195 93 21MB
German Pages 270 [272] Year 2017
A K T E N DES VII.
INTERNATIONALEN
GERMANISTEN-KONGRESSES GÖTTINGEN
1985
Kontroversen, alte und neue
Herausgegeben von ALBRECHT SCHÖNE
Band 2
Formen und Formgeschichte des Streitens Der Literaturstreit Herausgegeben von F R A N Z JOSEF WORSTBROCK HELMUT KOOPMANN
MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 1986
Redaktionelle
Betreuung
Ulf-Michael Schneider
(Göttingen)
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kontroversen, alte und neue : Akten d. VII. Internat. Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985 / hrsg. von Albrecht Schöne. - Tübingen : Niemeyer NE: Schöne, Albrecht [Hrsg.]; Internationaler Germanisten-Kongress (07, 1985, Göttingen) Bd. 2. Formen und Formgeschichte des Streitens. - 1986 Formen und Formgeschichte des Streitens. D e r Literaturstreit. Hrsg. von Franz-Josef Worstbrock ; Helmut Koopmann. - Tübingen : Niemeyer, 1986. (Kontroversen, alte und neue ; Bd. 2) NE: Worstbrock, Franz Josef [Hrsg.]; beigef. Werk ISBN 3-484-10526-7 Bd. 2; 3-484-10524-0 Gesamtwerk Bd. 1-11 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1986 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten. Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Vorbemerkung
Die Akten des VII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprachund Literaturwissenschaft (IVG), der unter dem Generalthema ,Kontroversen, alte und neue' vom 25. bis 31. August 1985 in Göttingen abgehalten wurde, werden in 11 gleichzeitig erscheinenden Bänden veröffentlicht. Band 1 enthält die Ansprachen, Berichte und Plenarvorträge, dazu ein Verzeichnis der neugewählten Gremien der IVG und ihre geänderte Satzung. In den Bänden 2-11 dann sind die insgesamt 329 Referate abgedruckt, die auf den Versammlungen der 23 Foren des Kongresses vorgetragen wurden. Die Abfolge dieser Beiträge entspricht der Vortragsfolge des jeweiligen Forums. Die Aufteilung der Foren auf die Berichtsbände aber ist um eine möglichst sinnvolle thematische Zusammenstellung des einzelnen, auch einzeln käuflichen Bandes bemüht und weicht deshalb von der Nummernfolge des Kongreßprogramms gelegentlich ab. So enthält der hier vorliegende 2. Band die Beiträge zum 1. Forum (,Formen und Formgeschichte des Streitens') und zum 13. Forum (,Der Literaturstreit'). Für die wissenschaftlichen Gespräche, die in den Foren jedem der Referate folgten, stand die gleiche Zeit zur Verfügung, die auch dem Vortragenden eingeräumt war. In allen Foren gab es außerdem ein einstündiges Abschlußgespräch, das sich an einer zusammenfassenden Kritik der Beiträge und an den offenen Fragen des betreffenden Arbeitsgebietes versuchte. Diese Diskussionen können in den Kongreßakten nicht mehr wiedergegeben werden. Dafür liefert auch die ,Einführung' zum 13. Forum keinen Ersatz. Obgleich die Diskussionsergebnisse hier und da in die für den Druck leicht überarbeitete Fassung einzelner Referate eingegangen sind, vermögen die vorliegenden Bände also nur unvollkommen zu dokumentieren, was auf diesem Kongreß erreicht, versäumt oder verfehlt worden ist. ,Kontroversen' aber entwickeln sich erst mit der kritischen Gegenrede und wollen ausgetragen werden. Durch die Veröffentlichung der Berichtsbände sollen deshalb die in ihnen enthaltenen Ansprachen, Berichte, Vorträge und Referate aufs neue und nunmehr über den Kreis der Kongreßteilnehmer hinaus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden, die in den Göttinger Diskussionen eröffnet worden ist. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben und dazu beitragen werden, uns auf solche Weise voranzuhelfen. ALBRECHT SCHÖNE
Inhaltsverzeichnis
F O R M E N U N D FORMGESCHICHTE DES STREITENS
Jürgen Stenzel (Wolfenbüttel/Jerusalem) Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik
3
Werner Nothdurft (Mannheim) Zündstoff. Das Management explosiver Sachverhalte in Schlichtungs-Gesprächen
12
Werner Holly (Trier) Diskussion über ,Diskussion'
24
Dieter Lamping (Wuppertal) Zur Rhetorik des Verrisses
34
Johannes Schwitalla (Mannheim) Martin Luthers argumentative Polemik: mündlich und schriftlich
41
Matthias W. Senger (Cambridge, Massachusetts) „Ich han almit meiner Nachtigall zu essen geben." Zur Typologie des mimetischen Elements im Reformationsdialog
55
Hartmut Kugler (Düsseldorf) Das Streitgespräch zwischen ,Zivilisierten' und ,Wilden'. Argumentationsweisen vor und nach der Entdeckung der Neuen Welt
63
Klaus Speckenbach (Münster) Der Traumtraktat von Alexander Seitz als Agitation gegen Herzog Ulrich von Württemberg
73
Edward Timms (Cambridge) Der Satiriker und der Christ - ein unvereinbarer Gegensatz?
85
Gerhard Sauder (Saarbrücken) Ein deutscher Streit 1789. Campes Versuch „moralischen Totschlags" und Moritz' Verteidigung der Rechte des Schriftstellers
91
Gerald Stieg (Paris) Kafka als Spiegel der Kraus'schen Literaturpolemik
98
Günter Oesterle (Gießen) Das „Unmanierliche" der Streitschrift. Zum Verhältnis von Polemik und Kritik in Aufklärung und Romantik
107
Alfred Opitz (Lissabon) „Aesthetische Gerichtssitzung". Zur symbolischen Inszenierung von Macht in der Literaturkritik des Vormärz
121
Vili
Inhalt
D E R LITERATURSTREIT Helmut Koopmann
(Augsburg)
Einführung Jürgen Wilke
137 (Eichstätt)
D e r deutsch-schweizerische Literaturstreit Hans-Georg
Werner
(Halle)
Der Streit und die Toleranz bei Lessing Wolf gang Martens
140
152
(München)
Zur Metaphorik schriftstellerischer Konkurrenz 1770-1800. (Voss, Bürger, Schiller) Hans-Dietrich
Dahnke
160
(Weimar)
Wandlungen in Wesen und Funktion öffentlicher literarischer Debatten und Kontroversen zwischen 1780 und 1810 Walter Hinderer
172
(Princeton)
Die projizierte Kontroverse: Text und Kontext von Schillers Bürger-Kritik Klaus L. Berghahn
. . . 180
(Madison)
Maßlose Kritik. Friedrich Nicolai als Kritiker und Opfer der Weimarer Klassiker 189 Theodore
Ziolkowski
(Princeton)
Bild als Entgegnung. Goethe, C. D . Friedrich und der Streit um die romantische Malerei Klaus Köhnke
(Johannesburg)
„Rezension der Poesie durch Poesie": Zu Eichendorffs Kleist-Kritik Slobodan
Grubaöic
215
(Leiden)
Der Literaturstreit in der Zeit der Weimarer Republik Miklós Salyámosy
220
(Szeged)
Expressionismus: Präfaschismus oder (linke) Revolution Dieter Schiller
209
(Belgrad)
Heines Doppelstrategie: die literarische Exekution Platens Hans Würzner
201
225
(Berlin)
Die Expressionismus-Debatte der Jahre 1937 bis 1939 aus der Sicht des Pariser Exils Edith Ihekweazu
229
(Nsukka)
Das kontroverse Dreiecksverhältnis von Autor, Kritiker und Literaturwissenschaft. Untersucht am Fall Peter Rühmkorfs Rolf Kieser (New
York)
Kontroverse als Literatur: Max Frisch und die Kunst der Polemik Michael Böhler
237
243
(Zürich)
D e r ,neue' Zürcher Literaturstreit. Bilanz nach zwanzig Jahren
250
Formen und Formgeschichte des Streitens 1. Forum des Kongresses Leitung: Wolfgang Klein (Nijmegen) Edward Timms (Cambridge) Franz Josef Worstbrock (Münster)
Jürgen Stenzel (Wolfenbüttel
/ Jerusalem)
Rhetorischer Manichäismus Vorschläge zu einer Theorie der Polemik Das wird schon nächstens Wenn ihr lernt alles
besser
gehen,
reduzieren
Und gehörig klassifizieren.
*
Einleitung Meine Ü b e r s c h r i f t nimmt den M u n d natürlich gewaltig voll: T h e o r i e der Polemik. 1 Vielleicht ist das, was Sie jetzt a n h ö r e n müssen, bloß grau, wie nach Mephistos Einsicht alle Theorie. In Wahrheit zimmere ich hier n u r die Vorstufe einer T h e o r i e , ein lediglich heuristisches Schema nämlich f ü r die Analyse polemischer Texte. Die Kritik hätte zu p r ü f e n , o b es sachgerecht, erschöpfend und f r u c h t b a r ist. Auf Originalität kann es schwerlich p o c h e n , da es sich wesentlich an die antike Rhetorik d e r Lob- und T a d e l r e d e a n l e h n t . 2 Ich b e k e n n e auch, daß es mich selber etwas unbefriedigt läßt, wenn ich fortw ä h r e n d den M u n d spitze o h n e zu pfeifen und doch erwarte, daß a n d e r e nach der Pfeife dieser Heuristik tanzen sollen. — Soviel zur Captatio benevolentiae. N a c h d e n k l i c h e s über Nutzen und Nachteil polemischer R e d e sei vorweg, n u r andeutungsweise, abgetan. Ihr U n t e r h a l t u n g s w e r t — wenn zwei sich streiten, f r e u t sich der Dritte — ü b e r l e b t nicht selten die aktuellen Vergiftungen, vorurteilshaften Polarisierungen u n d mörderischen K o n s e q u e n z e n , die Polemik anzurichten vermag. Immerhin hält sie die S t r e i t e n d e n in Schwung und das Publikum bei der Stange; im glücklichen Falle stimuliert sie Witz und A u s d r u c k s v e r m ö g e n d e r K ä m p f e r ; im glücklichsten, also seltenen wohl, d i e n t sie d e r Wahrheit. Klare F r o n t e n schaffend und Entscheidungen provozierend teilt sie indessen als pragmatische G a t t u n g 3 jenes Dilemma, f ü r das der G e r m a n i s t natürlich mit einem G o e t h e w o r t bei der H a n d ist: „ D e r H a n d e l n d e ist immer gewissenlos [also o h n e Reflexion]; es hat niemand Gewissen als d e r B e t r a c h t e n d e . " 4
* Mephisto zum Schüler, Faust v. 1943ff. 1
Eine erste Skizze dieser Überlegungen, „Über den Umgang mit Polemik", ist erschienen in: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo Wilhelmina zu Braunschweig 12 (1977), H. 3/4, S. 2 7 - 2 9 .
2
Grundlegend noch immer Wilhelm Süß: Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik. Leipzig u. Berlin 1910, S. 245ff. - Ferner H. L. Levy: Claudians ,In Rufinum' and the rhetorical Psogos. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 77 (1946), S. 5 7 - 6 5 . - Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 2 1973. - R. G. M. Nisbet (Hg.): Cicero. In L. Calpurnium Pisonem Oratio. Edited with introduction and commentary by [ . . . ] . Oxford 1961, S. 1 9 2 - 1 9 7 (Appendix VI: The ,In Pisonem' as an Invective). - G. E. L. Owen: Philosophical Invective. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 1 (1983), S. 1 - 2 5 . - The Oxford Classical Dictionary. : 1970, S. 606 s.v. .Libel and Slander'.
3
Polemik dient dem praktischen Meinungskampf. Ob die .Tadelrede' vordem einmal, wie die
4
Maximen und Reflexionen, Hecker Nr. 241; Hamburger Ausgabe Bd. 12, S. 399, Nr. 251.
Lobrede, als genus demonstrativum
gepflegt worden ist, bleibe hier unerörtert.
4
Jürgen
Stenzel
Vorläufiges zur Definition Beginnen wir mit Überlegungen zur Definition des Ausdrucks Polemik. Ich will dieses Geschäft hier freilich nur soweit verfolgen, wie mir ein praktischer Definitionsbedarf vorzuliegen scheint, und ich setze Etymologie und Wortgeschichte samt allen Nachbarbegriffen dabei voraus. 5 Definition nun soll zwar mit dem üblichen Sprachgebrauch kompatibel bleiben, aber sie hat ihn doch auch zu präzisieren. Deshalb die folgende Bemerkung: Wenn unsereiner statt: „Nun werden Sie doch nicht gleich polemisch" ebensogut, nur eben weniger gewählt, sagen könnte: „Nu schimpfen Se man nich gleich", so wollen wir das als gruppensprachliche Berufseigenheit beiseite lassen; ebenso, wenn jemand schreibt, Hegel beziehe sich polemisch auf Kant, sofern er lediglich äußern will, Hegel sei ausdrücklich anderer Meinung als Kant. Polemik ist gewiß aggressive Rede. 6 Aber nicht jede aggressive Rede nennen wir Polemik. Kritik zum Beispiel läßt sich als eine Art von verbaler Aggression auffassen, aber doch als unaggressive, nämlich sachliche Aggression. Unsachlichkeit, die polemische Rede konstituiert, läßt sich allein an ihrem Stil ablesen; Polemik wäre also jene Rede, in welcher unsachlicher Stil dominiert. 7 Daß eine entsprechende Diagnose Unsicherheiten einschließt, muß in Kauf genommen werden. Unsachlichkeit herrscht jedoch auch im Geschimpfe von Betrunkenen, die sich anschließend verprügeln. Es wäre aber wohl komisch, wenn wir in der Zeitung läsen: „Zu einer erregten Polemik zwischen zwei Germanistikprofessoren mit anschließendem Handgemenge kam es gestern abend vor einer Gaststätte der Göttinger Innenstadt . . . " . Gleichwohl ist Polemik von Beschimpfung8 nicht klar zu trennen. Vielleicht treten in der Beschimpfung der thematische Bezug und damit die Darstellungsfunktion der Sprache zurück zugunsten des unmittelbaren und entsprechend formlosen Ausdrucks von Erregung und Beleidigungswillen. Beschimpfung kann sich immerhin auf die bloße Reihung von Schimpfwörtern reduzieren; Polemik nicht, denn sie argumentiert. Und vielleicht ist es dieser Vorrang der Darstellungs- vor der Ausdrucksfunktion, der dem Fremdwort Polemik die vornehme Aura des Professionellen, bisweilen Professoralen, verleiht, während gesellschaftlich nicht akzeptierter und überwiegend privater Wortkampf sich mit 3
Zur E t y m o l o g i e vgl. H a n s Schulz/Otto Basler: Deutsches F r e m d w ö r t e r b u c h . B d . 2. Berlin 1942, S. 573f. s.v. .Polemik". - N a c h b a r b e g r i f f e etwa: B e s c h i m p f u n g , Beleidigung. C a l u m n i e . Diabole ( δ ι α β ο λ ή ) . I n f a m i e , I n j u r i e , Invektive. Libell, P a m p h l e t . Pasquill, Psogos ( ψ ό γ ο ς ) , Schmährede, Streitschrift. V i t u p e r a t i o .
6
Vgl. e t w a B e r n h a r d Hassenstein: Mittel der V e r h a l t e n s l e n k u n g . Aggression und I n f o r m a t i o n .
7
Erst unsachlicher Stil — nicht schon unsachliche V e r f a h r e n s w e i s e n wie Zitatverfälschung und
In: G e o r g i a A u g u s t a . N a c h r i c h t e n aus der Universität G ö t t i n g e n ( O k t . ) 1968. S. 2—19. dergleichen — qualifiziert eine R e d e als polemische. Als kleinste polemische Einheit m u ß demnach d e r .polemische (Stil-)Zug' gelten, etwa ein verletzendes W o r t . Ein einziger polemischer Zug läßt bereits die weiter unten entwickelte .polemische Situation' in Kraft treten. 8
Vgl. e t w a Karl Sornig: B e s c h i m p f u n g e n . In: G r a z e r Linguistische Studien 1 (1975). S. 150— 170. -
F r a n z Kiener: D a s W o r t als W a f f e . Z u r Psychologie der verbalen Aggression. G ö t t i n g e n
1983. — G e o r g O b j a r t e l : Die Kunst d e s Beleidigens. Materialien und Ü b e r l e g u n g e n zu e i n e m historischen I n t e r a k t i o n s m u s t e r . In: D . C h e r u b i m u . a . (Hgg.): G e s p r ä c h e zwischen Alltag und L i t e r a t u r . Beiträge zur germanistischen Gesprächsforschung. T ü b i n g e n 1984, S. 9 4 - 1 2 2 .
Rhetorischer
Manichäismus
5
d e m N a m e n B e s c h i m p f u n g z u f r i e d e n g e b e n m u ß . P o l e m i k trägt gleichsam Schlips. Sie k a n n S c h i m p f w ö r t e r — w e n n auch nicht die allergröbsten — allenfalls m i t v e r w e n d e n . E r r e g u n g s z u s t ä n d e des P o l e m i k e r s sind j e d e n f a l l s rein f a k u l t a t i v ; seine A g g r e s s i o n k a n n d u r c h a u s kaltblütig sein. Seine E r r e g u n g m u ß in o r g a n i s i e r t e r R e d e a u f g e f a n g e n u n d auf W i r k u n g hin f u n k t i o n a l i s i e r t sein. U n t e r U m s t ä n d e n ist es erst die p o l e m i s c h e W i r k u n g s a b s i c h t , die d e n E r r e g u n g s z u s t a n d d e s P o l e m i k e r s als eine nützliche P r o d u k t i v k r a f t e r z e u g t . Lessing im z w e i t e n A n t i - G o e z e : „Ich m u ß , ich m u ß e n t b r e n n e n " . P o l e m i k ist also, im e m p h a t i s c h e n S i n n e , R e d e u n d fällt d a m i t in d e n K o m p e t e n z - u n d A n a l y s e bereich der Rhetorik.9 G e g e n ü b e r d e r Satire[0 h e b t sich P o l e m i k d u r c h ihren a r g u m e n t i e r e n d e n G r u n d g e s t u s a b . D a s klingt p a r a d o x , d a wir es doch mit unsachlich-aggressiver R e d e zu t u n h a b e n . A b e r tatsächlich a r g u m e n t i e r t P o l e m i k . M ö g e n ihre A r g u m e n t e , d . h . B e h a u p t u n g e n , n o c h so f r a g w ü r d i g sein — g e r a d e d a ß sie f r a g - w ü r d i g sein k ö n n e n , zeigt, d a ß sie e i n e n W a h r h e i t s w e r t h a b e n ; sie k ö n n e n mithin z u t r e f f e n o d e r nicht z u t r e f f e n . Satire d a g e g e n kritisiert d u r c h k o m i s c h e Darstellung, Mimesis u n e r w ü n s c h t e r Z u s t ä n d e . Freilich ist sie ein ä s t h e t i s c h - p r a g m a t i s c h e s Z w i t t e r w e s e n , u n d i n s o f e r n stellt sich auch bei ihr die W a h r h e i t s f r a g e ; a b e r e r s t , w e n n m a n i h r e D a r s t e l l u n g analytisch auf B e h a u p t u n g e n r e d u z i e r t . N i m m t die Satire diese R e d u k t i o n selber vor, so wird sie mit i h r e m G a t t u n g s c h a r a k t e r u n e i n s : p o l e m i s c h e , a r g u m e n t i e r e n d e Z ü g e z e r s t ö r e n ihre obligatorische mim e t i s c h e I n d i r e k t h e i t - w ä h r e n d P o l e m i k i h r e r s e i t s satirische Z ü g e sehr wohl n u t z b r i n gend integrieren kann. Mit d e r B e s t i m m u n g d e r P o l e m i k als o r g a n i s i e r t e r , m e h r o d e r m i n d e r g e s t a l t e t e r R e d e — sei sie m ü n d l i c h o d e r schriftlich — k o n v e r g i e r e n T h e m e n b e r e i c h e , die e i n e r A r g u m e n t a t i o n zugänglich sind (also solche ö f f e n t l i c h e n I n t e r e s s e s — aus Politik, Wiss e n s c h a f t , K u n s t , T h e o l o g i e u s w . ) , u n d ein ö f f e n t l i c h e r Vollzug. Private T h e m a t i k u n d P o l e m i k u n t e r vier A u g e n m ö g e n hier allenfalls als R a n d p h ä n o m e n e gelten.
Die polemische Situation U n t e r d i e s e m Begriff soll die Stellung d e r f o l g e n d e n E l e m e n t e z u e i n a n d e r v e r s t a n d e n w e r d e n : D a ist zunächst d a s polemische polemisches
Objekt
Subjekt,
d e r P o l e m i k e r . " D e r A n g e g r i f f e n e soll
h e i ß e n . In e i n e r W e c h s e l p o l e m i k t a u s c h e n b e i d e die R o l l e n . D e r
i n d i r e k t e o d e r d i r e k t e A d r e s s a t p o l e m i s c h e r R e d e ist die polemische
Instanz,
worunter
'' D a m i t soll nicht gesagt sein. Polemik sei eine tradierte, erlernbare Gattung. Das mag sie im historischen Geltungsbereich der rhetorischen Tradition auch gewesen sein. Wesentlich ist sie eine s p o n t a n e R e d e f o r m , für die es keine spezielle Regelkompetenz gibt. — Robert Jamison und Joachim Dyck: Rhetorik — Topik — Argumentation. Bibliographie zur Redelehre und Rhetorikforschung im deutschsprachigen R a u m 1945-1979/80. Stuttgart 1983, verzeichnen kein Schlagwort .Polemik', ebensowenig wie die neueste Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 10 Jürgen Brummack: Z u Begriff und Theorie der Satire. D V j s Sonderheft 1971. " G e m e i n t ist damit zunächst der A u t o r . O b und wieweit sich die Rolle des Polemikers, in die der A u t o r sich hineinschreibt, von seiner Realexistenz entfernt, müßte die Untersuchung des jeweiligen Einzelfalls ergeben.
6
Jürgen
Stenzel
wir nach dem Muster der Rechtssprache das als entscheidungsmächtig vorgestellte Publikum begreifen. Der polemische Prozeß handelt von einem polemischen Thema. Dieses Thema muß kontrovers sein und eine ausgiebige Energiequelle für Aggressionen, es muß also intensive Wertgefühle aktivieren können. — Eine Graphik, in welcher polemisches Subjekt, polemisches Objekt und polemische Instanz ein Dreieck bilden, in dessen Mitte das polemische Thema liegt, kann die polemische Situation darstellen:
pol.
INSTANZ
* Pfeile: Aggression
/Ts. / /
'V /
/ /
/
/
1
ι
\
** Zahlen: Beziehungen *** Ziel des Polemikers
\
6
/
ι I /
polem. λ
l
THEMAj
\
\\
\ \\ \
**
***
/
/ //
/
/
/
'
ts" ' /
^ "
^
5 *
\
\ \
\
- 1 pol.
SUBJEKT
pol.
OBJEKT
Ziel des Polemikers
Mit spekulativer Übertreibung — bisweilen leider keineswegs übertrieben — läßt sich die Absicht des Polemikers als Vernichtung des Gegners und seiner Position bezeichnen. 12 Insofern gehört der Fluch zu den mythischen Ahnen der Polemik — aus Zeiten, da das Verwünschen noch geholfen hat. Realitätsnäher gesprochen geht es um einen Machtkampf zwischen Vertretern von Positionen oder Gruppen, und die Macht liegt dabei in der von starken Wertgefühlen begleiteten Zustimmung der polemischen Instanz zu Position und Person des Angreifers — Ohnmacht in entsprechender Ablehnung des Angegriffenen. Die Beteiligung intensiver Wertgefühle und die damit gekoppelte Aggressivität polemischer Rede führen zu starker Personalisierung des Kampfes. Genauer: Aggressivität, Wertgefühle und Personalisierung ziehen eines das andere nach sich, wobei der Anstoß von jedem dieser drei Momente ausgehen kann. Es ist ja schon — seien wir ehrlich — nicht immer einfach, sachliche Kritik hinzunehmen, die unsere Ansichten oder Lösungsvorschläge für unrichtig, unangemessen oder unzweckmäßig erklärt. Heißt es aber gar: „Was Sie da vorbringen, ist glatter Unsinn", so ist das ein beleidigender, also Leid zufügender, verletzender Angriff auf unser Selbstwertgefühl — vom Wert der vertretenen Ansicht ganz zu schweigen. Entsprechende 12
Der Ausdruck .Rufmord' stellt für diesen Vorgang ein sehr plastisches Analogon dar.
Rhetorischer
Manichäismus
7
M a g e n v e r s t i m m u n g e n des polemischen O b j e k t s bedürfen gar nicht einmal der, auch nur vorgestellten, Anwesenheit eines Publikums. D a s Angriffsziel polemischer R e d e läßt sich n u n m e h r g e n a u e r beschreiben: D e r Polemiker soll samt seiner Position in den A u g e n der polemischen Instanz als wertvoll ers c h e i n e n , der Angegriffene und seine Position als minderwertig. Polemik folgt d e m S c h e m a eines säkularisierten Manichäismus, das die Beteiligten in die Extremregionen von Licht und Finsternis auseinandertreibt. Sei es ein Individuum o d e r eine G r u p p e — das polemische O b j e k t soll geschwächt und zum sozialen Außenseiter oder g a r Feind gestempelt w e r d e n , d e m die geschlossene Front von Polemiker und Publikum gegenü b e r s t e h t . D a s b e d e u t e t schließlich: D a s polemische O b j e k t und seine Position sollen ihres U n w e r t e s wegen zum Aggressionsobjekt der polemischen Instanz werden. D e r P o l e m i k e r schwingt sich damit zum Einpeitscher einer aggressiven H o r d e auf und befestigt d a m i t d e r e n inneren Z u s a m m e n h a l t . D a ß ich mit solcher Wortwahl den schlimmstmöglichen Fall zum Typus e r h e b e , geschieht natürlich der Deutlichkeit halber und will Polemik als G a t t u n g nicht schlechtweg denunzieren.
Mittel der Polemik U m seine Absicht zu erreichen, m u ß der Polemiker, wie schon die klassische Rhetorik d e m R e d n e r ü b e r h a u p t a n g e r a t e n hat, als vir bonus erscheinen. Eine seiner G r u n d o p e rationen ist d e m n a c h die positive Selbstdarstellung. D e r Angreifer m u ß sich dazu nicht u n b e d i n g t mit ausdrücklichem Selbstlob ü b e r h ä u f e n . Versteht er sozusagen das polemische D e c o r u m zu wahren und beherrscht er die polemische Elocutio, so fällt ihm die Rolle d e s vir bonus aus d e r bloßen aggressiven Opposition zum vir malus von selbst zu. Ist j e m a n d e m zum Beispiel ein aggressiver Witz gelungen, so konstatiert der V o l k s m u n d , er habe die Lacher auf seiner Seite. Dieser Vorteil des Angreifers läßt sich durch Techniken d e r Captatio benevolentiae absichern wie auch durch ein gezielt eingesetztes Impon i e r g e h a b e . D e r u n ü b e r s e h b a r zur Schau gestellte G r ö ß e n w a h n eines Karl Kraus hat neben seiner individualpsychischen Seite auch eine funktionale B e d e u t u n g . Z u r positiven Selbstdarstellung gehört es auch, den Angegriffenen als wichtig erscheinen zu lassen: als R e p r ä s e n t a n t e n des schlechten Zeitgeistes, E x p o n e n t e n einer Verschwörung und dergleichen. David tritt nicht gegen Hinz u n d Kunz an, sondern gegen Goliath. 1 3 U m das polemische O b j e k t als den vir malus, als minderwertig zu b r a n d m a r k e n , m u ß d e r P o l e m i k e r seinem O p f e r pejorative Prädikationen a n h e f t e n . D e r e n Lexikon ist zwar nahezu u n ü b e r s e h b a r , das aus ihm durch Abstraktion herauszufilternde eigentliche Inventar j e d o c h b e q u e m überschaubar. Sein U m f a n g hängt dabei auch vom Bedarf d e r jeweiligen Analyse ab. Ich begnüge mich hier, als Beispiele aus dem Inventar pejorativer P r ä d i k a t i o n e n einige A d j e k t i v e zu n e n n e n : unglaubwürdig, i n k o m p e t e n t , verächtlich, normwidrig u n d schädlich. Im übrigen verweise ich auf die Vorurteilsforschung, die f ü r diesen Bereich einige V o r a r b e i t geleistet hat. 1 4 13
Die erfolgreiche Selbstdarstellung des Polemikers erweist vor allem in diesem Moment zugleich
14
Howard J. Ehrlich: Das Vorurteil. Eine sozialpsychologische Bestandsaufnahme [ . . . ] . München
die Legitimation des polemischen Verfahrens.
