 387. Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 11). Georg Engelhard von Loehneysen: Bericht vom Bergwerck / Wie man dieselben Bawen / vnd in guten Wolstandt bringen soll / sampt allen darzu gehörigen Arbeiten / Ordnung und rechtlichen Proceß. Beschrieben durch G. E. Löhneyß: Fürstlichen Braunschweigischen Bergkhauptman. Mit Röm: Kay: May: Freyheit nicht nachzudrucken [Zellerfeld] Anno 1617.
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umfassend, daß auch dieses Buch ein Standardwerk geworden ist. Und wie schon das Buch „Von Zeumen“ ist auch der „Bericht vom Bergwerck“ typographisch anspruchsvoll mit Initialen und Buchschmuck ausgestattet und reich an großformatigen Illustrationen. Loehneysens drittes prächtiges Buch schließlich, ein Staatshandbuch mit dem Titel „Aulico Politica“, erschien im Jahr 1622 unmittelbar nach seinem Tod, nun wieder in Remlingen (Abb. 7).22 Offenbar hatte er es zurückgehalten, weil der politisch glücklose Friedrich Ulrich, mit dem sich Loehneysen bald überworfen hatte, seinen unvorteilhaften Platz in der Reihe der vorgestellten Tugenden und Laster zu deutlich hätte erkennen müssen. Schon dieser knappe Überblick dürfte deutlich gemacht haben, wieviel Energie Loehneysen auf die Herstellung seiner Bücher verwendete und wie groß offensichtlich die Bedeutung war, die er ihnen beimaß. Als ihr Drucker, Verleger und Autor zugleich stand er schließlich mit seiner ganzen Person für sie ein. Entsprechend heißt es daher auf der letzten Seite seiner „Aulico Politica“: „GEdruckt zu Remlingen / Typis et Impensis Authoris“.23 Diese Mitteilung, daß das Buch mit den eigenen Drucktypen des Verfassers und auf seine Kosten hergestellt worden war, erscheint darum nicht nur als Abb. 6: Georg Engelhard von Loehneysen: korrekte obligatorische Angabe, son„Bericht vom Bergwerck“ (1617), Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen dern zeigt vielmehr, daß sich Loehneysen auf die exquisiten Produkte seines privaten Druckunternehmens ohne Zweifel einiges zugute hielt, ebenso wie auf seine Rolle als Drucker, Verleger und Autor in Personalunion. Wie dabei die Bedeutung des Anspruchs auf Autorschaft für Loehneysen eingeschätzt werden muß, wird 22
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Loehneysen: Aulico Politica (wie Anm. 12). Vgl. dazu Jill Bepler: Practical Perspectives on the Court and Role of Princes: Georg Engelhard von Loehneyss’ Aulico Politica 1622-24 and Christian IV of Denmark’s Königlicher Wecker 1620. In: Daphnis 32 (2003), S. 137-163. Loehneysen: Aulico Politica (wie Anm. 22), unpaginiert, fol. 678r.
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noch zu klären sein, aber die Tatsache, daß nur seine eigenen Bücher in Remlingen gedruckt wurden, legt schon eine Bewertung nahe. Dazu paßt auch die erwähnte Tatsache, daß er betonte, es seien unter den abgebildeten Inventionen für die Aufzüge zum Ringrennen auch eigene Arbeiten. Daß er sie aber weder identifizierte, noch über die Herkunft der anderen mehr als allgemeine Auskunft gab, läßt auf eine freie Praxis der Zuordnung schließen. Und ähnliches gilt auch für die Texte, die unter Loehneysens Namen in seinen Büchern erschienen: Es waren durchaus nicht nur Texte, die er selbst verfaßt hatte. Das erscheint auf den ersten Blick nicht überraschend in einer Zeit, die weder das Rechtsinstitut des Urheberrechts noch die Denkfigur des geistigen Eigentums kannte, und die auch noch nicht mit einem prägnanten Begriff des Plagiats operierte.24 Entsprechende ethische Vorstellungen von geistigem Diebstahl waren aber sehr wohl geläufig, und darum läßt sich fragen, wie Loehneysens Anspruch auf Abb. 7: Georg Engelhard von Loehneysen: Autorschaft und sein Plagiarismus im „Aulico Politica“ (1622), Staats- und Fall der kostbaren Drucke miteinander Universitätsbibliothek Göttingen vermittelt werden könnten.
II. Loehneysens Plagiate Loehneysens Drucke waren in der Tat kostbar – wie kostbar, das hat Loehneysen selbst erfahren müssen. Denn im Jahr 1609 erschien ein unautorisierter Nachdruck der ersten Auflage seines Buchs „Von Zeumen“, etwa zur gleichen Zeit, als die zweite Auflage
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Vgl. zur nötigen Kontextualisierung Paulina Kewes: Historicizing Plagiarism. In: dies. (Hrsg.): Plagiarism in Early Modern England. Houndmills, New York 2003, S. 1-18.
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unter dem Titel „Della Cavalleria“ erschien.25 Darauf reagierte Loehneysen bei nächster Gelegenheit in seinem „Bericht vom Bergwerck“ im Jahr 1617. Inzwischen hatte er seine Bücher nicht nur durch ein kaiserliches Privileg gegen den Nachdruck geschützt, denn diese relativ schwache Form der Privilegierung hatte er – offensichtlich erfolglos – schon für sein Buch „Von Zeumen“ reklamiert. Er hatte sich darüber hinaus in der Zwischenzeit auch ein zweites Privileg durch seinen Braunschweiger Herzog ausstellen lassen – und für seine „Aulico Politica“ aus dem Jahr 1622 hatte er zusätzlich außerdem ein kursächsisches Privileg eingeholt.26 Dort stand nun die folgende ausführliche Warnung (mit gleichem Wortlaut wie im „Bericht vom Bergwerck“, erweitert nur um das neue dritte Privileg) „an die Druckerherrn vnd Buchhändler“: Damit mir von diesem vnd vorigem Wercke nichts nachgedrucket werde: Haben die Röm. Keys. Mayest. wie auch mein gnädiger Fürst vnd Herr / Herr Heinrich Julius / Hertzog zu Braunschweig vnd Lüneburg &c. hochlöblichster vnd hochlöblicher Christmilder Gedächtnis / mir auff mein vnterthänigst ansuchen / allergnädigst vnd gnädig vergönt vnd zugelassen / meine eigene Typographiam vnd Druckerey zu haben / darüber auch vnterschiedliche Privilegia, so wol von Ihr Keys. Mayest. als Ihrer Churfürstl. Gn. zu Sachsen / wie auch meinem gnädigen Fürsten vnd Herrn / dem Hertzogen zu Braunschweig / gnädigst vnd gnädig ertheilet / daß ohne mein Wissen vnd Bewilligung / solch meine Opera mir zu Nachtheil / gantz oder Stückweis / noch einiger Extract, Compendium oder Breviarium daraus nicht sol nachgedruckt werden / bey Pöen 20 Marck löthiges Goldes / vnd verlust der Exemplar. Weil denn etliche räuberische Buchdrucker fast nichts anders thun / denn daß sie andern jhre Arbeit abstehlen / nachdrucken / vnd dadurch jhren eigen Nutz suchen / vnd wenig darnach fragen / wie correct oder falsch es gedruckt werde: Wie mir denn von einem zu Franckfurt am Mayn / der sich Wilhelm Hoffman genennet / Anno 1609 / mit meinem Reitbuch / Della Cavalleria genandt / begegnet. Als wil ich alle ehrliche Buchhändler / Drucker vnd Verleger / sich dessen gäntzlich zu enthalten / hiermit gewarnet vnd gebeten haben: Im fall es vber Zu25
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Vgl. Zwey gute und sehr nutzliche Bücher von stangen vnd Mundstücken / sambt einer Beschreibung der Complexion und Natur der Pferdt / deßgleichen ein bewerter Tractat von Rossartzeney / vnd wie einem Pferdt in mancherley Zufällen zu helffen sey / vmb einen geringen Unkosten / zu gut allen Liebhabern der Reuterey zusammen in ein Corpus verfaßt. Welcher obgedachter Bücher / das erst durch den Edeln und Vesten / Johan von Fiorentini, Churfürstlichen Mentzischen / das ander durch den Edeln und Vesten / Georg Engelhart Löneysen / Herzog Heinrich Julius von Braunschweig / Stallmeister zuvor in Truck gegeben. Jetzundt aber wider auff das new mit vielen vnd allerhandt stangen und Mundstücken : insonderheit aber mit vielen Vngerischen / deßgleichen nie im Truck gewesen ist / von allerhandt Pferdt / gemehrt und verbessert. Getruckt zu Franckfurt am Mayn / durch Matthis Becker / in Verlegung Wilhelm Hoffmanns. Im Jahr M.DC.IX. Zur Geschichte des Urheberrechts vgl. allgemein Ludwig Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845. Göttingen 1995, bes. S. 3974; zur Diskussion, ob die erteilten Privilegien bereits ein Recht des Urhebers an seinem Werk anzeigten, vgl. stellvertretend Elmar Wadle: Vor- oder Frühgeschichte des Urheberrechts? Zur Diskussion über die Privilegien gegen den Nachdruck. In: Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht (UFITA) 106 (1987), S. 95-107; außerdem Joseph Loewenstein: The author’s due. Printing and the prehistory of copyright. Chicago / London 2002.
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versicht geschehe / Würde ich mich meiner habenden Privilegien zu gebrauchen wissen. Gott 27 mit vns allen.
Die Akkumulation von Privilegien, die Loehneysen offensichtlich betrieben hatte, war zeitgenössisch durchaus üblich. Wer sein Werk weiträumig und effektiv vor Nachdrucken schützen wollte, mußte sich um eine möglichst große Zahl von Privilegien bemühen, denn jedes einzelne Privileg war nur für das konkrete Territorium des ausstellenden Herrschers gültig, und die Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung hing davon ab, ob das Vergehen in den Jurisdiktionsbereich eines der ausstellenden Herrscher fiel.28 Der große Aufwand, der also nötig war, um einen angemessenen Schutz vor Nachdrucken zu erlangen, ist zugleich ein Indiz dafür, daß die frühneuzeitliche Textkultur, in der die Produktionsformen des Kopierens, Kompilierens und Imitierens dominierten,29 noch kein genuines Recht des geistigen Eigentums kannte. Texte schienen statt dessen weitgehend frei verfügbar, und wenn Privilegien ausnahmsweise gewährt wurden, dann geschah dies im Normalfall nicht in Anerkennung einer geistigen Leistung. Das schutzwürdige Gut war darum nicht der Text als deren Produkt, sondern es waren in erster Linie wirtschaftliche Monopole des Buchhandels, die dem Leistungsund Investitionsschutz dienten, also dem Schutz der handwerklichen Arbeit und der Kosten, die Drucker und Verleger investiert hatten. Wenn die Privilegien begründet wurden, dann durchaus mit der Neuheit des Stoffes, vor allem aber mit dem Nutzen seiner Veröffentlichung für die Allgemeinheit,30 und wenn Loehneysen auf den schändlichen Eigennutz der konkurrierenden Verleger und Drucker verweist, dann argumentiert er implizit mit der Umkehrung dieser Figur der Gemeinnützigkeit. Aufschlußreich ist allerdings, daß Loehneysen darüber hinaus noch ein zweites Argument gegen die Nachdrucker vorbringt: Da er sich in der Tat als Drucker, Verleger und Autor in Personalunion verstand, führt er in seiner Warnung an die Druckherren 27
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Loehneysen: Aulico Politica (wie Anm. 22), nach dem Inhaltverzeichnis, unpaginiert. Vgl. wortgleich mit Ausnahme des Hinweises auf das kursächsische Privileg schon Loehneysen: Bericht vom Bergwerck (wie Anm. 21), nach dem Inhaltverzeichnis, unpaginiert, dort lautet die Überschrift „An die Truckerherren vnd Buchführer“. Zur schwierigen Durchsetzung von Privilegien gegen den Nachdruck vgl. exemplarisch die Studie von Hansjörg Pohlmann: Der Urheberrechtsstreit des Wittenberger Professors Dr. med. Kaspar Peuker mit dem Frankfurter Verleger Sigmund Feyerabend (1568-1570). Ein Quellenbeitrag zur Frage der Wirksamkeit des kaiserlichen und kursächsischen Autorenschutzes. In: Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht (UFITA) 106 (1987), S. 71-94; vgl. allgemein zum Nachdruck auch Hellmut Rosenfeld: Zur Geschichte von Nachdruck und Plagiat. Mit einer chronologischen Bibliographie zum Nachdruck von 1733-1824. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 11 (1971), Sp. 337-372. Vgl. dazu zuletzt den Sammelband: Britta Bußmann / Albrecht Hausmann / Annelie Kreft / Cornelia Logemann (Hrsg.): Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology 5); vgl. außerdem Wilhelm Kühlmann / Wolfgang Neuber (Hrsg.): Intertextualität in der frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a.M. 1994 (Frühneuzeit-Studien 2). Vgl. Gieseke: Vom Privileg (wie Anm. 26), S. 63-65.
