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German Pages 394 [396] Year 1997
B E I H E F T E
ZU
editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER
Band 8
Alte und neue Philologie
Herausgegeben von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanfi
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Für Carl und (den kleinen) Franz, fiir Moritz und Jakob
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Editio / Beihefte] Beihefte zu Editio. - Tübingen : Niemeyer Früher Schriftenreihe Reihe Beiheft zu: Editio Bd. 8. Alte und neue Philologie. - 1997 Alte und neue Philologie / hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Beihefte zu Editio ; Bd. 8) ISBN 3-484-29508-2
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Vorwort
'Alte und neue Philologie' ist der Titel eines vom 19. bis 21. Oktober 1995 in Jena veranstalteten Kolloquiums, aus dem dieser Band hervorgeht. Der Zeitpunkt für eine Debatte scheint uns günstig: Wir erleben eine Phase der kulturwissenschaftlich fundierten 'Rephilologisierung' von Sprach- und Literaturwissenschaften, die nur bedauern mag, wer von der ungeheuren Weite der Philologie, die ihr schon ein August Boeckh eröffnete, keine Kenntnis mehr nehmen will. Wir sind vielen Menschen und Institutionen, die uns bei der Vorbereitung und Durchführung des Kolloquiums und bei der Publikation seiner Akten tatkräftig unterstützt haben, zu Dank verpflichtet, so Georg Braungart (Regensburg) für seine organisatorischen Ratschläge, der Fritz-Thyssen-Stiftung in Köln und dem Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur für ihre rasche und unbürokratische finanzielle Unterstützung, Winfried Woesler (Osnabrück) für seine Bereitschaft, die Akten in die 'Beihefte zu editio' aufzunehmen, und dem Max Niemeyer Verlag - Frau Birgitta Zeller und Frau Antje Michael - für die verlegerische Betreuung. Die Lay-Out-Gestaltung des Bandes übernahmen unsere Mitarbeiter, in Bochum Dr. Angela Schrott, Ilka Kirchhoff, Annette Klaas, Carsten Brall und Martin Kött, in Jena Maribel Brill und Jutta Vach, denen wir für ihren unermüdlichen Einsatz besonders danken. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums schließlich gilt unser Dank dafür, daß sie sich auf unsere Vorschläge eingelassen und uns ein Feuerwerk von Diskussionen beschert haben. Der Band enthält alle in Jena gehaltenen Vorträge, mit Ausnahme des Referats von Karl Maurer, dem es anderweitige Verpflichtungen zu allseitigem Bedauern nicht ermöglichten, die terminlichen Vorgaben der Drucklegung einzuhalten. 1
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K.M.: Textkritik und Vergleichende Literaturwissenschaft oder: Uneindeutigkeit als poetische Textqualität? - Wir danken Karl Maurer nicht nur für sein glänzendes Referat, sondern auch für die scharfsinnigen Beiträge, mit denen er die Diskussion in Jena sehr gefördert hat.
VI Wir widmen den Band - das Einverständnis der Beiträger voraussetzend unseren Kindern.
Jena/ Bochum, im August 1996
Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft
Inhalt
Martin-Dietrich Gleßgen / Franz Lebsanft Von alter und neuer Philologie. Oder: Neuer Streit über Prinzipien und Praxis der Textkritik
1
Teil I. Philologische Traditionen und Kontroversen in verschiedenen Ländern und Disziplinen
Philippe Menard Reflexions sur la 'nouvelle philologie'
17
Alberto Varvaro La "New Philology' nella prospettiva italiana
35
Johannes Kramer Romanistische Schlußfolgerungen aus den Editionsprinzipien der Klassischen Philologie und der Papyrologie
43
Rüdiger Schnell Was ist neu an der 'New Philology' ? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik
61
Dietmar Rieger "New Philology'? Einige kritische Bemerkungen aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers
97
VIII Wulf Oesterreicher Sprachtheoretische Aspekte von Textphilologie und Editionstechnik
111
Wolfgang Raible Das 'Lob der Variante' aus der Sicht des Sprachwissenschaftlers
127
Teil II. Editionsformen und Fragestellungen bei Quellen
mittelalterlichen
Gilles Roques La critique des editions de textes
145
Frankwalt Mähren Edition et lexicographie
153
Ingrid Neumann-Holzschuh Syntax und Editionstypen
167
Thomas Städtler Für eine philologische Interpretation altfranzösischer Motettentexte
189
Maria Selig 'Mündlichkeit' in mittelalterlichen Texten
201
Richard E. F. Straub Gedruckt oder elektronisch? Zu neuen Formen von Textausgaben
227
IX
Teil III Editionsformen und Fragestellungen bei neuzeitlichen Quellen
Jens Lüdtke Zur Edition von Quellentexten zur Geschichte des kolonialen Spanisch
239
Günter Berger Mouvance, variance und die Folgen: Griselda und ihre "Nachkommen'
255
Maria Lieber / Fabio Marri Edition italienischer Texte des 18. Jahrhunderts im Umkreis Muratoris
267
Kurt Kloocke Editionstheorie und Editionspraxis bei französischen Texten der Neuzeit: Die (Euvres completes de Benjamin Constant 283 Sergio Lubello Ecdotica e interpretazione del testo: il capitolo dei materiali epistolari
295
Ralph Ludwig Die Edition mündlicher Texte. Exemplarische Beispiele aus der französischen und spanischen Philologie
309
Teil IV. Romanische Texte in nichtlateinischen
Schriften
Rainer Schlösser Editionsprobleme bei romanischen Texten in griechischer Schrift
337
Till Raczek Editionstypen bei Aljamiadotexten
347
χ Reinhold Kontzi Die Edition von Panzavecchias Übersetzung von Bibelteilen ins Maltesische - Blick in die Werkstatt eines Übersetzers
359
Wolfgang Dahmen Editionsprobleme bei Balkanica
371
Martin-Dietrich Gleßgen/ Franz Lebsanft
Von alter und neuer Philologie Oder: Neuer Streit über Prinzipien und Praxis der Textkritik
Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Blick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit fiir ihre Zeit und kömmt uns gar nicht entgegen, während das modern Unechte auf uns berechnet, daher pikant und entgegenkommend gemacht ist. Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte (1868) 1
1.
'Alt' und 'neu' sind Relationsbegriffe, die oft selbst dort, wo das vorderhand nicht beabsichtigt ist, wertend oder polemisch eingesetzt werden: Und so kommt auch eine 'neue Philologie' immer dann in die Diskussion, wenn eine einst gleichfalls 'neue' Philologie zu stagnieren beginnt, zu veralten scheint. Solch Spiel mit unterschwellig wertenden Worten kehrt daher in zyklischen Abständen wieder, ohne jemals wirklich neu zu sein. Gleichwohl verrät es möglicherweise eine Krisensituation in einem bestimmten Fach, hier also der Philologie, der seit Beginn des 19. Jahrhunderts zur Wissenschaft ausgestalteten Beschäftigung erst mit älteren ästhetischen Texten, dann mit Texten aller Art und Epochen. Anknüpfungs- und Ausgangspunkt für die 'alt-neu'-Diskussion dieser Jahre ist das zugleich arrogante und selbstironische Postulat einer New Philology in einem Themenheft von Speculum, das sich unter dem an New Criticism oder New Historicism anknüpfenden Namen auf Bernard Cerquiglinis brillant geschriebenes Pamphlet Eloge de la Variante beruft. 2 Über den theoretischen und methodischen Wert dieser polemischen Schriften herrscht völliger Dissenz, den es konstruktiv und produktiv zu nutzen gilt. Denn obwohl Cerquiglini vielen eingefleischten Textkritikern offenbar kaum Neues zu bieten vermag, bei denen seine oft verkürzten oder sogar schiefen Stellungnahmen zur Philologie im besten Fall
1
2
Der Text der 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen' auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften herausgegeben von Peter Ganz. München 1982, 250. Für die N e w Philology grundlegende Texte: Bernard Cerquiglini: Eloge de la Variante. In: Langages 17 (1983), 25-35; id.: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989; (cf. schon id.: La Parole Medievale. Paris 1981, 116-123); Stephen G. Nichols (ed.): Speculum 65/1 (1990) (Themenheft mit Beiträgen von Wenzel, Fleischman, Bloch, Spiegel und Patterson).