1979.
8
Jürgen
Stenzel
Die p e j o r a t i v e n P r ä d i k a t i o n e n f ü r das polemische O b j e k t sind gleichsam d e r Kern polemischer R e d e . K o n k r e t sind sie in aggressiv verwendbare Argumente eingebettet, aus d e n e n meistens erst die Analyse sie freischält. Die A r g u m e n t e sind es, die, den W o r t g e b r a u c h der klassischen Rhetorik a u f z u n e h m e n , die Res polemischer R e d e ausmachen. U n d wie jene e n t n i m m t man sie einem A r e a l von Topoi. Die antike R h e t o r i k hat diese Topoi in der Regel nur f ü r die L o b r e d e m a r k i e r t , da die T a d e l r e d e ( ψ ό γ ο ς , vituperano) als d e r e n einfache U m k e h r u n g begriffen wurde — angesichts des dualistischen G r u n d z u g s d e r Polemik völlig zu Recht. D a ß ein A r g u m e n t f ü r den Polemiker umso b r a u c h b a r e r ist, je m e h r aggressive Vorurteile es stimulieren k a n n , liegt auf der H a n d . Im übrigen sind die einschlägigen Topoi hinreichend b e k a n n t , so daß ich hier zur E r i n n e rung und nur beispielshalber einige aufzähle: Die H e r k u n f t des polemischen O b j e k t s gehört e b e n s o dazu wie sein N a m e (den man zu witzigen Wortspielen verarbeiten kann); d a n n das Ä u ß e r e des G e g n e r s ( D o m ä n e , nebenbei, der gezeichneten Polemik, d e r aggressiven K a r i k a t u r ) , seine Charaktereigenschaften, seine soziale Stellung, sein W e r d e gang, seine F r e u n d e u n d Gesinnungsgenossen (von denen abschätzige Urteile ü b e r das polemische O b j e k t natürlich besonders willkommen sind), und endlich seine H a n d l u n gen und Ä u ß e r u n g e n . Bei d e r Wahl der Argumente lassen sich zwei weitere G r u n d o p e r a t i o n e n des Polemikers unterscheiden (die erste war die positive Selbstdarstellung des Angreifers als des vir bonus): A k z e n t u i e r u n g und Unterstellung. In der Akzentuierung hebt der Polemiker solche E i g e n s c h a f t e n o d e r H a n d l u n g e n des polemischen O b j e k t s hervor, deren Tatsächlichkeit allgemein unbestritten ist; in der Unterstellung ist der Tatsachengehalt polemischer B e h a u p t u n g e n fraglich, und das kann für das A r g u m e n t b e d e u t e n , daß es unbewiesen bis u n b e w e i s b a r o d e r gar nachweislich falsch ist, sobald man nachsieht. Wechselpolemik erzeugt sich auf weite Strecken aus dem Streit um die Klassifikation der gegnerischen A r g u m e n t e als A k z e n t u i e r u n g bzw. Unterstellung. Dabei kann die A k z e n t u i e r u n g vorurteilsbesetzter T a t s a c h e n durchaus perfider sein als eine Unterstellung. Bei d e m U n t e r s c h i e d zwischen Akzentuierung und Unterstellung geht es u m den Wahrheitsgehalt der v e r w e n d e t e n A r g u m e n t e . D e r e n Triftigkeit — was beileibe nicht dasselbe ist wie ihr Erfolg — hängt nicht zuletzt auch von der Logik ab. d e r sie f o l g e n . ' 1 D i e G e g e n r e d e des A n g e g r i f f e n e n wie die Analyse polemischer R e d e ü b e r h a u p t hat deshalb d e r e n (meistens verschwiegene) Prämissen ebenso u n t e r die Lupe zu n e h m e n wie die oft suggestiven Schlußverfahren des Polemikers. E s d ü r f t e nicht schwierig sein, zu einer Typologie typisch polemischer Schlußverfahren zu gelangen. Der V o r t r a g polemischer A r g u m e n t e bedient sich schließlich einer möglichst wirksam e n Elocutio im Sinne der positiven Selbstdarstellung des Polemikers und der E r z e u gung aggressiver G e f ü h l e d e r polemischen Instanz gegen das polemische O b j e k t und seine Position. Die Beschreibung dieser polemischen Elocutio hat die U n t e r s u c h u n g polemischer T e x t e bisher aus naheliegenden G r ü n d e n am nachhaltigsten beschäftigt." 1 1:1
Vgl. A r t h u r S c h o p e n h a u e r : E r i s t i s c h e Dialektik. In: A . S.: Sämtliche W e r k e . Hrsg. v o n Paul D e u s s e n . B d . 6 hrsg. von F r a n z M o c k r a u e r . München 1923. S. 391 — 428. - Karl O t t o E r d m a n n : Die K u n s t , R e c h t zu b e h a l t e n . M e t h o d e n und Kunstgriffe des Streitens [ . . . ] . Berlin 1924. S. 3 4 - 1 4 5 [M952]. - W e r n e r R o t h e r : Die Kunst des Streitens. M ü n c h e n 1961. Vgl. e t w a B o d o L e c k e : S p r a c h e d e r Polemik. Z u r Analyse rhetorischer Stilmittel in e i n e m O b e r s t u f e n k u r s . In: p r o j e k t deutschunterricht 3 (1972). S. 49—83.
Rhetorischer
Manichäismus
9
Ihr f u n k t i o n a l e r S i n n e r s c h l i e ß t sich i n d e s s e n erst a u s d e m , w a s ich b i s h e r zu s k i z z i e r e n v e r s u c h t h a b e . M e i n R e f e r a t w ü r d e I h n e n w a h r s c h e i n l i c h s e h r viel m e h r F r e u d e m a c h e n , w e n n ich S i e j e t z t m i t L e c k e r b i s s e n v o n m e t a p h o r i s c h e n U n v e r s c h ä m t h e i t e n ,
perfiden
A n s p i e l u n g e n , ironischen Persilscheinen, v o n N a m e n s w i t z e n und lustigen W o r t s p i e l e n o d e r zwerchfellerschütternden N e o l o g i s m e n zu traktieren vorhätte. Nichts d a v o n ,
des
L e b e n s g o l d n e r B a u m b l e i b t u n g e s c h ü t t e l t . D e n n n o c h m u ß v o n d e n h i s t o r i s c h e n Frag e n , d i e w i r a n d i e P o l e m i k z u richten h a b e n , s k i z z i e r e n d d i e R e d e s e i n .
Historische Gesichtspunkte W a s ich b i s h e r v o r z u t r a g e n h a t t e , w a r ja z u k ü n s t l i c h e r S t a t i k e i n g e f r o r e n . D e r Historik e r will e s in s e i n e r r e a l e n D y n a m i k b e g r e i f e n ; die v o r g e l e g t e H e u r i s t i k l i e f e r t d a f ü r nur Stichworte. I c h ü b e r g e h e d i e ü b e r g r e i f e n d - d i a c h r o n e n F r a g e n , die sich auf das V o r k o m m e n , d i e thematische Verteilung, den Wandel von Wert- und Unwertvorstellungen
s o w i e auf
K o n s t a n z u n d V e r ä n d e r u n g d e s A r s e n a l s p o l e m i s c h e r M i t t e l im V e r l a u f e d e r G e s c h i c h t e r i c h t e n . I h r e B e a n t w o r t u n g s e t z t ja d i e A n a l y s e z a h l r e i c h e r E i n z e l p o l e m i k e n v o r a u s . 1 7
17
Q u e l l e n s a m m l u n g e n etwa F r a n z Blei: D e u t s c h e Literaturpasquille. Vier Stücke. Leipzig 1907. -
W o l f g a n g Pfeiffer-Belli: A n t i r o m a n t i s c h e Streitschriften u n d Pasquille ( 1 7 9 8 - 1 8 0 4 ) .
In:
E u p h o r i o n 26 (1925), S. 6 0 2 - 6 3 0 . - F. M. R e i f f e r s c h e i d s Deutsche Spott- u n d Streitschriften. Stuttgart 1940. -
O s k a r Schade: Satiren u n d Pasquille aus der R e f o r m a t i o n s z e i t . 3 B ä n d e .
N a c h d r u c k der 2. A u s g . H a n n o v e r 1863, H i l d e s h e i m 1966. - Paul R a a b e : Index Expressionism u s . Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften u n d J a h r b ü c h e r n des literarischen Expressionismus 1 9 1 0 - 1 9 2 5 . Bd. 18 (Serie E . G a t t u n g s r e g i s t e r , Teil 2). Nendeln 1972. S. 1 1 9 9 - 1 2 1 3 . Einige E i n z e l u n t e r s u c h u n g e n : Birgit Stolt: W o r t k a m p f . F r ü h n e u h o c h d e u t s c h e Beispiele zur r h e t o r i s c h e n Praxis. F r a n k f u r t 1973 ( = Respublica Literaria 8). - B e r n h a r d Schulz: Die Sprac h e als K a m p f m i t t e l . Z u r Sprachform von K a m p f s c h r i f t e n L u t h e r s , Lessings und Nietzsches. In: D V j s 18 (1940), S. 4 3 1 - 4 6 6 . - Martin B r e c h t : Ihr F l e d e r m ä u s e , M a u l w ü r f e und N a c h t e n t e n . M a r t i n L u t h e r — der Schimpfer und P o l e m i k e r [ . . . ] . In: Börsenblatt ( F r a n k f u r t e r A u s g a b e ) 39 (1983), H . 20, S. 6 0 0 - 6 0 4 . - O t t o Immisch: Beiträge zur Beurteilung der stilistischen Kunst in Lessings P r o s a , insonderheit d e r Streitschriften. In: N e u e J a h r b ü c h e r für Philologie u n d Pädagogik 33 (1887), bes. S. 393—410. - W e r n e r G a e d e : Die publizistische Technik in der Polemik G . E . Lessings. [Masch.] Diss. phil. Berlin ( F U ) 1955. - N o r b e r t W. Feinäugle: Lessings Streitschriften. Ü b e r l e g u n g e n zu Wesen und M e t h o d e der literarischen Polemik. In: Lessing Y e a r b o o k 1 (1969), S. 1 2 6 - 148. - Robert C. H o l u b : H e i n e ' s sexual assaults: towards a theory of the total polemic. In: M o n a t s h e f t e (Wisconsin) 73 (1981), S. 4 1 5 - 4 2 8 . - W e r n e r Kohlschmidt: Z u r Polemik G e o r g e s u n d seines Kreises. In: F o r m e n w a n d e l . Festschrift für Paul B ö c k m a n n . H a m b u r g 1964, S. 4 7 1 - 4 8 2 . - H e l m u t Uhlig: V o m P a t h o s der Syntax [zu Karl Kraus], In: A k z e n t e 2 (1955), S. 489ff. - Christel H e i d e m a n n : Satirische und polemische F o r m e n in der Publizistik v o n Karl K r a u s . Diss. phil. Berlin 1958. - G ü n t e r M o l t m a n n : G o e b b e l s R e d e zum totalen Krieg a m 18. 2. 1943. In: E b e n d a 12 (1964). bes. S. 3 0 - 4 0 . -
Siegfried Frind: Die Sprache als
P r o p a g a n d a i n s t r u m e n t in der Publizistik d e s dritten Reiches [ . . . ] . Diss. phil. Berlin 1964.
-
K e n n e t h B u r k e : Die R h e t o r i k in Hitlers .Mein K a m p f ' und a n d e r e Essays zur Strategie der Ü b e r r e d u n g . F r a n k f u r t 1967. -
Kornelius S c h n a u b e r : Wie Hitler sprach und schrieb. Z u r
Psychologie und Prosodik der faschistischen R h e t o r i k . F r a n k f u r t 1972 ( = Schriften z u r Literatur
10
Jürgen
Stemel
D i e h i s t o r i s c h e E i n z e l f a l l u n t e r s u c h u n g hat sich (1.) mit d e r E n t s t e h u n g d e r p o l e m i schen S i t u a t i o n zu b e f a s s e n , gleichsam mit der E x p o s i t i o n d e r p o l e m i s c h e n H a n d l u n g , (2.) mit V e r l a u f u n d F o l g e n d e r P o l e m i k u n d (3.) mit d e r S y m p t o m a t i k d e s u n t e r s u c h t e n Konfliktgebietes. D i e Entstehung der polemischen Situation u m f a ß t die G e n e s e j e d e s i h r e r vier E l e m e n t e ( p o l e m i s c h e s S u b j e k t , O b j e k t , Instanz u n d T h e m a ) f ü r sich u n d in seinem V e r h ä l t n i s o d e r W e c h s e l v e r h ä l t n i s zu d e n jeweils a n d e r e n bis zur A u s g a n g s l a g e , aus d e r h e r a u s e i n e P o l e m i k i h r e n A n f a n g n i m m t . M a n k o m m t - d i e G r a p h i k m a r k i e r t es d u r c h Z a h l e n auf sechs s o l c h e r V e r h ä l t n i s s e , n ä m l i c h die B e z i e h u n g e n von S u b j e k t , O b j e k t u n d Instanz z u e i n a n d e r sowie aller drei z u m p o l e m i s c h e n T h e m a . O h n e A n s p r u c h auf V o l l s t ä n digkeit v e r a n s t a l t e ich e i n e k u r z e S c h n i t z e l j a g d : W e c h s e l b e z i e h u n g 1: W a r u m w ä h l t dieses p o l e m i s c h e S u b j e k t g e r a d e dieses p o l e m i s c h e O b j e k t zu d i e s e m Z e i t p u n k t ? H a t d a s p o l e m i s c h e O b j e k t e t w a d a s p o l e m i s c h e S u b j e k t gereizt? D o m i n i e r t bei dieser W a h l d a s T h e m a o d e r die P e r s o n ? W o h e r bezieht d e r P o l e m i k e r seine A g g r e s s i o n s e n e r g i e ? (2) W e l c h e s Bild h a t das p o l e m i s c h e S u b j e k t v o n d e r p o l e m i s c h e n I n s t a n z ? In w e l c h e m M e d i u m u n d in w e l c h e r S p r a c h e w e n d e t es sich an d i e Ö f f e n t l i c h k e i t ? W e l c h e Einstellung hat d i e p o l e m i s c h e I n s t a n z z u m P o l e m i k e r ? (3) Ist die p o l e m i s c h e I n s t a n z d e m p o l e m i s c h e n O b j e k t g e g e n ü b e r n e u t r a l , feindselig o d e r w o h l w o l l e n d eingestellt? W e l c h e n V o r u r t e i l e n ist die p o l e m i s c h e I n s t a n z zugänglich? W a s hat d a s p o l e m i s c h e O b j e k t v o n d e r I n s t a n z zu b e f ü r c h t e n ? (4) Wie k o m m t dieses p o l e m i s c h e S u b j e k t zu d i e s e m T h e m a ? W e l c h e V o r g e s c h i c h t e hat das T h e m a ? (5) H a t sich d a s p o l e m i s c h e O b j e k t selbst mit d e m T h e m a v e r b u n d e n o d e r ist die V e r b i n d u n g ihm a u f e r l e g t w o r d e n ? (6) W e l c h e B e z i e h u n g hat die p o l e m i s c h e Instanz z u m T h e m a ? Ist d i e I n s t a n z geschlossen o d e r g e s p a l t e n ? U n d so f o r t . Nicht zu v e r g e s s e n sind die R a h m e n b e d i n g u n g e n d e r p o l e m i s c h e n S i t u a t i o n , u n t e r d e n e n O b r i g k e i t , G e r i c h t e u n d n e u t r a l e Ö f f e n t l i c h k e i t der p o l e m i s c h e n R e d e G r e n z e n ziehen. D i e E r z ä h l u n g des Verlaufes einer Polemik h ä t t e die B e s c h r e i b u n g u n d F u n k t i o n s b e s t i m m u n g d e r v e r w e n d e t e n p o l e m i s c h e n Mittel z u i n t e g r i e r e n , also die A r t der Captatio benevolentiae, d e r positiven Selbstdarstellung u n d d e r U m r i ß v e r g r ö ß e r u n g des p o l e m i schen S u b j e k t s v o r z u f ü h r e n , d a s I n v e n t a r der p e j o r a t i v e n P r ä d i k a t i o n e n , T o p i k u n d R e p e r t o i r e d e r A r g u m e n t e , die Angriffs- und Streitlogik zu u n t e r s u c h e n , die Elocutio u n d d a b e i n a m e n t l i c h ihre M e t a p h o r i k zu c h a r a k t e r i s i e r e n . Viele dieser p o l e m i s c h e n Mittel h a b e n ü b r i g e n s ihre jeweils eigene G e s c h i c h t e , aus d e r ihr aktuelles W i r k u n g s p o t e n t i a l r e s u l t i e r t . - E s m ü ß t e n a b e r a u c h die V e r ä n d e r u n g e n sichtbar w e r d e n , d e n e n sämtliche E l e m e n t e d e r p o l e m i s c h e n Situation w ä h r e n d eines p o l e m i s c h e n P r o z e s s e s u n t e r l i e g e n k ö n n e n . W e l c h e I n s t a n z e n t s t e h t tatsächlich? G r e i f t sie ein? W i e r e a g i e r t d a s p o l e m i s c h e O b j e k t ? usw. — D a s leitet ü b e r zu d e n Folgen ( o d e r zur F o l g e n l o s i g k e i t ) e i n e r P o l e m i k , die i d e e n - u n d n o r m g e s c h i c h t l i c h e r A r t sein k ö n n e n , a b e r auch p r a k t i -
20). - Sprache im technischen Zeitalter 20 (1966), S. 269ff. Sonderheft: Kunst und Elend der Schmährede. Streit um die G r u p p e 47. ( E b d . Jg. 2 5 - 2 8 . 1968, S. 134ff.). - [Abschließend zwei entlegene Titel:] A . D. W e b e r : Ü b e r Injurien und Schmähschriften. Schwerin und Wismar 1793. - G o t t f r . E p h r . Scheibel: Die U n e r k a n n t e Sünden Der Poeten [ . . . ] . Leipzig 1734 (Kap. 30: Von Pasquillen).
Rhetorischer
Manichäismus
11
scher N a t u r — von der individuellen Depression bis hin zu Pogrom und Massenmord. Die U n t e r s u c h u n g hätte die Bedingungen sichtbar zu m a c h e n , unter denen Polemik ihre jeweiligen K o n s e q u e n z e n zeitigt. — U n t e r Symptomatik schließlich verstehe ich die anthropologische und historische Signifikanz all dessen, was eine diesen heuristischen G ä n gen folgende U n t e r s u c h u n g zu Tage gefördert hätte. Vielleicht kann f ü r die graue Trockenheit dieser Heuristik die H o f f n u n g entschädigen, d a ß eine begriffliche und topisch vollständige Analyse polemischer R e d e nicht nur Erkenntnis verspricht. Im jeweils aktuellen Falle — und wann gäbe es den nicht — könnte sie sogar einen sozialen Nutzen stiften: Polemik zielt ja auf die E r r e g u n g aggressiver A f f e k t e . Ihren Vorteilen vermöchte nur jener gute Polemiker a u f z u h e l f e n , dessen Schwert zugleich scharf und blank wäre, u n d ein moralisch und rhetorisch gleicherweise anspruchsvolles Publikum. Ihren unerwünschten Wirkungen aber ließe sich mit jener a f f e k t m i n d e r n d e n Distanz b e i k o m m e n , die der analytische Begriff gewährt. Im Schlachtenlärm und -staub wünschte vorurteilslose und genaue Analyse d e r leisen Stimme der V e r n u n f t G e h ö r zu schaffen.
Werner Nothdurft
(Mannheim)
Zündstoff D a s M a n a g e m e n t e x p l o s i v e r Sachverhalte in S c h l i c h t u n g s - G e s p r ä c h e n *
0. ,Schlichten' — ein Interaktionsmuster zur B e w ä l t i g u n g v o n Streit Schlichtungsgespräche sind komplexe interaktive Ereignisse, die dadurch gekennzeichnet sind, daß ein Dritter in einen bestehenden Konflikt zwischen zwei Parteien eingreift mit dem Ziel, zwischen den Parteien eine gütliche Einigung über den umstrittenen Sachverhalt — den Konflikt — zustandezubringen. Ich gehe davon aus, daß es sich bei ,Schlichten' um ein kulturell tradiertes, interaktiv ausgebautes und sozial konventionalisiertes Muster der rationalen Bearbeitung sozialer Konflikte handelt. 1 Es gilt, das allgemeine Muster - bei aller Spezifität des jeweiligen Einzelfalls — in seinen allgemeinen Merkmalen zu bestimmen und insbesondere die Leistungen und systematischen Störanfälligkeiten dieses Musters herauszuarbeiten. Die nachfolgende Analyse versteht sich als ein Beitrag insbesondere zu dieser letztgenannten Zielsetzung. 1. ,Streit': ein leicht e n t z ü n d l i c h e r Stoff Meine kommunikative E r f a h r u n g lehrt mich, d a ß .Konflikt' oder .Streit' ein leicht entzündlicher Stoff ist. Dies gilt für das Austragen von Streit selbst, aber auch für den metakommunikativen Umgang, also f ü r Gespräche über Streit. Schlichtungsgespräche sind solche Gespräche über Streit und dieser Streit ist .explosiv', d . h . er tendiert dazu, in kommunikativer Behandlung außer Kontrolle zu geraten. Dieses außer-Kontrolle-geraten kann entlang dreier Dimensionen erfolgen: — In der sachlichen Dimension tendiert die Darstellung des Streits dazu, auszuufern: — in der sozialen Dimension tendiert der Streit dazu, neu entfacht zu werden, statt nur metakommunikativ, symbolisch, behandelt zu werden: * Dieser Beitrag e n t s t a n d im R a h m e n des Forschungsprojekts ..Schlichtung -
Gesprächs- und
Interaktionsanalyse eines V e r f a h r e n s zur Bewältigung sozialer K o n f l i k t e " , das in den J a h r e n 1984 bis 1986 am IdS M a n n h e i m d u r c h g e f ü h r t wird. D a t e n g r u n d l a g e des P r o j e k t s sind T o n b a n d a u f n a h m e n von Schlichtungsgesprächen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen (Vergleichsverhandlungen vor G e r i c h t ; G e s p r ä c h e beim Schiedsmann; Schlichtungsgespräche in V e r b a n d s i n s t i t u t i o n e n , z . B . K r a f t f a h r z e u g - G e w e r b e , K r a f t f a h r z e u g - H a n d e l . Reinigungsgewerbe; paar- u n d f a m i l i e n t h e r a p e u t i s c h e G e s p r ä c h e ; Schlichtungs-Sequenzcn in familialer I n t e r a k tion). Ich v e r w e n d e im folgenden die A u s d r ü c k e .Schlichten' und .Schlichtung' sowie .Streit' und .Konflikt' s y n o n y m . 1
Z u d e r hier z u g r u n d e l i e g e n d e n A u f f a s s u n g des M u s t e r c h a r a k t e r s von Schlichten vgl. N o t h d u r f t (1985).
Zündstoff
— Das Management
explosiver Sachverhalte
in
13
Schlichtungs-Gesprächen
— in der affektiven D i m e n s i o n tendiert der Streit dazu, die subjektive Verletztheit und Schädigung der P a r t e i e n zu aktualisieren und alte W u n d e n wieder aufzureißen. E i n e U r s a c h e für die E x p l o s i o n s g e f a h r liegt natürlich darin, d a ß in Schlichtungssituationen beide Streitparteien anwesend sind. Sie k ö n n e n den Schlichter ,links liegen' lassen und ihren Streit quasi a u t o n o m weiterführen und eskalieren lassen. E s ist u n m i t t e l b a r klar, d a ß dieses explosive Potential von Streit bzw. S t r e i t - B e h a n d l u n g für Schlichtungsgespräche
disfunktional ist, d . h . dem gesellschaftlichen
Auftrag an
. S c h l i c h t e n ' , Streit gütlich beizulegen, entgegenwirkt.
2. Die P r o b l e m e des Schlichters mit der Explosionsgefahr W i e geht der S c h l i c h t e r mit dieser E x p l o s i o n s g e f a h r u m ? E i n e erste -
vorschnelle —
A n t w o r t k ö n n t e lauten: E r m u ß darauf a c h t e n , daß der Streit in engen G r e n z e n bleibt (nicht ausufern kann, keinen A n l a ß für n e u e n Streit oder e m o t i o n a l e A u s b r ü c h e liefert). D i e s e A n t w o r t wird den I n t e r a k t i o n s b e d i n g u n g e n , die durch das Handlungsmuster , S c h l i c h t e n ' festgelegt sind, allerdings nicht gerecht; so einfach ist die Sache gerade nicht, das P r o b l e m e r f o r d e r t e h e r eine Antwort im z w a r - a b e r - M u s t e r : Z w a r m u ß der S a c h v e r h a l t , um den es g e h t , tendenziell komprimiert w e r d e n , mindestens soweit, d a ß e r vom Schlichter in kontrollierter W e i s e gehandhabt werden kann. D i e s e A n f o r d e r u n g resultiert aus dem C h a r a k t e r von Schlichten als Konfliktlöseverfahren o h n e Entscheidungsbefugnis des D r i t t e n . Im G e r i c h t s v e r f a h r e n kann die K o m p l e x i t ä t eines Streitfalles durch B e z u g auf kodifizierte D e u t u n g e n ( G e s e t z e ) reduziert werden. B e i m Schlichten gibt es diesen R e d u k t i o n s m e c h a n i s m u s typischerweise nicht, die R e d u k t i o n (sprich: der Einigungsvorschlag) m u ß aus dem K o n f l i k t - S a c h v e r h a l t selbst heraus entwickelt werden. Dies erfordert, d a ß der umstrittene S a c h v e r h a l t ü b e r s c h a u b a r in seiner K o n t u r , kontrollierbar in seinen G r e n z e n und b e w e r t b a r in seinem Inhalt bleibt. A n d e r e n f a l l s resultierte im Konfliktregelungsverfahren Schlichten Handlungsunfähigkeit ( , . t j a , j e d e r siehts halt anders, alles ist plausibel, was soll man da m a c h e n ? " ) . 2 S o w e i t scheint für Schlichten eine rigide B e h a n d l u n g des Konflikts durch den Schlichter das Mittel der W a h l zu sein. A b e r andererseits gilt gleichzeitig, und zwar ebenfalls systematisch aus V e r f a h r e n s gründen: D e r S a c h v e r h a l t m u ß tendenziell expandiert w e r d e n , mindestens soweit, daß die E x p a n s i o n den B e t e i l i g t e n ein wechselseitiges Verständnis der Sichtweise des anderen erlaubt. D i e s e A n f o r d e r u n g resultiert aus der B e s t i m m u n g von Schlichten als Konfliktlöseverfahren mit dem Z i e l gütlicher Einigung. . E i n i g u n g ' als Resultat bzw. K o n s e n s als verständigungsorientierter P r o z e ß setzt a b e r voraus, daß der Streit in seinen vielfältigen V e r f l e c h t u n g e n und A s p e k t e n entfaltet wird und transparent gemacht wird, damit die Streitparteien eine hinreichende G r u n d l a g e für die Ä n d e r u n g ihrer Einstellung dem :
Vgl. dazu auch die Überlegungen in Gottwald.