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und Buchhändler nicht nur seine Privilegien an, sondern er bemüht auch ein Argument aus dem Umfeld der zeitgenössischen Autorenrechte, nämlich den Schutz der Persönlichkeit. Der Vorwurf lautet darum nicht nur, daß die Nachdrucker die Arbeit anderer Leute zum eigenen Nutzen „abstehlen“ würden, sondern in derselben Passage heißt es, daß sie dabei „wenig darnach fragen / wie correct oder falsch es gedruckt werde“. Damit kommt ein Kriterium der handwerklichen Sorgfalt ins Spiel, das in den zeitgenössischen Diskussionen um die Praxis des Nachdrucks in einer charakteristischen Argumentationsfigur eingesetzt werden konnte: Autoren, die sich in der Frühen Neuzeit zu einem guten Teil auch als Handwerker verstanden, versuchten zu vermeiden, daß korrupte Ausgaben der eigenen Texte erschienen, weil man um die eigene Reputation fürchtete.31 Dieser Begriff der Reputation und die Angst vor ihrem Verlust weiten die Diskussion über die Frage des Nachdrucks auf ein grundsätzliches Problem aus: das Problem der falschen Zuweisung von Autornamen an Texte. Im Kontext der frühneuzeitlichen Ökonomie der Ehre lassen sich mit dem Begriff der Reputation zwei komplementäre Argumente formulieren. Auf der einen Seite steht der Gedanke, eine fälschliche Verbindung des eigenen Namens mit einem fremden Text könne der eigenen Reputation schaden, etwa weil der Text seinen Autor in andere Patronagebeziehungen stellt oder neue Positionen etabliert, die mit der bereits eingenommenen Stellung inkompatibel sind.32 Eine unverdient zugeschriebene Autorschaft erscheint also nicht notwendig als Gewinn, sondern sie kann durchaus auch einen Verlust an symbolischem Kapital bedeuten. Auf der anderen Seite steht die komplementäre Befürchtung, eine falsche Zuschreibung könne die Reputation des tatsächlichen Autors schmälern – das heißt Ruhm und Ansehen, die er sich durch seine Autorschaft erworben hat. Im ersten wie im zweiten Fall wird also der Vorgang der fälschlichen Zuschreibung als Verlustrechnung verstanden. Der Gewinn dagegen, den eine unbotmäßige Aneignung, also ein Plagiat nach modernen Begriffen, verspricht, kann aus ethischen Gründen kaum zur Sprache kommen. 31
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Vgl. zum Folgenden die grundlegende Studie von Max W. Thomas: Eschewing Credit: Heywood, Shakespeare, and Plagiarism before Copyright. In: New Literary History 31 (2000), S. 277-294, zur späteren Anwendung der juristischen Denkfigur des Eigentums auf das Verhältnis von Autor und Werk vgl. Mark Rose: The Author as Proprietor: Donaldson v. Becket and the Genealogy of Modern Authorship. In: Representations 23 (1988), S. 51-85; zur Bedeutung dieser Entwicklung für das Konzept der Autorschaft vgl. Martha Woodmansee: The Genius and the Copyright: Economic and Legal Conditions of the Emergence of the Author. In: Eighteenth Century Studies 17 (1984), S. 425-448. So war etwa der Frankfurter Nachdruck von Loehneysens Buch „Von Zeumen“ (wie Anm. 25) den Prinzen Ludwig, Philipp und Friedrich aus dem Haus Hessen-Darmstadt gewidmet. Als der Band im Jahr 1609 offenbar fast gleichzeitig mit „Della Cavalleria“ erschien, war die Situation in Wolfenbüttel prekär: Der regierende Herzog Heinrich Julius hielt sich seit einem knappen Jahrzehnt hauptsächlich am kaiserlichen Hof in Prag auf, und Loehneysens Widmung der beiden Bände an dessen Söhne, die Herzöge Friedrich Ulrich und Christian, erscheint in diesem Kontext durchaus signifikant.
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In Loehneysens Büchern spielt neben dem erwähnten knappen Hinweis auf sein schützenswertes Persönlichkeitsrecht als Autor auch dieser zweite Gedanke eine Rolle, also der Schutz der Anerkennung, die anderen Autoren für ihre Werke gebührt. In der Vorrede zur zweiten Auflage seines Buchs „Von Zeumen“ unter dem Titel „Della Cavalleria“ kommt Loehneysen explizit darauf zu sprechen, wenn er über seinen Umgang mit den Vorlagen für sein Buch Auskunft gibt. Das tut er allerdings auf eine aufschlußreiche Weise: Ob mir aber wol bewust / das nichts geschrieben oder geredet werden mag / das für jahren nicht auch andere geredet vnd geschriben hetten / zu dem ist offenbar / das viel fürneme Leute für langen jahren / theils auch newlicher zeit von etlichen diesen Sachen nach notturfft geschrieben vnd an Tag bracht / dadurch jhnen mit diesen Buch an jhrem gebürenden Lob / welches ich eim jeden wol gönne / nichts benomen sein sol / denn nie kein Buch so böß oder schlecht (wie vielleicht auch diß angesehen werden mag) darinnen nicht etwas guts zu finden / Derhalben ich billig bedencken gehabt / weiter dauon zu schreiben / sintemal ich bey mir wol ermessen kan / das diß mein wolmeinen von etlichen / ob sie gleich der dingen keinen Verstandt haben / in ein vnd dem andern wil getadelt werden / Weil aber solches nicht new / sondern in andern vnd mehrern sachen zu geschehen pfleget / so wil vnd muß ich dasselbe auch dahin stellen / vnd ein jeden seine opinion gönnen / da aber einer etwas bessers vnd mit grundt darthun wird / wil ich desselben meinung nicht verwerffen oder mit jhm hierüber disputiren vnd zancken / sondern mich als ein alter Cavallier der baß verstendigen Iudicio gern vnterwerffen vnd von jhnen weisen lassen / denn wie ichs in der that erfahren vnd befunden / habe ichs auch dargethan vnd mit getheilet / wie das Werck an jhm selbst außwei33 set.
Was zunächst wie eine Anerkenntnis der benutzten Vorlagen beginnt, ist am Ende kaum mehr als eine Immunisierungsstrategie gegen allfällige Vorwürfe, Loehneysen habe seine Quellen nicht genannt. Alle Einwände, die ein Leser vorbringen könnte, werden in dieser Passage mit locker arrangierten topischen Argumenten entkräftet: Neues sei in seinem Buch nicht zu erwarten, denn ohnehin – so lautet die bekannte Formulierung im Kontext der Wissensliteratur34 – sei immer alles in der Vergangenheit schon einmal gesagt worden. Die Materie sei von kundigen Autoren bereits seit langem und noch in jüngster Zeit angemessen dargestellt worden. Er wolle ihnen darum das gebührende Lob nicht streitig machen, zumal keines dieser Bücher so schlecht sei, daß nicht doch etwas Nützliches darin zu finden sei (eine Aussage, deren Gültigkeit er bescheiden auch für sein Buch reklamiert). Diese nachgeschobene schwache Begründung für das Lob der anderen Autoren wird erst verständlich, wenn man bedenkt, daß Loehneysen damit den jüngeren Plinius zitiert, der seinem Onkel den Ausspruch zugeschrieben hatte: nullum esse librum tam malum ut non aliqua parte prodesset. Und dabei war vielleicht implizit auch die klassische Rechtfertigung für die 33 34
Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 13), Widmungsvorrede, unpaginiert. Vgl. zur komplementären topischen Betonung der Neuheit des Stoffes in der Dichtung Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen / Basel 111993, S. 95f.
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Praxis des Exzerpierens mitzudenken: „nihil […] legit quod non excerperet“,35 so daß Loehneysen möglicherweise implizit auch auf seinen eigenen Umgang mit den vorliegenden Schriften verwies. Erst mit Blick auf die Vorlagen werden schließlich auch Loehneysens Bedenken verständlich, selber ein weiteres Buch über die Materie zu schreiben. Und obwohl sein „wolmeinen“ der Impuls zur Abfassung der Schrift gewesen sei, erwartet er keine wohlwollende Aufnahme, sondern mißgünstige Leser, deren Urteil er umgehend im vorhinein als inkompetent diskreditiert. Ohnehin distanziert er sich vom „[D]isputieren vnd [Z]ancken“ des gelehrten Diskurses und betont statt dessen hier wie auch in anderen Vorreden seine praktische Erfahrung. So heißt es etwa auch im „Bericht vom Bergwerck“ von den „Philosophi“, diese „Scribenten [hätten] allein ad Theoriam gesehen / vnd die Sachen im Werck nicht selbst erfahren / verstanden / geübet noch gebrauchet / sondern jhre mühsehliche Werck von etlichen denen sie zu viel geglaubt / auff blossen bericht zusammen getragen / Dahero dann ein anfahender Bergkman […] nichts fruchtbarliches daraus lernen / sondern vielmehr damit jrre gemacht“36 werde. Diese Abgrenzung von der Buchgelehrsamkeit und die Betonung, das präsentierte Wissen sei praxisrelevant, weil es sich auf Erfahrung gründe, gehört in den Kontext der adeligen Wissenskultur,37 und Loehneysens Ankündigung, berechtigte Einwände als „alter Cavallier“ anzuerkennen, ist für seinen adeligen Habitus nur der deutlichste Beleg. Die Frage nach den Quellen, die auf diese Weise ohne Antwort abgetan war, kaum hatte Loehneysen sie auch nur angedeutet, ist allerdings einigermaßen prekär. Schon sein eilfertiger Hinweis, er habe keinem anderen Verfasser das ihm gebührende Lob streitig machen wollen, ist ein Indiz dafür, daß Loehneysens Text durchaus auf anderen Texten aufbaut. Und tatsächlich waren alle Bücher, die seine Druckerei verließen, mehr oder minder aus anderen Texten kompiliert. Das ist im Bereich der Wissensliteratur in der Frühen Neuzeit zunächst kein ungewöhnlicher Vorgang,38 aber Loehneysens enge Anlehnung an einzelne Vorlagen macht zweifelhaft, ob dieser Umgang tatsächlich noch vom Begriff der Kompilation gedeckt ist: Der „Bericht vom Bergwerck“ folgt Lazarus Erckers „Beschreibung / Allerfürnemisten Mineralischen Ertzt / vnnd Berckwercksarten“ wortgetreu über 70 durchlaufend paginierte Seiten39 – bis hinein in 35 36
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Plinius d.J.: Epistulae III, 5, 10. Loehneysen: Bericht vom Bergwerck (wie Anm. 21), Vorrede unpaginiert; vgl. auch Beplers Hinweis auf die ähnliche Tendenz der Vorrede zu Loehneysens „Aulico Politica“; Bepler: Practical Perspectives (wie Anm. 22), S. 143. So lautet der Vorschlag von Gerrit Walther: Adel und Antike. Zur Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 359-385, bes. S. 361f. Vgl. zur Praxis stellvertretend Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtklitterung. In: Kühlmann / Neuber (Hrsg.): Intertextualität (wie Anm. 29), S. 63-109. Vgl. Lazarus Ercker: Beschreibung / Allerfürnemisten Mineralischen Ertzt / vnnd Berckwercksarten / wie dieselbigen / vnnd eine jede in sonderheit / jrer natur vnd eygenschafft nach / auff alle
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die Widmung, die Loehneysen weitgehend übernimmt, nicht ohne den Namen des Adressaten auszutauschen. An Stelle des Kaisers Maximilian II. in Erckers Widmung ist es nun Loehneysens Dienstherr, der Braunschweigische Herzog. Ähnlich übernimmt Loehneysen in die „Aulico Politica“ lange Passagen aus einem Buch von Melchior von Osse.40 Und in seiner „Della Cavalleria“ sind mindestens die vorangestellten 50 Seiten mit den Überlegungen zur Adelserziehung wörtlich aus einer deutschen Übersetzung der „Discours politiques et militaires“ des französischen Adelsreformers François de la Noue übernommen.41 Auch hier könnte man die unterlassenen Hinweise auf die
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Metalla probirt / vnd im kleinen Fewr sollen versucht werden / mit erklärung etlicher fürnemer nützlicher Schmeltzwerck / im grossen Feuwer / auch scheidung Goldts / Silbers / vnd anderer Metalln / Sampt einem Bericht deß Kupffer saigerns / Messing brennens / vnd Salpeter siedens / auch aller saltzigen Minerischen proben / vnd was denen allen anhengig / in fünff Bücher verfast / Deßgleichen zuvorn niemals in Druck kommen. […] Auffs newe an vielen orte mit besserer außführung / vnd mehrern Figurn erklärt / Durch Den Weitberühmten Lazarum Erckern / der Röm. Kay. May. Obersten Bergkmeister vnd Buchhalter / im Königreich Böhmen / &c. Mit Röm. Keys. May. Priuilegien. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn / durch Johan Feyerabendt. 1598 (erste Ausgabe Prag 1574); vgl. dazu Prandtl: Ausgabe (wie Anm. 10), S. 22; H. Hommel: Berghauptmann Löhneysen, ein Plagiator des 17. Jahrhunderts. In: Chemiker-Zeitung 36 (1912) Nr. 15, S. 137f. Der Abdruck bei Loehneysen dürfte noch um einiges prekärer gewesen sein, weil die Präsentation von technischen Verfahren und Konstruktionsideen wie im Fall des Buchs von Lazarus Ercker in der Frühen Neuzeit häufig auch indizierte, daß die Erfindungen selbst durch Privilegien geschützt waren, vgl. dazu Marcus Popplow: Erfindungsschutz und Maschinenbücher: Etappen der Institutionalisierung technischen Wandels in der Frühen Neuzeit. In: Technikgeschichte 63 (1996), S. 21-46. Melchior von Osse: Prudentia Regnativa, Das ist: ein Nutzliches Bedencken / ein Regiment / so wol in Kriegs als Friedens Zeiten / recht zu bestellen / zu verbessern und zu erhalten. Allen Regenten / dero Rähten und Dienern zu Anordnung ihrer Regierung und guter Policey zuwissen […] Getruckt zu Franckfurt am Meyn bey Johann Saurn / in Verlegung Petri Kopffen. Cum Priuilegio Cæsareo decennali. MDCVII; vgl. dazu den Hinweis bei Kurt Zielenziger: Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus. Jena 1913 (Reprint Frankfurt a.M. 1966), S. 456. Die Vorlage für Loehneysen war die Übersetzung unter dem Titel Discours Oder Beschreibung vnd vßführliches rähtliches bedencken / von allerhandt so wol Politischen / als Kriegssachen. Erstlich durch den [...] Frantzösischen Kriegs Obristen / den Herren De la NOUVE Jn Frantzösischer sprach beschriben / hernach durch den Herren de FRESNES zusamen gefaßt / vnd an Tag geben. Jetzundt aber: [...] in vnser [...] Teutsche sprach [...] vertirt. Durch Jacob Rahtgeben / Fürstlichen Würtembergischen Secretarium zu Mümpelgart etc. Gedruckt zu Franckfort am Mayn / bey Andreas Wechels sehligen Erben / nemblich Claudi de Marne, vnd Iohan Aubri. Anno M.D.XCII. Den Nachweis führt anhand der Texte von De la Noue, Rathgeb und Loehneysen exemplarisch Norbert Conrads: Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982 (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), S. 100-104. Conrads Interesse richtet sich allerdings nicht vorrangig auf die Frage nach dem Plagiat, sondern auf Loehneysen als wichtigen Vermittler der Ideen de la Noues nach Deutschland.