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Lebsanft
spielerisch-nachsichtigen, eher aber energischen, scharfen oder erbitterten Widerspruch und Protest hervorrufen, so scheint er doch andererseits auch vielen Literatur- und Sprachwissenschaftlern der fremdsprachlichen Philologien, die sich heute oft erst als gewissermaßen Spätberufene den schriftlichen Quellen und den grundlegenden Problemen, Methoden und Techniken ihrer Edition zuwenden, die Augen für ganz neue Welten zu öffnen. Nachdem sich der erste Pulverdampf der Polemik verzogen hat, 3 ist es daher angebracht, der New Philology neidlos die Anerkennung für das Eröffnen einer wichtigen Debatte selbst dann nicht zu versagen, wenn man ihre eigenen Beiträge dazu für wenig förderlich hält. Die hohen Wellen, die der von Cerquiglini, Bloch u.a. ins Wasser geworfene Stein geschlagen hat, verraten nun, mit größerer Gelassenheit betrachtet, zweierlei. Erstens wird in der auffälligen Breitenwirkung eine tief verwurzelte Überzeugtheit von der Unverzichtbarkeit der Textphilologie als Grundlage für Literatur- und Sprachwissenschaft offenbar, die an der Oberfläche seit längerer Zeit nicht mehr auszumachen war. Das Phänomen erinnert ein wenig an die Heftigkeit der weltweiten Reaktion auf eine sachlich unhaltbare Interpretation einiger Qumran-Rollen vor wenigen Jahren,4 in der Theologen mit Recht eine profunde Berührtheit durch testamentarischen Fragen sich gerade bei Atheisten und lauen Christen nach außen kehren sahen. Und auch die jüngste, 1995 in den Feuilletons deutscher Zeitungen teilweise von Fachleuten geführte Diskussion um Albrecht Schönes vom wissenschaftlichen Gehalt her natürlich inkommensurable Faust-Edition, um neue Hölderlin- oder Kafka-Ausgaben gehört in gewisser Weise hierher. Das Thema hat noch immer sein Publikum. Zweitens zeigen die begeistert zustimmenden wie die heftig ablehnenden Reaktionen auf die New Philology in ihrer Polarisierung, daß tatsächlich ein Diskussionsbedarf im weiten Feld der Philologie besteht. Will man sich auf diese Diskussion einlassen, muß man zunächst einen erfolgverheißenden Ansatzpunkt im Ursachenbereich herausarbeiten. Denn wie in jeder Umbruchsituation spielen
3
Erste Stellungnahmen in den USA: Charles B. Faulhaber/ Jerry R. Craddock (eds.): RPh 55/1 (1991-1992) (Themenheft mit Beiträgen von Mary B. Speer, Cesare Segre/ Gian Battista Speroni, Alberto Blecua, German Orduna, Francisco Marcos Marin, Charles B. Faulhaber); Keith Busby (ed.): Towards a Synthesis? Essays on the New Philology. Amsterdam-Atlanta 1993; in Deutschland seitens der Germanistik: Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Joachim Heinzle (ed.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt am Main 1994, 398-428; seitens der Romanistik: Franz Lebsanft: Filologia romänica (e hispänica) y critica textual. In: Notas 1 (1994), 3-11 [die zahlreichen Druckfehler und Verstümmelungen des Textes gehen zulasten des Verlags, der auf eine Fahnenkorrektur durch den Autor verzichtete].
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Dt. Verschlußsache Jesus, 1991, von den amerikanischen Journalisten Michael Baigent und Richard Leigh, gestützt auf die fragwürdigen, falsche Datierungen annehmenden Arbeiten des Orientalisten Robert Eisenman.
Von alter und neuer
Philologie
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hier viele Gründe zusammen, wissenschaftsexterne und -interne. Erstere betreffen, zum Beispiel, die Position von Textphilologen im sozialen Gefüge einer Universität und deren Position wiederum in einer Welt turbulenten Wertewandels; sie rühren, ein weiteres Beispiel, auch daher, daß das 'Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit1 nicht mehr beherrschbare Textmassen selbst für vergangene Epochen entstehen läßt. Weder das eine noch das andere kann die Philologie ohne weiteres aus sich heraus ändern. Sie kann jedoch ihre Position innerhalb der akademischen Welt klären und dadurch stärken. Der Weg hierzu führt über eine theoriefähige Diskussion von Aufgaben und Zielen der Philologie und über eine verallgemeinerbare, weder an einzelnen Personen noch am quisquilienhaften Detail klebende Sanktionierung philologischer Leistungen, sowohl schlechter als auch vor allem guter. Der hier verfolgte Ansatz bemüht sich daher um Theoriefahigkeit und Verallgemeinerbarkeit philologischer Fragen. Zwar geht er von einer spezifischen - deutschsprachigen - romanistischen Tradition aus, die spätestens seit Gustav Gröber (1844-1911) in der Philologie "im engeren Sinn", d.h. der Theorie und Praxis der Edition, ihre Grundlagen findet. 5 Doch weist er über diese Tradition hinaus und tritt in einen Dialog mit den verschiedenen Spielarten der romanischen Philologie anderer Länder und Philologien anderer Sprachen ein. Die New Philology nimmt nicht von ungefähr ihren Ausgang in der sprachlich diffizilen, literarisch in ihrer Rätselhaftigkeit anspruchsvollen und überlieferungsgeschichtlich äußerst komplexen altfranzösischen Dichtung. In der mittelalterlichen Romania, und hier nicht nur im französischen, sondern auch im okzitanischen und italoromanischen Sprachgebiet, stellen sich in der Tat aufgrund der Dichte der Textüberlieferung, aufgrund der markanten Ausgestaltung von Skriptaregionen und aufgrund der mit beidem einhergehenden starken sprachlichen Varianz besonders schwierige editorische Probleme. Dennoch müßten - so der Grundgedanke des Kolloquiums - den Dialog suchende Kenner unterschiedlicher Text- und Textdeutungswelten mit tragfahigeren Ergebnissen aufwarten können als Spezialisten nur einer Epoche, Sprache oder Fragestellung. Allgemeine bzw. Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft, Altphilologie, Germanistik und Romanistik kommen daher zu Worte, und innerhalb der Romania werden nicht nur mittelalterliche, sondern auch frühneuzeitliche, moderne und gegenwärtige Texte unterschiedlichster Art befragt. Die Differenzen und Divergenzen philologischer Traditionen sind nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch zwischen den Fächern und sogar Teilfächern enorm, mit den ent5
Cf. immer noch Gustav Gröber: Einfuhrung in die romanische Philologie. 2. Abschnitt. Aufgabe und Gliederung der romanischen Philologie. In: id. (ed.): Grundriß der romanischen Philologie. Bd. 1. Straßburg 2 1904-1906, 196-202, und die prägnanten §§ 1-5 von Heinrich Lausberg: Romanische Sprachwissenschaft. I Einleitung und Vokalismus. Berlin '1969, 27-39.
Martin-Dietrich Gleßgen/ Franz Lebsanft
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sprechenden Folgen für einen inhaltlichen, methodischen und daraus abgeleiteten forschungsstrategischen Konsens. Dieser Konsens kann daher nur in einem sachlich begründeten Methodenpluralismus zu suchen sein, je nach Überlieferungslage der Texte und Fragestellungen der Herausgeber. Doch kann - so das einhellige Votum der folgenden Beiträge - eine mehrfache Interpretierbarkeit der Texte in jeder Edition angestrebt werden. 2.