14
Werner
Νothdurft
Streitgegenstand und dem a n d e r e n gegenüber b e k o m m e n . Schlichten benötigt eine so weit expandierte Konflikt-Version, d a ß die Perspektiven beider angemessen berücksichtigt sind. Diese beiden A n f o r d e r u n g e n bringen insbesondere den Schlichter in eine schwierige, w e n n nicht p a r a d o x e Situation: Einerseits m u ß er den Konflikt sich entfalten lassen, um Verständigung herstellen zu k ö n n e n , andererseits m u ß er darauf achten, d a ß der Konflikt ihm nicht aus den H ä n d e n gleitet (ausufert o d e r neu entfacht wird) und die Bedingungen d e r Herstellung von Einigung nicht zerstört w e r d e n . D i e Kunst des Schlichtens besteht wahrscheinlich in einem großen M a ß e darin, diese G r a t w a n d e r u n g d e r Bewältigung beider A n f o r d e r u n g e n zu bewerkstelligen.
3. Das Management explosiver Sachverhalte D i e Aktivitäten des Schlichters bei dieser G r a t w a n d e r u n g sollen mit dem analytischen Prädikat des , M a n a g e m e n t s ' gefaßt werden. Aktivitäten des M a n a g e m e n t s lassen sich grundsätzlich unterscheiden in vorgreifende Steuerungsaktivitäten und lokale bzw. akute O r d n u n g s m a ß n a h m e n . V o r g r e i f e n d e Steuerungsaktivitäten sind solche, durch die vor o d e r an Schaltstellen d e r Sachverhalts-Explosion den Parteien Direktiven für den interaktiven U m g a n g mit d e m Konflikt gegeben w e r d e n ; diese Direktiven können auf die sachliche Dimension a b h e b e n : aber nich bei adam un èva anfange;3 auf die soziale Dimension anspielen: dann eröffn ich die Sühneverhandlung und wollte sa:n daß wer diese in ferer und anständiger weise hier über die bühne ziehn; oder die affektive Besetztheit des Streitgegenstandes in R e c h n u n g stellen: wolln sie erstmal richtisch loslegen hier un ihm mal alles vorwerfen wat sie so haben un dann gehn wir der reihe nach durch aber dann bleiben ma bei der stari'ge ... lassen sie jetzt mal sprechen da muß jetzt en stau raus ... sehn se det aber jetz wat jetzt gesagt wird net alles zu genau. Solche vorgreifenden Steuerungsaktivitäten haben ihren Sinn; es ist aber offensichtlich, d a ß sie das geschilderte Interaktionsproblem des explosiven Sachverhalts nicht hinrei3
Erläuterung der auftretenden Transkriptionszeichen: C: Schlichter
3s: starke Lautstärke
A : Streitpartei
5s5: steigende Intonation
B: Streitpartei
5f5: fallende Intonation
O: Pause ":
Betonung
:
Dehnung
= : Verschleifung — : Abbruch
: unverständliche Passage
Zündstoff - Das Management explosiver Sachverhalte in
15
Schlichtungs-Gesprächen
chend und vollständig lösen können. Nach bisherigen Beobachtungen spielen denn auch akute lokale Ordnungsmaßnahmen für das Management eine wesentlich größere Rolle. Solche akuten Maßnahmen tauchen charakteristischerweise immer wieder im Zuge einer Handlungssequenz auf, die sich idealtypisch folgendermaßen darstellen läßt:
C : Aufforderung zur Stellungnahme ( z . B . an Partei B ) Β : Stellungnahme C : Nachfrage Β : E x p a n s i o n der Stellungnahme —» C : M a n a g e m e n t - M a ß n a h m e : akute O r d n u n g s m a ß n a h m e
A b b . 1: N o r m a l f o r m - S e q u e n z der akuten Ordnungsmaßnahme
Einige Formen von Ordnungsmaßnahmen seien illustrierend aufgeführt: O es geht O jetz O net so wie sie dat wollen OO — Sequentialisierung: (frau lange-bohnert dat äh halten sie sich alles O fest O wenn isch dat aufrufe O wir gehen der reihe nach sonst schaffen wir net OO es is einfach zu viel an vorwürfen wat hier drin ist) — Ausgrenzung: (frau düster dat hat hier jetz damit gar nichts zu tun) — Vertagung: (moment wir müssen hier von dem ein"n thema mal abkommen dat andere dat könn sie hier nachträglich hier wieder machen)
sondern
— Überspringen: (-sch mein passiert is passiert -s läßt sisch ni=mehr ungschehe mache äh isch würde die sache so sehen daß mer se aus der weit bringe wenn sie sisch für diese O äh beleidigungen die sie da ausgsproche hawe entschuldigen) — Fokussierung: (dat hat hier jetz hier im moment nichts zur sache sondern die die de Sachverhalt is ja hier praktisch nun daß sie sagen=mal die wohnung betreten ham un damit hausfriedensbruch betrieben) — Neutralisierung: (also disput war uf alle fäll frau beck des steht eindeutisch gibt=s also nix dran zu rütteln) — Vertiefung: (also was wäre denn dann zwischen
ihnen beiden
eintlich
feschi ne do
los")
Solche akuten Ordnungsmaßnahmen sind gelegentlich von Erfolg gekrönt, oft aber auch nicht. Dies hat eine Vielzahl von Ursachen, die im Interaktionskontext, der Vorgeschichte des Streits, der Autorität des Schlichters etc. liegen. (Darüber ließe sich lange spekulieren). E s gibt aber Fälle, in denen die Management-Aktivitäten selbst das Interaktionsproblem, zu dessen Bearbeitung sie erfolgten, fortschreiben und verstärken, wo also durch die Lösch-Aktivitäten selbst noch Öl aufs Feuer gegossen wird. 4 Zwei Fälle, in denen dies geschieht, sollen im folgenden vorgestellt werden. 4
D a s P h ä n o m e n , daß ein Problem durch seine Behandlung verschlimmert wird, wird ausführlich
3
Im ersten Fall handelt es sich um ein Schlichtungsgespräch beim Schiedsmann ( N R W ) , im
kommunikationstheoretisch behandelt in Watzlawick u.a. zweiten Fall handelt es sich um ein Schlichtungsgespräch in einer B a d e n - W ü r t t e m b e r g i s c h e n Vergleichsbehörde.
16
Werner
Nothdurft
Im e r s t e n Fall g e h t es d a r u m , d a ß d u r c h die a k u t e O r d n u n g s m a ß n a h m e des Schlicht e r s die i n n e r e Logik d e s K o n f l i k t s aus d e r Sicht einer Streitpartei g e b r o c h e n wird u n d es d a d u r c h zu zyklischen V e r l ä u f e n u n d einem S t a g n i e r e n d e r H a n d l u n g s p r o g r e s s i o n k o m m t (das Z e r s c h n e i d e n d e r S a c h v e r h a l t s - L o g i k ) . Im z w e i t e n Fall geht es d a r u m , d a ß durch die a k u t e O r d n u n g s m a ß n a h m e eine relev a n t e H a n d l u n g s o r i e n t i e r u n g e i n e r d e r Streitparteien nicht z u m Z u g e k o m m t und d a d u r c h d e r O r d n u n g s m a ß n a h m e h a r t n ä c k i g W i d e r s t a n d e n t g e g e n g e b r a c h t wird (das R e d u z i e r e n auf eine N e u t r a l v e r s i o n ) . D a ß d i e O r d n u n g s m a ß n a h m e n des Schlichters s c h e i t e r n , hat m . E . nicht s o viel mit d e r jeweiligen k o m m u n i k a t i v e n K o m p e t e n z bzw. p r o f e s s i o n e l l e n Fähigkeit u n d G e s c h i c k lichkeit des Schlichters zu t u n , s o n d e r n ergibt sich e h e r als u n w e i g e r l i c h e s Resultat d e r W e c h s e l w i r k u n g v o n V e r f a h r e n s m e r k m a l e n des Schlichtens mit b e s t i m m t e n I n t c r a k t i o n s k o n t e x t e n . P r a k t i s c h e K o n s e q u e n z e n aus dieser A n a l y s e sollten d a h e r nicht auf die M a x i m e h i n a u s l a u f e n , solche R e s u l t a t e zu v e r h i n d e r n , s o n d e r n e h e r V o r s c h l ä g e m a c h e n , wie die i n t e r a k t i v e n K o n s e q u e n z e n solcher R e s u l t a t e d u r c h k o m m u n i k a t i v e s H a n d e l n abgefedert und aufgefangen werden können.
4. Das Zerschneiden der Sachverhalts-Logik I m e r s t e n vorgestellten Fall erfolgt das M a n a g e m e n t d u r c h die F o k u s s i e r u n g des sachlich e x p l o d i e r e n d e n S a c h v e r h a l t s auf d e n z e n t r a l e n v e r f a h r e n s r e l e v a n t e n B e s t a n d t e i l , die A n s c h u l d i g u n g ' . I m v o r l i e g e n d e n Fall bestreitet die A n t r a g s g e g n e r i n d a s in der A n s c h u l d i g u n g g e n a n n t e G e s c h e h e n nicht, versucht a b e r , ihre H a n d l u n g v o r d e m H i n t e r g r u n d d e r k o m p l e x e n V o r g e s c h i c h t e zu r e c h t f e r t i g e n . In Fällen wie d i e s e m erweist sich e i n e F o k u s s i e r u n g allein auf die A n s c h u l d i g u n g u n d d a m i t eine T r e n n u n g v o n A n s c h u l d i g u n g u n d V o r g e s c h i c h t e als a u s g e s p r o c h e n d i s f u n k t i o n a l . In solchen Fällen ist d u r c h d i e s e T r e n n u n g d a s K o n f l i k t v e r s t ä n d n i s der Partei in seinem N e r v g e t r o f f e n . D e r K o n flikt-Hintergrund t a u c h t zwangsläufig i m m e r w i e d e r im G e s p r ä c h a u f , u n d es k o m m t zu zyklischen V e r l ä u f e n ( , R ü c k f ä l l e n ' f t ) u n d p e r m a n e n t e n t h e m a t i s c h e n R e k u r r e n z e n . D i e H a n d l u n g s p r o g r e s s i o n s t a g n i e r t . D e r r e l e v a n t e G e s p r ä c h s a u s s c h n i t t wird hier aus d a r s t e l l u n g s t e c h n i s c h e n G r ü n d e n in F o r m einer k o m p r i m i e r t e n V e r s i o n dargestellt: 7 Schlichter dann
könn=n
Antragsgegnerin sie dazu
Stellung
nehmen
jetzt
ich zahl keine strafe O ich hab auch meine gründe 6
Z u m P h ä n o m e n d e s . R ü c k f a l l s ' vgl. ausführlicher B l i e s e n e r u. N o t h d u r f t .
7
Z u m P r o b l e m der D a r s t e l l u n g u m f a n g r e i c h e r G e s p r ä c h s - A u s s c h n i t t e und z u D a r s t e l l u n g s t e c h n i ken vgl. N o t h d u r f t ( 1 9 8 4 ) . B e i der hier b e n u t z t e n . k o m p r i m i e r t e n V e r s i o n ' wird der Wortlaut der G e s p r ä c h s b e i t r ä g e auf s e i n e inhaltlich markanten P a s s a g e n k o n d e n s i e r t , d i e s e aber w e r d e n in a u t h e n t i s c h e r D a r s t e l l u n g w i e d e r g e g e b e n .
Zündstoff
— Das Management
explosiver
Sachverhalte
in
erstens mal: morns zwei"tn punkt: krank
17
Schlichtungs-Gesprächen um siem geht das
telefon
mein mann is im moment
sehr"
sie" sin et schuld
un noch was: das is jeschäftsschädigung mei"nen frau düster sie müssen jetzt=e=mal
erklären
wo:r denn da jetzt eigntlich die damit
in
äugen
wat
vorjeschichte
anfing sie is ihm is=ene
nachjelaufe geldjeschichte
aber sie machen
unser jeschäf
kaputt
ich muß schon immer mehr aushilf
(einstellen)
mein mann is so" jeschädischt
moment
im
frau düster dat tut hier jetzt im moment nichts zur sache sondern de Sachverhalt is ja hier nun daß sie
praktisch
... ich hab da=n jrund für sie ruft ja tächlich
jehabt
an
wenn er bei ihnen war war der fix und
fertisch
fertisch
frau düster dat hat hier jetzt damit jar nichts zu tun sondern
sie
...
die andere sache
...
das is ja nur die
Vorgeschichte
ja nur gewesen und die muß ich hier jetzt och mal wissen aber wir müssen uns do drüber einig werden in der sache
...
hausfriedensbruch aber dat war mein
hauptgrund
mein mann is so fertisch aber da könn sie ja net hingehen
und
dann die frau may jetzt irgendwie
mit den
nerven
einfach zerschlagen aber sie ruft ja schon morns
um sieben
an
sie macht den jo schon ferti- um sie"ben uhr is der schon frau düster jetzt komm
mer widder vom
ab es geht hier do drum
wie stehn sie
aufgebracht
thema dazu sie hält noch vili vili zu wenisch prügel wissen sie wie tächlich wie vili anrufe wat sie unser jeschäft
sie kommen
hier immer
widder auf ein
ruiniert
haben
anderes
thema aber die ruft ja morgens und is mein mann schon es geht do drum daß sie sag mal etc.
um sieben
kricht kommen
an
aufjebracht
18
Werner Nothdurft
C: A u f f o r d e r u n g zur Stellungnahme B: S t e l l u n g n a h m e : G r ü n d e f. Schädigung:
Telefon
Geschäftsschädigung A
C: N a c h f r a g e B: E r l ä u t e r u n g geldgeschichte C: F o k u s s i e r u n g auf Anschuldigung das tut jetzt hier im moment
nichts zur
sache
Β: R e c h t f e r t i g u n g ich hab da:n grund
für
jehabt C: F o k u s s i e r u n g auf Anschuldigung nur die
Vorgeschichte
B: R e c h t f e r t i g u n g aber dat war mein hauptgrund
da=sch
da hingegangen
auch
bin
C: F o k u s s i e r u n g auf Anschuldigung kommen
vom thema
ab
B: R e c h t f e r t i g u n g sie hätt noch vili vili zu wenisch prüjel
krischt
C: F o k u s s i e r u n g auf Anschuldigung sie kommen
auf ein
thema hier immer
anderes wieder
B: R e c h t f e r t i g u n g aber C: E n t w i c k l u n g eines Einigungsvorschlags ( w o r a u f h i n die drei P u n k t e von Β in F o r m von F o r d e r u n g e n p r o m p t wieder a u f t a u c h e n 8 )
A b b . 2: Zyklische V e r l a u f s d y n a m i k des K o n f l i k t - M a n a g e m e n t s und thematische R e k u r r e n z c n im Beispielfall 1 (gekästelt: N o r m a l f o r m - S e q u e n z d e r a k u t e n O r d n u n g s m a ß n a h m e , s . S . 15)
8
Dies liegt in diesem Fall d a r a n , d a ß die einzelnen R e c h t f e r t i g u n g s p u n k t e . T e l e f o n ' , . G e s u n d heit' u n d , G e s c h ä f t s s c h ä d i g u n g ' stets in d e r Kopplung .Schädigung + F o r d e r u n g ' vorgetragen w e r d e n , so d a ß sie im G e s p r ä c h i m m e r wieder passend präsentiert w e r d e n k ö n n e n : solange es u m die K l ä r u n g der K o n f l i k t a u f f a s s u n g e n der Streitparteien g e h t , als ,Schädigung'; w e n n es u m die H e r s t e l l u n g einer E i n i g u n g g e h t , als , F o r d e r u n g ' .
Zündstoff — Das Management explosiver Sachverhalte in Schlichtungs-Gesprächen
19
5. Das Reduzieren auf eine Neutralversion In d i e s e m Fall g e h t es u m e i n e n V e r s u c h , eine a u s u f e r n d e K o n f l i k t - D e b a t t e zwischen d e n S t r e i t p a r t e i e n e i n z u d ä m m e n u n d d e m m a n i f e s t e n A n f a c h e n n e u e r l i c h e n Streits d a d u r c h v o r z u b e u g e n , d a ß d e r Sachverhalt u m k o n t r o v e r s e A n t e i l e v e r m i n d e r t wird, so d a ß er p o t e n t i e l l e i n i g u n g s f ä h i g e Gestalt a n n i m m t u n d aus b e i d e n S t r e i t p e r s p e k t i v e n h e r a u s a k z e p t a b e l w i r d . Z u solchen k o n t r o v e r s e n A n t e i l e n g e h ö r t die B e s t i m m u n g d e r jeweiligen s c h u l d h a f t e n V e r s t r i c k t h e i t in das K o n f l i k t - G e s c h e h e n . D e r Sachverhalt w i r d so f o r m u l i e r t , d a ß b e i d e Beteiligte pauschal e i n e n A n t e i l a m Z u s t a n d e k o m m e n d e s K o n f l i k t s z u g e w i e s e n b e k o m m e n . D i e s e F o r m des M a n a g e m e n t s wird freilich d i s f u n k t i o nal in s o l c h e n F ä l l e n , in d e n e n m i n d e s t e n s eine d e r P a r t e i e n als h a n d l u n g s l e i t e n d e O r i e n t i e r u n g d i e Z u s c h r e i b u n g v o n Schuld an d e n G e g n e r verfolgt. In solchen Fällen wird j e d e N e u t r a l v e r s i o n u n a k z e p t a b e l u n d wird z u r ü c k g e w i e s e n , u n d das g e r a d e a u s g e k l a m m e r t e E l e m e n t d e r Schuld wird eigens d u r c h die P a r t e i h e r a u s g e a r b e i t e t u n d a k z e n t u i e r t (wod u r c h n e u e E x p l o s i o n e n Zustandekommen). Das B e i s p i e l b e g i n n t mit d e m A b s c h l u ß e i n e r E r z ä h l u n g , mit d e r die A n t r a g s t e l l e r i n L ü g e n h a f t i g k e i t d e r A n t r a g s g e g n e r i n v e r d e u t l i c h e n wollte. W ä h r e n d es auch schon v o r d e r E r z ä h l u n g im G e s p r ä c h l e b h a f t zuging, entwickeln sich jetzt bereits k r ä f t i g e T u r b u lenzen:
B: bollizei des uffgenumme un äh. is kumme die frau hat C: frau beck jetz loßn se misch-ja B: sisch dann bedroht gefühlt O un so war des" 5f5 C: m- frau beck B: un sie" wolle jetz mir alles uff- umdrehe un uffhänge isch A: ga"nz B: habisch hab üwerhau"pt nix gsacht wie sie sin A: un ga"r nischt ga"nz un ga"r nischt 5f5 B: e bledi kuh 5f5 nachde:m sieA: doch des hawwe sie zu mir gsacht
3s nachde.m s3 nachde:m
B: sie hawwe jo gar nix here kenne 5f5 sie hawwe jo wie e A: isch mit ihne angfange hab 5f5 B: maschinegewehrle A:
O üwwerhaupt nit unnerbroche bei ihre ja ja
B: schimpfereie 5f5 ha A: oh do wisse sie des awwer ganz genau daß B: isch hab=s jo ghert un die annere hawwe=s a" ghert 5f5 A: sie so herzflattere kriegt hawwe 5f5 B: nä" sie sin raffiniert sie mäne weil isch älder bin bin isch C: so LACHT so B: ihne unnerlege awwer so" is=es net 5f5 ja: ja A: nä ganz un gar net vor mir hot immer der ä- äh aide Vorrang
20
Werner Nothdurft Β: des- ja:ja: ja:ja A: awwer gege meine kinner lass isch mer net rumhetze 5f5 O Β: sie hawwe e freschs mädl des wisse sie genau" 5g5 A: ganz un gar net 5f5 al"le kinner Β: ja also 3s selbscht A: sin fresch liewer hab isch e fresches kind wie e krankes kind 5f5 B: dann is=es kän grund s3 wenn isch zu derre kläne sa.ch des B: derfsch nil mache isch sag=s deim baba und wenn=d nochemol B: unner de wasch durschlubsch geh isch uff die hausverwaldung 5f5 B: selbsch das" is kein grund misch wildsau drecksau un Vergasung A: des hawwe B: do"ch des hawwe sie gsacht 5f5 A: sie üwwerhaupt net gsacht vun wege baba 5f5 nein B: naja isch hab jo zeuge wo=s höre 5f5 ne sie" redde sisch A: ja: C: äh frau beck so B: nadierlisch jetz raus 5f5 mäne sie isch C: ja ja frau beck jetz losse se mischB: ... zwee naschte uff em bell gelege C: 3s frau beck s3 BRÜLLT, KLOPFT AUF DEN TISCH fra beck jetz Β: isch hab gemänt isch hab=n herzinfarkt 5f5 C: loß=se misch mol misch redde 5f5
jetz jetz jetz bin
C: isch emol am dranschde 5f5 damit mer mol zum=e mol zum=e O ergebnis C: komme 5f5 also ans steht feschi daß=der streit ghabt habt 5f5 C: ne 5s5 do herrscht kän zweifei dra 5ft A: ja B: isch hab kä:n streit C: äh:
ah ja also irgendwas- ja
B: mit der fra ghabt sie hot misch beleidischt so is=es 5f5 C: also disput war uf alle fätl frau beck des steht eindeutisch C: feschi 5f5 ne do gibt=s also O nix dran zu rütteln O äh un C: die frau kraft gibt ja auch einen teil der beleidigungen C: zu 5f5 un des ref'scht jo im grund ne äh sie räumt allerdings B: mhm C: ein daß auch sie" sie beleidischt hawwe un sie hawwe jo ewe B: isch hab" se net C: selwasie hawwe jo ewene Β: beleidischt isch kumm jo gar net dazu vor lauter- die hot
Zündstoff
— Das Management
explosiver
Sachverhalte
in
Schlichtungs-Gesprächen
21
C: B: jo so ruffgschrie C: awwer jetz-
mit erhobenem
finger als wenn isch e
jetz-
B: Schulkind war 5f5
Wie man sieht, ufert in dieser Passage nicht nur der zur D e b a t t e stehende Sachverhalt aus (raffiniert sein, hetzen gegen Kinder, Bestreiten von Ä u ß e r u n g e n ) , sondern im Zuge des A u s u f e r n s verschärft sich auch die Beziehung zwischen den Streitparteien. C hat M ü h e , ü b e r h a u p t zu Wort zu k o m m e n . E r schlägt dann eine Neutralversion des Konflikt-Sachverhalts vor (daß der streit ghabt habt), die die schuldhaften Anteile d e r einzelnen Parteien unberücksichtigt läßt. Β weist diese Version sofort zurück: ich hab kä:n streit mit der fra ghabt sie hot misch beleidischt so is=es. Darauf unternimmt C einen zweiten Anlauf mit der Version disput. Diesmal organisiert er die Neutralisierung, indem er die Verhaltensweisen d e r beiden Streitparteien in der Konflikt-Situation gleichwertet, so d a ß sie sich praktisch a u f h e b e n . A b e r auch gegen diese Neutralisierung erfolgt p r o m p t W i d e r s t a n d von B: isch hab" se net beleidischt isch kumm jo gar net dazu ... C geht daraufhin in einen langen M o n o l o g über, in dem er G e m e i n s a m k e i t e n zwischen den Streitparteien h e r a u s a r b e i t e t , um die Einigungsbereitschaft zu e r h ö h e n , und in d e m er die K o n s e q u e n z e n einer Nichteinigung in düsteren F a r b e n schildert. Sein Monolog, in dessen Verlauf sich die G e m ü t e r o f f e n b a r wieder beruhigt h a b e n , m ü n d e t in eine minimale W i e d e r a u f n a h m e des Konflikt-Sachverhalts und der Plazierung einer Einigungsformel, die wiederum den Schuld-Aspekt zu neutralisieren sucht (auf d e r einen Seite — auf der a n d e r e n Seite): C: -sch mein passiert is passiert C: ni=mehr
ungschehe
-s läßt sisch
mache äh isch würde die sache so sehen
C: daß mer se aus der weit bringe wenn sie sisch für diese O C: äh O beleidigungen
die se da ausgsproche
hawwe entschuldigen
C: äh auf der andren seile frau beck muß isch nadierlisch C: ihnen sagen O äh O es war vielleisch besser gewesen
auch wenn sie
C: sisch über die kinder aufgeregt
hätten wenn se also zu der
C: frau kraft gegangen
hätte gsach frau kraft ihr
wä"ren=n
oh des war C: kinder- ihr kinner- ja- 3s ah des is jo a" kä eistellung B: hopfe un malz verlöre
C: mer muß doch- mer muß B: is des schlimm
doch-
wenn isch zum = e kind sach des derfsch nit
Β: mache O die- d- stä an die wäsch schmeiße
5s5 de=s
Β: grund daß die frau- die hätt jo zu mir kumme A:
C:
doch kän
känne un sache die klä
Β: känne frau beck was war=n A: war ...
s3
5f5
do los 5s5 doch die war im garde
uff de wiese awwer isch halt=s
halt
O
22
Werner Β: un hot den stä rausgschmisse
Nothdurfl
5f5
A:
ja i"m garde awwer nï'ischt hausse ufff der wies 5f5
C:
doch-
frau-
Die Neutralisierung erfolgt wiederum durch eine Gleichverteilung am Zustandekommen des Konflikts und führt wiederum zu einer Widerstandsreaktion auf Seiten Bs: oh des war hopfe un malz verlöre, die in eine Wiederaufnahme des komplexen Streit-Sachverhalts mündet und an der sich wiederum eine neue Streit-Sequenz zwischen den Parteien entzündet.