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verwendeten Quellen als Ausdruck einer dezidiert ungelehrten Praxis verstehen,42 aber in allen diesen Fällen verschweigt Loehneysen seine Quellen nicht nur, sondern er verwischt aktiv die Spuren, die zu ihnen führen könnten. So tilgt er im Fall von Erckers „Probierbuch“ etwa die präzisen Angaben aus der böhmischen Geographie, und im Fall von De la Noues „Discours“ und ihrer Übersetzung substituiert er alle Hinweise auf die französischen Institutionen durch mehr oder minder passende deutsche Äquivalente. Es gibt über diese Textevidenz hinaus auch eine explizite Nachricht über Loehneysens problematischen Umgang mit den Vorlagen. Denn sein Typograph Michael Bötner glaubte offenbar, im Vorwort zur dritten Ausgabe des Buchs „Della Cavalleria“, zwei Jahre nach Loehneysens Tod den Versuch einer nachträglichen Rettung unternehmen zu müssen: Nicht zwar / dass es eben originaliter et principaliter alles aus dieses Löhneysen gehirn entsprungen / oder eigentlich vnd allein seine Res und Inventa weren. Denn es ist vnd bleibt unwidersprechlich war / vnd er bekennet es alssbald am ersten Blad der vorigen anderen Edition selbsten / dass viel fürnehme / erfahrne Rittermässige / und andere Personen / albereit vor langen Jahren / theils auch noch newlicher kurz verwichener Zeit in Lateinischer / Italiänischer / Hispanischer / Französischer / Englischer und Deutscher Sprach / hiervon ganz nüzlich geschrieben / Inmassen denn S. Gestr. solcher statlichen Reit= und Zaumbücher in fremd= vnd Deutscher Sprach theils gedruckt / meistentheils aber geschrieben / vnd darinnen künstliche Figuren vnd Inventiones, mit schönen Farben gerissen / eine ziemliche gute Anzahl bey einander gehabt / die ich allesampt selbsten gesehen / vnd meistentheils für manus43 cripta erkant.
Am Ende gelingt Bötner damit eine passable Rechtfertigung Loehneysens aus der Perspektive des Druckers, denn die Beförderung von Manuskripten zum Druck wurde in der Frühen Neuzeit im Gegensatz zum späteren Recht des Urhebers konventionell als Argument für ein Verwertungsrecht des Druckers eingesetzt.44 Und auch die Übersetzung aus fremden Sprachen konnte als eigene Leistung gelten, die das Erscheinen unter dem eigenen Namen immerhin denkbar machte.45 Aber der Ausgangspunkt von Bötners Argumentation, das explizite Zugeständnis, daß Loehneysen nicht der Urheber der Texte war, zeigt doch, daß Loehneysens Praxis, fremde Texte unter dem eigenen 42
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Zum Vergleich mit einer gelehrten Publikation im selben Feld sei etwa auf den Hinweis bei Franciscus Modius verwiesen, der seine „Pandectae Triumphales“ als lateinische Übersetzung von Georg Rüxners „Thurnierbuch“ zu erkennen gibt; vgl. Franciscus Modius [François de Maulde]: Pandectae triumphales, sive Pomparum, Festorum ac Solennium Apparatuum, Conviviorum, Spectacvlorum […], 2 Bde. Frankfurt a.M. 1586, Bd. I, fol. 2v; die Vorlage für Modius ist Georg Rüxner: Anfang, ursprung und herkommen des Thurnirs in Teutscher nation […]. Simmern 1530. Michael Bötner in der unpaginierten Vorrede zu Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 11). Der Hinweis auf Ergänzungen von Text und Abbildungen, „deßgleichen nie im Truck gewesen ist“, gehört auch zu den Legitimationsstrategien auf dem Titelblatt des Nachdrucks von Loehneysens „Von Zeumen“, der 1609 in Frankfurt erschienen ist (Anm. 25). Vgl. als Gegenbeispiele die bereits angeführten Übersetzungen von Rathgeb (wie Anm. 41) und Modius (wie Anm. 42), die ihre Vorlagen verschieden deutlich nennen.
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Namen erscheinen zu lassen, rechtfertigungsbedürftig war. Bötner wollte offenbar den Wahrheitsgehalt seiner Aussage noch bekräftigen, indem er sie zur Steigerung der Glaubwürdigkeit als Augenzeugenbericht formulierte. Und seine Anstrengung wird schließlich noch offensichtlicher, wenn er zur Entlastung Loehneysens schreibt, dieser habe seine Quellen ja ohnehin in der Vorrede zur zweiten Auflage offengelegt: Damit meint er die bereits zitierte Passage, die in ihrem Duktus zwar eine Anerkenntnis der Vorlagen ist, die tatsächliche Nennung der Quellen dann aber gerade ausspart. Wenn Loehneysen dort den Gedanken aufwirft, er wolle niemandem das gebührende Lob streitig machen, dann ist damit wohl ein Hinweis auf sein Konzept von Autorschaft gegeben: Autorschaft, so scheint es, besitzt für Loehneysen einen Wert, der sich am besten mit den Kategorien des Ruhms oder der Ehre formulieren läßt. Symptomatisch ist dafür ein Zitat in seiner Vorrede zur „Della Cavalleria“ aus dem Jahr 1609. Bei Plinius und Xenophon, so schreibt Loehneysen, sei die Nachricht überliefert, man habe für Simon von Athen, einen Autor, der „nur etzliche wenig Stücklein von der Roßartzney in Schrifften verfast“, aus Dank ein Denkmal errichtet: Den Text seiner „wenig Stücklein“ habe man in eine eherne Säule geschnitten, auf ihre Spitze aber habe man „dem Authori zu ehren vnd ewiger gedechtnus ein gülden Pferd darauff setzen lassen.“46 Im Kontext von Loehneysens Vorrede, in der das hohe Alter und die große Bedeutung der Hippologie dokumentiert werden soll, illustriert dieser Verweis auf die antike Ehrung nicht nur die hohe Wertschätzung der Reitkunst und ihrer schriftlichen Kodifikation, sondern er steht gleichzeitig auch für die hohe Wertschätzung der Autoren, die sie kodifiziert haben.47 Für diese Annahme spricht auch, daß Loehneysens Paraphrase der antiken Quellen nicht ganz treffend ist: Bei Plinius findet sich kaum mehr als ein Hinweis auf Simon als den Verfasser einer Reitlehre, und bei Xenophon heißt es über ihn, Simon selbst habe nahe dem Eleusinion, einer athenischen Kultstätte der Mysterien von Eleusis, ein bronzenes Pferd als Weihegabe aufgestellt und seine eigenen Taten auf dem Sockel verzeichnet.48 Aus dieser Nachricht über die Weihegabe und die Sorge um die eigene memoria ist bei Loehneysen – in Anbetracht seiner oberflächlichen Textkenntnis vermutlich aber schon vorher in seiner Quelle aus dem Diskurs der frühneuzeitlichen Hippologie – ein frühes Dokument der öffentlichen Aner46 47
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Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 13), Widmungsvorrede, fol. 1v. Exemplarisch für die hohe zeitgenössische Bedeutung innerhalb des Adels ist auch das Pferdebuch des Gundaker von Liechtenstein: Von Zaumung der Pferde. Durch Den Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten vnd Herrn / Herrn Gundaggern in Schlesien zu Troppau / Jägerndorff / Teschen vnnd Grossen Glogau Hertzogen / Fürsten von Liechtenstain / Grafen zum Riedberg / &c. Röm: Kay: Mtt: Gehaimen Rath / Cammerern vnd Obristen Hoffmaister. Anno M.DC.IX. Zu dero gebrauch gezaichnet vnd beschriben. An jetzo aber auff öffters ersuchen vnterschidlicher Cavaglieri in Druck verfertigen zulassen / bewilligt. Wienn in Oesterreich Im Jahr M.DC.XXV. Vgl. dazu Thomas Winkelbauer: Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters. Wien / München 1999 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Erg.bd. 34), bes. S. 466-471. Vgl. Plinius d.Ä.: Naturalis historia XXXIV, 19; Xenophon: Peri Hippikes I, 1.
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kennung von Autoren geworden. Warum diese bildliche Vorstellung von der materialisierten Monumentalität des Ruhms bei Loehneysen ganz ohne Zweifel Anklang fand, wird deutlich, wenn man seine voluminösen Drucke betrachtet, die in ihrer äußeren Gestalt so sehr Pracht und Fülle demonstrieren: In diesen Büchern inszeniert er auf ähnlich monumentale Weise sich und seine Kompetenz – so etwa im sechsten Buch seiner „Della Cavalleria“, das wie Simons Schrift ebenfalls von „Roßartzney“ handelt, die Materie aber nicht in „wenig Stücklein“, sondern immerhin auf 80 Folioseiten ausbreitet. Eine epigrammatisch zugespitzte Formulierung von Michael Bötner trifft darum vermutlich ins Zentrum von Loehneysens Selbstverständnis als Autor und Drucker, wenn sein lateinisches Lobgedicht, das der posthumen Ausgabe der „Aulico Politica“ vorangestellt ist, nach einem topischen Lob der Belesenheit und Sorgfalt Loehneysens im Lob des Werks gipfelt: „Dignum opus æterna Cedroque & Marmore dignum“ – denn so hart wie Zeder und Marmor, die als materiale Medien den dauerhaften Ruhm des Autors garantieren, so soll auch die Monumentalität von Loehneysens Werk die Unvergänglichkeit seines Namens verbürgen. Während Bötner allerdings vorsichtig versuchte, die behauptete Produktivität des Autors Loehneysen und die tatsächliche Produktivität des Druckers und Verlegers wieder korrekt auseinanderzudividieren, scheint für Loehneysen gerade ihre bewußte Kombination grundlegend gewesen zu sein: In seinen Drucken produzierte er sich als Autor, Drucker und Verleger in einer Person.49 Und so stattete er nicht nur diese Drucke exquisit mit typographischem Schmuck und prächtigen Kupferstichen aus, sondern reklamierte auch die Autorschaft für die Texte anderer Autoren für sich. Daß er dabei Grenzen überschritt, die er im Umgang anderer mit seinen eigenen Büchern respektiert wissen wollte, war ihm wohl bewußt – im Interesse der Inszenierung seiner Person und seines Ruhms war er aber offenbar bereit, für sich die Geltung dieser Grenzen aufzuheben. Wenn Loehneysen dabei nicht mit Gelehrsamkeit, sondern mit seinen praktischen Kenntnissen und ästhetischen Kompetenzen prunkt, dann kann man sein Verhalten mit der Rolle des ‚Hofkünstlers‘ vermutlich am plausibelsten erklären. Mit der steigenden Wertschätzung der Künstler, die in zentralen Positionen an der Gestaltung der höfischen Repräsentationskultur beteiligt und entsprechend umworben waren, korrespondierte auf Seiten der Künstler zunehmend auch ein gesteigertes Selbstbewußtsein, das sich sich schließlich auf Vorstellungen von künstlerischer Autonomie und Ruhm grün49
Eine ähnliche drucktechnische Produktivität läßt sich auch im Fall des Basler Goldschmieds Leonhard Thurneysser beobachten, der in den 1570er Jahren zum Arzt am Berliner Hof avancierte und dort ebenfalls eine Druckerei einrichtete, um seine eigenen Bücher zu drucken und zu vermarkten. Das Gebaren des bürgerlichen Thurneysser war dabei allerdings sehr viel ökonomischer motiviert und zugleich sehr viel exaltierter auf ein pseudo-adeliges self-fashioning gerichtet, besonders sichtbar wird dies im Stil seiner Kunstpatronage und in den konzipierten Bildprogrammen; zu Thurneysser vgl. Paul H. Boerlin: Leonhard Thurneysser als Auftraggeber. Kunst im Dienste der Selbstdarstellung zwischen Humanismus und Barock. Basel / Stuttgart 1976, bes. S. 157-164. Für den Hinweis auf Thurneysser danke ich Tobias Bulang.
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dete.50 Für einen entsprechenden Ehrgeiz der Selbstpräsentation gibt es im höfischen Kontext um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert durchaus Parallelen etwa im Umfeld der Ausstattung von höfischen Maskeraden. Und dort finden sich sowohl Hinweise auf einen ausgeprägt imitativen und aneignenden Umgang mit Vorlagen51 als auch Hinweise auf Vorstellungen von Urheberschaft, die man zu markieren sich bemühte, um darauf ein Recht an den Inventionen zu gründen. Die Spuren einer entstehenden impliziten Vorstellung von geistigem Eigentum an diesen Inventionen setzen sich schließlich auch in Beschwerden über den Diebstahl von Bauplänen fort.52 Wenn die Rolle des Hofkünstlers also einen Erklärungsansatz für die extravagante Selbstinszenierung Loehneysens liefern könnte, dann ließe sich schließlich auch die soziale Grammatik der Hofkultur als Erklärung für seinen produktiven Plagiarismus bemühen.53 Der Anspruch auf Ehre und Ansehen, der dem Verhalten am Hofe zugrunde liegt, ist – so lautet eine Einsicht der modernen Sozialanthropologie – immer relativ, komparativ und kompetitiv, es ist immer der Anspruch, andere zu übertreffen. Und Loehneysen formuliert im ersten Absatz der Widmungsvorrede zu seiner „Della Cavalleria“ aus dem Jahr 1609 diese Verhaltensmaßregel mit einer Deutlichkeit, wie sie in anderen zeitgenössischen Texten kaum je zu finden ist: Es gibt die tägliche erfahrung / wie rühmlich vnd nötig das ein Hoffman ist / wenn er in Reyten vnd Ritterspielen […] etc. vnd in dergleichen wol vnterricht vnd erfaren sey / welchs jhm nicht allein nützlich vnd zu wissen hochnötig / sondern auch bey jedermenniglich rühmlich vnd ein schönen wolstandt gibt / insonderheit / wenn er daneben in politischen sachen ein guten verstandt vnd wissenschafft hat / Dieweil den Menschen von natur eingepflantzet / das er gerne alle andere vbertreffen möchte / denn je höhern vnd vortrefflichen Verstandt einner in diesen vnd andern sachen hat / je mehr er durch das Lob erwecket vnd bewogen wird / desto mehr fleiß darauff zu legen / dardurch denn etliche wegen jhres hohen verstandes vnd 54 geschickligkeit / andern weit vorgezogen vnd vber sie erhoben werden.