Wegen der auf die 'Prinzipien' der Textedition zielenden Fragestellung blieben in Jena zahlreiche handwerkliche Aspekte der Textedition aus der Diskussion weitgehend ausgeklammert, von denen wir nur einige nennen wollen: die Auseinandersetzung mit Editionen, die aus mangelnder Sachkenntnis oder Übersicht heraus entstehen, gespickt mit Transkriptionsfehlern, gegründet auf unhaltbare, nicht genügend explizierte oder im Gegenteil zu breit ausgewalzte Editionskriterien, Editionen ohne hinreichende sprach- und literarhistorische, text- und quellengeschichtliche Vorarbeit oder solche mit ebenso störender Aufblähung gänzlich uninteressanter Detailfragen. Die zeitenüberspannende Relevanz dieser Frage zeigt sich darin, daß keineswegs alle Editionen des 19. Jahrhunderts heute als überholt gelten müssen und daß keineswegs alle der neueren und neuesten Editionen Gültigkeit beanspruchen könnten. Ebensowenig thematisiert wurde die forschungsstrategisch fundamentale Frage, welche Texte überhaupt ediert werden sollten, und, mit dieser verknüpft, wie man den Verlust wertvoller Forschungsenergien vermeiden könnte, der durch die Edition von Texten entsteht, die entweder niemand liest und auswertet oder wesentlich typischer - die bereits mehrfach, oft sogar gut ediert worden sind. Eine kurze Stellungnahme kann daher hier ihren Platz finden: Was etwa die uns am besten vertraute mittelalterliche Romania angeht, so kann als Fernziel der Forschung eine Globalerfassung der Quellen angestrebt werden und dies um so realistischer, als die EDV-gestützte Korpuslinguistik in den letzten Jahren rasante Fortschritte gemacht hat. Der Tag ist schon da, an dem riesige (neuzeitliche) Korpora - in naher Zukunft womöglich nicht allein moderne Editionen alter Texte, sondern auch mittelalterliche Handschriften und frühe Originaldrucke! auf CD-Rom und über die 'Datenautobahnen' des Internet verfugbar sind. 6 Doch
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Frankreich spielt hier innerhalb der Romania eine Vorreiterrolle: Das Korpus FRANTEXT (ca. 170 Mio. Kontexte, 2.650 Werke des 16.-20. Jahrhunderts) des Institut National de la Langue Frangaise (Nancy) ist über Internet nach Abschluß eines entsprechenden Vertrags gegen Gebühren konsultierbar; ein Auszug aus diesem Korpus wird als CD-Rom DISCOTEXT 1 (36 Mio. Kontexte, 300 Werke von 1827-1923) vertrieben. Weitere bekannte Korpora sind für das Englische das British National Corpus (Lancaster), die Bank of English (Birmingham); für das Katalanische das Corpus General de Referenda de la Llengua Ca-
Von alter und neuer Philologie
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zurück zur nach wie vor notwendigeren, dem Computerwerk vorangehenden und selbst neben diesem zur Orientierung unverzichtbaren Edition und deren Gegenstand, den Texten. Ungeprüft ist zwar jeder Text, den wir dann vielleicht auch einmal auf den Bildschirm holen, interessant. Gleichwohl sollte - und dies ist leider keine Platitüde - auch bei einem Ziel globaler Erfassung eine Prüfung der Quelle jeder Edition vorausgehen. Ein Beispiel: Wenn ein spezialisierter Provenzalist argumentiert, daß von 95 bekannten Trobador-Handschrifiten und -Fragmenten 55 mehr oder weniger unmittelbar von den übrigen 40 abgeleitet werden können oder aus anderen Gründen unerheblich sind und daß folglich die Forschung sich auf diese 40 beschränken sollte, hat er Recht. 7 Varianz hin, Varianz her. Bei mittelalterlichen Texten hält sich die Zahl von sprachlich oder literarisch wertvollen trouvailles im erweiterten Variantenapparat erfahrungsgemäß derart in Grenzen, daß sich der Aufwand seines vollständigen Studiums angesichts begrenzter menschlicher und finanzieller Ressourcen in keiner Weise rechtfertigt. Leider gibt es jedoch noch immer keine diplomatische oder semi-diplomatische Edition selbst dieser 40 Handschriften, und auch die angekündigte TrobadorAusgabe auf CD-Rom von Gonfroy und Chatard wird sie nicht erbringen. 8 Eine solche wäre bei dieser, zugleich überschaubaren und hochvarianten Textgattung der sicherste Hintergrund für die allein lesbaren kritischen Editionen, deren Apparat damit zugleich entschlackt werden könnte. Ein zweites Beispiel: Es wäre ebensowenig finanzierbar wie ergiebig, wollte man die mehr als 140.000 Briefe der Korrespondenz von Francesco di Marco Datini (1335ca.-1410) edieren, die im fondo Datini des Archivio di Stato di Prato schlummern; schon eine vollständige Darbietung auf Mikrofiches oder auf CD-Rom würde den Rahmen des Mach- und Verwendbaren sprengen. Dennoch ist es eine der großen Unverständlichkeiten der Mediävistik, daß sie sich bisher, von einigen versprengten Ausnahmen abgesehen, mit der - exzellenten, aber nur
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talana (Barcelona; Texte von 1833-1988, 32 Millionen Wörter im Kontext) für das Spanische die im Aufbau befindlichen Korpora CREA (Corpus de Referencia del Espanol Actual) und CORDE (Coipus Diacronico del Espanol) sowie ADMYTE (Diccionario de la lengua espanola. 1* etapa: la prosa alfonsi, 1992 [kein eigentliches Wörterbuch, sondern eine Textsammlung]; alle Madrid); für das Italienische die LIZ (cf. Wolfgang Schweickard: Neue Medien und historische Lexikographie: die 'Letteratura Italiana Zanichelli (LIZ)' auf CD-Rom. In: Günter Holtus/ Johannes Kramer/ Wolfgang Schweickard (eds.): Italia et Romanica. Festschrift für Max Pfister zu seinem 65. Geburtstag. Tübingen [im Druck]). Zur Korpuslinguistik cf. z.B. J. Svartvik (ed.): Directions in Corpus Linguistics. Berlin 1992. Francois Zufferey: Recherches linguistiques sur les Chansonniers proven9aux. Geneve 1987,4. Das noch in Bearbeitung befindliche Werk wurde vorgestellt auf dem IV. Kongreß der Association Internationale des Etudes Occitanes (AIEO) in Toulouse, August 1996.
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einbändigen - Editionsauswahl von Melis begnügt hat.9 Eine Edition von zweioder dreitausend Briefen würde unsere sprachliche und kulturhistorische Kenntnis des Trecento beachtlich erweitern, und auch für Briefmodelle und rhetorische Muster einiges ergeben. Die übrigen 137.000 Briefe wären dann wesentlich weniger interessant. Allgemeiner gesprochen gibt es also nicht nur dem je einzelnen Text inhärente, qualitative Kriterien für das Maß an 'Interesse', das sich nach Originalität und Ausdruckskraft oder Repräsentativität für bestimmte Aspekte einer Kultur bestimmt, sondern auch quantitative. Wenn, um nochmals ein Beispiel zu nehmen, katalanische Texte des 14. Jahrhunderts seltener sind als toskanischer Zeugen derselben Epoche, müssen erstere intensiver betrachtet werden. Oder umgekehrt, bei den toskanischen Texten sind Abstriche zu machen. Sobald die Quellenmasse überhand nimmt, was besonders bei dokumentarischen Quellen bereits für das Mittelalter geschehen kann, muß man auswählen, doch mit dem Ziel einer exemplarischen Erfassung aller Quellentypen und der an diese gebundenen 'Diskurs'strategien und sprachlichen Eigenheiten. Analog gilt dies für die Texte der frühen Neuzeit und der Moderne, wo die Quellenflut noch größere Vorsicht gebietet, wo wir aber andererseits nicht auf ein exemplarisches Studium der verschiedenen Äußerungen von Schriftlichkeit - schließlich der einzige historisch zugängliche Niederschlag der Sprache - verzichten dürfen. Einer Beschränkung nur auf Textformen mit hohem ästhetischem Anspruch wird heute ohnehin niemand mehr das Wort reden. Es übersteigt unsere Kraft, alle vorhandenen Editionstendenzen und Editionslücken auch nur in einer einzigen der hier zu Worte kommenden Disziplinen aufzuzeigen. Einige, zugegeben etwas kunterbunt gestellte Fragen drängen sich uns als vorwiegend mediävistisch arbeitenden Romanisten freilich auf: Warum ist noch immer keine der großen medizinischen Abhandlungen Italiens in volgare ediert? 10 Warum sind die edierten dokumentarischen Quellen des spanischen (oder gar portugiesischen) 14. und 15. Jahrhunderts so ungenügend gesichtet, mit allen Folgen für eine noch ausstehende iberoromanische Skriptaforschung? Warum stagnieren die Documents linguistiqiies de la France nach einem okzitanischen (Meyer 1909) und zwei französischen Bänden (Gigot 1974, Lanher 1975) nunmehr seit Jahrzehnten? Den klarsten Blick bei der Sichtung und Einschätzung von Quellen verschafft in unserem Fach die historische Lexikographie, die eine auf Vollständigkeit ge9
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Federico Melis: Documenti per la storia economica dei secoli XIII-XIV. Firenze 1972; cf. die wesentlichen Angaben in der Rezension von Elke Sallach zu Andrea Bocchi: Le lettere di Gilio Amoruso, mercante marchigiano del primo Quattrocento. Tübingen 1991. In: RLiR 57 (1993), 210-214, bes. η. 1 und 3. Cf. Martin-Dietrich Gleßgen: Die Falkenheilkunde des 'Moamin' im Spiegel ihrer volgarizzamenti. Tübingen 1996. Bd. 2,411-413.