B:
Α/Β: A/B: C: B: C:
Erzählung
I Streit-Sequenz ^ Neutralisierung: streit
ghabt
Widerstand: kein streit sie hat misch
beleidischt
ç Neutralisierung: disput & .einerseits-andererseits'
B:
Widerstand: isch hab" se net
beleidischt
C:
Monolog über Gemeinsamkeiten der Streitparteien und negative Konsequenzen des Schlichtungs-Scheiterns
C: B:
£ Neutralisierung: auf der einen seite Widerstand: hopfen un malz
auf der anderen
seile
verlöre
Wiederaufnahme des komplexen Streit-Sachverhalts
4 A/B:
Streit-Sequenz
Abb. 3: Rekurrenz des Neutralisierung-Widerstand-Musters beim Konflikt-Management im Fall 2
6. Z u s a m m e n f a s s u n g Konflikte neigen dazu, zu eskalieren bzw. neu entfacht zu werden. Schlichter sehen sich in Schlichtungs-Gesprächen mit dem Interaktionsproblem konfrontiert, einerseits den Konflikt-Sachverhalt komprimieren zu müssen, andererseits Freiräume für Expansionen schaffen zu müssen. Der Umgang des Schlichters — sein Management — mit diesem Problem erfolgt dadurch, daß er vorgreifend durch Steuerungsaktivitäten Konflikt-Explosionen vorbeugt und dadurch, daß er akut Ordnungsmaßnahmen zur Eindämmung von KonfliktExplosionen einsetzt. Es zeigt sich, daß bei Vorliegen bestimmter Handlungsziele der Streitparteien solche Ordnungsmaßnahmen das Problem, zu dessen Lösung sie eingesetzt werden, noch verschlimmern. Es steht zu vermuten, daß ein wesentlicherTeil schlichtungsspezifischer Interaktionsdynamik (nicht-vorwärts-kommen, sich-im-Kreise-drehen) gerade aus dem unheilvollen Wechselspiel von Handlungszielen der Streitparteien mit gut gemeinten Ordnungsmaßnahmen des Schlichters resultiert.
Zündstoff
— Das Management
explosiver Sachverhalte in
Schlichtungs-Gesprächen
23
Literaturverzeichnis Thomas Bliesener u. Werner Nothdurft: Episodenschwellen und Zwischenfälle. Zur Dynamik der Gesprächsorganisation. Hamburg 1978. Walter Gottwald: Streitbeilegung ohne Urteil. Tübingen 1982. Werner Nothdurft: „äh folgendes problem äh". Die interaktive Ausarbeitung ,des Problems' in Beratungsgesprächen. Tübingen 1984. Werner Nothdurft: Das interaktive Anforderungsprofil von Schlichten. Ein Vorschlag zur Bestimmung des Mustercharakters eines Interaktionstyps. (Ms.). Paul Watzlawick u . a . : Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern 1974.
Werner Holly
(Trier)
Diskussion über ,Diskussion'
1. Es ist noch gar nicht so lange her, da forderten Studenten „Diskussion statt Vorlesung"; s o g e n a n n t e ,teach-ins' mit endlosen Diskussionen wurden veranstaltet. V o r noch kürzerer Zeit b e g a b e n sich p r o m i n e n t e Politiker in Diskussionen mit Jugendlichen; auf V e r a n s t a l t u n g e n mit dem Titel „Dialog mit d e r J u g e n d " - eine davon sogar im D e u t schen B u n d e s t a g — sollten Verständigungsschwierigkeiten der etablierten Parteien mit den jungen B ü r g e r n diskutierend überwunden w e r d e n . Sogar in der Ausschreibung dieses Kongresses liest man von der Erwartung, „ d a ß der Streit der A r g u m e n t e zwischen unterschiedlichen A n s ä t z e n und Auffassungen, Interessen und E r k e n n t n i s b e m ü h u n g e n unsere Wissenschaft auf eine förderliche Weise belebe und b e w e g e " . Man setzt i m m e r wieder g r o ß e H o f f n u n g e n auf die Gesprächsform d e r Diskussion. A b e r diese H o f f n u n g e n auf Diskussionen wurden auch immer wieder enttäuscht. Kein Student m e h r boykottiert Vorlesungen wegen mangelnder Diskussionsbereitschaft, eher stoßen L e h r e n d e auf Diskussionsunlust bei S t u d e n t e n , ,teach-ins' sind ,out'. D e r politische „Dialog mit der J u g e n d " erhielt Prädikate wie „kaputte G e s p r ä c h e " und „geistige U m w e l t v e r s c h m u t z u n g " . 1 W o h e r d a n n diese Geringschätzung, ja Verachtung für ein G e s p r ä c h s v e r f a h r e n und woher andererseits der Enthusiasmus? In d e r B e a n t w o r t u n g dieser Fragen wird von traditionellen Diskussionsidealen zu reden sein, die uns bis heute eine wahre .Diskussionsideologie' beschert h a b e n . E s wird auch von Skepsis gegenüber der Praxis und den Praktiken des Diskutierens geredet werden müssen. Mir geht es auch d a r u m , d a ß — besonders öffentliche — G e s p r ä c h e , die man als ,Diskussionen' f ü h r t , oftmals gar keine sind, jedenfalls nicht nach den Ideal-Vorstellungen der Diskutierenden selbst. Diese G e s p r ä c h e w e r d e n als ,Diskussionen' inszeniert, unabhängig davon, was sie eigentlich sind. Die F r a g e lautet also: wie erzeugt man den bloßen Anschein, den R a h m e n einer Diskussion. Interessant sind Diskussionsfassadenstücke, ,Diskussionsflitter' in vielerlei Gestalt. D e r Inszenierungscharakter solcher scheinbarer Diskussionen läßt sich zeigen mit den Mitteln der linguistischen Gesprächsforschung, und ich möchte einige wenige ihrer Kategorien b e n u t z e n , um meine These vom Inszenierungscharakter zu illustrieren. Dabei w e r d e ich organisatorische A s p e k t e berücksichtigen wie die Regelung des Sprecherwechsels und die thematische Steuerung in solchen G e s p r ä c h e n , a u ß e r d e m den zentralen Bereich sprachlichen Handelns: also Muster, die eine Textsorte erst konstituieren, die in u n s e r e m Fall ein G e s p r ä c h überhaupt erst zur Diskussion m a c h e n , z . B . . T h e s e n ' , ,Widerlegungsversuche', B e g r ü n d u n g e n ' und dergleichen. Ich möchte mich aber hier
1
S. P e t e r R o o s : K a p u t t e G e s p r ä c h e . W e m nützt der J u g e n d d i a l o g ? W e i n h e i m und Basel 1982 und d e r K o m m e n t a r in d e r „ T a g e s z e i t u n g " ( T A Z ) , 27. 5.1982, zit. n. Fritz K u h n : Ü b e r l e g u n g e n zur politischen S p r a c h e d e r Alternativbewegung. In: S p r a c h e und L i t e r a t u r 14 (1983), S. 61 — 79.
Diskussion über,
Diskussion'
25
z u n ä c h s t u n d h a u p t s ä c h l i c h mit d e m Diskussionsbegriff u n d seiner historischen Entwicklung b e s c h ä f t i g e n . 2. B i s h e r h a b e ich so g e t a n , als seien wir u n s d a r ü b e r einig, was e i n e D i s k u s s i o n eigentlich ist, u n d als g ä b e es bei j e d e m v o n uns d a v o n e i n e einheitliche V o r s t e l l u n g . W a l t h e r D i e c k m a n n h a t in e i n e m wichtigen A u f s a t z zum Diskussionsbegriff in d e r schulischen G e s p r ä c h s e r z i e h u n g 2 d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß d a v o n keine R e d e sein kann und d a ß z u m i n d e s t u n t e r s c h i e d e n w e r d e n m u ß zwischen d e n — wie üblich - v a g e n Alltagsverw e n d u n g e n d e r A u s d r ü c k e Diskussion u n d diskutieren u n d e i n e m ideologisch u n t e r m a u e r t e n Begriff e i n e r i d e a l t y p i s c h e n , D i s k u s s i o n ' , d e r z w a r auch k e i n e präzisen Regeln f ü r e i n e n einheitlichen G e s p r ä c h s t y p v o r s i e h t , aber d o c h einige erstaunlich feste N o r m e n u m r e i ß t , auf die sich L e h r e r , Politiker, Publizisten, D i s k u t a n t e n selbst i m m e r wieder b e r u f e n . A u s g e h e n d von D i e c k m a n n s Ü b e r l e g u n g e n will ich v e r s u c h e n , ein wenig O r d n u n g ins C h a o s zu b r i n g e n , i n d e m ich k u r z u n t e r s c h i e d l i c h e V e r w e n d u n g s w e i s e n des A u s d r u c k s c h a r a k t e r i s i e r e u n d d a n n einiges zum I d e a l t y p u s . D i s k u s s i o n ' u n d seinem historisch-ideologischen H i n t e r g r u n d a n f ü h r e . 2.1. Z u n ä c h s t g e b e ich e i n e Ü b e r s i c h t ü b e r v e r s c h i e d e n a r t i g e V e r w e n d u n g s w e i s e n , wie m a n sie aus d e r kritischen A u s w e r t u n g v o n gängigen W ö r t e r b ü c h e r n u n d zusätzlichen Beobachtungen gewinnen kann:
Diskussion:
Bedeutungsvarianten
— (interaktionale Sprachhandlungsabfolge) 1 G e s p r ä c h s s o r t e , in d e r möglichst rational, a r g u m e n t a t i v , a b e r auch persuasiv z u m Z w e c k d e r M e i n u n g s b i l d u n g ü b e r ein T h e m a ( o d e r m e h r e r e ) g e s p r o c h e n wird; a) informell in A l l t a g s g e s p r ä c h e n ; b) f o r m e l l , in m e h r o d e r w e n i g e r festgelegter F o r m , evtl. mit e i n e m D i s k u s s i o n s l e i t e r , z . T . auch ( b e s o n d e r s in R u n d f u n k u n d F e r n s e h e n ) n a c h b e s t i m m t e n ( v e r ä n d e r t e n ) institutionellen Spielregeln. 2 G e s p r ä c h s s o r t e , in d e r a r g u m e n t a t i v , a b e r vor allem persuasiv z u r V o r b e r e i t u n g von a) E n t s c h e i d u n g e n , b ) Beschlüssen ü b e r a) V o r s c h l ä g e , b ) A n t r ä g e g e s p r o c h e n wird; a) i n f o r m e l l in A l l t a g s g e s p r ä c h e n , b) f o r m e l l , evtl. nach e i n e r G e s c h ä f t s o r d n u n g , in b e s c h l u ß f a s s e n d e n G r e m i e n , dabei e n t w e d e r im Hinblick auf K o n s e n s oder Abstimmung. 3 G e s p r ä c h s s o r t e , in d e r i n f o r m a t i v , persuasiv u n d taktisch z u r A u f a r b e i t u n g bzw. V e r h i n d e r u n g von K o n f l i k t e n ü b e r g e m e i n s a m e P r o b l e m e g e s p r o c h e n wird; a) e i n v e r n e h m l i c h , b) ( n e g . b e w . ) im Streit. 4 G e s p r ä c h s s o r t e , in d e r ü b e r w i e g e n d persuasiv u n d taktisch z u m Ausgleich v o n a u s e i n a n d e r g e h e n d e n I n t e r e s s e n ü b e r A n s p r ü c h e u n d W ü n s c h e g e s p r o c h e n wird.
2
Walther Dieckmann: Diskussion und Demokratie - Zum Diskussionsbegriff in der schulischen Gesprächserziehung. In: ders.: Politische Sprache, politische Kommunikation. Vorträge, Aufsätze, Entwürfe. Heidelberg 1981, S. 1 5 9 - 2 0 7 . Dort weitere Literatur zur didaktischen Behandlung; außerdem die Artikel in Praxis Deutsch 14/1976.
26
Werner Holly
— (monologische Sprachhandlungsabfolge) 5 ( W i s s . ) S p r a c h h a n d l u n g , mit d e r ein S p r e c h e r / S c h r e i b e r a r g u m e n t a t i v strittige T h e sen e r l ä u t e r t u n d r e c h t f e r t i g t . — (soziale S i t u a t i o n ) 6 V e r a n s t a l t u n g , in d e r eine D . 1 o d e r 2 s t a t t f i n d e t . — (komplexer Vorgang) 7 V o r g a n g , v o r allem in d e r Ö f f e n t l i c h k e i t , d e r sich ü b e r e i n e n Z e i t r a u m h i n w e g aus v e r s c h i e d e n e n M e i n u n g s ä u ß e r u n g e n (häufig in d e n M e d i e n ) z u s a m m e n s e t z t , z u m Z w e c k d e r M e i n u n g s b i l d u n g ü b e r ein a l l g e m e i n e r i n t e r e s s i e r e n d e s T h e m a . D i e Ü b e r s i c h t , d i e n u r eine g r o b e U n t e r t e i l u n g e n t h ä l t u n d natürlich nicht alle vork o m m e n d e n V e r w e n d u n g s w e i s e n u m f a s s e n k a n n , m a c h t eines s o f o r t deutlich: nur vier d e r sieben V a r i a n t e n hier b e z i e h e n sich ü b e r h a u p t auf G e s p r ä c h e , d i e a n d e r e n drei b e z e i c h n e n e n t w e d e r e i n e m o n o l o g i s c h e H a n d l u n g (5) - wie a u c h das e r s t e W o r t im Titel dieses V o r t r a g s —, o d e r e i n e V e r a n s t a l t u n g (6) o d e r a b e r — wie s e h r o f t im öffentlic h e n S p r a c h g e b r a u c h — e i n e n sehr k o m p l e x e n V o r g a n g (7): die Diskussion u m die R a k e t e n s t a t i o n i e r u n g , d e n K a t a l y s a t o r o d e r privates F e r n s e h e n . V o n d e n v e r b l e i b e n d e n V a r i a n t e n f ü r G e s p r ä c h e k a n n die d r i t t e vielleicht sehr e i n f a c h am Beispiel von E h e s t r e i t i g k e i t e n illustriert w e r d e n , die vierte bezeichnet e t w a s , was eigentlich d e u t l i c h e r Verhandlung, Aushandeln h e i ß e n k ö n n t e . D i e ersten b e i d e n , D i s k u s s i o n e n im e n g e r e n Sinn e , u n t e r s c h e i d e n sich v o r allem u n d folgenreich d u r c h ihre v e r s c h i e d e n e n Zielsetzung e n : M e i n u n g s b i l d u n g vs. E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g . D i e B e d e u t u n g s v i e l f a l t des A u s d r u c k s Diskussion ist e r s t a u n l i c h ; m a n k a n n sie sich a u c h a n h a n d d e r vielen möglichen S y n o n y m e v e r d e u t l i c h e n , die in v e r s c h i e d e n e n Z u s a m m e n h ä n g e n a u f t a u c h e n : D i s k u r s , Disput, K o n t r o v e r s e , P r o / C o n t r a - G e s p r ä c h , D e batte, Streitgespräch, Meinungsaustausch, Rundgespräch, Beratung, Aussprache, Verh a n d l u n g , M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t , A u s e i n a n d e r s e t z u n g . Die offensichtliche Vielfalt g e h t ü b e r d i e ü b l i c h e , e r w a r t b a r e V a g h e i t und V i e l d e u t i g k e i t von S p r a c h h a n d l u n g s b e g r i f f e n weit h i n a u s u n d ist e r k l ä r u n g s b e d ü r f t i g . O f f e n s i c h t l i c h e r f r e u e n sich D i s k u s s i o n e n e i n e r solchen B e l i e b t h e i t , o d e r auch n u r eines solchen Prestiges, d a ß m a n die V e r w e n d u n g d e s A u s d r u c k s i m m e r w e i t e r a u s d e h n t . D a s geht so weit, d a ß Politiker v o r g e b e n , wichtige G e s e t z e s v o r h a b e n mit I n t e r e s s e n g r u p p e n zu . d i s k u t i e r e n ' , o b w o h l doch klar ist, d a ß d o r t letztlich k n a l l h a r t v e r h a n d e l t ' wird. W o h e r diese V e r w e n d u n g s i n f l a t i o n u n d die positive A u f l a d u n g dieses Begriffs? 2 . 2 . F r a g t m a n D i s k u t a n t e n n a c h d e n I d e a l e n , a n d e n e n sich eine D i s k u s s i o n o r i e n t i e r e n sollte, stößt m a n — wie D i e c k m a n n e r w ä h n t - t r o t z d e r e r s t a u n l i c h e n B e d e u t u n g s v i e l f a l t d e s A u s d r u c k s auf e i n e noch e r s t a u n l i c h e r e E i n h e i t l i c h k e i t . I m m e r w i e d e r dieselben M e r k m a l e : a m T h e m a o r i e n t i e r t , sachlich, rational, a r g u m e n t a t i v , fair, f r e i e r Z u g a n g , G l e i c h b e r e c h t i g u n g , zeitlich u n b e h i n d e r t , g e o r d n e t e r V e r l a u f , auf W a h r h e i t und Richtigkeit z i e l e n d . In d e n idealen D i s k u s s i o n e n scheint sich zu kristallisieren, was u n s an f r e i h e i t l i c h e r , d e m o k r a t i s c h e r O r d n u n g lieb u n d t e u e r ist; ö f f e n t l i c h e M e i n u n g o h n e D i s k u s s i o n ist uns u n d e n k b a r g e w o r d e n . U n d d o c h sind Z w e i f e l a m F u n k t i o n i e r e n dieses G e s p r ä c h s v e r f a h r e n s g e r a d e im ö f f e n t l i c h e n Bereich i m m e r gleich p r ä s e n t . Z u schnell
Diskussion über
.Diskussion'
27
g e s c h i e h t , d a ß das eine o d e r a n d e r e ,ideale' B e s t i m m u n g s m e r k m a l u n t e r d e n Tisch fällt, die G e s p r ä c h s s o r t e u n m e r k l i c h v e r r u t s c h t u n d d o c h an d e r Fiktion v o m idealen D i s k u t i e ren festgehalten wird. L u h m a n n hat z u R e c h t d a r a u f h i n g e w i e s e n , 1 d a ß d e r L e i s t u n g von „Diskussion als S y s t e m " e n g e G r e n z e n gesetzt sind, z u m e i n e n d u r c h den F a k t o r . Z e i t ' u n d dessen L i n e a r i t ä t ; k o m p l e x e r e T h e m e n k ö n n e n r e i h e n f ö r m i g nicht m e h r a b g e h a n d e l t w e r d e n ; a u s Z e i t g r ü n d e n k a n n nicht j e d e r K o n s e n s auf b e g r ü n d e t e r A n n a h m e o d e r A b l e h n u n g v o n A r g u m e n t e n b e r u h e n , w a s zu e i n e m n u r b r u c h s t ü c k h a f t e n A r g u m e n t a t i o n s c h a r a k t e r f ü h r t . Z u m a n d e r n ist da d e r p e r s ö n l i c h e F a k t o r ' : d e r s a c h o r i e n t i e r t e C h a r a k t e r ist d a d u r c h i m m e r g e f ä h r d e t ; t r o t z v o r g e b l i c h e r Statusgleichheit b l e i b e n R a n g d i f f e r e n z e n nicht aus, u n d sei es n u r n a c h s y s t e m i m m a n e n t e n Kriterien wie G e w a n d t h e i t im A r g u m e n t i e r e n u n d F o r m u l i e r e n . Zeitliche B e g r e n z u n g u n d L i n e a r i t ä t u n d g e w i s s e r m a ß e n m e n s c h l i c h e S c h w ä c h e n f ü h r e n also leicht d a z u , d a ß d e r u n e r l ä ß l i c h e P r i m a t d e s T h e m a s als G a r a n t p e r s o n e n u n a b h ä n g i g e r K o n s e n s b i l d u n g nach Kriterien d e r V e r n ü n f t i g k e i t auf d e r S t r e c k e bleibt. Kein W u n d e r : die G e s c h i c h t e des D i s k u t i e r e n s ist zugleich e i n e G e s c h i c h t e d e r I d e a l i s i e r u n g e n u n d d e r E n t g l e i s u n g e n . Die H o f f n u n g e n und E n t t ä u schungen scheinen zusammenzugehören. 2.3. G u t d i s k u t i e r e n ist schwierig. D e r Blick in die G e s c h i c h t e zeigt, d a ß Diskussion g e l e r n t u n d g e ü b t w e r d e n m u ß t e . Diskussion w a r eine G e s p r ä c h s f o r m d e r G e b i l d e t e n , d i e auf d e r S u c h e nach d e m W a h r e n u n d R i c h t i g e n sich t r a d i t i o n e l l e n u n d neu ü b e r d a c h t e n L e h r e n u n t e r z o g e n . D i s k u t i e r e n setzte K e n n t n i s s e v o r a u s , die e i n e n g r o ß e n Teil d e s m e t h o d i s c h e n L e h r g e b ä u d e s d e r a b e n d l ä n d i s c h e n aristotelisch g e p r ä g t e n T r a d i t i o n u m faßten: Logik, Rhetorik, Topik, Dialektik. Nach dem Bekanntwerden des Organon der a r i s t o t e l i s c h e n S c h r i f t e n in d e r Scholastik des 12. J a h r h u n d e r t s w u r d e die D i s p u t a t i o n (am Mittag und A b e n d neben der morgendlichen Lectio/Vorlesung) zentrale Lehr- und U n t e r r i c h t s m e t h o d e , a b e r a u c h M o d e l l f ü r die g e s c h r i e b e n e n E r ö r t e r u n g e n , zunächst n u r an den U n i v e r s i t ä t e n , d a n n a u c h an G y m n a s i e n u n d G e l e h r t e n s c h u l e n , bis in die B a r o c k z e i t . 4 Die D i s p u t a t i o n war ein streng geregeltes G e s p r ä c h s v e r f a h r e n . Für die B e h a n d l u n g d e r S t r e i t f r a g e ( q u a e s t i o ) ist A u s g a n g s p u n k t d e r Streitsatz ( T h e s e ) , die d e r f r a g e n d e O p p o n e n t zu w i d e r l e g e n v e r s u c h t , w ä h r e n d d e r a n t w o r t e n d e S c h ü l e r in d e r R o l l e des D e f e n d e n t e n ist; b e i d e v e r f a h r e n n a c h allen Regeln d e r D i a l e k t i k , wie Aristoteles sie im 8. B u c h d e r T o p i k d a r l e g t , alles in strikt syllogistischer F o r m . In s p ä t e r e r Z e i t g a b es am E n d e e i n e E n t s c h e i d u n g ( d e t e r m i n a t i o ) des Magisters. F ü r dieses G r u n d s c h e m a e n t w i c k e l t e n sich allmählich V a r i a n t e n , jeweils bis ins Detail v o r g e f o r m t . D i s p u t a t i o -1 Niklas L u h m a n n : Systemtheoretische A r g u m e n t a t i o n e n . In: ders./Jürgen Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. F r a n k f u r t 1971, S. 3 1 6 - 3 4 1 . 4 Dazu Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 290f., 342, 3 9 3 - 4 0 7 ; dort auch weitere Literatur. A u ß e r d e m Marie-Dominique C h e n u : La théologie au douzième siècle. Paris 1957, S. 3 3 7 - 3 4 0 ; Martin G r a b m a n n : Mittelalterliches Geistesleben. A b h a n d l u n g e n zur Geschichte der Scholastik und Mystik. Bd. 2. München 1936, S. 25ff., 497 - 501, 535 - 561; Hastings Rashdall: The Universities of E u r o p e in the Middle Ages. Vol. 1. Oxford 1936, S. 4 9 3 - 4 9 6 ; Friedrich Ueberweg: G r u n d r i ß der Geschichte der Philosophie. Bd. 2. Die patristische und scholastische Philosophie. Hrsg. v. Bernhard G e y e r . Basel l2 1951, S. 1 5 2 - 1 5 7 .
28
Werner Holly
n e n w a r e n a n U n i v e r s i t ä t e n z a h l r e i c h , wöchentliche ( d i s p u t a t i o o r d i n a r i a ) , d a n e b e n auß e r o r d e n t l i c h e (bis zu 250 jährlich) bei P r o m o t i o n e n ( , p r o g r a d u ' ) u n d einmal im J a h r als m e h r t ä g i g e feierliche G r o ß v e r a n s t a l t u n g (disputatio d e q u o l i b e t ) . So f r u c h t b a r die Disp u t a t i o n e n sein m o c h t e n zur E i n ü b u n g d e s L e h r s t o f f s , zur H e r a u s a r b e i t u n g v e r s c h i e d e n e r A s p e k t e e i n e r S a c h e , zur a r g u m e n t a t i v e n u n d r h e t o r i s c h e n S c h u l u n g , z u r F ö r d e r u n g d e r g e d a n k l i c h e n P r ä z i s i o n u n d d e r sprachlichen Schlagfertigkeit, so n a h e l i e g e n d die G e f a h r e n : S p i t z f i n d i g k e i t , S u b t i l i t ä t e n , S o p h i s t e r e i , E i t e l k e i t , Streitlust, E r s t a r r u n g in F o r m e l n u n d R o u t i n e n , L a n g e w e i l e . D i e W a r n u n g e n vor d e n D i s k u s s i o n s a u s w ü c h s e n h ä u f t e n sich u n d b r a c h t e n d a s D i s k u t i e r e n selbst in M i ß k r e d i t . D e r P h i l o s o p h J o h n L o c k e soll e i n m a l gesagt h a b e n : „Sorge d a f ü r , d a ß dein S o h n nicht e r z o g e n wird in d e r K u n s t u n d F ö r m l i c h k e i t d e s D i s k u t i e r e n s . " So v e r s c h w i n d e t allmählich die A r s d i s p u t a n di nach i h r e r letzten B l ü t e im B a r o c k z e i t a l t e r noch v o r d e r R h e t o r i k aus U n i v e r s i t ä t e n u n d W i s s e n s c h a f t e n , in D e u t s c h l a n d m e r k l i c h e r als e t w a im angelsächsischen o d e r r o m a nischen B e r e i c h . Die G r ü n d e h i e r f ü r m ö g e n auch in den A u s w ü c h s e n d e r k o n f e s s i o n e l l e n P o l e m i k g e l e g e n h a b e n - J e s u i t e n u n d T h e o l o g e n ü b e r h a u p t gelten ja bis h e u t e als b e s o n d e r s s t r e i t b a r —, wichtig ist, d a ß in D e u t s c h l a n d e i n e zweite B e l e b u n g d e r D i s k u s s i o n s k u n s t n u r v e r s p ä t e t u n d a b g e s c h w ä c h t s t a t t f i n d e t : d i e a u f k l ä r e r i s c h e V e r l a g e r u n g d e s Diskuss i o n s s c h a u p l a t z e s a u s d e n G e l e h r t e n s t u b e n u n d U n i v e r s i t ä t s a u l e n in die politischen Zirkel u n d vor allem in die politische Ö f f e n t l i c h k e i t . Z w a r gibt es auch in D e u t s c h l a n d im L a u f e d e s 18. J a h r h u n d e r t s Salons, Lese- u n d a n d e r e G e s e l l s c h a f t e n u n d schließlich s o g a r politische C l u b s , d i e d i s k u t i e r e n ; a b e r a n d e r s w o hat m a n längst eine p a r l a m e n t a r i sche D i s k u s s i o n s k u l t u r , u n g e s c h r i e b e n e und g e s c h r i e b e n e G e s c h ä f t s o r d n u n g e n , w ä h r e n d sich n o c h das P a u l s k i r c h e n p a r l a m e n t d a m i t anfänglich so schwer t a t , d a ß a m E n d e d e s e r s t e n Sitzungstages ein A b g e o r d n e t e r m a h n t e : „ W e n n wir a n f a n g e n so zu b e r a t h e n , s o geht d e r g e s e t z g e b e n d e K ö r p e r seiner A u f l ö s u n g e n t g e g e n . " 5 D e r P a r l a m e n t a r i s m u s h a t es in D e u t s c h l a n d a u c h w e i t e r h i n schwer g e h a b t ; j e d e n f a l l s schien er D i s k u s s i o n als B e r a t u n g s m o d u s g e r a d e z u v o r a u s z u s e t z e n , w a r - wie d e r englische A b g e o r d n e t e M a caulay es f o r m u l i e r t e — „ g o v e r n m e n t by discussion". S p ä t e r e Kritiker d e r politischen V e r h ä l t n i s s e wie C a r l S c h m i t t o d e r u n t e r ganz a n d e r e n V o r z e i c h e n J ü r g e n H a b e r m a s sind v o n dieser . l i b e r a l e n ' A u f f a s s u n g p a r l a m e n t a r i s c h e r H e r r s c h a f t a u s g e g a n g e n , von e i n e m M o d e l l , in d e m r ä s o n n i e r e n d e P r i v a t l e u t e , k e i n e n G r u p p e n - o d e r S t a n d e s i n t e r e s sen v e r p f l i c h t e t , in e i n e m D i s k u s s i o n s p r o z e ß einen v e r n ü n f t i g e n und d e s h a l b richtigen K o n s e n s f i n d e n . 6 Nicht d e r S t ä r k s t e , sondern d a s b e s t e A r g u m e n t setzt sich d u r c h . 5
S. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung in F r a n k f u r t a . M . Hrsg. v. Franz Wigard. Bd. I. Leipzig 1848, S. 7. - S. auch: W e r n e r Holly: Z u r Geschichte parlamentarischen Sprachhandelns in Deutschland. In: LiLi 12 (1982), S. 1 0 - 4 8 . Z u r aufklärerischen Diskussionskultur s. Reiner Wild: Stadtkultur. Bildungswesen und Aufklärungsgesellschaften. In: Deutsche A u f k l ä r u n g bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hrsg. v. Rolf Grimminger. München 2 1984. S. 1 0 3 - 1 3 2 .