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Vgl. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 21996. Vgl. exemplarisch für den Fall von Inigo Jones im Jahr 1638 die Untersuchung von Stephen Orgel: The Renaissance Artist as Plagiarist. In: English Literary History 36 (1969), S. 30-58; vgl. zuletzt auch ders.: Plagiarism and Original Sin. In: Plagiarism in Early Modern England, hrsg. von Paulina Kewes. Houndmills, New York 2003, S. 56–73. Vgl. Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden: Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 53), bes. S. 311f., mit dem Hinweis auf eine Beschwerde des Dresdner Oberbaumeisters Caspar Krengel über den Hofmaler Christian Schiebling, der einen neuen Leichenwagen Krengels ohne dessen Zustimmung vermessen und gezeichnet hatte, um die Informationen an dänische Interessenten weiterzugeben. Vgl. zum Begriff der ‚sozialen Grammatik‘ mit Bezug auf höfische Interaktionsformen Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10); sowie für die Frühe Neuzeit in Kürze Claudius Sittig: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zur adeligen æmulatio um 1600 in Deutschland. Voraussichtlich Tübingen 2008 (Reihe Frühe Neuzeit). Loehneysen: Della Cavalleria (wie Anm. 13), Widmungsvorrede, unpaginiert.
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Loehneysens Aussage ist darum so bemerkenswert, weil er den Ehrgeiz des Menschen ganz fraglos anthropologisch fundiert und die Formulierung des Affekts überdies aus den konventionellen sozialethischen und theologischen Diskussionszusammenhängen löst, in denen sie sich regelmäßig gegen moralische Imperative behaupten muß. Und seine dezidierte Aussage, die er im zweiten Schritt auf die höfische Kultur ummünzt, erscheint schließlich für die Frage nach dem Charakter seines Plagiarismus aufschlußreich, weil sein ambitionierter Wille zur Vorzüglichkeit und sein Wunsch nach Auszeichnung und Lob ganz offensichtlich für die Art verantwortlich sind, wie sich Loehneysen durch die prächtige drucktechnische Ausstattung seiner monumentalen Werke und durch die Aneignung von fremden Texten als Autor in der höfischen Welt produziert.
Literaturverzeichnis Quellen Lazarus Ercker: Beschreibung / Allerfürnemisten Mineralischen Ertzt / vnnd Berckwercksarten / wie dieselbigen / vnnd eine jede in sonderheit / jrer natur vnd eygenschafft nach / auff alle Metalla probirt / vnd im kleinen Fewr sollen versucht werden / mit erklärung etlicher fürnemer nützlicher Schmeltzwerck / im grossen Feuwer / auch scheidung Goldts / Silbers / vnd anderer Metalln / Sampt einem Bericht deß Kupffer saigerns / Messing brennens / vnd Salpeter siedens / auch aller saltzigen Minerischen proben / vnd was denen allen anhengig / in fünff Bücher verfast / Deßgleichen zuvorn niemals in Druck kommen. […] Auffs newe an vielen orte mit besserer außführung / vnd mehrern Figurn erklärt / Durch Den Weitberühmten Lazarum Erckern / der Röm. Kay. May. Obersten Bergkmeister vnd Buchhalter / im Königreich Böhmen / &c. Mit Röm. Keys. May. Priuilegien. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn / durch Johan Feyerabendt. 1598. Gundaker von Liechtenstein: Von Zaumung der Pferde. Durch Den Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten vnd Herrn / Herrn Gundaggern in Schlesien zu Troppau / Jägerndorff / Teschen vnnd Grossen Glogau Hertzogen / Fürsten von Liechtenstain / Grafen zum Riedberg / &c. Röm: Kay: Mtt: Gehaimen Rath / Cammerern vnd Obristen Hoffmaister. Anno M.DC.IX. Zu dero gebrauch gezaichnet vnd beschriben. An jetzo aber auff öffters ersuchen vnterschidlicher Cavaglieri in Druck verfertigen zulassen / bewilligt. Wienn in Oesterreich Im Jahr M.DC.XXV. Georg Engelhard von Loehneysen: Aulico Politica. Darin gehandelt wird 1. Von Erziehung vnd Information Junger Herrn. 2. Vom Ampt Tugent vnd Qualitet der Fürsten / vnd bestellung derselben Raht vnd Officiren. 3. Von bestellung der Concilien, die ein Fürst in seinem Lande haben mus. Allen Regenten / furstlichen Räthenn, Hoff- vnd LandOfficirern. auch sonst den Vnderthanen vnd Idermennig lieben Zu nutz vnd gut beschriebenn Durch Georg Engelhard Löhneyß [Remlingen] 1622. –: Bericht vom Bergwerck / Wie man dieselben Bawen / vnd in guten Wolstandt bringen soll / sampt allen darzu gehörigen Arbeiten / Ordnung und rechtlichen Proceß. Beschrieben durch G. E. Löhneyß: Fürstlichen Braunschweigischen Bergkhauptman. Mit Röm: Kay: May: Freyheit nicht nachzudrucken [Zellerfeld] Anno 1617. –: Della Cavalleria. Gründtlicher Bericht von allem was Zu der Reutterei gehorig vnd einem Cauallier dauon zuwissen geburt. Mitt Röm: Kay: May: Priuilegio [Remlingen] 1609; ders.: Das
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ander Theil. Grundtlicher Bericht vom Zeumen vnd ordentliche außtheilung der Mundstück vnd Stangen / wie dieselben nach eines jeden Pferdes arth vnd eygenschafft sollen gebraucht werden. Deßgleichen auch von allerleij Ritterspielen sampt den darzu gehörigen Cardellen vnd Inventionen. Item wie man die Pferde auff allerley Manier schmücken vnd zieren sol / vnd letztlich von mancherley arth vnd Inventionen der Schlitten. Allen liebhabern der Reuterey zu ehren vnd gefallen gestellet. Mitt Rom Kaij Maij Priuilegio [Remlingen] 1610. –: Della Cavalleria. Gründtlicher und außführlicher Bericht / von allem was zu der löblichen Reutterei gehörig / vnd einem Cavallier zu wissen von nöhten: Insonderheit von Turnier- und Ritterspielen / Erkentnis vnd Unterschied / Auch Cur vnd Wartung der Pferde / vnd wie man dieselben auff allerley Manier abrichten vnd zeumen sol. Allen Liebhabern solcher Künste / zu Dienste vnd freundlichem Gefallen beschrieben durch Den Weiland Woledlen / Gestrengen / Vesten vnd Mannhafften Georg Engelhard Löhneyß / auff Remling vnd Neivndorff Erbgesessen: Fürstl. Br. Stallmeister / Rath vnd Berghauptman / seliger Gedechtnus. Itzo aber auffs newe mit nützlichem gutem Bericht / auch herrlichen schönen Figuren / allenthalben vermehrt / verbessert vnd zum dritten mal Gedruckt zu Remlingen. Cum Gratia & Priuilegio 1624. –: Gründtlicher Bericht vnnd Ordnung der Gebis wie ein jedes nach eines jeden Pferds art vnd eigenschafft von Jugend auf sol gebraucht werden. M.D.LXXVI. –: Von Zeumen. Gründtlicher Bericht des Zeumens vnd ordentliche Außteilung der Mündtstück [sic!] vnd Stangen wie dieselben nach eines Jeden Pferdts arth vnd eigenschafft sollenn gebraucht werden. Mit Rom: Kay: May: Freiheit nicht nachzudrücken etc. [Gröningen] 1588. Mattheus Merian: Topographia vnd Eigentliche Beschreibung Der Vornembsten Stäte, Schlösser auch anderer Plätze und Örter in denen Hertzogthümern Braunschweig vnd Lüneburg vnd denen dazu gehörenden Grafschafften, Herrschafften vnd Landen. Frankfurt a.M. 1654 (Reprint Kassel 1961). Franciscus Modius [François de Maulde]: Pandectae triumphales, sive Pomparum, Festorum ac Solennium Apparatuum, Conviviorum, Spectacvlorum […], 2 Bde. Frankfurt a.M. 1586. [François de la Noue]: Discours Oder Beschreibung vnd vßführliches rähtliches bedencken / von allerhandt so wol Politischen / als Kriegssachen. Erstlich durch den [...] Frantzösischen Kriegs Obristen / den Herren De la NOUVE Jn Frantzösischer sprach beschriben / hernach durch den Herren de FRESNES zusamen gefaßt / vnd an Tag geben. Jetzundt aber: [...] in vnser [...] Teutsche sprach [...] vertirt. Durch Jacob Rahtgeben / Fürstlichen Würtembergischen Secretarium zu Mümpelgarte etc. Gedruckt zu Franckfort am Mayn / bey Andreas Wechels sehligen Erben / nemblich Claudi de Marne, vnd Iohan Aubri. Anno M.D.XCII. Melchior von Osse: Prudentia Regnativa, Das ist: ein Nutzliches Bedencken / ein Regiment / so wol in Kriegs als Friedens Zeiten / recht zu bestellen / zu verbessern und zu erhalten. Allen Regenten / dero Rähten und Dienern zu Anordnung ihrer Regierung und guter Policey zuwissen […] Getruckt zu Franckfurt am Meyn bey Johann Saurn / in Verlegung Petri Kopffen. Cum Priuilegio Cæsareo decennali. MDCVII. François de la Rochefoucauld: Maximes suivies des Réflexions diverses, du Portrait de La Rochefoucauld par lui-même et des Remarques de Christine de Suède sur les Maximes. Texte établi, avec introduction, chronologie, bibliographie, notices, notes, documents sur la genèse du texte, tableau de concordance, glossaire et index par Jacques Truchet. Paris 1967. Georg Rüxner: Anfang, ursprung und herkommen des Thurnirs in Teutscher nation […]. Simmern 1530. Zwey gute und sehr nutzliche Bücher von stangen vnd Mundstücken / sambt einer Beschreibung der Complexion und Natur der Pferdt / deßgleichen ein bewerter Tractat von Rossartzeney / vnd wie einem Pferdt in mancherley Zufällen zu helffen sey / vmb einen geringen Unkosten / zu gut allen Liebhabern der Reuterey zusammen in ein Corpus verfaßt. Welcher obgedachter Bücher / das erst durch den Edeln und Vesten / Johan von Fiorentini, Churfürstlichen Mentzischen / das ander durch den Edeln und Vesten / Georg Engelhart Löneysen / Herzog Heinrich Julius von Braun-
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schweig / Stallmeister zuvor in Truck gegeben. Jetzundt aber wider auff das new mit vielen vnd allerhandt stangen und Mundstücken : insonderheit aber mit vielen Vngerischen / deßgleichen nie im Truck gewesen ist / von allerhandt Pferdt / gemehrt und verbessert. Getruckt zu Franckfurt am Mayn / durch Matthis Becker / in Verlegung Wilhelm Hoffmanns. Im Jahr M.DC.IX.
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Abbildungsnachweis Abb.1: Abb. 2-7:
Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Deutsche Fotothek, Aufnahme: Regine Richter. Archiv des Verfassers.
ANJA VOESTE
Drucktechnik und Logographie. Die Etablierung von Schemakonstanz im Typographeum
I.
Einleitung
Die Rechtschreibreform hat uns ins Gedächtnis gerufen oder manche vielleicht erst darauf aufmerksam gemacht, daß etymologische Bezüge zwischen Wörtern durch eine gemeinsame, deckungsgleiche Schreibung angezeigt werden können: Stengel ist eine Ableitung von Stange und soll in Zukunft ebenso mit geschrieben werden wie behende, das etymologisch mit Hand verwandt ist. Andererseits soll das Wort Wächte, das wenig mit Wacht, aber viel mit wehen zu tun hat, künftig auf sein verzichten müssen. Die Kommission hat sich also dazu entschlossen, regulierend zugunsten eines Prinzips einzugreifen, das bis dato offenbar nicht „ordnungsgemäß“ die etymologischen Bezüge wiedergegeben hat. In Wortschreibungen wie , oder auch (zu alt), (zu Saal) und (zu Hahn) wird die etymologische Verwandtschaft nicht durch eine konstante Schreibung wiedergegeben. Andererseits zeigt ein Fall wie dagegen eine unangemessene Anwendung oder Übergeneralisierung des genannten Prinzips: Der Leser könnte eine semantische Verbindung mit Wacht mutmaßen, die aber gar nicht vorliegt. Die bisherige Orthographie ist somit nicht einheitlich mit der Kennzeichnung der etymologischen Zusammengehörigkeit verfahren. In einigen Fällen liegt eine Verwandtschaft, aber keine analoge Schreibung, in anderen eine analoge Schreibung, aber keine etymologische Zusammengehörigkeit vor. Das Prinzip der Konstantschreibung von Wörtern, die demselben morphologischen Paradigma angehören, ist, das können wir aus diesem Umstand folgern, nicht am Reißbrett entstanden. Wenn es sich aber bei der Einführung der Konstantschreibung historisch nicht um die Verfügung einer normsetzenden Instanz gehandelt hat, müssen andere Motive zur Erfindung und weitgehenden Etablierung des Prinzips geführt haben. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen sich dieses Prinzip herausgebildet haben könnte. Dabei werde ich einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung neuer Wahrnehmungsformen im Bereich der Orthographie und der Professionalisierung im Druckhandwerk des 16. Jahrhunderts aufzeigen. Die technischen und ökonomischen Anforderungen an den Buchdruck be-
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wirken im 16. Jahrhundert nicht nur eine Professionalisierung der Arbeitsgänge und der damit befaßten Handwerke – sie beeinflussen auch die Orthographie.