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Philologie
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richtete bibliographische Erfassung älterer Texte immer stärker mit Editionskritik und zum Teil sogar mit Manuskriptprüfung verbindet. Methodisch wegweisend ist die Bibliographie des ursprünglich 'linguistischen', inzwischen jedoch immer stärker 'philologisch' angelegten DEAF, die zum Teil auf den Dokumentationen des GRLMA und den Literaturlisten des (von Beginn an 'philologischen') Tobler-Lommatzsch aufbaut. Doch stecken auch in der Bibliographie des DOM, des LEI und GAVI sowie des DEM noch enorme Potentialitäten.11 Erwähnt werden können in diesem Zusammenhang einige - nicht alle - konsequente Versuche, große mediävistische Editionslücken zu schließen, etwa für das Französische die Reihe der Classiques franqais du Moyen Age, der Textes litteraires frangais oder der Anglo-Norman Texts, für Italien nur als ein thematisch begrenztes Beispiel die Testi siciliani dei seccoli XIII e XIV oder ähnlich für Spanien die Documentos mozärabes. Neue Impulse sind weiterhin vom auf fünf Bände angelegten Werk Inventaire systematique des premiers documents des langues romanes zu erwarten. 12 Nicht alle Versuche dieser Art können in gleicher Weise als geglückt gelten auch hier macht sich der Mangel eines ausreichenden Sanktionsinstrumentariums schmerzlich bemerkbar. Unglücklich angelegt sind z.B., bei all ihrem Wert, die altspanischen 'Editionen' Madinsonscher Prägung, die gleichwohl eines Tages einem großen Wörterbuch (und damit wiederum dem Textverständnis) nützen mögen. Vorläufig liefern die zahlreichen diplomatischen Abschriften 13 eine Masse halbfertig geschliffener Edelsteine, die kaum deutbar in MikrofichesSchränken abgelegt werden. Diplomatische oder semidiplomatische Editionsformen sind zweifelsohne sinnvoll, doch werden sie normalerweise nur bei in Umfang wie Menge überschaubaren, besonders schwierigen Textzeugen eingesetzt, und dann auch, z.B. bei den Chartae latinae antiquiores,14 bei der ange11
Hans Robert Jauß/ Erich Köhler (eds.): Gnindriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Heidelberg 1972-; cf. Frankwalt Möhren (ed.): Dictionnaire Etymologique de l'Ancien Franijais. Complement bibliographique. Tübingen 1993 (dazu: Bibliographie. Supplement et complement. 1995 [redaktionsinternes Skript]); Helmut Stimm/ Wolf-Dieter Stempel (eds.): Dictionnaire de l'Occitan Medieval. Supplement bibliographique. Tübingen [im Druck]; Max Pfister (ed.): Lessico Etimologico Italiano. Elenco delle fonti antiche e moderne. 1994 [redaktionsinternes Skript]; Giorgio Colussi (ed.): Glossario degli antichi volgari italiani. Bibliografie dei volumi l^t, 16/1, 16/2, 16/3. Helsinki 1994; Bodo Müller (ed.): Diccionario del espanol medieval. Bibliografia. Heidelberg 1987; fürs Altitalienische bearbeitet Lida Maria Gonelli eine umfassende, die Manuskripte berücksichtigende Editionsbibliographie (bisher: Edizioni di testi meridionali antichi dall'Unitä al 1914. In: P. Trovato: Lingue e culture dell'Italia meridionale (1200-1600). Roma 1993, 375-547).
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Eds. Barbara Frank/Jörg Hartmann. Tübingen 1996. Ingesamt weit über hundert Text-Transkripte, geordnet nach Medieval Spanish Series, Medieval Spanish Medical Series etc. Albert Bruckner/ Robert Marichal et al. (eds.): Chartae Latinae antiquiores. Faksimileausgaben sämtlicher lateinischer Urkunden bis zum Jahre 800. Ölten et al. 1945-.
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führten Trobadorlyrik oder in der Papyrologie, notwendigerweise begleitet von alternativen, deutenden Editionsformen. Grundziel der Edition bleibt es, für ein jeweils zu spezifizierendes Publikum les- und verstehbare Texte zu schaffen, ein Ziel, das ohne graphematische, morphologisch-syntaktische, eventuell textlinguistische sowie lexikalische Analyse und ohne darauf gegründete klärende Eingriffe in oder Ergänzungen zum Text schlichtweg nicht erreicht wird. Natürlich kann und darf man keinem Herausgeber eine Analyse seines Gegenstands in allen Facetten zumuten; ein jeder hat aus eigenem, von keiner Autorität zu bestreitendem wissenschaftlichen Recht Vorlieben und besondere Kenntnisse. Auch eignet sich nicht jeder Text für jeden Analyseansatz. Doch bedeutet dies nicht eine grenzenlose Subjektivität vor dem Text: Die Philologie rächt sich - gewissermaßen mit Luther zu reden - an ihren Verächtern. Die nur in jahrelangem Umgang mit den Quellen erworbene Erfahrung läßt sich durch nichts ersetzen: Es gibt ein hoch anzusetzendes editorisches Minimum, das paläographische und kodikologische Übung, philologische Detailfreude und epochenbezogene Grundlagenarbeit voraussetzt und das an einem gerüttelt Maß von Belesenheit in zeitgenössischen Quellen ebensowenig vorbeikommt wie an den Ergebnissen der Textkritik und der Skriptaforschung, an der Sichtung der großen Wörterbücher ebensowenig wie an der unumgänglichen Übung des Übersetzens in eine moderne Standardsprache. Natürlich erschöpft sich die Philologie nicht in dem genannten editorischen Minimum, doch ist sie ohne dieses unmöglich. Daß ein solches 'Minimum' nicht überall gegeben ist, das ist unser eigentliches Problem. Daher hat die Philologie nur dann eine gute Zukunft, wenn die genannte unspektakuläre, geduld- und zeitraubende 'Basisarbeit' am und mit einem literatur-, sprach- oder kulturhistorisch interessanten Quellentext, dessen gelungene Edition und eventuell sogar Übersetzung schließlich mit positiven Sanktionen in der Wissenschaftswelt rechnen kann. 3.
Vor diesem Hintergrund ging es in unserem Kolloquium um das Prinzipielle, also um die Makro-, nicht die Mikroskopie der Textedition. Es wurden im wesentlichen zwei Problemkomplexe behandelt, zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen 'Autor' und 'Werk', nach der Würdigung der Textzeugen im Hinblick auf ihre sprachlich-formale und inhaltliche Aussagekraft und damit letztlich um die Authentizität einer Schrift. Zum zweiten stand die Konsensfähigkeit editorischer Prinzipien im Zentrum der Debatte. Die folgenden Beiträge geben besser Auskunft über deren Verlauf, als eine kurze Einleitung es vermöchte. Nur im Sinne eines Rahmens sollen daher einleitend beide Fragen kurz strukturiert werden.