6
Dazu Walther D i e c k m a n n : ..Government by Discussion." Kommunikative V e r f a h r e n als Grundlage der Unterscheidung von Staatsformen bei Schmitt und H a b e r m a s , a . a . O . . S. 187—245; Rainer Geißler: Massenmedien. Basiskommunikation und Demokratie. Tübingen 1973, S. 42—47, verweist auch auf ähnliche Ideen bei Popper und normativen D e m o k r a t i e t h e o retikern, die im G e g e n s a t z zu Elitetheoretikern an der Bedeutung der Diskussion festhalten.
Diskussion
über,
Diskussion'
29
A b e r im Ernst glaubt h e u t e kaum einer noch, D e m o k r a t i e finde durch — gewissermaßen von u n t e n nach oben aufsteigende — Diskussionsprozesse statt oder gar als Ergebnis der freien Diskussion unabhängiger E h r e n m ä n n e r , die als individualistische Repräsentanten durch Wahl legitimiert sind. Auch wenn man nicht d e r elitetheoretischen Schule a n h ä n g t , die nicht Diskussion, sondern P r o p a g a n d a f ü r das wesentliche Verfahren öffentlicher K o m m u n i k a t i o n in D e m o k r a t i e n hält, — man sieht die Rolle von Diskussionen bestenfalls darin, in s o g e n a n n t e n Primärgruppen die Auseinandersetzungen mit .opinion leaders', die als Vermittler a u f t r e t e n , zu gestalten. 7 D a ß Parlamentsdebatten keine Diskussionen sind, steht h e u t e in jedem H a n d b u c h ; sogar Politiker geben es gelegentlich zu, auch wenn sie gleichzeitig an der entgegengesetzten Illusion mitwirken. 8 Es steht wohl fest, d a ß die institutionellen und kommunikativen Bedingungen großer G r u p p e n Diskussionen eher b e h i n d e r n als b e f ö r d e r n . D a s Beispiel des englischen Parlaments zeigt, wie mit d e m z u n e h m e n d e n A u s b a u des Parlamentarismus zu einer Massen-, Parteien- und M e d i e n d e m o k r a t i e auch die Qualität des parlamentarischen Verfahrens sich verändert, und sehr kleine N e u e r u n g e n geben aufschlußreiche Hinweise d a r a u f , daß sich etwas ganz a n d e r e s abspielt als das Ringen um die beste Lösung: etwa die Möglichkeit des .Antrags auf Schluß d e r D e b a t t e ' (closure), ,Zeitbegrenzungen' (guillotine), oder die Möglichkeit, .Vertagungsanträge zurückzuweisen', — allesamt V o r k e h r u n g e n gegen taktische Verfahrenstricks. 2.4. Die Schwächen und G e f ä h r d u n g e n von Diskussionen im öffentlich-politischen Bereich sind m e h r f a c h . Z u m einen verschiebt sich das Gewicht der Persuasion, d e r Dialektik (in der Terminologie des Aristoteles) und R h e t o r i k . W o alle Beteiligten, die augenblicklichen D i s k u t a n t e n wie die zeitweiligen Zuschauer, gleichermaßen oder doch annähernd gleich geschult sind, zumindest was die passive K o m p e t e n z betrifft, ist Persuasion, das geschickte A n o r d n e n und Ausgestalten der A r g u m e n t e , ein belebendes E l e m e n t , das aus einer t r o c k e n e n L o g i k ü b u n g ein s p a n n e n d e s Schauspiel macht. Was a b e r , wenn immer nur die einen diskutieren, auf dem P o d i u m , vor K a m e r a und Mikrofon, während die andern n u r immer z u h ö r e n ? W e n n die Diskussionsprofis alle Tricks ü b e n , nach den Anweisungen von Aristoteles, Hamilton, S c h o p e n h a u e r , E r d m a n n und ihrer Multiplikat o r e n , in Seminaren f ü r Politiker und M a n a g e r ? W e n n sie vor allem in jahrelanger Sozialisation die Kniffe ihrer Vorbilder allmählich bis zur Perfektion kopieren, während auf d e r a n d e r e n Seite das Publikum den Schaukampf fasziniert o d e r gelangweilt o d e r angewidert verfolgt, o h n e genau zu verstehen, wie die E f f e k t e erzielt werden? W ä h r e n d S c h o p e n h a u e r in seiner nachgelassenen Eristik den Wissenschaftler davor warnte, mit einem Nicht-Ebenbürtigen zu diskutieren — der könne aus Mangel an A r g u m e n t e n nur zu Tricks greifen — , gilt f ü r den Rezipienten politischer K o m m u n i k a t i o n wohl eher die
7
Ζ. B. Dennis F. Thompson: The Democratic Citizen. Social Science and Democratic Theory in
s
Dazu Walther Dieckmann: Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik
the Twentieth Century. Cambridge 1970, bes. S. 8 6 - 1 1 9 . der politischen Sprache. Heidelberg 2 1975, S. lOOf.; dazu: ders.: Ist die parlamentarische Debatte ein „Organisiertes Streitgespräch"? Zum Problem der Gesprächstypologie in Sprach- und Sprechwissenschaft. In: Hören und Beurteilen. Hrsg. v. N. Gutenberg. Frankfurt 1984, S. 79-99.
30
Werner Holly
V o r s i c h t im U m g a n g mit Ü b e r l e g e n e n . U n t e r d e r g r u n d s ä t z l i c h e n A s y m m e t r i e politischer K o m m u n i k a t i o n ist ein w e s e n t l i c h e s B e s t i m m u n g s m e r k m a l von D i s k u s s i o n e n verlorengegangen: die Gleichberechtigung. W i c h t i g e r n o c h die G e f ä h r d u n g eines zweiten W e s e n s m e r k m a l s d e r D i s k u s s i o n : es g e h t u m die g e f o r d e r t e v o r w i e g e n d e O r i e n t i e r u n g an d e r S a c h e ; sie impliziert ein gewisses M a ß a n I n t e r e s s e l o s i g k e i t , an U n a b h ä n g i g k e i t d e r D i s k u t a n t e n . W e n n schon im B e r e i c h d e r W i s s e n s c h a f t diese e r f o r d e r l i c h e , W e r t f r e i h e i t ' m e h r als z w e i f e l h a f t ist, in d e r Politik, u n t e r d e n B e d i n g u n g e n von P a r t e i e n u n d I n t e r e s s e n , d i e auf vielfältige W e i s e z u s a m m e n h ä n g e n , ist sie ganz u n d gar unmöglich. P r o b l e m a t i s c h ist auch die u n m i t t e l b a r e R e l e v a n z f ü r k o n k r e t e E n t s c h e i d u n g e n , die in d e r Politik meist vorliegt. E s m a g sein, d a ß m a n in k l e i n e n G r u p p e n , o h n e g r u n d l e g e n d e I n t e r e s s e n k o n f l i k t e u n d o h n e Z u s c h a u e r , E n t s c h e i d u n g e n d u r c h D i s k u s s i o n h e r b e i f ü h r e n k a n n , falls die Mitglieder k o o p e r i e r e n u n d es u m e i n e r a t i o n a l l ö s b a r e F r a g e geht, die im K o m p e t e n z b e r e i c h dieser G r u p p e liegt. A l s E n t s c h e i d u n g s v e r f a h r e n u n t e r a n d e r e n B e d i n g u n g e n g e b r a u c h t m a n doch wohl e h e r die V e r h a n d l u n g ' ; . d i s k u t i e r t ' wird in V e r h a n d l u n g e n n u r n o c h v o r d e r g r ü n d i g , das G e s p r ä c h d i e n t in e r s t e r Linie d e r L e g i t i m a t i o n u n d B e s c h w i c h t i g u n g g e g e n ü b e r d e r e i g e n e n K l i e n t e l , w e n n sie Z u g e s t ä n d n i s s e m a c h e n m u ß , zur W e r b u n g noch U n e n t s c h l o s s e n e r , z u r B e g r ü n d u n g von F o r d e r u n g e n o d e r zur T ä u s c h u n g d e s G e g n e r s . D a s Ziel ist nicht m e h r die Ü b e r z e u g u n g des O p p o n e n t e n von e i n e r T h e s e z u m Z w e c k e d e r W a h r h e i t s f i n d u n g , das Ziel ist W e r b u n g und L e g i t i m a t i o n zur D u r c h s e t z u n g u n d A b s i c h e r u n g v o n I n t e r e s s e n , im u n m i t t e l b a r e n Z u s a m m e n h a n g mit E n t s c h e i d u n g e n . A b e r d i e m e i s t e n ö f f e n t l i c h e n D i s k u s s i o n e n dienen nicht einmal d e r d i r e k t e n E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g . E n t s c h e i d u n g e n sollen lediglich v o r b e r e i t e t o d e r nur nachträglich ratifiziert w e r d e n . D i e F o r m d e r D i s k u s s i o n wird dann n u r , a u f g e p f r o p f t 1 , in Wirklichkeit w e r d e n w e i t e r e k o m m u n i k a t i v e V e r f a h r e n praktiziert: Seien es P r o p a g a n d a , M e n s c h e n f ü h r u n g oder Hearing, Interview, Interessenartikulation.
3. Wie in politischen F e r n s e h d i s k u s s i o n e n u n t e r Politikern u n d J o u r n a l i s t e n P r o p a g a n d a u n d I n t e r v i e w als D i s k u s s i o n inszeniert w e r d e n , wird an a n d e r e r Stelle dargelegt werd e n . 9 Ich m ö c h t e hier auf einige C h a r a k t e r i s t i k a b e s t i m m t e r ö f f e n t l i c h e r G e s p r ä c h e h i n w e i s e n , d i e v o r P u b l i k u m s t a t t f i n d e n , die .gemischt besetzt' sind, o f t mit V e r t r e t e r n b e s t i m m t e r G r u p p e n , die als B e t r o f f e n e o d e r E x p e r t e n o d e r z u s t ä n d i g e Politiker zu e i n e m T h e m e n b e r e i c h e i n g e l a d e n sind; dies g e h t meist aus einer V o r s t e l l u n g s r u n d e zu B e g i n n h e r v o r . E s h a n d e l t sich also u m s o g e n a n n t e P o d i u m s d i s k u s s i o n e n , die auch m e dial v e r m i t t e l t sein k ö n n e n , die a b e r nicht die F o r m von P r o / C o n t r a - D e b a t t e n h a b e n sollen. T y p i s c h f ü r diese M i s c h g e s p r ä c h e ist, d a ß sie d u r c h die t h e m a t i s c h e O f f e n h e i t u n d die p e r s o n e l l e H e t e r o g e n i t ä t ständig a u s e i n a n d e r z u f a l l e n d r o h e n . D e r G e s p r ä c h s l e i t e r h a t d e s h a l b nicht n u r die A u f g a b e d e r f o r m e l l e n R e g e l u n g d e s S p r e c h e r w e c h s e l s u n d d e r t h e m a t i s c h e n K o n t r o l l e , wie in e c h t e n D i s k u s s i o n e n . E r m u ß a u c h d i v e r g i e r e n d e G e s p r ä c h s f o r m e n u n t e r das g e m e i n s a m e D a c h einer diskussionsartigen G e s t a l t b r i n g e n . D i e G e s p r ä c h s t e i l n e h m e r , d i s k u t i e r e n ' n u r insoweit, wie dies z u r W a h r n e h m u n g i h r e r eigentlichen I n t e r e s s e n im v o r g e g e b e n e n R a h m e n n o t w e n d i g ist. W i e sich dies auf d e n A b l a u f d e s G e s p r ä c h s a u s w i r k t , läßt sich a n h a n d von typischen M u s t e r n zeigen. A u f f ä l l i g ist ' S. W e r n e r Holly/Peter Kühn/Ulrich Püschel: Politische Fernsehdiskussionen. Tübingen 1986.
Diskussion
über,Diskussion'
31
d a b e i , d a ß u n g e ü b t e S p r e c h e r ganz a n d e r e n Regeln u n t e r l i e g e n als g e ü b t e . D a z u bet r a c h t e ich a) die f o r m a l e O r g a n i s a t i o n d e r A b f o l g e von R e d e b e i t r ä g e n ; b ) den t h e m a t i schen V e r l a u f u n d schließlich c) t e x t s o r t e n k o n s t i t u t i v e M u s t e r . a) S p r e c h e r w e c h s e l r e g e l u n g : D e r G e s p r ä c h s l e i t e r n i m m t nicht e i n f a c h W o r t m e l d u n g e n e n t g e g e n , die e r d e r R e i h e n f o l g e nach abwickelt. E s gibt auch nicht, wie in reinen P o l i t i k e r r u n d e n , v o r g e f e r t i g t e R e d e v e r t e i l u n g s p r i n z i p i e n nach e i n e m P r o p o r z - bzw. P r o v o k a t i o n s s c h e m a , s o n d e r n eine unterschiedlich „ e n g e " G e s p r ä c h s f ü h r u n g : D i e u n g e ü b t e n T e i l n e h m e r w e r d e n zu k u r z e n S t a t e m e n t s regelrecht a u f g e r u f e n , besonders w e n n sie z u m e r s t e n Mal ins Spiel g e b r a c h t w e r d e n . Selbstwahl, d. h. selbständiges E r g r e i f e n d e s W o r t e s , sowie l ä n g e r e s S p r e c h e n ist bei solchen T e i l n e h m e r n selten. Die g e ü b t e n S p r e c h e r d a g e g e n schalten sich — o f t m a l s nach a n f ä n g l i c h e r Z u r ü c k h a l t u n g — selbst ein u n d m a c h e n l ä n g e r e B e i t r ä g e . B e s o n d e r s gegen E n d e des G e s p r ä c h s n i m m t die H ä u f i g k e i t i h r e r B e i t r ä g e zu. So e n t s t e h t m a n c h m a l der E i n d r u c k , d a ß die B e i t r ä g e d e r u n g e ü b t e n T e i l n e h m e r n u r als . A u f h ä n g e r ' eingesetzt w e r d e n . T r o t z dieser a s y m m e t r i s c h e n R e d e r e c h t s v e r t e i l u n g k a n n m a n die Fiktion o f f e n e r , g l e i c h b e r e c h t i g t e r , d i s k u s s i o n s h a f t e r S t r u k t u r s c h a f f e n , i n d e m die G e l e g e n h e i t zu B e i t r ä g e n explizit h e r v o r g e h o b e n wird; e x e m p l a r i s c h h i e r f ü r f o l g e n d e Passage d e s G e s p r ä c h s l e i t e r s , an e i n e n Schüler adressiert: 1 " ja ich finde wir haben hier ja ne gute Gelegenheit äh es ist tatsächlich so daß das ja meistens alles so m e h r o d e r minder hinter verschlossenen Türen passiert und wirklich unter Fachleuten das kann man gar nicht wegleugnen jetzt sitzen wir hier unter ganz in einer ganz verschiedenen G r u p p i e r u n g zusammen und hier könnte man sich ja nun mal von sich aus äußern äh es wäre wichtig zu hören was nun der Schüler dazu denkt wie würdest du dir so einen R a h m e n so eine R a h m e n o r d n u n g vorstellen äh damit deine Interessen gewährt sind
H i e r b e i wird a u c h d e u t l i c h , d a ß es d e n u n g e ü b t e n T e i l n e h m e r n n u r schwer gelingt, sich an m ö g l i c h e n Stellen des S p r e c h e r w e c h s e l s s e l b s t ä n d i g e i n z u s c h a l t e n , w ä h r e n d V o l l b l u t p o l i t i k e r alle R o u t i n e n d e r , R e d e e r s c h l e i c h u n g ' b e h e r r s c h e n (etwa durch provokative K o m m e n t a r e und andere E i n s c h ü b e ) ; " so entsteht der Gesamteindruck eines n o r m a l e n , l o c k e r e n G e s p r ä c h s a b l a u f s , wie d e r Z u s c h a u e r ihn a u c h in Alltagsdiskussionen e r l e b t , w ä h r e n d die institutionell u n d p e r s o n e l l v e r a n k e r t e A s y m m e t r i e aus d e m Blick g e r ä t . b) T h e m e n b e h a n d l u n g : E s gibt k e i n e präzis f o r m u l i e r t e , für d a s g e s a m t e G e s p r ä c h verbindliche T h e s e , die diskutiert w e r d e n k ö n n t e , s o n d e r n h ö c h s t e n s als I m p u l s zu B e ginn des G e s p r ä c h s e i n e E i n z e l t h e s e , w ä h r e n d i n s g e s a m t n u r ein g r o b e r t h e m a t i s c h e r R a h m e n vorliegt. D e s h a l b v e r l ä u f t die t h e m a t i s c h e E n t w i c k l u n g s p r u n g h a f t . Die ung e ü b t e n T e i l n e h m e r sind meist auf d e n j e n i g e n A s p e k t fixiert, u n t e r d e m sie bereits a u s g e w ä h l t w u r d e n , u n d sind oft nicht flexibel g e n u g , auf a n d e r e S u b t h e m e n einzuge-
10
Aus: Texte gesprochener deutscher Standardsprache II. „Meinung gegen Meinung". Diskussionen über aktuelle T h e m e n . München 1974, S. 344; die Transkription ist zur besseren Lesbarkeit leicht verändert.
" S. dazu Fritz Schütze: Sprache soziologisch gesehen. Bd. II. Sprache als Indikator für egalitäre und nicht-egalitäre Sozialbeziehungen. München 1975, S. 884ff.
Werner Holly
32
h e n . G e ü b t e T e i l n e h m e r d a g e g e n k ö n n e n z u allem e t w a s s a g e n ; die relative O f f e n h e i t des t h e m a t i s c h e n A b l a u f s e r m ö g l i c h t ihnen z u d e m , i h r e e i g e n e n L i e b l i n g s t h e m e n u n g e h i n d e r t zu l a n c i e r e n , w o b e i s o g e n a n n t e „ K o h ä r e n z j o k e r " 1 2 f ü r d e n E i n d r u c k h a r m o n i s c h e r , d . h . d i s k u s s i o n s g e r e c h t e r A n b i n d u n g s o r g e n . Typisch h i e r f ü r sind explizite A n k n ü p f u n g s m u s t e r wie: „ d a zielt g e n a u m e i n e F r a g e h i n " , „vielleicht darf ich auf n e n f r ü h e r e n P u n k t d e r D i s k u s s i o n noch mal k u r z z u r ü c k g e h e n " ; „ich will auch η p a a r Sätze s a g e n zu d e n e i n z e l n e n P u n k t e n " . I n t e r e s s a n t e r n o c h sind Ü b e r l e i t u n g e n zu a n d e r e n T h e m e n d u r c h u n a u f f ä l l i g e G l i e d e r u n g s s i g n a l e u n d P a r t i k e l wie und, im übrigen, nur, allerdings, und da wäre noch, mit d e n e n häufig von a n f ä n g l i c h e n argum e n t a t i v e n P a s s a g e n u n m e r k l i c h zu w e r t e n d e n A b s c h n i t t e n ü b e r g e l e i t e t w i r d . Ein w e i t e r e s M i t t e l t h e m a t i s c h e r A n b i n d u n g ist d e r b l o ß e B e z u g auf a n d e r e Ä u ß e r u n g e n : „erst mal e i n e B e m e r k u n g z u . . . " ; „ H e r r χ hat vorhin g e s a g t . . . " . Gleichgültig, o b d a n n auf d e n v o r h e r g e h e n d e n B e i t r a g eingegangen wird, e n t s t e h t d e r E i n d r u c k des M i t e i n a n d e r - D i s k u t i e r e n s a n e i n e r g e m e i n s a m e n S a c h e . Ü b e r h a u p t sind g l i e d e r n d e E l e m e n t e in B e i t r ä g e n nicht n u r wesentlich f ü r die V e r s t ä n d n i s s i c h e r u n g . Sie k ö n n e n allein d u r c h d i e H e r s t e l l u n g e i n e r R e i h e n f o l g e ü b e r t h e m a t i s c h e S p r ü n g e hinweghelf e n . A m d e u t l i c h s t e n sind a b e r explizite s t r u k t u r i e r e n d e Ä u ß e r u n g e n von R o u t i n e d i s k u t a n t e n wie: „ich f ü r c h t e wir gleiten jetzt zu s e h r in fachliche D i s k u s s i o n e n a b " , w o m i t d e r W e g w i e d e r f r e i ist f ü r d i e eigene T h e m a t i k ; d a b e i wird zugleich v o r g e s c h o b e n , m a n t u e etwas f ü r das G e s a m t i n t e r e s s e an d e r , D i s k u s s i o n ' . D e r G e s p r ä c h s l e i t e r ist h ä u f i g in der S i t u a t i o n , d a s T h e m a o d e r S u b t h e m a zu w e c h s e l n , i n d e m er e i n e n a n d e r e n T e i l n e h m e r a n s p r i c h t . S p r e c h e r w e c h s e l u n d thematische S t e u e r u n g h ä n g e n also e n g z u s a m m e n . U n e r g i e b i g e o d e r u n e r w ü n s c h t e T h e m e n k ö n n e n d u r c h g l i e d e r n d e („gut") o d e r k o m m e n t i e r e n d e E l e m e n t e ( „ d a s war also dein V o r s c h l a g " ) a b g e s c h l o s s e n w e r d e n . c) T e x t s o r t e n k o n s t i t u t i v e M u s t e r : Solche M u s t e r g e b e n A u f s c h l u ß ü b e r d e n eigentlichen C h a r a k t e r eines B e i t r a g s . Sie m a c h e n eine T e x t s o r t e zu d e m , w a s sie ist. Z u D i s k u s s i o n e n g e h ö r e n , T h e s e n ' , B e g r ü n d u n g e n ' , . W i d e r l e g u n g s v e r s u c h e ' usw. In W e r b u n g e n f i n d e t m a n , W a r e n l o b ' , , K a u f a u f f o r d e r u n g ' , . A n r e i z ' . D a b e i k ö n n e n and e r e M u s t e r n u r e i n g e b e t t e t e r s c h e i n e n , o h n e d a ß sie e i n e a n d e r e T e x t s o r t e k o n s t i t u ieren. E i n Beispiel: W e n n ein Politiker m i t e i n e r . T h e s e ' u n d i h r e r , B e g r ü n d u n g ' b e g i n n t , d a n n a b e r mit e i n e r , F o r d e r u n g ' o d e r , B e w e r t u n g ' e n d e t , h a n d e l t es sich insgesamt e b e n u m eine I n t e r e s s e n a r t i k u l a t i o n o d e r u m eine W a h l w e r b u n g ; d a s Disk u s s i o n s e l e m e n t ist auf ein a n d e r e s M u s t e r hin f u n k t i o n a l i s i e r t u n d als e i n g e b e t t e t e s M u s t e r — im s c h l i m m s t e n Fall — n u r Flitter. In d e n hier b e t r a c h t e t e n G e s p r ä c h e n ist eine e i g e n a r t i g e H e t e r o g e n i t ä t v o n M u s t e r n zu b e o b a c h t e n . W ä h r e n d s o g e n a n n t e B e t r o f f e n e in solchen G e s p r ä c h e n meist e i g e n e E r f a h r u n g e n , n a c h v e r b r e n n e n ' u n d häufig B e s c h w e r d e n ' , F o r d e r u n g e n ' und d e r g l e i c h e n a r t i k u l i e r e n , wozu sie v o n d e n G e s p r ä c h s l e i t e r n in i n t e r v i e w a r t i g e n Passagen g e r n e a u f g e f o r d e r t w e r d e n , k l e i d e n Politiker ihre B e i t r ä g e g e s c h i c k t e r in die F o r m g e n e r a l i s i e r e n d e r , T h e s e n ' , so d a ß d e r l e g i t i m i e r e n d e u n d b e s c h w i c h t i g e n d e C h a r a k t e r i h r e r Ä u ß e r u n g e n weniger deutlich 12
D a z u G e r d Fritz: K o h ä r e n z . G r u n d f r a g e n der linguistischen K o m m u n i k a t i o n s a n a l y s e . T ü b i n g e n 1982, S. 2 1 8 .