II. Die Entdeckung suprasegmentaler Einheiten Verorten wir zunächst die Ebene, auf der die geschilderten Veränderungen stattgefunden haben. Die Verschriftlichung der deutschen Sprache – genauer gesagt der deutschen Dialekte – ist untrennbar mit der lateinischen Schreibtradition verbunden. Die Akteure, die seit dem 8. Jahrhundert n. Chr. deutschsprachige Texte verfassen, übertragen ihre lateinischen Schreibkenntnisse auf die Volkssprache. Sie sind durch ihre Erstschreibsprache vorgeprägt und analysieren die Lautsegmente des Deutschen mit lateinischen Ohren. Und mehr als das: Sie nutzen auch deren Schrifteinheiten, das lateinische Alphabet, um diese Lautsegmente graphisch wiederzugeben. Das lateinische Analyseinstrumentarium wird also dazu genutzt, der Volkssprache die lautlichen Einheiten abzulauschen. Von einer unvoreingenommenen Analyse kann nicht die Rede sein. Das Ergebnis sind vom Lateinischen geprägte Interpretamente der tatsächlichen Laute, die linear aneinandergereiht werden. Ziel des Unternehmens ist aus systematischer Sicht somit Phonographie: Schrifteinheiten werden mit Lauteinheiten (bzw. deren Interpretamenten) verknüpft.1 Bis ins Mittelalter wurde beim Schreiben der lateinischen Alphabetschrift darüber hinaus noch eine andere Parallele zur gesprochenen Sprache eingehalten, nämlich das kontinuierliche, nicht zergliederte, lineare Nacheinander der Segmente. Das phonographische Schriftsystem läßt sich auch an dieser scriptura continua ablesen, die den Lautstrom gesprochener Sprache abbildet.2 Seit dem 8. Jahrhundert jedoch zeigen sich vermehrt nicht-phonographische Tendenzen, die die Parallelität der Anordnung von Laut- und Schrifteinheiten als lineare Kette durchbrechen. An die Stelle der scriptura continua tritt eine Darstellung, die über die Lauteinheiten hinaus auch bedeutungstragende Einheiten kennzeichnet, indem sie die Kette des kontinuierlichen Nacheinanders vor und nach solchen Einheiten unterbricht. In der Folge sind semantische Einheiten in der Schrift sichtbar. So werden einerseits nach wie vor Schrifteinheiten mit Lauteinheiten verknüpft, andererseits aber Einheiten markiert, die nicht der Lautebene entstammen. Das Ergebnis ist daher als eine Verschmelzung von Phonographie und Logographie beschreibbar.
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Vgl. zu diesem Komplex Ursula Enderle: Autonomie der geschriebenen Sprache? Zur Theorie phonographischer Beschreibungskategorien am Beispiel des Deutschen. Berlin 2005. Interessanterweise ist man, sobald man schreiben kann, der Meinung, einzelne Wörter und keinen Lautstrom zu sprechen. Erst wenn man aufgefordert wird, einen gesprochenen Satz einer Fremdsprache entsprechend in Wörter zu zerlegen, wird einem dieser Irrtum bewußt.
Drucktechnik und Logographie
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Durch die enge Verknüpfung mit der lateinischen Schreibtradition wird die logographische Entwicklung von Anfang an und in chronologisch zunehmendem Ausmaß auch in deutschsprachigen Texten sichtbar.3 Man schreibt einerseits phonographisch die einzelnen Korrelate der lautlichen Interpretamente nieder, andererseits löst man ganze Wörter aus dem Kontinuum heraus und behandelt sie als semantische Einheiten mit eigenem graphischen Wert. Die beiden Ebenen, die uns hier begegnen, die Ebene der segmentalen Phonographie und die der wortzentrierten Logographie, zeigen die Grenzen der Wortschreibung auf. Sie bestehen einerseits aus den kleinsten, andererseits aus den größten Einheiten der Wortschreibung:
Die eingangs diskutierten Schreibungen mit berühren jedoch eine Ebene, die weder mit der der Einzelsegmente noch mit der der Ganzwörter übereinstimmt, sondern eine logographische Ebene dazwischen bildet.4 In oder wird mit der Konstantschreibung wie eine Einheit markiert, die größer ist als die Einzelsegmente , aber kleiner als die Ganzwörter oder . Die logographischen Züge der deutschen Orthographie, das läßt sich aus Konstantschreibungen auf dieser Zwischenebene ableiten, beschränken sich nicht mehr nur auf die Abtrennung von Ganzwörtern durch Spatien. Die Integration logographischer Markierungen in das Schreibsystem hat an der Wortgrenze nicht haltgemacht, sondern seit dem 16. Jahrhundert auch das Wortinnere erobert, die suprasegmentale Ebene innerhalb der Wortgrenzen. Die Konstantschreibung markiert weder Einzelsegmente noch Ganzwörter, sie markiert Morpheme. Doch ganz so einfach, wie es in dieser chronologischen Zusammenschau aussieht, ist die Entwicklung nicht gewesen. Es gab nämlich ein entscheidendes Hindernis, das erst aus dem Weg geräumt werden mußte, bevor eine Konstantschreibung möglich wurde: die Vielfalt varianter Schreibungen bzw. das Fehlen einer einheitlichen Form, die als Muster hätte dienen können.
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Beispiele nennt Nikolaus Ruge: Zur morphembezogenen Überformung der deutschen Orthographie. In: Linguistik online 25, 4/2005, S. 1. Es gibt auch eine phonographische Zwischenebene: die Silben.
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III. Variatio delectat – variatio non delectat Drucktexte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts überraschen den Leser von heute mit ihrer Toleranz gegenüber uneinheitlichen, varianten Schreibungen. Auf ein und derselben Seite oder sogar in derselben Zeile treffen wir auf unterschiedliche Realisierungen eines Wortes:5
Dieser Umstand ist besonders deshalb überraschend, weil die Schreiber und Setzer oftmals sehr gebildet waren und Latein beherrschten. Es wäre somit verfehlt, die Varianz auf geringe Bildung und eine daraus resultierende Unsicherheit zurückführen zu wollen. Das Setzerhandwerk zählte zu den einträglichsten Handwerken der Frühen Neuzeit, und die Setzer wurden im allgemeinen sogar besser entlohnt als die Druckergesellen.6 Aus diesem Grund liegt die Annahme nahe, daß der Setzer seinem Setzkasten hier aus gutem Grund ein t und ein weiteres n entnommen hat, um die Varianten und zu setzen. Er folgt einer Praxis, die uns heute aus einem anderen Bereich vertraut ist: dem Alternanzgebot. Analog zur lexikalischen Alternanz, die für die Synonymwahl in heutigen Texten verantwortlich ist, mag im Spätmittelalter7 und zu Beginn der Frühen Neuzeit die orthographische Alternanz ein ebenso zentrales Gebot gewesen sein. Ähnlich wie ein Journalist heute z.B. in einem Artikel über Frankfurt den Ortsnamen nicht wiederholt, sondern durch Mainmetropole, Bankenstadt, Krankfurt oder Mainhattan ersetzt, alterniert ein Setzer im 16. Jahrhundert die Wortschreibungen, um Wiederholungen zu vermeiden. Er hält sich orthographisch an die Mahnung Erasmus’, der seine Leser 1514 mit Verweis auf Quintilian belehrt: Homologia, die sture Repetition eines Wortes, widerspreche der Vielfalt der Natur und stelle den Autor auf eine Stufe mit einem Kuckuck, der hilflos immer dieselben Rufe
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Der folgende Ausschnitt stammt aus Siegmund Freiherr zu Herberstein: Moscovia der Hauptstadt in Reissen. Wien 1557, f. Ev. Vgl. Kurt Wesoly: Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein: Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1985, S. 211 sowie Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450-1900. Stuttgart 1999, S. 212. Auch im Hochmittelalter gibt es variante Schreibungen in den Manuskripten. Diese unterscheiden sich jedoch nach Meinung der Sprachhistoriker grundlegend von der hier angesprochenen Varianz. Vgl. zu diesem Thema: Arend Mihm: Orthographiereform im 13. Jahrhundert. Der Zeugniswert der Kölner Urkundenüberlieferung. In: Überlieferungs- und Aneignungsprozesse im 13. und 14. Jahrhundert auf dem Gebiet der westmitteldeutschen und ostfranzösischen Urkunden- und Literatursprachen, hrsg. von Kurt Gärtner und Günter Holtus. Trier 2005, S. 431-483.
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ausstoße.8 Die Setzer des 16. Jahrhunderts verwirklichen auch im Bereich der Orthographie das Motto variatio delectat – Abwechslung erfreut das Auge.9 Von diesem Motto ist es jedoch ein weiter Weg zur eingangs erwähnten Konstantschreibung. Solange ein Wort nicht in einer prototypischen Form als Muster oder Leitgraphie existiert, kann auch keine Angleichung innerhalb des morphologischen Paradigmas erfolgen. Solange die Setzer noch Varianten wie , und setzen, existiert kein einheitliches Schema, das als Grundlage für die Konstantschreibung dienen könnte. Dennoch zeigen Drucktexte des 17. Jahrhunderts nur noch in geringem Ausmaß variante Schreibungen. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts muß demnach eine entscheidende Wende hin zum variatio non delectat eingetreten sein. Diese grundlegende Abkehr von der Vielfalt der Möglichkeiten hin zur einheitlichen Formwahrung bildet nicht nur die Voraussetzung für die Konstantschreibung im morphologischen Paradigma, sondern auch für die Standardisierung der Schriftsprache schlechthin.
IV. Das Letternrepertoire im Typographeum Werfen wir einen Blick auf das Letternrepertoire in den Setzkästen des 16. Jahrhunderts. Zu Beginn des Jahrhunderts finden sich im Typenapparat noch Ligaturen, Kürzel und verschiedene Ausführungen desselben Buchstabens, die aus den Skriptorien „ererbt“ sind. Zunächst appliziert man in den Druckereien die Prinzipien der Manuskriptgestaltung auch auf die Drucktexte, und die Typenschneider und Setzer sind gehalten, verschiedene Letternvarianten herzustellen und zu verwenden. Rubrikatoren und Illuminatoren tragen zur individualisierenden Verzierung der Erstdrucke bei. In der 42zeiligen Gutenbergbibel B 42 aus der Anfangszeit des Buchdrucks etwa finden sich 290 Einzeltypen10 und 30 Ligaturen.11 Eine Vielzahl an Varianten entfällt auf jeden einzelnen Buchstaben, hier z.B. auf das e:12
8 9 10 11
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Vgl. Desiderius Erasmus of Rotterdam: On Copia of Words and Ideas. De utraque verborum ac rerum copia. Milwaukee 42005 (1514), S. 16. Das gilt jedoch nur für die Orthographie der Volkssprache. Latein erhält durch die ErasmusAusgabe des Neuen Testaments im Gegenteil einen Normierungsschub. Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 21991, S. 24. Giesecke verweist sogar auf eine textsortenspezifisch unterschiedliche Typenanzahl bei Gutenberg, vgl. Michael Giesecke: Orthotypographia. Der Anteil des Buchdrucks an der Normierung der Standardsprache. In: Zur Theorie der Orthographie. Interdisziplinäre Aspekte gegenwärtiger Schrift- und Orthographieforschung, hrsg. von Christian Stetter. Tübingen 1990, S. 69. Vgl. die Wiedergabe des Typenapparats bei Albert Kapr: Johannes Gutenberg. Persönlichkeit und Leistung. München 21988, S. 160, aus dem auch die Darstellung entnommen ist.
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Diese Vielzahl verdeutlicht, wie sehr die Frühdrucker zunächst bemüht sind, ihre Erzeugnisse möglichst manuskriptähnlich zu gestalten. Das ändert sich jedoch bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts, nachdem sich die Druckherstellung als Texterzeugung eigenen Rechts etabliert hatte. An der Wende zur Neuzeit wird das gedruckte Buch zu einem mit wirtschaftlichem Kalkül hergestellten Massenartikel, der die individualisierenden Züge der mittelalterlichen Manuskript- und Inkunabelherstellung energisch abstreift.13 Doch noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts werden die in der Skriptoriumstradition stehenden Lettern mit Nasalstrich und der er-Haken verwendet:
Der Nasalstrich steht für ein darauffolgendes n oder m, also hier: an oder am, en oder em etc. Der er-Haken (r) steht für ein darauffolgendes er, also hier: der.
Die Beibehaltung dieser Lettern geschieht nicht ohne Grund: Die Option, zwischen der jeweiligen Langform oder aber einer Kurzform unter Einsatz der Lettern mit Nasalstrich bzw. mit er-Haken wählen zu können, hilft dem Setzer beim Erstellen eines gleichmäßigen Zeilenfalls. Die Kurzform ist ein wichtiges Hilfsmittel, den rechten Rand auszugleichen, wenn etwa eine Worttrennung unerwünscht ist. Im 16. Jahrhundert werden Trennungen wie oder zugunsten morphologischer oder silbischer Trennungen wie oder vermieden.14 Die Möglichkeit, Wörter in der Zeile durch den Nasalstrich oder den erHaken zu verkürzen, verschafft dem Setzer zusätzlichen Platz, um weitere Buchstaben in der Zeile unterzubringen. Das sieht man etwa an den beiden folgenden Beispielen: Im ersten Fall kann weder silbisch noch morphologisch getrennt werden, weil der notwendige Platz nicht zur Verfügung steht; im zweiten Beispiel steht durch die Verwendung zweier er-Haken ( am Zeilenanfang) dazu mehr Platz zur Verfügung.
13
14
Vgl. Tilo Brandis: Handschriften- und Buchproduktion im 15. und 16. Jahrhundert. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hrsg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 176-193, hier S. 188f. Zur Worttrennung am Zeilenende vgl. neuerdings Kerstin Güthert: Herausbildung von Norm und Usus Scribendi im Bereich der Worttrennung am Zeilenende (1500-1800). Heidelberg 2005.
Drucktechnik und Logographie
379
Dennoch geben die Setzer im Verlauf des 16. Jahrhunderts dieses probate Mittel auf. Das läßt sich etwa an der rückläufigen Verwendung der Kurzform für vnd nachweisen. Das folgende Streudiagramm gibt die prozentuale Verwendung der Kurzform (von allen verwendeten Varianten sowie seltenem ) im Jahrhunderttrend wieder. Basis der Analyse sind Chroniktexte aus dreißig Druckorten des deutschsprachigen Raums.15 Jede Raute steht für die prozentuale Verwendung in einem Drucktext (vgl. dazu auch die Karte).
Prozentuale Verwendung von in Drucktexten des 16. Jh.s 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1500
15
1520
1540
1560
1580
1600
Vgl. Anja Voeste: Orthographie und Innovation. Die Segmentierung des Wortes im 16. Jahrhundert (in Vorber.).