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3.1. Wer ist der 'Autor' eines Werks? Ist es etwa, um ein bekanntes, viel diskutiertes Beispiel zu nehmen, ein gewisser Chretien de Troyes? Oder ist es Guiot? Und wie steht es mit Godefroi de Leigni, dem 'Vollender' der Karret Gibt es eine geistige und soziale Hierarchie von 'Autor' und 'Kopist' oder sind beide Instanzen gleichen Ranges? War Chretien, Wendelin Foersters Kristian, ein Mensch aus Fleisch und Blut oder gar nur eine phantastische Erzählerfigur, "ein Christ aus Troja/Troyes"? 15 Oder ist der Erzähler etwa nur ein Schemen, der eine sonst unzugängliche mündliche Tradition für uns im Schattenriß sichtbar werden läßt? Ist es, wenn Zweifel angebracht sein sollten, noch sinnvoll, die 'Werke Chretiens de Troyes' herauszugeben? 16 Was ist ein 'Werk'? Wo fangt es an, wo hört es auf? Beginnt es, um wieder ein Beispiel zu nehmen, bei dem Einsatz "L'aventure d'un autre lai, Cum ele avint, vus cunterai." - oder zwingt der Verweis, das vorhergehende Lai miteinzubeziehen und ist daher jegliche Edition, die das nicht berücksichtigt, von vorneherein verfehlt? 17 Kann und darf man aus Sammelhandschriften einzelne Werke herauspräparieren, oder ist die Sammelhandschrifit insgesamt das Werk? Das sind nur wenige Fragen, auf die wir keine einfachen Antworten mehr finden. Die aktuelle und produktive Debatte, welche die New Philology im Gefolge von Bernard Cerquiglini entfacht hat, entzündet sich an diesem Brennstoff. Sie hat wenigstens drei Aspekte. Zum ersten geht es im wissenschaftlichen Streit doxographisch um die Frage der Priorität, darum also, wer diese Probleme zum ersten Mal formuliert und editorisch mitbedacht hat. Ihr Ziel ist nicht so sehr gelehrtenstolze Besserwisserei als die Herausarbeitung und thematische Nutzbarmachung der Gesetze, nach denen wissenschaftliche Erkenntnisse Zustandekommen, zugeschrieben und verbreitet werden. Zum zweiten geht es in der Sache - die in dieser Einleitung nicht entschieden werden kann - um die historisch angemessene Beurteilung von schriftlicher Überlieferung unter den Bedingungen von manuscript culture und print culture. Und zum dritten geht es um die aus der Bewertung der Sache abgeleiteten Prinzipien der Edition, die nicht mehr und nicht weniger sind als die Grundlagen jeglicher geistigen Aneignung von Überlieferung. 18 3.2. Damit kommen wir zum Problem der Edition und ihren Prinzipien, an die schließlich grundlegende Deutungsmöglichkeiten eines Textes gebunden sind. Drei Gedankengänge erscheinen uns wesentlich: 15 16
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Roger Dragonetti: La vie de la lettre au moyen äge. Paris 1980, 13ss. Cf. den Titel der P16iade-Ausgabe: Chretien de Troyes. (Euvres completes. Ed. sous la direction de Daniel Poirion. Paris 1994. So Cerquiglini 1989 (cf. n. 2). Cf. z.B. Reinhold R. Grimm: Für eine Rezeptionsgeschichte der mittelalterlichen Literatur. In: id. (ed.): Mittelalter-Rezeption. Heidelberg 1991 (Begleitreihe zum GRLMA, 2), 15-21.
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3.2.1. In der Editionspraxis treten zwei Grundprinzipien in Widerstreit, jenes der (iabstrakten) Idealität eines stets unerreichbaren Originals' und jenes der (ikonkreten) Faktizität des überlieferten Dokuments. Beide, in einem Kontinuum lagernden Prinzipien, die wir immer wieder mit den Namen Karl Lachmann und Joseph Bedier verbinden, beanspruchen auf eine ihnen jeweils eigene Weise 'Authentizität'. Der höchste erreichbare Grad an Authentizität des Faktischen eignet in den weitaus meisten Fällen den jeweils überlieferten Versionen eines Textes in ihrer materiellen, in Bibliotheken und Archiven zu findenden Form. Dabei sind diese Versionen bereits vom (wenn überhaupt) rekonstruierbaren Archetyp relativ weit entfernt, nicht zu reden vom typischerweise verschollenen Urtext oder gar von eventuell vorangehenden mündlichen Elaborationsformen. Der höchste erreichbare Grad von Authentizität des Ideellen entsteht in einem nach kontrollierbaren Prinzipien rekonstruierten Urtext, wobei dessen ideale Wahrnehmung eine Übersetzung in die Sprache des jeweiligen Lesers oder wenigstens in die moderne Nachfolgesprache der jeweils vorliegenden mittelalterlichen Varietät erforderlich macht. Der 'Urtext' ist also normalerweise nicht überliefert, sondern nur ein Konstrukt - die neolachmanniani Italiens sprächen von 'Hypothese' - , ein Werk der textuellen und sogar sprachlichen Abstraktion, wenn auch keineswegs ein Gebilde hemmungsloser Phantasie. Zwischen den Polen von faktischer und ideeller Authentizität bewegen sich unsere Approximationsversuche, die Editionen. Das Approximative äußert sich selbst in der die verschiedenen Positionen vermittelnden diplomatisch-kritischen oder in der synoptisch-kritischen Edition, also dann, wenn zwei verschiedene Editionsformen für denselben Text nebeneinandergestellt werden. Es entsteht auch in diesen Fällen nichts Absolutes, sondern es werden nur bestimmte Annäherungstypen kombiniert. 3.2.2. Je tiefer der immer schon vorhandene Graben zwischen der Welt des Textes und derjenigen des Editors und Lesers ist, desto gefährdeter ist das Verständnis des Textes und desto größer und stabiler müssen folglich die Brücken sein, die der Editor dem Leser zwischen den verschiedenen Welten baut. Die entscheidende Frage ist - darauf weist die New Philology völlig zu Recht hin - , wie groß und wie stabil diese Brücken sein müssen und dürfen. Wie fremd darf der Text uns bleiben, ohne daß wir als Leser die Hoffnung, ihn dennoch zu verstehen, aufgeben? Wie "entgegenkommend", wie "berechnet" - mit den Worten Jacob Burckhardts - darf der Editor den Text machen? Was gewinnen und was verlieren wir durch entsprechende Editionshilfen? Letztlich kommt bei der Beantwortung dieser Fragen einiges (aber keinesfalls alles) darauf an, fur wen der Editor das Dokument erschließt. Und es ist die in der Tat häufig vernachlässigte Pflicht eines jeden Editors, die jeweilige Bilanz von Gewinnen und Verlusten im Hinblick auf die möglichen Lesergruppen offenzulegen, und das heißt, seine Ar-
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beit am Text in allen ihren Schritten vom Dokument zur Edition nachvollziehbar und kontrollierbar zu machen. Um eine Einsicht jedoch kommt kein Benutzer moderner Editionen älterer Texte herum: Wer meint, keinerlei Informationsverluste hinnehmen zu können, dem bleibt nichts anderes übrig, als die Quellen selbst zu lesen und sich dabei Rechenschaft darüber abzulegen, ob er auf die Informationsgewinne tatsächlich verzichten kann, die ihm aus den Hilfen eines erfahrenen und fleißigen Editors erwachsen. Es ist jedenfalls Skepsis angebracht, ob bei der heutigen Vernachlässigung der sogenannten philologischen 'Hilfswissenschaften' allzu viele 'Philologen' dazu in der Lage wären. Nicht zu reden von dem dabei impliziten Verzicht auf arbeitsteilige Wissenschaft. Ein ganz einschneidendes Hindernis für das heutige Verständnis älterer Texte bildet etwa in der Romania, aber natürlich auch in anderen Sprachgruppen mit vergleichbarer Geschichte, die epochale Grenze zwischen der mittelalterlichen manuscript culture und der neuzeitlichen print culture, d.h. zwischen einer Zeit ohne kodifizierte Dachsprache und einer solchen mit einer expliziten überregionalen bzw. nationalen Überdachung. Will man die von der Welt des Herausgebers und seiner Leserschaft her zu definierende Verstehbarkeit des Textes, um derentwillen man ja ediert, nicht gefährden, muß man bei der Edition mittelalterlicher stärker als bei der Edition neuzeitlicher Texte eingreifen. Ohne eine modernisierende toilette du texte, d.h. zwischen Editor und spezifiziertem Lesepublikum in ihrem genauen Umfang gewissermaßen auszuhandelnde Adaptationen von Worttrennungen, Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung an unsere Wahrnehmungsgewohnheiten entglitte uns Heutigen in vielen Fällen mehr Textsinn als wir durch Belassen alter Schreibgewohnheiten bewahrten. Dies ist völlig anders bei frühneuzeitlichen oder gar modernen Texten, die man auch dann noch unmittelbar versteht, wenn sie diplomatisch wiedergegeben werden zumindest wenn makroskopische Gliederungshinweise und syntaktische sowie vor allem lexikalisch-sachliche Erklärungen dem Leser zu Hilfe eilen. Bei solchen Texten entsteht im übrigen gerade aus der Abweichung von einer expliziten, dem Leser zudem intuitiv-muttersprachlich nahestehenden Norm ein interessanter Untersuchungsgegenstand. 