Diskussion über,
Diskussion'
33
wird. D a b e i k ö n n e n sie d u r c h das konzessive E i n b r i n g e n von G e g e n a r g u m e n t e n , d i e u n v e r b i n d l i c h e E n t g e g e n n a h m e v o n Kritik u n d die B e r ü c k s i c h t i g u n g g r ö ß e r e r Z u s a m m e n h ä n g e diskussionsbereit e r s c h e i n e n . Typische F o r m u l i e r u n g : is gründlich zu ü b e r p r ü f e n , bin ich völlig mit i h n e n e i n e r M e i n u n g , n u r . . . " ; die W e n d u n g folgt auf d e m F u ß e . A u c h die A u f s p a l t u n g in P e r s o n u n d P a r t e i v e r t r e t e r k a n n Kritik a b f a n g e n : „ich sage ja, nicht alle m e i n e e h e m a l i g e n Kollegen w e r d e n auch dazu j a s a g e n " . D a s A b w ä l z e n auf d i e V e r h ä l t n i s s e , d e r H i n w e i s auf . R e a l i t ä t e n ' (BeispielS t i c h w o r t : „ M e h r h e i t e n ä n d e r n " ) w i r k e n d u r c h ihren F o l g e r u n g s c h a r a k t e r nicht so s e h r l e g i t i m i e r e n d , s o n d e r n v i e l m e h r als grundsätzlich solidarisch, also im K o n t e x t s c h e i n b a r e r D i s k u s s i o n k o o p e r a t i v . H i e r gibt es eine Fülle von r e a k t i v e n S c h r i t t e n , d i e d i s k u t i e r e n d - a r g u m e n t a t i v a u s s e h e n , a b e r beschwichtigend w i r k e n sollen. D e r G e s p r ä c h s l e i t e r hat i m m e r w i e d e r die I n t e g r a t i o n der d i v e r g i e r e n d e n M u s t e r zu leisten. E r f a h r u n g s b e r i c h t e w e r d e n in t h e s e n b e z o g e n e M u s t e r u m g e d e u t e t u n d m a n c h m a l zugespitzt ( „ d a s ist also schon e i n m a l die erste K r i t i k " ) , m a n c h m a l abges c h w ä c h t . B e i t r ä g e w e r d e n s c h o n als t h e s e n b e z o g e n elizitiert ( „ g e r a d e von studentischer Seite sind ja g e r a d e diese Richtlinien i m m e r w i e d e r a n g e g r i f f e n w o r d e n " ) . V o r allem d u r c h zwischenzeitliche Z u s a m m e n f a s s u n g e n d e s v e r m e i n t l i c h e n Diskussionss t a n d s u n d d u r c h die F o r m u l i e r u n g von E r g e b n i s s e n wird E i n h e i t l i c h k e i t im Sinne gemeinsamen Diskutierens suggeriert. D a s e n t s c h e i d e n d e K r i t e r i u m f ü r die Q u a l i t ä t d e r G e s p r ä c h e scheint mir zu sein, ob es gelingt, auf b e s t i m m t e M u s t e r , d i e b e s t i m m t e G e s p r ä c h s s o r t e n k o n s t i t u i e r e n , mit e n t s p r e c h e n d e n M u s t e r n aus d e r s e l b e n T e x t s o r t e e i n z u g e h e n . H ä u f i g geschieht a b e r , d a ß d e r eine n u r p e r s ö n l i c h e E r f a h r u n g e n ,nach v e r b r e n n t ' , ein a n d e r e r , G r u p p e n i n t e r e s s e n a r t i k u l i e r t ' , ein d r i t t e r ,wirbt' u n d .legitimiert', ein vierter , I n f o r m a t i o n e n s u c h t ' o d e r j e m a n d e n ,zu e i n e m V e r s p r e c h e n b r i n g e n ' m ö c h t e , w ä h r e n d so g e t a n wird, als w e r d e .diskutiert'. 4. D i e positiven E r w a r t u n g e n an die h o c h b e w e r t e t e T e x t s o r t e . D i s k u s s i o n ' n ä h r e n H o f f n u n g e n ; die tatsächliche K o n f r o n t a t i o n mit d e r b l o ß e n I n s z e n i e r u n g einer Diskussion f ü h r t zu E n t t ä u s c h u n g e n . D i s k u s s i o n e n leisten u n t e r b e s t i m m t e n institutionellen Beding u n g e n , bei g e ü b t e n D i s k u t a n t e n mit realistischen E i n s t e l l u n g e n sicher gute D i e n s t e . A u c h o h n e d a ß m a n sie in die luftige H ö h e d e s H a b e r m a s s c h e n D i s k u r s e s rückt — er h a t e b e n etwas a n d e r e s g e m e i n t , als ein G e s p r ä c h s v e r f a h r e n f ü r k o m m u n i k a t i v e s H a n d e l n —, ist die D i s k u s s i o n in m a n c h e n B e r e i c h e n von W i s s e n s c h a f t , im A l l t a g u n d m a n c h m a l auch in politischen Z u s a m m e n h ä n g e n eine nützliche G e s p r ä c h s s o r t e . In d e r heutigen ö f f e n t l i c h e n K o m m u n i k a t i o n ist sie eine g e s c h u n d e n e , ü b e r s t r a p a z i e r t e u n d ü b e r f o r d e r t e F o r m des G e s p r ä c h s . D i e E i n ü b u n g in a n d e r e T e c h n i k e n wie V e r h a n d l u n g , B e r a t u n g , Sich-Aussprechen, A n h ö r u n g und verständnisorientiertes Paraphrasieren verdiente m e h r B e a c h t u n g . M ö g l i c h e r w e i s e h a t t e Carl S c h m i t t wenigstens in e i n e m R e c h t , nämlich mit seiner A n m e r k u n g : „Vielleicht geht die E p o c h e d e r Diskussion ü b e r h a u p t zu E n d e . "
Dieter Lamping
(Wuppertal)
Zur Rhetorik des Verrisses
1.
D e r Verriß, die streitbarste F o r m der Literaturkritik, ist zugleich die umstrittenste. D a s eine hängt mit dem a n d e r n unmittelbar zusammen: der Verriß ist nur deshalb so umstritt e n , weil er so streitbar ist. Was ihn von anderen F o r m e n der Literaturkritik unterscheid e t , ist jedoch nicht unbedingt schon die ablehnende, sich im Tadel ä u ß e r n d e Einstellung z u m G e g e n s t a n d . E s ist die Schärfe des Urteils, die bis zur Vernichtung g e h e n d e Aggressivität. E b e n d a r u m verkörpert er am reinsten das, was G o e t h e „zerstörende Kritik" 1 genannt hat. In seiner v e r n i c h t e n d e n Schärfe ist d e r Verriß grundsätzlich problematisch. D e n n als ein Verstoß gegen d e n guten T o n literaturkritischer Ä u ß e r u n g e n setzt er sich d e m Verdacht aus, auf skandalöse Weise a n m a ß e n d , ja maßlos und ungerecht zu sein. Deshalb steht der v e r r e i ß e n d e Kritiker unter einem verstärkten Rechtfertigungsdruck: er m u ß nicht nur einsichtig m a c h e n , w a r u m er ein Buch f ü r fehlerhaft und daher tadelnswert hält, sondern auch, w a r u m er meint, es verreißen zu d ü r f e n — oder sogar zu müssen. Die Instanz, vor d e r er sich zunächst zu rechtfertigen b e m ü h t , ist der Leser. Ihm gegenüber will er vor allem sein vernichtendes Urteil als gerechtfertigt und sich selber als berechtigt darstellen, ein derartiges Urteil zu fällen. Eine solche Rechtfertigung des Verrisses wird a u ß e r h a l b des Verrisses nicht selten prinzipiell versucht — etwa in Essays, Thesen oder A p h o r i s m e n zur Literaturkritik, wie sie zum Beispiel Marcel Reich-Ranicki, 2 Walter B e n j a m i n 3 oder A r t h u r S c h o p e n h a u e r 4 vorgelegt h a b e n . In j e d e m Verriß, d e r vom Leser akzeptiert werden will, m u ß diese Rechtfertigungsarbeit jedoch aufs n e u e geleistet w e r d e n ; denn als ein einzelnes Urteil m u ß sich der V e r r i ß auch in j e d e m einzelnen Fall legitimieren. Gleichwohl sind die R e c h t f e r t i g u n g s g r ü n d e , die dann a n g e f ü h r t werden, nicht immer nur auf den b e s o n d e r e n Fall zu beziehen. Meine T h e s e ist vielmehr, d a ß es im Verriß eine spezielle Rhetorik der Selbstrechtfertigung gibt. Sie läßt sich als ein Bündel von Strategien des verreißenden Kritikers be1
Johann Wolfgang G o e t h e : Graf Carmagnola noch einmal. In: J. W. G.: Schriften zur Literatur. 14. Band der Gedenkausgabe. Einführung und Textüberwachung von Fritz Strich. Zürich : 1964. S. 8 2 6 - 8 3 3 , hier S. 830.
2
Marcel Reich-Ranicki: Nicht nur in eigener Sache. Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland. In: M. R.-R.: Lauter Verrisse. Mit einem einleitenden Essay. Neuausgabe. Stuttgart 1984, S. 1 1 - 4 5 .
1
Walter Benjamin: D i e Technik des Kritikers in dreizehn Thesen. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Band IV, 1. Hrsg. von Tillman Rexroth. Werkausgabe Band 10. Frankfurt a . M . 1980, S. 108.
4
Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. 2. Band. Hrsg. von Arthur Hübscher. Wiesbaden 3 1972, § 281 ( = Sämtliche Werke, Band 6).
Zur Rhetorik des Verrisses
35
schreiben, die jeweils in der gezielten Verwendung unterschiedlicher T e x t e l e m e n t e , von einfachen rhetorischen Figuren bis hin zu topischen F o r m e l n , bestehen. Rhetorisch sind diese Strategien — der militärische Ausdruck scheint mir bei einem derart militanten Gegenstand einmal angemessen zu sein — sowohl ihres stereotypen wie ihres persuasiven Charakters wegen: sie sind Strategien der Überzeugung und Überredung des Lesers mit Hilfe einiger Verfahren und Wendungen, die bestimmte Argumentationsfiguren zumindest implizieren. Im folgenden möchte ich zunächst die wichtigsten Rechtfertigungsstrategien des Verrisses anhand ausgewählter Beispiele aus der deutschsprachigen Verriß-Literatur von Schiller bis R e i c h - R a n i c k i kurz darstellen und diese Darstellung dann zum Ausgangspunkt einer kritischen Einschätzung des Verrisses machen - einer Kritik allerdings, von der ich hoffe, daß sie ohne die aggressive Heftigkeit auskommt, die ihrem O b j e k t eigen ist.
2. Die rhetorischen Rechtfertigungsstrategien des Verrisses lassen sich typologisch ordnen, j e nachdem, ob sie sich primär auf den Verfasser, den Gegenstand oder den Leser des Verrisses beziehen. D e r Kritiker als Verfasser des Verrisses ist zunächst bemüht, sich als freimütiger und unbefangener Rezensent zu profilieren, der sich genau dadurch von anderen Kritikern unterscheidet. Gegen diese Kollegen versucht er sich sowohl direkt wie indirekt abzugrenzen: direkt, indem er ihnen vorwirft, das W e r k , um das es geht, zu gut besprochen zu haben — sei es aus Gefälligkeit oder aus einer Fehleinschätzung heraus; indirekt, indem er mit Hilfe einiger expressiver Formeln den Eindruck erwecken möchte, selbst unbestechlich und aufrichtig in seinem Urteil zu sein. Besonders deutlich ist diese (Doppel-)Strategie in Grabbes Verriß des Briefwechsels zwischen G o e t h e und Schiller. Nach einer weit ausholenden Einleitung kommt G r a b b e auf das „literarische G e s i n d e l " zu sprechen, „welches nichts kann als Nachschreien und N a c h b e t e n " und das „nicht ermangeln" werde, „auch diesen Briefwechsel zum Himmel zu e r h e b e n " . 5 E r geht dann etwas näher auf die Rezension Varnhagen von Enses in den Berliner „Jahrbüchern für wissenschaftliche K r i t i k " ein, dem er vorwirft, „mehr Kenntnis, und die ist auch so arg nicht, als U r t e i l " 6 zu besitzen. G r a b b e s Ausfälle gegen „Goethes S c h m e i c h l e r " , 7 denen er offenbar auch Varnhagen zurechnet, dienen freilich nur dazu, sich selber als mutig urteilenden, zu Gefälligkeiten nicht bereiten Kritiker darzustellen, der sowohl über „Kenntnis" wie über „ U r t e i l " verfügt. U m sich von allen Schmeichlern abzuheben, formuliert er dann, unmittelbar im Anschluß an die Kollegenschelte, sein Urteil kurz und grob so: „Schmutz ist Schmutz, und kommt er auch aus dem Palaste eines sogenannten Dichterfürsten." 8
1
Christian Dietrich G r a b b e : E t w a s über den B r i e f w e c h s e l zwischen Schiller und G o e t h e . In: G r o ß e deutsche Verrisse von Schiller bis F o n t a n e . Hrsg. und eingel. von Hans Mayer. Frankfurt a . M . 1967, S . 8 5 - 1 0 8 , hier S . 92.
6
Ebd.
7
E b d . , S. 94.
8
E b d . , S . 92.
36
Dieter Lamping
N i c h t alle v e r r e i ß e n d e n K r i t i k e r w ä h l e n d e r a r t s t a r k e W o r t e , u m ein W e r k ins r e c h t e Licht zu r ü c k e n , d a s angeblich „auf K o s t e n d e r W a h r h e i t " 9 (wie es bei G r a b b e e i n m a l h e i ß t ) g e l o b t w o r d e n ist. D o c h auch w e n n sie ihre U n b e s t e c h l i c h k e i t w e n i g e r a u f d r i n g lich d e m o n s t r i e r e n , s t e h e n sie nicht a n , sie w e n i g s t e n s d u r c h b e s t i m m t e e x p r e s s i v e F o r m e l n zu signalisieren, mit d e n e n sie ihre U r t e i l e v o r t r a g e n : d u r c h F o r m e l n wie z u m Beispiel „frei h e r a u s g e s a g t " (Schiller), 1 0 „ehrlich g e s t a n d e n " ( H e i n e ) 1 1 o d e r „ U m es gleich u n d o h n e U m s c h w e i f e zu s a g e n " ( R e i c h - R a n i c k i ) , 1 2 die i m m e r auch v e r s t e c k t e Kritik a n Kollegen e n t h a l t e n , d e n n sie suggerieren d e m L e s e r , d a ß a n d e r e K r i t i k e r ihre U r t e i l e nicht „ f r e i " , „ e h r l i c h " u n d „ o h n e U m s c h w e i f e " a u s d r ü c k e n . D e r Z w e c k , d e m solche n o c h vergleichsweise subtilen F o r m e l n d i e n e n , ist also d e r s e l b e , auf d e n a u c h die G r o b h e i t e n G r a b b e s abzielen: hier wie dort will sich d e r v e r r e i ß e n d e K r i t i k e r als a u f r i c h tiger u n d u n b e f a n g e n e r R e z e n s e n t p r o f i l i e r e n , d e r k e i n e falsche E h r f u r c h t v o r literarischen W e r k e n u n d k e i n e falschen R ü c k s i c h t e n auf A u t o r e n u n d a m w e n i g s t e n auf ber ü h m t e A u t o r e n k e n n t . A u f diese W e i s e rechtfertigt sich d e r V e r r i ß in seiner S c h ä r f e als e i n o f f e n e s W o r t zu e i n e m ü b e r s c h ä t z t e n B u c h . A u f d a s W e r k n u n , d a s d e n G e g e n s t a n d d e s Verrisses bildet, richtet sich e i n e spezifische S t r a t e g i e d e r H e r a b s e t z u n g . Sie v e r l a n g t , nach d e n Spielregeln d e s V e r r i s s e s , zunächst e i n e W ü r d i g u n g , nicht selten a u c h E r h ö h u n g , die im V e r w e i s auf die B e d e u t u n g d e s b e t r e f f e n d e n A u t o r s o d e r seines W e r k s , z u m a l seine P o p u l a r i t ä t , sein R e n o m m e e o d e r s e i n e R e p r ä s e n t a t i v i t ä t , liegt. D i e s e B e d e u t u n g rechtfertigt d a n n , a u s g e s p r o c h e n o d e r u n a u s g e s p r o c h e n , d i e rigorose S t r e n g e d e s Verrisses: sie e r l a u b t es, d e n S c h w ä c h e n d e s r e z e n s i e r t e n B u c h s ein b e s o n d e r e s G e w i c h t zu verleihen u n d zu i h r e r C h a r a k t e r i s i e r u n g d e u t l i c h e , ja d r a s t i s c h e A u s d r ü c k e zu b e n u t z e n - mit e i n e m W o r t (aus F r i e d r i c h S i e b u r g s V e r r i ß v o n W i e c h e r t s „Missa sine n o m i n e " ) : „keinerlei N a c h s i c h t " 1 1 w a l t e n zu lassen. D i e s e r w o h l k a l k u l i e r t e n Strategie folgt noch ein so h e f t i g e r V e r r i ß wie M a r c e l ReichR a n i c k i s b e r ü h m t - b e r ü c h t i g t e B e s p r e c h u n g von M a r t i n W a l s e r s R o m a n „ J e n s e i t s d e r L i e b e " . Sie b e g i n n t mit d e m an S c h ä r f e k a u m zu ü b e r b i e t e n d e n U r t e i l : „ E i n b e l a n g l o s e r , e i n s c h l e c h t e r , ein m i s e r a b l e r R o m a n . E s lohnt sich nicht, a u c h n u r ein K a p i t e l , a u c h nur e i n e einzige Seite dieses B u c h e s zu l e s e n . " 1 4 E i n e solche E i n s c h ä t z u n g p r o v o z i e r t n a t ü r lich die F r a g e , o b es sich d a n n l o h n e , ü b e r ein solches B u c h auch noch zu s c h r e i b e n . R e i c h - R a n i c k i , d e r diese F r a g e e b e n f a l l s stellt, b e a n t w o r t e t sie, wie nicht a n d e r s zu e r w a r t e n w a r , positiv: „ J a , a b e r b l o ß d e s h a l b , weil d e r R o m a n von M a r t i n W a l s e r s t a m m t , e i n e m A u t o r also, d e r einst, u m 1960, als eine d e r g r ö ß t e n H o f f n u n g e n d e r 9 10
11
12
13
14
Ebd. Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte. In: G r o ß e deutsche V e r r i s s e . . . , a . a O . , S. 2 3 - 4 1 , hier S. 36. Heinrich Heine: D e r Schwabenspiegel. In: G r o ß e deutsche Verrisse a . a . O . , S. 1 0 9 - 1 2 5 , hier S. 121. Marcel Reich-Ranicki: Vorsichhinblödeln. G ü n t e r Eich: ..Maulwürfe" und „Kulka, Hilpert, E l e f a n t e n " . In: M. R . - R . : Lauter Verrisse, a . a . O . . S. 6 2 - 6 9 , hier S. 64. Friedrich Sieburg: Zuviel G o t t . In: F. S.: Nur für Leser. Jahre und Bücher. München 1961. S. 7 0 - 7 3 , hier S. 70. Marcel Reich-Ranicki: Martin Walser: Sein T i e f p u n k t . In: M. R . - R . : Entgegnung. Z u r deutschen Literatur der siebziger Jahre. Stuttgart 1979, S. 158-162, hier S. 158.
Zur Rhetorik des Verrisses
37
d e u t s c h e n N a c h k r i e g s l i t e r a t u r galt — u n d dies keineswegs zu U n r e c h t . " b Es folgt eine W ü r d i g u n g dieses „ t e m p e r a m e n t v o l l e n u n d s y m p a t h i s c h e n Schriftstellers", 1 6 die seine V e r d i e n s t e u n d E r f o l g e e r w ä h n t , u m seine S c h w ä c h e n u n d M i ß e r f o l g e u m s o d e u t l i c h e r h e r a u s s t r e i c h e n zu k ö n n e n . D e r V e r r i ß e n d e t d a n n auch mit e i n e m U r t e i l , d a s g e n a u diese verriß-typische D i a l e k t i k von E r h ö h u n g u n d H e r a b s e t z u n g aufweist: „ M a r t i n Wals e r " , so r e s ü m i e r t R e i c h - R a n i c k i , „den wir f ü r e i n e n d e r b e s t e n E r z ä h l e r seiner G e n e r a tion g e h a l t e n h a b e n , t r i e b viele J a h r e mit seinem T a l e n t S c h i n d l u d e r . E r h a t es fast ruiniert u n d ist n u n e r n e u t a n e i n e m T i e f p u n k t seiner L a u f b a h n a n g e l a n g t . " 1 7 D e r V e r w e i s auf d a s R e n o m m e e eines Schriftstellers ist allerdings nicht d i e einzig mögliche R e c h t f e r t i g u n g f ü r die u n n a c h s i c h t i g e B e u r t e i l u n g eines Buchs. G e n a u s o typisch ist d e r H i n w e i s auf die P o p u l a r i t ä t d e s A u t o r s o d e r d e s W e r k s - mit ihr legitimiert Schiller seinen V e r r i ß d e r g e s a m m e l t e n G e d i c h t e B ü r g e r s 1 8 - o d e r d e r H i n w e i s auf die R e p r ä s e n t a t i v i t ä t des A u t o r s o d e r des W e r k s - mit ihr rechtfertigt z u m Beispiel K u r t T u c h o l s k y seinen V e r r i ß von A r n o l t B r o n n e n s „ O . S . " . 1 9 A u f d e n L e s e r als d e n A d r e s s a t e n d e s Verrisses schließlich zielt eine Strategie d e r E i n v e r n a h m e . D e r v e r r e i ß e n d e Kritiker will d e n L e s e r i m m e r zu seinem V e r b ü n d e t e n m a c h e n , allerdings nicht n u r auf d e m W e g d e r A r g u m e n t a t i o n , s o n d e r n auch d e r A f f e k tion. D a s wichtigste Mittel e i n e r solchen a f f e k t i v e n L e s e r b e e i n f l u s s u n g ist, n e b e n d e r geschickt p i a z i e r t e n r h e t o r i s c h e n F r a g e , die K o m i k in all ihren aggressiven S p i e l a r t e n . I n d e m sie d e n G e g e n s t a n d d e s Verrisses d e r L ä c h e r l i c h k e i t preisgibt, h i n d e r t sie d e n L e s e r d a r a n , mit i h m Mitleid o d e r gar E m p ö r u n g zu e m p f i n d e n u n d sich gegen d e n K r i t i k e r zu w e n d e n . E i n M e i s t e r a u c h dieser A r t k o m i s c h e r B e e i n f l u s s u n g ist H e i n e . In seiner Polemik „ D e r S c h w a b e n s p i e g e l " steht ein e b e n s o witziger wie e r b a r m u n g s l o s e r V e r r i ß v o n Justinus K e r n e r s spiritistischem B u c h „ D i e S e h e r i n v o n P r e v o r s t " in nicht m e h r als z e h n Z e i l e n . Sie v e r d i e n e n es, ganz zitiert zu w e r d e n : Nach ihm [gemeint ist Gustav Schwab, den Heine vorher lächerlich gemacht hat. D. L.] kommt d e r D o k t o r Justinus K e r n e r , welcher Geister und vergiftete Blutwürste sieht und einmal dem Publikum aufs ernsthafteste erzählt hat, d a ß ein Paar Schuhe, ganz allein, o h n e menschliche H ü l f e , langsam durch das Z i m m e r gegangen sind, bis zum Bette der Seherin von Prevorst. D a s fehlt noch, daß man seine Stiefel des A b e n d s festbinden m u ß , damit sie einem nicht des Nachts trapp! trapp! vors Bett k o m m e n und mit lederner Gespensterstimme die Gedichte des Herrn Justinus Kerner vordeklamieren! 2 "
Solche k o m i s c h v o r g e t r a g e n e Kritik soll d e n L e s e r f ü r d e n V e r r i ß e i n n e h m e n : durch die A f f e k t i o n , die das L a c h e n in ihm b e w i r k t , u n d d u r c h die Suggestion, d a ß er ü b e r die v e r m e i n t l i c h e n S c h w ä c h e n d e s r e z e n s i e r t e n W e r k s lache — u n d nicht e t w a ü b e r d e n 15 16 17 18 19
20
Ebd. Ebd. E b d . , S. 162. Vgl. dazu Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, a . a . O . , S. 26ff. Vgl. dazu Kurt Tucholsky: Ein besserer H e r r . In: K. T.: Gesammelte Werke. Band 3: 1929-1932. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek b. H a m b u r g ? 1972, S. 1 0 5 - 1 1 2 , S. 105f. Heinrich Heine: D e r Schwabenspiegel, a . a . O . , S. 113.
Dieter Lamping
38
mutwilligen W i t z d e s Kritikers. D u r c h diese Suggestion vor allem rechtfertigt sich d e r V e r r i ß als e i n e a g g r e s s i v - k o m i s c h e E n t l a r v u n g von M ä n g e l n , die im L a c h e n d e s L e s e r s ihre Bestätigung findet. 3. A l l e drei S t r a t e g i e n des V e r r i s s e s sind, wie deutlich auch i m m e r , R e c h t f e r t i g u n g s v e r s u c h e , d i e ü b e r d e n e i n z e l n e n Fall h i n a u s eine a l l g e m e i n e o d e r d o c h w e n i g s t e n s verallgem e i n e r b a r e A n t w o r t auf die F r a g e g e b e n , u n t e r w e l c h e n B e d i n g u n g e n ein V e r r i ß ger e c h t f e r t i g t sei. I h r e a r g u m e n t a t i v e Substanz läßt sich, auf d e n P u n k t g e b r a c h t , also e t w a s v e r k ü r z t , so f o r m u l i e r e n : E i n B u c h darf d a n n verrissen w e r d e n , w e n n es e r s t e n s v o n a n d e r e n K r i t i k e r n ü b e r s c h ä t z t w o r d e n ist; w e n n es zweitens m i t t e l b a r o d e r u n m i t t e l b a r eine literaturpolitische B e d e u t u n g besitzt; o d e r w e n n es d r i t t e n s lächerlich g e m a c h t werden kann. G e g e n j e d e s dieser R e c h t f e r t i g u n g s a r g u m e n t e lassen sich allerdings G e g e n - A r g u m e n t e v o r b r i n g e n . G e g e n d a s e r s t e A r g u m e n t ist e t w a e i n z u w e n d e n , d a ß selbst die b e r e c h t i g t e Kritik an d e m U r t e i l e i n e s a n d e r e n noch nicht die Richtigkeit d e r e i g e n e n E i n s c h ä t z u n g v e r b ü r g t - u n d d a ß im übrigen O f f e n h e i t u n d A u f r i c h t i g k e i t n o c h k e i n e W a h r h e i t s g a r a n t i e n sind. D e s h a l b k a n n m a n z u m Beispiel G r a b b e s Kritik an d e n unkritischen G o e t h e - V e r e h r e r n s e i n e r Z e i t ( u n d vielleicht nicht n u r seiner Z e i t ) teilen, o h n e d a ß m a n s e i n e m ü b e r z o g e n e n U r t e i l ü b e r G o e t h e u n d dessen B r i e f w e c h s e l mit Schiller zustimmen müßte. G e g e n d a s z w e i t e A r g u m e n t ist e i n z u w e n d e n , d a ß z u m i n d e s t i m m e r die G e f a h r bes t e h t , ein W e r k ästhetisch falsch e i n z u s c h ä t z e n , w e n n m a n es von seiner literaturpolitischen F u n k t i o n h e r b e u r t e i l t : ein B u c h wird nicht schlechter (allerdings auch nicht bess e r ) d a d u r c h , d a ß ihm, a u s w e l c h e n G r ü n d e n auch i m m e r , eine e x e m p l a r i s c h e o d e r p a r a d i g m a t i s c h e B e d e u t u n g z u k o m m t . Folglich v e r d i e n t ein R o m a n wie „Jenseits d e r L i e b e " nicht s c h o n d a r u m e i n e n V e r r i ß , weil er angeblich eines d e r s c h l e c h t e s t e n B ü c h e r M a r t i n W a l s e r s ist. D e n n es gibt nicht nur s c h l e c h t e r e B ü c h e r v o n b e s s e r e n , s o n d e r n a u c h s c h l e c h t e r e B ü c h e r von s c h l e c h t e r e n A u t o r e n als W a l s e r , die nicht so h e f t i g verrissen w o r d e n sind — auch nicht von M a r c e l R e i c h - R a n i c k i . G e g e n d a s d r i t t e A r g u m e n t schließlich ist e i n z u w e n d e n , d a ß die seit S h a f t e s b u r y so g e n a n n t e „ P r o b e d e s L ä c h e r l i c h e n " 2 1 keine wirklich zuverlässige W e r t p r o b e ist. W i e wenig es u n t e r U m s t ä n d e n ü b e r ein literarisches W e r k aussagt, d a ß m a n es lächerlich m a c h e n k a n n , beweist ein V e r r i ß B r e n t a n o s , d e r a m E n d e gleichfalls die L a c h e r — w e n n a u c h nicht g e r a d e die K e n n e r — auf seiner Seite h a t : „ M a n h a t mir o f t g e s a g t " , heißt es d a , „einen Ball m i t v e r s t o p f t e n O h r e n a n z u s e h e n , sei etwas ganz T o l l e s ; ich m u ß gesteh e n , m a n c h e s Schauspiel mit o f f n e n O h r e n u n d A u g e n a n z u s e h e n , ist noch viel ä r g e r . " 2 2 W e n n m a n es nicht w ü ß t e , k ä m e m a n k a u m auf d e n G e d a n k e n , d a ß d i e s e r Witz nicht auf e i n drittklassiges Stück d e r Z e i t zielt, sondern auf ein D r a m a , das, aller S c h w ä c h e n z u m T r o t z , i m m e r h i n m a n c h e s W e r k B r e n t a n o s ü b e r l e b t hat: Schillers „ K a b a l e u n d L i e b e " .