380
Anja Voeste Druckorte der untersuchten Chroniken des 16. Jahrhunderts
Bereits in der zweiten Jahrhunderthälfte wird die Kurzform für vnd nur noch selten verwendet. Dieser Rückgang ist um so erstaunlicher, als die Kurzform den Setzern so gute Dienste bei der Herstellung eines einheitlichen rechten Zeilenfalls erweist. Der Blick in die Setzkästen zeigt, daß die Variationsmöglichkeiten den Setzern die Herstellung des Satzspiegels erleichtern – und macht somit die Abkehr von der Alternanz noch unverständlicher. Es muß demnach andere, gewichtigere Gründe geben, die den Verzicht auf die Abbreviaturen forcieren.
Drucktechnik und Logographie
381
V. Die Rationalisierung im Setzkasten Die technischen und ökonomischen Anforderungen an den Buchdruck bewirken seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert eine Professionalisierung der Arbeitsgänge und der damit befaßten Handwerke. Technische Veränderungen steigern vor allem die Leistungsfähigkeit der Druckerpresse: Der Karren wird nun mit der Kurbel anstatt mit der Hand verschoben, das sogenannte Rähmchen ersetzt das Aufsetzen des Schutzbogens, und der Druckvorgang selbst wird durch regulierbare Zugschrauben für den Spindelbalken erleichtert.16 Auch die durch feinere Drahtsiebe verbesserte Papierqualität17 vermindert die Fehldrucke und trägt zu einer erhöhten Tagesleistung der Drucker bei. Die Steigerung der Produktivität der Druckerpresse hat aber nicht nur direkte Auswirkungen auf die Herstellungskosten und die Bücherpreise, die erheblich sinken.18 Auch die Lohnform paßt sich diesem Modernisierungsschub an. Reith weist anhand der Rechnungsbücher der Offizinen Quentel (Köln) und Froben & Episcopius (Basel) nach, daß die Drucker des 16. Jahrhunderts keine Zeitlöhne, sondern Leistungslöhne erhalten. Nur wenn sie ihr „tagkwerch“ erbringen, bekommen sie den vereinbarten Lohn. Das gilt jedoch nicht für die Setzer: Sie werden nicht nach der Anzahl der gesetzten Lettern, sondern nach Druckformen (jeweils ein Bogen Satz), Format, verwendeten Schriftarten und vorkommenden Sprachen bezahlt.19 Da die Drucker aber auf die rechtzeitige Fertigstellung der Druckformen durch die Setzer angewiesen sind, um ihr Tagespensum erfüllen zu können, führt dieses Mißverhältnis zu Spannungen zwischen den Handwerken. Je mehr sich die Leistungsfähigkeit der Druckpresse erhöht, desto häufiger wirken sich Verzögerungen im Satz lohnmindernd für die Drucker aus. Dabei kommt erschwerend hinzu, daß nach beendetem Satz erst noch ein weiterer Arbeitsgang erfolgen muß: Die Überprüfung durch den Korrektor. Es ist daher kein Wunder, daß die von den Setzern zu verantwortende Lohnminderung ein Thema in den Zunftordnungen wird. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts sind Buchdruckerordnungen überliefert, die nicht nur die zu erbringenden Arbeitsleistungen genauer spezifizieren, sondern auch die Auflage beinhalten, daß die Setzer ihre Formen rechtzeitig fertigzustellen haben, damit weder „corrector noch trucker dardurch verseumet oder gehindert werden“.20 Die Setzer geraten „unter Druck“: Sie sind dafür verantwortlich, daß der
16 17 18 19 20
Vgl. Reith: Lohn und Leistung (wie Anm. 6), S. 213. Vgl. Wolfgang von Stromer: Große Innovationen der Papierfabrikation in Spätmittelalter und Frühneuzeit. In: Technikgeschichte 60 (1993), S. 1-6. Vgl. Wittmann: Geschichte (wie Anm. 10), S. 29. Vgl. Reith: Lohn und Leistung (wie Anm. 6), S. 216-225. Erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden die Setzer nach der Anzahl der gesetzten Lettern bezahlt. So in der Frankfurter Buchdruckerordnung von 1573, vgl. Frankfurter Amts- und Zunfturkunden, Bd. 1, hrsg. von Benno Schmidt. Frankfurt a.M. 1914, S. 144, zit. n. Reith: Lohn und Leistung (wie Anm. 6), S. 219.
382
Anja Voeste
Druckvorgang sich nicht verzögert und die Drucker rechtzeitig die nächste Form erhalten und zügig weiterarbeiten können. Die Setzer reagieren auf die Anforderung, ihre Arbeitsabläufe zu beschleunigen, indem sie ihren Setzkasten „ausmisten“. Die alten, der skriptographischen Tradition entstammenden Ligaturen, Letternvarianten und Abbreviaturen werden entfernt. Eine Beschleunigung des Setzvorgangs erreicht man mit ihnen nicht, denn die langwierige Suche nach den richtigen Lettern bindet zuviel Zeit. Eine Rationalisierung im Setzkasten macht dagegen die Letternmenge überschaubar. Die einzelnen Lettern können schneller gefunden und gezielter entnommen werden, „Fehlgriffe“ werden seltener. Nur wenn die Ligaturen besser handhabbar sind als die entsprechenden Einzellettern, haben sie eine Überlebenschance. So erklärt sich die Beibehaltung einiger weniger Ligaturen, die verhindern, daß die Einzellettern mit überstehendem Fähnchen, und , abbrechen oder beschädigt werden, z.B.:21
Dadurch wird aber nicht nur eine bessere Handhabbarkeit erzielt und zeitraubende Feinarbeit abgewendet. Ligaturen mit und helfen, die hohen Ausgaben für den Letternguß zu senken, weil die Lettern seltener abbrechen. Die Setzer des 16. Jahrhunderts versuchen nicht mehr, mit über hundert verschiedenen Lettern Prachthandschriften kunstvoll nachzubilden. Sie sind gezwungen, ökonomisch zu denken und ihren Setzkasten zu normieren. Hier sehen wir auch den gewichtigen Grund für den oben angesprochenen Verzicht auf Abbreviaturen.22 Obwohl Kürzel den Zeilenausgleich erleichtern, fallen sie der Rationalisierung zum Opfer. Die Professionalisierung des Setzerhandwerks führt in der Folgezeit sogar dazu, sie als unprofessionelle Hilfsmittel zu brandmarken, auf die ein guter Handwerker selbstverständlich verzichte: If the Compositor is not firmly resolv’d to keep himself strictly to the Rules of good Workmanship, he is now tempted to make Botches [d.h. „Pfusch“]; viz. Pidgeon-holes [d.h.
21
22
Vgl. Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999, S. 122. Lord Charles Mahon, Earl of Stanhope (1753-1816), Erfinder der eisernen Druckpresse, schnitt seine Schriften ohne überhängende Fähnchen und konnte deshalb auf diese Ligaturen verzichten. Giesecke interpretiert den Verzicht auf Abbreviaturen dagegen als Rücksichtnahme auf ein Lesepublikum, das das spezifische Codesystem nicht beherrschte. Er betont die Stärkung des phonographischen Prinzips. Vgl. Giesecke: Orthotypographia (wie Anm. 11), S. 70ff.
Drucktechnik und Logographie
383
„Löcher“ in der Zeile], Thin-Spaces, no Space before a Capital, Short &s, Abbreviations or 23 Titled Letters [d.h. Lettern mit Nasalstrich – A. V.], Abbreviate Words, &c.
Damit offenbaren sich die großen Offizinen als Motor der Modernisierung. Hier führt die Arbeitsteilung zu Rationalisierungsmaßnahmen, die in kleinen Offizinen mit sogenannten Schweizerdegen (Gesellen, die sowohl setzen als auch drucken) nicht erforderlich sind. Nur in den „Winkeldruckereien“ können Abbreviaturen und Nasalstriche so lange überleben, bis das entstehende Berufsethos der Setzer sie auch dort aus dem Setzkasten verbannt.
VI. Extensionen – die Gegenprobe Nun könnte man annehmen, daß der Abbau der Abbreviaturen gar nicht durch die Neuerungen im Druckhandwerk bedingt wird, sondern durch ein Motiv ganz anderer Art. Ein entstehendes Normbewußtsein, das seinen Ausdruck in der beginnenden Grammatikschreibung des 16. Jahrhunderts und dem vermehrten Schulunterricht findet, könnte dazu geführt haben, daß Wörter generell homogener geschrieben werden. Stellen wir also die Rationalisierungshypothese auf die Probe und prüfen, ob sich Unterschiede zeigen, wenn es um die Verwendung von Extensionen wie statt oder statt geht. Extensionen haben wie Abbreviaturen den Vorteil, daß sie zur Einhaltung eines gleichmäßigen rechten Zeilenfalls dienlich sind, wie die beiden folgenden Beispiele illustrieren sollen. Im ersten Fall paßt nicht mehr auf die Zeile, und der Setzer müßte, um den rechten Zeilenfall bündig zu halten, die Spatien durch weiteres Blindmaterial auffüllen und auf die nächste Zeile setzen. Im zweiten Beispiel wird durch die Extensionen bei und die Zeile aufgefüllt:
23
Joseph Moxon: Mechanick Exercises on the Whole Art of Printing, hrsg. von Herbert Davis und Harry Carter. Nachdruck der Ausgabe 1683/84. New York 1978, S. 237.
Anja Voeste
384
Die Vorteile für den Satz liegen bei Kürzeln wie Extensionen klar auf der Hand. Allerdings benötigen die Kürzel im Setzkasten ein eigenes Fach, was bei den Extensionen nicht der Fall ist. Wenn die Rationalisierungshypothese stimmt und die Kürzel aufgrund der Verkleinerung des Setzkastens ausgemustert werden, dürfte das zunächst keine Auswirkungen auf den Gebrauch der Extensionen haben. Extensionen benötigen, da sie durch Letternverdoppelung entstehen, kein eigenes Fach im Setzkasten und das Suchen bindet keine zusätzliche Zeit, da einfach zwei statt einer Letter entnommen werden. Wenn dagegen ein entstehendes Normbewußtsein für die Veränderung verantwortlich ist, müßte die Verwendung der Extensionen analog zu derjenigen der Kürzel zurückgehen. Das Streudiagramm gibt die prozentuale Verwendung der Extension (von allen verwendeten Varianten sowie seltenem ) im Jahrhunderttrend wieder. Basis der Analyse sind wiederum Chroniktexte aus dreißig Druckorten des deutschsprachigen Raums.24 Prozentuale Verwendung von in Drucktexten des 16. Jh.s 50 40 30 20 10 0 1500
1520
1540
1560
1580
1600
Die Verwendung von zeigt keinen rückläufigen Trend, wie wir ihn beim Rückgang der Abbreviatur gesehen haben. Am Ende des Untersuchungszeitraums wird die Variante mit Extension teilweise noch in hohem Ausmaß genutzt. Ich interpretiere dieses Ergebnis als Bestätigung der Rationalisierungshypothese. Ein genereller Trend zu einer homogenen Schreibung, der etwa durch ein entstehendes Normbewußtsein ausgelöst wird, läßt sich hier für das 16. Jahrhundert (noch) nicht nachweisen.
24
Vgl. die Karte oben sowie Anm. 15.
Drucktechnik und Logographie
VII.
385
Auswirkungen auf die Orthographie
Der Normierungsschub im Typographeum, der sich durch den Vergleich von Kürzeln und Extensionen in Texten des 16. Jahrhunderts nachzeichnen läßt, beeinflußt auch die Orthographie. Bis zur Rationalisierung im Setzkasten sind innerhalb morphologischer Paradigmen noch viele verschiedene Wortschreibungen möglich. Von einem einheitlichen Schema, das als Grundlage für die Konstantschreibung dienen könnte, ist man weit entfernt, vgl. z.B. die Varianten für kinder (obere Zeile) und kind (untere Zeile):
Nachdem zur Beschleunigung des Setzvorgangs doppelte Lettern, Abbreviaturen, Nasalstriche und die meisten Ligaturen aus dem Repertoire entfernt worden sind,25 gibt der Setzkasten mit seinem begrenzten Letternrepertoire den Rahmen der neuen typographischen Möglichkeiten vor. Nach der Rationalisierung sind viele der Varianten technisch nicht mehr möglich. Das vergrößert den Abstand zwischen Skriptographie und Typographie und führt zu einer Variantenreduktion – auch in den morphologischen Paradigmen. Die Vereinheitlichung aus technischen Gründen führt zu einer größeren Formkonstanz:
Die Ökonomisierung wird zum Motor der Beseitigung spätmittelalterlicher Heterogenität. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Einhaltung eines gemeinsamen Formschemas im morphologischen Paradigma – wie etwa bei und in Singular und Plural. Variante Schreibungen werden im Zuge der technischen Neuerungen und der Ökonomisierung des Druckvorgangs zuerst im Typographeum beseitigt. Aber der Abstand zwischen Skriptographie und Typographie vergrößert sich auch noch aus einem anderen Grund: Während ein Schreiber ein Wort nie völlig gleichförmig kopieren kann, ermöglicht der Letternsatz ganz und gar identische Reproduktionen. Gedruckte Wörter sind nicht nur durch den Verzicht auf Kürzel in der orthographischen Schreibung weniger heterogen, sie erhalten durch den Abbau der Letternvarianten zudem eine Formidentität, die in den Skriptorien technisch gar nicht möglich 25
Das gilt jedoch nicht für die Stellungsvarianten und , die erhalten bleiben. Hier wäre der Eingriff in die Schreibregeln wohl zu groß gewesen.