3.2.3. Einen Angelpunkt für die Nutzbarmachung dieser axiomatischen Betrachtungen in der Editionspraxis liefern romanische Texte in nichtlateinischen Schriften: Angesichts der hier durch Transliteration erforderlich werdenden starken Eingriffe in die Vorlage drängt sich eine erste Überlegung auf: Warum sollte man nicht einen mittelalterlichen Text in Lautform übertragen und ihn dann rückübersetzt in Normgrapheme - in reinster Abstraktion wiedergeben kön-
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nen? 1 9 Dagegen spricht, daß die für mittelalterliche Texte typische Varianz innerhalb eines grapho-phonematischen Systems ja auch bei den ins lateinische Alphabet transliterierten Texten gilt. Von dieser Varianz sollte man also nicht abstrahieren, da sie (faktisch und ideell) authentisch zu sein scheint und zudem wenig verständnishindernd ist. Die Editionsformen romanischer Texte in nichtlateinischen Alphabeten, welche die Aufgabe ganzer Schriftsysteme mittels Transliteration zumindest vorsehen, führen umgekehrt die Vorstellung ad absurdum, man müsse in älteren Handschriften die graphische Form der Buchstaben als Distinktivum beibehalten. Ob ein < f>, ein oder ein etc. erscheint, ist zwar nicht für den Schrifthistoriker (der ohnehin mit Handschriften arbeiten muß), wohl aber für Sprachgeschichte, Literarhistorie oder Geschichte ohne jede tiefere Bedeutung. Schließlich kann man von diesen Betrachtungen auch zur Überlegung gelangen, daß in modernen oralen Texten die sog. impressionistische Transkription weniger Wert hat als daß sie Schaden anrichtet: auch hier wird der Phonetiker eine Voll-Transkription benötigen, für Syntax und Lexikologie oder gar Soziologie und Ethnologie ist dagegen die bruchstückhafte Angabe einzelner lautlicher Phänomene wenig relevant und zudem, durch die Entkoppelung vom phonologischen System, irreführend. Die letzten drei, konkreteren Überlegungen nähern sich bereits editorischen Entscheidungen, erklären sie doch, waram es weniger sinnvoll ist, Kalligraphica und sporadische Phonica hervorzuheben, als graphematische Buchstabenfolgen in aller Varianz beizubehalten; warum also , , , , , , , für das altokzitanische Phonem /n/, obzwar phonematisch äquivalent, zu unterscheiden sind, nicht aber z.B. und . Ohne Urteilskraft kommt man im Kontinuum zwischen faktischer und ideeller Authentizität nicht aus. Doch muß ein eigenes Urteil nicht der grenzenlosen Subjektivität und Willkür Tür und Tor öffnen. Natürlich stellt sich die Gretchenfrage der Graphie bei Schriften aus unterschiedlichen Dialektregionen und Schreibtraditionen in unterschiedlicher Weise. So können z.B. die sehr variantenreichen altitalienischen Skriptae jeden Editor 19
In diese Richtung weisen Zuffereys Editionsvorstellungen fur die Trobadorlyrik, cf. op. cit. (cf. n. 7), 319. Karl Voretzsch hat bekanntlich in den Zeiten der Reformperiode des universitären neusprachlichen Unterrichts einmal versucht, in heute nicht mehr akzeptabler Weise, eine Laisse der Karlsreise in Lautschrift wiederzugeben, cf. Karl Voretzsch/ Gerhard Rohlfs: Einführung in das Studium der altfranzösischen Sprache. Tübingen '1966, 197. Gleichwohl kennen wir in Deutschland noch die Tradition, mittelalterliche französische Texte in höchst zweifelhaftem 'Altfranzösisch' zu lesen. (Während man in Frankreich unbekümmert den alten Graphien eine moderne Lautung überstülpt.) Grundlage des Voretzschen Versuchs ist jene an Viollet-Leducs architektonische Rekonstruktionen gemahnende critique des formes, der man heute immer noch - zu Unrecht - den Stempel 'Lachmann' aufdrückt.
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in die Enge treiben; doch sind immer vernünftige Lösungen möglich. Das gilt auch für die stets heiklen Interpolationen in einer Leithandschrift aus einem anderen, diatopisch und/oder diachronisch fernstehenden Manuskript. Hier ist der zu Recht üblicherweise gegangene Weg eine "Normalisierung' nach der impliziten Norm der Leithandschrift, unter Angabe der beiden Originalformen im Apparat. Für die graphische Form eines Textes ist eine Leithandschrift als Maß allemal einer rekonstruierten Norm vorzuziehen. Was Wortschatz und Syntax und damit den Inhalt angeht, sind der Kombinationsfreude geringere Schranken auferlegt. Womit der philologische Kreis wieder bei Lachmann und Bedier angekommen wäre.
4. Ein letzter Gedanke unserer einleitenden Überlegungen ist, daß die Scheidung zwischen 'wissenschaftlicher' und 'unwissenschaftlicher' Edition zu überdenken wäre. Die Menschen unserer Welt, die überhaupt ältere Texte lesen, sind nicht nur in der Lage, dem editorischen Minimalprogramm der Spezialisten zu folgen, sondern sie wollen es sogar. 20 Die Unterscheidung zwischen einer Edition für die Wissenschaft und einer anderen für ein breiteres Publikum sollte sich mehr auf den Umfang des Apparats beziehen als auf die Form des Textes. Genau wie es zwar durchaus verschiedene, unterschiedlichen Erkenntnisinteressen dienende, jedoch nur gleichermaßen wissenschaftliche Editionen geben kann. Der Umfang des lexikalischen Kommentars etwa darf und sollte je nach anvisierter Leserschaft verschieden sein, nicht aber die aus diesem abgeleiteten notwendigen Folgerungen für die Wortdeutung, die sich in Anmerkungen manifestieren müssen. Die Aufgabe der Philologie ist es, eine Besserung der Editionspraxis auch außerhalb der Wissenschaft anzustreben. In der Romanistik dürfen Reihen wie - in Frankreich - die Lettres Gothiques, ζ. T. die Pleiade und - in Deutschland Reclams zweisprachige Ausgaben oder auch die Klassischen Texte des Romanischen Mittelalters nicht von härtester Kritik verschont bleiben, weil es sich um Ausgaben für Nichtspezialisten handelt. Hier ist im Gegenteil die Philologie gefordert, Editionskriterien zur allgemeinen Norm zu machen, die ältere und alte Texte im erörterten Sinne möglichst authentisch und verständlich zugleich darstellen. Sie ist gefordert, die geläufige, doch ärgerliche Unpraxis in der Editionswelt, das oft starke Auseinanderklaffen von editorischer Theorie (der Einlei20
Dies ergab eine französische Umfrage bei potentiellen Nutzem einer Datenbank von Texten des 16. und 17. Jahrhunderts; cf. Gerhard Ernst: Zur Herausgabe autobiographischer NonStandardtexte des 17. (und 18.) Jahrhunderts: fur wen? wozu? wie? In: Guido Mensching/ Karl-Heinz Röntgen (eds.): Studien zu romanischen Fachtexten in Mittelalter und früher Neuzeit. Hildesheim/ Zürich/ New York 1995,45-62, hier 59.
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tung) und Praxis (in der Edition selbst) in jedem Einzelfall neu zu erspüren und zu wägen, zu prüfen, ob es aus mangelnder Konsequenz, unzureichender philologischer Urteilskraft oder aus der Komplexität der praktischen Probleme heraus entsteht. Dazu muß sie natürlich selbst erst das Edieren wieder als etwas Wertvolles wahrnehmen.21
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Wir verzichten auf eine Zusammenfassung der folgenden Beiträge, die beredt genug ihre Sache vertreten. Bei der Lektüre schälen sich in verschiedenen Variationen vertonte Grundharmonien heraus. In einem Beitrag offene Enden flicht ein anderer fort, der mit anderer thematischer Akzentuierung begonnen hat. Besser als das heute ein einzelner Mensch vermöchte, entsteht in diesem Zusammenspiel eine Symphonie, aus der sich komplexe Gewißheiten und schwierige, aber klare Fragestellungen ableiten lassen. Die Bilder werden schärfer konturiert.
Teil I. Philologische Traditionen und Kontroversen in verschiedenen Ländern und Disziplinen
Philippe Minard
Reflexions sur la 'nouvelle philologie'
Depuis quelques annees tout particulierement aux Etats-Unis il est question de 'nouvelle philologie'. Le concept a ete employe dans la Romanic Review de 1988.1 La grande revue d'histoire medievale, Speculum, habituellement mieux inspiree, lui a consacre un numero special et a donne la parole aux tenants de la 'nouvelle philologie'.2 Dans plusieurs colloques il en a ete question.3 Le recueil d'articles rassemble par Keith Busby, intitule Towards a Synthesis? Essays on the New Philology (Amsterdam 1993), donne une bonne idee des ambitions de la nouvelle philologie et surtout des resistances qui se sont manifestees. 4 Que devons-nous penser de cette querelle? En quoi peut-elle nous instruire dans notre travail scientifique? On me permettra de rassembler mes observations en trois grandes parties. La premiere, qui sera la plus courte, s'interrogera sur la philologie traditionnelle. Qu'est-ce done que la philologie? On essaiera de faire retour sur le passe. Dans une seconde partie il sera question des ambitions des nouveaux philologues. Enfin une troisieme partie essaiera de montrer la vanite de leurs pretentions.
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Cf. RR 79 (1988), 1-248, notamment 1'article de R. Howard Bloch: The Medieval Text, 'Guigemar1, as a Provocation to the Discipline of Medieval Studies. Cf. Speculum 65 (1990), 1-108 et notamment l'introduction de Stephen G. Nichols, les r6flexions de Siegfried Wenzel, 1'article d'orientation linguistique de Suzanne Fleischman, l'essai litt6raire "New Philology and Old French' de R. Howard Bloch et aussi deux travaux moins directement en rapport avec notre propos, Tun de Gabrielle M. Spiegel sur Phistoire, l'historicisme et la logique sociale des textes au Moyen Age, l'autre de Lee Patterson qui traite du Postmodernisme et des etudes medievales. Par ex.: The New Medievalism, edite par Marina S. Brownlee, Kevin Brownlee et Stephen G. Nichols. Baltimore 1991. Dans cet ouvrage les tenants de la nouvelle philologie sont peu nombreux: Donald Maddox et Evelyn Birge Vitz, William D. Paden en partie. Les adversaires tiennent le haut du pave: Richard O'Gorman, Keith Busby, Haijo J. Westra, et surtout Barbara N. Sargent.
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1. Qu'est-ce que la philologie? II n'est pas possible de faire ici un examen approfondi du passe de notre discipline, de regarder attentivement Γ apparition du mot dans les grandes langues de culture, tout particulierement en Allemagne son lieu de naissance (comme on sait, la science allemande a donne la philologie au monde) ni meme d'examiner les diverses voies qu'elle a prises. II faudrait plusieurs livres pour cela. On tentera d'aller a l'essentiel en mettant l'accent sur les realites fransaises. Les divers emplois du mot philologie, l'accent mis tantot sur un element, tantot sur un autre meriteraient de retenir l'attention. On pourrait y consacrer beaucoup de temps. Chaque grand esprit imprime sa marque a la philologie qu'il pratique. Premiere remarque: il faudrait partir de l'Antiquite. On ne s'occupera pas ici d'examiner avec soin les emplois du mot philologos ou philologia en grec. Notons seulement que cette famille de mots a designe le goüt de la parole, le fait d'avoir la langue deliee (il y a des exemples assures chez Platon), en meme temps le goüt de la discussion, de la dialectique et aussi le goüt pour la Htterature, pour l'erudition (des Platon ces diverses valeurs apparaissent). L'accent mis sur l'idee d'erudition s'est developpe chez Aristote, chez Plutarque, d'une maniere generale ä l'epoque alexandrine. Assez tot il fut question de recherches portant sur les mots. Des la periode alexandrine la philologie passait pour une science tournee vers 1'interpretation des textes. En latin le philologus est surtout un lettre, un erudit, un savant: il y a des emplois tres nets chez Ciceron, chez Suetone, chez Seneque. La philologia, qui garde encore au temps de Ciceron le sens de 'amour des lettres' prend chez Seneque la valeur de 'etude des textes, commentaire, explication des textes'. Dans l'Antiquite classique les grandes lignes de l'histoire ulterieure du mot sont dejä precisees. Deuxieme observation: dans l'Antiquite chretienne et au Moyen Age les termes de cette famille ne sont quasiment plus guere employes. lis ne figurent pas dans le Dictionnaire latin-frangais des auteurs Chretiens d'Albert Blaise (1954), pas plus que dans le Lexicon latinitatis Medii Aevi du meme auteur (1975). Les penseurs Chretiens n'ont pas employe ces mots. Bien qu'ils n'aient pas neglige l'erudition, ils ont sans doute rabaisse la philologie. II leur suffisait que la theologie s'occupät du sens de l'Ecriture. La lectio divina Γ a empörte sur la critique textuelle. En fran9ais le mot apparait tardivement, au XV' siecle, dans un texte savant. II s'agit d'un caique du latin dans la traduction de la Cite de Dieu de saint
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Augustin faite par Raoul de Presles. Le terme signifie alors Tamour des lettres'.5 L'emploi moderne en frarnjais n'existe qu'a partir du XDO siecle. C'est sans doute sous Γ influence de Vico, qui souhaitait apprehender le monde historique par une science totale, que le mot fait son apparition dans la science allemande. Dans son Grundriss der romanischen Philologie, dont la premiere edition date de 1888, Gustav Gröber indique (ibid., 89) que les chaires de philologie romane sont anciennes en Allemagne: d'apres lui 1830 ä Bonn pour Diez, 1833 ä Halle, 1836 ä Marburg, 1844 a Tübingen. Sous Γ influence de la pensee allemande le mot philologie fait son apparition en fran9ais au debut du XIX° siecle avec le sens de 'etude des langues, science des langues' (1802). Les termes de philologie du Moyen Age, de philologie classique apparaissent en France des 1818 sans doute au sens de 'etude des textes', celui de philologie comparee un peu plus tard en 1840 chez Renan. 6 La valeur si importante de 'analyse critique des textes' notamment par la paleographie, par l'etude des manuscrits, par la codicologie, par l'examen des variantes et le souci de retrouver le texte original se precise en France au cours du XIXe siecle. L'Ecole pratique des Hautes Etudes, creee par decret imperial en date du 31 juillet 1868 possede une section, la quatrieme, intitulee "sciences historiques et philologiques". Gaston Paris y fut directeur d'etudes en 1869 dans un emploi de "philologie romane". Dans l'universite fran^aise le mot de "philologie" apparait assez tardivement. Toutefois on a fait de la philologie sans le savoir, dans des postes de "langue et litterature" ou de "grammaire comparee". En me fondant sur une these tres instructive, celle d'Albert Guigue, intitulee La Faculte des Lettres de l'universite de Paris depuis sa fondation (17 mars 1808) jusqu'au ler janvier 1935 (Paris 1935), je constate que les vieilles denominations du type "eloquence latine" ou "eloquence fransaise", chaires creees en 1809 pour l'etude de la litterature, continuent d'exister longtemps. La chaire d'Eloquence fran?aise a ete occupee par Gustave Lanson de 1903 a 1922. Elle existait encore en 1935. Dans les vingt dernieres annees du XIX° siecle on disait habituellement "langue et litterature" ou "litterature": ainsi la chaire de "langue et litteratures de 1'Europe meridionale" creee en decembre 1879 (elle se serait appelee "Philologie romane" en Allemagne) a ete occupee par Jeanroy a partir de 1909. Un emploi de "philologie latine" a la Sorbonne est cree parmi les maitrises de conferences en 1881 pour Havet.7 En 1909 l'emploi de "litterature du Moyen Age et philologie romane" est cree pour Antoine Thomas.8 Mais le terme reste rare. II faut attendre le premier tiers du XX" siecle pour que le mot de 5 6 7 8
Cf. TLF XIII, 249. Cf. TLF, ibid. Guigue, op. cit, 42. Guigue, op. cit., 21.
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"philologie" se repande dans l'enseignement superieur en France: "philologie fran^aise" en 1923 a la Sorbonne pour Huguet, "philologie anglaise" en 1927, "philologie latine" en 1934 pour Ernout. Queis ont ete les buts de la philologie? Dans son Grundriss Gustav Gröber a consacre des pages tres denses au developpement et aux buts de la philologie en Occident. II se fonde sur plusieurs travaux, dont le plus ancien est celui de Bernardy, Grundlinien zur Enzyklopädie der Philologie (1832) et le plus recent le travail de F. Mahn, Entstehung, Bedeutung, Zweck und Ziele der romanischen Philologie (1863). II rappeile que la philologie antique a servi de modele a la philologie romane. II indique les grandes voies de la philologie qui vont de l'etude de la langue parlee et ecrite jusqu'a l'etude des litteratures. II precise la methode ä suivre ("Methodik und Aufgaben der Sprachwissenschaftlichen Forschung", ibid., 209-250). La methode historique dans l'etude des langues donne lieu a considerations sur la syntaxe historique, la lexicologie historique, la morphologie et la phonetique historiques (ibid., 224-231). Les memes domaines sont examines ensuite dans une perspective genetique ("genetische Sprachforschung", ibid., 231-250). L'etude de la langue des textes ne suffit pas a ces savants qui englobent dans leurs recherches l'examen de la litterature, et d'abord la critique textuelle necessaire a l'etablissement des textes. Adolf Tobler consacre un developpement a la "Textkritik" (ibid., 253-263), puis a la "literarhistorische Kritik" (ibid., 263272), enfin a la "Hermeneutik", c'est-ä-dire a Γ interpretation des mots et des ceuvres. La philologie voyait grand. Elle s'est voulue de tres large ouverture. Cette ambition est ancienne. Le dictionnaire de Furetiere en 1690 definit ainsi la philologie: "science composee de grammaire, de rhetorique, de poetique, d'antiquites, d'histoire et generalement de la critique et interpretation des auteurs".9 Le sens de "etude generale des langues" remonte a 1818, ä Schlegel, dans ses Observations sur la langue et la litterature provengale (ibid., 62; cf. FEW, t. VIII, 381). Dans VAvenir de la science (1890) Renan ecrit: La philologie, en effet, semble au premier coup d'oeil ne präsenter qu'un ensemble d'etudes sans aucune unit6 scientifique. Tout ce qui sert ä la restauration ou k Pillustration du pass6 a droit d'y trouver place. Entendue dans son sens itymologique, eile ne comprendrait que la grammaire, l'exigöse et la critique des textes: les travaux d'erudition, d'archeologie et de critique esthitique en seraient distraits. Une telle exclusion serait pourtant peu naturelle (ibid., 128).
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Definition cit6e par Wartburg: FEW. VIII, 381. Cette definition, notons-le, est reproduite dans: Dictionnaire de Tr6voux. Nouv. ed. tome IV, 1732.
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Entre 1870 et la seconde guerre mondiale la philologie a eu cette ambition de totalite. Elle voulait tout embrasser, comprendre integralement le passe, etre la science totale. Ernst Robert Curtius dans la preface de la deuxieme edition de son grand livre La litterature europeenne et le Moyen Age latin (1953) indique clairement qu'il a dü utiliser "cette technique scientifique qui est ä la base de toute recherche historique: la philologie. Elle est aux sciences de l'esprit ce que les mathematiques sont aux sciences physiques et naturelles ...". Et il ajoute: J'ai essayd de m'en servir avec la meme precision, la meme intransigeance que les sciences physiques et naturelles se servent de leurs methodes. La giometrie demontre ä l'aide de figures, la philologie ä l'aide de textes. Les math6matiques peuvent έ bon droit se vanter de leur exactitude. Mais la philologie est, eile aussi, capable de rigueur: il lui faut apporter des resultats verifiables."^
L'äge d'or des etudes philologiques s'etend peut-etre du dernier tiers du XIX° siecle jusqu'au milieu du XX° siecle. Depuis lors l'idee de la division du travail s'est repandue. Au desir d'universalite de la philologie s'oppose la fragmentation du savoir, la specialisation. Dans plusieurs pays 1'antique philologie s'est divisee en une pluralite de sciences plus ou moins independantes: par exemple la paleographie, la lexicologie, l'etude d'une litterature particuliere, voire d'un domaine particulier a l'interieur d'une discipline. L'essor de la linguistique depuis une trentaine d'annees, puis celui de la semiotique ont laisse la philologie au second plan. Au lieu d'user du mot de philologie, certains aujourd'hui parlent de semiotique ou d'hermeneutique. Ce sont les nouvelles methodes d'interpretation des textes. Mais il n'en va pas ainsi partout. Les etudes philologiques se portent bien en plusieurs pays, notamment en Allemagne et en Italie. On y conserve la vieille appellation de "philologie romane". Aux yeux de maints savants la philologie traditionnelle ne semble done ni perimee ni depassee. 2. La nouvelle philologie Quelles sont les ambitions de la nouvelle philologie? Resumons-les rapidement. 1) D'abord le goüt de la reflexion abstraite. Ne demandons pas quelle theorie suivraient les nouveaux philologues. II leur serait difficile de le dire. Serait-ce le formalisme de Zumthor? la psychanalyse freudienne ou bien celle de Lacan? La semiologie de Greimas? la narratologie de Gerard Genette? la semiotique? la sociologie ou bien l'anthropologie? Faudrait-il y ajouter quelques brins de marxisme? On serait en peine de le dire. Les maitres reconnus par R. H. Bloch
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Je cite la traduction de J. Br6joux. Paris 1956, XII.
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Philippe Minard
dans son livre Etymologie et Genealogie sont Barthes, Derrida, Lacan, Foucault. 11 A vrai dire, parmi les nouveaux philologues aucun ne souhaite s'entendre avec autrui pour fonder une doctrine commune. Chacun suit sa propre voie, sans se soucier de ses congeneres. Sous le terme de 'nouvelle philologie' on rassemble abusivement des realites disparates. Les livres d'Alexandre Leupin ne ressemblent en rien a ceux de R. Howard Bloch. Faudrait-il penser qu'en melangeant plusieurs techniques d'approche, par exemple linguistique et semiotique ou bien freudisme et narratologie ou encore semiotique et anthropologic on arriverait ä trouver un denominateur commun? On peut en douter. L'ambition de modernite ne fait aucun doute. Mais Γ extreme diversite des neophilologues est patente. Iis n'ont pas de doctrine unique. Iis ne forment pas un corps d'armee ni meme un bataillon. Chacun est isole sur le terrain qu'il occupe. Retenons la volonte d'avancer des considerations theoriques, de railler les predecesseurs, le desir de se trouver ä l'avant-garde de la recherche, de se poser en s'opposant. Notons la pretention d'user de plusieurs disciplines dans une sorte de melting pot. Les recherches de R. H. Bloch voudraient etablir un pont entre ethnologie, linguistique, philologie, philosophie, histoire intellectuelle, sociale, institutionnelle, litteraire.12 De telles ambitions peuvent surprendre. Dans le cours d'une vie scientifique a-t-on le temps de faire le tour de tous les problemes poses par une seule de ces disciplines? Comment maitriser tant de sciences et de techniques? Devant ces efforts et ces pretentions on eprouve une legitime inquietude. 2) L'idee que les textes ne delivrent pas un sens unique est egalement avancee. R. Howard Bloch, critique audacieux et provoquant, le declare sans ambages. Dans l'article New Philology and Old French publie dans Speculum il pretend qu'il n'y a pas au Moyen Age de "transparence litteraire" ("literary transparency") permettant l'etablissement du sens d'une oeuvre poetique. 13 Tout au contraire a ses yeux l'ancien fran