21
A. A . C. Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus. Die Moralisten. Übers, von Max
22
Clemens Brentano: „Kabale und Liebe". In: Große deutsche Verrisse hier S. 76.
Frischeisen-Köhler. Leipzig 1909, S. 6. a . a . O . , S. 7 2 - 7 6 .
Zur Rhetorik des
Verrisses
39
Die drei Strategien des Verrisses halten also als Strategien der Selbstrechtfertigung nicht unbedingt einer kritischen Prüfung stand. Intrikaterweise sind jedoch auch die Versuche, den Verriß grundsätzlich zu legitimieren, in der Sache oft nicht weniger angreifbar — wenn sie nicht sogar noch die Bedenken gegen ihn verstärken. Das gilt, wie ich meine, etwa für die beiden radikalen Thesen Walter Benjamins: „Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren", und: „Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet." 2 3 Verglichen mit solchen nicht gerade charmanten Rechtfertigungsversuchen ist die Rhetorik des Verrisses sicher effektiver. Sie weiß wenigstens den für ihn notwendigen Schein der Legitimität aufrechtzuerhalten — vor allem dadurch, daß sie immer wieder geschickt zwischen Argumentation und Affektion wechselt: sie ist nie soweit argumentativ, daß sie nicht auch noch affektiv, und nie soweit affektiv, daß sie nicht auch noch argumentativ sein könnte. Im besten Fall versteht sie es daher in der Tat, den Leser zumindest für die Dauer der Lektüre für den Verriß einzunehmen. 4. Die verschiedenen Versuche, den Verriß zu rechtfertigen, deuten meines Erachtens auf ein lebhaftes Interesse — nicht nur des Kritikers — an ihm hin. Dieses Interesse wiederum läßt wohl darauf schließen, daß der Verriß insgesamt eine wichtige Funktion erfüllt — eine Funktion allerdings, die in den apologetischen Reden von seinen „polizeilichen", „richterlichen" oder „erzieherischen" Aufgaben 2 4 ebensowenig berücksichtigt ist wie in dem oft erhobenen Vorwurf, er lebe nur von der Schadenfreude. Diese Funktion sehe ich in einer Entlastung. Ich gehe davon aus, daß die Beschäftigung mit Literatur und zumal mit anspruchsvoller Literatur nicht nur unterhaltend und belehrend, nicht nur bildend und belebend, sondern auch belastend sein kann: belastend für den Schriftsteller, der sich als Konkurrenten seiner toten, vor allem aber seiner lebenden Kollegen empfindet; belastend weiter für den Kritiker, der stets darauf angewiesen ist, daß zunächst ein Schriftsteller ein Buch — und sei es ein schlechtes - vorlegt, das er dann rezensieren kann; belastend schließlich sogar für den Leser und gerade für den Leser, der nur Leser ist und der sich darum jedem Schriftsteller gegenüber erst einmal lediglich in der Position des Publikums, eines zur Dankbarkeit und womöglich zu Bewunderung angehaltenen Empfängers befindet. Diese Belastungen dürften immer wieder den Wunsch nach Entlastung hervorbringen, nach Entlastung weniger von der Literatur als vielmehr von der nachteiligen Seite der Rolle, die jeweils dem Schriftsteller, dem Kritiker oder dem Leser im Umgang mit Literatur zufällt. Wo dieser Wunsch nach Entlastung vorhanden ist, da bieten sich aggressive, die literarische Etikette respektlos verletzende Genres wie die Parodie oder eben der Verriß geradezu an, ihn zu befriedigen. 21
Walter Benjamin: Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen, a . a . O . , S. 108.
24
Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Topoi findet sich bei Dieter E. Zimmer: Notizen zur Psychologie des Verreißens und Verrissenwerdens. In: Literatur und Kritik. Aus Anlaß des 60. Geburtstages von Marcel Reich-Ranicki hrsg. von Walter Jens. Stuttgart 1980. S. 1 2 0 - 1 3 2 .
Dieter Lamping
40
D e r W u n s c h n a c h E n t l a s t u n g ist sicher nicht d e r einzige G r u n d f ü r d i e E x i s t e n z v o n V e r r i s s e n , d o c h ist e r , wie mir scheint, d e r psychologisch tiefste. Mit d e r E n t l a s t u n g s f u n k t i o n lassen sich j e d e n f a l l s drei wesentliche E i g e n a r t e n des Verrisses e r k l ä r e n , f ü r die sonst n u r schwer e i n e z u s a m m e n h ä n g e n d e E r k l ä r u n g zu f i n d e n ist. D i e E n t l a s t u n g s f u n k t i o n e r k l ä r t z u m einen, w a r u m die b e v o r z u g t e n O b j e k t e d e s V e r r i s s e s nicht die B ü c h e r allgemein f ü r schlecht a n g e s e h e n e r , s o n d e r n d i e meist schon a n e r k a n n t e r , a n s p r u c h s v o l l e r e r A u t o r e n sind: weil d e r L e s e r die E n t l a s t u n g u m s o deutlic h e r u n d lustvoller s p ü r t , j e b e d e u t e n d e r der G e g e n s t a n d des Verrisses ist. Die E n t l a s t u n g s f u n k t i o n e r k l ä r t z u m zweiten, w a r u m d e r V e r r i ß , bei allen U n t e r s c h i e d e n in d e n K r i t e r i e n , M o t i v e n u n d T e m p e r a m e n t e n d e r K r i t i k e r u n d bei allen U n t e r s c h i e d e n in d e r Q u a l i t ä t d e r kritisierten W e r k e , i m m e r gleich h e f t i g ausfällt: weil e r n ä m l i c h A u s d r u c k e i n e r l a t e n t e n Aggression ist, die sich an e i n e m b e s t i m m t e n Fall e n t z ü n d e t , o h n e d u r c h ihn allein b e g r ü n d e t zu sein. Die E n t l a s t u n g s f u n k t i o n e r k l ä r t z u m d r i t t e n , w a r u m eine so p r o b l e m a t i s c h e F o r m d e r L i t e r a t u r k r i t i k wie d e r V e r r i ß ü b e r h a u p t literarisch institutionalisiert w e r d e n k o n n t e : weil er m e h r ist als b l o ß ein E x z e ß u n b e h e r r s c h t e r o d e r z u w e n i g b e h e r r s c h t e r R e z e n s e n t e n - n ä m l i c h ein z w a r nicht u n e n t b e h r l i c h e r , doch nützlicher Teil d e s literarischen L e b e n s : d e r A u s g l e i c h f ü r B e w u n d e r u n g und V e r e h r u n g . O b mit d e r E n t l a s t u n g s f u n k t i o n nicht nur e i n e E r k l ä r u n g , s o n d e r n a u c h eine stichhaltige R e c h t f e r t i g u n g f ü r die E x i s t e n z von Verrissen g e f u n d e n ist, m ö c h t e ich a n h e i m s t e l l e n . D o c h u n a b h ä n g i g d a v o n , o b u n d wieweit es gelingen m a g , eine solche L e g i t i m a t i o n b e i z u b r i n g e n , d ü r f t e n alle A r g u m e n t e gegen den V e r r i ß bei seinen L e s e r n n u r v o n b e g r e n z t e r W i r k u n g sein — e b e n weil e r auf e f f e k t i v e Weise ein tiefes B e d ü r f n i s zu b e f r i e d i g e n s c h e i n t . D a s sollte allerdings kein G r u n d sein, sich d e r Kritik an ihm gleich g a n z zu e n t h a l t e n . D e n n soviel scheint mir u n b e s t r e i t b a r zu sein: d a ß d e r V e r r i ß - nicht n u r d e m , d e r als L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l e r den g e l a s s e n e r e n U m g a n g mit L i t e r a t u r zu seiner S a c h e g e m a c h t hat — i m m e r ein z w e i f e l h a f t e s V e r g n ü g e n b e r e i t e t , das z w e i f e l h a f t s c h o n d a d u r c h ist, d a ß es ein V e r g n ü g e n des L e s e r s auf Kosten eines A u t o r s ist. O h n e d a ß ich d i e s t r e i t b a r e u n d streitlustige B e s c h ä f t i g u n g mit L i t e r a t u r v e r p ö n e n u n d d e m das W o r t r e d e n m ö c h t e , was E g o n Friedell die „prinzipiell p a n e g y r i s c h e Kritik" 2 5 g e n a n n t h a t , h a l t e ich d o c h die E i n w ä n d e , die e r g e g e n t a d e l n d e , z u m a l v e r n i c h t e n d e , also v e r r e i ß e n d e Kritik f o r m u l i e r t h a t , für aller B e d e n k e n w e r t . „ E i n e S a c h e h e r u n t e r m a c h e n " , s c h r e i b t Friedell, selbst p o l e m i s c h , „ist d a s m ü h e l o s e s t e u n d zugleich d a n k b a r s t e G e s c h ä f t , d e m ein M e n s c h sich h i n g e b e n k a n n " 2 6 - schon weil „selbst d e r d ü m m ste L e s e r i m m e r n o c h g e n u g B o s h e i t u n d D ü n k e l besitzt, u m die S c h w ä c h e n d e r zeitgenössischen A u t o r e n a u s z u f i n d e n " . 2 7 Im übrigen m e i n t e r , sei es „völlig u n i n t e r e s s a n t u n d ü b e r f l ü s s i g " , auf D a u e r auch „langweilig und b e l a n g l o s " , ü b e r die M ä n g e l u n d F e h l e r v o n K ü n s t l e r n zu s p r e c h e n ; d e n n : „ W a s einer nicht k a n n , das wissen wir schon v o n alleine: im N i c h t s k ö n n e n sind wir ja selber e r s t e Fachleute." 2 1 *
25
Egon Friedell: D e r Kritiker. In: E. F.: Abschaffung des Genies. Essays bis 1918. Hrsg. und mit einem Nachwort „Friedell als B u c h a u t o r " von Heribert Iiiig. Wien, München 1984, S. 1 0 9 - 122. hier S. 113.
26
E b d . , S. 116.
27
Ebd.
28
E b d . , S. 114.
Johannes
Schwitalla
(Mannheim)
Martin Luthers argumentative Polemik: mündlich und schriftlich
1. E i n l e i t u n g u n d h i s t o r i s c h e r
Hintergrund
In d i e s e m V o r t r a g w e r d e ich d e r F r a g e n a c h g e h e n , mit w e l c h e n s p r a c h l i c h e n M i t t e l n u n d in w e l c h e n t e x t l i c h e n Z u s a m m e n h ä n g e n M a r t i n L u t h e r e i n e n s e i n e r G e g n e r a n g r e i f t , g e g e n ihn p o l e m i s i e r t o d e r ihn in s e i n e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n A c h t u n g h e r a b s e t z t . 1 D i e s e r G e g n e r ist A n d r e a s B o d e n s t e i n , g e n a n n t K a r l s t a d t . U m e i n i g e F a k t o r e n d e r p o l e m i s c h e n K o n s t e l l a t i o n e n k o n s t a n t z u h a l t e n , w ä h l e ich a l s M a t e r i a l g r u n d l a g e für d i e U n t e r s u c h u n g z w e i b z w . drei T e x t e : -
ein m ü n d l i c h e s Streitgespräch zwischen Martin Luther und A n d r e a s Karlstadt, w e l c h e s a m 2 2 . A u g u s t 1 5 2 4 in J e n a s t a t t f a n d ( W A 15, 3 3 5 - 3 4 0 ) ;
-
d i e b e i d e n T e i l e d e r S c h r i f t „ W i d e r d i e h i m m l i s c h e n P r o p h e t e n " ( W A 18, 6 2 - 1 2 5 , 1 3 4 - 2 1 4 ) v o m D e z e m b e r 1524 u n d Januar 1525.
In d i e s e r F l u g s c h r i f t legt L u t h e r a u s f ü h r l i c h s e i n e G e d a n k e n z u m A b e n d m a h l und z u r B i l d e r f r a g e d a r . Sie ist L u t h e r s e n t s c h e i d e n d e Schrift g e g e n K a r l s t a d t . F ü r u n s e r e F r a g e s t e l l u n g ist s i e a u c h d e s h a l b i n t e r e s s a n t , w e i l i h r e p o l e m i s c h e S c h ä r f e s c h o n
damals
A u f s e h e n erregte, und zwar s o w o h l bei Luthers Parteigängern wie bei seinen G e g n e r n . "
1
Im allgemeinen hat man sich bei diesen Fragen a u f w e r t e n d e A d j e k t i v e u n d N o m i n a b e s c h r ä n k t : L e p p (1908); Mueller (1933); E r b e n (1974), 544f., 551: Pensei (1978); Wolf (1980). 50; A r n d t / B r a n d t (1983), 8 9 - 9 3 ; G r o ß e (1984), 89f.; B e b e r m e y e r (1984). Dies ist verständlich, weil in N o m i n a l g r u p p e n w e r t e n d e Urteile z u s a m m e n g e f a ß t w e r d e n k ö n n e n u n d in N o m i n a Beschimp f u n g e n ihren kürzesten A u s d r u c k finden. D a b e i w u r d e aber oft ü b e r s e h e n , d a ß man mit N o m i n a nicht nur auf P e r s o n e n referiert, sondern d a ß man mit ihnen auch menschliches D e n k e n und T u n , E i g e n s c h a f t e n und G e w o h n h e i t e n a b w e r t e n k a n n . Dies tut L u t h e r nach meinen A u s zählungen u m ein Drittel häufiger als referentiell seine G e g n e r zu bezeichnen. D e r entscheidende Mangel einer n u r auf W o r t a r t e n b e r u h e n d e n Analyse liegt darin, d a ß erst auf der Satzebene zu e n t s c h e i d e n ist, ob eine P e r s o n kritisiert o d e r beleidigt wird. So k ö n n e n aus K o m b i n a t i o n e n von W ö r t e r n o d e r Satzteilen (meist: P r ä d i k a t und E r g ä n z u n g e n ) , von d e n e n keines alleine eine negative W e r t u n g enthält, kritische Urteile e n t s t e h e n . D u r c h N e g a t i o n e n kann m a n positive Urteile ins G e g e n t e i l v e r k e h r e n usw. A u ß e r d e m scheinen mir die V e r b e n vernachlässigt w o r d e n zu sein. L u t h e r g e b r a u c h t V e r b e n o f t metaphorisch und erzeugt d a d u r c h eine gefühlsmäßige A b n e i g u n g gegen d e n so prädizierten H a n d e l n d e n . D a schleych und schmeisste
heymlich
um sich ( W A 18, 134,23); er plümpt
raffelt es auff (182,23) und zwacket (198,30), e r mummelt, alles ynneynander 2
eraus,
Karlstadt hyn und her ym
lande
hereyn (138,15) in ein Bibelwort,
was yhm gefellet (145,3). E r ringet und windet
bricht und würget sich über den warten (152,14) und speyet
sich
schließlich
(189,8). Vgl. auch B e n t z i n g e r / K e t t m a n n (1983), 247.
H . Barge in W A 18.47: „ A n d e m W e r k e L u t h e r s ü b e r r a s c h t e u n d b e f r e m d e t e viele Zeitgenos-
42
Johannes
Schwitalla
In den J a h r e n 1523 und 1524 hatten sich in Sachsen und Thüringen m e h r e r e G e m e i n den von L u t h e r a b g e w e n d e t . Ihre f ü h r e n d e n theologischen Köpfe waren T h o m a s Müntzer und A n d r e a s Karlstadt. Beide hatten offen oder verdeckt gegen Luther geschrieben, u n d dieser b e o b a c h t e t e mit Mißtrauen die neuen religiösen Bewegungen. L u t h e r wurde es i m m e r unheimlicher, daß neben der heiligen Schrift auch persönliche O f f e n b a r u n g e n gelten sollten; d a ß der G l a u b e für nicht so wichtig gehalten wurde wie das H a n d e l n ; daß m a n in Allstedt den Fürsten drohte oder in O r l a m ü n d e Heiligenbilder aus d e n Kirchen entfernte. L u t h e r benutzte deshalb eine Visitationsreise in Thüringen dazu, auch gegen die ,Geister' in Allstedt u n d O r l a m ü n d e zu predigen. Als er dies auch am 22. August in Jena tat, hörte ihm Karlstadt zu und f o r d e r t e nach der Predigt von L u t h e r Rechenschaft d a r ü b e r , d a ß er ihn mit T h o m a s M ü n t z e r in einen Topf geworfen habe. Nach diesem G e s p r ä c h , auf das ich gleich eingehen will, trafen sich L u t h e r und Karlstadt noch einmal zwei T a g e später in O r l a m ü n d e , aber Luther lehnte ein weiteres Gespräch mit Karlstadt ab. K a u m einen M o n a t später wurde Karlstadt aus Kursachsen ausgewiesen. E r schrieb innerhalb weniger W o c h e n acht Flugschriften, von denen fünf L u t h e r aus Straßburg zugesendet w u r d e n . D a r a u f h i n schrieb Luther die beiden sehr u m f a n g r e i c h e n Erwider u n g e n „Wider die himmlischen P r o p h e t e n , von den Bildern und S a k r a m e n t " .
2. Luthers mündliche Polemik D a s Streitgespräch zwischen L u t h e r und Karlstadt besteht aus 80 Sprecherbeiträgen. Nur in den letzten 13 streiten sich die K o n t r a h e n t e n nicht m e h r , sondern einigen sich d a r a u f , d a ß Karlstadt gegen L u t h e r schreiben dürfe. F ü r die D r u c k k o s t e n gab ihm L u t h e r e i n e n G o l d d u k a t e n ; Karlstadt n a h m ihn, bog ihn u m und machte so aus dem D u k a t e n ein Zeichen. Folgende dialogische P h ä n o m e n e hat das Gespräch mit heutigen s p o n t a n e n Gesprächen gemeinsam: — A n zwei Stellen versackt der Dialog in Flauten, wo beide Sprecher nichts N e u e s mehr zu sagen h a b e n , sondern nur ihre f r ü h e r e n A r g u m e n t e wiederholen; beide Male w e r d e n auch Gesprächspausen notiert. — D a s Protokoll gibt auch nichtsprachliche, aber kommunikative H a n d l u n g e n wieder ( H ä n d e s c h ü t t e l n , Sich-zutrinken, G e b e n und N e h m e n des D u k a t e n ) . — Die Länge d e r Gesprächsbeiträge variiert von m e h r e r e n Sätzen bis zu Beiträgen, die n u r aus einem W o r t bestehen. Dies alles spricht f ü r eine relativ n a h e Protokollierung des tatsächlichen Gesprächsverlaufs, wenn wir auch nicht damit rechnen k ö n n e n , eine Wort-für-Wort-Verschriftlichung vor uns zu h a b e n .
s e n die a u ß e r g e w ö h n l i c h e S c h ä r f e u n d S c h r o f f h e i t d e r P o l e m i k g e g e n K a r l s t a d t . " Vgl. e b d . e i n i g e Z e u g n i s s e a u s d a m a l i g e r Z e i t . Z u r historischen S i t u a t i o n vgl. B o r n k a m m ( 1 9 7 9 ) , 133ff.. und die dort verzeichnete ältere Literatur.
Martin Luthers argumentative
43
Polemik
Wesentlich scheint mir aber die interne, handlungslogische Struktur. Diese können wir an heutigen Streitgesprächen im e n g e r e n Sinne wiederfinden. 1 E s ist eine zyklische Struktur, die aus drei Schritten besteht: — erstens: Person A greift Person Β in ihrem Goffmans); — zweitens: Β geht auf diesen Angriff in einer verschiedene Möglichkeiten, z . B . Abstreiten, ren usw. — und drittens setzt Β seinen G e g n e r seinerseits von v o r n e beginnen kann.
Image an (,Image' im Sinne Erving bestimmten Weise ein. D a f ü r gibt es Sich-rechtfertigen, Metakommunizieeiner Kritik aus, so daß der Kreislauf
Streitgespräche können sich nun in ihrem strukturellen A b l a u f 4 dadurch unterscheiden, wie diese Z y k l e n auf die Sprecherbeiträge verteilt sind. Im Gespräch zwischen Luther und Karlstadt sind sie phasenweise verschoben: Z u Beginn (Beitrag 1 - 1 6 ) ist Karlstadt in d e r Initiative; er wirft Luther v o r , er habe ihn den „mörderischen geistern zu[ge]stell[t] und ein[ge]brock[t]" ( W A 15, 335,26), und er habe ihn nicht brüderlich unter vier Augen zurechtgewiesen, wie es einem Christen gebühre. Luther verteidigt sich und geht n u r zweimal zu einem Imageangriff ü b e r . In der zweiten Phase (17—38) machen sich Luther und Karlstadt in schnellem Hin u n d H e r Vorwürfe und qualifizieren sich gegenseitig ab; d . h . die Zyklen werden dichter. In Phase 3 ( 3 9 - 5 4 ) geben sie kontroverse Sachverhaltsdarstellungen, in denen einer B e h a u p t u n g sofort das D e m e n t i des A n g e g r i f f e n e n folgt. U n d auch in d e r vierten Phase (55—60) fallen die Kreisläufe von gegenseitigen Abqualifizierungen mit den Sprecherbeiträgen z u s a m m e n . Schließlich klingt das Gespräch in Phase 5 (61—80) versöhnlich aus. L u t h e r und Karlstadt lassen sich in ihren G e g e n r e d e n von den thematischen Inhalten ihrer V o r r e d n e r bestimmen. Sie greifen W ö r t e r , W o r t g r u p p e n und ganze Sätze aus d e m v o r h e r g e h e n d e n Beitrag auf, bringen sie dann a b e r in einen eigenen satzsemantischen Kontext. D a b e i ä n d e r n sie den S i n n z u s a m m e n h a n g dergestalt, d a ß die aufgegriffenen propositionalen Inhalte — pragmatisch gesehen — der eigenen Verteidigung oder d e m Angriff auf den G e g n e r dienen. D a b e i k ö n n e n wir einige w i e d e r k e h r e n d e Strategien e r k e n n e n (ich konzentriere mich auf die Repliken Luthers): 1. Ironische Bestätigung nach einer B e t e u e r u n g s f o r m e l . Beispiel 1:
Ka: Ich will [...] offenbar
entweder
öffentlich
zu schänden,
oder gottes Wahrheit muß
werdenn.
Lu: Es wirt euch geschehen
[...]
( W A 15, 3 3 7 , 8 - 1 0 ; vgl. auch Zeile 1 0 - 1 2 ; 338,19f).
2. E i n e Proposition des G e g n e r s zum A n t e z e d e n s eines Konditionalgefüges machen. Die kontradiktorische W i r k u n g bringt der Sprecher dadurch zustande, d a ß er im K o n s e q u e n s , im anschließenden H a u p t s a t z also, Inhalte einführt, die den G e g n e r Lügen strafen. I m folgenden Beispiel 2 formuliert Luther dazu eine rhetorische Frage: 3
Vgl. Schwitalla (1980), 30f.
4
Hier geht es um den strukturellen Ablauf, nicht um verschiedene Typen von Streitgesprächen.
44
Johannes Beispiel 2:
Schwitullu
K a : [ . . . ] Ich weyß, das mein leer gerecht und auß Got ist. L u : Do ewer leer recht und auß got war, warumb durch,
do ir zu Wittenberg
die bilder
brach dann ewer geyst nit
zurbracht?
( e b d . 3 3 7 , 1 3 - 1 5 ; vgl. Karlstadt 3 3 8 , 1 8 - 2 0 ; 3 3 9 , 1 0 - 1 2 ) . 3. D e n s e l b e n T y p e i n e s S p r e c h a k t s z u r ü c k g e b e n ( R e t o u r k u t s c h e ) . Beispiel 3:
K a : [ . . . Ihr solltet] nicht haben also u f f mich gestochen L u : Ir habt ee auff
mich
gestochen
dann
ich auff
und geschlagen euch
[...]
( 3 3 8 , 8 - 1 1 ; vgl.
337,12f., 18f.; 339,9f. - eine typische Replizierweise Karlstadts). 4. D i r e k t e s , kontradiktorisches Widersprechen. Beispiel 4:
K a : [ . . . ] ir habt mir mein lebentag noch nie angezeygt, gewest oder geirret hab L u : Das hab ich thon.
warinne ich
strefflich
[...]
[...]
K a : Ich weyß aber, das nicht war ist. L u : Ichhabsthan.
( 3 3 8 , 1 6 - 2 1 u n d passim: L u t h e r 338,32; 339,14. Karlstadt:
338,11; 23; 27). Mit solchen A k t e n d e s direkten Widersprechens w e h r e n Luther und Karlstadt vor allem im Verlauf k o n t r o v e r s e r Sachverhaltsdarstellungen V o r w ü r f e ab. 5. F o r d e r u n g d e r B e g r ü n d u n g e i n e r Kritik m i t t e l s e i n e r E r g ä n z u n g s f r a g e . Beispiel 5:
K a : Ir bandet mir hend und fuß, L u : Wo hab ich euch geschlagen? Karlstadt: 338,1 lf.: welche...?;
darnach schlugt
ir mich.
(337.29f. ; vgl. 14: wann...?;
21: wer...?;
22:
wo...?).
B e i a l l e n d i e s e n T y p e n d e s R e p l i z i e r e n s k ö n n e n wir a u c h f e s t s t e l l e n , d a ß d i e S p r e c h e r s i e mit b e s t i m m t e n , ausdrucksseitig festgelegten F o r m u l i e r u n g e n realisieren.3 Sie g e h ö r e n z u m g e w ö h n l i c h e n R e p e r t o i r e d e s v e r b a l e n S t r e i t e n s a u c h in u n s e r e r Zeit. 1 '
1
Z u 1: F o r m e l n ; zu 2: Konditionalsatz und K o n j . II; zu 3 und 4: W i e d e r h o l u n g e n von Sätzen o d e r
6
Im Vergleich zu literarischen Dialogen d e r Reformationszeit fällt dem B e t r a c h t e r von h e u t e a u f ,
Satzteilen; zu 5: F r a g e s a t z und W i e d e r h o l u n g . wie verschieden s p o n t a n gesprochene u n d schriftlich konzipierte Dialoge w a r e n . Im G e s p r ä c h zwischen L u t h e r u n d Karlstadt erinnert n u r eine Replikstrategie an die R e f o r m a t i o n s d i a l o g e , nämlich der K o n s e n s zu einer A n k l a g e — aber im v e r t i e f t e n , r e i n t e r p r e t i e r t e n christlichen Sinn. Dies tut Karlstadt an folgender Stelle: L u : [ . . . ] eür torheit muß K a : Ich will die schand
herfürkommen. gern tragen, das got sein eer behalt.
( W A 15,337,10f.).
M a n vergleiche H a n s Sachs' Disputation zwischen einem C h o r h e r r n und einem S c h u h m a c h e r : Chorherr:
[ . . . ] und nichts Gutes ist in Euch,
Schuster:
Da habt Ihr einmal eins erraten, wann niemand
nichts Gutes kumpt
von Euch
[...]
ist gut dann Gott, M a t t h . 19.
[...] O d e r L u t h e r in seiner schriftlichen Erwiderung: der ich eyttel fleysch seyn soll, und leyder byn ( W A 18,86,4) - nämlich im paulinischen V e r s t ä n d n i s des W o r t e s
auch
Fleisch.
A u ß e r diesem T y p v o n Replik w e r d e n in heutigen Streitgesprächen im allgemeinen die beschrieb e n e n Strategien i m m e r wieder g e b r a u c h t . Z u den T e c h n i k e n : Prämisse für eigene Folgerungen u n d R e t o u r k u t s c h e n vgl. z . B . W a g n e r (1978), 54f., 66f.
Martin Luthers argumentative
45
Polemik
W i e b i n d e t n u n L u t h e r seine p o l e m i s c h e n Ä u ß e r u n g e n in d a s G e f ü g e von r e s p o n d i e r e n d e n u n d i n i t i i e r e n d e n G e s p r ä c h s z ü g e n e i n , u n d wie versprachlicht er sie? L u t h e r ist in diesem S t r e i t g e s p r ä c h nicht in einer A n g r i f f s - , s o n d e r n in e i n e r V e r t e i d i g u n g s p o s i t i o n . N u r an w e n i g e n Stellen wirft e r K a r l s t a d t e t w a s vor o d e r qualifiziert ihn a b . 7 D i e s tut e r fast i m m e r in F o r t f ü h r u n g e i n e r R e p l i k : Beispiel 6: Replik: Es wirt euch geschehen. Expansion: eür torheit muß herfur kommen
(337,10).
N u r an e i n e r Stelle bringt L u t h e r Kritik i n n e r h a l b eines i n i t i i e r e n d e n G e s p r ä c h s s c h r i t t s vor, u n d z w a r n a c h einer P a u s e , also o h n e d i r e k t e V e r b i n d u n g zu e i n e r v o r h e r g e h e n d e n Ä u ß e r u n g ; zunächst nur andeutend: Beispiel 7: lieber herr doctor,
ich kenne euch wol (339,9);
( H i e r vielleicht mit d e r i r o n i s c h e n A n r e d e „ l i e b e r " ) ; d a n n in a u s d r ü c k l i c h e r u n d r h e t o risch a m p l i f i z i e r t e r B e w e r t u n g : ich weyß woll, das ir alweg hoch einher faret, pucht groß und wollt allein erhoben unnd gesehen sein. ( 3 3 9 , 1 0 - 1 2 ) ;
u n d n o c h e i n m a l in e i n e m N e b e n s a t z : do ir so hochmutig
wäret ( e b d . Zeile 14).
D i e s t a r k e n A b w e r t u n g e n s t e c k e n hier im N o m e n „ t o r h e i t " , im A d j e k t i v „ h o c h m ü t i g " u n d in d e n V e r b a l p h r a s e n ( P r ä d i k a t e u n d E r g ä n z u n g e n ) des letzten Beispiels — jeweils r e f e r e n t i e l l b e z o g e n auf K a r l s t a d t . Ö f t e r j e d o c h spricht L u t h e r indirekt - a n d e r s als K a r l s t a d t , der o f f e n e u n d scharfe Kritik ä u ß e r t . L u t h e r v e r w e n d e t dazu v o r allem zwei r h e t o r i s c h e F i g u r e n : a) die A n t i t h e s e , z . B . als K o n s t r u k t i o n e i n e s W i d e r s p r u c h s zwischen d e n .wirklichen' G e g e b e n h e i t e n u n d K a r l s t a d t s .illusorischer' F e h l e i n s c h ä t z u n g : Beispiel 8: mich wundert, das ir nur drewet mit schreyben unnd niemants forchi sich (als Replik 337,12f.; vgl. ebd. 19f.),
o d e r als O p p o s i t i o n zwischen L u t h e r s R e c h t f e r t i g u n g s v e r s u c h e n u n d K a r l s t a d t s vorgefaßter Meinung: Beispiel 9: Nur lieber herr doctor, (338,29f.).
wenn ich schon
vil sag, so muß ich euch doch
liegen
b) die r h e t o r i s c h e F r a g e : Beispiel 10: wer hieß euch predigen?
(initiierend 338,3; 7; vgl. 337.14f.).
Ich fasse die B e o b a c h t u n g e n z u m m ü n d l i c h e n P o l e m i s i e r e n z u s a m m e n : — P o l e m i s c h e Ä u ß e r u n g e n m ü s s e n in e i n e n e n g e n t h e m a t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g z u r V o r g ä n g e r ä u ß e r u n g g e b r a c h t w e r d e n . N u r G e s p r ä c h s p a u s e n lassen A u s n a h m e n zu. 7
Ich unterscheide Vorwurf von Abqualifizierung nach den Objekten negativer Wertungen unter normativen Gesichtspunkten: einzelne verantwortbare Handlungen vs. Charaktereigenschaften. Eine gründliche Beschreibung imageabwertender Sprechakte ist immer noch ein Schwachpunkt der Sprechakttheorie.
Johannes
46
Schwitalla
— D e r Z w a n g zu e i n e r k u r z e n u n d thematisch eng a n s c h l i e ß e n d e n Replik f ü h r t zu e i n e r gewissen F o r m e l h a f t i g k e i t u n d S t e r e o t y p i e , bei L u t h e r z. B. zu ironischen B e s t ä t i g u n g e n , bei K a r l s t a d t zu R e t o u r k u t s c h e n . — L u t h e r f o r m u l i e r t seine Kritik z u r ü c k h a l t e n d u n d indirekt. W e n n er K a r l s t a d t o f f e n a n g r e i f t , v e r w e n d e t er d a z u P r ä d i k a t i o n e n mittels negativ w e r t e n d e r N o m i n a , A d j e k tive u n d g a n z e r V e r b a l p h r a s e n . — U n d schließlich: D i e r h e t o r i s c h e E l a b o r a t i o n hält sich in G r e n z e n .
3. L u t h e r s schriftliche P o l e m i k M i t d e m Ü b e r g a n g z u m M e d i u m d e r Schrift w e c h s e l n b e k a n n t l i c h einige B e d i n g u n g e n d e r s p r a c h l i c h e n K o m m u n i k a t i o n . Wie L u t h e r diese f ü r seine P o l e m i k gegen K a r l s t a d t in S t r e i t s c h r i f t e n a u s n ü t z t , m ö c h t e ich an zwei, wie mir scheint, z e n t r a l e n P h ä n o m e n e n b e s c h r e i b e n ; d a r a n , wie er zitiert, u n d wie er in z u n e h m e n d e m M a ß e K a r l s t a d t mit d e m Teufel identifiziert.
3.1. Zitieren A n d e r s als im m ü n d l i c h e n D i a l o g m u ß m a n in d e r schriftlichen u n d n u r v e r m i t t e l t dialogischen K o m m u n i k a t i o n d e n B e z u g zur M e i n u n g d e s A n d e r e n explizit h e r s t e l l e n . D i e A r t , wie L u t h e r die G e d a n k e n u n d Ä u ß e r u n g e n seiner G e g n e r a u f g r e i f t u n d w i e d e r g i b t , läßt sich mit d e r R e d e a n b i n d u n g b e i m m ü n d l i c h e n P o l e m i s i e r e n vergleichen. N a t ü r l i c h zitiert L u t h e r K a r l s t a d t u n d seine G e s i n n u n g s g e n o s s e n nicht zu d e m Z w e c k e , seine e i g e n e n G e d a n k e n zu u n t e r m a u e r n , s o n d e r n u m sich von d e r e n Ä u ß e r u n g e n a b z u s e t z e n u n d ihre U r h e b e r zu v e r u n g l i m p f e n . 8
3.1.1. A u s w a h l d e r Z i t a t e D a b e i m a c h t es e i n e n e n t s c h e i d e n d e n U n t e r s c h i e d , o b m a n die Schrift seines W i d e r s a c h e r s P a s s u s f ü r P a s s u s w i e d e r g i b t , o d e r o b m a n sich einzelne Stellen gezielt h e r a u s p i c k t . D i e s l e t z t e r e V e r f a h r e n e r l a u b t es d e m S c h r e i b e r , b e s o n d e r s s c h w a c h e A r g u m e n t a t i o n e n a u s z u w ä h l e n , seine e i g e n e n G e d a n k e n viel f r e i e r zu e n t f a l t e n u n d ü b e r h a u p t das t h e m a tische G e w i c h t d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g d o r t h i n zu v e r l e g e n , w o er sich sicher f ü h l t . L u t h e r b e r i c h t e t in seinen b e i d e n l a n g e n T e i l e n von „ W i d e r d i e h i m m l i s c h e n P r o p h e t e n " n u r a n e i n e r Stelle, n ä m l i c h bei d e r A u s l e g u n g d e r A b e n d m a h l s w o r t e , z u s a m m e n h ä n g e n d e i n e A r g u m e n t a t i o n s f o l g e K a r l s t a d t s ( W A 18,149ff.), u n d er gibt i n n e r h a l b dieses A b s c h n i t t s ein einziges Mal ( e b d . 152,35 — 153,5 also nur in fünf Z e i l e n ) ein A r g u m e n t o h n e e i g e n e W e r t u n g w i e d e r . A n s o n s t e n wählt L u t h e r seine Bezugsstellen f r e i aus, u n d z w a r nicht n u r a u s d e n Schriften K a r l s t a d t s , s o n d e r n auch aus d e m U m k r e i s d e r
8
Schänk ( 1 9 8 1 ) , 142f., spricht v o n Solidarisierungs- und D i s t a n z i e r u n g s z i t a t e n und gibt H i n w e i s e , w o r a n l e t z t e r e zu e r k e n n e n sind: z . B . an B e s c h i m p f u n g e n , I r o n i s i e r u n g e n , expliziten n e g a t i v e n B e w e r t u n g e n und am mehrmaligen Zitieren.
Martin Luthers argumentative
47
Polemik
Texte, die er als schwärmerisch e m p f a n d , und sogar aus Gesprächen. 1 ' Luther wiederholt dabei immer wieder ein paar Aussagen, die ihn anscheinend besonders ärgerten 1 " oder in denen sich seine Gegner — aus Luthers Sicht — besonders einfältig erwiesen." 3.1.2. Wertung in der Redeeinleitung Mit den Redeeinleitungssätzen interpretiert und wertet Luther im allgemeinen das nachfolgende Zitat. D e r Leser soll es von vornherein mit der Brille des Autors lesen. Dabei spielen die denotativen und konnotativen Inhalte der Verba dicendi eine große Rolle. E s ist bekannt, daß man mit ihnen einen weiten Bereich sprechaktinterner Aspekte wiedergeben kann, aber auch nur begleitende Umstände. 1 2 Luther wählt solche Verben, die Karlstadts Aussagen als Ausfluß absichtlicher Verstellung erscheinen lassen oder als R e d e unter bewußtseinsmäßiger T r ü b u n g und übergroßer Emotion, aber auch als Realisierung seiner moralisch verwerflichen Gesinnung: lügen, lüstern, erdichten, vorgeben, träumen, geifern, toben, sich rühmen, schmieren usw. O f t trennt Luther in den Redeeinleitungssätzen den wertenden Aspekt vom bloß zitierenden durch zwei Prädikate, die er durch die Konjunktion „und" verbindet: wie denn yhre propheten
stehen, schreyen
und hetzen den ptiffel
und sagen: [...]
( W A 18, 71,
10f.).
Ein paarmal gestaltet Luther solche Redeeinleitungen bildhaft aus, indem er den visuellen Eindruck des falschen Redens karikierend vergegenwärtigt: wand er das maul [...]
und sprach (89,12f.), oder: russelt er das maul und gab yhm solch
antwort
(90, l f . ) .
Damit setzt Luther Karlstadt agierend in Szene und läßt ihn komisch erscheinen. Auch im Vorfeld von Zitaten denkt er sich ganze Handlungssequenzen aus, z . B . : 1 ' Darnach
nympt
bezaubern,
er [Karlstadt]
die schrifft fur sich, da fur sich seyne haut furchte,
das sie yhn nicht hawen solle,
Und spricht,
und will sie
Der vers etc [ . . . ] (144,3f.).
^ Bei größeren Bezugstexten ist ein durchgängiges Zitieren und Kommentieren gar nicht möglich. In der Reformationszeit rücken die Flugschriftenautoren zunehmend von diesem Typ der Kommentarschrift ab. '" D a s sind folgende Ausdrücke, mit denen Karlstadt Luther bezeichnet hatte: papisten endechristen
nachgeborner
Freund.
und des
Luther zitiert sie als Nomina oder Adjektive insgesamt
sechsmal, oft in einer syntaktischen Konstruktion, die diese Bezeichnungen durch das Modalverb müssen auf ihn oder die Wittenberger bezieht: das muß auch Endechristisch
und
Papistisch
seyn (110,13f.); vgl.: so muß ich euch doch liegen aus dem Gespräch in Jena ( W A 15.338.30). Müssen wird hier inferentiell gebraucht unter den Prämissen des Gegners. Siebenmal kommt Luther auf die Bezeichnungen hescher, hencker und mörder
Christi zurück, unter die ihn Karl-
stadt einreihte (vgl. 103, A n n i , 1). 11
Vgl. unten 3.1.4.
13
Z u den Verba dicendi als Mitteln der wertenden Kennzeichnung der zitierten Äußerung vgl. Jäger (1968), 2 3 6 - 2 3 8 , Engelen (1973), 5 3 - 5 7 , Starke (1980), 672f. Eingehendere linguistische Analysen des verspottenden Zitierens stehen noch aus. N e b e n den Verba dicendi drücken — wenn auch seltener -
die Nomina agentis in Redeeinleitungssätzen Abwertungen aus: Ja,
spricht meyn Peter Rultz [ . . . ] ( W A 18.148,1). 13
Ähnliche Stellen: 172,4ff. mit Bezug auf Luther selbst: auch er könne sich auf den Kopf schla-
48
Johannes
Schwitalla
3.1.3. Übertreibung Selten zitiert Luther Karlstadt u n d seine Anhänger wörtlich. Dagegen stilisiert er ihre Aussagen so, daß die geistige Beschränktheit ihrer U r h e b e r recht deutlich zum Ausdruck k o m m e n soll. Als rhetorische Standardmittel verwendet er dazu Wortwiederholungen und -häufungen; ein Beispiel f ü r Wortwiederholungen: Ja, spricht er, [...]
Der geyst, der geyst,
weyn helffen?
Neyn,
[...]
Neyn,
der geyst mus er ynnwendig
man mus
Christus
fleysch
geystlich
thun,
Sollt myr brod
und
essen (136f.; vgl. 88,18;
137,12; 148,10 und passim);
für Häufungen: wie Carlstad heysse,
drumb
hie thut und tobet daher: haschen,
hencken,
Myr hat getrewmet,
morden,
geysseln,
das Missa auff Ebreisch
creutzigen
Christum
eyn
opffer
die Wittenberger
[...]
(104,4ff.; vgl. 119; 137; 145; 148 und passim).
Vergleicht man ein solches Zitat mit dem ursprünglichen Wortlaut von Karlstadt, so wird der übertreibende Charakter dieser veränderten Fassung deutlich. Karlstadt hatte geschrieben: „und treten drumb an die statt der hescher, hencker und morder Christi" (vgl. 103, A n m . 1). A n diese Deverbativa hängt Luther also noch das Geißeln und Kreuzigen, an anderen Stellen (119,4; 106,36) das Würgen, Schlachten und Radbrechen an.
3.1.4. Ironisierung und Karikierung Luther macht sich über die theologischen Ideen seiner Gegner lustig, indem er ihre zentralen Fahnenwörter aufgreift und durch hinzugesetzte Possessivpronomina, Attribute und K o m m e n t a r e ironisiert. Auch hier wirken Wortreihungen wie ein ikonischer Ausdruck f ü r die Unbeherrschtheit und Schwärmerei seiner Gegner, z . B . : „Das ist die hübsche ,entgrobung', ,studirung', ,Verwunderung', ,langweyl' und des gleichen teuffels allfentzerey" (101,8f.; vgl. 71,5; 138,13,20 mit einer metakommunikativen Kommentierung: „wie yhr tôlpische wort lauten"). Neben diesen Adjektiven und angehängten Nominalphrasen gebraucht Luther auch Verben wie bei den Zitateinleitungssätzen: „ertichten alhie ,entgrôbung', ,studirung', ,verwunderunge', .langweyl' und des gauckelwercks mehr" ( 138,13ff. ; vgl. 101,10; 137,7ff.). In diesen Beispielen rahmt Luther sozusagen das Zitat mit wertenden Bemerkungen ein. Ein Zitat behandelt Luther immer karikierend. Im Gespräch in O r l a m ü n d e hatte ein Schuster das W e g n e h m e n der Heiligenbilder mit einer Braut verglichen, der Christus das H e m d auszieht. D o r t , wo Luther diese Metapher zum ersten Mal a n f ü h r t , läßt er den Schuster in der Art einer Ethopoiie in seinem Dialekt sprechen: „Er sprach: Jhesusseyf em Euange/i, weys nicht wu es steht, [ . . . ] das die braut muß das hembd nacket auszihen" ( W A 18,84,10ff.). Luther will mit der phonetischen und morphologischen Variation zum
gen, daß ihm das Hirn schwanke, und dann zuführen ( = allegieren) und s p r e c h e n . . . ; 167.4ff. Baumaterialien als Metaphern; 175,31ff. als Aufforderung: K. möge sich eine Brille auf die Nase setzen, sich ein wenig schneuzen und dann den Text ansehen. Vgl. auch die Zitate in A n m . 1.
Martin Luthers argumentative
49
Polemik
Dialekt den zitierten Sprecher lächerlich machen. 1 4 Dies ist ein b e k a n n t e s P h ä n o m e n in der Literaturwissenschaft und in der Dialektologie. 1 5 Luther verwendet hier also ein typisch gesprochensprachliches Mittel der Karikierung. E r verwendet dieses Zitat außerdem regelmäßig zur V e r s p o t t u n g , indem er den bildhaften A u s d r u c k rekonkretisiert, d. h. Karlstadt und die Seinen o h n e H e m d und Hosen dastehen läßt: „die rechten Euangelischen prediger, die der braut zu O r l a m u n d e das h e m b d , und dem breutgam zu Naschausen die hosen auszihen" (93,15ff.; vgl. 114,35f.; 120,1). Luther verschränkt an dieser Stelle drei sprachliche T e c h n i k e n : er interpretiert die bildliche Ausdrucksweise seiner G e g n e r k o n k r e t ; er bezieht die metaphorische H a n d l u n g auf sie selbst als H a n delnde und O p f e r ; und er fügt übertreibend d e r Vorstellung des H e m d a u s z i e h e n s die des H o s e n a u s z i e h e n s hinzu. 1 6 Eine a n d e r e Weise des ironischen Zitierens möchte ich zum Schluß nur erwähnen: das Isolieren eines W o r t e s aus d e m Z u s a m m e n h a n g , um damit Wortspiele zu machen. Karlstadt hatte irrigerweise b e h a u p t e t , das griechische D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n touto d e r A b e n d m a h l s w o r t e (touto estin to soma mou - das ist mein Leib) sei im G e n u s kongruent mit soma ( n e u t r . ) und k ö n n e sich deshalb nicht auf das Brot (artos, mask.) beziehen. L u t h e r widerlegt dies linguistisch und vergleicht dazu auch das nd. dat. Dies gibt den A n l a ß zu Wortspielen. L u t h e r verwendet das D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n als N o m e n : „so hilfft Carlstadt widder Tuto noch tatta" (149,33); o d e r als Verb: „was D . Carlstadt Tuttet o d d e r tattet, kuckelt o d d e r kakellt" (157,17f.). W ä h r e n d „tutten" und ..tatten" Wortschöpfungen sind, greift Luther mit „kuckeln" und „ k a k e l n " auf niederdeutsche abwert e n d e V e r b a dicendi zurück. E r bindet sie mit B i n n e n r e i m e n , gleicher Silbenfolge und e n t s p r e c h e n d e r Alliteration an die erste Verbreihe. 1 7
3.2. Z u n e h m e n d e Identifizierung Karlstadts mit d e m Teufel D e n zweiten u n d letzten hier zu besprechenden Bereich verbaler Imageherabsetzung möchte ich .fortschreitende Verteufelung' n e n n e n , weil Luther Karlstadts Wirken
14
A . Schirokauer weist auf ein ähnliches Beispiel hin, zit. bei Erben (1974), 543, Anm. 163. Vgl. auch Wolf (1980), 57. Auch über den Gebrauch regional gebundener Wörter mokiert sich Luther, z. B. über das Verb kirren!knirren
= ein schrilles Geräusch hervorbringen ( 1 0 8 , 5 - 7 und
109,13 als Verbum dicendi einer Zitatmarkierung!). 15
Z . B . Stellmacher (1977), 159. Der Wechsel vom Hd. zum Nd. wurde in sog. Bauernkomödien systematisch ausgenützt, um den Bauer lächerlich zu machen (Maas [1982], 82f.). Aus dem gesprochensprachlichen Material des Projekts Kommunikation in der Stadt (Institut für deutsche Sprache, Mannheim) wird deutlich, daß neben phonetischen Phänomenen auch paralinguistische eine Rolle spielen: Rhythmus, Stimmhöhe, Artikulationsart ( z . B . gepreßt. dumpf, nuschelnd).
16
B. Stolt (1974), lOOf., 115f., hat an einer Flugschrift Luthers gegen Hieronymus Emser eine ganz ähnliche Applikation einer Metapher gegen den ursprünglichen Benutzer beschrieben. Auch hier: Referenz der metaphorischen Ausdrücke auf den Gegner (die Waffen des Geistes). Rekonkretisierung, Evokation einer zum Lachen reizenden Szene.
17
Vgl. auch 175,25: taratantara. einige Beispiele: auszbubenn
Zu Wortspielen mit Wörtern aus Zitaten gibt Erben (1974), 543. - hyneinbuben;
de. Vgl. Schwitalla (1983), 283.
bindeschlussel
— blindeschlüssel;
legende -
lugen-
50
Johannes
Schwitalla
schrittweise mit d e m d e s T e u f e l s parallelisiert, bis er ihn, k u r z nach B e g i n n des zweiten Teils, explizit mit i h m identifiziert: „ D a s ich y h n n u e y n e n t e u f f e i n e n n e , soll sich niem a n d v e r w u n d e r n " (139,8f.). Schon am 14. D e z . 1524, also noch v o r N i e d e r s c h r i f t d e r Streitschrift, s c h r i e b L u t h e r a n Spalatin, e r solle d i e B ü c h e r Satanae huius z u r ü c k s c h i c k e n (43, A n m . 1). In d e r gegen K a r l s t a d t g e r i c h t e t e n Schrift wagt e r es a b e r nicht, ihn s o f o r t als e i n e n T e u f e l zu bezeichn e n . F o l g e n d e f ü n f S t a d i e n auf d e m W e g bis zur völligen I d e n t i f i z i e r u n g lassen sich a u s m a c h e n (vgl. A b b . Seite 51): 1. L u t h e r k o n s t r u i e r t e i n e r h e t o r i s c h e A n t i t h e s e zwischen d e m H a n d e l n Christi u n d d e m des T e u f e l s u n d d e u t e t d a b e i , n u r f ü r E i n g e w e i h t e v e r s t ä n d l i c h , a n , d a ß K a r l s t a d t sich in d e r S p h ä r e d e s T e u f e l s b e w e g t . 2. Viel h ä u f i g e r setzt a b e r L u t h e r E i g e n s c h a f t e n u n d H a n d l u n g e n d e s T e u f e l s einerseits u n d K a r l s t a d t s a n d r e r s e i t s parallel. D a z u f o r m u l i e r t e r Vergleichssätze u n d n i m m t W ö r t e r ( V e r b e n u n d A d j e k t i v e ) w i e d e r a u f , die er zuerst e i n e m von b e i d e n zugeschrieben h a t t e . 3. Im dritten S t a d i u m läßt L u t h e r d e n T e u f e l d u r c h K a r l s t a d t w i r k e n : d e r T e u f e l spricht u n d h a n d e l t aus i h m . S p r a c h l i c h e r A u s d r u c k f ü r das H a n d e l n des T e u f e l s d u r c h sein M e d i u m K a r l s t a d t sind U m s t a n d s b e s t i m m u n g e n , die mit d e n P r ä p o s i t i o n e n durch u n d aus e i n g e l e i t e t w e r d e n . 4. Bei all diesen P a r a l l e l i s i e r u n g e n spricht L u t h e r a b e r v o n zwei g e t r e n n t e n H a n d l u n g s s u b j e k t e n . Im v i e r t e n S t a d i u m ist nicht m e h r e i n d e u t i g , o b das W o r t teuffei schon auf Karlstadt r e f e r i e r t o d e r nicht. Bei diesen Stellen h a t t e L u t h e r v o r h e r von K a r l s t a d t g e s p r o c h e n , d a n n a b e r plötzlich d e n teuffei e i n g e f ü h r t . D i e T e x t k o h ä r e n z (vor allem d u r c h die Ä h n l i c h k e i t ihrer H a n d l u n g e n ) legt eine Identität n a h e , a b e r a n d e r e sprachliche Z e i c h e n s p r e c h e n d a g e g e n ( z . B . der T e u f e l statt dieser T e u f e l ) . L u t h e r läßt d e n L e s e r u n d H ö r e r im u n k l a r e n d a r ü b e r , ob d e r T e u f e l u n d K a r l s t a d t noch zwei v e r s c h i e d e n e I n s t a n z e n sind. 5. Schließlich n e n n t L u t h e r K a r l s t a d t explizit e i n e n T e u f e l mit d e m o b e n zitierten perf o r m a t i v e n Satz. E r b e h ä l t auch diese Gleichsetzung bis z u m Schluß a u f r e c h t . Sprachlich v e r b i n d e t e r b e i d e d u r c h K o n j u n k t i o n e n ( o d e r , w e d e r . . . n o c h ) in d e r S u b j e k t stelle eines Satzes u n d d u r c h a n d e r e Mittel ( P r ä d i k a t s n o m e n ; a t t r i b u t i v e s , r e f e r e n z identisches D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n ) . L u t h e r war s u b j e k t i v d a v o n ü b e r z e u g t , daß d e r T e u f e l in K a r l s t a d t u n d d e n a n d e r e n , S c h w ä r m e r n ' ein W e r k z e u g g e f u n d e n h a t t e . D i e s g a b i h m das R e c h t , vor K a r l s t a d t wie v o r e i n e m T e u f e l zu w a r n e n . D i e s h i n d e r t e ihn a b e r a n d e r e r s e i t s auch nicht d a r a n , K a r l s t a d t die M ö g l i c h k e i t zur U m k e h r e i n z u r ä u m e n , er bot ihm e i n e V e r s ö h n u n g an ( 9 0 , l l f f . ) . U n d w o e r sich zu e x t r e m e n A u s f ä l l e n h i n r e i ß e n ließ, n a h m er sie nachträglich z u r ü c k o d e r s c h w ä c h t e sie ab. 1 8 A u ß e r d e m w u ß t e L u t h e r , u n d er d e u t e t dies auch a m E n d e d e r Schrift an (213,9), d a ß b e s o n d e r s h e f t i g e s S c h m ä h e n f ü r ihn psychisch entlastend wirkte.19 18
A m auffälligsten, w o L u t h e r den L a n d e s h e r r e n die T o d e s s t r a f e nahelegt. dies d a n n a b e r zurückn i m m t (91.23f.: vgl. 72,15ff.; 90,1 Iff.; 91.18ff.; 2 0 2 . 2 0 - 2 6 ) . Vgl. W A T 1,122.
51
Martin Luthers argumentative Polemik
S' 1t 3
ω •ο Β υ y
Ά
c o ε υ Q