Anja Voeste
386
war. Die Einschränkung der Varianzbreite und der Iterationsprozeß, in dem identische Repliken einer Wortschreibung im Druck reproduziert werden, gehen Hand in Hand und beeinflussen die visuelle Wahrnehmung. Formidentität und Iteration führen dazu, daß geschriebene Wörter nicht mehr „nur“ als semantische Entitäten wahrgenommen werden. Ihnen wird nun auch ein prototypisches logographisches Muster zugeschrieben. Wörter bekommen feste Formen, stereotype Kleider, anhand derer sie wiedererkannt werden können. Der neuzeitliche Leser beurteilt geschriebene Wörter nicht mehr als semantische Einheiten, deren Einzelsegmente ruhig differieren können, weil das Wort trotzdem immer wieder dekodiert werden kann. Er beginnt, geschriebene Wörter als Ganzes wahrzunehmen: Das logographische Ganzwort trägt den Sieg über die phonographischen Einzelsegmente davon. Die Dekodierung stützt sich von nun an auf eine feste Formkomponente, die über das Ganzwort transportiert wird.26
VII a)
Basteln an den Wortschreibungen
Sobald das Ganzwort im 16. Jahrhundert beginnt, eine stereotype Form auszubilden, finden Übertragungen dieser Formen auf die logographische Ebene unterhalb des Ganzwortes statt. Daß die Morpheme in den Blick geraten, wird an neuen Schreibungen sichtbar, bei denen die Formkonstanz auch auf dieser Ebene gewahrt wird. Bis ins 16. Jahrhundert wurde z.B. ein im Wortinnern stets als wiedergegeben und umgekehrt ein am Wortanfang stets als , was – hier werden wir wieder auf den Zusammenhang mit der lateinischen Schreibtradition verwiesen – auf die Übereinstimmung der korrelierenden Laute im Lateinischen zurückzuführen ist.27 An die Stelle der alten, mechanischen Verteilungsregel „am Wortanfang , sonst stets “ tritt im 16. Jahrhundert die Konstantschreibung. Da Ganzwörter am Wortanfang mit geschrieben werden, wird diese Schreibung nun – gemäß der festen Formkomponente – auch auf die entsprechenden Morpheme in Zusammensetzungen übertragen, vgl.:
26
27
Auch wir entscheiden uns oftmals nicht durch Nachschlagen für eine bestimmte Wortschreibung, sondern durch Aufschreiben mehrerer Varianten. Wir verlassen uns darauf, daß wir das normgerechte Wortmuster wiedererkennen. Vgl. zur Verarbeitung von Wortstrukturen Hartmut Günther: Schriftliche Sprache. Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen. Tübingen 1988. Der Gleitlaut [w] und der Vokal waren im Lateinischen stellungsbedingte Allophone, vergleichbar mit dem Unterschied der Realisierungen von und im Deutschen. Das graphische Segment repräsentiert unterschiedliche Laute, die aber nie in derselben lautlichen Umgebung vorkommen.
Drucktechnik und Logographie alt vor, aber: zuuor, beuor, heruor vogt, aber: landuogt vnter, aber: hierunter vm(b), aber: herum(b)
387 neu vor, zuvor, bevor, hervor vogt, landvogt vnd, hiervnter vm(b), hervm(b)
Ähnliches gilt für die Verteilung von und . Auch hier wird die bisherige, streng mechanische Verteilung („am Wortende , sonst stets ) durch die formkonstante Schreibung ersetzt: alt bis, aber: biſher aus, aber: auſſicht
neu bis, bisher aus, ausſicht
Dies ist eine Innovation, die zuerst in den süddeutschen Druckerzentren auftritt – und somit ebenfalls die Hypothese des Ökonomiefaktors stützt. Das ist für die Sprachgeschichtsschreibung insoweit von besonderem Interesse, als normalerweise der ostmitteldeutsche Raum als entscheidender Impulsgeber der morphematischen Schreibung bewertet wird.28
VII b)
Der Fall
Kommen wir zurück auf das eingangs angeführte Beispiel, die Morphemkonstanz durch ä-Schreibung. Hier ist die Lage ungleich komplizierter. Eine Untersuchung der Ausbreitung von Formkonstanz ( statt ) muß berücksichtigen, daß im 16. Jahrhundert zunächst noch aus rein phonographischen Gründen gewählt wird. Im oberdeutschen Raum werden mögliche morphologische Schreibungen wie , , durch phonographische wie ‘selig’, ‘schwerer’, ‘steter’ relativiert.29 Im mittel- und norddeutschen30 Raum ist das – zur Freude der Sprachhistoriker – nicht der Fall. Hier können wir nicht nur das Eindringen und die geographische Diffusion der ä-Schreibungen beobachten, sondern auch die Um- oder Neuinterpretation von phonographischen zu morphologisch motivierten ä-Schreibungen. 28
29 30
Vgl. zuletzt etwa die angebliche ostmitteldeutsche Vorreiterrolle bei der Durchsetzung von morphematischen -Schreibungen bei Nikolaus Ruge: Aufkommen und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen im Deutschen 1500-1770. Heidelberg 2004, S. 237f. Beispiele aus: Chronica New/ Manicherley Hystorien/ vnd besondere geschichten. Augsburg 1528. Eigentlich wäre die korrekte Entsprechung zu „ober-“ und „mitteldeutsch“ nicht „norddeutsch“, sondern „niederdeutsch“. Da es mir aber hier um hochdeutsche Drucke aus dem niederdeutschen Raum geht, bevorzuge ich „norddeutsch“.
388
Anja Voeste
Einfallstor aus dem Süden ist der westmitteldeutsche Raum.31 Das mag mit den Fernhandelswegen und speziell mit der überregionalen Bedeutung des oberdeutschen und rheinischen Buchhandels zusammenhängen. Von hier aus wird nicht nur der deutsche, sondern auch der europäische Markt bedient. Der Straßburger Druckerverleger Johann Grüninger etwa verkauft seine Werke „von der Nordsee bis nach Ungarn“ und in Köln, der zentralen Stätte lateinischer theologischer Buchproduktion, werden viele Wandergesellen aus dem Süden beschäftigt.32 Aber neben solchen „Wanderungen“ von Kulturgütern und Arbeitskräften könnte auch ein anderer Faktor verstärkend gewirkt haben: Köln bildet mit den oberdeutschen katholischen Reichsteilen einen Verbund und wird im 16. Jahrhundert auch sprachlich von oberdeutschen Schreibtraditionen beeinflußt – also vermutlich auch im Fall von .33 Nachdem sich die aus dem Süden entlehnte Fremdgraphie im Westmitteldeutschen konsolidiert hat, diffundiert sie in der zweiten Jahrhunderthälfte in den Norden und den mitteldeutschen Osten. Besonders zögerlich bei der Übernahme der neuen Schreibungen ist jedoch der obersächsische Raum. Hier treten erst in den 1580er und 1590er Jahren die ersten Belege mit auf. Für diese überraschende „Enthaltsamkeit“ in einer von der Sprachgeschichtsforschung stets als innovativ bewerteten Region mag der katholische Ruch der Letter verantwortlich sein. Aus denselben Gründen, aus denen man das in Köln befürwortet, mag man es in Leipzig und Wittenberg abgelehnt haben. Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit. Ein Verzicht auf die Letter entspricht genau den angesprochenen Rationalisierungsbestrebungen der großen Offizinen. Wenn die Setzer einerseits Lettern „ausmisten“, um Platz im Setzkasten zu schaffen, wieso sollten sie dann andererseits neue Lettern willkommen heißen? Daß sich gerade die ostmitteldeutschen Druckereien gegen diese Neueinführung von Lettern sträuben, zeigt sich auch an der Letter . Hier sind im Untersuchungsmaterial die geringsten Verwendungsanteile nachzuweisen (in der Karte mit dem größten Querschnitt dargestellt).
31 32 33
Vgl. Virgil Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Band I: Lautlehre, 1. Hälfte: Orthographie, Betonung, Stammsilbenvokale. Heidelberg 1929, §70.1. Vgl. dazu Wittmann: Geschichte (wie Anm. 10), S. 36ff., zit. S. 39. Zur Überschichtung der Kölner Schreibsprache vgl. die Untersuchungen Walter Hoffmanns, etwa: Walter Hoffmann: Zur Frage nach der sprachlichen ‚Progressivität‘ des Buchdrucks im frühen 16. Jh.: Untersuchungen zum Fall Köln. In: Sprachwandel und Gesellschaftswandel – Wurzeln des heutigen Deutsch, hrsg. von Klaus J. Mattheier und Haruo Nitta. München 2004, S. 131160.
Drucktechnik und Logographie
389
Prozentuale Verwendung von (vs. ) in Drucktexten des 16. Jh.s
VIII.
Fazit und Ausblick
Die Orthographie des Deutschen ist heute von Charakteristika geprägt, die auf Rationalisierungsprozesse im Typographeum und eine damit verbundene veränderte Wahrnehmung geschriebener Wörter im 16. Jahrhundert zurückgeführt werden können.
390
Anja Voeste
Ökonomische Erwägungen und technische Neuerungen haben eine Entwicklung in Gang gesetzt, die die Vormachtstellung der Phonographie erschüttert hat. Obwohl das Deutsche eine Alphabetschrift besitzt, hat es zu Beginn der Frühen Neuzeit die Ebene der segmentalen Phonographie überschritten und kennzeichnet seither suprasegmentale Einheiten unterhalb der Ganzwortebene. Das Ergebnis ist eine Verschränkung von Phonographie und Logographie. Auslöser des orthographischen Mischtyps war die Praxis und nicht die Theorie. Motor der Entwicklung war ein Professionalisierungsschub, der über die Modernisierung der Druckvorgänge schnell auch das Setzerhandwerk erreichte, während die frühen Grammatiken diesen Prozeß allenfalls begleiteten. Oder, um eine Formulierung Stetters aufzugreifen: Die Regularitäten wurden nicht von Grammatikern erdacht, sondern im Arbeitsprozeß „ausgeschwitzt“.34 Doch ist das Deutsche mit der Ausbildung eines gemischten Schreibsystems keinen Sonderweg gegangen. In der Literatur wird vielmehr aufgrund einer parallelen Entwicklung auch in anderen Sprachen eine generelle Prädisposition von Alphabetschriften für die Entwicklung logographischer Züge vermutet.35 In diesem Fall hätte der Rationalisierungsschub im Typographeum eine bestehende Neigung lediglich verstärkt. Doch bliebe gerade dann zu fragen, worauf sich die generelle Bevorzugung eines festen Musters im morphologischen Paradigma gründen sollte, besonders, da andere Sprachen (z.B. Türkisch) diesen Weg nicht eingeschlagen haben. Und wenn wir dafür eine Erklärung gefunden haben, müssen die jeweiligen Auslöser dingfest gemacht werden, die die logographische Prädisposition aus dem „Dornröschenschlaf“ wecken. Nur ein Vergleich verschiedener Schriftsysteme und der spezifischen historischen Voraussetzungen kann erweisen, inwieweit wir es hier mit Parallelentwicklungen oder Transfers zu tun haben.
Literaturverzeichnis Quellen Chronica New/ Manicherley Hystorien/ vnd besondere geschichten/ Kürtzlich begreyffend/ Von dem Jar der geburt vnsers seligmachers Jesu Christi/ Biß in das M.D. vnd. XXVIII. Erlengeret. Augsburg 1528 (= Bibliotheca Palatina. Druckschriften, hrsg. von Leonhard Boyle und Elmar Mittler. München u.a. 1991, E528: 749c).
34 35
Vgl. Christian Stetter: Schrift und Sprache. Frankfurt a.M. 1997, S. 67. Vgl. Peter Eisenberg: Jeder versteht jeden. Wie Luther die Pfingstgeschichte schreibt. In: Ein groß vnnd narhafft haffen. Festschrift für Joachim Gessinger, hrsg. von Elisabeth Berner, Manuela Böhm und Anja Voeste. Potsdam 2005, S. 117-130, hier S. 120.
Drucktechnik und Logographie
391
Desiderius Erasmus of Rotterdam: On Copia of Words and Ideas. De utraque verborum ac rerum copia, hrsg. von Donald B. King und H. David Rix. Milwaukee 42005 (1514). Frankfurter Amts- und Zunfturkunden bis zum Jahre 1612. Teil 1: Zunfturkunden bis zum Jahre 1612, hrsg. von Benno Schmidt. Frankfurt a.M. 1914. Siegmund Freiherr zu Herberstein: Moscovia der Hauptstadt in Reissen. Wien 1557. Joseph Moxon: Mechanick Exercises on the Whole Art of Printing, hrsg. von Herbert Davis und Harry Carter. Nachdruck der Ausgabe 1683/84. New York 1978.
Sekundärliteratur Drucktechnik Tilo Brandis: Handschriften- und Buchproduktion im 15. und 16. Jahrhundert. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hrsg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 176-193. Albert Kapr: Johannes Gutenberg. Persönlichkeit und Leistung. München 21988. Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450-1900. Stuttgart 1999. Wolfgang von Stromer: Große Innovationen der Papierfabrikation in Spätmittelalter und Frühneuzeit. In: Technikgeschichte 60 (1993), S. 1-6. Kurt Wesoly: Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein: ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1985. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 21991.
Schrift und Schreiben Peter Eisenberg: Jeder versteht jeden. Wie Luther die Pfingstgeschichte schreibt. In: Ein groß vnnd narhafft haffen. Festschrift für Joachim Gessinger, hrsg. von Elisabeth Berner, Manuela Böhm und Anja Voeste. Potsdam 2005, S. 117-130. Ursula Enderle: Autonomie der geschriebenen Sprache? Zur Theorie phonographischer Beschreibungskategorien am Beispiel des Deutschen. Berlin 2005. Michael Giesecke: Orthotypographia. Der Anteil des Buchdrucks an der Normierung der Standardsprache. In: Zur Theorie der Orthographie. Interdisziplinäre Aspekte gegenwärtiger Schrift- und Orthographieforschung, hrsg. von Christian Stetter. Tübingen 1990, S. 65-89. Hartmut Günther: Schriftliche Sprache. Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen. Tübingen 1988. Kerstin Güthert: Herausbildung von Norm und Usus Scribendi im Bereich der Worttrennung am Zeilenende (1500-1800). Heidelberg 2005. Walter Hoffmann: Zur Frage nach der sprachlichen ‚Progressivität‘ des Buchdrucks im frühen 16. Jh.: Untersuchungen zum Fall Köln. In: Sprachwandel und Gesellschaftswandel – Wurzeln des heutigen Deutsch, hrsg. von Klaus J. Mattheier und Haruo Nitta. München 2004, S. 131-160. Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999. Arend Mihm: Orthographiereform im 13. Jahrhundert. Der Zeugniswert der Kölner Urkundenüberlieferung. In: Überlieferungs- und Aneignungsprozesse im 13. und 14. Jahrhundert auf dem Gebiet der westmitteldeutschen und ostfranzösischen Urkunden- und Literatursprachen, hrsg. von Kurt Gärtner und Günter Holtus. Trier 2005, S. 431-483. Virgil Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Band I: Lautlehre, 1. Hälfte: Orthographie, Betonung, Stammsilbenvokale. Heidelberg 1929.
392
Anja Voeste
Nikolaus Ruge: Aufkommen und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen im Deutschen 1500-1770. Heidelberg 2004. –: Zur morphembezogenen Überformung der deutschen Orthographie. In: Linguistik online 25, 4/2005 . Christian Stetter: Schrift und Sprache. Frankfurt a.M. 1997. Anja Voeste: Orthographie und Innovation. Die Segmentierung des Wortes im 16. Jahrhundert (in Vorber.).
Personenregister
Personenregister
394 Abaelard 281
Bonaventura 72, 231, 234
Agrippa von Nettesheim H. C. 146, 163
Bonifaz VIII., Papst 164
Aischylos 106, 186 Alberti, Leon Battista 74, 248f., 256f., 263, 267 Aleander, Hieronymus 215 Alkaios 106 Alpinus, Marcus Tatius 154-156 Amphion 173 Andreae, Johann Valentin 30, 39 Andreini, Isabella 14, 67-75, 84f. Anglicus, Richard 107 Apelles 209f. Ariosto, Ludovico 14, 68, 75, 77-85 Aristophanes 106 Aristoteles 31, 70, 77, 143, 250, 277279 Augustinus 29, 51, 72, 155f., 270 Babion, Gottfried 272 Bacon, Francis 30, 38 Becher, Johann Joachim 321.323, 327f., 330, 332-339 Benjamin, Walter 16, 198-200 Berruguete, Alonso 184f. Bligger von Steinach 45-65 Bocaccio, Giovanni 72, 85 Boethius, Anicius Manlius Severinus 147-150, 154, 157, 166, 172f. Bötner, Michael 363-365
Bora, Katharina von Borges, Jorge Luis 98 Bouelles, Charles 161 Caesarius von Heisterbach 45 Campanella, Tommaso 30, 38 Campiglia, Maddalena 70 Capello, Bianca 76 Cassiodor 147 Chrétien de Troyes 15, 45, 55-58, 68, 75, 81-85 Cicero, Marcus Tullius 29 Constantinus Africanus 127 Cranach, Lucas, d.Ä. 16f., 207-228 Cranach, Lucas, d.J. 223-225 De la Court, Pieter 325f., 331f., 337f., 340 De la Rochefoucauld, François 347 Dolce, Lodovico, 74 Doña Sancha 182 Dürer, Albrecht 208, 211f., 215, 222f., 246 Eckart, Meister 255-257, 262 Eilhart von Oberg 46 Elias, Norbert 33 Ennius 101, 105 Erasmus von Rotterdam 20, 27-30, 32-34, 36f., 143, 376f. Ercker, Lazarus 361, 363
Personenregister
395
Faber, Heinrich 155, 173
Horaz 101,105
Ferdinand I., König 154
Horkheimer, Max 32f.
Ficino, Marsilio 128f. 137f.
Hugo von St. Victor 251-254, 258f., 262f., 282
Fischart, Johann 15, 89-114 Fonte, Moderata 14, 67, 75-85 Foucault, Michel 96f., 144 Friedrich der Weise 207, 209 Friedrich Ulrich von BraunschweigLüneburg 352, 354f. Froben, Johannes 33 Galen 29 Gerson, Jean 161 Gesner, Conrad 152, 159, 173 Giglio, Zacharias 149, 160 Glarean, Heinrich 173 Goethe, Johann Wolfgang 100 Gottfried von Straßburg 14, 45-65 Grüninger, Johann 388 Guillaume d’Auvergne 58 Gutenberg, Johannes 377 Hartmann von Aue 45, 51, 55, 60f. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 95f. Heinrich VIII., König von England 29, 34 Heinrich Julius von BraunschweigWolfenbüttel 349f., 357 Heinricus, Magister 239 Hörnigk, Philipp Wilhelm von 327330 Homer 103, 105f.
Isidor von Sevilla 147, 149, 166, 184 Jaca-Meister 189-193, 202 Jacobo de Barbari 210 Jeanne, Comtesse d’Eu 233f., 238, 240 Jobin, Bernhard 107 Johann der Beständige 220 Johann von Bayern 243 Johannes Paul II., Papst 38 Johannes von Salisbury 30f. Joyce, James 100 Jubal (Tubal) 147-149, 154 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 323, 334 Karl von Kastilien 34 Katharina von Siena 239 König Geber 107 Konrad von Würzburg 52f. Laertius 29 Landino, Christoforo 69 Lavinheta, Bernard de 141f., 161173 Lefèvre, Jacques 161 Leopold I., Kaiser 329 Linus 173 Listenius, Nicolaus 155f., 160
Personenregister
396 Llull, Ramón (Lullus) 107, 142, 146, 161-164 Loehneysen, Georg Engelhard von 19, 347-371 Londinensis, John Dee 111f. Lukian 29 Luther, Martin 17, 27f., 123, 137, 154, 213-225, 291
Noue, François de la 362f. Ovid 103, 264 Perotti, Niccolo 149f. Petrarca, Francesco 85 Petruccio, Ottavio 157 Philipp II. 213 Philipp der Gute 243
Mann, Thomas 100
Pindar 106
Marie de France 46, 55, 58
Platon 69
Marinella, Lucrezia 77
Plinius 150, 184, 364
Marsilius von Padua 31
Plinius d.J. 360f.
Marx, Karl 316
Polyktet 198
Matraini, Chiara 70
Praetorius, Michael 157
Maximilian I., Kaiser 111, 209
Praxiteles 198
Maximilian II., Kaiser 362
Pritius, Johann Georg 289-292, 302
Medici, Francesco de’ 76
Proklos 28
Meister von Frómista 187, 202
Protogenes 210
Melanchthon, Philipp 136, 219-221, 225
Pseudo- Raimundus Lullus 107
Melchior von Osse 362
Pythagoras 147-150
Meon 106
Quintilian 376
Mengs, Anton Raphael 213 Merian, Matheus 350, 352
Rabelais, François 91, 101, 103f., 106
Montaigne, Michel de 32f.
Ramírez, Sancho 184
Morgenstern, Christian 98
Renaut de Beaujeu 55
Morus, Thomas 20, 29-39
Richard de Fournival 229f., 232
Musil, Robert 99
Rubens, Peter Paul 246
Mylius, Georg 223-225
Rupert von Deutz 258f.
Nikomachus 147
Salvati, Leonardo 69
Ptolemaios 147
Personenregister
397
Sastrow, Bartholomäus 15, 119-138
Theophilus Presbyter 258-263, 264
Saussure, Ferdinand de 97
Thomas von Aquin 18, 243, 250, 255, 278f.
Scaliger, Julius Caesar 104 Schanppecher, Melchior 172 Scheibe, Johann Adolph 157 Scheidt, Caspar 105 Scheurl, Christoph 209f. Schmoller, Gustav 294 Schröder, Wilhelm von 321-323, 329f., 333, 341
Tiepolo, Giambattista 213 Tinctoris, Johannes 172f. Tizian 211f. Tollenaar, Arend 325f. Usselinx, Willem 325, 330, 338 Van Eyck, Jan 18, 235-286 Vasari, Giorgio 211f., 223
Schütz, Michael 107
Vergil 79
Sextus Empiricus 31
Vergilius, Polydorus 16. 141-177
Simon von Athen 364f.
Villard de Honnecourt 200
Simonides 150
Wace 57f.
Smith, Adam 291, 316
Weber, Max 294
Sombart, Werner 18, 292-294, 306, 318
Winckelmann, Johann Joachim 213
Sophokles 186 Steiner (Stayner), Heinrich 154 Strabo 105 Tacitus 105 Tarabotti, Arzangela 77 Tasso, Torquato 76
Wolfram von Eschenbach 45 Wollick, Nicolaus 171f. Xenophon 364 Yolande de Soissons 232-234, 239f.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Robert Brandt: Historiker; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Fernuniversität Hagen. Dissertationsprojekt zur Geschichte des Handwerks in Frankfurt während der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Frühen Neuzeit; allg. Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Geschichte des Handwerks; Geschichte der Geschichtswissenschaften. Thomas Buchner: Historiker; Universitätsassistent an der Johannes Kepler Universität Linz/Donau. Dissertation: Möglichkeiten von Zunft. Wiener und Amsterdamer Zünfte im Vergleich (17.-18. Jahrhundert). Wien 2004. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Arbeit, insbesondere deren Praktiken und Wahrnehmungen in der Frühen Neuzeit; Geschichte der Arbeitsvermittlung; Traditionen irregulärer Erwerbsarbeit in der Neuzeit. Tobias Bulang: Altgermanist; wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Dissertation: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser. Dresden 2002. Forschungsschwerpunkte: Wissen und Literatur; Johann Fischart; Poetologie mittelhochdeutscher Epik und Sangspruchdichtung. Gilbert Heß: Germanist, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Dissertation: Literatur im Lebenszusammenhang. Text- und Bedeutungskonstituierung im Stammbuch Herzog Augusts des Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg 1579-1666. Frankfurt a.M. u.a. 2002. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts und der Romantik; Intertextualität und Intermedialität in der Frühen Neuzeit; literarische Kleinformen; Philhellenismus in der deutschen Literatur; Geschichte und Geschichtskonzepte in der deutschen Literatur. Corinna Laude: Altgermanistin; wissenschaftliche Assistentin am Institut für Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin. Dissertation: Daz in swindelt in den sinnen… Die Poetik der Perspektive bei Heinrich Wittenwiler und Giovanni Boccaccio. Berlin 2002. Forschungsschwerpunkte: Poetik und Erzähltheorie vormoderner Epik;
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
hoch- und späthöfischer Minnesang; spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Novellistik; vormoderne Autorschaftsentwürfe, Fiktionalitätsvorstellungen und Textualitätskonzepte. Karsten Mackensen: Musikwissenschaftler; bis 2006 wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dissertation: Simplizität. Genese und Wandel einer musikästhetischen Kategorie des 18. Jahrhunderts. Kassel u.a. 2000. Forschungsschwerpunkte: Musiksoziologie; Wissenssysteme der Frühen Neuzeit; musikalische Begriffsgeschichte; Musikästhetik des 18. Jahrhunderts; Musik und Aufklärung. Heike Schlie: Kunsthistorikerin; z.Zt. Lehrbeauftragte an der Universität Düsseldorf. Dissertation: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch. Berlin 2002. Forschungsschwerpunkte: Malerei und Skulptur des Mittelalters; Bild- und Kunsttheorie; Kunst im liturgischen und paraliturgischen Kontext; Perspektive; Konzepte des medialen Raumes; Medialität des Klappretabels. Claudius Sittig: Germanist; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Albert Ludwigs Universität Freiburg. Dissertation: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zur adeligen æmulatio um 1600 in Deutschland (Göttingen 2006), erscheint Tübingen 2008. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit; Adelskultur und Literatur; Kolonialismus und Literatur; Gegenwartsdramatik; Literaturtheorie. Andreas Urs Sommer: Philosoph; vertritt z. Zt. den Lehrstuhl für Philosophie I an der Universität Mannheim. Habilitation 2004 an der Universität Greifswald mit der Arbeit: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006. Forschungsschwerpunkte: Friedrich Nietzsche; Skeptizismus; Religionsphilosophie; Geschichtsphilosophie; Philosophiegeschichte der Frühen Neuzeit, der Aufklärung und des 19. und 20. Jahrhunderts. Gia Toussaint: Kunsthistorikerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFGForschungsprojekt „Reliquiare als Konstruktion und Wahrnehmung von Heiligkeit“ am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Dissertation: Das Passional der Kunigunde von Böhmen. Bildrhetorik und Spiritualität. Paderborn 2003. Forschungsschwerpunkte: Heiligenkult und Reliquienverehrung; Kulturtransfer; Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte im Mittelalter; Text-Bild-Beziehungen in der Buchmalerei. Beatrice Trinca: Altgermanistin; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ im Teilprojekt „Inspiration und Subversivität. Künstlerische Kreation als ästhetisch-religiöse
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Erfahrung“. Dissertation: Parrieren und undersnîden. Wolframs Poetik des Heterogenen (Promotion im Juni 2007). Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Literaturtheorie, insbesondere Produktionsästhetik; höfischer Roman; Mystik. Stefan Trinks: Kunsthistoriker; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt Universität Berlin sowie seit 2000 Galerist für zeitgenössische Kunst in Berlin. Dissertationsprojekt zur Skulptur des 11. Jahrhunderts am nordspanischen Pilgerweg. Forschungsschwerpunkte: Spanische Skulptur der Romanik; Antikenrezeption im Mittelalter; politische Ikonographie; Malerei des 19. Jahrhunderts; zeitgenössische Kunst. Anja Voeste: Linguistin/Sprachhistorikerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel, Habilitation: Orthographie und Innovation. Die Segmentierung des Wortes im 16. Jahrhundert. Augsburg 2007 (Publ. in Vorbereitung). Forschungsschwerpunkte: historische Grammatik; Schriftlinguistik. Annett Volmer: Romanistin; Privatdozentin an der Freien Universität Berlin. Habilitation: Die Ergreifung des Wortes. Autorschaft und Gattungsbewußtsein in Texten italienischer Autorinnen des 16. Jahrhunderts (erscheint Heidelberg 2008). Forschungsschwerpunkte: Italienische Renaissance: Autorinnen und Autorschaftskonzepte; französische Aufklärung; Presse in der Frühen Neuzeit; italienische Gegenwartsliteratur nach 1945. Susanne Wegmann: Kunsthistorikerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DFGProjekt „Reformatorische Bildkonzepte – Visualität und Visualisierung im Kontext der lutherischen Konfessionalisierung“ am Kunsthistorischen Institut der Universität Leipzig. Dissertation: Auf dem Weg zum Himmel. Das Fegefeuer in der deutschen Kunst des Mittelalters. Köln / Weimar / Wien 2003. Forschungsschwerpunkte: Funktion, Gebrauch und Rezeption des Bildes im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit; Stiftungsverhalten und Jenseitsvorstellungen; das Bild im Kontext von Reformation und Konfessionalisierung. Antje Wittstock: Germanistin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Dissertationsprojekt zur Rezeption des Melancholiebegriffs von Marsilio Ficino im deutschen Humanismus. Forschungsschwerpunkte: Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit; Konzepte von Autorschaft; Antikerezeption; historische Anthropologie; Editionswissenschaft; Literaturtheorie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts.