Kontingenz oder das Andere der Vernunft: Zum Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft und Religion 3515098577, 9783515098571

Wir leben in einer Zeit, in der die alten Ordnungsgaranten ihre Orientierungskraft verloren und die Ordnungsbrüche zu vi

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German Pages 300 [302] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
A. Grundlagen
B. Kontingenzbewältigungen
C. Kontingenzbegegnungen
Literatur
Namenverzeichnis
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Kontingenz oder das Andere der Vernunft: Zum Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft und Religion
 3515098577, 9783515098571

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Umschlagabbildung: Compostion, 1921 (w/c on paper) by Lyubov Sergeevna Popova (1889–1924) Regional Art Museum, Nukuz/ The Bridgeman Art Library Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09857-1 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

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Einleitung ..................................................................................7 A. 1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4

B. 5. 5.1 5.2 6. 6.1 6.2 7.

Grundlagen Unverfügbarkeit und Kontingenz ....................................... 21 Zum Aufbau individueller Lebenswelten ............................ 21 Der logische Kontingenzbegriff und seine Differenzierungen .............................................................25 Die Religionsphilosophische Kontingenz ............................35 Definition.........................................................................35 Erläuterungen ..................................................................36 Formen des Umgangs mit der Kontingenz ..........................40 Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung ..............40 Kontingenzanerkennung und Kontingenzbegegnung ...........42 Abgrenzungen ..................................................................45 Der theologisch motivierte Kontingenzbegriff .....................45 Der diachronische Kontingenzbegriff .................................50 Kontingenz in der Soziologie .............................................56 Kontingenz und der hermeneutische Zufallsbegriff ............. 67 Kontingenzbewältigungen Die Selbstorganisation der Natur .......................................83 Kontingenzbewältigung in der wissenschaftlichen Praxis ....83 Selbstorganisation als dogmatische Extrapolation ...............86 Der Mythos von einem modernen wissenschaftlichen Weltbild ..............................................92 Die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft und die »Theorie für Alles«................................................92 Die historischen Entstehungsbedingungen der modernen Wissenschaft .............................................99 Die menschliche Selbstermächtigung und die Autonomie der Vernunft ................................................................... 103

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7.1 7.2 8. 8.1 8.2 8.3

C. 9. 9.1 9.2 10. 10.1 10.2 10.3 11. 11.1 11.2 12. 12.1 12.2

Partielle Kontingenzbewältigungen in der Philosophie....... 104 Beiträge der Naturphilosophie ......................................... 108 Die Demaskierung der »großen Erzählungen« und die Möglichkeit von Religion..................................... 123 Die großen Erzählungen als Manifestationen der autonomen Vernunft ................................................. 123 Zur Phänomenologie....................................................... 127 Zur analytischen Philosophie .......................................... 136 Kontingenzbegegnungen Die Dimension des Religiösen .......................................... 155 Das Allgemeinreligiöse und der ontische Vorbehalt ........... 155 Definitionsversuche zur Religion und die Rolle der Gemeinschaft ........................................................... 162 Das Sprechen vom Unsagbaren in der Philosophie ........... 175 Das Unsagbare bei Martin Heidegger ............................... 177 Das Unsagbare bei Ludwig Wittgenstein ...........................191 Das Unsagbare in der Postmoderne .................................. 206 Adäquate Darstellungsformen im Spannungsfeld des Unsagbaren .............................................................. 227 Kontingenzbegegnung und absolute Metaphern................ 228 Anspruch und Grenzen der »negativen Theologie« ............ 236 Rückschau und Ausblick ................................................. 267 Herausforderungen der Endlichkeit .................................. 267 Spuren des Anderen im Antlitz des Menschen .................. 275

Literatur ................................................................................. 283 Namenverzeichnis .................................................................. 296

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In einer Zeit, die durch weit verbreitete Skepsis, Ratlosig- und Richtungslosigkeit auf der einen, durch blinden Aktivismus, rücksichtsloses Machtstreben und beschränkten Fundamentalismus auf der anderen Seite geprägt ist, stellt sich immer wieder die Frage, warum Wissenschaft, Vernunft und Religion ihre einstigen positiven Möglichkeiten als Ordnungsgaranten verloren haben, ja von diesen die gegenwärtigen leidvollen Zustände sogar teilweise mit verursacht wurden. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, dieses grundsätzliche Problem von der Philosophie aus zu beleuchten und durch Grenzziehungen zwischen den erwähnten Instanzen sie, in der Erinnerung an ihre eigentlichen Bestimmungen, in ihre Schranken zu weisen, um damit gleichzeitig eine Öffnung zur Toleranz für das Andere der Vernunft zu erzielen. Auch die Philosophie des 20. Jahrhunderts war infolge des Zusammenbruchs alter Ordnungen im geistigen wie im gesellschaftlichen Bereich von Anbeginn durch Spannungen geprägt, die in grenzenloser Skepsis und in radikalen Protesten ihren reflektierten Ausdruck fanden und sich auf politischer Ebene in den beiden blutigen Weltkriegen konkret entluden. Erfahrungen mit Ordnungsbrüchen und chaotischen Zuständen – wir werden sie zu den Kontingenzerfahrungen zählen – artikulierten sich innerhalb der Philosophie in kulturkritischen Strömungen, angefangen bei Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler über dialogische und daseinsanalytische Entwürfe bis hin zur postmodernen Gegenwart mit ihrem Einspruch gegen die Vorherrschaft der eurozentrischen Vernunft. So entwickelte sich in der Konfrontation zu technischen und szientistischen Anmaßungen eine Kultur des Anderen, das heißt genauer, ein Kult der Negation, eine Verneinung des Identischen, ein An-Denken des Unsagbaren, von dem nichts mehr zu sagen bleibt, und ein Raunen von der »différance«, die auf »etwas« verweist, »das nicht mehr dem Sein, der Anwesenheit oder Gegenwärtigkeit des Gegenwärtigen, nicht einmal der Abwesenheit … angehört(e)«.1 Die 1 Derrida (1989): Wie nicht sprechen. Verneinungen. S. 19.

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einstigen Garanten der Ordnung, vor allem die autonome Vernunft und die Religion, sind ins Zwielicht geraten; allein die strenge Wissenschaft konnte – Thomas Kuhn zum Trotz2 – ihre Akkumulationen weiter fortführen und selbst das in ihr entdeckte Chaos wegen seiner Nähe zur Welt des Determinierten bändigen, mithin ungestört ihre Ordnungsfunktionen ausüben. Da alle Individuen in diesem Spannungsfeld von Ordnung und Defizitärem, Zufälligem, Unsicherem usw. leben, kreisen auch philosophische Reflexionen häufig um die Ordnung stiftenden Zentralinstanzen Vernunft, Wissenschaft und Religion. Weil solche Überlegungen in irgendeiner Form zweifellos Vernünftigkeit reklamieren, steht hier die Philosophie selbst auf dem Prüfstand; und in der Tat hat sich Philosophie noch nie so oft und intensiv die Frage nach der eigenen Existenz gestellt wie im letzten Jahrhundert. Vieles, was hier zur Diskussion steht, wurde früher in der Religionsphilosophie untersucht, die sich ursprünglich ganz als Religionskritik verstand. Wir versuchen in den folgenden Überlegungen, die Aufgaben der Religionsphilosophie mit Hilfe des Zentralbegriffs der Kontingenz neu zu interpretieren, indem wir jenes Spannungsverhältnis von Ordnung und Defizit auf Kontingenzerfahrungen zurückführen und die Möglichkeiten des Umgangs mit diesen beschreiben. Zunächst steht die heute viel diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft im Vordergrund. Obwohl moderne Theologen wiederholt versicherten, dass dieses Verhältnis zumindest innertheologisch im Sinne einer gegenseitigen Respektierung im Wesentlichen geklärt sei3 und trotz der 2 Nicht umsonst ist in der Physik vom »deterministischen« Chaos die Rede. Kuhn (1967) setzt der Vorstellung von einer stetigen Akkumulation des Wissens in den Wissenschaften ein Revolutionsmodell entgegen. 3 So etwa »das letzte Wort« der philosophischen Theologie bei Weischedel (1972): »Gott, das Wovonher, ist Geheimnis, und der Mensch hat es abschiedlich als Geheimnis zu wahren«, II. S. 256. Ferner Barth (2005), Schlussteil; Benk (2008) S. 114 ff.; Forschungsbericht von Peters (2004); Splett (1985): Über die Möglichkeit, Gott heute zu denken, I. 136–155. – Ältere Stimmen: Peirce (1934): Die Ehe von Religion und Wissenschaft. Bd. 6; das Zweite Vatikanische Konzil: Pastoralkonstitution »Gaudium et spes«; J. Hübner (1982): Die Welt als Gottes Schöpfung ehren. Zum Verhältnis von

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Stimmen zahlreicher aufgeschlossener Naturwissenschaftler, in denen wegen der Interpretationsbedürftigkeit der modernen Physik die Offenheit für reflektierte religiöse Aussagen artikuliert wurde4, haben sich in den letzten Jahrzehnten im Allgemeinbewusstsein unversöhnliche Fronten aufgebaut. Die Gründe, weshalb solche Stimmen kaum beachtet werden, sind vielfältig. Dies liegt zum Einen daran, dass in der religiösen Praxis trotz theologischer Klarstellungen weiterhin alte missverständliche Denkformen und Anschauungsmuster verbreitet sind; und zum Anderen extrapolieren viele Naturforscher ihre Ergebnisse weltanschaulich und ignorieren dabei auch ihnen wohl bekannte Grenzen. Nicht zuletzt missachten auch Philosophen die zwar seltenen, aber durchaus erfolgreichen Bemühungen, religionsphilosophische Probleme mit den Mitteln der Vernunft anzugehen und sich wenigstens dem argumentativ Erfassbaren in religiösen Fragen zuzuwenden. Sie verschärfen durch maßlose Kritiken das Diskussionsklima in einer ohnehin schon spannungsreichen und intoleranten Zeit.5

In den folgenden religionsphilosophischen Ausführungen wird versucht, durch Aufweis der Grenzen der Vernunft den religiösen Glauben auch in einer von Wissenschaften und säkularem Denken bestimmten Zeit als mögliche und verantwortungsvolle Verhaltensweise in die menschliche Erfahrungswelt einzuordnen. Dabei sollen einige fundamentale begriffliche und argumentative Klärungen die These von der Verträglichkeit von religiöser und säkularer Vernunft bekräftigen. Schon die Verwendung des Ausdrucks »religiöse Vernunft«, der argumentative Möglichkeiten auch im Religiösen voraussetzt, verweist auf Theologie und Naturwissenschaft heute; Mutschler (1994): Karl Rahner und die Naturwissenschaft. Umfangreiche Literatur vor allem zur Gegenseite in Vaas/Blume (2009). 4 Häufig werden hier Planck, Einstein und Heisenberg zitiert, obwohl diese ihre versöhnlichen Gedanken über ein harmonisches Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft nur sehr allgemein und ohne genauere Festlegungen angedeutet haben. Siehe den diesbezüglichen Überblick in Wuchterl (2002) 15.14, 15.24 und 16.12c. (Im Folgenden mit HB abgekürzt). 5 Dawkins (2007; 2008), Dennett (2006), Hoerster (2005), Harris (2004), Onfray (2006) und viele andere. Zur Analyse und Zurückweisung der Radikalisierungen bei Dawkins siehe Evers (2010): Gotteswahn? Religionsbeschimpfung im Kleid der Wissenschaft.

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die Brisanz dieses Unternehmens, das sich nicht als neutrale Begriffsanalyse versteht, sondern die Härte der Konfrontation ernst nimmt und – trotz prominenter Gegenstimmen – Vernünftigkeit auch im religiösen Verhalten nachzuweisen versucht. Nun besteht kein Zweifel, dass sich die Grundeinstellungen zu religiösen Fragen selten rationalen Entscheidungen in theoretischen Diskursen verdanken, sondern vieles schon aus sozialisationsbedingten moralischen und gesellschaftlichen Erfahrungen im Laufe der jeweiligen Biographie vorentschieden ist. Aber gerade deshalb ist es notwendig, immer wieder die jeweilige Überzeugung durch vernunftgeleitete Rechtfertigung zu verantworten und damit zugleich die Grundlagen für ein tolerantes Zusammenleben der Menschen zu schaffen. Das alles heißt noch nicht, eine Begründung des religiösen Glaubens oder seine Widerlegung liefern zu wollen; denn ein im strengen Sinn begründeter Glaube ist kein Glaube, und eine vermeintliche Widerlegung kommt selbst einem Glauben sehr nahe. Im Vordergrund steht daher die philosophische Reflexion der Voraussetzungen, welche die eingeforderte Verträglichkeit der beiden Bereiche ermöglichen. Zur Realisierung der genannten Zielsetzung wird – wie schon angedeutet – der Begriff der Kontingenz herangezogen, der in der Religionsphilosophie bisher weitgehend vernachlässigt und auch sonst nur selten präzisiert wurde. Auch in der allgemeinen philosophischen Diskussion spielte dieser Begriff bislang nur eine wenig beachtete Rolle, in der Religionsphilosophie6 und Theologie gewinnt er hingegen allmählich an Bedeutung. Außerhalb von Fachkreisen ist er fast unbekannt. So werden die unter diesem Begriff subsumierten Probleme in aktuellen Disputen nur am Rande und meistens im Zusammenhang mit Zufall, Ordnung und Chaos diskutiert. Wir haben diesbezüglich oben schon einige Andeutungen gemacht. Doch ist damit viel mehr gemeint; es geht nämlich um Grunderfahrungen, mit denen jeder Mensch konfrontiert wird, ob jung oder alt, ob aufgeklärt oder religiös, ob hochgebildet oder unbelesen, ob heute oder vor Jahrhunderten. 6 Siehe z. B. Lübbe (1986), Luhmann (1977) oder Pollak (2000).

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Gemeint sind Ordnungsbrüche, die jeder Einzelmensch als Unverfügbarkeiten erlebt, die einerseits häufig persönliche Leiden und Krisen, gesellschaftliche Zwänge, Katastrophen und Kriege, Ungerechtigkeiten und Folgen der allgegenwärtigen Gewalt betreffen, die andererseits aber sich auch auf unverdientes Glück, zeitlich beschränkte Gesundheit, Liebe und erhebende Momente eines erfüllten Daseins beziehen können. All diese Phänomene werfen die Frage auf, warum wir dazu bestimmt zu sein scheinen, in solch einer undurchschaubaren Welt zu leben, und warum sich in ihr so viele Bedrohungen, aber nur Spuren von einer letzten Erfüllung und von einem friedfertigen Zusammenleben der Menschen finden. Wie in der Theodizee-Diskussion bedrängt uns auch hier die Frage, warum die Welt nicht anders, vor allem nicht besser ist. Diese vorzüglich in solchen ratlosen Reflexionen mitgedachte Möglichkeit eines Auch-Anders-Sein-Könnens wird in der Kontingenz begrifflich erfasst. Mit Hilfe dieses Begriffs erhält einerseits die Idee der Vernunftgrenzen einen genaueren Sinn und andererseits lässt sich das religiöse Sprechen von einem »ganz Anderen« präzisieren. Ersteres sensibilisiert wegen der naturgesetzlichen Nichtabgeschlossenheit der Welt für Offenheit im Hinblick auf religiöse Phänomene und Letzteres zeigt die Bedeutung der »negativen Theologie« als Korrektiv praktischer Religiosität – beides seit jeher zentrale Themen der Religionsphilosophie: deshalb unser Versuch, die religionsphilosophischen Fragen ganz vom Kontingenzbegriff her zu interpretieren und mit dessen Hilfe die Grenzfragen im Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft philosophisch zu klären. Die Kontingenz erscheint dabei als Signum des Anderen der Vernunft. Die Untersuchung setzt mit der Bereitstellung der Grundlagen ein (A.). Ausgehend vom individuellen Aufbau einer bewussten Lebensform stößt man unabwendbar auf die Endlichkeitserfahrung, die sich mit Hilfe der Kontingenz erläutern lässt (1.1). Dem schließt sich die Präzisierung zunächst eines allgemeinen logischen, dann eines speziellen religionsphilosophischen Kontingenzbegriffs an. Ersterer wird als Möglichkeit und Nicht-Notwendigkeit interpretiert und lässt den Fall

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der Nichtexistenz außer Acht. Jeder Kontingenzbegriff erhält dabei eine andere Bedeutung, wenn sich der Notwendigkeitsbegriff ändert. Für uns reichen die drei Fälle der analytischen, naturgesetzlichen und ontologischen Notwendigkeit aus (1.2). Der religionsphilosophische Kontingenzbegriff setzt einen Perspektivenwechsel voraus. Da es uns um existenziell belangvolle Fälle geht, wählen wir den epistemischen Aspekt und betrachten persönliche Überzeugungen, die sich auf ontologische und absolute Kontingenzen beziehen. Während der allgemeine Begriff von einer aristotelischen Möglichkeitsdefinition ausgeht und mögliche, aber nicht notwendige Sachverhalte bezeichnet, orientiert sich der spezielle Kontingenzbegriff durch Einbeziehung existenzieller Erfahrungen an religiösen Ansprüchen und bezieht sich auf individuelle Meinungen (2.). Mit dem so differenzierten Terminus können nun die uns eigentlich interessierenden Formen des Umgangs mit Kontingenzerfahrungen analysiert werden, nämlich die Kontingenzbewältigungen, Kontingenzanerkennungen und Kontingenzbegegnungen. Kontingenzen können beispielsweise durch Einordnung von Sachverhalten in das naturgesetzliche Ordnungsschema bewältigt werden. Dies kann trotz größter Anstrengung misslingen. Gefühle in Grenzsituationen, die religiösen Menschen zu Glaubensakten Anlass geben, können bei Agnostikern und Atheisten zum Eingeständnis der Ohnmacht führen, also Kontingenz anerkennen, ohne ähnliche Schlüsse zuzulassen. Schließlich kann das Jenseits der Grenze, das vom Agnostiker letztlich als Nichts identifiziert wird, auch als Ort der Begegnung mit einem »Anderen« interpretiert werden. Dabei steht der Ausdruck »Jenseits der Grenze« als Chiffre für alles, das sich der menschlichen Einsicht und Verfügbarkeit entzieht. Wir nennen diese Möglichkeit Kontingenzbegegnung, obwohl sich »Begegnung« auf das »ganz Andere« bezieht, das aufgrund religionsphilosophischer Kontingenzen denkbar wird (3.). Im Anschluss daran wird unser spezieller Gebrauch des Kontingenzbegriffs ausführlich von einer Reihe anderer verbreiteter Verwendungsweisen abgegrenzt. Während in der Theologie oft schon in der begrifflichen Festlegung Wesenseigenschaften Gottes einbezogen werden, eliminieren geschichtliche und soziologische

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Aspekte alle existenziellen Anliegen und bleiben gegenüber religionsphilosophischen Kontingenzen stumm. Überlegungen zum vieldeutigen Zufallsbegriff schließen die Grundlagenbetrachtungen des ersten Abschnitts ab (4.). Die Definition der Kontingenz verdeutlicht deren Abhängigkeit von der Festlegung der Bedeutung von Notwendigkeit. Für die weiteren Überlegungen sind vor allem die naturgesetzliche und die ontologische Notwendigkeit von Interesse; denn diese beiden Fälle bestimmen die Differenzierungen in den Formen des Umgangs mit der Kontingenz. Im Abschnitt B werden Kontingenzbewältigungen untersucht, die nicht nur die ursprünglich vermuteten Kontingenzen selbst zum Verschwinden bringen, sondern dabei auch den uns so wichtigen personalen Bezug beseitigen. Die Bewältigung naturgesetzlicher Kontingenzen erfolgt in der wissenschaftlichen Praxis (5.1) und endet häufig durch eine dogmatische Extrapolation in der Festlegung auf die Idee der Selbstorganisation der Natur (5.2). Deren Rechtfertigung baut auf dem Mythos von einem modernen wissenschaftlichen Weltbild auf (6.), der sich zum Beispiel in einer »Theorie für Alles« artikuliert. Die Untersuchung zeigt jedoch, dass sich solche naturgesetzlichen Notwendigkeiten als ontologisch kontingent deuten lassen. Mit Hilfe der verschiedenartigsten Ausformungen der Vernunft erfolgt – analog zur wissenschaftlichen Praxis – auch durch philosophische Reflexionen eine partielle Kontingenzbewältigung (7.1), die hier durch die Voraussetzung einer Selbstermächtigung des Menschen oder der Autonomie der theoretischen wie auch der praktischen Vernunft zu einem dogmatischen Abschluss und damit zur Leugnung von Vernunftgrenzen führt (7.2). Vor dem Hintergrund der Demaskierung der »großen Erzählungen« (8.) mit den Schwerpunkten Phänomenologie und Analytische Philosophie zeigt sich das Festhalten an der autonomen Vernunft als illegitime Extrapolation philosophischer Denkweisen auf die Gesamtheit des Sag- und Denkbaren – hier wieder in Analogie zur Selbstorganisation der Gesamtnatur. Die Einsicht in den dogmatischen Charakter der Selbstorganisation und der Vernunftautonomie führt daher zwingend

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zur Kontingenzanerkennung, der Vorstufe der Kontingenzbegegnung, die im letzten Abschnitt (C) thematisiert wird und den Kernpunkt unserer Überlegungen betrifft. Soll sich die bloße Anerkennung von Kontingenz im Bannkreis von Skeptikern und Agnostikern nicht im permanenten Schweigen auflösen, muss sie entweder durch reflexive, also vernünftige Begründungen in die Vernunftautonomie zurückfallen oder frei werden für die Begegnung eines Anderen der Vernunft. Als Bezeichnung dieser neuen, in der Kontingenzbegegnung angenommenen »Wirklichkeit« ist der Terminus des Religiösen gebräuchlich. Die Annahme, das Jenseits der Vernunftgrenze nicht definitiv als Nichts betrachten zu müssen, steht jedoch unter dem »ontischen Vorbehalt«, das heißt, die Aussagen sind stets vom Bewusstsein begleitet, dass hier eigentlich von einem Unsagbaren und daher nur metaphorisch und in Chiffren gesprochen wird. Das Prädikat »ontisch« drückt aus, dass vom Anderen eine Wirkung ausgeht, die nicht von einer ontologisch beschreibbaren Ordnung ableitbar ist und nicht durch das Prinzip des zureichenden Grundes gestützt werden kann (9.1). Das durch die Grenzen der Vernunft ermöglichte Feld der Kontingenzbegegnungen bestimmt zwar die Dimension des Allgemein-Religiösen und damit speziell auch der Religionen, klärt aber noch nicht den Religionsbegriff selbst. Dieser wird meistens aus den gemeinsamen Hauptmerkmalen der historisch gewachsenen und institutionell auffälligen Weltreligionen abgeleitet und damit funktionalistisch und evolutionstheoretisch relativierbar. In der folgenden Kontingenzanalyse versuchen wir dagegen, die Religion als Ort möglicher Wahrheit zu erkennen, der existenziell personale Sicherheit und potenziell universelle Toleranz zulässt – natürlich stets unter dem ontischen Vorbehalt. Dieser Vorbehalt schließt die Einbeziehung historischer Gegebenheiten nicht aus. Religionen sind genauer historische Kristallisationspunkte innerhalb mehr oder weniger bewährter, bereits vorhandener Sinngefüge größerer Gemeinschaften. Sie entstehen nicht aus dem Nichts, sondern ihre Begründer bewirken radikale Umdeutungen und innovative Erweiterungen von Vorstellungen, Denkweisen, Normen und Handlungsweisen innerhalb vorstrukturierter Gemeinschaften (9.2).

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Da wir uns unter Zuhilfenahme des Kontingenzbegriffs um die Grenzziehungen zwischen Religion und Vernunft in der Gegenwart bemühen, diese aber in so vielfältigen Formen auftreten, müssen wir nach den bisherigen prinzipiellen Ausführungen paradigmatisch vorgehen. Wir beschränken uns deshalb auf das Sprechen vom Unsagbaren in der Philosophie bei Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und in der Postmoderne (10.). Diese Auswahl ergibt sich aus der Tatsache, dass nicht nur die Gegenwartsphilosophie von der Postmoderne im weitesten Sinne geprägt ist, sondern dass deren wichtigsten Vertreter wiederum von Heidegger und Wittgenstein entscheidend beeinflusst sind. In Bezug auf Heidegger wird die These vertreten, dass unser Weg der Destruktion der Idee der Selbstorganisation der Natur und der Idee der Selbstermächtigung des Menschen hin zur Kontingenzanerkennung und -begegnung durchaus Heideggers Intentionen nahe kommt. Seine Philosophie nach der Kehre verläuft auf den Bahnen einer in der Kontingenzbegegnung »begründeten« Denkweise, die andeutungsweise schon in Sein und Zeit als Destruktion der Metaphysik zu erkennen ist, aber in beiden Fällen in entscheidenden Punkten wieder zurückgenommen und deshalb als esoterisches Denken missverstanden wird. Obwohl Wittgenstein einer ganz anderen, nämlich der analytischen Denktradition angehört und daher von ihm – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – nicht gerade Beiträge zur Religion und zu den Grenzen der Vernunft erwartet werden könnten, wird man sowohl bezüglich der Früh- wie auch der Spätphilosophie eines Besseren belehrt und schnell fündig. Trotz der Endpassagen des Traktats, die Grenzerfahrungen andeuten und zur Selbstaufhebung eines zu engen immanenten Ansatzes führen, muss man seine Tagebücher, seine persönlichen Äußerungen und den »Vortrag über Ethik« heranziehen, um über eine nicht praktizierbare Religion des Schweigens hinauszukommen. Doch Wittgensteins eigentliche Bedeutung wird erst in der spätphilosophischen Entwicklung des Sprachspiel-Gedankens deutlich, der die Möglichkeit »religiöser Sprachspiele« plausibel macht und zur Rehabilitierung des Religiösen in der analytischen Philosophie führt.

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Zentrale Gedanken sowohl seines als auch unseres Konzepts – wie vor allem die Relativierung der Naturgesetze, die Unmöglichkeit eines philosophischen Metasprachspiels, die metaphorische Rolle verhaltensregulierender Bilder, die Zurückweisung eines Religiöses betreffenden Begründungsgebots oder die persönliche Hochschätzung des Individuums unabhängig von allen sprachkritischen Einschränkungen des diesbezügliche Sprachgebrauchs – machen Wittgenstein zu einem Kronzeugen für Kontingenzbegegnungen in der modernen Welt und für die prinzipielle Möglichkeit, das Unsagbare unter Vorbehalt zu bezeugen. Einige Vertreter der Postmoderne berufen sich zwar auf Wittgenstein, doch die meisten7 kommen über eine widersprüchliche Kontingenzanerkennung nicht hinaus. Gedanken zum »Widerstreit« bei Jean-François Lyotard, zur »différance« bei Jacques Derrida oder zur »Verwindung« bei Gianni Vattimo sind in zahlreichen Fällen nur einigermaßen verständlich, wenn man ein »ganz Anderes« im Sinne einer Kontingenzbegegnung mitdenkt. Die Rücknahmen bei den Genannten sind nicht immer eindeutig und argumentativ häufig nicht nachvollziehbar. Dies fällt allerdings nicht ins Gewicht, wenn Philosophie nicht mehr als vermittelbar erscheint, »sondern in der Art einer nur ›oberflächlichen‹ Synthese, die Merkmale der Erbauung und somit eher ›rhetorische‹ als ›logische‹ Züge vermittelt.«8 In Abschnitt 11. suchen wir eine Antwort auf die zentrale Frage nach den Möglichkeiten, das Unsagbare sprachlich zu umkreisen. Dabei steht die Metapher im Mittelpunkt, deren Reichweite etwas über die Realisierung von Kontingenzbegegnungen aussagt. Anknüpfend an Hans Blumenbergs absolute Metaphern, die in seiner Metaphorologie bei »logischen Verlegenheiten« und »begreifend-begrifflich nicht

7 Es gibt auch Ausnahmen wie Caracciolo (1993); dieser bekennt sich zu Kontingenzbegegnungen und verwendet dabei die Chiffre des »Il Nulla«. Auch Derridas Ausführungen zur negativen Theologie (1989) enthalten Andeutungen in diese Richtung. 8 Vattimo (1993) S. 220.

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erfüllbaren Lücken und Leerstellen«9 in Aktion treten, dienen diese bei uns allerdings nicht als unhinterfragbare immanente Komplemente zu Ordnungsbrüchen jedweder Art, sondern als Hinweis auf die Akzeptanz von Kontingenzbegegnungen. So hat der Gebrauch der absoluten Metaphern in unserem Verständnis nur dann einen Sinn, wenn sie gerade als Hinweis auf das Misslingen jener Extrapolationen verstanden werden, die durch die Selbstorganisation der Natur oder der Selbstermächtigung der Vernunft absolute Metaphern eigentlich überflüssig machen (11.1). Die Funktion der absoluten Metaphern bewährt sich auch in der theologischen Rede vom verborgenen Gott (11.2), für welche die »negative Theologie« zuständig ist. In diesem riesigen Problemkomplex konzentrieren wir uns darauf, einige Argumente derselben in unser Konzept einzubauen, wobei die Termini des »ontischen Vorbehalts« und der »Negation« genauere Konturen erhalten. Dabei steht die Möglichkeit einer Rest-Affirmation im Mittelpunkt, die wir auf indirektem Weg zu widerlegen suchen. Um im Beweisgang konkrete Nachweise zu führen, bedarf es bestimmter Prozesse, deren Formalisierung deutlich macht, dass ihre Vollendung von endlichen Wesen nicht erreicht werden kann; denn in den jeweiligen Grundannahmen sind meistens nicht konkretisierbare Forderungen enthalten. Das bedeutet, dass stets versteckt logische, ontologische oder vor allem theologische Zusatzannahmen benötigt werden, um Affirmationen zu erhalten. Dabei sind wir uns bewusst, dass mit der Ablehnung der Rest-Affirmation eine Kernthese auch radikaler Formen negativer Theologie bestätigt wird. Aber während diese in ihrer Radikalität der Versuchung erliegen, bestimmte immanente Ziele – beispielsweise der Befreiungstheologie – zu legitimieren, zeigen wir die Unmöglichkeit, über Negationen zu solchen Legitimationen zu gelangen. Unsere Verteidigung der Prinzipien einer radikalen negativen Theologie läuft auf keine Sonderrolle derselben hinaus. Auch etablierte Theologien, die auf verschiedene Weise die traditionellen Vorstellun9 Blumenberg (1960) S. 177.

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gen in verschiedenen Zeiten neu interpretieren, haben ihre Existenzberechtigung, wenn sie sich des ontischen Vorbehalts bewusst sind und diesen je nach Dialogpartner mehr oder weniger intensiv in das Bewusstsein heben. Zum Abschluss erfolgen Rückschau und Ausblick (12). Auf unserem Weg zur Öffnung für das Andere der Vernunft erweisen sich die Verabsolutierungen der Wissenschaften und der Vernunft als bleibende Herausforderungen und Bekenntnisse selbstverantwortlicher endlicher Wesen; der letzte Schritt zur Erfahrung eines Begegnenden bleibt Wagnis und fortdauernde Aufgabe. Auch die Unbestimmtheit der im ontischen Vorbehalt ausgesprochenen Rücknahmen zollt der Endlichkeit ihren Tribut. Aber die zahlreichen entdeckten Wege aus dieser Finsternis geben der Hoffnung eine Chance. Vor allem die Einsicht, dass vom »ganz Anderen« zugleich im Modus der Verantwortung für den menschlichen Anderen im Sinne des »Antlitzes« bei Emmanuel Lévinas gesprochen werden kann, eröffnet konkrete Möglichkeiten für eine tolerantere und humanere Welt.

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Nach allgemeinem Konsens erforschen Religionswissenschaftler Religionen als spezifische Kulturerscheinungen, die ohne Bewertungen und unabhängig von Wahrheitsansprüchen dargestellt werden. Religionsphilosophen dagegen versuchen, die religiösen Phänomene in ihrer Allgemeinheit zu erfassen, durch bestimmte Merkmale zu charakterisieren und in vielen Fällen auch ihren Wahrheitsanspruch kritisch zu beurteilen. Die Anzahl der aus diesen Bemühungen resultierenden Definitionen von Religion und der Formen von Religionskritik ist entmutigend groß.1 Sie verlieren sich jedoch oft in theoretische Weitläufigkeiten und verdecken das existenzielle Interesse, das allen religiösen Fragen zugrundeliegt. Um diesen Bezugspunkt nicht aus den Augen zu verlieren, schränken wir unsere Überlegungen ein und betrachten den Sprachgebrauch und das Religionsverständnis im Kontext gegenwärtiger Diskussionen. Menschliche Existenz, um die es uns geht, vollzieht sich in einer jeweils auf ein Individuum bezogenen Lebenswelt, in die es hineingeboren wird und die sich im Prozess der individuellen Bewusstwerdung strukturiert. Um die Ebene des Religiösen nicht zu verfehlen, gehen wir daher von der epistemischen Perspektive der Einzelperson aus und versuchen, die lebensweltlichen Aufbauprozesse nachzuvollziehen und in ihren charakteristischen Merkmalen zu beschreiben. Die im Selbstbewusstsein vollzogene Differenzierung in die leibgebundene Eigenwelt und in die von anderen Personen und Dingen geprägte Umwelt ermöglicht die Erfahrung einerseits von Zwängen und andererseits von freien Gestaltungsmöglichkeiten in jener Umwelt. In diesem Bewusstwerden der eigenen Stellung im Wechselspiel von Notwendigkeit und Freiheit hat auch die Religion ihren Ursprung. Die Tatsache der Gleichzeitigkeit der Menschwerdung als Spezies homo 1 Umfangreiches Material hierzu in Wagner (1986). Weitere Beispiele in Pollack (2000) S. 55–101.

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sapiens mit dem Auftreten von Religion verweist auf den radikalen evolutionären Einschnitt, den das Sichselbstbewusstwerden eines Lebewesens darstellt. Dabei erfolgte in Urzeiten der Übergang vom schlichten, bewusstseinsmäßig noch undifferenzierten Hinnehmen des Loses innerhalb einer vorgegebenen Naturordnung hin zur Selbstorientierung in einer gestaltbaren Lebenswelt. Vieles dem Naturwesen zunächst Selbstverständliche erschien aus der neuen Perspektive des kognitiven Prozesses fremd und rätselhaft. Mit den fortschreitenden Gestaltungsmöglichkeiten wurden frühere Besetzungen durch numinose Gestalten, die Geborgenheit garantierten,2 zweifelhaft und dabei neue Ordnungen gestaltet, die durch ihren nicht durchgängigen Charakter an einigen Stellen wieder Zweifel aufkommen ließen. Eine bleibende Verunsicherung, die schwerwiegende Folgen hatte, brach durch die Erkenntnis der zeitlichen Begrenzung des eigenen gewohnten Lebensablaufes auf. Der Stabilisierungsprozess vom verunsicherten Alten hin zu einer neu erfahrenen, aber weiterhin mit Unsicherheiten behafteten Ordnung kann aus der Perspektive des betreffenden Individuums als eine Transformation von Umweltordnungen gedeutet werden.3 Die ererbte komplexe Ordnung, in die man passiv hineingeboren wurde, wird ersetzt durch eine vom Individuum aktiv mitgestaltete Eigenordnung, die als nicht weniger komplex erfahren wird. So haben alle Stabilisierungsversuche ihre Schwächen. Insbesondere die Gewissheit des eigenen Todes, die Einsicht in das Ende des eingespielten, Lücken ignorierenden Gleichgewichts wirft zusammen mit der Erfahrung zahlreicher praktischer Unverfügbarkeiten ihre Schatten auf die Geläufigkeiten des

2 Man beachte, dass hier der Lebensweltbegriff auf die Situation des selbstbewussten Menschen bezogen wird und nicht etwa auf den »paradiesischen« Urzustand wie bei Blumenberg, in dem »Enttäuschungen« nicht vorkommen können. Siehe dazu Lebenswelt und Technisierung in Blumenberg (1981a), bes. Abschnitt III. 3 Man könnte auch von einer Transformation (nicht Reduktion) der Komplexität der Umwelt sprechen, würde dann aber Gefahr laufen, die Begriffe im Sinne Luhmanns systemtheoretisch zu verstehen. Die Abgrenzung von der Systemtheorie wird unten (4.3) ausführlich diskutiert.

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Alltags und signalisieren ein spezifisches existenzielles Interesse, das jene Lücken der Ordnung geschlossen sehen möchte. Dieses stammesgeschichtliche Urerlebnis der Endlichkeit, in dem trotz ständiger neuer Transformationen Brüche erfahren werden, die der Verfügungsgewalt Grenzen ziehen, wiederholt sich – gewissermaßen ontogenetisch – auch heute in jedem heranwachsen Menschen. Der Stachel des Nichtmehrseinkönnens bleibt der stete, wenn auch oft unbewusste Begleiter eines jeden Individuums durch das Leben. Er sorgt dafür, dass wir in unserem von Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten geprägten Denken und Fühlen immer wieder auch die existenzielle Perspektive einnehmen, in die der personale Bezug hinter den Allgemeinheiten kultureller und insbesondere philosophischer Reflexionen immer schon eingeschrieben ist. Die Reaktion auf die alle Menschen betreffende Herausforderung, sich zur Unverfügbarkeit des »Seins zum Tode« (Heidegger4) so oder so zu verhalten, führt bei einigen zur religiösen Offenheit, bei anderen zum heroischen Ausharren in der »Geworfenheit« der faktischen Immanenz oder zu einer Indifferenz, in der die verborgene Verzweiflung durch permanente Aktivitäten überspielt wird. So zeigt sich in jeder individuellen Lebensform wegen dieser und ähnlicher fundamentaler Unverfügbarkeiten eine folgenreiche Grundspannung. Diese Ungewissheit und die zum Teil unbewusste Entscheidung für eine der genannten Alternativen bestimmen den modus vivendi, der bei einigen durch die explizite Auseinandersetzung innerhalb philosophischer, soziologischer und theologischer Reflexionen geprägt ist und die folgenden Überlegungen leitet. Jede Generation, ja jedes Individuum übernimmt von Neuem die Aufgabe dieser Transformation von Umweltordnungen hin zur Eigenordnung. Obwohl die Spätergeborenen dank der kulturellen Überlieferung auf bereits Bewältigtes zurückgreifen können, müssen sie sich in Lernprozessen eben dieses erst aneignen. Dabei bleibt anfangs zwar vieles unbewältigt; das meiste aber nur vorübergehend, denn die damit konstituierte Lebenswelt repräsentiert für jeden einzelnen Men4 Siehe Sein und Zeit: § 51 »Das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit des Daseins«. Heidegger (1927).

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schen zunächst nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Naturganzen mit seinen vielen Verfügbarkeiten, der sich wiederum ständig erweitert und das Überleben garantiert. Dabei ist natürlich auch der zwischenmenschliche Bereich mit seinen Sinn- und Ordnungszusammenhängen in diesen Prozess der Lebensweltkonstitution einbezogen. Trotz der kulturellen Evolution des Einzelnen wie auch der Gesellschaft scheint sich aber immer wieder ein auffälliger und gewichtiger Rest zu finden, der allen Versuchen der Einfügung widersteht. Der beständige Umbau einer bewussten Lebenswelt lässt sich in verschiedenen Modellen beschreiben. Hier konkurrieren philosophische Konzepte vor allem mit soziologischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Versuchen. Wegen unserer Präferenz für die epistemische Perspektive scheinen nur solche Modelle überzeugend, die trotz partieller Objektivierungen den existenziellen und persönlichen Zugang nicht eliminieren und sich nicht durch Abschneiden der Reflexion mit den Ordnungsdefiziten zufrieden geben. Da der vorliegende Versuch als religionsphilosophischer Beitrag gedacht ist, versuchen wir in den Transformationen »vernünftige« Strukturen zu identifizieren und zu beschreiben. Die Transformation vollzieht sich dann vom Unverstandenen zum Verstandenen. Der Aufbau der bewussten menschlichen Lebenswelt durch Transformation vollzieht sich in der Tat in den meisten Fällen auf durchschaubaren Bahnen, auf denen nach und nach Unverstandenes und scheinbar Unverfügbares auf entdeckte Notwendigkeiten zurückgeführt werden. Dabei bedingen die Widerständigkeit der Naturordnung und die Spontaneität mitmenschlicher Beziehungen ständig Korrekturen, das heißt, bisherige Konstruktionen werden den natürlichen und kommunikativen Gegebenheiten angepasst und die Menschen »verstehen« die intersubjektiv zugänglichen Ordnungselemente sowie ihre eigene Stellung in diesem Gefüge. In diesem permanenten Orientierungsprozess verliert vieles seine Bedrohlichkeit und man gewöhnt sich – von den Erfolgen verwöhnt – an den Gedanken, dass nichts der Verfügbarkeit entzogen zu sein scheint. Nennen wir die verschieden interpretierbare Fähigkeit zum Umbau

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von Lebensweltordnungen »Vernunft«, dann verweist die möglicherweise vorhandene prinzipielle Unabgeschlossenheit dieses Vorgangs auf die Grenzen der Vernunft. Sofern Vernunft die Konstitution der Lebenswelt vollzieht, ist sie säkulare Vernunft; sofern Menschen versuchen, von den genannten Grenzen und Unverfügbarkeiten sinnvoll zu sprechen, aktualisiert sich religiöse Vernunft. Letztere kreist um die Begriffe der Transzendenz, des Transempirischen, der Negation, des ganz Anderen, des Heiligen und schließlich Gottes. Um eben diesen Chiffren für das »Andere der Vernunft«, die in religiösen Streitfragen, in der Philosophie oder in der »negativen Theologie« verwendet werden, genauere Konturen zu geben, ziehen wir den Begriff der Kontingenz heran und versuchen, mit dessen Hilfe die Grenzbereiche der Vernunft zu strukturieren.

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Kontingenz ist in unserem Ansatz ein Modalbegriff, das heißt, er lässt sich durch logische Modalitäten wie Möglichkeit oder Notwendigkeit und deren Negationen ausdrücken. In der modernen Modallogik, die als Erweiterung der Aussagen- und Prädikatenlogik entwickelt wurde,5 werden für Aussagen p die Modaloperatoren N für »notwendig, dass …« und M für »möglich, dass …« eingeführt, für die gewisse Ableitungsbeziehungen erfüllt sein müssen.6 Wir beschränken uns auf 5 Aus der umfangreichen Literatur nennen wir nur je ein Einführungs- und ein Standardwerk: Zur elementaren Logik (Aussagen- und Prädikatenlogik mit Erweiterungen) siehe Oberschelp (1997): Logik für Philosophen; von Kutschera (1967): Elementare Logik. Zur Modallogik siehe Evers (2006): Gott und mögliche Welten; Hughes/ Cresswell (1996): A New Introduction in Modal Logic. Auf Deutsch liegt eine ältere Fassung vor (1978): Einführung in die Modallogik. 6 Die Modaloperationen N und M sind keine Wahrheitsfunktionen wie »Nicht« oder »Und«, sondern der Wahrheitswert der Sätze Mp und Np hängt von seiner Intension ab, die angibt, in welcher der möglichen Welten welcher Wahrheitswert vorliegt. Je nachdem, wie sehr die Intuitionen von den Modalitäten erfasst werden sollen, wurden verschieden starke Modalsysteme entwickelt. Das stärkste System S5, in dem nur N verwendet wird, umfasst alle anderen Systeme und postuliert zusätzlich zum Aussagenkalkül folgende vier Prämissen: Das Notwendigkeits-Axiom Np¤p, das Lewis-Axiom

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einige Andeutungen, die den hier verwendeten Kontingenzbegriff nur so weit präzisieren, wie dies für die weiteren Überlegungen und Abgrenzungen notwendig ist. Deshalb reicht es aus, Erweiterungen der Aussagenlogik zu betrachten.7 Festlegungen: p: eine beliebige Aussage, der eindeutig ein Wahrheitswert zugeordnet werden kann. Mp: Es ist möglich, dass p gilt (oder p ist möglich). Np: Es ist notwendig, dass p gilt (oder p ist notwendig). ~: Nicht (Wahrheitsfunktion aus der Aussagenlogik übernommen, für die anderen Funktionen schreiben wir ¤, ¥, und, oder). Möglichkeit und Notwendigkeit sind auseinander ableitbar, deshalb wird beim Kalkülaufbau nur ein Operator verwendet; hier ist es zweckmäßig, mit beiden zu arbeiten. Deshalb beachte man: Definition:

Mp = ~N~p

Als Kalkülformel:

Mp ¥ ~N~p

ferner

Np = ~M~p Np ¥ ~M~p

Als Nächstes soll nun der Kontingenzbegriff eingeführt werden. Dabei knüpfen wir an eine aristotelische Formulierung des Möglichkeitsbegriffs an.8 Joseph M. Bochenski unterscheidet in seiner Interpretation der einschlägigen Stellen im Organon9 zwei Arten von Möglichkeit:

N(p ¤q)¤(Np¤Nq), das Euklidizitäts-Axiom Mp¤NMp und die Notwendigkeitsregel »Ist p ableitbar, dann auch Np«. Ableitbar sind beispielsweise: Np¥~M~p, Mp¥~N~p, Np¤p, p¤Mp, also auch Np¤Mp. Nicht ableitbar dagegen: p¤Np, Mp¤p, Mp,~Np. 7 Die folgenden Ausführungen im Kleindruck werden im Folgenden nicht vorausgesetzt und sind nur für logisch geschulte Leser gedacht. Sie erläutern die Stellung unseres Kontingenzbegriffs innerhalb der traditionellen Modalüberlegungen. 8 Aristoteles verwendet keinen spezifischen Kontingenzbegriff. Am nächsten kommen diesem die Verben συμβαίνειν und ’ενδέχεσθαι, die im 4. Jahrhundert in das lateinische »contingere« übersetzt wurden. Bei Kant wird »Kontingenz« dann mit »Zufall« gleichgesetzt. Einzelheiten bei Wetz (1998a), S. 27 ff. 9 Bochenski (1956) § 15. Siehe auch Wetz (1998a) S. 27/28.

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»Einseitige Möglichkeit (M1): Möglich ist, was nicht notwendig nicht ist.« Da der Kontingenzbegriff intuitiv dem Zufallsbegriff nahe kommt, richtet sich unser Interesse eher auf den Fall, dass etwas möglich und zugleich nicht notwendig ist. Denn wenn wir beispielsweise einen Unfall »zufällig« nennen, dann ist er ja möglich gewesen, und wir meinen zugleich, es hätte nicht geschehen müssen; würden wir mit »möglich« aber »M1«meinen, würde auch der nicht stattgefundene Unfall qualifiziert werden, was uns wenig interessiert. Deshalb betrachten wir die »Zweiseitige Möglichkeit (M2): Möglich ist, was weder notwendig ist, noch notwendig nicht ist.«10 Als Konjunktion ausgedrückt bedeutet dies: Möglich ist, was nicht notwendig und nicht notwendig nicht ist. (M2p genau dann, wenn ~Np und ~N~p oder M2p genau dann, wenn ~Np und M1p) oder anders formuliert: Die zweiseitige Möglichkeit bedeutet, dass p nicht notwendig und zugleich möglich (im Sinne der ersten Bedeutung) ist. Da der Möglichkeitsbegriff in der Umgangssprache nicht eindeutig ist, definieren wir den Kontingenzbegriff innerhalb der Modallogik als Explikation der zweiseitigen Möglichkeit nach Aristoteles auf folgende Weise:

Eine Aussage ist genau dann kontingent, wenn sie möglich und zugleich nicht notwendig ist. Wir sprechen auch von kontingenten Sachverhalten, Ereignissen oder Handlungen, wenn die diesbezüglichen Aussagen kontingent sind; ebenso heißt ein Begriff kontingent, der einem kontingenten Sachverhalt oder Ereignis oder einer kontingenten Handlung eindeutig zugeordnet werden kann.11 10 Bochenski (1956) S. 95. Man beachte, dass bei Aristoteles auch andere Verwendungsweisen von Modalitäten vorliegen. (Siehe unten bei den Abgrenzungen 4.2).

11 Diese allgemeine Definition ist weit verbreitet. Zur Geschichte des Begriffs und zur heutigen Verwendungsweise siehe Hoering (1976) S. 1035–1038. Über anderwei-

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Diese Festlegung bedeutet die Beschränkung auf eine einzige Verwendungsweise des Wortes »kontingent«. Bei Leibniz und anderen werden zwei Fälle von Kontingenz unterschieden: 1. Das Kontingente als die Möglichkeit zu sein oder nicht zu sein; 2. Das Kontingente als das Nicht-Unmögliche und Nicht-Notwendige. Die erste Interpretation bestimmte die Diskussion in der Scholastik. Da wir die Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts ist, logisch und philosophisch als Scheinfrage betrachten, weil jede mögliche Antwort a priori paradox wäre, bleibt für uns nur die zweite Alternative. In der Auseinandersetzung über die Grenzen von Naturwissenschaft und Religion spielt die Nichtexistenz ohnehin keine Rolle. Kontingenz betrifft also, vereinfacht gesagt, faktisch vorliegende und damit mögliche Phänomene, deren Notwendigkeit zunächst nicht eingesehen werden kann. Dazu gehören Zufälligkeiten wie unsere Staatsangehörigkeit, unsere gesellschaftliche Stellung, ebenso Krankheit und Schicksalsschläge, aber auch Glück und Gesundheit usw. Betrachten wir ein banales Beispiel. Jeder Mensch wird in eine bestimmte Lebensgemeinschaft hinein geboren. So ist beispielsweise Jürgen Habermas deutscher Staatsbürger. Wären seine Eltern vor seiner Geburt in die Schweiz ausgewandert und hätten dort die Staatsbürgerschaft erhalten, wäre er als Schweizer geboren worden. Das heißt, die Aussage »Jürgen Habermas ist ein Deutscher« ist zwar wahr und stellt damit – wie jede Tatsache – einen möglichen Sachverhalt dar; sie ist aber in einer gewissen Hinsicht nicht notwendig wahr; denn es ist denkbar, dass er Schweizer wäre. Es handelt sich nach obiger Definition also um eine kontingente Aussage.12 Doch hier liegt natürlich sofort der Einwand nahe, Habermas sei aufgrund bestimmter empirischer Zusammenhänge, die durch Naturgesetze sowie durch tige Verwendungsweisen des Kontingenzbegriffs insbesondere in der Theologie, Geschichtsschreibung, Soziologie und Hermeneutik siehe unten Abschnitt 4. 12 Man kann in diesem Zusammenhang auch sagen, dass die Staatsbürgerschaft von Habermas kontingent ist, also einen Begriff oder eine Kennzeichnung so qualifizieren, wie wir es oben allgemein angedeutet haben.

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menschliche Entscheidungen eindeutig vorgegeben sind und damit jene alternative Denkmöglichkeit ausschließen, notwendig Deutscher; also kann es sich aus diesem Blickwinkel um keine Kontingenz handeln. Man geht dann davon aus, dass jede Tatsache notwendig ist oder »dass alles notwendig ist, wie es wurde«.13 Dieses einfache Beispiel zeigt die Abhängigkeit des Kontingenzbegriffs vom jeweils zugrundeliegenden Notwendigkeitsbegriff, und ein solcher muss stets innerhalb einer Ordnungsstruktur festgelegt sein. Wenden wir uns deshalb den wichtigsten Notwendigkeitsinterpretationen mit ihren verborgenen Ordnungsstrukturen zu. (1) Die so genannte analytische Notwendigkeit, die am wenigsten umstritten ist, bereitet uns im Folgenden keine weiteren Probleme. Diese betrifft die logisch wahren Sätze, wie z. B. den Modus ponens »Wenn p und (p ¤q), dann q«, ferner die mathematischen Theoreme, wie z. B. den »Satz des Pythagoras«, sowie die aufgrund ihrer Bedeutung wahren Sätze, wie z. B. »Alle Schimmel sind weiß«. Dieser Satz ist deshalb notwendig wahr, weil »Schimmel« als »weißes Pferd« definiert wurde. (Lässt man die Fälle außer acht, die ihre Notwendigkeit durch solche Bedeutungsfestlegungen erhalten, spricht man auch speziell von logischer Notwendigkeit). Die drei genannten Beispielsätze sind analytisch notwendig. Aussagen, die nicht analytisch notwendig sind, heißen analytisch kontingent. Die Aussage: (LG) »Die Lichtgeschwindigkeit beträgt ca. 300 000 km/sec«

ist demnach analytisch kontingent; sie ist nicht analytisch notwendig, weil sie weder einen logisch oder mathematisch beweisbaren Sachverhalt ausdrückt, noch die Größe der Lichtgeschwindigkeit aus dem Begriff derselben folgt. Die für die gesamten weiteren Überlegungen wichtigsten Interpretationen der Notwendigkeit betreffen die naturgesetzliche und die ontologische Notwendigkeit. 13 So etwa bei Dalferth/Stoellger (2000) S. 2, wo ein theologisch bestimmter Geschichts- und Faktizitätsbegriff vorausgesetzt wird. Siehe unten 4.1.

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(2) Die naturgesetzliche Notwendigkeit einer Aussage liegt vor, wenn deren Negation den Naturgesetzen widerspricht. Das setzt voraus, dass in dem betrachteten Diskussionszusammenhang die Naturgesetze als notwendig anerkannt werden.14 Z. B. sind dann die Fallgesetze oder der obige Satz (LG) naturgesetzlich notwendig. Aussagen, die nicht naturgesetzlich notwendig sind, heißen naturgesetzlich kontingent.15 Beispielsweise ist die Aussage »Wenn es blitzt, dann donnert es« naturgesetzlich kontingent, weil es elektrische Entladungen gibt, die keinen Donner bewirken. (3) Zur ontologischen Notwendigkeit führt uns die folgende Überlegung. Seit der Diskussion anthropischer Prinzipien16 weiß man, dass die vorgefundenen Naturgesetze nur aufgrund einer erstaunlichen Feinabstimmung der Naturkonstanten so sind, wie sie sind. Es könnte also neben den uns bekannten ontologischen Bedingungen weitere geben, die in unseren zur Zeit bekannten Naturgesetzen nicht explizit erkennbar sind und als ontologische Notwendigkeiten dafür sorgen, 14 Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Z. B. heißt es bei Wittgenstein (1922): »Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube« (T 5.1361). Ferner bezweifeln einige Philosophen die Existenz von notwendigen Naturgesetzen, weil nur faktische Regelmäßigkeiten, aber keine Notwendigkeiten beobachtet werden können. Nach Hume beispielsweise haben wir uns an diese Regelmäßigkeiten so sehr gewöhnt, dass wir sie schließlich als unabänderlich betrachten. Siehe Hume (1751) Abt. VII: »Die Metaphysik hat keine dunklern und unsicherern Begriffe, wie die der Kraft … oder der notwendigen Verbindung«. »Irgendein einzelnes Beispiel von Ursache und Wirkung hat deshalb nichts an sich, was den Begriff von Kraft oder notwendiger Verknüpfung darbieten könnte.« Ferner in Abt. II: »Dieser Fortschritt der Gedanken von der Ursache zur Wirkung geht nicht von der Vernunft aus, sondern beruht gänzlich auf Gewohnheit und Erfahrung.« 15 Für Hume sind alle angeblich kausalen Aussagen naturgesetzlich kontingent. 16 Es handelt sich um die Entdeckung, dass die menschliche Existenz ganz entscheidend von der jeweiligen Größe zahlreicher Naturkonstanten abhängt. Je nachdem, ob man daraus gewisse Privilegien für unsere Stellung im Kosmos folgert oder damit einfach konstatiert, dass das Universum so beschaffen sein muss, dass Beobachter existieren können (da es Lebewesen gibt, die das Universum faktisch beobachten), spricht man von verschiedenen Formen eines »anthropischen« Prinzips. Dazu existiert eine umfangreiche Literatur, z. B. zur Einführung Breuer (1981), ferner Gribbin/ Rees (1991), Kanitscheider (2000) oder Vaas (2004).

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dass die Konstanten gerade die von uns gemessenen Werte aufweisen. Daraus kann man folgern, dass auch andere Universen mit einer völlig anderen Struktur existieren könnten, in denen infolge der umfassenden Ontologie die Naturkonstanten andere Werte hätten. Der erwähnte Satz zur Lichtgeschwindigkeit (LG) ist demnach – sofern man nur die Bedingungen der bekannten Naturgesetze im Auge hat – zwar naturgesetzlich notwendig, aber ontologisch betrachtet kontingent, genauer ontologisch kontingent. Eine ontologische Notwendigkeit liegt demnach vor, wenn ihre Negation jeder Möglichkeit einer ontologischen Ordnung widerspricht, also für sie kein hinreichender Grund für die Existenz und das Sosein des Betrachteten gefunden werden kann. Wir stellen die wichtigsten Beziehungen nochmals schematisch dar: 1RWZHQGLJHV

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Je nachdem, ob die analytische, die naturgesetzliche oder die ontologische Notwendigkeit zugrundegelegt wird, sprechen wir von der analytischen, naturgesetzlichen oder ontologischen Kontingenz. Das obige Schema kann erweitert werden, indem man die Wahrheitswerte einbezieht, die von der betrachteten möglichen Welt bestimmt sind. Da wir in unserer Untersuchung von einer gegebenen Wirklichkeit ausgehen und die Frage, ob etwa ein Gott auch eine andere hätte schaffen können, zunächst nicht berücksichtigen, können wir uns auf diese vereinfachte Sicht beschränken.17 Bisher stand die theoretische Betrachtungsweise im Vordergrund. Aber zur ontologischen Struktur unserer »Welt« gehören nicht nur die Bedingungen für die raum-zeitlichen Gegenstände der Naturwissenschaften, sondern auch die der Gedanken und Handlungen der 17 Zur weiteren Diskussion siehe unten 4.1.

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Menschen, ferner der gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen, der geschichtlichen Ereignisfolgen usw. Sofern es hier ebenfalls Regelmäßigkeiten gibt, die in der menschlichen Lebenswelt sinnstiftend sind und Ordnungen ermöglichen – man denke etwa an intentionale Prozesse oder an naheliegende Zwecksetzungen –, werden von den einzelnen Individuen auch in praktischen Zusammenhängen Notwendigkeiten entdeckt oder auch nur vermutet. Mit diesem Hinweis erfolgt ein entscheidender Perspektivenwechsel, der die Brücke zu unseren Überlegungen bezüglich der Verfügbarkeit schlägt. Verfügen ist als Handlungsbegriff auf menschliche Individuen bezogen. Naturgesetzliche und ontologische Notwendigkeiten werden im Allgemeinen als Eigenschaften unseres Universums18 betrachtet, die für alle Menschen in gleicher Weise und für alle Zeiten gelten. Aber wie verhält es sich mit dem epistemischen Zugang zum Wissen von den Notwendigkeiten? Eine Person, die im exakten quantitativen Verhalten eines fallenden Steines einen ihr unverständlichen physikalischen Sachverhalt vorfindet und ihn nicht in ihre Lebenswelt einzuordnen weiß, beurteilt diesen zunächst als nicht notwendig, also als kontingent; sobald es ihr aber gelingt, den Sachverhalt durch die Naturgesetze zu erklären, verschwindet diese Kontingenz, weil der vorgeblich kontingente Sachverhalt nun als notwendig erkannt wird. Wir sagen, dass damit eine naturwissenschaftliche Kontingenzbewältigung erfolgt ist. Aus diesen epistemischen Überlegungen wird offensichtlich, dass die Qualifizierung der Kontingenz im individuellen Einzelfall nicht nur von der Festlegung der Notwendigkeit beispielsweise auf die Naturgesetze abhängt, sondern darüber hinaus die naturgesetzliche Notwendigkeit durch individuelle naturwissenschaftliche Kontingenzbewältigungen bedingt ist. Auch als Newton für das zunächst als kontingent erscheinende Fallen eines Apfels oder für die Bahn des Mondes naturgesetzliche Erklärungen gefunden hatte, erfolgte durch ihn eine naturwissenschaftliche Kontingenzbewältigung. 18 Die analytische Notwendigkeit bezieht sich als logische Qualität sogar auf alle denkbaren Welten, also speziell auch auf unsere.

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Entsprechende Überlegungen können auch für ontologische Kontingenzen angestellt werden. Bei allen Sinnstiftungen, die über den naturwissenschaftlichen Bereich hinausweisen, also beispielsweise Mentales betreffen, muss man mit zahlreichen Kontingenzen rechnen. Erst wenn durch philosophische Reflexionen, also unter Heranziehung gewisser Vernunftprinzipien, die kontingenten Phänomene unter Berufung auf jene allgemeinen Seinsstrukturen in das Ordnungsgefüge eingebaut werden, erscheinen diese den einzelnen Individuen als ontologisch notwendig. Weil diese Gesetze nicht allgemein bekannt sind und darüber große Meinungsverschiedenheiten bestehen, gibt es viele Möglichkeiten, diese Einordnung zu realisieren. In der Philosophie kann demnach solch eine ontologische Kontingenzbewältigung nur hypothetisch erfolgen: Man gibt die Prämissen an, aus denen die Folgerungen gezogen werden müssen und dann die Einordnungen erfolgen können. Das bedeutet, wer sich auf jene zusätzlichen, uns im Einzelnen nicht vollständig bekannten ontologischen Bedingungen beruft, die dafür sorgen, dass die gesamte Welt so ist, wie sie ist, unterstellt nur eine ontologische Kontingenzbewältigung. Man denke hier etwa an die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre. In dieser konstituieren nicht nur die uns geläufigen Ursachen das Ordnungsgefüge, sondern auch Ziele und die Wesens- und Materieeigenschaften der Dinge. Aber diese Lehre baut auf Evidenzen auf, die heute allgemein nicht mehr akzeptiert werden. Weitere analoge Beispiele aus der Gegenwartsphilosophie findet man überall dort, wo den Naturwissenschaften bestimmte Kategorien aufgezwungen werden, die von der Forschergemeinschaft abgelehnt, aber von den Philosophen als vernünftig betrachtet werden.19 Alle ontologischen Notwendigkeiten, die durch ontologische Kontingenzbewältigungen konstituiert werden, erhalten ihre Legitimation 19 Als Beispiel sei die »apriorische Realphilosophie« von Hösle genannt. Siehe dazu Mutschler (2002), Abschnitt 1.2.3. Mutschler führt dort Hösle zusammen mit MeyerAbich als moderne Repräsentanten einer kaum realisierbaren Position auf, welche die Naturwissenschaft als »ancilla philosophiae« betrachtet und sich befugt findet, wegen des Fehlens des Geistes in den Naturwissenschaften diese in ihren Gesetzmäßigkeiten zu verändern.

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letztlich durch das »Prinzip des zureichenden Grundes« von Leibniz.20 Da dieses Prinzip ein Universalprinzip ist und von Einzelindividuen nur durch hypothetische Zusatzannahmen (etwa durch Evidenzbehauptungen) partiell befolgt werden kann, verweist Hans Blumenberg mit Recht stattdessen auf ein in der Praxis realisierbares »Prinzip vom unzureichenden Grund«.21 In diesem fordert er nicht etwa den Verzicht auf Begründung, sondern die von uns angedeutete pragmatische partielle Rechtfertigung der ontologischen Kontingenzbewältigung durch Argumente anstelle einer Assoziation diffuser Einzelintuitionen. Nach unseren einleitenden Überlegungen zum allgemeinen Kontingenzbegriff mit seinen Unterklassen sind besonders diejenigen Kontingenzen von religionsphilosophischer Bedeutung, die sich permanent ontologischen Kontingenzbewältigungen widersetzen. Und genau diese führen uns zur Definition einer weiteren Klasse von Kontingenzen.

20 In Teil 1 der Studien zur Theodizee findet man bei Leibniz hierzu folgende Formulierung: »Das Prinzip des bestimmenden Grundes: dass nichts geschieht ohne eine Ursache oder mindestens einen bestimmenden Grund zu haben, d. h. einen Umstand, der als Grund a priori dafür gelten kann, dass etwas existiert und nicht vielmehr nicht existiert, dass etwas so ist und nicht vielmehr anders.« Leibniz (1710). Man beachte, dass hier die zwei fundamentalen Forderungen ausgesprochen sind, die oben bei den Definitionen erwähnt worden sind, wobei die erste von uns aus pragmatischen Gründen immer als erfüllt gedacht wird. 21 Blumenberg (1981a) S. 124: »Der Hauptsatz der Rhetorik ist das Prinzip des unzureichenden Grundes (principium rationis insufficientis).« Ähnlich (1987) S. 88. Wegen der fundamentalen Rolle der Rhetorik bei Blumenberg stellt dieser an anderen Stellen das Leibniz’sche Prinzip generell infrage, während es für uns weiterhin partielle ontologische Ordnungen garantiert. Einzelheiten zu Blumenberg siehe unten 10.3.

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Die begriffliche Klärung zur alles entscheidenden Notwendigkeit zeigt die Abhängigkeit der Kontingenz und deren Bewältigung von der Einbeziehung epistemischer und deshalb personaler Aspekte. Was für den einen ein kontingentes Phänomen bedeutet, ist von einem anderen bereits bewältigt. Genau wegen dieses personalen Aspekts eignet sich der Kontingenzbegriff zur Beschreibung gerade religiöser Phänomene, die stets existenzielle Bezüge aufweisen. Kontingenzen zu erkennen und sie als abstrakte Möglichkeiten zu reflektieren ist Eines, sie als existenzielle Herausforderungen anzusehen, ein Anderes.1 Der Blick auf die existenziell belangvollen Fälle führt uns zu folgender Definition des Begriffs einer religionsphilosophischen Kontingenz, die subjektbezogen ist und den bereits eingeführten allgemeinen Kontingenzbegriff voraussetzt. Definition der religionsphilosophischen Kontingenz: Eine persönliche Überzeugung ist genau dann religionsphilosophisch kontingent, – wenn der in der Überzeugung angesprochene Sachverhalt als ontologisch kontingent (also im Sinne von nicht ontologisch notwendig) beurteilt wird; – wenn ferner jener Sachverhalt auch allen Versuchen widersteht, durch menschliche Handlungen diese Nicht-Notwendigkeit zu beseitigen; – wenn der Sachverhalt von einem existenziellen Interesse begleitet wird; und schließlich

1 Für die »Vernunft ist Kontingenz eine reizvolle Herausforderung, aber erst für jemanden, der von ihr betroffen ist, wird sie unausweichlich und qualifiziert sich als Glück oder Unglück«, heißt es bei Dalferth/Stoellger (2000) S. 15.

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– wenn dieser einen reflexiven Impuls auslöst, sich mit dem kontingenten Phänomen argumentativ auseinanderzusetzen.

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Der in der Definition gewählte Terminus »religionsphilosophisch« soll darauf hinweisen, dass genau diese Art von Kontingenz Thema unserer religionsphilosophischen Überlegungen sein wird. Er ist also neutral und enthält keine Vorwegentscheidung in dem Sinne, dass Menschen, welche die religionsphilosophische Kontingenz anerkennen, religiös sind. Religionsphilosophen sind häufig zugleich auch religionskritisch. Es handelt sich demnach nur um eine notwendige Bedingung für jeden vernünftigen religionsphilosophischen Diskurs, der über die Bedeutung von »religiös« erst Klarheit schaffen soll. Im ersten Merkmal wird der epistemische Aspekt expliziert. Durch diesen Bezug auf das betroffene Individuum unterscheidet sich unser Kontingenzbegriff wesentlich von den meisten gängigen Konzepten.2 Es handelt sich hier also um persönliche Einschätzungen, die von einem bestimmten urteilenden Subjekt abhängig sind. Von den Sachverhalten wird behauptet, dass auf sie nicht der Satz vom zureichenden Grund zutrifft. Es gelingt also zunächst nicht, die Sachverhalte ohne persönliches Eingreifen und ohne Rückgriff auf Antworten von anderen in eine ontologisch strukturierte Ordnung einzugliedern. Das zweite Merkmal betrifft Kontingenzen, die nicht in Handlungssinn transformiert werden können; wir nennen sie mit Lübbe »absolut«.3 Hier misslingt der naheliegende Versuch, die Sachverhalte durch praktische Handlungen doch noch in eine solche Ordnung zu bringen. Die kontingente Staatszugehörigkeit einer bestimmten Person beispielsweise lässt sich durch eigenen Entschluss ändern, ist also nicht abso2 Eine bemerkenswerte Ausnahme bei Pollack (2000): »[…] das Bezugsproblem der Religion besteht nicht in der Kontingenz von Ereignissen als solchen, sondern es erscheint nur dann, wenn diese Kontingenz für den Menschen Relevanz gewinnt. Insofern gebrauche ich den Kontingenzbegriff nicht als einen philosophischen Universalbegriff, sondern als einen sozial und individuell verankerten Erfahrungsbegriff.« (S. 74). 3 Lübbe (1986) S. 156 und 167.

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lut kontingent. Das Auftreten einer genetisch bedingten Krankheit bei einem Patienten oder die Geburt des reflektierenden Menschen dagegen sind absolut kontingent. Aufgrund des dritten Merkmals werden von den absoluten und ontologisch kontingenten Fällen diejenigen betrachtet, die vom Urteilenden als existenziell belangvoll bewertet werden. Wir haben oben den Satz (LG) von der Lichtgeschwindigkeit als ontologisch kontingent erklärt. Dort handelt es sich um eine Tatsache, von der wohl kaum jemand innerlich berührt sein dürfte. Wenn dagegen ein persönliches Schicksal durch das zufällige Zusammentreffen zweier bestimmter Ereignisse betroffen ist, spricht man von einem existenziellen Interesse. Das letzte Merkmal soll bewusst machen, dass die vorliegende Definition samt deren Folgerungen für das Verständnis des Religiösen nur für solche Personen von Bedeutung sein kann, die sich überhaupt mit dem angesprochenen religionsphilosophischen Problemkomplex befassen. Dazu gehören insbesondere auch die Menschen, die gewisse wissenschaftliche und philosophische Aussagen als ultimative Hindernisse für die Akzeptanz von Religion betrachten.4 Die beiden ersten Festlegungen lassen sich wegen der unendlichen Anzahl von Anwendungsfällen nicht effektiv nachweisen, sind aber aufgrund der Möglichkeit ihrer Falsifikation trotzdem sinnvoll. Hier wird deshalb der eingeschränkte epistemische Standpunkt durch ein universelles ereignislogisches Element beziehungsweise die beschränkte Handlungsmöglichkeit eines Einzelnen durch ein universelles handlungslogisches Prinzip erweitert. Denn von den Sachverhalten wird gefordert, dass sie sich allen Menschen – trotz aller denkbaren Versuche einer Einflussnahme – als ontologisch kontingent zeigen. Indem wir den Handlungsbegriff in die Betrachtungen einbeziehen, also die Betrachtungen handlungslogisch erweitern, setzen wir die Handlungsfreiheit der Menschen voraus, die besagt, dass der Mensch das tun kann, was er tun will (womit das Problem der Willensfreiheit offen bleibt). Obwohl bis heute die Freiheitsproblematik kontrovers 4 Es liegt hier eine ähnliche Situation vor wie in der Diskurstheorie von Habermas, die sich nur auf solche Personen bezieht, die den Diskurs nicht von vornherein ablehnen und an die sich die vorliegende Arbeit besonders wendet.

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diskutiert wird,5 bleiben die Kulturphänomene von dieser Diskussion praktisch fast unberührt, weil man sich im konkreten Ernstfall meistens auf das Bewusstsein von Freiheit bezieht. Im Bereich der praktischen Vernunft, wie beispielsweise in der Rechtsprechung, der Erziehung, in kommunikativem Verhalten und künstlerischem Schaffen ist das Konzept einer »bedingten Freiheit«6 im Allgemeinen hinreichend. Unter bedingter Freiheit versteht man, das wollen zu können, das der Fülle und Besonderheit des Individuums entspricht, sofern keine äußeren Zwänge vorliegen. Zwar mag sich die Beurteilung von handlungsrelevanten Folgen einer Entscheidung gelegentlich durch die Berücksichtigung neurologischer Erkenntnisse ändern (z. B. in gerichtlichen Gutachten, in erzieherischen Maßnahmen an kranken Personen u. ä.), solche naturwissenschaftlichen Kontingenzbewältigungen durch Gutachter und Erzieher bleiben in der Alltagspraxis allerdings marginal und beziehen sich nicht auf das existenzielle Interesse der beurteilten Person. Diese beharrt auf der bewussten Freiheit, die ihr von einem anderen abgesprochen wird, was aber noch nichts darüber aussagt, ob sie selbst für die Handlung verantwortlich ist. Eine radikale naturalistische Antwort, die unter Beseitigung aller existenziellen Elemente jede Freiheit als Illusion bezeichnet, lässt sich demnach zwar als Kontingenzbewältigung verstehen, trägt aber nichts zum Problem einer absoluten und religionsphilosophischen Kontingenz bei, wo es gerade um die Fälle persönlicher Verantwortung geht. Gutachter und Erzieher stehen vor der gleichen Situation wie alle anderen: die Kontingenzerfahrung muss auch von ihnen in spezifisch-existenziellen Konstellationen verarbeitet werden. Die naturalistische Verdrängung des Stachels des Nichtmehrseinwerdens und die Verweigerung, Unverfügbares mit existenzieller Bedeutung aufzuladen, sowie schließlich 5 Als Vertreter extremer Standpunkte seien die Neurophysiologen Singer (2004) auf der einen und Libet (1985) auf der anderen Seite genannt. Zur allgemeinen Diskussion siehe beispielsweise Geyer (2004): Hirnforschung und Willensfreiheit. 6 Der Begriff einer bedingten Freiheit wird vor allem bei Pauen (2004) genauer entwickelt, indem er die Rolle der Selbstbestimmung für das Freiheitsproblem in den Mittelpunkt stellt.

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die Überzeugung, das »ganz Andere« als irreführende Redensart für ein bloßes Nichts auszugeben, folgen keineswegs notwendig aus naturgesetzlichen Kontingenzbewältigungen, da diese das Personale von vornherein außer Acht lassen.7 Die angegebene Definition der religionsphilosophischen Kontingenz verweist auf die Grundprämissen der weiteren Überlegungen; sie betreffen die Nicht-Notwendigkeit, die Absolutheit, die Existenzialität und die Reflexivität. Damit ist die Basis beschrieben, auf der wir uns religiösen Phänomenen nähern wollen. Wir vermeiden dabei zunächst die Rede von Gott oder Göttern und deren esoterischen Substituten, ebenso vom Heiligen, Übersinnlichen, vom Weltleben oder von anderen Bezugskorrelaten. Auch werden keine religiösen Erfahrungen als notwendige Bedingungen eines Zugangs zur Religion vorausgesetzt, seien es mystische Gotteserfahrungen oder biografische Erweckungserlebnisse.8 Ebenso vermeiden wir Reduktionen der Religion z. B. auf das Ethische oder andere nicht-religiöse Voraussetzungen. Wegen der gegenseitigen Abhängigkeit der Prämissen ist auch die Versuchung gering, diese im Sinne der modernen Dimensionsforschung9 verstehen zu wollen. Bevor wir durch Abgrenzungen von anderen Verwendungsweisen des Kontingenzbegriffs die bisherigen Ausführungen vertiefen, betrachten wir die wichtigsten Formen des Umgangs mit der neu eingeführten religionsphilosophischen Kontingenz. 7 Zur ausführlichen Diskussion des Naturalismus siehe unten 5.2 und 6.2. 8 Die Engführung des Religionsbegriffs, welche die fundamentale Abhängigkeit der Religion von Gefühlen voraussetzt, weil Gefühle leichter hirnphysiologisch beschreibbar sind als kulturelle Phänomene, ist heute weit verbreitet. Siehe z. B. Vaas/Blume (2009) Abschnitt »Neurotheologie: Gott im Gehirn«. 9 In dieser geht man von verschiedenen Betrachtungsweisen oder »Dimensionen« des Religionsbegriffs aus. Man unterscheidet z. B. nach Glock/Stark (1965) die ideologische, intellektuelle, erfahrungsmäßige, rituelle und moralische Dimension und versucht damit der Vielfalt der wesentlichen Probleme Herr zu werden. Eine moderne Version findet man bei Vaas/Blume (2009) S. 22, die von sieben Merkmalbündeln ausgehen, die teilweise den Vorgehensweisen neurologischer und evolutionstheoretischer Ansätze entsprechen. Diese Arbeit demonstriert zugleich, wie hoffnungslos es ist, aus den disparaten Teilen Klarheit über das Ganze zu gewinnen.

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Neben der Kontingenzbewältigung, die Kontingenzen durch naturgesetzliche oder ontologische Einordnung beseitigt und dabei den existenziellen Bezug relativiert oder meistens ganz zum Verschwinden bringt (3.1), sind zwei Formen des Umgangs mit Kontingenzerfahrungen möglich, die ausdrücklich diesen personalen Bezug berücksichtigen und ernst nehmen: die Kontingenzanerkennung und die Kontingenzbegegnung (3.2). Wir erinnern nochmals daran, dass zwar Kontingenzanerkennung Anerkennung der Kontingenz, Kontingenzbegegnung aber nicht Begegnung der Kontingenz, sondern »Begegnung« des »ganz Anderen« aufgrund von Kontingenzerfahrungen bedeutet.

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Unser Ansatz geht von spezifischen individuellen Kontingenzerfahrungen in historisch und gesellschaftlich vorgegebenen Situationen aus. Diese Erfahrungen sind so fundamental, dass sie Antworten erzwingen. Demnach kann Religion als eine Möglichkeit betrachtet werden, sich zur religionsphilosophischen Kontingenz zu verhalten. Von Lübbe stammt die einprägsame Definition der Religion als »Kultur der Anerkennung unverfügbarer Daseinskontingenz«.1 Gelegentlich wird die Religion daher auch als »Kontingenzbewältigungspraxis« charakterisiert. Hier ist zu beachten, dass bei Lübbe ein anderer Begriff der Kontingenzbewältigung verwendet wird als in unseren Ausführungen. Bezieht man den Begriff der Anerkennung auf religionsphilosophische Kontingenzen, dann kann man die Kontingenzanerkennung bei Lübbe als eine notwendige Bedingung für Religion verstehen. Denn in der Tat setzt jede religiöse Erfahrung die Anerkennung solcher absoluten 1 Lübbe (1986) S. 16.

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und nichtverfügbaren Grenzsituationen voraus. Aber eine Kultur der Kontingenzanerkennung reicht nicht aus, um schon das allgemeine religiöse Verhalten zu erfassen; sie ist keine hinreichende Bedingung für Religion. Denn Skeptiker, Agnostiker und Atheisten können ebenfalls religionsphilosophische Kontingenzen anerkennen und die Anerkennung zum Kultus ritualisieren.2 Die Skepsis der einen und die explizite Negation der anderen gründen gleichfalls auf Kontingenzerfahrungen; auch sie können die allumfassenden Spekulationen philosophischer Systematiker zurückweisen und sich von forschen Naturwissenschaftlern, die in jeder Hinsicht auf durchschaubare Naturgesetze bauen, distanzieren und das Faktum der persönlichen Betroffenheit und damit die religionsphilosophische Kontingenz anerkennen. Doch religiöse Kultur umfasst mehr. Sie baut zusätzlich stets auf der Überzeugung auf, das Jenseits der Grenze nicht als definitives Nichts absoluter Dunkelheit betrachten zu müssen; sondern sie versteht dieses als Ort der Begegnung mit einem »ganz Anderen«.3 Dabei steht hier der Ausdruck »Jenseits der Grenze« als Chiffre für alles, das sich der menschlichen Erkenntnis und Verfügbarkeit entzieht, sich also durchaus auch als »immanente Transzendenz«4 denken lässt, sofern in unserer Raum2 Vergleiche z. B. die Jugendweihe in der ehemaligen DDR. 3 Die Redeweise vom »ganz Anderen« bzw. vom »Ganz anderen« hat sich in der Religionsphilosophie vor allem seit Rudolf Otto verbreitet. In dem Standardwerk Das Heilige (1917) heißt es: »Mysterium, im allgemeinen Sinne genommen, heißt zunächst nur Geheimnis im Sinne des Fremdartigen, Unverstandenen, Unerklärten überhaupt und insofern ist […] das von uns Gemeinte nur ein Analogiebegriff aus dem Bereich des Natürlichen, der sich zur Bezeichnung anbietet […] ohne die Sache wirklich zu erschöpfen. Diese selber aber, nämlich das religiös Mysteriöse, das echte Mirum, ist … das ›Ganz andere‹, … das Fremde und Befremdende, das aus dem Bereich des Gewohnten, Verstandenen und Vertrauten und darum ›Heimlichen‹ überhaupt Herausfallende und sich zu ihm in Gegensatz sich Setzende und darum das Gemüt mit starrem Staunen Erfüllende.« (S. 30/31). Otto verweist auch auf das »Aliud valde« bei Augustinus. 4 Dieser Ausdruck wird meist als Paradoxie verstanden und zur Charakterisierung des Umschlags von einer divinisierten zu einer hominisierten Welt verwendet, in der Geschichtlichkeit und Zukunftsorientierung zu bestimmenden Kategorien werden. Zur so genannten Immanenzparadoxie siehe Metz (1968) S. 61 und Kambartel (1971) S. 35. Kambartel betont in diesem Zusammenhang, dass der Ausdruck »Gott« nur in

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Zeit-Welt empirisch und ontologisch nicht erfassbare, also in diesem Sinne transzendente oder besser transzendentale Bedingungen angenommen werden müssen, welche die kosmische Ordnung ermöglichen. Es kann dabei aber nicht gemeint sein, dass dem »Anderen« eine ontologische Struktur mit ihren Referenzen und Hierarchien angedichtet wird.5 Dieses »Andere der Vernunft«, das nicht mit dem »ganz Anderen« der Begegnung verwechselt werden darf, ist ontologisch nicht strukturiert, weil es nicht vom Prinzip des zureichenden Grundes erfasst wird.

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Der Schritt von der Kontingenzanerkennung zur Kontingenzbegegnung kann zur Chance der Entdeckung eines Anderen werden, das trotz aller Andersheit Bezüge zum individuellen existenziellen Grundanliegen herzustellen vermag. Hier sind wir an einen entscheidenden Punkt angelangt. Denn der Übergang zur Kontingenzbegegnung markiert den Stein des Anstoßes, sobald man zur Überzeugung gelangt, das Andere als Fiktion durchschaut zu haben. So kann weder bei Ludwig Feuerbach, Karl Marx oder Nietzsche, noch bei Sigmund Freud oder Luhmann von einer solchen Begegnung die Rede sein. Denn in Annahmen von Projektionen und Konstruktionen tröstender infantiler Ideologien begegnet man keinem Anderen, sondern man entdeckt dort sich selbst mit all seinen Wünschen, Ängsten und Hoffnungen. Eine solche »Entlarvung« der religiösen Fülle als eigenen Entwurf zerstört einem synkategorematischen Gebrauch (d. h. nur als Komplex) seinen Sinn erhält. Einzelheiten in Wuchterl (1982) S. 45 ff. 5 So etwa bei Vaas/Blume (2009) S. 22, wo die Annahme der »Existenz von transzendenten Entitäten« als universelle Konstante jeder Religion behauptet wird. Dabei wird »Transzendenz« mit dem Glauben an »außer- und übernatürliche« Mächte erklärt, das heißt letztlich, dieses »Andere« hat die gleiche ontologische Struktur wie die naturwissenschaftlich oder philosophisch beschreibbaren Entitäten, nur befindet sich dieses in einem (raum-zeitlich gemeinten) anderen Quasi-Universum. Solche Vorstellungen mögen zwar volkstümlich sein, lassen sich aber sicher nur selten in theologisch und religionsphilosophisch reflektierten Überlegungen finden.

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jede Möglichkeit, die durch den Konstitutionsprozess beabsichtigten existenziellen Funktionen zu erfüllen. Es handelt sich letztlich um eine ontologische Kontingenzbewältigung, in der sich das existenzielle Moment im interesselosen Allgemeinen verflüchtigt hat. Anders dagegen bei der Assoziation des Anderen mit Elementen des Numinosen, das beispielsweise bei Rudolf Otto als Abhängigkeit, Schauder oder Großartigkeit erfahren wird;6 hier bleibt der Bezug zum Existenziellen erhalten und die diffuse Kontingenzanerkennung wird zur realen Begegnung. Mit diesem Akt erfolgt die Öffnung für Verhaltensformen, die Religion ermöglichen. Religion geht stets von einer mit Hilfe des religionsphilosophischen Kontingenzbegriffs beschreibbaren Lebensform aus. Aber die allgemeine Kontingenzerfahrung wird nicht nur als Kontingenzanerkennung registriert, sondern aufgrund der emotionalen Besetzung mit Erwartungen, Hoffnungen, Danksagungen oder auch mit Befürchtungen als Kontingenzbegegnung inhaltlich gefüllt. Das Andere begegnet uns als Möglichkeit schon in der Entscheidung für die Bedeutsamkeit des Individuellen und Personalen;7 eine Beschränkung auf das interesselose Objektive dagegen schließt apodiktisch Kontingenzbegegnungen aus. Diese terminologischen Festlegungen relativieren religiöse Kontingenzbewältigungen. Letztere bleiben als gedankliche Hilfskonstruktionen ontologisch beschreibbar und bilden Spezialfälle der ontologischen Kontingenzbewältigungen, die Personales berücksichtigen. In der Kontingenzbegegnung dagegen wird stets der Anerkennungsgedanke und zugleich ein spezifischer ontischer Vorbehalt mitgedacht, der den Verdacht eines intellektuellen Opferungsaktes ausschließt und funktionalistische Reduktionen unmöglich macht. Die eingeführten Begrifflichkeiten einer Kontingenzerfahrung, -anerkennung und -begegnung ermöglichen im Folgenden eine deutliche Abgrenzung von naturalistischen, funktionalistischen und metaphysischen Reduktionen religiöser Phänomene, die in einer sich auf Wis6 Siehe Otto (1917) Kap. 3. und 4. 7 Besonderes ausgeprägt in der Idee vom alles Wesentliche konstituierenden »Antlitz« bei Lévinas (1987) S. 63 ff. Siehe unten 12.2.

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senschaften berufenden Religionskritik im Mittelpunkt stehen. Zur Durchführung dieses Programms ist es zweckmäßig, sich vorher von anderen Verwendungsweisen des Kontingenzbegriffs abzugrenzen.

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Der theologische Kontingenzbegriff beherrscht weitgehend die Diskussionen und schließt auch im außertheologischen Kontext häufig an die christliche Theologie-Tradition an.1 Weit verbreitet ist die These, dass Notwendigkeit allein Gott zukomme und die gesamte geschaffene Welt, also alles außer Gott, kontingent sei, weil dieses als Geschaffenes möglich, aber nicht notwendig sein müsse. Dabei wird Kontingenz eng mit dem freien Handeln eines allmächtigen, gütigen und gerechten Schöpfergottes in Beziehung gesetzt, der die Schöpfung auch anders vollzogen oder sogar ganz unterlassen haben könnte. Besonders die menschliche Erfahrung des Leids wirft nicht erst seit Hiob die Frage auf, warum die Schöpfung nicht weniger leidvoll ist, wenn sie doch – als kontingente – auch anders sein könnte.2 Die in jener Fundamentalthese allem Geschaffenen zugesprochene Kontingenz verliert jedoch in dieser vielfältigen Bedeutung jegliche Funktion und bezeichnet einfach das Merkmal der Geschaffenheit. Deshalb kann Blumenberg behaupten, der Begriff der Kontingenz bringe hier allein »die ontische Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen bestimmten, nur durch den göttlichen Willen im Sein gehaltenen Welt zum Ausdruck«.3 Doch der Bezug auf Gott führt nicht in jedem Fall auf die Kontingenz aller Naturdinge. Dies zeigt das Beispiel Baruch de Spinozas. Sein Pantheismus »deus sive natura« überträgt konsequenterweise die Notwendigkeit von Gott auf die Natur. In seinem fundamentalen Werk 1 So etwa bei Marquard oder bei Blumenberg, auf die wir uns noch öfter beziehen. 2 In der Neuzeit wurden in der Suche nach einer Antwort darauf die verschiedensten Formen einer Theodizee entwickelt, die nicht selten das Kontingente mit dem Bösen in Zusammenhang bringen. Erwähnenswert ist hier S. Neimans Abhandlung Das Böse denken (2006), in der versucht wird, die gesamte Philosophiegeschichte der Neuzeit am Leitfaden des Bösen neu zu schreiben. 3 Blumenberg (1959) Kontingenz in RGG Spalte 1793.

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»Ethik« folgt der Feststellung »Gott … existiert notwendig« der »Lehrsatz«: »In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.«4 Für die Kontingenz bleibt so im System Spinozas kein Raum. Wenn er trotzdem an einigen Stellen etwas als kontingent bezeichnet, dann begibt er sich auf die epistemische Ebene des einzelnen Erkenntnissubjekts. Denn nach Spinoza »heißt ein Ding kontingent allein im Hinblick auf einen Mangel unserer Erkenntnis und sonst aus keiner anderen Ursache«.5 Schon an diesem Gegenbeispiel erkennt man, dass alle theologischen Aussagen über Kontingenzzuschreibungen genauere Kenntnisse über die Eigenschaften Gottes voraussetzen. Aber nachdem sich die Philosophie heute nicht mehr als »Magd der Theologie« versteht, stellt die Annahme der Existenz Gottes – gleichgültig von welcher Art von Gottheit gesprochen wird – für die philosophische Argumentation eine zu weitgehende Voraussetzung dar. Erst recht lassen sich Naturwissenschaftler nicht ohne weiteres auf die Prämisse »Gott« festlegen. Für unsere Überlegungen zum Verhältnis von Religion, Philosophie und Naturwissenschaft können deshalb nur dann theologische Beiträge zum Kontingenzproblem von Interesse sein, wenn Theologen zu zeigen versuchen, dass sich der säkulare Kontingenzbegriff nur aus dem theologischen Kontingenzansatz verstehen und rechtfertigen lässt. Einen solchen Versuch unternimmt beispielsweise Ingolf Dalferth zusammen mit Philipp Stoellger in der Einleitung zum Sammelband Vernunft, Kontingenz und Gott. Dort heißt es: »Der Dual von Notwendigkeit und Kontingenz ist zu einfach, um den Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Kontingenz der Geschichte und der Geschichten der Kontingenz auf die Spur zu kommen.«6 Dalferth bezieht diese kritische Bemerkung zunächst auf eine kontingenzgeschichtliche Arbeitshypo4 Spinoza (1677) Lehrsätze 11 bzw. 29. 5 A.a.O. »Anmerkung 1« zum Lehrsatz 33. Wir haben in der Übersetzung von Baensch »zufällig« durch »kontingent« ersetzt. 6 A.a.O. S. 2. Die folgenden Seitenverweise beziehen sich auf Dalferth/Stoellger (2000).

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these der Forschungsgruppe »Poesie und Hermeneutik«. Der dort verwendete Kontingenzbegriff dient zusammen mit dem Notwendigkeitsbegriff zur Charakterisierung geschichtlicher Epochen, in denen sich gemäß jener These die Kontingenz stetig vergrößert habe. Eine stark vereinfachte Formel veranschaulicht die »These vom zunehmenden Kontingenzbewusstsein«: »Erst – in der Antike – war alles notwendig und (fast) nichts kontingent; dann – in der christlichen Welt – war Gott notwendig und alles, was nicht Gott ist (die geschaffene Welt) – kontingent; schließlich – in der modernen Welt: nach der Schwächung Gottes und der Schwächung des transzendentalen Subjekts – ist nichts mehr notwendig und alles kontingent.«7 Diese Banalisierung der Kontingenz als Nicht-Notwendigkeit alles Seienden macht den Begriff zumindest für die Gegenwart nach dem »Tode Gottes« überflüssig.8 Aber jenseits terminologischer Streitigkeiten geht es in solchen geschichtlichen Analysen natürlich um Ordnungen und deren Zerfall im Laufe der Geistesgeschichte. Zu diesen historischen Prozessen gehören die »Geschichten der Kontingenz« in Dalferths Zitat. Verbunden damit ist die von diesem kritisierte Behauptung, dass die Kontingenzsensibilisierung erst nach der Abdankung des transzendentalen Subjekts und des christlichen Gottes erfolgt sei; denn nach Dalferths Auffassung wurde der säkulare Kontingenzbegriff schon vorneuzeitlich, also im theologisch geprägten Spätmittelalter und in der Leibniz-Zeit erfunden. In der Missachtung dieses Faktums liege demnach der Grund für den Verlust der Einsicht, die Geschichte der Kontingenz als »Funktion der Geschichte des Gottesverhältnisses und Gottesverständnisses« zu erkennen (4). Dalferth knüpft genauer an die Interpretation des Menschen als nun (also nach dem Verlust der Zentralstellung des Subjekts) nicht mehr nur handelndes, sondern auch erduldendes Wesen (»homo patiens«) an, das die ihm widerfahrenden Schläge als Kontingenzbewältigungen verarbeiten muss. Dann erfolgt der entscheidende Bezug auf die christliche Tradition: » […] in der christlichen Tradition [ist] der 7 Graevenitz/Marquard (1998) S. XVII. 8 Siehe den Aufsatz von Wetz Kontingenz der Welt – ein Anachronismus? (1998b).

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›homo patiens‹ ursprünglich kein bloßes ›Subjekt‹, sondern Christus und damit […] kein Geringerer als Gott selbst […]. Wird Gott aber passiv, indem er sich dem aussetzt, was ihm als ›Faktizität‹ widerfährt, dann ist Kontingenz die Modalität, die sein Verhältnis zur geschaffenen Welt kennzeichnet.« Demnach wäre Kontingenz im oberflächlichen säkularen Sinn alles, was einem als Faktizität widerfährt, und Kontingenz im tieferen christlichen Sinn die Art und Weise, die das Verhältnis Gottes zur geschaffenen Welt kennzeichnet. Nur so lässt sich der folgende Satz verstehen: »Die Welt ist nicht kontingent, weil sie auch nicht oder anders hätte sein können, sondern weil Gott ihr gegenüber passiv, empfindlich und empfänglich ist.« (4). Nun wird deutlich, weshalb Dalferth den Dual von Notwendigkeit und Kontingenz als ungeeignet sieht, »die Möglichkeiten und Wirklichkeiten [sic!] der Kontingenz der Geschichte« erschöpfend ans Licht zu bringen, nämlich weil seinem Denken die Triade »Notwendigkeit – Wirklichkeit (Faktizität) – Möglichkeit« zugrundeliegt und die Wirklichkeit als vom christlichen Gott geschaffene interpretiert wird. Besonders deutlich wird dies unmittelbar danach: »Kontingenz ist im Christentum eine Funktion des Handelns Gottes, seiner Freiheit, Güte und Gerechtigkeit«. So lässt sich also bei Dalferth eine deutliche Abhängigkeit des Kontingenzbegriffs vom christlichen Gott konstatieren, während es in der Arbeitsgruppe, auf die sich die Kritik vorwiegend bezieht, gerade um die Ablösung von dieser Last geht. Die Abgrenzung der Kontingenz vom blinden Zufall,9 die Folgerung, die Passivität als Grundverhältnis zur Kontingenz zu betrachten und aus ihr die irreduzible »Zwiefaltigkeit von Lust und Unlust, Glück und Unglück, Freude und Leid« (4) zu folgern, ferner die Zurückweisung der Freiheit Gottes als pure Willkür (7), die Unmöglichkeit, als Weltschöpfer zugleich Weltzerstörer zu sein (6) – dies alles ist nur aus der christlich bestimmten »notwendig selbstentsprechenden ordinatio« der Potenz Gottes (6) verständlich. Die auffällige Bevorzugung der positiven Aspekte in der Charakterisierung des Kontingenzverhältnis9 Genaueres unten in 4.4.

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ses widerspricht so offenkundig der modernen Wirklichkeitserfahrung nicht nur in Blumenbergs »Absolutismus der Wirklichkeit«10, sondern auch in den Endlichkeitserfahrungen jedes einzelnen Individuums. Dass der moderne »homo patiens« sein Erleiden in der Endlichkeitserfahrung eigentlich zuerst als Lust, Glück und Freude interpretieren sollte, dürfte den meisten unverständlich sein. Es erübrigt sich, die lange Liste der Protagonisten der Endlichkeit von Nietzsche zu Heidegger, von Albert Camus zu Jacques Monod oder von Hans Blumenberg zu Richard Dawkins anzuführen. Die These von der prinzipiellen Abhängigkeit der Kontingenzreflexion von der christlichen Tradition mit ihren Positivitäten ist alles andere als überzeugend. Zudem wird durch den Rückgriff auf die ordinatio Gottes unser Ordnungsansatz in der Kontingenzdefinition bestätigt. Aber weil man Ordnungen und Notwendigkeiten nicht nur von Gott her, sondern auch naturgesetzlich oder ontologisch verstehen kann, ist die Verwendung von »kontingent« auch von einer nichtchristlichen Tradition her gerechtfertigt. Unsere religionsphilosophischen Überlegungen zielen auf keine Geschichte der Kontingenz, sondern auf eine Phänomenologie der Kontingenzerfahrung endlicher Menschen der Gegenwart. Diese Bemerkungen zu den Motiven, sich von der theologischen Verwendung des Kontingenzbegriffs abzugrenzen, enthalten keine Verurteilung der vorgebrachten Glaubensinterpretationen. Dalferths Deutungen sind aber eher Gegenstand einer Fundamentaltheologie als Ausgangspunkt einer religionsphilosophischen Grundorientierung. Es ist deshalb durchaus sinnvoll, innerhalb der Möglichkeiten einer Kontingenzbegegnung entscheidende fundamentaltheoretische Gedanken dieser Art unter dem ontischen Vorbehalt aufzugreifen. Wenn Dalferth seine Überlegungen als theologischen Versuch bezeichnet, »von der Kontingenz des Kreuzes zu einer Neukonstellation der Modalitäten fortzuschreiten« (41), dann darf dieses Unternehmen also nicht als Korrektur allgemein modallogischer Konzepte verwendet werden. Vieles 10 Diese Metapher soll auf die menschenfeindliche und sinnlose Wirklichkeit der entzauberten Welt hinweisen. Sie erscheint als Ergebnis der Untersuchungen zur Genesis der Kopernikanischen Welt (1981). Siehe unten 10.3.

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mag in der Fundamentaltheologie erhellend sein, aber eben nur dort. Die Parallelisierung des Modalschemas »Notwendigkeit – Wirklichkeit – Möglichkeit« zum trinitarischen Modell »Gott – Christus – Heiliger Geist« (41), die Frage, ob Gott um die Spontaneität menschlichen Handelns »weiß« (38) und ferner, ob eine nichtbeliebige Kontingenz sowohl der Welt als auch Gott zukommt (39) usw. – solche Themen sind innerhalb bestimmter Sprachspiele sinnvoll, in denen die begrifflichen Regeln einigermaßen überschaubar und nachvollziehbar sind, nicht aber in religionsphilosophischen Überlegungen, die theologische Zusatzannahmen vermeiden wollen. Man beachte, dass sich die bei Dalferth verwendeten Bezeichnungen der Modalbegriffe von unseren unterscheiden. Die Einbeziehung der Wirklichkeit kann bei uns durch die Ausdehnung der Modalbegriffe auf die Wahrheitswerte erfolgen. Das Schema in 1.2 erhält dann folgende Gestalt: :DKUHV LQGLHVHU:HOW 1RWZHQGLJHV

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In Oskar Beckers Modalkalkül11 heißt a c

logisch Mögliches,

b

ontologisch Mögliches;

logisch Kontingentes,

d

aktual Kontingentes

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Ein zweiter Kontingenzbegriff, den wir im Anschluss an Eef Dekker den »diachronen« nennen12, geht von dem aristotelischen Naturbegriff 11 Siehe Becker (1952); ähnlich auch Evers (2006) S. 18. 12 Dekker (2000) verwendet den Begriff, um diesen der Kontingenz-Theorie von Duns Scotus gegenüber zu stellen (siehe unten).

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und von den Veränderungen in der Zeit aus. Wir beobachten Dinge, die entstehen und vergehen, also die die Möglichkeit haben, zu sein oder nicht zu sein; das heißt, sie sind möglich und könnten auch anders sein. Bei Aristoteles lesen wir: »Alles nämlich, was von Natur aus ist, hat offenbar in sich selbst den Ursprung für Bewegung und Ruhe, sei es Ortsbewegung oder Wachstum und Schwinden oder Veränderung.«13 Wenn demnach alles Naturhafte dem Prinzip der Ruhe und Bewegung (auch im Sinne von Veränderung; vgl. κίνησις) unterworfen ist, dann kann ein zugeordneter Sachverhalt p eine Zeit lang bestehen, dann aber auch wieder nicht mehr bestehen, also ~p zutreffen, später vielleicht wieder zutreffen (p) usw. Da p später (!) anders sein kann, wird p von verschiedenen Autoren auch als kontingent bezeichnet. Kontingenz betrifft daher für viele das Kommende, Neue, gelegentlich auch das Unberechenbare, Unerwartete, Ungewisse, Überraschende, was alles auch dem Zufälligen zugeschrieben wird. Da diese Überlegung für jeden beliebigen naturhaften Sachverhalt gelten, sind aus dieser Sicht alle diesbezüglichen Sachverhalte kontingent, das heißt, die Verwendung des Wortes »Kontingenz« verliert hier ihren Sinn. Der diachrone Kontingenzbegriff wird meistens auch den geschichtlichen Überlegungen zugrundegelegt. Denn gerade in der Geschichte ist alles in Bewegung und Veränderung, das heißt, sie scheint der Ort dessen zu sein, wo alles auch anders sein könnte. Hier behält der Kontingenzbegriff durchaus seine Existenzberechtigung, wenn man den Geschichtsbegriff auf die res gestae, also auf menschliche Handlungen und Zielsetzungen samt deren Auswirkungen einschränkt und beispielsweise die notwendige Naturordnung als Alternative zur Kontingenz der Geschichte zulässt. Nachdem man nun aber in der gegenwärtigen Diskussion den Geschichtsbegriff in die Betrachtung der gesamten Natur einbettet, ist eine solche Einschränkung nicht mehr selbstverständlich. Erhard Scheibe zum Beispiel wendet den Kontingenzbegriff speziell auf die Wissenschaftsgeschichte an und deutet die von ihm dort konstatierte 13 Aristoteles Physik B, 192 b 13 ff.

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Zunahme des Kontingenten als Grundprinzip der Theoriendynamik, während wir gelingende Einordnungen durch wissenschaftlichen Fortschritt als Kontingenzabnahme verstehen. Für Scheibe aber bezieht sich Kontingenz nicht auf den epistemischen Wissensstand des einzelnen Forschers und auch nicht auf die Veränderung der Naturdinge, sondern auf die Veränderungen der Gesetzesmannigfaltigkeiten, welche die in einem Zeitpunkt jeweils anerkannten Theorien bestimmen. Er betrachtet beispielsweise die Entwicklung der physikalischen Theorien von der klassischen Mechanik über die Thermodynamik, Chemie und Kernphysik hin zur Elementarteilchenphysik und formuliert das Entwicklungsprinzip als Imperativ: »Versuche die Entwicklung der Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, dass ein typischer Entwicklungsschritt immer wieder in der Einsicht besteht, dass etwas, was bisher für gesetzesartig gehalten wurde, tatsächlich ein kontingenter Umstand ist – wogegen das Umgekehrte nie der Fall ist.«14 Scheibe findet sich von Carl Friedrich von Weizsäcker bestätigt: »Der Fortschritt der Physik führt zu immer allgemeineren Naturgesetzen; die größere Allgemeinheit kommt dadurch zustande, dass die Bedingungen, unter denen die vorher bekannten Naturgesetze gelten, als kontingent, das heißt als Spezialfälle umfassenderer formal möglicher Fälle erkannt werden.«15 Betrachten wir als Beispiel ein mechanisches Gesetz. Die Relation zwischen den betreffenden Begriffen stellte einst eine Notwendigkeit dar; sobald neue Theorien aufgetreten sind, in denen die Mechanik nur noch einen Spezialfall bedeutete, wurde die Notwendigkeit des Gesetzes relativiert, das heißt im Sinne Scheibes in eine Kontingenz verwandelt. Hier ist der Sprachgebrauch für »kontingent« völlig anders als in unserem Konzept. Wir gehen davon aus, dass sich ein Individuum auf die Naturgesetze beruft, welche die gegenwärtige Forschergemeinschaft akzeptiert. Wenn ein Ereignis mittels eines solchen Gesetzes erklärt werden kann, ist es naturgesetzlich notwendig, gleichgültig, ob es sich um ein nur mechanisches oder um ein kernphysikalisches han14 Scheibe (1985) S. 1. 15 Weizsäcker (1974) S. 183 f.

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delt. Der Fortschritt der Wissenschaft läuft sogar umgekehrt auf eine stetige Beseitigung von Kontingenzen hinaus, weil immer mehr Ereignisse gesetzlich erklärt werden können. Die Verwendung des Kontingenzbegriffs in der Geschichte, wie sie hier im Vordergrund steht, ist deshalb relativ folgenlos, weil geschichtliche Ereignisse aus Bündeln ganz verschiedenartig charakterisierbarer Veränderungen bestehen. Erst wenn man alle Regelmäßigkeiten ausgeschlossen hat, könnte man ein solches faktisches Residuum in unserem Sinne »kontingent« nennen. Dann sind wir bei den Fällen angelangt, die das Prinzip des zureichenden Grundes verletzen.16 Einen grundsätzlich anderen Versuch, sinnvoll von Kontingenzen in unserer Welt zu sprechen, findet man bei Eef Dekker, der die diachrone Bedeutung von Kontingenz als widerspruchsvoll betrachtet und ihr eine synchrone Bedeutung gegenüberstellt, die er Duns Scotus zuschreibt.17 Danach ist ein Sachverhalt p (state of affairs) synchron kontingent, wenn ~p im gleichen Augenblick möglich ist wie p. Er veranschaulicht den Unterschied zur diachronen Auffassung in einem Diagramm längs der Zeitachse: Diachron: G  RG

Synchron: G  RG

16 Zur Diskussion dieses Prinzips siehe unten v.a. Abschnitt 10.1. 17 Dekker (2000) Abschnitt 2. Bezüglich der »diachronen Kontingenz« stellt Dekker auf S. 61 fest: »Strictly speaking, this is not a proper term«, weil für ihn, wie vorher erläutert, jeder Sachverhalt in der Zeit und auch die Veränderungen selbst notwendig seien.

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Überlegen wir uns, was die synchrone Interpretation aussagen könnte. Sei p: »Die Pflanze ist grün«, dann bedeutet ~ p: »Die Pflanze ist nicht grün« im Sinne von beispielsweise »Die Pflanze ist gelb«, nicht dagegen im Sinne von »Die Pflanze ist intelligent«. Im ersten Beispielfall kann man sagen, ~ p ist in einer anderen denkbaren Welt möglich, zum zweiten Beispiel dagegen gibt es keine denkbare Welt, in der dies ein Sachverhalt sein könnte. Sei nun q: »Der Schimmel ist weiß«, dann ist ~ q: »Der Schimmel ist nicht weiß« im Sinne, dass der Schimmel eine andere Farbe als weiß hat, in keiner denkbaren Welt möglich, weil q analytisch wahr, also in allen denkbaren Welten wahr ist. Die Folge ist, dass alle Sätze, die in unserer Welt (aber nicht in allen möglichen Welten) wahr sind, synchron kontingent sind. Dekker orientiert sich dagegen an Duns Scotus und schreibt bezüglich des zweiten Schemas: »We can interpret these empty spaces as possibilities that have not been nor will be actualised but which are yet real possibilities.«18 Im Gegensatz zu unserer Interpretation wird die Annahme der synchronen Möglichkeit von p und ~ p nicht mit dem Gedanken an logisch denkbare Welten verbunden, sondern mit dem Willen Gottes, der bezogen auf unsere Welt zu jeder Zeit auch eine andere Welt hätte erschaffen können.19 Der Übergang von einem zum nächsten Augenblick wird nicht wie bei Aristoteles durch ein metaphysisches natürliches Prinzip oder wie in einem mechanistischen Weltbild durch mechanische Gesetze geregelt, sondern ist in jedem Augenblick Gottes 18 A.a.O. S. 62. 19 Dekker: »Scotus’ answer is, that the devine will is the first cause of the contingent reality.” (S. 65).

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Willen geschuldet, was man beispielsweise auch durch eine creatio continua verständlich machen könnte. Was in Immanuel Kants epistemischer Modaltheorie zur Kontingenz aller empirischen (also synthetisch aposteriorischen) Tatsachen führt, scheint in dieser Deutung der Modalität nur durch den Gottesbezug verstehbar zu sein. Selbst wenn Dekker den synchronischen Standpunkt der Kontingenz-Interpretation innerhalb eines metaphysischen Konzepts darstellt, ist dieser in einem genaueren Sinn theologisch und deshalb trotz interessanter Folgerungen für unsere weiteren Überlegungen wenig hilfreich. Es gibt zahlreiche andere Ansätze, in denen ebenfalls die Kontingenz aller natürlichen Sachverhalte angenommen wird. So geht beispielsweise Hans-Dieter Mutschler in seiner Naturphilosophie von der aristotelischen Metaphysik20 aus, in der die Materie oder der Stoff die Ursache des Zufälligen, Individuellen und Nichtmanipulierbaren ist. Dann ist es nur konsequent, auch allem Naturhaften das Zufällige der Materie zuzuschreiben. Mutschlers Ansatz kann – obwohl aristotelisch – sogar dem Schema der Synchronizität Dekkers untergeordnet werden. Denn wenn ein Sachverhalt aktual vorliegt, dann muss diesem Notwendigkeit zugesprochen werden, sofern allen Veränderungen Übergänge von potenziellen Möglichkeiten zu aktualen Notwendigkeiten zugrundeliegen. Unter Berufung auf eben diese aristotelische Poiesis-Lehre betrachtet Mutschler auch den Bereich des Technischen als selbständige, real-teleologisch geordnete Wirklichkeit. Für ihn tritt deshalb die »unaufhebbare Kontingenz des Stoffes« im Technikbereich als Unberechenbarkeit, in bearbeiteten Materialien als Defekt, ferner in jeder Realisierung vom beabsichtigten Sollwert als notwendige Abweichung und im schlimmsten Fall sogar als technische Großkatastrophe (wie etwa in der Challenger-Katastrophe von 1986) in Erscheinung.21 Falls in der Natur tatsächlich eine Teleologie berücksichtigt werden muss,22 dann ist nicht einzusehen, warum diese nur für den 20 Metaphysik Z 1032a 20–23. Mutschler (2002) S. 112. 21 Mutschler (2002) S. 114. 22 Dies ist die Hauptprämisse Mutschlers (2002) S. 10: »Die Unterstellung, dass es in der Natur Werte, Ziele und Zwecke gibt«.

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Bereich des Manipulierbaren und Technischen solche Auswirkungen haben soll. Das hieße zugleich, dass alles Naturhafte, das stets als konkretes Ding individuell ist, solchen Unbestimmtheiten unterworfen wäre, womit wir wieder beim Dilemma der theologischen Kontingenz angekommen wären, die auf alles Geschaffene bezogen wird. Der von uns eingeführte Kontingenzbegriff verwendet dagegen Notwendigkeitsbegriffe, die auf verschiedene durchgängige Ordnungen bezogen sind. Bei den angegebenen Beispielen der aristotelischen Konzepte lassen sich solche Notwendigkeiten nicht definieren, weil über die Ursachen von Bewegung und Veränderung sowie über die Zweck-Mittel-Relation technischer Handlungen keine weiter differenzierenden Aussagen gemacht, sondern alle Fälle als kontingent bezeichnet werden.

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Soziologische Überlegungen zur Religion werden häufig mit den Komplexen des Funktionalismus und der Systemtheorie assoziiert. Dabei enthält vor allem der Begriff des Funktionalismus oft ein abwertendes Element im Sinne der Auflösung jeder Religion, selbst wenn die Funktionen positiv bewertet werden. Dies ist beispielsweise bei Niklas Luhmann der Fall, der zwar einerseits in der Einleitung zu Funktion der Religion die These aufstellt, »dass die Religion für Gesellschaft eine zugleich zentrale und sehr spezifische Funktion erfüllt«,23 aber andererseits davon überzeugt ist, dass Menschen durchaus auch auf Religion verzichten können.24 Abwertungen religiöser Funktionen, wie sie in den Darstellungen moderner Medien vorherrschen, greifen stets zu kurz, wenn sie diese Aufgaben darauf reduzieren, menschliche Schwächen und Mängel zu beseitigen und insbesondere Hilflosigkeit, Verzweiflung und Todesfurcht durch illusionäre Konstruktionen erträglich zu machen.25 Aber auch die Annahme einer systemstabili23 Luhmann (1977) S. 8. 24 Luhmann (2000) S. 303. 25 Luhmann, auf den wir uns im Folgenden hauptsächlich beziehen, distanziert sich

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sierenden Funktion von Religion (Émile Durkheim26), in der den destabilisierenden Einflüssen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, stellt eine Engführung dar. Es geht uns aber im Folgenden nicht um diese pauschalen Diskriminierungen, sondern um Abgrenzung unseres Ansatzes von Systemtheorien, die religiöse Funktionen genauer analysieren. Hierfür erweist sich die Systemtheorie von Luhmann als besonders geeignet, weil sie den Kontingenzbegriff in die Analysen mit einbezieht. Obwohl sein Ansatz in entscheidenden Punkten von unserem abweicht, enthält dessen Explikation eine Reihe wichtiger Parallelen zum vorliegenden Konzept. Zugleich unterscheidet sich diese durch ihre Ausführlichkeit von anderen, recht vagen soziologischen Kontingenzanalysen. Dort bedeutet der Begriff »Kontingenz« oft ganz allgemein die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrung und Lebensentwürfe, was der diachronen Deutung recht nahe kommt. Bei Luhmann erfolgt dagegen die Strukturierung dieses diffusen Offenen zum »System«. Soziologische Interpretationen gehen meist von dem Gedanken einer Integration von Einzelelementen zu einem geordneten Ganzen aus. Speziell in der Handlungstheorie (z. B. Hermann Lübbes) wird die Rekonstruktion dieser Ordnung durch Handlungen von Subjekten gewährleistet, in hermeneutischen Theorien schließlich als Ergebnisse von Interpretationsprozessen der Subjekte betrachtet. In Luhmanns Systemtheorie dagegen steht am Anfang die Differenz von System und Umwelt – von Subjekten und deren Interpretationen ist hier keine Rede. Wie ist dann diese völlig andere Perspektive zu verstehen und wie kann sie mit unseren Überlegungen zu den Grenzen der Vernunft und der Möglichkeit von Religion in Zusammenhang gebracht werden? Die Soziologie befasst sich mit Phänomenen der menschlichen Kommunikation, zu denen auch die Religion zählt. Diese können als spezifische Erscheinungen eines geordneten Ganzen verstanden ausdrücklich von solchen »Trostfunktionen«, die mit dem eigentlichen Bezugsproblem von Gott und Welt nichts zu tun haben. A.a.O. S. 32, Anmerkung 38. 26 Vor allem in Durkheim (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens.

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werden. Doch durch das Vorherrschen des Handlungsaspekts freier Menschen wird jede Ordnung zum Problem, die nicht auf normative ursprungslogische Absicherungen zurückgreifen kann, welche den Intentionen der Handlungssubjekte eine klare Zielrichtung geben. Kommunikation ist deshalb nur möglich, wenn sich in dieser Vielfalt von kontingenten Handlungen und Gegenhandlungen der psychischen Systeme ein – wenn auch labiles – Gleichgewicht einstellt. Indem sich Zustände über einige Zeit als »Systeme« erhalten, wird die implizite Kontingenz quasi durch eine »List der Vernunft« bewältigt. In jedem Kommunikationsvorgang erfolgt zwar eine kontingente Auswahl durch Subjekte aus einem Repertoire möglicher Informationen (Luhmanns »Umwelt«), die dann von Subjekten mitgeteilt und von anderen mehr oder weniger, also letztlich wieder mit einem Kontingenzfaktor versehen, mithin verstanden werden. Trotzdem lässt sich das Auftreten kurzzeitlich stabiler Zustände nicht durch direkte Intentionen dieser Subjekte erklären. Die faktische Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen erfolgt nicht durch menschliche Subjekte wie in der Handlungstheorie, sondern vollzieht sich in der spontanen Strukturbildung von »Systemen«. Die Kontingenz tritt nicht mehr als Stimulanz des individuellen Verhaltens in Erscheinung, also als Kontingenzbewältigung, -anerkennung und -begegnung, sondern als Irritation des labilen Gleichgewichtszustandes; Kontingenzbewältigung als Fortsetzung des status quo! Luhmann nimmt hier die Position eines »Bewusstseins überhaupt« (Kant) ein, die existenzielle Belange systemtheoretisch ausblendet. Wenn diese trotzdem diskutiert werden, dann stets speziell als Erscheinungen innerhalb der historischen Evolution und Ausgestaltung der christlichen Religiosität in der Konfrontation mit wissenschaftlichen und philosophischen Ausdifferenzierungen, die der Religion mehr und mehr ihr Existenzrecht nimmt. Mit dieser Spezialisierung werden systemtheoretische Aspekte der Kontingenz mit diachronen vermischt und unsere epistemische Grundposition von speziellen kulturellen Interpretationen überlagert. Zur Verdeutlichung der Differenz unseres Gebrauchs des Kontingenzbegriffs zu dem bei Luhmann müssen wir

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einen Blick zunächst auf dessen allgemeinen und danach auf den sinnkonstituierenden Systembegriff werfen. Systeme in unserer Welt sind nach Luhmanns Auffassung nur durch Ausgrenzung einer Umwelt möglich, die alles nicht zum System Gehörige umfasst und wegen der Grenzenlosigkeit der Welt nicht selbst System sein kann (13).27 Weil es nicht nur ein System gibt, gehören die anderen Systeme stets zur Umwelt des gerade betrachteten Falls, das heißt, die Umwelt ist »komplexer« als das System selbst. Jedes System versucht so, kontinuierlich seinen vagen Bezug zur Umwelt zu konkretisieren, indem es diese durch selektive Informationsaufnahme erfasst und damit Komplexität reduziert. So wird die Umwelt »nur als kontingente Selektion relevant« (16). Bereits in dieser allgemeinen, das heißt auf jegliches System (sei es astronomischer, biologischer, humaner, gesellschaftlicher oder religiöser Art) zutreffenden Umwelt-Rekonstruktion werden die entscheidenden Begriffspaare deutlich, die nicht nur den Gebrauch des Kontingenzbegriffs, sondern auch den des Transzendenzbegriffs bei Luhmann festlegen: System und Umwelt, Profanität und Heiligkeit, »Horizont und Transzendenz, Erwartung und Enttäuschung, Selektion und Risiko, Ordnung und Zufall.« (16). Mit der Konstitution des Systems durch Reduktion und Typisierung wird der Bereich des Vertrauten zugleich Ausgangspunkt für die Begegnung des Nichtvertrauten; Luhmann spricht hier von der »Zweiseitigkeit erscheinender und nichterscheinender Umwelt« (17). Jedes System bleibt in der Komplexitätsreduktion an seine eigenen Strategien gebunden und ist damit selbstreferenziell, das heißt, es »bezieht sich in jeder seiner Operation auf sich selbst« (27). Hinter dieser Auffassung verbirgt sich die autopoietische These eines geschlossenen Systems, die alle Kontingenzerscheinungen bagatellisiert. Diese Aussagen betreffen die Systeme in ihrer Allgemeinheit. Für uns wird erst die Einschränkung der Analyse auf sinnkonstituierende Systeme relevant, weil damit die Religion ins Spiel kommt. Sinn ist für Luhmann eine besondere Form der Komplexitätsreduktion (20); 27 Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf Luhmann (1977).

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in solchen Systemen (z. B. Menschen) werden diese »in die Rolle von Beobachtern von Systemen-in-Umwelten in ihrer Umwelt versetzt« (21), (z. B. Systemtheoretiker, die Systeme identifizieren). Sinn wird also nicht als Konstrukt von Menschen eingeführt und damit nicht als Weltsicht, Interpretation oder Handlung eines Subjekts verstanden. Aufgrund der Selbstreferentialität von Systemen wird Sinn so vielmehr als »unnegierbar« definiert, gleichsam als durch jene spezielle Reduktion implizit definierter Grundbegriff eines systembezogenen Axiomensystems; denn »soweit Menschen durch psychische und soziale Systeme Umweltkontakt haben, können sie nicht anders, als Sinn [zu] verwenden« (21). Für unseren Kontingenzansatz bedeutsam ist der Hinweis auf die ursprüngliche Indeterminiertheit oder Unbestimmtheit jeder Systemkomplexität. Der Sinn erzwingt nämlich im Erleben und Handeln der Subjekte in jenem Unbestimmten eine Auswahl und erscheint so »als Simultanrepräsentation von Möglichem und Wirklichem, die alles, was intentional erfasst wird, in einem Horizont anderer und weiterer Möglichkeiten versetzt« (21), das heißt, von Kontingentem handelt.28 Zugleich wird im sinnhaften Erleben und Handeln stets etwas repräsentiert, konkreter: im Sinne einer implizierten Zugänglichkeit appräsentiert (22). Dieser Umstand verdeutlicht eine einleuchtende systemtheoretische Erklärung nicht nur der Möglichkeit von Kontingenzerfahrungen, sondern auch von deren Universalität. Luhmann vergleicht die Funktion von Sinn in einem solchen psychischen oder sozialen System mit der Funktion, die biochemische Universalien wie DNA oder RNA für organische Systeme erfüllen (21). Das heißt, »durch Gebrauch von Sinn wird Welt konstituiert«, aber nicht als Inbegriff des Geordneten, sondern »als derjenige Gesamtho28 Man beachte die allgemeine Definition der Kontingenz in 1.2, die auch Luhmann in seinen modaltheoretischen Überlegungen auf S. 187 vertritt: »Formal definiert wird Kontingenz durch Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit. Kontingent ist demnach alles, was zwar möglich, aber nicht notwendig ist.« In der Anmerkung 8 auf der gleichen Seite findet man bei Luhmann ausführliche Literaturangaben zur Geschichte des Kontingenzbegriffs.

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rizont, in dem das System sich selbst auf seine Umwelt und seine Umwelt auf sich selbst bezieht« (22). Man beachte, dass hier von sozialen Systemen und nicht von Individuen in einem sozialen System gesprochen wird. Die Umwelt eines einzelnen Subjekts enthält nicht alle anderen Systeme, sondern nur das ungeordnete Material für die von ihm konstituierte Ordnung, die den Sinn realisiert. Bei genauer Betrachtung widerspricht eine ganze Reihe von Konsequenzen aus der Systemtheorie Luhmanns unserem Konzept; wir gehen auf drei Punkte ausführlicher ein. (a) Die Aufhebung der absoluten Grenze zwischen ontologisch Strukturiertem und dem »ganz Anderen« durch die systemtheoretische Rolle des Umweltbegriffs bei Luhmann. Zunächst stellt Luhmann fest: »Das, was Religion als Übernatürliches zu erfassen sucht, gehört zur Umwelt des jeweiligen Systems« (19). Damit kann er unbestimmbare von bestimmbarer Komplexität unterscheiden und der Religion die Aufgabe zuschreiben, unbestimmbare in bestimmbare Komplexität zu transformieren. Dabei unterstellt Luhmann den Vertretern der Religion, den dualen Code immanent/transzendent in dem Sinn zu realisieren, dass man die Welt von außen betrachten könne.29 Da aber die völlig unbestimmte Umwelt in der Religion vom System, also von der Immanenz aus in bestimmte Komplexität verwandelt wird, verschwindet die Grenze zwischen immanent und transzendent. Dies lässt sich am Verhältnis von Zufall und Wunder bestätigen. Bei Luhmann findet man die Deutung des Zufalls als »die Fähigkeit eines Systems, Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst […] produziert und koordiniert werden können«.30 Doch durch die Transformation des Unbestimmten ins Bestimmte erhält das System die Fähigkeit, Komplexitäten der Umwelt selbst zu reduzieren. Damit verschwindet die Grenze zwischen strukturiertem System und unstrukturierter Umwelt.

29 Luhmann (1993) S. 320. 30 Luhmann (1984) S. 250.

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Hier scheitert also von vornherein jeder Versuch, die Erkenntnis der Grenzen beispielsweise eines naturwissenschaftlichen Systems als Möglichkeit einer Öffnung für religionsphilosophische Kontingenzen zu verstehen, wie es in unserem Konzept geschieht.31 Außerdem scheint es unmöglich, in einer selbstreferenziellen Systemorganisation, die von der Ureinheit von System und Umwelt ausgeht, die unbestimmbare Komplexität anders als ontologisch systematisiert zu denken; denn wie sollte sonst die bestimmbare Komplexität ihre theologischen Inhalte erhalten? Im vorliegenden Konzept sind dagegen die Grenzen durch das Prinzip des hinreichenden Grundes abgesteckt; deshalb betrachten wir – wie in der negativen Theologie32 – die Umwelt, das heißt, das »Jenseits« der Grenze, nicht mehr als systemtheoretisch strukturierbar und lehnen die Vorstellung ab, den stets implizierten Hintergrund der Umwelt zu einem »sich selbst implizierenden« zu erweitern (20).33 (b) Die Deutung Gottes als »Kontingenzformel«. Luhmann bezeichnet die durch die Religion herbeigeführte Einheit von System/Umwelt als Gott. Wir haben es hier mit einer Art systemtheoretisch ausformulierten Pantheismus zu tun, in dem alle Kontingenzen verschwinden. Luhmann versieht Prozesse, die Kontingentes durch Verschiebung in den Transzendenzbereich bewältigen, mit dem Etikett »Kontingenzformel«. Durch solche Kontingenzformeln soll unbestimmbare Komplexität reduziert werden. In seinem späteren Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) ordnet Luhmann jedem abgeschlossenen Wirklichkeitsbereich, also jeder Region, in der das »Nichtnegierbare schlechthin« zum Dogma erhoben wurde (vergleiche z. B. die Selbstorganisation der Natur und die absolute Vernunft), eine solche Kontingenzformel zu,34 die zum Ausdruck bringen soll, dass bei der Beobachtung der Suche nach dem Notwendigen immer wieder neue 31 Siehe unten v. a. 9.1. 32 Siehe unten 11.2. 33 Hier fällt die causa sui als deus ex machina vom Himmel. 34 Luhmann (1997) S. 469.

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Kontingenzen erscheinen. Die Charakterisierung Gottes als eine solche Kontingenzformel entlarvt auch das »ganz Andere« als bloßen Schein. (c) Die Unmöglichkeit, in der Systemtheorie die Bedeutsamkeit des Existenziellen adäquat zu würdigen. Was die Relativierung der Welt des Subjektiven betrifft, so kann man bei Luhmann fast von einer Abschaffung des Subjekts sprechen. In der idealistischen und phänomenologischen Tradition ist der Sinn durch die an ein Subjekt gebundene Intentionalität bestimmt, weshalb die dort gesetzten Zwecke nicht rational begründbar sind, sondern aus einem personalen Engagement resultieren, das existenzielle Bezüge zulässt. Die engagierte und schöpferische Subjektivität steht also als undefinierter Grundbegriff am Anfang der Philosophie. Luhmann dagegen definiert den traditionsbelasteten Subjektbegriff umgekehrt vom sinnverwendenden System her. Aus der »Erfahrung des ruhelosen Selbstbezugs« (31), also von der Selbstreferenz der Systeme ausgehend, gelangt er zum Subjekt. Diese Umkehrung hängt eng mit der fundamentalen These zusammen, wonach der systemtheoretische Aspekt stets primär, der kultursoziologische und allgemein kulturelle dagegen nur sekundär ist. So wird beispielsweise der epistemologische Standpunkt Kants in der Modaltheorie, der die frühere Position einer attributiven, Dinge betreffenden Modalität durch eine subjektbezogene ablöste, mit dem Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht (187). Allgemein vertritt Luhmann die These, »dass für die Entstehung des Kontingenzproblems soziale Differenzierungen ausschlaggebend gewesen sind« (188). Durch die prinzipielle Ersetzung der vom Subjekt ausgehenden Korrelation von Welt und Bewusstsein durch die systemtheoretische Korrelation von Welt und Gesellschaft verliert der existenzielle und personale Bezug seine Bedeutsamkeit und wird zum Phänomen extremer Systemspezialisierungen. Wenn Luhmann im Zusammenhang mit Kontingenzbewältigungen das existenzielle Element ausdrücklich hervorhebt, so wird dies wegen der Wirkung von Kontingenzformeln sofort wieder relativiert. Religiöse Menschen, die alles in Gottes Hand legen, müssen nach Luhmann

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auch die schlimmsten Erfahrungen noch als gottgewollte betrachten, und sind so doch wieder in ihrer Not allein gelassen. Das alles ist das Ergebnis einer totalen ontologischen Identifizierung von Immanenz und Transzendenz, die im Kontingenzbereich keinerlei Vorbehalt kennt. So verkommt Kontingenz bei Luhmann zu einem leeren Begriff, der nichts anderes bezeichnet als das Vorhandensein einer Vielfalt von wählbaren Möglichkeiten in einer Umwelt, in der selegiert wird.35 Mit der Beseitigung einer religionsphilosophischen Kontingenz erscheint das, was man in einer geläufigeren Formulierung die Verwandlung von Transzendenz in Immanenz nennt, als Prozess innerhalb einer Einheit, die als autonomes Gebilde zwar kritikimmun ist, aber die Religion als selbstsubstitutive Ordnung (32)36 damit auf die gleiche Stufe stellt wie naturwissenschaftliche und philosophische Ordnungen. So heißt es denn auch, dass es sich erübrigt, »die Theologie oder sonstige Dogmatiken an wissenschaftstheoretischen Maßstäben zu messen«(67). Bei einer solchen Festlegung auf den Systembegriff als absoluten Anfang besteht allgemein die Gefahr einer funktionalistischen Auflösung des traditionellen wahrheitsrelevanten Religionsbegriffs. In einfachen Versionen unterstellt man, dass Religion in der Funktionalität aufgeht und keinerlei Wirklichkeitsbezug beanspruchen kann. Dann tauchen Surrogate wie Evolutionsvorteile oder gesellschaftspolitisches Machtstreben auf.37 Man ignoriert dabei die Möglichkeit einer völlig anders strukturierten kulturellen Evolution und übernimmt kritiklos allgemein biologische Verhältnisse zur Erklärung religiöser Phänomene.38 Solche Versuche können sich aber nicht auf Luhmanns System35 Luhmann (1977) S. 145. 36 Luhmann definiert die substitutive Ordnung als eine solche, »die durch Orientierung an der eigenen Identität, also durch Reflexion ihre Fortentwicklung kontrolliert« wird (46). Man wird hier an eine Eigenschaft der Sprachspiele bei Wittgenstein erinnert (vgl. ÜG 105, 559), die Phillips (1968) und andere als Autonomie derselben interpretiert haben. 37 Evolutionäre Vorteile für soziale Gruppen werden beispielsweise in Vaas/Blume (2009) aufgezählt (S. 120); das Thema Machterhalt ist in marxistischen Kreisen häufig genug angeführt worden. 38 Besonders extrem in zahlreichen populärwissenschaftlichen Arbeiten wie z. B. in

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theorie berufen; denn dort verbietet die selbstsubstitutive Ordnung des Systems gerade solche Ersetzungen: »Sobald Religion eingespielt ist auf das Problem der Simultaneität von Unbestimmtheit und Bestimmtheit (oder Transzendenz und Immanenz), gibt es für die Lösung dieses Problems außerhalb der Religion keine funktionalen Äquivalente mehr« (46). Auch in Lübbes Handlungstheorie ist die Gefahr einer funktionalistischen Auflösung der Religion nicht gebannt.39 Für ihn ist klar, »dass die Religion Funktionen von fortschrittsindifferenter Nötigkeit erfüllt«.40 Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Adjektiv »fortschrittsindifferent«. Da die Wirkungen der Aufklärung nur die religiöse Weltbildkontrolle, die Verquickung des religiösen Bekenntnisses mit den Bürgerrechten und »die Bedeutung religiöser Institutionen als Instanzen sozialer Kontrolle« betreffen, nicht aber die »unverfügbaren Daseinskontingenzen«41 erreichen, ist auch Religion nach der Aufklärung möglich. Seine Charakterisierung dieses aufklärungsresistenten Phänomens als »Kontingenzbewältigungspraxis« ist indessen missverständlich. Denn hier ist keine Reduktion von Kontingenz auf irgendein Absolutum gemeint (z. B. auf einen notwendigen Gott), sondern sie bedeutet reine Kontingenzanerkennung42 und Kontingenzkultivierung. Aber in seiner Definition der Religion als »Kultur der Anerkennung unverfügbarer Daseinskontingenz«43 bleibt der Begriff der Kultivierung genau so unbestimmt wie der der Anerkennung; es fehlt der Schritt zur Kontingenzbegegnung beziehungsweise der Deutung dessen, was Wade (2009). 39 Lübbe bemerkt in (1986) S. 240: »Insofern ist es wahr: Die sogenannte ›Wahrheitsfrage‹ […] wird in der funktionalistischen Religionstheorie beiseite gelassen«. Siehe auch Schaeffler (1988) S. 90: »Bezeichnenderweise ist von dem zentralen Thema aller religiösen Aussagen, von Gott, in Lübbes Religionsbetrachtung überhaupt nicht die Rede.« Siehe auch unten 9.2. 40 Lübbe (1986) S. 14. 41 A.a.O. S. 11 bzw. 16. 42 Lübbe (1986) S. 166: Bewältigte Kontingenz ist anerkannte Kontingenz. S. 174: »Kontingenzbewältigung durch Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten«; ähnlich S. 179 und S. 195. 43 Lübbe (1986) S. 16.

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kultiviert wird. Ingolf Dalferth erwähnt diesen Mangel im Zusammenhang mit der Rolle der Erzählung: »Die Struktur der ›Anerkennung‹ ist – wie Lübbes Interpretation zeigt – demnach nur ein Aspekt der Reflexion auf den Anfang dessen, was ›als Religion‹ theoretisch verstanden werden soll. Denn es ist gerade die Interpretation und der lebensweltliche Umgang mit der Kontingenz, der durch die Anerkennung angezeigt wird und die Bestimmtheit und Pointe einer Religion ausmacht. Zu ihrer Struktur gehört die von der Anerkennung ausgehende und über sie hinausgehende symbolische Formierung als Kultivierung der Kontingenz.«44 Allen funktionalistischen Theorien ist nicht zuletzt die Tendenz gemeinsam, die Individuen den Systemprozessen zu unterwerfen, so dass jede existenzielle Beziehung und insbesondere die individuelle Wahrheitsfrage bewusst ausgeblendet wird. In Bezug auf Luhmann nennt Dalferth das in der Systemtheorie betrachtete Andersseinkönnen, also die Kontingenz, »eine marginale Differenz des Rauschens. Anders gesagt: Die Daseinskontingenz der monadischen Kommunikationsereignisse ist faktizitär stets überwunden und deren Soseinskontingenz irrelevant. […] Wenn die handlungslogische Perspektive und mit ihr die personale Für-Relation strikt eliminiert werden soll, wird die Kontingenz um ihre lebensweltliche wie religiöse Pointe gebracht. Die Selektion als prozedurale Operation ist ›für niemanden‹. Glück und Unglück wie Freud und Leid sind dann irrelevante Phänomene – zumindest für die Systemtheorie.«45 So erweist sich nach diesen ausführlichen Darlegungen auch der soziologische Kontingenzbegriff mit seinen Tendenzen zur Entsubjektivierung trotz einiger verführerischer Parallelen bezüglich systemtheoretischer Ordnungsgedanken für unsere Diskussion religiöser Grenzfragen als ungeeignet.

44 Dalferth/Stoellger (2000) S. 20. 45 A.a.O. S. 27 f.

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Sowohl der Begriff der Kontingenz als auch der des Zufalls haben bis heute eine auffallend vieldeutige Verwendung, die auch in wissenschaftlichen und philosophischen Kontexten selten präzisiert wird. Der durch beide Begriffe abgedeckte Bereich umfasst daher zahlreiche ganz verschiedenartige Problemstellungen, weitgehende Spekulationen und spezielle Einzelanalysen, wie wir sie in den bisherigen Abgrenzungen unseres Kontingenzbegriffs schon in einigen Fällen kennen gelernt haben. Bis Kant dominierte der Begriff der contingentia die philosophische und theologische Diskussion der angesprochenen Themen. Kant übersetzte dann »contingentia« mit »Zufall«, weshalb auch heute noch häufig »Zufall« mit dem in der Umgangssprache selten verwendeten Wort »Kontingenz« gleich gesetzt.46 Da das Begriffspaar vor allem in historischen und lebensweltlichen Kontexten verwendet wird, wenden sich vorwiegend die Hermeneutiker, die Spezialisten der Interpretationskunst, diesem Problembereich zu. Hermeneutische Überlegungen sind geschichtsbewusst; daher knüpft der hermeneutische Kontingenzbegriff an die verschiedensten Verwendungsweisen an, die der Begriff in der Tradition aufzuweisen hat. Die Untersuchungen reichen von klassischen Interpretationen vor allem aristotelischer Texte und metaphysischen Spekulationen zum theologischen Kontingenzbegriff über handlungstheoretische Ausführungen zur praktischen Vernunft, die von der menschlichen Freiheit mitbestimmt ist, bis hin zur Charakterisierung situativ geprägter Lebenswelten. Es ist ja in der Tat schwierig, etwas zu finden, das nicht auch anders sein könnte. Wegen der Bedeutung der Textinterpretation auch in der Poetik sind aus hermeneutischer Perspektive philosophische und literaturwissenschaftliche Interessen kaum mehr zu trennen. Deshalb überrascht es nicht, dass das Thema »Kontingenz« in dem letzten Kolloquium der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« nochmals eingehend be-

46 So bei Lübbe (1986), wo der Unterschied nicht thematisiert wird. Ferner z. B. Esterbauer (1989) IV.1.a.

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handelt wurde. Die Ergebnisse wurden von Odo Marquard und von Gerhart von Graevenitz im Sammelband Kontingenz47 herausgegeben. Bevor wir auf Einzelheiten einiger hermeneutischer Beiträge zum Thema »Zufall und Kontingenz« eingehen, um auch hier Abgrenzungen zu rechtfertigen, ist es notwendig, der Kontingenzdefinition unseren Gebrauch des Wortes »Zufall« an die Seite zu stellen. Wir beschränken uns auf drei Bedeutungen von Zufall und ordnen diese in unsere Kontingenzkonzeption ein. 1. Der relative Zufall wird schon von Aristoteles erwähnt und betrifft die Koinzidenz nicht zusammenhängender Ereignisse oder genauer das Zusammentreffen zweier sich kreuzender Kausalketten. Ein Kind läuft genau in dem Augenblick aus dem Haus, in dem bei stürmischem Wetter ein Baum auf den Hauseingang fällt und dieses »zufällig« tötet. Die Qualifizierung des Ereignisses als naturgesetzlich notwendig ist problemlos, solange dabei das existenzielle Element außer Acht bleibt. Wird dieses dagegen einbezogen, indem man fragt, warum das Unglück genau zu diesem Zeitpunkt eintreten musste und ausgerechnet dieses Individuum traf, wird das Ereignis ontologisch kontingent. Denn man könnte sich eine andere Welt denken, in der eine minimale Zeitverschiebung vorläge, die sich aus gesetzmäßigen Quantenfluktuationen ableiten ließe und die dann das tragische Zusammentreffen verhindert hätte. Wenn man das faktische Zusammentreffen so stehen lässt, geht dieser existenzielle Bezug verloren; wenn dagegen keine wie auch immer geartete Determination im Mikrokosmos angenommen wird, liegt eine ontologische Kontingenz vor und der relative Zufall erweist sich als echte Unverfügbarkeit von existenzieller Relevanz. 2. Der absolute Zufall wird durch das Leibniz’sche »Prinzip des zureichenden Grundes« charakterisiert. Er liegt dann vor, wenn für das Ereignis keine zureichenden Gründe, also weder Ursachen noch andere Regelmäßigkeiten,48 vorhanden sind, also auch weder im Mikrokosmos noch in ontologisch möglichen Multiversen zureichende 47 München 1998. Siehe oben 4.1 48 Die Bedeutung des Prinzips des zureichenden Grundes wird unten in 10.1 ausführlich untersucht.

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Gründe angenommen werden. Beim radioaktiven Zerfall von Atomkernen beispielsweise verwandelt sich ein bestimmtes Atom »zufällig« in ein anderes, ein zweites dagegen nicht, wobei für keines die differenzierenden Ursachen angegeben werden können. Lässt sich Ähnliches bei existenziellen Ereignissen aussagen, haben wir es mit einer religionsphilosophischen Kontingenz zu tun, andernfalls mit einer interessefreien ontologisch kontingenten Unverfügbarkeit. 3. Um einen epistemischen Zufall handelt es sich, wenn deterministische Ereignisse aufgrund ihrer hohen Komplexität von (Erkenntnis-)Subjekten nicht vorausgesagt und nicht berechnet werden können. Der berühmte Schmetterlingsschlag in Brasilien verursacht in Texas »zufällig« einen Wirbelsturm (Ed Lorenz). In der so genannten Chaostheorie,49 in der die epistemischen Zufälle im Mittelpunkt stehen, werden Ereignisse untersucht, die durch nichtlineare Differenzialgleichungen beschreibbar sind und deren exponeziell anwachsenden winzigen Abweichungen sich schnell zu folgenreichen Störungen aufschaukeln können. »Nichtlineare Gleichungen führen den Mathematiker in zwielichtige Bereiche. Wer sie löst, bewegt sich scheinbar in einer normalen mathematischen Landschaft, kann sich aber ganz plötzlich in einer völlig anderen Wirklichkeit wiederfinden. In einer nichtlinearen Gleichung kann die winzige Änderung einer Variablen eine völlig unverhältnismäßige, ja katastrophale Wirkung auf andere Variable haben.«50 Es sind dies die berüchtigten kleinen Ursachen mit den großen Wirkungen, die den Zufallscharakter vortäuschen. Aber da es sich um mathematisch beschreibbare Abläufe handelt – man spricht auch genauer vom »deterministischen Chaos« –, sind epistemische Zufälle naturgesetzlich notwendig, obwohl sie nicht exakt verifizierbar, prognostizierbar und berechenbar sind. Die Möglichkeit absoluter Zu-

49 Eine kurze Einführung in die Chaostheorie und ihre philosophischen Konsequenzen in Wuchterl (1997), Abschnitt 2.4. Ausführliche Darstellungen in der Einführung von Briggs/Peat (1989), ferner in Davies (1988) oder Gleick (1990), wo jeweils auch Hinweise auf E. Lorenz zu finden sind. 50 Briggs/Peat (1989) S. 29

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fälle ist bis heute umstritten. Der Grund ist die Undurchsichtigkeit der Konsequenzen der Quantenphysik für den Makrokosmos. Kehren wir nun zur Diskussion des allgemeinen Zufallsbegriffs zurück. In den meisten Fällen, in denen von »Zufall« gesprochen wird, handelt es sich um höchst komplexe Situationen, in denen erstens die drei soeben unterschiedenen Bedeutungen latent kombiniert werden und zweitens ganz verschiedenartige zusätzliche Leitbegriffe eingeführt werden, die auf Spezialfälle solcher Kombinationen verweisen und in einigen Interpretationen auch das uns interessierende existenzielle Anliegen umfassen. Betrachten wir zunächst ein Beispiel, in dem explizit die Gleichsetzung von Zufall und Kontingenz vorgenommen wird. So möchte Reinhold Esterbauer in Kontingenz und Religion »den deutschen Begriff ›Zufall‹ als Ausgangspunkt nehmen und ihn […] mit ›Kontingenz‹ synonym verwenden«.51 Er lässt sich von der Assoziationskette: Zufall – Zu-Fallendes – Berührendes (con-tangere!) leiten und betont: »Denn das einem Zufallende ›berührt‹, ›betrifft‹ einen auch bzw. (intransitiv) ›trifft ein‹, ›trägt sich zu‹, ›wird einem zuteil‹ oder ›glückt‹ sogar.« Besonders bemerkenswert für das Folgende ist der Hinweis auf das »Glücken«, wogegen das »Missglücken« unerwähnt bleibt. Der positive Unterton, den Esterbauer im deutschen Wort »Zufall« aufspürt, verstärkt sich zusehends und im Laufe der Untersuchung übernimmt der Glücksbegriff eine gewisse Leitfunktion, die auch im Untertitel seiner Arbeit (Eine Phänomenologie des Zufalls und des Glücks) hervorgehoben ist. Es wird sogar versucht, im Zufall eine noch ursprünglichere »Positivität« zu entdecken, die aller Differenzierung in Glück und Unglück vorausgeht (80). Aus psychologischen Beobachtungen, wonach Zufall Abwechslung schafft und der Eintönigkeit vorgezogen wird, ja sogar »Lust und Kitzel« erregt (79/80), 51 Esterbauer (1989) S. 60. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf die angegebene Quelle.

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wird die allgemeine Bedeutsamkeit des Zufalls als neuer Weltbezug mit unvorhergesehenen Chancen der Selbstverwirklichung (114) erschlossen. Im Kairos des Zufalls schließlich erfolgt eine weitere Überhöhung durch den Begriff der Fügung, der das »Zusammengehen von dem geschichtlich geprägten Zufallenden und der historisch bestimmten Person des Betroffenen« beschreibt (82). Esterbauer entwickelt seine Phänomenologie der Kontingenz in expliziter Konfrontation mit dem hier vertretenen Kontingenzbegriff, den er als negativ bezeichnet und seinem positiven, die Glücksphänomene umfassenden, gegenüberstellt. In unserer angeblich von der Negativität beherrschten Konzeption52 taucht nach seiner Meinung »Kontingenz entweder unter dem Titel Sinnlosigkeit auf oder erweist sich als Bedrohung oder unbestimmbare Komplexität« (57). Es mag sein, dass in den ersten tastenden Versuchen dieser Konzeption, Religionsphilosophie auf dem Begriff der Kontingenz aufzubauen, die Kontingenz des Glücks nicht eigens hervorgehoben wurde, weil Glück in der modernen Welt zu oft in die Sphäre des Banalen abgeschoben wird; aber dies berechtigt nicht die Unterstellung der Identität von Kontingenz und Sinnlosigkeit. Aus den Ausführungen zur Kontingenz

52 Diese Negativität des Kontingenzbegriffs unterstellt Esterbauer auch den Konzeptionen von Thomas Luckmann und Peter Berger (a.a.O., S. 53–55). Mit mehr Berechtigung hätte Esterbauer auf Blumenberg verweisen können, der in fast allen seinen Werken die Zwänge der Wirklichkeit für jeden Menschen als brutale Zumutungen hinstellt und das Leiden an den Kontingenzen in zahlreichen Formulierungen zum Ausdruck bringt. Den Vorwurf Esterbauers, die paradigmatische Religionsphilosophie in Wuchterl (1982) sei von einem nur negativ verstandenen Kontingenzbegriff bestimmt, übernimmt auch Dalferth (2000) S. 17/18: »Besonders deutlich wird das die Religionstheorie leitende pejorative Vorverständnis von Kontingenz bei Wuchterl, dessen Religionsphilosophie einer der elaboriertesten Versuche ist, die Religion im Verhältnis zur Kontingenz zu bestimmen«, und: »Wuchterl nennt in der Regel durchgängig negativ qualifizierte Kontingenzerfahrungen, identifiziert also tendenziell Kontingenz und Unglück«. Dagegen spricht deutlich Wuchterl (1989) S. 71 (u. a.): »Offensichtlich handelt Religionsphilosophie von Kontingenzen, denen Bedeutsamkeit existentieller Art zugeschrieben wird. Das heißt genauer, dass uns die Phänomene verwirren, verunsichern und beunruhigen, aber auch positiv reagieren lassen, indem sie als Glücksfälle oder gnadenhaftes Geschenk empfunden werden.«

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in Philosophie und Religion53 folgt nicht nur, dass auch Glücksfälle kontingent sind, sondern vor allem, dass der für Kontingenz unerlässliche Notwendigkeitsbegriff eine Ordnung voraussetzt, deren Nichtvorhandensein allein die Rede von Sinnlosem ermöglicht.54 Es ist wohl Esterbauers Abwertung des Modalgedankens zuzuschreiben, dass er die Bedeutung der Differenzierung von Notwendigkeiten für unsere Betrachtung nicht berücksichtigt, wenn er behauptet: »Eine Bestimmung zwischen den Begriffen ›nicht notwendig‹ und ›nicht möglich‹ nimmt dem Zufall den Geschehenscharakter, wonach Zufall betroffen machen kann […]« (61). Er übersieht hier einfach, dass der existenzielle Bezug eine spezielle Form innerhalb der allgemeinen Kontingenzbestimmung darstellt, die nicht anders als modal verstehbar ist. Diese Bemerkungen zeigen, dass es sich bei Esterbauer in seiner Lehre von der positiven Kontingenz weniger um eine Phänomenologie intersubjektiv zugänglicher Erscheinungen als vielmehr um einen theologischen Versuch handelt, die Kontingenzerfahrungen als Hinweise auf eine unmittelbar zugängliche Positivität zu interpretieren, die im Gottesglauben wirksam wird. Mit anderen Worten, die spezifische Qualifizierung der »Phänomene« erfolgt aufgrund latenter Glaubensprämissen. Der Zufall bei Esterbauer kann nur mit unserem Begriff des absoluten Zufalls in Zusammenhang gebracht werden, der durch den Leitbegriff der Positivität erweitert wurde. Er betrifft demnach zwar echte religionsphilosophische Kontingenzen, aber der positive semantische Überschuss, der den Charakter des »Zu-Fallens« im Sinne dess Kontingenzbegriffs bei Esterbauer ausmacht, muss als mögliche metaphorische Ausgestaltung der Art und Weise der Zuwendung des

53 Wuchterl (1982). 54 A.a.O. S. 43 bzw. 44: »Neben der Kontingenzerfahrung steht ein zweites Phänomen ganz im Mittelpunkt religiöser Problematik: Das Verlangen des Menschen nach körperlicher Integrität, Glück, Erfüllung und Vollendung oder – in theologischer Terminologie – das Heilsverlangen des Menschen.« Und: »Heilsverlangen bildet den psychologischen Hintergrund für die Aktivitäten der Kontingenzbewältigung. Das Zurückschrecken vor der Macht des Todes versteht sich aus dem Konflikt mit dem Glücksstreben.«

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»ganz Anderen« interpretiert werden: Die Semantik des Glücks kann nur unter dem ontischen Vorbehalt behauptet werden. In einem zweiten Beispiel zur Zufallsdiskussion, in dem die Abhängigkeit von theologischen Prämissen noch deutlicher wird, betrachten wir Dalferths Versuch, aus seinem oben in 4.1 dargestellten Kontingenzbegriff Folgerungen für den Zufall zu ziehen. Zunächst unterscheidet dieser zwischen Kontingenz als »Funktion des Handelns Gottes, seiner Freiheit, Güte und Gerechtigkeit« und dem »blinden Zufall«, der das bezeichnet, »was sich – wie im Horizont der Antike – aus der nicht auf Regeln zu bringenden Kombination irreduzibler Elemente als die instabile Konstellation einer Welt oder eines Lebens ergibt«. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall spricht Dalferth hier von zwei Sprachspielen.55 Das ist bei der Unbestimmtheit des Sprachspielbegriffs nicht sehr erhellend, soll aber wohl einerseits die Gleichsetzung ausschließen und andererseits doch etwas Gegensätzliches betonen. Offensichtlich kann der im Zitat erläuterte »blinde Zufall« dem »absoluten Zufall« zugeordnet werden, der als abstrakter Oberbegriff auch religionsphilosophische Kontingenzen enthält, während Dalferths Kontingenzbegriff wie bei Esterbauer durch einen zusätzlichen Leitbegriff, nämlich den der Passivität Gottes, ergänzt wird, der ebenso unter dem ontischen Vorbehalt steht. Nur unter dieser Voraussetzung kann Dalferth den Zufall als blind, mehrdeutig und unbedeutsam (im Sinne eines fehlenden existenziellen Bezugs) bezeichnen, während im absoluten Zufall auch religionsphilosophische Kontingenzen, die diesen Bezug stets voraussetzen, einbezogen sind. Man muss hier beachten, dass Dalferth in diesem Zusammenhang gegen Marquard und Blumenberg argumentiert und die modallogische Orientierung sowieso als obsolet betrachtet. Bezüglich Marquard verweist er auf die Mehrdeutigkeit des Schicksalsbegriffs; die pagane Lesart betrifft den blinden Zufall, die christliche dagegen die nur theologisch verstehbare Kontingenz.56 Bei Blumenberg kritisiert er in Analogie hierzu die Äquivalenz von absolutem Zufall und 55 Dalferth/Stoellger (2000) S. 4 bzw. 5. 56 A.a.O., S. 5, Anm.7.

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absolutem Willen (oder von Atomismus und Voluntarismus57), weil die Zuschreibung der Willkür zum absoluten Willen nicht gerechtfertigt ist, was die Argumentation Blumenbergs zur Begründung der Legitimität der Neuzeit stark relativiert und damit indirekt den theologischen Ansatz stärkt. Betrachten wir schließlich im Folgenden noch ein drittes Beispiel zur hermeneutischen Auseinandersetzung mit dem Zufall. In der Abhandlung Die aristotelische Lehre vom Zufall58 führt Rüdiger Bubner einen Kontingenzbegriff ein, der ausschließlich die Verschiebung der Thematik auf das Feld des Handelns und dort auf den »Logos bei Gelegenheit« legitimiert und der dann völlig vernachlässigt im Schatten des Interesses am Zufallsbegriff steht. Die Untersuchung beginnt mit der Feststellung, Zufall sei »dasjenige, für dessen Existenz es keinen Grund gibt. Denn gäbe es einen solchen, wäre das Ereignis, das als Zufall erscheint, vorhersehbar oder zumindest im Nachhinein erklärbar« (1). Diese indirekte Überlegung führt so lange zu keiner Klärung des Zufallsbegriffs, bis der Begriff des Grundes nicht näher bestimmt ist. Ein solcher Versuch folgt kurz danach: »Grund heißt nämlich dasjenige, das macht, dass etwas überhaupt ist und zwar so, wie es ist. Mithin liegen Gründe von Hause aus auf anderer Ebene als alles Zufällige.« Hier ergeben sich bereits zahlreiche Unklarheiten, die deutlich machen, dass es sich um keine ontologische Definition handeln kann. Denn in der Feststellung zum Zufall wird behauptet, dass Zufälliges existiert; aus der Charakterisierung des Grundes aber folgt, dass dieser es macht, dass etwas, also auch der Zufall, überhaupt etwas ist und zwar so, wie es bzw. er ist. Im letzten Fall der Konjunktion führt dies aber zu einem Widerspruch; denn dann hätte der Zufall ja doch Gründe haben müssen. Es ist aufschlussreich, dass Bubner hier von »verschiedenen Ebenen« spricht, auf denen sich Zufall und Gründe befinden. Das »Mithin« im zweiten Zitat, das eine logische Folgerung suggeriert, überdeckt eben diese und viele weitere verschwiegene Unklarheiten: Der Zufall existiert nicht 57 A.a.O., S. 4. 58 Bubner (1998). Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf diese Arbeit.

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auf gleiche Weise wie ein Raum-Zeit-Ereignis. Gründe bedeuten hier weder Ursachen und logische Antezedenzen noch intentionale Motive. Aber inwiefern kann dann ein Grund trotzdem für die Existenz der Ereignisse maßgebend sein, wenn er auf einer anderen Ebene liegt? In einer Erklärung ist der Rekurs stets auf Erfahrung im empirischen Sinn gemeint, womit auch Kausalzusammenhänge durch Gründe bestimmt wären – andernfalls würden Motive an die Stelle der Ursachen treten usw. Vorhersehbarkeit (auch im Sinne von Berechenbarkeit) und Erklärbarkeit haben epistemische Funktionen. Chaotische Zustände sind (von Menschen) nicht immer berechenbar, obwohl sie deterministisch bestimmt sind. Der epistemische Zufall ist also bei Bubner und – im Zusammenhang mit einer Untersuchung der aristotelischen Zufallstheorie – damit auch bei Aristoteles nicht vorgesehen. Das wird später (10) ausdrücklich bestätigt, wobei dort deutlich wird, dass es sich hier von Anfang an bei Bubner um die Handlungsebene und damit um eine real-teleologische Ebene handelt, von der er ausgeht: »Die aristotelische Ansicht, die auf Teleologie fußt, schließt solche Zufallstheorien aus, die mit dem Aufeinandertreffen mehrerer, unabhängig voneinander verlaufenden Kausalreihen rechnen.« Das Interesse des Aristoteles an der Klärung des Wesens des Zufalls speist sich nach Bubner aus praktischen Quellen. Nur so lässt sich das plötzliche Auftauchen der Kontingenz als Begriff neben dem Zufall verstehen. Bubner deutet die aristotelische Hinwendung zur teleologischen Handlungspraxis als Überwindung einer Opposition von Grund und Zufall (Grund als »Anti-Zufall«) (4). Aber die Begründung dieser Opposition verliert einiges an Überzeugungskraft, wenn man die widersprüchliche Charakterisierung des Wesens des Grundes bedenkt. Worum es Bubner ausschließlich geht, ist die Untersuchung der Sphäre des menschlichen Handelns, wo es weder Notwendigkeit noch hinreichende Gründe gibt, weil dort alles auch anders sein könnte. Denn durch das Handeln wird Wirklichkeit, die noch nicht ist, gestiftet. Die Bedingung der Möglichkeit dieses Geschehens nennt Bubner Kontingenz, das Faktum dagegen Zufall. Mit dessen Worten ausführlicher:

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»Um einer häufigen Begriffsverwirrung auszuweichen, sollte man Kontingenz nur jenen Raum nennen, der sich ontologisch erschließt, wo das Auch-anders-sein-können regiert. Zufall im strengen Sinne ist dann dasjenige, was innerhalb dieses vorgängig erschlossenen Raumes tatsächlich sich verwirklicht, wobei das faktische Eintreten einer aus einer Mehrzahl von Varianten ohne erkennbaren Grund erfolgt. Kontingenz heißt Zufälligkeit, und Zufall ist grundlos fixierte Kontingenz« (7). Damit ist der Weg frei für eine praktisch motivierte Theorie des Zufalls; die Kontingenz hat ihre Pflicht getan und tritt in dieser diffizilen Spezialbedeutung nicht mehr in Erscheinung, es sei denn schlicht als Synonym für Zufall (regelmäßig ab S. 14). Bei Aristoteles wird nach Bubner der Zufall »eine Zweckmäßigkeit im Modus des Als-ob«. In Kants Kritik der Urteilskraft avanciert die Zweckmäßigkeit zur finalen Notwendigkeit und heißt dort »Gesetzlichkeit des Zufälligen«.59 Bei Bubner schließlich bestimmt der Zufall den »Logos bei Gelegenheit« oder die Okkasionalität hermeneutischer Situationen (14)60, womit wir nun hier auf die eigentliche Absicht Bubners gestoßen wären, die er mit der Betrachtung des aristotelischen Zufallsbegriff verfolgt. Unter Berufung auf die »rhetorische Wende« in der Philosophie und gestützt auf die Ergebnisse der »negativen Hermeneutik« (Rorty, Derrida) werden statt inhaltlicher Konkretisierungen des so folgenreichen Okkasionalitätsprinzips die Gegenpositionen insbesondere im Umfeld der als monolithisch missverstandenen analytischen Philosophie61 und der exakten Wissenschaften ausgebreitet und kritisiert (16/17). Einzig einige Ausführungen zur aristotelischen Topik lassen erahnen, was eine »Logik bei Gelegenheit« oder gar eine »rhetorische Logik« bedeuten könnte. Es geht dort um die Hinführung vom Einzelnen zum Allgemeinen durch Beibringen von Beispielen, die naheliegend und unstrittig sind. Der Erfolg dieses epagogischen Verfahrens stellt sich ein, »wenn anhand des Unstrittigen […] eine Übertragung in die Augen springt 59 Kant (1793) B 344. 60 Bubner verweist hier speziell auf Gadamer. Zur okkasionalen Rationalität siehe unten 10.3

61 Siehe dazu die ausführlichen Überlegungen unten in 8.3.

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[…]. Übertragung heißt hier unmittelbare Strukturanalogie zwischen dem Beispiel und dem Streitfall, die gerade deshalb überzeugt, weil sie nicht zu ferneren Reflexionen und Erörterungen zwingt« (19). Diese allgemeinen Gesichtspunkte oder Topoi des Miteinanderredens werden durch dialektische Schlüsse mit nur wahrscheinlichen Prämissen ergänzt (20). Bubner bedauert zum Schluss, dass sich trotz der rhetorischen Wende keine Erneuerung der Topik durchgesetzt habe, die doch dazu beitragen könnte, die Macht des Zufalls einzuschränken. Dass unser Konzept sich entscheidend vom Umgang mit Kontingenz bei Bubner unterscheidet, kann an einzelnen Sätzen aufgezeigt werden, wie etwa in folgendem Beispiel: »Der Zufall ist nicht das, was verschwindet, wenn wir unsere Kräfte der Wirklichkeitsbeherrschung gehörig anstrengen« (7). Dies ist in einem epistemischen Ansatz durchaus möglich und völlig normal.62 Jedoch wird dieser Unterschied natürlich erst im Laufe der weiteren Überlegungen deutlich, die unserem Ansatz schärfere Konturen geben. Hier zeigt sich allgemein, wie der Verzicht auf eine Differenzierung des Kontingenz- oder Zufallsbegriffs die Möglichkeiten einer Verständigung verhindert. Diese Differenzierung ist zugleich Bedingung einer wenigstens minimalen Ordnung, die nicht gleich zum Schreckgespenst einer »losgelassenen Logik« (Theodor W. Adorno) hochstilisiert werden muss. Neben der praktischen Vernunft ist es vor allem der Komplex der Geschichtlichkeit, der in der Kontingenz-Diskussion der Hermeneutik im Zentrum steht. Mit einem vagen Kontingenzbegriff lassen sich auch historische Prozesse leicht »verstehen« und so kann die heutige Kontingenz-Diskussion selbst als Ergebnis eines historischen Prozesses beschrieben werden, wie dies auch die bereits erwähnte Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« in der Verdeutlichung ihrer Arbeitshypothese von einem zunehmenden Kontingenz-Bewusstsein getan hat.63 Wie in allen »großen Erzählungen« kann man auch hier die Frage stellen, wer in diesen Geschichten die eigentlichen erzählenden Subjekte sind. Sind es die Gebildeten, die Experten, die Philosophen 62 Siehe unten 5.1. 63 Graevenitz/Marquard (1998) S. XII.

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oder Historiker, bestimmte Schulen, Forschergemeinschaften oder einfach diejenigen, die in den Medien das Sagen haben? Wie soll man »die Schwächung Gottes« in der Moderne verstehen, in einer Zeit, in der nicht nur Fundamentalisten, religiöse Fanatiker und Esoteriker den (angeblich gottlosen) Zeitgeist mitbestimmen, sondern ebenso ernst zu nehmende Menschen, die sich auch »nach der Aufklärung« und trotz Nietzsche, Marx und Freud noch als religiös bezeichnen? Franz J. Wetz sieht die These vom zunehmenden Kontingenz-Bewusstsein am Beispiel der Kontingenz der Gesamtwelt bestätigt und spricht angesichts der Inflation und der angeblich geschichtlich beweisbaren Selbstaufhebung des Kontingenzbegriffs auch von dessen Anachronismus. Für unsere Überlegungen interessant ist der letzte Passus des Aufsatzes, der dieser »großen Erzählung« vom Bedeutungsverlust der Kontingenz im Laufe der Geschichte folgt. Wetz stellt fest: »Wir mögen jeglichen höheren Sinn der Welt als das unwiederbringliche Verlorene auf sich beruhen lassen können, […] mit dem Verlauf unseres Lebens können wir es so leicht nicht. Verlegenheit über die Unfähigkeit, uns selbst die Voraussetzungen für unsere Existenz zu geben, Beunruhigung über die Kürze menschlichen Daseins, Bestürzung über die eigene Entbehrlichkeit im Ganzen der Welt, Bekümmerung über die Last des Alltags und Ratlosigkeit vor allem bei harten Schicksalsschlägen setzen uns Fragen aus, von denen es heißt, dass sie uns die Kontingenz unseres Lebens, die Unverfügbarkeit über Schicksalsfügungen, drastisch vor Augen führen […].«64 Genau an solche existenziell belangvollen Kontingenzerfahrungen knüpft unser Begriff der religionsphilosophische Kontingenz an, während in den Augen einiger Hermeneutiker in der Gegenwart alles kontingent geworden ist und daher außertheologische Betrachtungen zur Kontingenz eher als ein nostalgisches Desiderat betrachtet werden sollten. Aber wenn in der Moderne die Verbindung zu Gott und der Rekurs auf ein transzendentales Subjekt ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, heißt dies noch nicht, dass nichts mehr notwendig ist. Es besagt nur, 64 Wetz (1998b) insbes. S. 104.

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dass die einst zusammen mit den Titeln »Gott« und »Vernunft« gedachten historischen Ordnungen nicht mehr als Bedingungen für Notwendigkeit und Kontingenz anerkannt werden. Die Lebenswelten haben sich geändert. Marquard versucht in seiner Apologie des Zufälligen, in der die Notwendigkeiten angeblich ihre Allmacht verlieren, eine neue Deutung der alten Problematik aus der Perspektive der neuen Lebenswelten zu entwickeln. In ihr stellt er dasjenige Beliebigkeitszufällige, das wir nicht ändern können, dem Schicksalszufälligen, das prinzipiell in der Unverfügbarkeit stehen bleibt, gegenüber. Dieser Bezug zum Schicksalsgedanken verrät aber eine neue mitgedachte Ordnungsinstanz, in der etwas notwendigerweise so geschieht, wie es geschieht. Notwendigkeit und Kontingenz werden durch diese Lebensweltperspektive nicht anachronistisch, sofern die existenzielle Dimension einbezogen bleibt. Das bedeutet, dass die Kontingenz einst theologisch begründet war, ist der Problematik nicht wesentlich, womit auch die These von der Zunahme des Kontingenzbewusstseins im Laufe der Geschichte ihre Begründungsbasis verliert. Die Situation hat sich in der uns wichtig erscheinenden Hinsicht damit nicht verändert: Die religionsphilosophischen Kontingenzen haben den Status anthropologischer Grunderfahrungen über die Zeiten hinweg. Die Beliebigkeit des Zufallsbegriffs und damit auch des Kontingenzbegriffs im Umfeld der Hermeneutik spiegelt die grundsätzliche Unbestimmtheit einer »pluralisierten Hermeneutik« wider. Schon HansGeorg Gadamers Methodenkritik und seine Ableitung der Struktur des Verstehens aus einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem »Zufall« in einer unüberschaubaren Bedeutungsvielfalt tradiert wird, verhindern begriffliche Differenzierungen. Geradezu unmöglich werden solche Unterscheidungen in Jungs »Pluralität der Hermeneutik«, in der die Wirklichkeit von der Vielfalt der Verstehensformen und der zugehörigen Theorien aufgrund einer diffusen lebensweltlichen Erfahrung bestimmt wird.65 Obwohl Jung den Traditionalismus, die Sprachontologie und die radikale Distanzierung vom Methodengedan65 Jung (1999).

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ken Gadamers in Wahrheit und Methode kritisiert,66 entwickelt er im Anschluss an Wilhelm Dilthey und William James einen ästhetischen Erfahrungsbegriff, dem der religiöse kategorial untergeordnet wird. Der lebensweltliche Aspekt, in dem die Macht des »objektiven Geistes« in der Form der Ästhetisierung weiterlebt, verlagert das Religiöse ins Diesseits der Grenze: Die »strukturelle Affinität zwischen religiösem und ästhetischem Erleben […] lässt sich nun genauer bestimmen, nämlich als zwingende Konsequenz aus der ästhetischen Grundform des Lebenszusammenhangs als solche«. Weiter heißt es bei Jung: »Der hermeneutisch-ästhetische Bezugsrahmen innerer Erfahrung präjudiziert die Deutung religiöser Phänomene, indem er dazu nötigt, sie vorab als Ausdrucksgestalten zu betrachten, die der bedeutungsstiftenden Immanenz des objektiven Geistes zugehören.«67 Deutlicher kann die Verschiedenheit unseres Ansatzes von dem einer pluralisierten Hermeneutik nicht formuliert werden.

66 Jung (2001) S. 132 f. 67 Jung (1999) S. 132 bzw. 133.

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Nach der Bereitstellung der Grundlagen und nach den Abgrenzungen des eingeführten Kontingenzbegriffs von anderen Verwendungsweisen wenden wir uns nun dem eigentlichen Thema zu, nämlich der Klärung der Grenzen der Vernunft und deren Verhältnis zu den beiden anderen Ordnung stiftenden Instanzen Wissenschaft und Religion mit Hilfe dieses Leitbegriffs. Wenn Kontingenz etwas mit Ordnungsbrüchen zu tun hat, dann bedeuten Kontingenzbewältigungen Überbrückungsversuche solcher Unstetigkeitsstellen. Diese gelingen zum Teil in der wissenschaftlichen Praxis (5.-6.) und in der philosophischen Reflexion (7.-8.), scheitern aber an der Erfassung des Ganzen. Der Umgang mit dieser Grenzerfahrung bestimmt das menschliche Grundverhältnis zum »Anderen der Vernunft« und insbesondere zu religiösen Phänomenen.

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Eine weit verbreitete Form der Religionskritik beruft sich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Dass die massivsten Vorwürfe gegen die Religion allerdings moralischer und gesellschaftlicher Natur sind, wird damit nicht bestritten. Aber die Grundlagen von Moral und Gesellschaft stehen ihrerseits im Visier sowohl naturalistischer als auch funktionalistischer Angriffe, wobei die Thematisierung naturgesetzlicher Kontingenzbewältigungen eine entscheidende Rolle übernimmt. In diesen werden Kontingenzen dadurch beseitigt, dass unverstandene und zugleich beunruhigende Ereignisse mit Hilfe allgemein anerkannter Naturgesetze erklärt werden. Das kann auf ganz verschiedenem Niveau erfolgen, angefangen bei der einfachen Erklärung des Blitzes durch elektrische Vorgänge in der Atmosphäre bis hin zur völlig unanschaulichen Zeitdehnung (Zeitdilatation) durch die spezielle Relativitätstheorie.1 Die meisten Menschen haben nur eine vage Vorstellung von den wissenschaftlichen Gesetzen und von bewährten Theorien. Trotzdem fühlen sie sich legitimiert, sich auch ohne Kenntnis wissenschaftstheoretischer Feinheiten im Namen der Naturwissenschaft von der Religion zu distanzieren. Es reichen im Allgemeinen bestimmte Standardbeispiele aus, die für das Ganze der Wissenschaft stehen und für das Urteil über die Religion insgesamt verantwortlich sind. Dazu gehören beispielsweise Unfälle und Krankheiten, die sich aus erklärbaren Umständen und medizinischen Sachverhalten verstehen lassen. Durchschaute physikalische oder bakteriologische Zusammenhänge genügen, um einzelne kontingente Phänomene zu beseitigen und ein Eingreifen übernatürlicher Mächte als absurd abzulehnen. Schon die einfache Berufung auf die Geltung des Kausalgesetzes erklärt viele 1 Darunter versteht man die Tatsache, dass die Zeit in einem gleichförmig bewegten System für einen Beobachter im ruhenden System langsamer abläuft als im eigenen System.

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Phänomene, beseitigt dadurch zahlreiche Kontingenzen und macht bei vielen Menschen damit die Religion überflüssig. So festigt sich die Vorstellung, dass alle Kontingenzen durch Einordnung der betreffenden Phänomene in ein wissenschaftliches Gesamtkonzept bewältigt werden können und es prinzipiell keine religionsphilosophischen Kontingenzen geben kann. Der Fachmann überblickt weite Teile des Ganzen und orientiert sich an Standardmodellen der Wissenschaft, die innerhalb der etablierten Forschergemeinschaft anerkannt werden. Für unsere Überlegungen zu Grenzfragen sind vielfach bewährte Elemente derjenigen Modelle von Bedeutung, die den Status einer wissenschaftlichen Theorie erhalten. Solche Theorien setzen gewisse Prämissen voraus. Dazu gehören z. B. für den naturwissenschaftlichen Bereich:2 – Die Begrifflichkeit der Theorie ist durch die Reglementierung einer elementaren Logik bestimmt.3 – Bewährte Hypothesen der Theorie, also so genannte Naturgesetze, haben den heuristischen Status von Axiomen. – Die Naturgesetze beziehen sich auf Relationen zwischen materiellen Gegenständen im Raum-Zeit-Kontinuum der modernen Physik.4 – Gegenstände samt deren Veränderungen und gegenseitige Beziehungen, Bewegungen und Einflüsse können durch solche wissenschaftlichen Theorien mittels der Naturgesetze beschrieben und erklärt werden. 2 Genauere Ausführungen über Standardmodelle und zu den damit verbundenen noch offenen Fragen in Wuchterl (1989) S. 87 f. sowie (1999) 1.6.

3 Es handelt sich um die extensionale Aussagen- und Prädikatenlogik mit Identität, sowie um eine Semantik mit selbstidentischen Begriffen in einem widerspruchsfreien Gesamtsystem. Siehe das schon erwähnte Standardwerk von Kutschera: Elementare Logik (1967) 1.–3. 4 Eine Alternative zu dieser bei den meisten Naturforschern vorherrschenden Meinung vertritt Mutschler in (2002) Abschnitt 3.1, wobei die Unterscheidung des Physikalischen vom Physischen zugrunde gelegt wird. Letzteres bezieht die praktische Lebenswelt mit ein und enthält nach Mutschler real-teleologische Elemente (vgl. technische Produkte wie Autos), die sich physikalisch nicht adäquat beschreiben lassen. Zu Mutschler siehe unten 7.2.

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Mit dem Fortschritt der Wissenschaften haben diese Modelle viel an Anschaulichkeit verloren. Das beginnt mit der Relativitätstheorie, in der fundamentale Begriffe wie Raum und Zeit so modifiziert wurden, dass die alten naiven Annahmen von Gleichzeitigkeit, von der räumlichen und zeitlichen Grenzenlosigkeit, von der Unmöglichkeit eines Zeit- oder Raumanfangs in anschaulich nicht mehr erfassbare Alternativen verwandelt wurden. Ähnliches gilt auch für die Quantentheorie und erst recht für die zahlreichen Konzepte zur Quantengravitationstheorie. Hier wird der Auffassungsgabe noch mehr zugemutet; man denke an die Quantelung nicht nur von Energien, sondern auch des Raumes und der Zeit5, ferner an die Unschärferelation oder an die Verschränkung von Systemen, die alle jenseits jeder Anschauungsmöglichkeit liegen.6 Das Ziel, in einer so genannten Quantengravitation alle entscheidenden Grundlagenprobleme zu lösen, kann sicherlich nur unter Verwendung unanschaulicher mathematischer Formalismen erreicht werden. Sind schon die beiden bedeutendsten Kandidaten, nämlich die Stringtheorie und die Schleifen-Quantengravitation schwer zu veranschaulichen, so werden seit einiger Zeit sogar Konzepte diskutiert, in denen man sich selbst von der bisherigen Grundannahme verabschiedet, dass die Physik Prozesse in der uns umgebenden RaumZeit-Welt beschreibt.7 Außerdem lassen sich einige fundamentale Theorieelemente ganz verschieden interpretieren. Die Berufung auf Standardmodelle behält also einen provisorischen Charakter. Trotzdem wird die Vielfalt der Hypothesen und Interpretationen innerhalb eines wissenschaftlichen Gesamtkonzepts entfaltet, das beispielsweise die Möglichkeit partieller Bestätigungen durch Beobachtung und Experiment voraussetzt und in der Instrumentenwelt anschaulich bleiben muss. Ebenso müssen konkurrierende Theorien und deren Interpretationen gewisse Minimal5 Das heißt, dass auch Raum und Zeit keine Kontinua sind und die letzten diskreten Teile nicht mehr unterteilt werden können. 6 Eine Einführung in die philosophisch relevanten Grundprobleme für den einfachsten Fall der Quantentheorie findet man in HB Abschnitt E. 7 Ein Beispiel vertritt Kiefer (2008) in seinem Buch Der Quantenkosmos.

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bedingungen erfüllen, z. B. von Widersprüchen frei sein, und zudem sollten sie ein weiter gehendes Erklärungspotenzial aufweisen als die Alternativen.

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Die zahlreichen Prämissen, die der naturwissenschaftlichen Praxis zugrundeliegen und den Fachleuten wenigstens zum Teil bewusst sind, werden diese vor zu weit gehenden und voreiligen Berufungen auf wissenschaftliche Erkenntnisse bewahren, wenn es um Reflexionen zu religiösen Fragen geht. Denn jede gesetzte Voraussetzung kann Objektbereiche ausschließen, die gerade in der Religion von Bedeutung sein können. Allerdings ist die Versuchung groß, wissenschaftliche Vorgehensweisen zu verallgemeinern und der pauschalen Religionskritik zuzustimmen. Denn die Extrapolation gehört in den Wissenschaften zur gängigen Arbeitsmethode. Vieles beginnt mit induktiven Schlüssen, in denen von einzelnen beobachteten oder experimentell beherrschbaren Fällen auf noch unbekannte und unzugängliche Phänomene extrapoliert wird. Dann ist es naheliegend, die Ergebnisse auch auf alle denkbaren Fälle zu übertragen. Solche Extrapolationen führen schließlich zur Aufstellung eines allumfassenden Prinzips, zur so genannten Selbstorganisation der Natur.8 Dieses besagt, dass alles, was ist und geschieht, durch die in der Natur wirkenden Gesetzlichkeiten verständlich gemacht werden kann. Man spricht auch von der naturgesetzlichen Abgeschlossenheit der Welt. Die hier zugrundeliegende universelle naturgesetzliche Determination betrifft ebenso das Naturwesen Mensch mit seinen vielfältigen kulturellen Leistungen, ferner jegliche bekannte als auch jede noch nicht erkundete Gesetzmäßigkeit und legitimiert sich als Extrapolation der bisher vollzogenen naturgesetzlichen Kontingenzbewältigungen. Aber diese Legitimation beruht auf einem Willkürakt, sie ist eine dogmatische Kontingenzbewältigung. Denn der Anspruch geht weit 8 Über die verschiedenen Bedeutungen von Selbstorganisation siehe Stöckler (1994).

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über das hinaus, was in der Forschergemeinschaft als allgemeingültig eingefordert werden kann.9 Problematisch ist vor allem die extreme Annahme der Quantifizierung und Mathematisierung der gesamten Welt. Wäre diese möglich, ließe sich die naturgesetzliche Notwendigkeit auf die logische zurückführen, und damit wäre die Selbstorganisation einsichtig. Diese Möglichkeit ist in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus10 angedeutet. In dem dort entwickelten »logischen Atomismus« wird aber eine Idealsprache mit solch starken Prämissen postuliert, dass sie weder die in den Wissenschaften verwendete Sprache noch die dort betrachteten Naturgesetze repräsentiert. Zu den Voraussetzungen zählt die Annahme, dass alle Individuen, Prädikate und Relationen samt der in den Naturgesetzen auftretenden Begriffe in dieser Sprache ausgedrückt und die zugehörigen Elementarsätze aufgezählt werden können. Damit lässt sich zwar jede Teilmenge aus der Gesamtheit der Elementarsätze als eine »denkbare Welt« auffassen und so der für die Semantik wichtige Intensionsbegriff veranschaulichen; aber die Reduktion der Naturgesetze auf logische Selbstverständlichkeiten wird wegen der Aussparung der konkreten Verwicklungen trivial.11 Selbst die Beschränkung auf eine rein formale syntaktische Definition der Kontingenz führt nicht zum Ziel. Zu diesem Zweck setzt man bezüglich einer Sprache eine vollständige Axiomatisierung der Logik und der dort formalisierbaren Naturgesetze voraus. Die in diesem System unentscheidbaren Sätze werden dann als kontingent definiert. Aber aufgrund des Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes er-

9 Die Charakterisierung der Selbstorganisation als »dogmatisch« könnte Assoziationen zum abwertenden Gebrauch des Wortes im religionskritischen Disput hervorrufen; wir verwenden das Wort hier aber – ähnlich wie Kant – nur im methodologischen Sinn, nämlich als Hinweis auf das Fehlen einer Kritik des eigenen Vermögens. Kant schreibt im Vorwort zur Kritik der reinen Vernunft (BXXXII): »Dogmatismus ist also das dogmatische Vorgehen der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.« 10 Wittgenstein (1922) 11 Literatur hierzu bei Hoering (1976) S. 1037 f.

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geben sich viel zu viele kontingente Sätze. Außerdem beeinflusst die Wahl des Logiksystems, welche Sätze kontingent sind.12 Wichtig ist vor allem das folgende Problem, das im Dogma der Selbstorganisation einfach vom Tisch gewischt wird. Naturgesetze werden im Allgemeinen als echte Allsätze betrachtet, das heißt, sie treffen auf unendlich viele Einzelfälle zu. Da endliche Wesen nicht alle Fälle testen können, sind die Gesetze nicht verifizierbar. Es bleibt nur die Möglichkeit, Gegenbeispiele vorzuführen und damit die Annahme zu falsifizieren.13 Wenn das behauptete Naturgesetz wirklich gilt, wird sich kein Gegenbeispiel einfinden, und man kann zufrieden, aber nicht sicher sein. Wenn das betrachtete »Naturgesetz« dagegen eine falsche Hypothese ist, klärt das Gegenbeispiel alles. Betrachten wir nun anstelle der echten Allsätze das Prinzip der Selbstorganisation der Natur, so ergibt sich folgende Schwierigkeit: Ein Gegenbeispiel wäre ein Fall, der (noch) nicht durch Naturgesetze erklärt werden kann. Da das Prinzip der Selbstorganisation besagt, dass prinzipiell alles erklärbar sein muss, kann es gar keine Gegenbeispiele geben, das heißt, die Selbstorganisation ist nicht falsifizierbar und damit kritikimmun und dogmatisch. Die Selbstorganisation stellt so letztlich einen Blankoscheck für alle zukünftigen wissenschaftlichen Begründungsverpflichtungen dar. Denn sie betrifft zahlreiche Bereiche, die bis heute mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht einmal andeutungsweise untersucht werden können und deren naturalistische Charakterisierung zu spekulativ ist und nicht zur Wissenschaftspraxis gehört. Zudem bezieht sich das Universalprinzip der Selbstorganisation selbst im engeren Anwendungsbereich des Materiellen nicht nur auf die Fälle, in denen Neues aus naturwissenschaftlich exakt beschreibbaren Systembedingungen entsteht, sondern auch auf die »Emergenzen«, in denen Unerwartetes und Unvorhersagbares zu naturgesetzlichen Notwendigkeiten erklärt werden. Der schon im 19. Jahrhundert erstmals von George H. Lewes 12 Weitere Schwierigkeiten erwähnt Hoering a.a.O. Über Gödel siehe Dawson (1999) und HB 14.1.

13 Zur Falsifizierbarkeit siehe Popper (1976) Kap. IV.

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verwendete Begriff der Emergenz14 wurde von C. D. Broad genauer definiert; Emergenz bedeutet demnach, »dass das charakteristische Verhalten eines Ganzen nicht aus der vollständigen Kenntnis des Verhaltens seiner Komponenten – seien sie gesondert oder kombiniert – sowie aus den Verhältnissen und Anordnungen in diesem Ganzen abgeleitet werden kann«.15 Emergenz kann sich als nur scheinbar erweisen, wenn es der Forschung gelingt, die betreffende Wissenslücke zu schließen. Insofern ist die Selbstorganisation, die keine Lücken zulässt, eine sinnvolle Arbeitshypothese oder regulative Idee, welche die Forschung leitet und vorantreibt. Doch faktisch nicht aus den Systembedingungen erklärte Zusammenhänge, also echte Emergenzen, lassen sich nicht durch ein gesetztes Postulat aus der Welt schaffen: Sie signalisieren Kontingenzen, die naturgesetzlichen Bewältigungsversuchen widerstehen. Durch ihre Extrapolation zu Prinzipien des gesamten Seins erhalten die Naturgesetze einen metaphysischen oder ontologischen Status,16 der wissenschaftlich nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Die wissenschaftliche Vernunft überschreitet also mit der Einbeziehung aller Emergenzen und mit der These der absoluten Geltung der Selbstorganisation ihre Grenzen. Die dogmatische Kontingenzbewältigung ist nicht mehr naturwissenschaftlich legitimiert, sondern durch verdeckte ontologische Prinzipien vollzogen, innerhalb derer die Selbstorganisation in Frage gestellt werden kann, also kontingent ist. In einer verwissenschaftlichten Welt vertrauen die Menschen den zu solchen metaphysischen Ehren gekommenen Naturgesetzen mehr als der Religion. Man spricht dann häufig von einer Asymmetrie im 14 Erstmals bei Lewes: Problems of Life and Mind (1875). 15 Broad (1925) S. 59. Zur aktuellen Diskussion von Emergenz und Reduktion siehe Vaas (1995) und insbesondere die Definition in Beckermanns Aufsatz Supervenience, Emergence, and Reduction, in: Beckermann/Flohr/Kim (1992), S. 114 16 Wir ziehen den Begriff der Ontologie dem der Metaphysik vor, weil mit Letzterem zu oft Assoziationen zur metapysica specialis verbunden sind, die sich mit den transzendenten Totalitäten der Kritik der reinen Vernunft Kants befassen und dort vor allem das Gottesproblem meinen. Uns geht es hier dagegen um die transzendentalen Bedingungen des Seienden (Kants metaphysica generalis). Siehe unten 6.1.

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Verhältnis von der Naturwissenschaft zur Religion: religiöse oder theologische Aussagen dürfen demnach nie naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, wogegen Naturwissenschaftler in ihrer Forschung auf religiöse Überzeugungen keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Damit werden alle Versuche zurückgewiesen, beiden Bereichen ihre Eigenständigkeit zuzugestehen. Aber unter der Prämisse einer aufgeklärten Religiosität lässt sich diese Asymmetrie nicht aus der Wissenschaft selbst begründen, sondern eher aus der schon erwähnten Tatsache, dass das Verhältnis zur Religion vorwiegend durch biographische Vorgaben, permanente Einflüsse, sowohl positiver wie negativer Art, und vor allem durch persönliche Erfahrungen bestimmt ist. Nicht die Abwägungen theoretischer Möglichkeiten entscheiden über den Glauben an eine uns in den Naturgesetzen verfügbare Welt oder über eine religiöse Option, sondern es sind langwierige Glaubwürdigkeitsprozesse, die kleine Bruchstücke des Vertrauens oder des Misstrauens aneinanderreihen. In Konfrontationen wird dann der gerade erlangte Überzeugungsstand nachträglich durch rationale Konstruktionen gestützt und argumentativ ergänzt. Wer als Kind in einer religiösen Familie aufwächst, reagiert auf mediale Angriffe gegen religiöse Denkformen und Gefühle anders als derjenige, für den ähnliche Herabsetzungen zum Alltag gehören. Beispielsweise sind auch die Reaktionen auf Standard-Polemiken im Zusammenhang mit historischen Verfehlungen (Kreuzzüge, Inquisitionen, Hexenverbrennung, Glaubenskriege usw.) vorgezeichnet. Während der Gläubige sich auf einen von den Missständen unberührten Kern beruft, wird der Skeptiker das Übel auf das Wesen der Religion beziehen und diese in toto verurteilen. So ist es gerade die Aufgabe der Philosophie, hier insbesondere der Religionsphilosophie, solche Prozesse zum Bewusstsein zu bringen. Die Kenntnis der zugrundeliegenden Mechanismen kann ein neues Glied in der Kette der prägenden Faktoren sein und so neue Gesamtbewertungen beeinflussen. Möglicherweise stellt sich dann die Überzeugung ein, dass Naturgesetze vorwiegend auf technische und berechenbare Zusammenhänge beschränkt werden sollten und im Feld personaler Entscheidungen auch Alternativen zu bedenken

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sind. Dann verlöre zugleich die Überzeugung an Plausibilität, religiöse Aussagen nur als Lückenbüßer eines naturwissenschaftlichen Nochnicht-Wissens zu betrachten und für den kulturellen Fortschritt als überflüssig zu erachten. Die philosophische Kritik an der Selbstorganisation kann nur dann überzeugen, wenn diese ihre eigenen Prämissen offenlegt, das heißt, wir müssen uns Klarheit darüber verschaffen, welche ontologischen Kompetenzannahmen gerechtfertigt sind und ob die autonome Vernunft, die einen ähnlichen Anspruch auf eine Erklärung des Ganzen erhebt wie die Selbstorganisation, das letzte Wort ist oder auch auf Grenzen stößt, die für religionsphilosophische Kontingenzen Raum lassen. Wenden wir uns zunächst der Ontologie zu.

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Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überschreitet deren methodischen Rahmen. Die Verfassung der ihr zu Grunde liegenden Ontologie wiederum lässt Zweifel an der Möglichkeit einer »Theorie für Alles« aufkommen und widerspricht der weit verbreiteten Annahme eines einheitlichen wissenschaftlichen Weltbilds. Zudem erweist sich bei näherer Betrachtung die moderne Wissenschaft wegen ihrer geschichtlichen Abhängigkeit als extrem kontingentes Unternehmen.

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Spekulationen über das Ganze des Seins sind seit alters her das Thema der Metaphysik. Heute ist diese aus dem Kanon der philosophischen Disziplinen verschwunden; sie wurde inzwischen zum Inbegriff antiquierten Denkens. Diesen Niedergang verbindet man häufig mit Kant, jenem »Alleszermalmer«, der erstmals die Metaphysik einer scharfen Kritik unterzog. Aber Kant unterschied in Anlehnung an Christian Wolff zwischen der metaphysica specialis, der Lehre vom Ganzen der äußeren Welt (Kosmos) und der inneren Welt (Seele) sowie vom Gesamtsein (Gott), auf der einen Seite und der metaphysica generalis, der Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit der Welt der Erscheinungen, auf der anderen Seite. Während Kant die erste Form einer radikalen Kritik unterzog, entwickelte er die heute meist als Ontologie bezeichnete metaphysica generalis als transzendentalphilosophische Analyse von Raum, Zeit und den Kategorien. Diese Ontologie orientierte sich in der Kritik der reinen Vernunft ganz an dem Stand der damaligen Naturwissenschaften, also speziell an der Newton’schen Physik, die beispielsweise die Absolutheit von

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Raum und Zeit voraussetzt. Heute gilt hingegen Einsteins Relativitätstheorie, in der Raum und Zeit als relative Bezugsgrößen betrachtet werden, die zudem eine raum-zeitliche Einheit bilden. Ferner trat an die Stelle des anschaulichen mechanischen Grundgerüsts bei Kant eine völlig unanschauliche Quantentheorie, in der die Energie nur portioniert gedacht wird, das Kausalitätsprinzip außer Kraft getreten ist und Unschärferelationen sowie Verschränkungen gelten. Der komplexen Gesamtheit physikalischer Theorien der Gegenwart lässt sich gedanklich wieder eine metaphysica generalis oder Ontologie zuordnen, die alle Möglichkeitsbedingungen des Wissenschaftsganzen enthielte. Wäre diese bekannt, könnte sie die Grundlage für eine »Vereinigte Feldtheorie« liefern, von der heute unter dem Etikett der »Weltformel« so viel die Rede ist.1 In ihr wäre geklärt, ob und wie die von der Relativitätstheorie ermöglichte Beschreibung der Welt im Großen mit der Beschreibung der Welt im Kleinen durch die Quantentheorie zusammenhängt und wie die vier uns bekannten Kräfte Gravitation, elektromagnetische Kraft, schwache und starke Wechselwirkung aus einer einzigen Grundkraft abgeleitet werden können. Eine solche Ontologie enthielte damit die Bedingungen der Möglichkeit der modernen Wissenschaft, weil in der neuen Theorie sowohl die Welt im Mikro- als auch im Makrokosmos erklärbar wäre. Spätestens seit Stephen Hawkings populären Veröffentlichungen2 vermuten viele Laien, dass die Wissenschaft kurz vor dem endgültigen Durchbruch stehe und es nur noch eine Frage der Zeit sei, mit jener Weltformel die universelle Ontologie in den Griff zu bekommen und alles erklären zu können. Keineswegs zufällig nennt man diese Formel meist »Theorie für Alles«. Die Formulierungen Hawkings betreffen diesbezüglich auch weniger Beschreibungen von allgemein anerkannten physikalischen Tatsachen oder Einzelheiten der angestrebten Vereinigung der Relativitätstheorie mit der Quantentheorie 1 Einzelheiten in Barrow (1992): Theorien für Alles. 2 Auf den Bestseller Die kurze Geschichte der Zeit (dt. 1988) folgten Hawking/Mlodinow: Die kürzeste Geschichte der Zeit (2009) und kurz danach Hawking/Mlodinow: Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums (2010).

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zur Quantengravitation, sondern beziehen sich häufig auf Fragen, die man bisher kaum zum Kompetenzbereich der Physik gezählt hätte und die bis heute von niemandem wissenschaftlich beantwortet werden können. Da heißt es etwa, mit der neuen Theorie werde man erkennen, »warum es uns und das Universum gibt«, oder es wird behauptet, die Menschen würden damit endgültig den »Plan Gottes« zu entziffern in der Lage sein;3 denn nach Hawking lässt sich der Inhalt der Weltformel als Gedanke Gottes im Akt der Weltschöpfung verstehen.4 Der Laie kann an diesen Stellen der Lektüre nicht erkennen, ob es sich hier um harte wissenschaftliche Erkenntnisse handelt oder nur um Vermutungen oder Science Fiction-Spekulationen. Und wer könnte es schon wagen, einer Kapazität wie Hawking vorzuwerfen, er habe mit seinen Prophezeiungen, sofern sie wirklich »alles« betreffen, die wissenschaftliche Kompetenz überschritten und nur ein persönliches Glaubensbekenntnis ausgesprochen? Es ist zwar nicht abzustreiten, dass Hawking als ALS-Patient auf seinem Leidensweg, der nun schon ein halbes Jahrhundert währt, wie kein anderer die Kontingenz in all ihren Ausprägungen am eigenen Leib erfahren hat.5 Aber die angedeutete totale und endgültige Kontingenzbewältigung, in der sich alles beantwortet, unterscheidet sich wesentlich von den üblichen naturgesetzlichen Kontingenzbewältigungen, die Hawking in seinen wissenschaftlichen Entdeckungen vollzogen hat und die möglicherweise aus seinen kühnen kosmologischen Hypothesen im Einzelnen noch gefolgert werden können. Die Idee einer »Theorie für Alles« enthält im Keim das vermutete »moderne wissenschaftliche Weltbild«, in der offensichtlich das Prinzip der Selbstorganisation eine entscheidende Rolle spielt. Genau dieses Weltbild müsste gemeint sein, wenn sich oberflächliche Religionsverächter auf die Naturwissenschaften berufen, um ihre antireligiösen Angriffe zu begründen. Die dahinter stehende, als unüberbietbar be3 Hawking/Mlodinow (2009) S. 167. 4 Hawking (1988) S. 218. 5 Ausführliche biographische Daten findet man in Vaas (2008), speziell bezüglich Hawkings Verhältnis zur Religion S. 41 ff.

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trachtete Ontologie wirkt für sie wie ein harter Fels, an dem alle religiösen Überzeugungen zerschellen müssen.6 Nicht zuletzt wird man hier wieder an Blumenbergs »Absolutismus der Wirklichkeit« erinnert, dessen Konturen sich nach seiner Überzeugung schon seit Kopernikus abzeichneten und im Prozess der objektivistischen Entzauberung der Welt immer deutlicher zum Vorschein gekommen seien. Die blutleere »Theorie für Alles«, dieser Gipfelpunkt des menschlichen Forschergeistes, erscheint wie eine Metapher für die Sinnlosigkeit und Gleichgültigkeit der Gesamtwirklichkeit. Aber – wie Emmanuel Lévinas entgegenhält – »selbst wenn am Ende alles gewusst wird, glauben wir nicht, dass das Wissen der Sinn und der Zweck von allem ist«.7 Auch vorsichtige Kritiker wissen, dass es bis heute kein solches einheitliches Weltbild gibt. Man sucht vergebens nach modernen Naturphilosophien mit ausgearbeiteten Ontologien, die den Forschungsstand der Naturwissenschaften berücksichtigen und das Wissen als einheitliches Ganzes darzustellen vermögen. Früher versuchten vorwiegend naturwissenschaftlich gebildete Philosophen wie Moritz Schlick, Otto Neurath oder Rudolf Carnap, die logischen, methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der modernen empirischen Wissenschaften im Allgemeinen zu klären und auf dieser Basis im Rahmen einer so genannten »wissenschaftlichen Philosophie«8 eine einheitliche Weltsicht zu suggerieren. Aber nachdem gleichzeitig immer häufiger die Wissenschaftler selbst philosophische Reflexionen zu ihren Spezialgebieten durchführten – wie Einstein in der Relativitätstheorie oder Planck in der Quantentheorie –, verbreitete sich allmählich die Überzeugung, dass allein solche Spezialisten für die Bearbeitung naturphilosophischer Probleme zuständig seien. Da bei diesen aber naturgemäß das Augenmerk auf das eigene Fachgebiet gerichtet war, blieb vieles bruchstückhaft.

6 Genaueres in Blumenberg (1981). Siehe dazu unten 10.3 7 Lévinas (1985) S. 197. 8 Einzelheiten HB Abschnitt F.

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Nachdem sich später auch wieder verstärkt Philosophen, insbesondere aus dem Umfeld der analytischen Philosophie,9 an die Thematik heranwagten, knüpften diese ebenfalls an den jeweils aktuellen Forschungsstand an und konzentrierten sich auf Spezialthemen wie Raum, Zeit oder Materie. Aber auch hier blieben die Einzelerkenntnisse isoliert stehen.10 Gesamtentwürfe standen schnell unter Metaphysikverdacht und konnten allenfalls in der naturalisierten Erkenntnistheorie Willard V. O. Quines oder in der evolutionären Erkenntnistheorie Gerhard Vollmers Beachtung finden.11 Die Naturphilosophie, die traditionell für diese Fragen zuständig ist, steht seitdem in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu den Methoden der empirischen Naturwissenschaften. Andreas Bartels beispielsweise, dessen Naturphilosophie die Patchwork-Methode gut repräsentiert, geht so weit, den Ausdruck »moderne Naturphilosophie« allein für solche Theorien zuzulassen, die auf der Basis der geltenden Naturgesetze eine Naturphilosophie ohne Metaphysik entwickeln und ausdrücklich auf philosophische Prinzipien und Hilfestellungen verzichten. Er unterstreicht: »Ein besonderes naturphilosophisches Verfahren der Zusammensetzung von Informationen aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen gibt es nicht.«12 Folgerichtig muss jede Synthese, vor allem die letzte hin zur Weltformel, durch die Naturforscher selbst geleistet werden. Das bedeutet, dass man hier zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie keine Grenze mehr anerkennt und deshalb scharfe Kritik an älteren klassischen Naturtheo9 Material hierzu vor allem in Bieris Analytische Philosophie der Erkenntnis (1994). Die Thematik betrifft eher die sprachlichen und erkenntnistheoretischen Bedingungen der Naturphilosophie als diese selbst. 10 Beispiele: Jammer (1980): Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien; Ray (1991): Time, Space, and Philosophy; Mittelstaedt (1989): Der Zeitbegriff in der Physik; Falkenburg (1994): TeilchenMetaphysik. 11 Quine (1975) S. 41 ff. Vollmer (2002). 12 Siehe Bartels (1996) S. 17. Kanitscheider, ein überzeugter Naturalist, bezeichnet solche Theorien als »synthetische« Naturphilosophien, weil die Ausgangsbasis von synthetischen Urteilen (a posteriori) im Sinne Kants gebildet wird. Diese Bezeichnung erzeugt allerdings die irrige Vorstellung, dass in ihnen die große Synthesis von Allem erfolgt. Kanitscheider (1981) S. 27.

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rien übt. Besonders ins Visier geraten Naturphilosophien, die sich an der romantischen Konzeption Friedrich W. Schellings orientieren und eine »neue Physik« oder eine »neue Biologie« fordern, die über die Erklärungsfunktion hinaus auch normative und wertende Aufgaben erfüllen.13 So verwundert es nicht, wenn neuerdings Beiträge der philosophischen Zunft zu naturphilosophischen Fragen von Physikern wie Hawking mit Skepsis oder gar mit Verachtung quittiert werden. Dieser behauptet, die Philosophie habe es verlernt, ihre eigentliche Funktion zu erfüllen, nämlich nach dem »Warum?« zu fragen. In einem verengten Blick auf die in englischsprachigen Ländern vorherrschende Sprachanalyse diagnostiziert er einen Niedergang der Philosophie im Allgemeinen. Er wirft den Philosophen vor, »sie engten den Horizont ihrer Fragen immer weiter ein, bis schließlich Wittgenstein, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, erklärte: ›Alle Philosophie ist Sprachkritik. Ihr Ziel ist die logische Klärung der Gedanken.‹ Was für ein Niedergang für die große philosophische Tradition von Aristoteles bis Kant!«14 Ein solches Pauschalurteil wird den vielfältigen Beiträgen der analytischen Philosophie, insbesondere auch im Bereich der allgemeinen Wissenschaftstheorie, in keiner Weise gerecht. Wenn auch die Realismusthese, wonach Naturgegenstände unabhängig von ihrer Darstellung im naturwissenschaftlichen Kontext philosophisch analysiert werden können, in dieser Art von Naturphilosophie abgelehnt wird, so hat doch Quine deutlich gemacht, dass die alten inhaltlichen philosophischen Probleme weiterhin von Bedeutung sind, sofern man sie einer Analyse unterwirft, die von den naturwissenschaftlichen Theorien ausgeht.15 Demnach kann man nicht allein durch ein Studium der physikalischen Theorien schon zum Forscher mit philosophischer Kompetenz werden; gerade der spekulative Blick über die einzelnen Theorien hinaus führt 13 Mutschler (2002) findet solche »Tendenzen zur romantisierenden Weltdichtung« (S. 32) im Abschnitt 1.2 bei Peirce und Whitehead sowie bei Jonas und Meyer-Abich.

14 Hawking (2009) S. 167. 15 Bartels (1996) S. 21.

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zur Weiterentwicklung von Alternativen und Synthesen, wie das Beispiel Einsteins demonstriert. Naturwissenschaftliche und philosophische Forschungen müssen sich ergänzen. Damit erhält der für uns so wichtige Begriff der Grenzüberschreitung hier einen konkreten Sinn: er liegt dann vor, wenn philosophische Elemente (wie z. B. der Substanzbegriff) zu wissenschaftlichen Ehren kommen, ohne dass für diese die naturgesetzlich abgesicherten Fakten vorhanden sind. Das trifft auch für den Emergenzbegriff zu, wenn man ihn nicht nur als Metapher oder als heuristisches Prinzip betrachtet, sondern zum wissenschaftlichen Faktum erklärt, ohne die zugehörige Erklärung des komplexen Phänomens liefern zu können. So verwandelt sich ein spekulatives Element illegitim in eine wissenschaftliche Erkenntnis. Analoges gilt für die Selbstorganisation, dem metaphysischen Grundprinzip der »Theorie für Alles«. Zusammenfassend heißt dies: Wenn schon die Philosophen, die »Spezialisten für das Universelle«, die durch ihre Anerkennung der naturwissenschaftlichen Ergebnisse als (zwar zeitabhängige) Wahrheit angeblich über die größte Kompetenz bezüglich der Frage nach der Einheit der Wissenschaften verfügen, ein solches Ganzes nicht identifizieren können, dann kann man wohl kaum von jenem »harten Fels« sprechen, an dem die Religion angeblich zerschellt. Anders formuliert: Eine totale naturgesetzliche Kontingenzbewältigung, wie sie in der Selbstorganisation der Natur gefordert wird, ist illegitim; sie kann allenfalls mittels zusätzlicher philosophischer Prämissen als ontologische Bewältigung eines eingeschränkten Bereichs interpretiert werden. Der Blick auf die heute vertretenen Naturphilosophien entlarvt die Vorstellung von einem einheitlichen modernen wissenschaftlichen Weltbild als Mythos. Argumente zur Religionskritik können sich nicht ausschließlich auf die naturwissenschaftliche Forschung in toto berufen, sondern müssen sich auf allgemeine Vernunftgründe beziehen, also auch Reflexionen der Philosophen heranziehen.

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Man kann hier mit Recht einwenden, dass den bisherigen Überlegungen eine einseitige Sichtweise zugrundeliegt, die man üblicherweise als Naturalismus, Physikalismus oder Szientismus bezeichnet. In ihr wird meistens mit Theorien aus der Physik operiert und die Übertragung ihrer Methode auf mentale und kulturelle Phänomene beschränkt sich mehr auf Behauptungen und zukünftige Versprechungen als auf bewiesene Fakten und konsistente wissenschaftliche Argumentationen. Zudem ist die Frage berechtigt, ob die bewährten Teile der Theorien, insbesondere die glasklaren Naturgesetze, so einfach identifiziert werden können, wie es in einfacheren Problembereichen in den Lehrbüchern zu lesen ist. Ein Blick auf die Grundlagenforschung macht deutlich, wie viele gewichtige Fragen noch offen sind. Allein die Deutung der beobachteten Regelmäßigkeiten als notwendige Verknüpfungen zeigt, wie immer auch zahlreiche theoretische Prämissen, also Nichtbeobachtbares, mitgedacht werden müssen, um ein wissenschaftliches Gebäude zu errichten. Wissenschaft ist offensichtlich ein dynamischer Prozess, in dem nach allen Seiten hin Kontingenzen erfahren werden und einige sich verflüchtigen, andere aber schwer zu bewältigen sind. Der Kontingenzcharakter wird besonders deutlich, wenn man die Geschichtlichkeit der modernen Naturwissenschaft durchschaut.16 Schon die einfachsten klassischen physikalischen Theorien Galileo Galileis, Johannes Keplers und Isaac Newtons, auf die so vieles aufbaut, sind kaum notwendig so, wie sie sind. Bis in das 17. Jahrhundert waren die Naturwissenschaften vom Aristotelismus geprägt und hatten eine völlig andere Gestalt mit anderen Grundbegriffen, Prinzipien und Gesetzesvorstellungen. Dann tauchte zusammen mit weiteren Thesen – wie dem Trägheitssatz – die wirkungsgeschichtlich mächtige Idee auf, dass nicht nur die Welt der ewig gleichen Gestirne mathematisch beschreibbar ist, sondern auch die »sublunare Natur«. Damit sind die 16 Ausführlich bei Hübner (1985) insbesondere S. 255 ff.

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irdischen Dinge gemeint, von denen man seit Aristoteles überzeugt war, diese würden sich wegen ihrer Vergänglichkeit unberechenbar verhalten – im Gegensatz zu den ewigen und daher göttlichen Himmelskörpern. Aber in der Zwischenzeit hatte niemand mehr an die Göttlichkeit der Gestirne geglaubt, und so schien der Schritt zur Mathematisierung der empirischen Welt nicht nur plausibel, sondern geradezu notwendig gewesen zu sein. Jedoch übersieht man hier, dass sich gleichzeitig mit dieser Idee völlig neue physikalische Prinzipien durchsetzten, die mit anderen, zum Teil inzwischen wieder vergessenen Konzepten in Konkurrenz standen. Dabei fällt auf, wie sich bedeutende Zeitgenossen, allen voran René Descartes, bemühten, die neue Physik mit Hilfe metaphysischer und religiöser Vorstellungen der Renaissance zu rechtfertigen. Bei Descartes und seinen Zeitgenossen war zum Beispiel die Überzeugung verbreitet, dass, wenn Gott dem Menschen schon die Gnade erweise, die Natur verstehen zu können, auch deren Gesetze in der Sprache der Mathematik formuliert sein müssen, weil nur diese Gewissheit garantiere. Zur Rechtfertigung des Galilei’schen Trägheitssatzes verweist Descartes beispielsweise auf die Unveränderlichkeit des schöpferischen Ratsschlusses Gottes.17 Auch bei Kepler und Newton selbst findet man solche theologischen Bezüge. Dies alles führt zur Vermutung, dass die neuen Begriffe wie Kraft, Beschleunigung, Trägheit, Impuls usw. nicht aufgrund einer »richtigen« Beobachtung der sublunaren Welt gefunden wurden, sondern es waren dies hypothetische Denkansätze, die sich mit der Zeit bewährten und nur wegen der spekulativen Unterstützung durch so bedeutende Persönlichkeiten wie Descartes überhaupt die Chance einer Bewährung erhielten. Sicher waren diese Zusatzkonstruktionen der Philosophen für die Ausbreitung des neuen Wissenschaftsmodells nicht allein ausschlaggebend. Entscheidend waren vielmehr die Ideen selbst, weil sie eine erfolgreiche, in sich konsistente Modellkonstruktion ermöglichten; mit ihrer Hilfe wurden nach und nach viele Probleme gelöst, 17 Zahlreiches Material zu diesen Zufälligkeiten und rhetorischen Überzeugungsprozessen findet man in Feyerabend (1976): Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchischen Erkenntnistheorie.

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die mit den alten Modellen nicht erklärbar waren. Von den metaphysischen Zusatzkonstruktionen war im Folgenden nicht mehr die Rede, und so haben sich die historisch zufälligen hypothetischen Gedankenblitze bei der Beschreibung der materiellen Wirklichkeit bewährt und zu einer erfolgreichen Theorienmannigfaltigkeit entwickelt, die den Anschein von Notwendigkeit verbreitet. So ist es durchaus denkbar, dass andere Modelle Ähnliches hätten leisten könnten, die von völlig anderen Grundbegriffen und -prinzipien ausgegangen und im Laufe von Jahrhunderten ähnlich erfolgreich gewesen wären. Aus diesen Erwägungen folgt, dass das definierende Begriffsgerüst der neuzeitlichen Naturwissenschaften mit all seinen Relationen keine notwendige Struktur aufweist, sondern aus der damaligen historischen Situation und aufgrund bestimmter zufälliger metaphysisch-religiöser Vorstellungen aus der Renaissance entstanden ist. So hätte die Wahl des Begriffssystems, in dem diese Ideen ihre Früchte zeigten, auch ganz anders ausfallen können. Zumindest für Teilbereiche findet man in der Geschichte der Menschheit ganz andere Denkformen als die heutigen zur Beschreibung der Natur, die sich damals hinreichend bewährten, um die Menschen am Leben zu halten. So wie die ptolemäische und die kopernikanische Theorie den planetarischen Bereich verschieden modellieren oder wie gleiche mathematische Gegenstandsbereiche durch verschiedene Axiomensysteme beschrieben werden können, so können auch die Regelmäßigkeiten der Natur auf verschiedene Weise dargestellt werden; »Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori.«18 Auch in neueren wissenschaftlichen Untersuchungen wird betont, dass bestimmte Beobachtungsdaten durch logisch nicht adäquate und damit ontologisch verschiedene Theorien erklärt werden können.19 So ist es nicht verwunderlich, wenn zum Beispiel in früheren Diskussionen über Freiheit und Notwendigkeit oder neuerdings vor allem im Streit über die Gefahren wissenschaftlicher Technologien immer wieder Entwürfe für eine völlig neue Physik auftauchen, die eben diese 18 So Wittgenstein im Traktat 5.634. 19 Vergleiche das Wellen- bzw. Teilchenmodell zur Erklärung des Lichts.

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Freiheit ermöglichen beziehungsweise solche Gefährdungen ausschließen sollen.20 Aber derlei Ansprüche sind reine Utopien. So kann man über solche Alternativen zwar spekulieren; sie dann aber auch zu realisieren, ist aufgrund des enormen Zeit- und Energieaufwands praktisch unmöglich. Denn der Anwendungsbereich der heutigen Physik ist durch die unermüdliche Forschungstätigkeit mehrerer Generationen so weit und unübersehbar geworden, dass ein Neuanfang tausendfacher Initiatoren und millionenfacher Epigonen bedürfte, ehe eine neue Theorie das Grundpostulat einer jeden Theoriendynamik – nämlich, dass diese den ursprünglichen Anwendungsbereich der alten Theorie zu einem Großteil mit umfassen muss – auch nur annähernd erfüllen könnte. Durch die angedeuteten historischen Entstehungsbedingungen erweist sich die moderne Wissenschaft als eine extrem kontingente Unternehmung. Es besteht zwar eine immanente Notwendigkeit zwischen den Systemgliedern; ihr vorliegendes Erscheinungsbild ist aber alles andere als das Ergebnis eines notwendigen Entwicklungsprozesses, weder in ihren Ganzheitsansprüchen noch in ihrem Ursprung. Wir haben oben schon auf die Engführung des naturalistischen Ansatzes hingewiesen, der seine Legitimation aus einer dogmatischen Kontingenzbewältigung bezieht. Die aufgeführten Argumente sind dabei allgemeinphilosophisch und transzendieren eine allein auf naturwissenschaftlicher Basis operierende Naturphilosophie. Deshalb ist es an der Zeit, sich den ontologischen Ansprüchen einer modernen Naturbetrachtung zuzuwenden.

20 Beispiele in Mutschler (2002) 1.2.

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Wer heute Religion aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Frage stellt, gerät in Schwierigkeiten, wenn er sich auf die Selbstorganisation der Natur und auf ein einheitliches wissenschaftliches Weltbild beruft. Er überschreitet die Grenzen der wissenschaftlichen Vernunft und setzt ein unreflektiertes ontologisches Prinzip voraus. In seiner Argumentation muss sich der Religionskritiker für eine bestimmte Ontologie entscheiden, die in der ursprünglichen Bedeutung der Selbstorganisation nicht mit gegeben ist. Das heißt, er muss die Vielfalt der denkbaren Welten mit variablen Ontologien berücksichtigen, um notwendige Aussagen legitimieren zu können. Es handelt sich demnach in seiner Argumentation nicht mehr um eine naturgesetzliche Kontingenzbewältigung, das heißt um einen Akt wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Vielmehr liegt ein ontologisches Konstrukt vor, das von vielen nicht als solches erkannt wird. Die Ontologie verbirgt sich hinter den verschiedenartigsten philosophischen Entwürfen. Die damit gegebenen Ordnungen, durch welche Notwendigkeit legitimiert werden soll, ermöglichen partielle philosophische Kontingenzbewältigungen (7.1), in denen sich die Interpretation der Stellung des Menschen in der Gesamtheit des Seienden vollzieht. Häufig erscheint diese Gesamtheit unter dem Begriff der Natur, weshalb die Beiträge der Naturphilosophie ein besonderes Gewicht erhalten (7.2). Dort wird auch auf das Problem der Ordnung in Entwürfen der praktischen Philosophie einschließlich der Ethik eingegangen. Die alles erklärende Rolle, die bisher die wissenschaftlichen Erklärungen und schließlich die Selbstorganisation erfüllt haben, übernimmt nun die säkulare Vernunft mit ihren philosophischen Projekten. Sobald diese in einer Selbstermächtigung zur letzten Begründungsinstanz wird, also jene Projekte zu ultimativen Aussagemöglichkeiten extrapoliert werden, verwandelt sich die neutrale säkulare in eine autonome Vernunft. Alles mündet dann in einer immanenten Totalität, die alles Wissen und das gesamte Weltgeschehen umfasst. Damit

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scheint die Unmöglichkeit des »ganz Anderen«, das ontologisch nicht strukturiert ist, besiegelt. Jeder Versuch, den Wirkungsbereich der säkularen Vernunft zu überschreiten, führt aus der Perspektive der menschlichen Autonomie zu inhaltsleeren Spekulationen über erdichtete Phänomenbereiche. Wie die Selbstorganisation durch die Extrapolation berechtigter wissenschaftlicher Vorgehensweisen eine totale naturgesetzliche Kontingenzbewältigung vortäuscht, so entwickelt die autonome Vernunft durch die Extrapolation der ontologischen Aktivitäten die Fiktion einer totalen ontologischen Kontingenzbewältigung, die per definitionem religiöse Phänomene ausschließt.

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In der naturalistischen Argumentation verliert die Reflexion über ontologische Grundlagen ihren Sinn, weil die Ontologie durch die Faktizität des Forschungsprozesses dogmatisch gesetzt ist.1 Das heißt, unsere bisherigen Überlegungen zu den Grenzen des Naturalismus sind Teil eines philosophischen Diskurses, die sich einzig durch die in Lebenswelten bewährte Vernunft legitimieren. Naturgesetzliche Kontingenzbewältigungen können aufgrund der Existenz einer Scientific Community durch deren allgemeinen Konsens realisiert werden. Wegen der verwirrenden Vielfalt philosophischer Reflexionen ist es aber hoffnungslos, auch in der Philosophie eine Forschergemeinschaft finden zu wollen, auf die man sich zur Bewältigung ontologischer Kontingenzen einigermaßen sicher beziehen könnte. Selbstsichere Berufungen auf allgemein gültige metaphysische Instanzen sind wenig überzeugend und im Zeitalter des »Abschieds vom Prinzipiellen« (Marquard)2 nur noch selten zu finden. Allerdings betont Rüdiger Vaas mit Recht, dass die »Philosophie als Metadisziplin am ehesten geeignet ist, den ontologischen Gehalt sowie den epistemischen Anspruch und die argumentative Stringenz naturwissenschaftlicher und 1 Daher verwundert es nicht, wenn im Kreise von Naturforschern wenig Verständnis für transzendentale Fragestellungen aufgebracht wird.

2 Titel einer Aufsatzsammlung. Marquard (1981).

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theologischer Aussagen zu vergleichen, zu prüfen und, falls möglich, aufeinander zu beziehen und somit auch einen wichtigen Beitrag zu einem konstruktiven und durchaus (selbst) kritischen transdisziplinären Dialog leisten kann«.3 Da ein solches Gespräch nicht im Sinne einer letzten Legitimation verstanden werden kann, heißt das nur, dass in bestimmten philosophischen Kontexten innerhalb gewisser Schulbildungen partielle Quasi-Bewältigungen erfolgen, sofern man die Prämissen der Argumentation offenlegt. Aber die ordnungsstiftenden Gründe, auf die sich solche Bewältigungen beziehen, sind in der Philosophie vielfältig und reichen weit über die naturgesetzlichen Aspekte in unserem Sinne hinaus. Schon bei Aristoteles findet man vor allem in der Metaphysik4 eine folgenreiche Spezifizierung des allgemeinen Grundes (der arché) vor. Dieser unterscheidet dort einen Grund für das Was-Sein (Wesen), für das Dass-Sein (Vorhandensein) und für das Wahr-Sein (Argument); in der Nikomachischen Ethik wird die arché zum Handlungsgrund (Motiv). Die Scholastiker setzen die Akzente in einem Vier-UrsachenSchema etwas anders: neben der causa formalis und der causa materialis stehen causa efficiens und causa finalis. So ließen sich je nach Hintergrund-Metaphysik zahllose weitere Differenzierungen aufzählen. Sie alle ermöglichten innerhalb des jeweiligen Ansatzes legitime ontologische Kontingenzbewältigungen und spielen die gleiche Rolle wie die naturgesetzlichen Einordnungen wissenschaftlicher Fakten in das in der Gegenwart anerkannte Determinismus-Schema. Entscheidend ist für die folgenden Überlegungen, dass – ganz in Analogie zur dogmatischen Festlegung auf die Selbstorganisation im naturwissenschaftlichen Bereich – auch innerhalb des philosophischen Diskurses eine dogmatische Kontingenzbewältigung in der Ontologie vollzogen wird, indem man sich prinzipiell und allgemein auf die Autonomie der Vernunft beruft. Obwohl der philosophische Laie solche Quasi-Bewältigungen nur bruchstückhaft zu realisieren vermag, setzt er doch – ebenso wie der Fachphilosoph – auf die Leistungen der 3 Vaas (2009) S. 52. 4 Z. B. 1013a und Z 1028a.

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Vernunft. Argumente zur Religionskritik, die sich beim Naturalisten auf die naturwissenschaftliche Forschung in toto beziehen, legitimieren sich jetzt philosophisch durch den Bezug auf die autonome Vernunft. Der Religionskritiker ist sich in der Berufung auf die Philosophie im Allgemeinen sicher, dass die entscheidenden religiösen Inhalte der Kraft der Vernunft nicht standhalten können; sie sind in seinen Augen schlicht unvernünftig. Aber was heißt hier überhaupt vernünftig? In der Philosophie wird die Vernunft häufig mit Kant als Vermögen der Prinzipien verstanden. So betrachten auch Naturalisten das im naturwissenschaftlichen Denken gesetzte Prinzip der Selbstorganisation der Natur als vernünftig. Ihre Kritiker dagegen, die Natur nicht als einen einheitlichen, allein von der naturwissenschaftlichen Methode beschreibbaren Bereich betrachten, pochen auf die Selbständigkeit des Mentalen und PraktischEthischen, die ihrerseits besondere Zugangsweisen erforderten. Ihr Vernunftbegriff bezieht sich auf eben diese differenzierten Korrelate.5 Das heißt, bei der Festlegung auf einen vernünftigen Naturbegriff und auf die zugehörigen vernunftgemäßen Zugangsweisen kreist genau genommen alles um die Interpretation der Stellung des Menschen in der Gesamtheit des Seienden. Auch wenn man – besonders seit Darwin – der Überzeugung ist, dass der Mensch ganz in die naturwissenschaftlich erforschbare Natur eingeordnet ist, so bereitet doch die naturalistische Erklärung seiner Handlungen und seiner Kulturleistungen nach wie vor große Schwierigkeiten. Diese sind genau genommen mindestens ebenso gewichtig wie die Unklarheiten der Gegenposition, in der an der traditionellen Sonderstellung des Menschen im Ganzen der Welt festgehalten wird und die Mentales, Ethisches und Geschichtliches dem Natürlichen im Sinne des Naturalismus zur Seite stellt.6 5 Heute spricht man häufig statt von Vernunft von Rationalität und spezifiziert diese auf bestimmte Unterarten. In Lenk/Spinner (1989) S. 3–10 findet man eine Liste von zweiundzwanzig Rationalitätstypen. 6 Zur Terminologie: Wir unterscheiden raum-zeitliches Physikalisches, Mentales im Sinne von Bewusstes, Intentionales als auf »Etwas«, Ethisches als auf Normen Bezogenes und Geschichtliches als auf menschliche Individuen Bezugnehmendes. Intentionales ist demnach Unterbegriff vom Mentalen, dieses Unterbegriff vom Geistigen,

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Diese Aufspaltung der Natur in autonome Einzelbereiche drängt sich geradezu auf: Die Differenzierung des Seienden nach Interessen bei Habermas, wonach den empirisch-analytischen Wissenschaften ein technisches, den hermeneutischen ein praktisch-kommunikatives und den soziologischen ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zugeordnet wird;7 die Rückführung aller philosophischen Fragen auf die Urfrage »Was ist der Mensch?«8; auch die Definition der religionsphilosophischen Kontingenz und unsere Betonung des personalen Aspekts – dies alles zeigt, dass die eigentlichen Anliegen der Menschen gerade auf die Bereiche bezogen sind, die im naturalistischen Schema ihr Dasein als Randerscheinungen fristen. Menschen sind freie und handelnde Wesen. Handlungen sind intentional, das heißt sie haben Ziele, die es zu verwirklichen gilt. Auch menschliches Handeln kann vernünftig sein. Dabei beurteilt man nicht nur das jeweilige Motiv der Handlung (causa efficiens), sondern vor allem auch die optimale Mittelanwendung zum Erreichen von Zielen und Zwecken, ja die Setzung des Zweckes selbst (causa finalis). Aber es gelingt nur selten, für eine konkrete Handlung plausible und vor allem zureichende Motive anzugeben. Ebenso schwierig ist es, eine allgemein anerkannte Rechtfertigung für die Setzung der Zwecke und für die Mittelwahl zu finden.9 Im traditionellen Systemdenken war dies alles wesentlich einfacher. Eines ergab sich scheinbar aus dem Anderem, und die Systematik täuschte Letztbegründung und Notwendigkeit vor. Heute erscheint alles als Stückwerk, Willkür, bloße Vermutung, bestenfalls als Kunstwerk und origineller Schöpfungsakt – als Triumph der Kontingenz.

das auch Eigenschaften des Raum-Zeitlichen betrifft. Das allein den Menschen betreffende Geistige fassen wir als Kulturelles zusammen. 7 Habermas (1968) S. 155 ff. 8 Besonders eindringlich in der Logik-Einleitung von Kant (1800) A 26. 9 Ausführlich diskutiert wurde diese Thematik in der Werturteilsdiskussion um Weber und Spranger sowie im Positivismusstreit der deutschen Soziologie um Adorno und Popper. Siehe dazu Wuchterl (1997): Streitgespräche und Kontroversen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Abschnitt 1.

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Hilfreich für die Orientierung über die genauere Bedeutung des so verschieden verwendeten Naturbegriffs ist eine Einteilung von HansDieter Mutschler in seiner Naturphilosophie.10 Dieser unterscheidet dort erstens Konzepte, in denen die Natur mit der Totalität des Seienden identifiziert wird von solchen, die neben dem Naturbereich noch andere autonome Regionen wie Kultur und Geschichte anerkennen, also Nattot bzw. Natreg. Zweitens erfolgt dort eine von der ersten unabhängige Einteilung der Zugangsweisen zur Natur, je nachdem, ob diese Methoden szientistisch auf die Natur als Korrelat der Naturwissenschaften eingeschränkt sind oder pluralistisch offen bleiben, also Natszien bzw. Natplur . Aus den zwei Merkmalpaaren lassen sich vier Kombinationen bilden, denen bei Mutschler vier Grundpositionen entsprechen: Nattot,szien; Nattot,plur; Natreg,szien und Natreg,plur. Diese werden in seiner Arbeit systematisch auf ihre Überzeugungskraft untersucht. Wir ersetzen diese etwas unhandlichen Bezeichnungen der Reihe nach durch: »Naturbegriff des Naturalismus« für Nattot,szien, »Naturbegriff des Pragmatismus« für Nattot,plur, »Naturbegriff des Konstruktivismus« für Natreg,szien und »Naturbegriff des Perspektivismus« für Natreg,plur.11 Der von uns bisher betrachtete Naturalismus baut offensichtlich auf dem zuerst genannten Naturbegriff Nattot,szien auf. Während die etablierten Naturwissenschaften naturgesetzliche Kontingenzbewältigungen vollziehen, in denen der Naturbegriff nicht vorkommt und nur im Kommentar als heuristische oder regulative Idee erwähnt wird, erscheint die Extrapolation des Naturalismus als dogmatische Kontingenzbewältigung, die sich wegen der Möglichkeit einer über den Naturalismus hinausgehenden Ontologie als kontingent erweist. Falls Interpreten dieses metatheoretischen Kommentars die regulative Idee 10 Mutschler (2002) S. 19 f. 11 Die Termini Pragmatismus, Konstruktivismus und Perspektivismus werden im Folgenden nur in diesem Zusammenhang verwendet. Konstruktivismus steht zugleich als Oberbegriff für Operationalismus, Intuitionismus und Finitismus.

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für die naturwissenschaftliche Praxis als notwendig erachten, wird ein gewichtiges teleologisches Element eingeschmuggelt, das der Objekttheorie fremd ist, aber von vielen aber gar nicht als Fremdkörper erkannt wird. So ist es das Verdienst Mutschlers, auf die versteckte Rolle der Teleologie in unserem Wirklichkeitsverständnis aufmerksam gemacht zu haben. Unter der Voraussetzung der Realgeltung des Teleologischen im Bereich des Technisch-Praktischen entwickelt er auf diese Weise eine allgemeine Theorie des Perspektivismus.12 Es ist hier nicht der Ort, diese und die drei anderen von Mutschler unterschiedenen naturphilosophischen Grundpositionen allgemein auf ihre Überzeugungskraft zu überprüfen, da wir in erster Linie Klarheit über die Grenzen der Vernunft erlangen wollen und deshalb zunächst ausschließend vorgehen können. So ist es nach unseren Überlegungen zum Ursprung der modernen Naturwissenschaft unvernünftig, eine völlig neue Physik oder Biologie zu fordern. Ganz allgemein können wir also alle Versuche unberücksichtigt lassen, welche die Alternative von Materiellem und Mentalem, von Kausalität und Finalität (oder Teleologie) sowie von Sein und Sollen als Erscheinungsformen einer tiefer verborgenen allumfassenden Natureinheit postulieren und dabei wesentliche inhaltliche Erweiterungen der etablierten empirischen und formalen (!)13 Wissenschaften fordern, die – wie oben schon ausgeführt – nicht realisierbar sind. Diese zweite Position des Pragmatismus vertreten unter anderen Friedrich W. Schelling, Charles S. Peirce und Alfred N. 12 Mutschler (2002) Abschnitt 4. 13 Hier geht es um Logik und Mathematik. Häufig meint man, es stehe im Belieben der Menschen, aus einer Vielzahl von Logiken eine für das jeweilig vorliegende Gebiet passende auszuwählen und anzuwenden. Dabei übersieht man, dass es so etwas wie eine auf der Metaebene wirksame Kernlogik gibt, die den dialogischen, dialektischen, intuitionistischen, effektiven, mehrwertigen usw. Logiken zugrundeliegt. Scheibe hat in (1964) gezeigt, dass auch für die Quantentheorie keine andere als die zweiwertige Logik benötigt wird, wenn man sich bei kontingenten Aussagen auf die epistemische Interpretation beschränkt. In einer solchen können auch sämtliche mehrwertigen Logiken metasprachlich beschrieben werden. Die erwähnte Kernlogik handelt von der Gesamtheit der notwendigen Beziehungen aller Darstellungen identischer Gedankeninhalte. Über das metaphorische Denken, das einer Kernlogik zu widersprechen scheint, siehe unten Abschnitt C.

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Whitehead.14 Ihre Entwürfe könnten allerdings nur dann überzeugen, wenn die Grundzüge dieser geheimnisvollen Gesamtnatur konkret entwickelt worden wären. Eine solche sich selbst begründende Natur (natura naturans) würde denselben Anspruch erheben wie die naturalistische Selbstorganisation, nämlich alles lückenlos erklären und alle Kontingenzen beseitigen zu wollen. Geradezu grotesk wären in diesem pragmatischen Konzept alle Versuche, notwendigerweise auch das ethische Sollen in das Ensemble der Naturgesetze einzubauen. Hierzu nur ein Zitat von Mutschler: »Die ›lex naturalis‹ qua Sittengesetz wird [in diesen Versuchen; K. W.] zugleich Naturgesetz im Sinn der modernen Physik […]. Peirce und Whitehead haben diesen Gedanken explizit nicht näher entfaltet, wovor sie offenbar ein gesunder philosophischer Instinkt bewahrte, denn wenn schon die direkte Teleologisierung physikalischer Gesetze zu unhaltbaren Überfrachtungen führt, so führt ihre Moralisierung schlechterdings in den Aberglauben.«15 Angesichts der Schwächen des kaum noch vertretenen reduktionistischen Naturalismus sind sich heute fast alle modernen Naturphilosophen darin einig, neben der Region des Raum-Zeitlichen das Geschichtliche sowie den Bereich des Mentalen und allgemeiner, den des intentional strukturierten menschlichen Handelns als gleichwertige Teilbereiche der Gesamtnatur zu betrachten. Versuche, einen nicht-reduktionistischen Naturalismus zu rechtfertigen, enden stets in Selbstwidersprüchen zur ursprünglichen Naturalismusthese. Will man – wie im Konstruktivismus – trotzdem an einem einzigen Zugang zu der Vielfalt von Naturregionen festhalten, dann müsste zunächst geklärt werden, wie dies ohne inhaltliche Auswirkungen auf die etablierten Wissenschaften möglich sein soll. Da wir bei den Naturwissenschaften gravierende Korrekturen der Inhalte ausgeschlossen haben, kann dies nur durch eine Neuinterpretation der Bedingungen dieser Inhalte gelingen. Wir haben oben gezeigt, dass die an Kant orientierte 14 Ausführliche Kritik in Mutschler (2002) 1.2. Dort werden auch Jonas und MeyerAbich als Vertreter der Gegenwartsphilosophie einbezogen. 15 Mutschler (2002) S. 39/40.

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Annahme einer metaphysica generalis der modernen Wissenschaften eine offene Ontologie darstellt. Sie kann demnach mehr enthalten als nur die Garantie für eine durch Kausalität bestimmte Determination. Schon die in der Quantentheorie beschriebenen Ereignisse erfordern eine Erweiterung, um die statistischen – in Bezug auf das einzelne Individuum nicht determinierten – Vorgänge zu ermöglichen. Gleiche Forderungen können auch bezüglich der beiden genannten faktisch anerkannten Bereiche des Mentalen und Intentionalen aufgestellt werden. Die These des Konstruktivismus setzt dann voraus, dass in der bereits seit drei Jahrhunderten praktizierten Naturwissenschaft neben den kausalen Aspekten auch mentale und normative Bedingungen wirksam waren, ohne dass diese weiter beachtet wurden. Im Gegensatz zu Mutschler favorisieren wir die von uns als »Konstruktivismus« bezeichnete Konzeption Natreg,szien vor allen anderen und wollen uns nun dieser ausführlich zuwenden.16 Um unsere Position plausibel zu machen, muss der Bedingungsbegriff Kants modifiziert werden. Im transzendentalen Idealismus erfolgte die Konstitution der Erscheinungswelt im Allgemeinen und der Naturwissenschaften im Besonderen durch ein transzendentales Subjekt, das sich monologisch und introspektiv auf seine Bedingungen für die raum-zeitlichen Strukturen und für kategoriale Wesenszusammenhänge bezieht. Wissenschaft ist bei Kant die Leistung eines »Bewusstseins überhaupt«, das nicht mit den empirischen Subjekten der alltäglichen Forschung verwechselt werden darf. Im Operationalismus Hugo Dinglers oder Percy W. Bridgmans, in der Erlanger Schule bei Paul Lorenzen, Wilhelm Kamlah oder Friedrich Kambartel sowie im »kulturalistischen« Konstruktivismus Peter Janichs dagegen stehen am Anfang der Wissenschaft konkrete Personen innerhalb einer konsensfähigen Kommunikationsgemeinschaft, die in gemeinsamen Handlungen Ziele verfolgen und Normen einhalten. Die damit gegebene Lebenswelt, aus der die Wissenschaft entspringt, erscheint zugleich als sprachlich vermit16 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Ausdruck »Konstruktivismus« nur diese spezielle Problematik betrifft und unsere Position in anderen Zusammenhängen eher als Pragmatik bezeichnet werden könnte.

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telte Lebenspraxis. Das konstruktive Element erscheint also gerade in den Sprachhandlungen, in denen Rekonstruktionen vollzogen werden. Deshalb rückt hier das von Kant vernachlässigte Sprachproblem auf diese Weise in den Vordergrund. Sprache ist dabei nicht primär als Abbildungsinstrument oder als statische Struktur, sondern vor allem als praktischer Handlungszusammenhang zu verstehen. Die Bedingungen der alltäglichen Rede und der aus ihr hervorgehenden wissenschaftlichen Sprachen und Theorien werden in Lehr- und Lernsituationen rekonstruiert und zugleich korrigiert und erweitert. Diese Möglichkeit der Korrektur von wissenschaftlichen Theorien scheint der Forderung nach dem Verzicht von philosophisch motivierten Eingriffen zu widersprechen. Zur Klärung dieses Problems ist ein Blick auf die Auswirkungen des Konstruktivismus auf die mathematische Forschung hilfreich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten Mathematiker17 in ihrer Wissenschaft Widersprüche, die das gesamte Gebäude dieser auf ihre Gewissheit so stolzen Königsdisziplin ins Wanken brachte. Einige mathematische Lösungsversuche dieser Grundlagenkrise führten zu Ansätzen und Theorien, die nachträglich als konstruktivistische Alternativen zum platonischen Denken interpretiert wurden.18 Unter dem Begriff des Platonismus, der die gesamte Geschichte der Mathematik bis dahin beherrscht hatte, versteht man die Überzeugung, dass mathematische Forschung in der Entdeckung von idealen Strukturen besteht, die unabhängig vom menschlichen Geist und dessen Zugriff vorhanden sind. Nach Auffassung der Konstruktivisten werden dagegen die Strukturen vom Menschengeist erschaffen. Angestrebt wird ein lückenloser Aufbau der Mathematik, wobei die Begründung durch rekonstruierte Sprachsysteme erfolgt. Diese neue Interpretation stieß in der praktischen Durchführung bald auf große Schwierigkeiten, weil sie zahlreiche fest verankerte Begriffsbildungen, 17 Am folgenreichsten war die Entdeckung einer logischen Antinomie durch Bertrand Russell im Mai 1901, wodurch sein ungetrübtes Logiker-Glück unwiderruflich zu Ende war, wie er in Die Entwicklung meines Denkens (1959) berichtet. Siehe HB S. 142. 18 Ausführliche philosophische Reflexionen im Umfeld mathematischer Grundlagenfragen in HB Abschnitt D.

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Grundprinzipien und Beweisverfahren diskreditierte. Eine rigorose Realisierung hätte für die Mathematik katastrophale Folgen gehabt. Weil beispielsweise das »Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten«19 in bestimmten Fällen nicht angewandt werden kann, wurden im Konstruktivismus die indirekten Beweise nicht als legitim anerkannt, auch wenn diese bis heute in weit mehr als der Hälfte aller Beweisverfahren weiter verwendet werden. Ebenso ist im Konstruktivismus die Rede von aktual-unendlichen Mengen (also zum Beispiel von der Menge der natürlichen Zahlen), vom Kontinuum oder von den reellen Zahlen verdächtig – alles Begriffe, die aus der mathematischen Praxis nicht wegzudenken sind. Hermann Weyl kritisierte daher solche unbekümmerten mathematischen Aussagen scharf und bezeichnete das »Herumjonglieren mit Mengen und Mengen von Mengen und so fort« als »gigantischen Betrug, der zugestandenermaßen so schön funktioniert wie Papiergeld«.20 Obwohl zahlreiche, auch prominente Logiker und Mathematiker neue Begriffe, Kalküle und Beweistheorien entwickelten, die den nichtplatonistischen Anforderungen entsprachen, wurden die Konstruktivisten von den meisten Mathematikern ignoriert und als Anhänger einer Sekte betrachtet. Die entscheidende Frage, wann etwas konstruktiv gerechtfertigt ist, konnte nicht allgemeinverbindlich geklärt werden. Trotzdem führte im Laufe der Zeit die Idee des effektiven Nachvollzugs mathematischer Prozesse immer häufiger zu neuen Entwicklungen. Dabei war es allerdings nicht die Frucht der philosophischen Auseinandersetzung, sondern die Entfaltung der Maschinen- und Computertheorien, die in einer Atmosphäre der stillschweigenden Toleranz finite Geometrien und Kosmologien, alternative Mengenlehren und Unschärfe-Theorien ermöglichten und so wichtige Elemente des Konstruktivismus berücksichtigen.21 19 Tertium non datur: entweder A oder Nicht-A, ein Drittes gibt es nicht. 20 Beisswanger (1965) S. 33. 21 Man kann hier auch auf die berühmten Gödel-Sätze verweisen, durch welche die inhaltliche Mathematik gegenüber der formalen Betrachtungsweise aufgewertet wurde. Dies hielt allerdings Gödel nicht davon ab, die Mathematik weiterhin plato-

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Trotz der Grundlagenkrise ist die Mathematik ihren Weg selbständig und ohne philosophische Hilfe weitergegangen. Die zugehörige Ontologie lässt sich bis heute nicht widerspruchsfrei formulieren; das heißt, die faktische Widerspruchsfreiheit in der Mathematik, auf die sich alle Mathematiker verlassen, kann nicht als Notwendigkeits-Argument dienen. Jede Vorstellung einer Art von Selbstorganisation der Ideenwelt in Analogie zur Selbstorganisation der Natur wäre absurd. Auch hier bleibt ein Rest von Kontingenz. In Bezug auf das Ganze verliert selbst die Mathematik ihre zwingende Macht des Notwendigen. So wird an dem dargelegten Beispiel deutlich, dass philosophische Interpretationen des wissenschaftlichen Prozesses aufgrund einer offenen Ontologie die Kontingenz dieses Prozesses anzeigen, ohne den Fortgang der Wissenschaften zu beeinträchtigen, wohl aber in diesem Innovationen herbeiführen und der Fortentwicklung eine neue Richtung geben können. Eine solche indirekte Auswirkung konstruktivistischer Ideen auf die wissenschaftliche Tätigkeit lässt sich auch im Bereich der Naturwissenschaften denken. Hier sind die Erwartungen angesichts des ontologischen Dilemmas zwischen makro- und mikrokosmischen Objekten wesentlich geringer. Die versteckten und lange Zeit nicht erkannten Interessen im Forschungsprozess haben ebenfalls Verschiebungen und Schwerpunktsverlagerungen bewirkt, die durchaus im Sinne des Konstruktivismus gedeutet werden können. Ihre Vertreter tendieren dazu, die Theorien nur noch als technische Konstrukte zu betrachten, deren Gesetze Konstruktionsanweisungen darstellen, die sich auf das alltägliche praktische Handeln beziehen. So wie schon Lorenzen der Logik eine Protologik und der Geometrie eine Protogeometrie vorangestellt hat, in der wissenschaftliche Grundbegriffe als Idealisierungen einer Handlungspraxis interpretiert werden,22 so entwickelt beispielsweise Janich eine Protophysik der Zeit. »Die Protophysik geht […] nicht von nistisch zu deuten; wir haben es hier gewissermaßen mit der Personifizierung der ungelösten Spannung in der Grundlagenfrage innerhalb der gesamten Mathematik zu tun. Zur Rolle des »Jahrhundert-Satzes« siehe Ketelsen (1994). 22 »Logisch« sind die in allen Kalkülen des dialogischen Operierens geltenden Zuläs-

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Hypothesen über das Wirkliche aus, sondern sie erzeugt erst die Bedingungen, welche dann Hypothesen über das Wirkliche zu formulieren erlauben.«23 Später geht er noch weiter und bestreitet ganz allgemein den Behauptungscharakter naturwissenschaftlicher Theorien, besteht also mithin auf der Sinnlosigkeit einer Ontologie der Physik.24 Die physikalische Forschung zeigte sich auch von solchen neuen transzendentalen Varianten einer philosophischen Bedingungsforschung nicht sonderlich beeindruckt. Sie schuf Neues auch ohne das Plazet einer originär praktischen Instanz. Trotzdem sind neue Tendenzen in der Ausrichtung von Forschungsprogrammen erkenntlich, die zwar auch zum Teil aus dem konstruktivistischen Denken, vorwiegend aber aus der Not der Zeit mit ihren gesellschaftspolitischen und ökologischen Problemen bestimmt sind. Diese Gedanken zeigen die Überlegenheit des konstruktivistischen Ansatzes gegenüber Naturalismus und Pragmatismus (auf den Perspektivismus kommen wir noch zu sprechen). Durch seine Beschränkung auf die Bedingungen der Wissenschaften tastet der Konstruktivismus deren Ergebnisse nicht an, motiviert aber zugleich zu Innovationen und neuen Interpretationen. Er bleibt bezüglich des Strukturzusammenhangs menschlicher Handlungskompetenz mit der Naturordnung neutral und stellt aufgrund seines Bewusstseins vom Ursprungs der Wissenschaft aus der Praxis der menschlichen Lebenswelt deren Naturbegriff auf die gleiche Stufe wie mentale und kulturelle Erscheinungen. Damit ist nicht nur die Verführung zur Annahme einer Selbstorganisation der Natur gebannt, sondern auch die Subjektabhängigkeit aller Extrapolationen der säkularen Vernunft durchschaut und damit ihre Autonomie in weite Ferne gerückt. Gegen diese beiden Verführungen ist auch der Perspektivismus immun, wie er von Mutschler vertreten wird. Dieser Standpunkt geht sigkeitsbehauptungen; »Ebenen« werden beispielsweise durch Schleifhandlungen mit drei verschiedenen Körpern praktisch erzeugt. 23 Janich (1969) S. 41. 24 Siehe Mutschler (2002) S. 64. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Arbeit.

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ebenfalls davon aus, dass Natur nicht alles umfasst, was überhaupt existiert, also Mentales, Kultur und Geschichte ihre Eigenständigkeit haben. Über diese auch im Konstruktivismus vertretene Position hinaus greift Mutschler auf die aristotelische Unterscheidung des Technisch-Praktischen (τέχνη-φύσις) vom Ethisch-Praktischen zurück und deutet die Praxis in gewissen modernen Technologien als Realisierung eines »sinnvollen Weltwissens« (120). In diesem nimmt der Techniker »die Natur zum Vorbild seiner Zwecksetzungen« und teleologisiert diese damit (121). Die damit vorausgesetzte Naturteleologie bleibt hypothetisch in dem Sinne, dass sie erstens sich auf jene Techniken bezieht und zweitens ein nichtreduktionistisches Menschenbild voraussetzt. Entscheidend für diese sehr weit gehenden Annahmen ist ein Perspektivenwechsel. Was die erste Annahme betrifft, stößt sich Mutschler schon in seiner Kritik des Konstruktivismus an dessen Umgang mit den Emergenzen der Evolution: »Denn die ›emergenten‹ Eigenschaften des Menschen sind ja nach Natreg/szien von der Art, dass sie kein legitimer Erklärungsgegenstand der Naturwissenschaft sein können. Diese Position setzt also einmal einen scharfen Schnitt in der Evolution, für den sich keine empirischen Gründe angeben lassen und sie setzt zudem ein mirakelhaftes Auftreten von neuen Qualitäten beim Menschen, die sich jeder naturwissenschaftlichen Erklärbarkeit entziehen.«(46). Diesen Mangel versucht Mutschler durch den Wechsel von der ontologischen extensionalen Bereichseinteilung zur perspektivistischen Interpretation zu beseitigen. Diese verwandelt nach seiner Auffassung den Schnitt zwischen Mensch und Natur in eine Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven. Genau hier werden aber Konstruktivisten eine Erklärungslücke feststellen. In Bezug auf die zweite Annahme geht es ihm darum, »die ontologischen Implikationen unseres praktischen Naturverständnisses« auszuschöpfen (56), das heißt, zweckorientierte und speziell auch existenzielle Interessen zu berücksichtigen und damit eine »sinnvolle« (z. B. ökologisch orientierte) Wissenschaftspraxis zu entwickeln. Diese Überlegungen zur Natur als Korrelat des Technisch-Praktischen kon-

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zentrieren sich speziell auf Probleme der Bionik, der Artificial-LifeTechnik und Ähnliches.25 In diesem Zusammenhang spricht Mutschler von finalen Ordnungen, die er den nomologischen Ordnungen gegenüberstellt, und weist zugleich darauf hin, dass man dem entsprechend verschiedene Notwendigkeitsbegriffe unterscheiden muss. (164). Der finalen Ordnung ordnet er den auf Friedrich Kaulbach zurückgehenden Begriff der Sinn-Notwendigkeit zu.26 Damit sind wir wieder bei unserer Kontingenzproblematik, in die wir diesen neuen Ordnungsbegriff einordnen müssen. Wir sprechen im Folgenden von Sinnordnungen und stellen diesen die naturgesetzliche und die ontologische Ordnung als »rationale« Ordnungen gegenüber. Zweck- oder Zielsetzungen prägen unsere Handlungen. Diese Setzungen – hier können auch die Probleme aus dem Bereich des Praktisch-Ethischen mit einbezogen werden – sind aus der Perspektive des handelnden Bewusstseins kontingent, weil wir überzeugt sind, auch andere Setzungen als die gewählten realisieren zu können (wir erinnern daran, dass wir vom Bewusstsein der (bedingten) Freiheit ausgehen). Aber nach einer erfolgten Setzung S sind bestimmte Mittel M1,M2,… Mn notwendig, um den Zweck zu verwirklichen. Dabei können durchaus verschiedene Wege zum Ziel führen. Die damit gegebenen Zusammenhänge sind also sinn-notwendig in der obigen Bedeutung, und so lässt sich diese Modalität nicht zuletzt als ontologische Notwendigkeit verstehen, wenn man einen zweiten Perspektivenwechsel berücksichtigt: Die Setzung ist kontingent, die Wege von den Mi zu S sind (ontologisch) notwendig. Betrachten wir nun einen naturgesetzlichen Zusammenhang. Es geht um die Erklärung von Ebbe und Flut durch den Einfluss des Mondes. Das Explanandum ED (Ebbe und Flut) wird durch Randbedingungen R1, R2, … Rm und durch eine Gesetzesmannigfaltigkeit G (Explanans ES) erklärt. Dabei ist es mög25 Bei der Bionik handelt es sich um Verfahren, in denen Optimierungseigenschaften der Natur für technische Zwecke ausgenützt werden; die Artificial-Life-Technik ist eine Programmiertechnik zur Simulation evolutionärer Prozesse. 26 Kaulbach (1986) S. 76. Dieser stellt der Sinn-Notwendigkeit die kausal-mechanische Notwendigkeit gegenüber.

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lich, die Randbedingungen auf verschiedene Weise auszuwählen. Der Zusammenhang von ED und ES ist trotzdem für jede Wahl naturgesetzlich notwendig. Der Erklärungsvorgang ist aber – aus der epistemischen Perspektive betrachtet – ein intentionaler Prozess. Dass gerade Ebbe und Flut erklärt werden sollen, erscheint uns kontingent. Aus der objektivistischen Perspektive ist aber das Explanans kontingent, genauer sind es die Randbedingungen, aus denen ED nomologisch erklärt wird.27 Vergleicht man die Struktur beider Beispiele, so springt die Ähnlichkeit ins Auge: Die Mittel Mi können als Randbedingungen einer Erklärung von S verstanden werden, wobei die Sinn-Notwendigkeit die Gesetzesfunktion übernimmt; die Randbedingungen Ri können umgekehrt als Mittel zum Verständnis des angezielten Phänomens Ebbe und Flut gedeutet werden. Beide Strukturen bestätigen Kants Feststellung, dass der Zweck die Gesetzmäßigkeit des Zufalls ist,28 sofern man Zufall mit ontologischer Kontingenz gleichsetzt. Denn die nach der Setzung S eingeforderten Mittel können wieder intentionale Elemente enthalten, die nicht unbedingt nomologisch im Sinn von mechanischkausal (Kaulbach), wohl aber ontologisch interpretiert werden können. Ontologische Kontingenzen erscheinen erst dann, wenn die Auswahl der Randbedingungen misslingt, also auf der einen Seite die Schranke der Gründe nicht durchbrochen werden kann; auf der anderen Seite werden die Setzungen sinnlos, wenn absolute Kontingenzen einbezogen sind. 27 Diese Umkehrung taucht auch in der Diskussion der Eigenständigkeit technischer Kategorien bei M. Polanyi (1985) auf. Mutschler schreibt dazu: »Nach Polanyi führt die physikalische Analyse technischer Artefakte deshalb nicht auf einen Zweck, weil sich dieser in der Auswahl der Randbedingungen verbirgt, die kontingent sind relativ zu den physikalischen Gesetzen.« (118). Für Mutschler ist Polanyi einer der wichtigsten Kronzeugen für seine Technik-Theorie. 28 Kant (1793) B 344: »Da nun aber das Besondere […] in Ansehung des Allgemeinen etwas Zufälliges enthält, gleichwohl aber die Vernunft in Verbindung besonderer Gesetze der Natur doch auch Einheit, mithin Gesetzlichkeit, erfordert (welche Gesetzlichkeit des Zufälligen Zweckmäßigkeit heißt) […] so wird der Begriff der Zweckmäßigkeit […] ein für die menschliche Urteilskraft […] notwendiger […] Begriff sein.« (Hervorhebung hinzugefügt, KW).

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Zusammengefasst heißt dies, Sinnordnungen sind in Bezug auf die Kontingenzproblematik Spezialfälle der ontologischen Ordnung und erhöhen allenfalls die kontingenten Elemente, so dass sie zur Rechtfertigung der Religionskritik aufgrund philosophischer Einwände weniger geeignet sind als konstruktivistische Argumente. Da wir sowohl die strikte Festlegung auf ein nicht-reduktionistisches Menschenbild als auch die universale Bedeutung der hypothetischen Naturteleologie als zu weit gehende Annahmen betrachten, lassen wir im Folgenden finale Ordnungen und Sinn-Notwendigkeiten außer Acht und beziehen uns bei den Kontingenzbetrachtungen weiterhin nur auf naturgesetzliche und ontologische Notwendigkeiten. Die Ausschaltung solcher Sinnordnungen kann zum Vorwurf führen, dass unser Grundansatz an der Überschätzung des vernunftbezogenen Ordnungsgedankens krankt und Ordnung stiftende Möglichkeiten in einer »Logik des Herzens« (Pascal) oder in der Macht des Gefühls ausschließt. Hier sind zwei Gedankenkomplexe zu unterscheiden. Blaise Pascal versteht seine »Logik des Herzens« als Gegenbegriff zum – besonders auf Descartes bezogenen – rationalistischen Logikbegriff und spricht von dieser vor allem im Zusammenhang mit der Begegnung Gottes. Da heißt es zunächst allgemein: »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt, das erfährt man in tausend Fällen«.29 Im nächsten Abschnitt fährt er spezieller fort: »Es ist das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft. Das ist der Glaube: Gott spürbar im Herzen, nicht [in] der Vernunft.« Wenn wir wie Hans Küng mit »Herz« jene »geistige Personmitte des Menschen, sein innerstes Wirkzentrum, den Ausgangspunkt seiner dynamisch-personalen Beziehungen zum Anderen«30 meinen, dann ist dies nur eine andere Umschreibung der von uns festgestellten Ordnungsbrüche in den rationalen Ordnungen durch religionsphilosophische Kontingenzerfahrungen. Gravierender ist der Einwand, der sich auf die autonome Macht des Gefühls bezieht, weil hier ein wesentlicher Einfluss intuitiver Kräfte auf die betrachteten rationalen Ordnungen behauptet wird und so der 29 Pascal (1669) Nr. 277. 30 Küng (1978) S. 72.

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Irrationalität Vorschub geleistet wird. Begründet wird dieser Vorwurf damit, dass das Hören auf die innere Stimme oft das Richtige und Bessere bewirkt als rationales Räsonieren. Dabei beruft man sich auf Ergebnisse der modernen Hirnforschung, von denen man lernen kann, wie stark bewusste Abwägungen zuerst mit den inneren Vorgaben des zentralen Regulationszentrums einer Person abgestimmt werden, ehe nach internen unbewussten Weichenstellungen Entscheidungen und daraufhin Handlungen vollzogen werden. Dabei wird allerdings übersehen, dass diese Abstimmungen durchaus vernünftigen Prinzipien folgen, nämlich solchen, die für den betreffenden Organismus von Vorteil sind. Die wirksamen Faktoren haben sich zum Teil im Laufe der Evolution entwickelt und vererbt, zum Teil beruhen sie auf früheren individuellen positiven Erfahrungen, die kaum mehr bewusst sind. So versteckt sich hinter den Präferenzen der geheimnisvollen »inneren Stimme« eine zwar unbewusste, aber durchaus nicht irrationale Ordnung. Hier hat das (pascalsche) »Herz« tatsächlich seine Gründe, die die bewusste Vernunft nicht kennt. Das Stichwort »irrational« wird umgekehrt gerade bei einigen Religionskritikern in pauschalen Vorwürfen gegen die Religion verwendet. Der personale und existenzielle Aspekt steht von vornherein unter dem Irrationalitätsverdacht. Mit dieser Disqualifikation scheint die Möglichkeit von Religion entschieden zu sein. Zweifellos gibt es viele Menschen, die religiöse Verhaltensformen und Überzeugungen unreflektiert übernommen haben und seitdem kritischen Rückfragen aus dem Wege gehen. Wären sie in einer religionsfernen Umgebung aufgewachsen, würden sie auch ihre säkulare Lebensweise nicht in Frage stellen. Aber in der Definition der religionsphilosophischen Kontingenz wurde darauf hingewiesen, dass in einem philosophischen Diskurs ein gewisses Maß an Reflexionsbereitschaft vorausgesetzt wird. Deshalb ist ein pauschaler Vorwurf der Irrationalität angesichts der unüberschaubar großen Anzahl von argumentierenden religiösen Menschen – von Theologen ganz zu schweigen – zurückzuweisen. Solche extrem vereinfachten Vorwürfe zeugen eher von einer mangelhaften Kenntnisnahme der gegnerischen Argumente.

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So kann man heute allgemein eine Aufwertung der Gefühle im philosophischen Diskurs beobachten.31 Auch hier zeigt sich angesichts der Vielfalt der Rationalitätsbedeutungen die Antiquiertheit des Irrationalitätsbegriffs. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass man in der Intentionalität der Gefühle eine innere Rationalität zu entdecken glaubt, die es sogar ermögliche, Gefühle als Quelle der Erkenntnis zu betrachten. Obzwar hier noch sehr vieles offen ist, erkennt man einerseits die Universalität des uns leitenden Ordnungsgedankens, andererseits die Unmöglichkeit, in diesen von Gefühlen dominierten Bereichen eine zwingende Notwendigkeit zu identifizieren. Damit ist der riesige Komplex des Praktischen methodisch so weit aus unseren Untersuchungen ausgeschlossen, wie er nicht innerhalb der rationalen Ordnungen erklärbar ist. Aristoteles hat einst die Theorie auf den Bereich der Wirklichkeit und des Substanziellen, die Praxis dagegen auf den Bereich des Möglichen und des Akzidentiellen bezogen. Selbst nachdem die Substanzproblematik heute keine Rolle mehr spielt, blieb doch die Überzeugung, dass die Berücksichtigung von menschlichen Interessen und die Setzung ethischer Normen als kontingente Vorgänge zu betrachten sind. Ihnen dagegen eine absolute Geltung zuzusprechen, heißt, die Autonomie der Vernunft zu postulieren, in der dann scheinbar alle ontologischen Kontingenzen beseitigt werden. Aber diese Extrapolation zum Ganzen erfolgt auf dem schwankenden Boden von zahllosen Argumentationsbruchstücken einer in sich zerstrittenen Philosophie. Nicht zuletzt deshalb erweist sich dieser Zugriff auf das Ganze auch wieder – wie bei der Annahme einer Selbstorganisation – als eine dogmatische Kontingenzbewältigung, die nicht das leistet, was im Begriff der Bewältigung gefordert wird. Die in dieser »Bewältigung« aller ontologischen Kontingenzen verborgene religionskritische These von der Unvernünftigkeit der Frage nach der Möglichkeit von Religion jenseits des Wirkungsbereichs der Vernunft kann somit selbst als unvernünftig bezeichnet werden. Die größte Ver-

31 Siehe z. B. Döring (2002): Die Renaissance des Gefühls in der Gegenwartsphilosophie. Ferner Döring/Mayer (2002).

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führung zum Bekenntnis der Geltung der absoluten Vernunft geht von den »großen Erzählungen« aus, denen wir uns nun zuwenden wollen.

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Naturwissenschaftliche Forschung vollzieht sich im Ablauf naturgesetzlicher Kontingenzbewältigungen und legitimiert sich durch die Existenz einer weitgehend anerkannten Forschergemeinschaft. Ontologische Kontingenzbewältigungen erfolgen im philosophischen argumentativen Diskurs samt deren praktischen Konsequenzen und hängen vom Konsens möglichst großer Kommunikationsgemeinschaften ab. Der Versuchung zur Extrapolation naturgesetzlicher Erkenntnisse auf das Ganze des Seins in der naturalistischen Idee der Selbstorganisation entspricht die Verführung, den partiellen Konsens auf die Gesamtheit der vernunftfähigen Wesen zu extrapolieren und diesen Prozess durch die Idee der Autonomie der Vernunft zu rechtfertigen oder latent vorauszusetzen. Wie der wissenschaftliche Forschungsprozess die regulative Idee der Selbstorganisation als latente teleologische Anleihe in die Praxis seines Tuns integriert, so enthält die philosophische Argumentationsstruktur den Anspruch auf die sich selbst produzierende Letztbegründung der autonomen Vernunft, die sich am eindringlichsten in den wirkungsmächtigen philosophischen Konzeptionen, den so genannten »großen Erzählungen«, manifestiert. Beide Extrapolationen verhindern den Zugang zur Kontingenzanerkennung und damit zu der für Religion offenen Kontingenzbegegnung. Im ersten Fall werden Menschen vom Bewusstsein der Allmacht von Wissenschaft und Technik geprägt; sie verweisen auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse und schreiben den meisten Lebensbereichen eine unabänderliche zwingende Eigendynamik zu, das heißt, sie vollziehen in größtem Maße Kontingenzbewältigungen und glauben damit, antireligiöse Tendenzen unterstützen zu müssen. Die zweite Extra-

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polation erfolgt in den verschiedensten Letztbegründungsversuchen innerhalb der Philosophie, die aber weitgehend der Vergangenheit angehören. Sie haben in der Gegenwart ihre Überzeugungskraft eingebüßt; man spricht daher vom »Ende der großen Erzählungen«. Die damit einsetzende Gegenbewegung erfolgt weg von der zweifelsfreien Fundierung eines geordneten Ganzen hin zur Destruktion von Denknotwendigkeiten und damit hin zur Kontingenzmaximierung. Trotz des Zugeständnisses allgegenwärtiger Kontingenzen ist der durch die naturwissenschaftliche Kontingenzminimierung bewirkte antireligiöse Einfluss ungebrochen. Die Gründe hierfür sind vielfältig; einer der wichtigsten dürfte die Dogmatik der Endlichkeit des Seins betreffen, die sich häufig in einer Transzendenz- und Dualismusphobie äußert. Im Folgenden betrachten wir die beiden letzten »großen Erzählungen« der Philosophiegeschichte, nämlich die Phänomenologie und die analytische Philosophie, und brechen mit der weit verbreiteten Annahme, dass es sich dort um umfangreiche methodisch und argumentativ abgesicherte Teilbereiche der Gesamtwirklichkeit handle, die wenigstens näherungsweise mit den von einer naturwissenschaftlichen Forschergemeinschaft garantierten Sicherheiten vergleichbar wären. Doch fast jeder Vertreter steht für eine neue Interpretationsvariante, die seine Originalität beweisen soll. Selbst die Interpretation eines einzelnen Sprechers erfährt im Laufe der Zeit wesentliche Umgestaltungen, die sich in den wenigsten Fällen auf die Korrektur direkter Fehler beziehen,1 sondern neue Gesichtspunkte und Nuancen, aber auch Neuansätze und »Kehren«2 betreffen, die eher Zufallsexperimenten als logischen Weiterentwicklungen ähneln. Dass einzelne Geschichten 1 Die wissenschaftstheoretische Diskussion um Verifikations- und Falsifikationsprobleme innerhalb der analytischen Philosophie stellt eine der ganz seltenen Ausnahmen dar, in denen Jahrzehnte lang das Forschungsprogramm direkt an solchen Korrekturen orientiert war; siehe dazu das umfangreiche Werk von Stegmüller (1973). Paradoxerweise wurde dieser Vorgang meistens als Indiz der Inkonsistenz des gesamten Vorhabens und nicht als verdienstvolle Klärung der vorgetragenen Lehre gedeutet. Manch ein Kritiker hätte besser erst Verbesserungen im eigenen Argumentationsgang vorgenommen, ehe er zu seinen vernichtenden Urteilen gekommen ist. 2 Am bekanntesten ist die Heidegger’sche »Kehre«. Siehe z. B. Wuchterl (1995) 30.2.

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der gleichen Erzählung zuzurechnen sind, heißt nicht, sie als Teile eines großen Argumentationszusammenhangs identifizieren zu können. Die Einheit ist durch gewisse methodische Vorgaben und vor allem durch die Setzung von Leitideen gegeben, an denen sich jene Geschichten interpretatorisch orientieren. Solche großen Leitgedanken waren etwa in der Antike die Ordnung des Kosmos, im Mittelalter das Wirken eines Schöpfergottes in der sichtbaren Welt, in der Neuzeit das menschliche Bewusstsein, später das transzendentale Subjekt, schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse oder die Geschichte.3 So sind schon die großen Ordnungsschemata aufgrund ihrer Historizität kontingente Vorgaben, und nur Optimisten wie Hegel oder Marx konnten glauben, dass diese Leitideen sich notwendig aus ihren Vorgängern entwickelt haben. Aber auch die Anerkennung untergeordneter Leitideen, die bei gleichzeitiger Verbreitung verschiedener Strömungen vorgefunden werden, beruht auf kontingenten Entscheidungen. Nicht zuletzt sind auch die an der gewählten Leitidee orientierten Einzelinterpretationen keine notwendigen Argumentationsketten. Die »großen Erzählungen« scheinen alles andere als erratische Blöcke von höchster Systematizität zu sein. Philosophiegeschichtliche und populärwissenschaftliche Darstellungen mögen zur ersten Orientierung auf vereinfachende Konstruktionen angewiesen sein; doch die intensive Beschäftigung mit den richtungsweisenden Werken zeigt sehr schnell, wie gering die vermuteten Denknotwendigkeiten sind und wie sehr die Kontingenzen die rissigen Gebäude sprengen. Obwohl wir uns auf die nähere Vergangenheit beschränken wollen, kann man davon ausgehen, dass ähnliche Beobachtungen auch in den früheren Systemen und Strömungen der abendländischen Geistesgeschichte zu erwarten 3 Zu den »großen Erzählungen« wird gelegentlich (zum Beispiel bei Lyotard) auch der Marxismus gezählt. Doch die Lehre von Marx erlangte ihre weltweite Bedeutung in der Ökonomie und Soziologie und in der zugehörigen politischen Praxis. Der Einfluss der marxistischen Philosophie, auf die man erst ein halbes Jahrhundert nach Marxens Tod aufmerksam wurde, verbreitete sich vor allem im Gefolge kommunistischer Indoktrination. Die dabei entstandenen ideologischen Ordnungen sind daher von anderer Qualität als die von uns betrachteten beiden philosophischen Strömungen, in denen der Gedankenaustausch frei stattfinden konnte.

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wären. Daher relativieren sich all die Thesen vom »Ende der großen Erzählungen« (Lyotard), vom »Abschied vom Prinzipiellen« (Marquard) oder die »These vom zunehmenden Kontingenzbewusstsein«.4 Aber wie kam es überhaupt zu dieser Überschätzung der Notwendigkeit? Philosophische Reflexionen unterscheiden sich von bloßen Meinungen unter anderem durch argumentative Begründung des Ausgesagten. Argumentationen sind Begründungsreihen, deren Verknüpfungen der einzelnen Glieder formallogisch zulässig sind und inhaltlich von einer Diskursgemeinschaft akzeptiert werden. Diese Diskursgemeinschaft kann im Extremfall aus einer einzelnen Person bestehen, deren geschriebener Monolog an eine fiktive Leserschaft adressiert ist. Die formale Struktur eines Begründungsganzen verrät im Gewand des »Münchhausen-Trilemmas«5 ihren paradoxen Charakter: Begründungssequenzen sind entweder zirkulär, erstrecken sich ad infinitum oder aber sie fordern einen nicht weiter begründbaren Abbruch. Damit die Begründbarkeit keinem autoritativen Akt überlassen bleibt und weil die Verständigung zwischen menschlichen Wesen zu einem Ende kommen muss, fordert die Vernunft einen allgemein anerkannten evidenten Anfang, eine Arche, ein Prinzip, einen Urgrund oder ein Absolutum. Deshalb war Philosophie von Anfang an auf das Ganze gerichtet, sei es im kosmologischen und mehr theoretischen, sei es im lebensweltlich-ethischen und mehr praktischen Sinn. Philosophische Entwürfe versuchen daher immer innerhalb eines von der Vernunft garantierten kohärenten Ganzen zu bleiben, das heißt, sie haben immer die Tendenz zur »großen Erzählung«. Doch wie weit man sich diesem Ideal einer begründenden, letztlich durch Notwendigkeiten bestimmten Vernunft annähern kann, ist eine andere Frage. Ebenso problematisch scheint die Alternative einer rein narrativen Philosophie zu sein, die solche Begründungen gering schätzt, sich auf Assoziationen und Intuitionen verlässt und damit den Kontingenzen Tür und Tor öffnet. Wenden wir uns nun zur Klärung dieses Spannungsverhältnisses

4 Züricher Forschergruppe »Poetik und Hermeneutik«. Siehe oben 4.1. 5 Albert (1968) S. 13.

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zwischen Notwendigkeit und Kontingenz den beiden letzten bereits genannten Meistererzählungen zu.

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Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühten sich Philosophen, sich dem Zugriff der erfolgsverwöhnten Naturwissenschaft mit ihren Einflüssen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu widersetzen. Jene war längst zu einer Macht erster Ordnung geworden, die sich auch nicht durch die Grundlagenkrisen in Mathematik und Physik beeindrucken ließ und sogar durch die gleichzeitige Neuorientierung des logischen Positivismus und die Entstehung der Analytischen Philosophie gewichtige Bundesgenossen fand. Die damals entstandene Phänomenologie um Edmund Husserl verstand sich so als Gegenentwurf zu diesen allmächtigen Tendenzen und unterstützte damit Strömungen wie den hauptsächlich universitär wirkenden Neukantianismus sowie die Lebensphilosophie um Wilhelm Dilthey, wobei sich letztere im Laufe der Zeit zur philosophischen Hermeneutik entwickeln konnte. Die Phänomenologie kann damit als letzter groß angelegter Versuch der Moderne gelten, in der Philosophie durch eine methodische Neubesinnung zu letzten unumstößlichen Wahrheiten zu gelangen, also Letztbegründungen zu realisieren, wie sie in der Vergangenheit mit Hilfe von Systementwürfen zuhauf erfolgten, dabei aber immer wieder gescheitert waren. Der Versuch, die so genannte phänomenologische Methode bei Husserl, dem Begründer und Hauptvertreter derselben, genauer zu charakterisieren, stößt sehr bald auf Schwierigkeiten. Husserl war nämlich davon überzeugt, dass es in der Philosophie nur eine Methode geben kann, und genau diese suchte er zu entwickeln. Nun wird aber diese Methode von ihm zugleich mit der richtigen philosophischen Denkhaltung gleichgesetzt, das heißt mit der Art und Weise, wie Philosophie vollzogen werden sollte. Eine Charakterisierung der phänomenologischen Methode fällt daher weitgehend mit der Deskription seiner eigenen Philosophie zusammen. Doch diese hat sich im Laufe

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der Zeit ständig verändert: von einer sich auf Wesensbeschreibungen beschränkten Sicht (eidetische Phänomenologie) über deren Rechtfertigungen durch die transzendentale Absicherung im Bewusstsein (transzendentale Phänomenologie) und schließlich zu einer geschichtlichen Betrachtungsweise der Lebenswelt, aus der sich einst die Philosophie und später die moderne Naturwissenschaft entwickelt haben (genetische Phänomenologie).6 Schon ein kurzer Abriss dieser Metamorphosen der Phänomenologie zeigt, dass sie voller innerer Brüche ist und sich in eine Vielzahl von »kleineren Geschichten« aufsplittert. Zunächst aber scheint die Frühphase einen günstigen Anknüpfungspunkt für unsere Grenzproblematik darzustellen. Denn Auseinandersetzungen mit der Religion gehen häufig von der Frage nach dem Wesen der Religion aus, und dort geht es darum, die »Sachen selbst«, also auch das Weltliche und Religiöse in seinem Wesen, aufzuklären. In der Frühphilosophie steht zunächst der Intentionalitätsbegriff im Vordergrund. Die »Sachen selbst«, also die eigentlichen Gegenstände des Bewusstseins im Vollsinn des Wortes, werden nicht – wie die Psychologie es seinerzeit lehrte – durch mechanische Assoziation aus passiv gegebenen Sinnesdaten zusammengesetzt, sondern durch einen spezifischen Bewusstseinsprozess konstituiert. Nach einer Säuberung oder »Reduktion« des scheinbar unmittelbar Gegebenen von zufälligen historischen und dogmatisch gesetzten Elementen bleibt so ein Rest zurück, der das Wesen des Gemeinten bewusst werden lässt. Im Bewusstseinsakt der Reduktion erfahren wir dann nach Husserl in unmittelbarer Evidenz das eigentliche Wesen der »Sache« in ihrer allen Menschen in gleicher Weise notwendig zugänglichen Phänomenalität. Diese hat den Charakter einer materialen apriorischen Anschauung. Das heißt, im Gegensatz zu Kant, der nur Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen kennt, beruft man sich in der Phänomenologie zudem auf eine begriffliche Elemente umfassende kategoriale Anschauung, die jedem Menschen notwendige und unabänderliche Erkenntnisinhalte liefert. 6 Hier steht die Krisis-Abhandlung Husserls im Mittelpunkt, Husserl (1936). Zur Entwicklung der einzelnen Stadien siehe Wuchterl (1995) Abschnitt B

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Diese kategoriale Anschauung, in der sich die Wesensschau oder Ideation vollzieht, bestimmt die Ausgangsphase der Phänomenologie. Kein Wunder, wenn man sich nun gegenseitig darin übertraf, solche Wesensinhalte und Wesenszusammenhänge in allen Tätigkeitsfeldern und Wissenschaften aufzuspüren. Im religiösen Bereich sind hier vor allem Max Scheler und Rudolf Otto zu erwähnen; aber auch in der Psychologie (A. Pfänder), Ästhetik (M. Geiger), Ontologie (H. ConradMartius), Rechtslehre (A. Reinach) und der Ethik (H. Reiner) wurden Wesensanalytiken entworfen. Die Vielzahl der sich oft widersprechenden Entwürfe, insbesondere auch zum Wesen der Religion, veranlasste Husserl bald zu einer ersten Revision. Ihm ist klar geworden, dass die Ideation die behauptete rechtfertigende Kraft nicht besitzen kann, sondern selbst einer Rechtfertigung bedarf. Deshalb sollte er diesen Schülern später auch vorwerfen, ihre Deskriptionen hätten zeitabhängige einzelwissenschaftliche Erkenntnisse dargestellt und die phänomenologische Radikalität vermissen lassen.7 Indem Husserl in einem zweiten Anlauf jenes Sein der Wesenheiten als Korrelat eines spezifischen konstituierenden Bewusstseins auffasste, vollzog er eine transzendentale Wende. Eine neue Leitidee ersetzte auf diese Weise die in der kategorialen Anschauung ermöglichte letzte Evidenz: Seinssinn und Seinsgeltung wurden als Bewusstseinsleistungen verstanden. Diese neue Transzendentalphänomenologie machte es sich zur Aufgabe, die Korrelationen zu diesen Akten in allen Gegenstandsbereichen zu analysieren. Ihr Thema war die Konstitution der Wahrnehmungsgegenstände, der Wissenschaften, der Wertwelten, der Handlungsbereiche, der Zeit und zuletzt der Intersubjektivität und Kulturwelt, die auch die Religion umfasste. Die intuitive Absicherung der eidetischen Reduktion wich der Restitution des Gemeinten aus dem Bewusstsein mit Hilfe der transzendentalen Reduktion (auch philosophische Epoché genannt). Was früher als notwendig gegeben erkannt wurde, wird nun als vom Bewusstsein notwendig Konstituiertes verstanden. Wenn dieses Bewusstsein nicht das empirische 7 Siehe Avé-Lallemand (1975) S. 27/28.

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Bewusstsein von Husserl sein soll, kann es nur als Manifestation der von Husserl entdeckten beziehungsweise geforderten autonomen Vernunft eines »Bewusstseins überhaupt« interpretiert werden. Während Husserl den kontingenten Charakter der individuellen Ideation seiner Schüler durchschaute, erlag er selbst der Versuchung zur Extrapolation seiner Konstitutionsleistungen hin zum Allgemeinnotwendigen. Schon im einfachsten Fall der Konstitution der Wahrnehmungsgegenstände zeigt sich, dass die intentionale Leistung, die über die endlichen »Abschattungen« von Sinneseindrücken hinaus die volle, unendliche Möglichkeiten umfassende Gegebenheit der Gegenstände erfassen soll, Transzendentes intendiert. Die Erfüllung der Intentionen durch die Anschauung gelingt nur, wenn ein weiteres Mitgegenwärtiges, nämlich der jeweilige Gegenstandshorizont, als Bedingung gedacht wird. Die letzte Erfüllung der Intentionalität des Bewusstseins erfolgt aber erst in einem allumfassenden Horizont aller Horizonte, der – wie in Kants Begriff der regulativen Idee – als letzte, alle Erfahrungen ermöglichende Instanz das Verständnis von Wirklichkeit garantiert. Die Deutung dieses Universalhorizontes leitet eine neue Wende ein. In der Spätphase der Phänomenologie ist Intentionalität nicht mehr ein Wesenszug des passiven Bewusstseins oder eine Leistung des transzendentalen Bewusstseins, sondern ein vom »Leben« gestiftetes geschichtliches Phänomen. Die Zeit des intentionalen Lebens ist die Geschichte; den Universalhorizont, aus dem das Bewusstseinserlebnis seinen Sinn erhält, nennt Husserl »Lebenswelt«. Mit der Wende zur genetischen Phänomenologie nähert sich Husserl den Hermeneutikern in der Nachfolge Diltheys, für die schon immer die Abhängigkeit aller Sinngebungen von einem geschichtlich bestimmten Lebensvollzug entscheidend war. Diese neuen Gedanken haben sich dann in der so genannten »phänomenologischen Bewegung«8 ausgebreitet und zusammen mit den Einflüssen Heideggers der Philosophie in der Jahrhundertmitte ihr Gesicht gegeben. Aber eine Aufzählung von Namen wie Eugen Fink, Ludwig Landgrebe, Hans Lipps 8 Zur phänomenologischen Bewegung siehe vor allem Gadamers gleich lautenden Artikel in der Philosophischen Rundschau von 1963.

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oder gar Paul Ricoeur oder Emmanuel Lévinas – die sich ja alle als der Phänomenologie nahe stehend verstanden – lässt Zweifel an der Zuordnung deren Werke zu Husserls ursprünglicher Phänomenologie aufkommen. Die individuelle Vielfalt der Gedanken ist so unermesslich, bei den zuletzt Genannten die Aversion gegenüber methodischen Zwängen so eindeutig, dass alle Versuche, mittels einer allmächtigen Vernunft Notwendigkeiten zu begründen, von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Die Spätphänomenologie ist für uns von besonderem Interesse, weil sich in dieser die Widersprüchlichkeit der großen Erzählung »Phänomenologie« zeigt und notwendig zu deren Auflösung oder Transformation in alternative Konzepte führt. Wir sprachen oben von der letzten Erfüllung der Intentionalität des Bewusstseins im allumfassenden Horizont aller Horizonte, der letzten Instanz zum Verständnis der Wirklichkeit. In einer Zeit, in der sich besonders durch den Einfluss der Lebensphilosophie und der Daseinsanalysen Heideggers existenzielles und vor allem geschichtliches Denken verbreitete, hinterließ dieses auch im Wirklichkeitsbegriff der Husserl’schen Reflexionen ihre Spuren. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Husserl in dieser neuen Situation seine phänomenologische Methode auf die Geschichte zu übertragen sucht. Das Mitgegenwärtige, das bisher in einem abstrakten Weltbegriff als Bedingung von Wirklichkeit gedacht wurde, betrifft nun das allgemeine geschichtliche Gedächtnis einer ganzen Kulturgemeinschaft samt deren Traditionen und Erwartungshaltungen. Dieser Versuch einer geschichtlichen Horizonterweiterung aber ist nach allgemeinem Urteil gescheitert. Besonders eindringlich zeigt Blumenberg unter Heranziehung des Kontingenzbegriffs die Inkonsequenzen dieser Übertragung auf. So geht dieser in Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie9 in seiner Kritik von der doppelten Bedeutung des Lebensweltbegriffs von Husserls »Krisis«-Abhandlung aus. Darin verfolgt jener die Absicht, die neuzeitliche Krise der europäischen Wissenschaften, die er als fortschreitende Überlage9 Blumenberg (1981) S. 22 ff.

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rung der Lebenswelt durch zunehmende Technisierungs- und Formalisierungsmaßnahmen charakterisiert, genauer zu diagnostizieren und zu therapieren. Husserl sieht in der Geburt der griechischen Philosophie den radikalen Anfang dieser Problemgeschichte; auf diese müsse Bezug genommen werden, wenn die Krise durch die phänomenologische Reflexion erkannt und behoben werden soll. Der davor liegende Zustand, der durch die theoretische Einstellung der griechischen Philosophen verlassen wurde, also die Lebenswelt vor der »Umstellung«, sei von einer ursprünglichen natürlichen Einstellung geprägt gewesen, deren Charakter helfen könne, die universale Selbstverständlichkeit der von Krisen befreiten Welt phänomenologisch verständlich zu machen.10 Blumenberg bemängelt mit Recht, dass dieser Lebensweltbegriff dem vorher definierten Begriff der Lebenswelt als »Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten« widerspricht.11 Die Lebenswelt betraf dort wegen ihrer Selbstverständlichkeiten eine Welt ohne Kontingenzwahrnehmung und stellte zugleich den Ausgangspunkt des phänomenologischen Prozesses dar, der alle Selbstverständlichkeiten in Frage stellt und so die Kontingenz vermehrt. Blumenberg sieht dieses Problem vor allem im Zusammenhang mit dem Prozess der Technisierung zu Beginn der Neuzeit, in einer Zeit des Übergangs »aus der Selbstgenügsamkeit des Naturzustandes in das Luxurieren des Erfinderischen«.12 Für ihn bedeutet jedes Heraustreten aus jener Lebenswelt eine Vergrößerung der Kontingenz, die bei Blumenberg zunächst positiv konnotiert ist. So beschreibt er diese zunächst »als Stimulans der Bewusstwerdung der demiurgischen Potenz des Menschen«,13 also als Innovationskompetenz, als Ausschöpfung der Beliebigkeit und als Selbstbehauptung in der Verwirklichung menschlicher Möglichkeiten. Für diese »Kontingenzwelt«, die für ihn durchaus technische Qualitäten bereithält, wird die kontingenzfreie Lebenswelt zum Gegenbegriff. Mit dieser Diskrepanz – Aufhebung der 10 Husserl (1936) S. 326 ff. 11 A.a.O. S. 183. 12 Blumenberg (1981a) S. 16. 13 A.a.O. S. 47.

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Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt durch phänomenologische Selbstverständigung in der Frühphase14 kontra Abbau der verklärten Lebenswelt in der Spätphilosophie als Ursache der Krise – macht Blumenberg deutlich, dass die Übertragung des eidetisch und transzendental gestuften phänomenologischen Erkenntnisprozesses auf die völlig anders strukturierte Geschichte gescheitert ist. Dass Blumenbergs Analyse nicht in jeder Hinsicht zugestimmt werden kann, zeigt sich in seiner inkonsequenten Verwendung des Kontingenzbegriffs in der Beweisführung. In seinem ureigensten Anliegen, nämlich in der Erklärung und Legitimation des neuzeitlichen Anfangs, lässt sich der Begriff der Kontingenzvermehrung nur verstehen, wenn man ihm einen diachronischen Kontingenzbegriff 15zugrunde legt. Die Entwicklung vom alten Universum der Selbstverständlichkeiten in eine neue Zeit, in der alles möglich erscheint, wird vom Historiker Blumenberg beschrieben. Dabei betrifft die Zuschreibung der Kontingenz Sachverhalte zum Zeitpunkt der unberührten Lebenswelt auf der einen und zur Zeit des Luxurierens des Erfinderischen auf der anderen Seite, ist also auf je verschiedene Subjektformen bezogen. Wenn Blumenberg dagegen die phänomenologische Methode der Frühphase im Auge hat, bezieht sich Kontingenz auf ein je einzelnes Bewusstsein, in dem sich durch den phänomenologischen Erkenntnisprozess die Selbstverständlichkeiten auflösen und den Blick für neue Möglichkeiten frei machen. Bezieht man sich aber statt auf den Zeitgeist auf ein Einzelindividuum, dann tauchen schnell Zweifel an der Universalität des Selbstverständlichen auf. Die existenziellen Kontingenzen innerhalb eines Ordnungsdenkens sind nicht übersehbar und haben eine völlig andere Bedeutung als im diachronischen Geschichtsexempel. Trotzdem ist für unsere Überlegung zum Ende der großen Erzählungen Blumenbergs Destruktion einer allgemeinen phänomenologischen Methodik aufschlussreich. Man kann deshalb allgemein sagen, 14 A.a.O. S. 23: »Das Selbstverständliche ist der Gegenbegriff zu jener ›Selbstverständigung‹, die für Husserl die eigentliche Aufgabe der phänomenologischen Philosophie zu sein hat.« 15 Siehe oben 4.2

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dass, während sich die Frühphilosophie Husserls durch die eidetische Reduktion methodisch noch einigermaßen umreißen lässt und ihr Vorgehen zahlreiche Nachahmer16 gefunden hat, die phänomenologische Reduktion der mittleren Phase bereits methodisch diffuser geworden ist; im Spätstadium schließlich wird der methodische Grundgedanke sogar widerspruchsvoll. Durch die vielfältigen Transformationen verliert die Phänomenologie also mehr und mehr ihre Identität. Die wichtigste Transformation der Phänomenologie finden wir in der Heidegger’schen Daseinsanalytik, die der Hermeneutik nahe steht. Daneben gibt es die verschiedenartigsten Weiterentwicklungen, in denen sich die Bezüge zur Phänomenologie mehr und mehr lockern; schließlich lassen sich auch Beispiele angeben – man denke hier nur an die Philosophie Wittgensteins –, die aus einer ganz anderen philosophischen Tradition stammen und etwa im Bereich der Sprache oder der Bildung Wege einschlagen, auf denen mit Methoden gearbeitet wird, die man in einem sehr weiten Sinn auch als phänomenologisch bezeichnen kann. Alle diese Umformungen sind weniger konsequente Folgerungen als vielmehr originelle neue Entwürfe auf dem Boden verbreiteter Vorstellungen, die von kontingenten Erfahrungen und Begegnungen neuer Zeitströmungen bestimmt sind. Der Überblick zeigt, wie der Methodenaspekt Schritt um Schritt an Bedeutung einbüßt. Die einzelnen Gedankenreihen sind an der Oberfläche zwar logisch korrekt, semantisch aber in ihrer Vagheit vieldeutig und alles andere als aus einer einzigen Legitimationsquelle notwendig abgeleitet. Im Vergleich zum naturgesetzlichen Zwang fehlt den philosophischen Argumentationen mit ihren individuellen Anliegen und Zwecksetzungen, Einfügungen von Stützungen und Ausnahmebedingungen17 das allgemeinverbindliche Gewicht. Wer hier die Sicherheit sucht, wie sie Husserl vorschwebte, wird enttäuscht. Noch am Ende 16 Dazu zählen vor allem die Münchner Schule mit Pfänder, Geiger, Reinach und Scheler, die Göttinger Schule mit Conrad-Martius, von Hildebrand, Ingarden, Schapp, Koyré, Stein, ferner außerhalb der Philosophie Religionswissenschaftler wie Otto, Pädagogen u. a. 17 Zur Struktur von Argumentationen siehe Toulmin (1975) S. 87/88.

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seiner Cartesianischen Meditationen schreibt er: »Unsere Meditationen haben ihren Zweck erfüllt: nämlich die konkrete Möglichkeit, die cartesianische Idee einer Philosophie als einer universalen Wissenschaft aus absoluter Begründung darzutun.«18 Er war wohl der einzige, der dies so sah. Die aufgezeigten Zweifel an der Phänomenologie als Letztbegründungsinstanz bedeutet zugleich eine Kritik an der Autonomie der Vernunft. Ihre Herrschaft wird durch die Vielzahl der Kontingenzen in einem Maße beschränkt, dass die Möglichkeit von Kontingenzanerkennungen offensichtlich ist. Im erwähnten Rückgang auf die sich in der Geschichte rein faktisch ablösenden und oft im Widerspruch nebeneinanderstehenden Lebensformen wird der Versuchung widerstanden, eben diesen Zusammenhang als neue Form der Notwendigkeit zu erklären und damit die Hegel’sche Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit zu übernehmen. Für unsere weiteren Überlegungen ist die von Heidegger vollzogene tiefgreifende Transformation der Phänomenologie19 von größter Bedeutung, markiert diese doch den Ausgangspunkt für dessen radikale Destruktion der Ontologie, jenem Herrschaftsbereich der autonomen Vernunft. So stößt Heidegger in der Bemühung um die »Sache selbst« früh auf die Geschichtlichkeit und vor allem auf die Frage nach dem Sinn von Sein. An die Stelle der spätphänomenologischen Lebensweltanalyse tritt die Existentialanalytik. Was den Zeitgenossen zunächst nur als neue Form einer Phänomenologie der menschlichen Seinsweise, also als Anthropologie erscheint, entwickelt sich bald zum Denken eines neuen radikalen Anfangs, das zuerst die Fundamente der Phänomenologie und dann das Vertrauen auf das Ganze des Seienden in der vorausgegangenen Metaphysik infrage stellt. In deren »Seinsvergessenheit« sei vor allem die Frage nach dem Sinn von Sein unterblieben und damit nur ein Konglomerat von Seiendem in seiner puren Faktizität verhandelt worden. Dem in Sein und Zeit nachgehol18 Husserl (1931) S. 178. 19 Über das Verhältnis Heideggers zur Phänomenologie gibt sein Aufsatz Mein Weg in die Phänomenologie (1963) Aufschluss.

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ten »ersten Anfang« folgt nach der so genannten »Kehre« nochmals ein weiterer – vom ersten radikal verschiedener – »zweiter Anfang«, in dem das gesamte propositionale Denken durch die Einsicht in den Ereignis-Charakter des nun als SEYN bezeichneten Ursprünglichen überboten wird. Heidegger sieht sich hier mit dem sprachlich eigentlich nicht mehr Erfassbarem konfrontiert – das Seyn ist »niemals endgültig sagbar«20 – und steht damit bereits jenseits der Philosophie und zugleich mitten in der Sprachproblematik, die uns direkt zum Thema der »Analytischen Philosophie« führt. Während durch die im »ersten Anfang« realisierte Destruktion der Ontologie sich eine eindrucksvolle Kontingenzanerkennung vollzog, sind die Intentionen des »zweiten Anfangs« eigentlich nur als Ausdruck einer Kontingenzbegegnung zu verstehen. Wegen dieses engen Zusammenhangs beider Schritte kommen wir später bei der Diskussion des Satzes vom Grund als Basis der Ontologie und damit der autonomen Vernunft nochmals ausführlich auf Heideggers Weg zurück.21 Dass dieser Weg mit seinen zahlreichen Neuanfängen nicht als konsistente Meistererzählung missverstanden werden kann, sondern im Gegenteil die Wirkung kontingenter Kräfte demonstriert, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Deshalb wenden wir uns nun der zweiten großen Erzählung zu.

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Neben der Phänomenologie ist die analytische Philosophie die zweite einflussreiche Strömung innerhalb der jüngsten Philosophie, der eine streng methodisch orientierte Denkweise nachgesagt wird. An die Stelle des Bewusstseins in der Phänomenologie tritt hier der Leitbegriff der Sprache. Aber die Erkenntnis, dass Sprache nicht nur ein Informationsinstrument und damit ein Randthema der Philosophie ist, sondern zu den unhintergehbaren Fundamenten philosophischer Reflexionen gehört, führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur im englischsprachigen Bereich, wo die analytische Philosophie den größten Ein20 Heidegger GA Bd. 65. S. 460. 21 Siehe unten 10.1.

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fluss ausübte, zu einer intensiven Beschäftigung mit sprachbezogenen Problemen; so steht beispielsweise auch schon in der Daseinsanalytik Heideggers, bei den Dialogikern um Martin Buber oder später in der philosophischen Hermeneutik Gadamers die Sprache im Mittelpunkt. In Cambridge und Oxford entwickelte sich unter starkem Bezug auf logische Fragen, insbesondere forciert durch den Mathematiker, Logiker, Philosophen und Nobelpreisträger Bertrand Russell sowie dessen Studenten und Freund Wittgenstein, eine spezifische Problembehandlung, die als linguistic turn in die Philosophiegeschichte eingegangen ist.22 Als Wittgenstein 1921 seine Frühschrift Tractatus logico-philosophicus veröffentlichte, beeindruckte diese die Fachwelt in einem Maße, dass man ihn später, zusammen mit Gottlob Frege, als Initiator der analytischen Philosophie betrachtete. Diese Einordnung wurde nach dem Erscheinen der Philosophischen Untersuchungen, dem Hauptwerk seiner Spätphilosophie, erneut bestärkt. Trotzdem war Wittgenstein kein analytischer Philosoph23. Hätte man dem Schlussteil des Traktats mehr Aufmerksamkeit gewidmet, hätte man diese Folgerung kaum ziehen können. Auch die wiederholte Feststellung Wittgensteins, seine Philosophie vertrage keine schulmäßige Gefolgschaft24, spricht für sich. Trotz dieser Distanz zur sich später etablierenden analytischen Philosophie geben die Schriften Wittgensteins wichtige Hinweise zur Entstehung dieser zweiten »großen Erzählung«. Wittgenstein wurde sehr bald zur überragenden Persönlichkeit im Umfeld der analytischen Philosophie, gingen doch die Impulse zur Entstehung zweier wichtiger Formen derselben auf ihn zurück: 22 Zur allgemeinen Entwicklung der analytischen Philosophie und zu ausführlichen Literaturangaben siehe HB; speziell zu Wittgenstein sei auf die Kurzbiographie Wuchterl/Hübner (2006) und auf die kurze Einführung (als Hörbuch) Wuchterl (2007) hingewiesen. 23 Und schon gar kein Positivist, wie es Schulz in seiner Wittgenstein-Darstellung behauptet. Siehe Schulz (1967), z. B. S. 48, wo vom »positivistischen Grundansatz des Traktats« die Rede ist. 24 So heißt es beispielsweise in VB S. 536: »Ich kann keine Schule gründen, weil ich eigentlich nicht nachgeahmt werden will. Jedenfalls nicht von denen, die Artikel in philosophische Zeitschriften veröffentlichen. 1947«.

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Die Veröffentlichung seines ersten und einzigen Buches Tractatus logico-philosophicus25 galt als Vorbild für Idealsprachkonstruktionen, sein posthum veröffentlichtes Hauptwerk Philosophische Untersuchungen26 führte zur Ausbildung der »ordinary language-philosophy« (»Normalsprachphilosophie«27) bzw. zur »sprachanalytischen« Philosophie.28 Schon im Vorwort zum Traktat findet man eine Kernthese der gesamten Philosophie Wittgensteins, nämlich dass die Fragestellung der philosophischen Probleme »auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht«. Der Nachweis erfolgt dann in der Entwicklung einer Abbildtheorie der Sprache. Aussagen über die strukturellen Grundelemente der Welt, also über Sachverhalte und Aussagen, stehen für ontologische Aussagen, solche über deren Zusammenhänge betreffen die Logik der Welt. Da nach der Abbildtheorie die Logik der Welt und die der Sprache identisch sind, ersetzt die Sprachkritik des Traktats eine explizite Ontologie. Die Frage nach der Vernunft erscheint so als Frage nach den Bedingungen, wie die Welt und die begrifflichen Hilfsmittel gedacht werden müssen, damit die Sprache ihre Funktionen erfüllen kann. Damit wird das ebenfalls im Vorwort erwähnte Ziel verständlich, dass das Buch »dem Ausdruck der Gedanken« eine Grenze ziehen will. Hinter den vordergründigen Denknotwendigkeiten einer strengen Logik geht es Wittgenstein also um die Grenzen der Vernunft und des Sagbaren. Der Traktat zielt demnach nicht auf die Konstruktion einer logischen Universal- oder Idealsprache, sondern will darauf aufmerksam machen, dass in der Erfahrung von Grenzen des Sagbaren sich Unsagbares zeigt: »Der Angelpunkt ist die Theorie dessen, was durch Aussagen […] ausgedrückt werden kann […] und dessen, was durch Aussagen nicht ausgedrückt, sondern nur gezeigt wer-

25 Wittgenstein (1922), im Folgenden mit Traktat bzw. T abgekürzt. 26 Wittgenstein (1951), im Folgenden mit PU bezeichnet. 27 Siehe von Savigny (1969), wo »Philosophie der normalen Sprache« im Buchtitel erscheint. 28 Diese versteht sich (gelegentlich mit der Oxford School gleichgesetzt) als Spezialform der Letzteren, die ihre sprachliche Analysen oft nahe sprachwissenschaftlichempirischer Vorgehensweisen durchführt (Ryle, Austin, Strawson).

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den kann; das glaube ich, ist das Kardinalproblem der Philosophie.«29 Diese Überlegungen, die besonders den letzten Abschnitt des Traktats prägen, sind ein wichtiger Grund dafür, warum sich Wittgenstein stets von der analytischen Philosophie distanzierte, die völlig andere Wege einschlug. Da auch in der Spätphilosophie, die Wittgensteins Weltruhm begründete, diese zweite Dimension des sich nur Zeigenden von ihm weiterhin als wesentlich betrachtet wurde, greifen wir diese Ausführungen später in der Diskussion der Kontingenzbegegnungen wieder auf.30 Die analytische Philosophie ging ihre eigenen Wege, einmal in größerer, einmal in geringerer Nähe zu Wittgenstein, aber was methodische Brüche betrifft, der Phänomenologie nicht unähnlich. Auffällig für beide »große Erzählungen« ist die Tatsache, dass ihre Anfänge von Philosophen entwickelt wurden, die der Mathematik und Logik nahe standen. In der Phänomenologie eröffnete eine »Philosophie der Arithmetik« den Reigen der Husserl’schen Publikationen, die sich zehn Jahre später in den beiden Bänden der Logischen Untersuchungen und nochmals ein Dezennium später in der Philosophie als strenge Wissenschaft fortsetzte. In Cambridge wurden fast gleichzeitig mit der Fertigstellung der Principia Mathematica, die Russell weltweit als führenden Vertreter der modernen Logik und als brillanten Grundlagenforscher auswies, die Voraussetzungen des Traktats geschaffen. Als eigentlichen Begründer der analytischen Philosophie in Cambridge nannte man im Allgemeinen zwar George Moore, doch sprach man diesen Ehrentitel später eher Frege zu, einem weiteren Mathematiker, dessen explizite Beiträge zur Philosophie sich jedoch in engen Grenzen halten.31 Die durch Mathematik und strenges Denken garantierten Notwendigkeiten faszinieren offensichtlich auch nach Kant (und Platon, Descartes, Leibniz, Pascal) weiterhin viele Menschen, die sich von ihnen eine Hilfe im Irrgarten der philosophischen Meinungen erhoffen. Wie wir 29 Brief 37 an Russell. In: Wright (1974). 30 Siehe unten 10.2. 31 Gemessen am Einfluss werden neben Frege und Russell noch Carnap im »Wiener Kreis« als Begründer benannt. Siehe dazu Koppelberg (1987) S. 55/56.

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sehen werden, ist das Ergebnis der Bemühungen um Klarheit durch Exaktheit – wie in der Phänomenologie – auch hier in der analytischen Philosophie recht ernüchternd. Ursprünglich war die analytische Philosophie als Gegenbewegung zur Vorherrschaft des Subjekts in idealistischen Strömungen entstanden; doch bald setzten sich in ihr naturalistische Tendenzen durch. In dieser Liaison verstand sich die Philosophie als wissenschaftstheoretisches32 Unternehmen, umgekehrt erhielt die Naturwissenschaft philosophische Weihen. Der Rekurs auf Sprache schien eine neue Art von Begründung und Notwendigkeit zu garantieren, die für echte Kontingenzen keinen Raum lässt. Die Selbstorganisation erscheint in Analysen zur Naturphilosophie33 in sprachlicher Verhüllung, konnte aber ihren Dogmatismus trotzdem nicht verbergen. Deshalb ist es kein Zufall, dass antireligiöse Inszenierungen sich gerade in dieser Ausprägung der analytischen Philosophie häufen.34Aber die kritische Einstellung zur Religion herrschte nicht nur in dieser »wissenschaftlichen« Variante vor, sondern begleitete die analytische Philosophie bis hin zu ihrer therapeutischen Selbstauflösung bei Richard Rorty und anderen.35 Es handelt sich hier um eine der großen Inkonsequenzen, dass trotz Wittgensteins Veto und trotz der stetigen Untergrabung der Notwendigkeiten auf Kosten einer kontingenten Empirie die Religion unabänderlich zu den Themen von gestern zählte – man denke hier vor allem an die zahlreichen Revisionen wissenschaftstheoretischer Sinnkriterien 32 Hier ist der »Wiener Kreis« um Schlick, Neurath und Carnap maßgebend, in dem eine »wissenschaftliche Philosophie« vertreten wurde. So waren es gerade die Anhänger dieses Zirkels, die den Traktat begeistert aufnahmen, wichtige Teile desselben in die eigene Philosophie einbauten und ihn damit zur »Bibel« des logischen Empirismus machten. Wittgenstein blieb wegen der Missachtung des »anderen Traktats« zu diesem Positivismus wie auch zu späteren Ausprägungen der analytischen Philosophie stets auf Distanz. 33 Zum Beispiel in Neuraths holistischem Naturalismus. 34 Ein besonders extremes Beispiel in Ayer (1970) Kapitel VI: »Kritik der Ethik und Theologie«. 35 Markante Beispiele in der Sprachanalytik bei Flew mit seiner Gärtner-Parabel (Theology and Falsification, in: ders. (1955); siehe auch Dalferth (1974) S. 84) bzw. im Spätstadium bei Dennett (2006). Zu Rorty siehe unten am Ende des Abschnitts 8.3.

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und die schrittweise Rücknahme entscheidender Prämissen bis hin zu Willard V. O. Quines Kritik des Analytizitätsbegriffs. Die Hinwendung zur Naturwissenschaft ist bei vielen Vertretern der analytischen Philosophie auch heute ungebrochen und verrät eine weit verbreitete Überzeugungskraft des Dogmas der Selbstorganisation der Natur mit all ihren religionskritischen Konsequenzen. Für uns steht deshalb im Folgenden die Weiterentwicklung der nicht-naturalistischen Konzepte im Mittelpunkt. Die »linguistische Wende« wurde von vielen als »philosophische Revolution«36 gefeiert. Aber wie alle Neuerungen ist auch diese nicht von Übertreibungen verschont geblieben. Enthusiasten glaubten, alle philosophischen Probleme durch sprachkritische Analysen aus der Welt schaffen zu können und scheuten sich nicht, einen Konfrontationskurs gegenüber der gesamten philosophischen Tradition einzuschlagen. Man konnte sich dabei sogar auf Wittgenstein berufen, hatte dieser doch im Vorwort zum Traktat festgestellt, »die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«. Dabei ignorierte man aber bewusst die Fortsetzung der Aussage, wonach der Wert seiner Abhandlung auch darin besteht, gezeigt zu haben, »wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind«. Alle, die den Königsweg der sprachbezogenen philosophischen Analyse nicht gehen wollten, wurden einer »kontinentalen Philosophie«37 zugeordnet, die durch Schlagworte wie Vieldeutigkeit, Unklarheit, dunkle Tiefe, Willkür, literarische Fiktion, Metaphysik und Mystik charakterisiert wurde. Damit verbannte man zugleich Themen wie Gott, Angst, Bewusstsein, personaler Glaube, Destruktion oder Klassenkampf aus dem durch Sprachkritik gereinigten philosophischen Denken. Die Aufzählung der Schlagworte findet man wörtlich bei L. Jonathan Cohen,38 der die für uns aufschlussrei36 So lauten die Titel von Aufsatzsammlungen von Ayer aus dem Jahre 1956 und von Ryle 1957.

37 Zur Problematik des Abgrenzungsprozesses der Analytiker mit Hilfe des Begriffs der kontinentalen Philosophie siehe Glendinning, dem Herausgeber der Edinburgh Encyclopedia of Continental Philosophy (1999), der in seinem Vorwort diesen Vorgang äußerst kritisch beurteilt. 38 Cohen (1986) S. 11.

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che These vertritt, dass analytische Philosophie und sprachkritische Reflexion über Rationalität identisch seien. Dies führte bei einigen dazu, das vergangene 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der analytischen Philosophie zu bezeichnen.39 Was in der Phänomenologie unter Vernunft verstanden wird, erscheint hier im Rationalitätsbegriff zusammengefasst, der allerdings nicht mehr auf eine Ontologie bezogen ist – diesem metaphysischen Relikt der kontinentalen Philosophie –, sondern durch den Gebrauch der Sprache den Geltungsbereich des Denkbaren umgrenzt. Die Gegenüberstellung von analytischer und kontinentaler Philosophie steht und fällt mit dem Aufweis einer »philosophischen Analyse«, die durch die genannte sprachkritische Reflexion bestimmt ist und die »analytische Methode« definiert. Wer aber in den Arbeiten der bekannten Analytiker nach genaueren Ausführungen über diese neue Methode und ihre Absicherung sucht, wird enttäuscht, sind doch die Aussagen im Allgemeinen programmatisch, unvollständig und teilweise sehr speziell auf bestimmte Einzelfälle bezogen. Keiner ihrer Vertreter beschreibt die analytische Methode eindeutig als ein allgemein anwendbares Instrument. Ganz offenkundig wird der Begriff des Analytischen nicht im Sinne Kants verwendet, der ein Urteil »A ist B« analytisch nennt, wenn »das Prädikat B zum Subjekt A […] als etwas gehört, was in diesem Begriff versteckter Weise enthalten ist«;40 andernfalls heißt das Urteil synthetisch. Kant verwendet dafür auch die einprägsamen Termini des Erläuterungs- bzw. Erweiterungsurteils. Wenn es sich aber bei analytischen Einsichten nur um Erläuterungen von etwas schon Bekanntem handelt, so heißt das letztlich, dass dieser Begriff des Analytischen für die Philosophie nur von zweitrangiger Bedeutung ist. Er betrifft vor allem das logische Denken und spielt dann allenfalls in der Propädeutik zur Philosophie eine Rolle. Doch 39 So schreibt beispielsweise der Wittgenstein-Nachlassverwalter von Wright (1993): »Unter den Hauptströmungen in der Philosophie dieses Jahrhundert ist die ›analytisch‹ genannte nicht nur die stärkste und am weitesten verbreitete, sondern auch die für die geistige Lage der Zeit charakteristischste.« (S. 4). 40 Kant (1781) B 11.

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in der analytischen Philosophie hat der Analysebegriff seit Moore,41 also von Anbeginn, einen positiven Stellenwert. Dies wird in Kritiken an der analytischen Philosophie oft nicht beachtet. Moore richtete in seiner Ethik (!) an die Philosophen die programmatische Aufforderung, sie sollten ihre Aussagen, die so oft dem gesunden Menschenverstand widersprächen, einer »Analyse« unterwerfen.42 Analyse bedeutet bei Moore die Zerlegung eines Sprachkomplexes in seine Bestandteile, um Rechtfertigungen und Begründungen dafür zu finden, dass man so spricht, wie man spricht – sei es in philosophischen, wissenschaftlichen oder in Alltagskontexten. Er geht bei seinen Überlegungen von bestimmten Sätzen der Umgangssprache aus, von deren Wahrheit praktisch alle Menschen überzeugt sind. Ein solcher so genannter Moore’scher Truismus ist z. B. der Satz E: »Die Erde existiert schon seit vielen Jahren.« Moore stellt nun fest: Wenn wir überzeugt sind, dass E wahr ist, dann setzt das voraus, dass wir verstanden haben, was mit E gemeint ist. Wir kennen also die Bedeutung von E in einem vorläufigen Sinne. Damit geben sich Philosophen aber nicht zufrieden. Sie fragen, was man eigentlich genau mit der Äußerung von E sagen und verstanden haben will und was uns veranlasst, E als wahre Aussage zu bezeichnen. Wenn sowieso jedermann von der Wahrheit dieses Satzes überzeugt ist, wozu spricht man ihn dann überhaupt aus? Offensichtlich soll er eine spezielle Funktion übernehmen, die aus der Situation heraus, in der er formuliert wird, verständlich ist. Man könnte z. B. an einen philosophischen Streit denken, in dem jemand einen radikalen Solipsismus vertritt und der Opponent zur Bestätigung des Realismus den Satz E formuliert, um an die Zeit zu erinnern, an der keine bewussten Lebewesen die Erde bevölkerten. So kann man sich viele weitere Situationen vorstellen, in denen E dazu verwendet wird, um weitergehende Inhalte zu konnotieren. Und schon hier beginnt das Problem; denn es ist offensichtlich, dass wir nicht alle Konnotationen und nicht alle Konsequenzen der Bedeutung von E im Bewusstsein haben. In diesem Sinne kann man 41 Siehe Moore (1969) und (1970). 42 Moore (1970) Vorwort.

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sagen, dass wir zunächst nicht wissen, was E eigentlich bedeutet. Erst wenn es uns gelingt, für die gegebene Gesprächssituation einigermaßen vollständig anzugeben, was alles mit E gemeint ist, dann sind wir berechtigt zu sagen, wir wüssten, was E genau bedeutet. Zu dem Analysandum E ist also ein Komplex E’, das Analysans, anzugeben, der möglichst viel von dem expliziert, was in E an Nebenbedeutungen, stillschweigenden Annahmen und Konsequenzen mit gemeint und mit behauptet ist, ohne vorher explizit im Bewusstsein des Sprechenden aufzutauchen. Wir können als das Ergebnis unseres Versuchs, Moores Programmatik zu verdeutlichen, festhalten: Unter Analyse von E ist die Konstruktion von E’ zu verstehen. Jemand kennt also erst dann die eigentliche Bedeutung von E, wenn er in der Lage ist, eine Analyse von E, das heißt den Komplex E’, anzugeben. Analoge Überlegungen betreffen auch die Einzelbegriffe. Wenn man einen Begriff B (z. B. Bank43) in einem Kontext ausspricht, dann hat ihn der Hörer erst dann verstanden, wenn er z. B. weiß, dass damit etwas gemeint ist, worauf man sich setzen kann, und nicht etwas, das mit Finanzen zu tun hat. Auch das Verstehen des Begriffs B verlangt also, dass man einen Komplex B’ mit den wichtigsten Konnotationen kennt und voraussetzt. Dass die adäquate Konstruktion von E’ bei Urteilen bzw. von B’ bei Begriffen viele Fragen aufwirft, ist offenkundig. So muss geklärt werden, ob es sich um eine Äquivalenz von E und E’ bzw. um die Synonymität von B und B’ handelt, ob E’ bzw. B’ weitreichend genug sind, ob die Analyse effektiv ausgeführt oder nur als prinzipiell möglich gedacht werden muss usw. In diesem Zusammenhang stößt man auch auf die Frage, ob es bestimmte Begriffe gibt, die nicht weiter analysierbar sind. Moore behauptet dies z. B. für den ethischen Zentralbegriff des Guten. Aber das braucht uns hier nicht zu interessieren. Wichtiger ist die Frage, wie das sog. Analyse-Paradoxon vermieden werden kann; 43 Falls die genannten Beispiele zu banal erscheinen, denke man sich statt der Aussage E etwa die Aussage:»Alle Personen haben Selbstbewusstsein« und im Falle der Begriffsanalyse den Begriff der Willensfreiheit, um zu erkennen, wie wichtig und aktuell solche Klärungen für die heutige Diskussionen sind.

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denn es ergibt sich das folgende Problem: Wenn zwischen den Sätzen des Analysandum und des Analysans Äquivalenz bzw. zwischen den Begriffen Synonymität besteht, dann wird die ganze Untersuchung zu einer philologischen Trivialität degradiert; ist aber keine Äquivalenz bzw. Synonymität vorhanden, dann spricht man nach der philosophischen Analyse von etwas anderem als vorher. Man benötigt also Kriterien, die eine solche Transformation und deren Reichweite als korrekt ausweisen. Aber die diesbezüglichen Ausführungen sind bei Moore alles andere als klar, sie sind mehrdeutig und wenig aufschlussreich. Analyse hat hier, wie auch in vielen anderen Fällen, offensichtlich nur wenig mit reinen Erläuterungen zu tun, sondern zielt letztlich auf Rechtfertigungen und auf die Wahrheit des Gesagten. Gemeint ist damit nicht der Rekurs auf letzte Prinzipien oder evidente Axiome, die für alle Menschen gelten und den Entwurf eines Gesamtsystems oder einer umfangreichen Theorie erfordern würden. Vielmehr geht es allein um den Diskurshintergrund, in dem die diskutierten Sätze und Begriffe auftreten. Die Analyse wird in der Praxis dort enden, wo die spezifischen Gemeinsamkeiten entdeckt worden sind, oder aber die Analyse wird wegen Unvereinbarkeit gewisser expliziter Annahmen der Gesprächspartner abgebrochen und auf spätere Zeiten verschoben. Es kann sich aber nur in den seltensten Fällen um banale Erläuterungen im Sinne analytischer Urteile handeln, die dann das Äquivalenzbzw. Synonymitäts-Problem aufwerfen. So haben wir es also hier mit einem umfassenderen Wesenszug des Analysebegriffs zu tun, nämlich mit dem in einer bestimmten Situation gerechtfertigten Sprechen, das im Mittelpunkt der analytischen Philosophie steht. Eine philosophische Analyse besteht also nicht in der Entwicklung analytischer Urteile im Sinne Kants, sondern sie betrifft eine Erkenntniserweiterung, die durch die gemeinsame kommunikative Gesprächs- und Handlungsbasis implizit und unbewusst vorgegeben ist und durch Umschreibung expliziert wurde. Hier ist die Frage berechtigt, wie sich Analysen der beschriebenen Art von phänomenologischen und anderen »kontinentalen« Vorgehensweisen unterscheiden, die in ihrem Rekurs auf die Lebenswelt

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letztlich die gleiche kontingente Basis beschwören.44 Denn auch der Versuch, das Methodische durch die Suche nach Klarheit vom konventionellen Philosophieren abzuheben, scheitert an der Mehrdeutigkeit des Begriffs der Klarheit. Man hat den Analytikern – Wittgenstein eingeschlossen!45 – mit Recht vorgeworfen, dass sie ihren Anspruch, Klarheit herzustellen, nicht einlösten. Hans-Johann Glock betont, dass zahlreiche Analytiker eine obskure Prosa schrieben, obwohl die Berufung auf Klarheit allgemein geradezu als Markenzeichen für die analytische Philosophie gilt: »Unfortunately, the speach of many contemporary analytic philosophers is as plain as a baroque church and as clear as mud.«46 Zwar sprechen die meisten Analytiker von der Beseitigung von Unklarheiten; aber diese können nach Glock die Wahrnehmung, den Intellekt, Fakten, Stile oder Begriffe betreffen.47 Die Einen analysieren, um die Wissenschaftlichkeit zu verbessern, andere, um vernachlässigte Aspekte zu betonen, und wieder andere, um grammatische bzw. begriffliche Klarheit zu schaffen.48 Dies alles unter einer gemeinsamen Methode zu subsumieren, scheint aussichtslos. Dieses Resultat wird durch die starken therapeutischen Tendenzen der Spätphase der analytischen Philosophie noch unterstrichen. Bereits im Umfeld Wittgensteins hatte sich eine therapeutische Sprachkritik entwickelt, die alle philosophischen Probleme als sprachliche Missverständnisse deutete und so auf eine Auflösung der gesamten Philosophie hinauslief.49 Wittgenstein wollte in dieser therapeutischen Interpretation keine neue philosophische Lehre, sondern lediglich diese 44 Siehe etwa Blumenbergs Rhetorik-Interpretation und die Funktion des »Prinzips des unzureichenden Grundes«, unten 10.3.

45 Man denke an Russells scharfe Kritik der Spätphilosophie Wittgensteins in seinem Aufsatz Philosophische Analysis aus dem Jahre 1958. Dort heißt es, diese »scheint sich nicht mit der Welt und deren Verhältnissen zu ihr zu beschäftigen, sondern nur noch mit den verschiedenen Arten und Weisen, in denen törichte Leute törichte Dinge sagen können.« Russell (1958) S. 3 f. 46 Glock (2001) ›Clarity‹ is not Enough! S. 83. 47 A.a.O. S. 85. 48 Über den Methodenbegriff speziell bei Wittgenstein siehe auch Schulte (2001): Wittgenstein’s ›Method‹. S. 399 ff. 49 Vergleiche z. B. »Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckungen irgend ei-

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Einsicht vermitteln. Philosophische Analyse bedeutet bei Wittgenstein den Prozess, der zur Beseitigung von sprachlichen Missverständnissen die übersichtliche Darstellung des Gedachten herbeiführt.50 Philosophen wie Richard Rorty, Stanley Cavell oder Peter Sloterdijk knüpfen an diesen Gedanken an. Besonders Rorty gilt als der Philosoph der Gegenwart, der den Wittgenstein’schen Therapiegedanken am radikalsten zur Geltung gebracht hat.51 So konzentrieren sich die Genannten unter Berücksichtigung des Sprachspielbegriffs auf die zugehörigen Lebensformen. Indem diese mit den Kulturphänomenen im Allgemeinen identifiziert werden,52 bedeutet analytisches Philosophieren eine immer wieder neue sprachliche und denkerische Selbstvergewisserung, die keiner philosophischen Lehren und Fachtermini bedarf und sich als unverbindlicher Diskurs vollzieht – die Reflexionen über konkrete Inhalte und Handlungsanweisungen werden den wissenschaftlichen Spezialisten überlassen und sind für Philosophen von geringem Interesse. Dieses analytische Philosophieren bemüht sich innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, die philosophischen Äußerungen in die grammatisch übersichtlichen Lebensformen verstehend einzuordnen, ohne den Anspruch zu erheben, durch Aufweis letzter Sicherheiten ein tieferes Wissen anzustreben. Bei Rorty finden wir den Versuch, Beziehungen zur kontinentalen Hermeneutik Gadamers herzustellen. Schon in seinem Hauptwerk zur Kritik der Philosophie – in Der Spie-

nes schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat.« (PU 119). 50 Siehe PU 124: »Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie lässt alles, wie es ist.« PU 126: »Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts.« PU 133: »Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.« 51 Glendinning bemerkt mit Recht bezüglich des Therapiegedankens: »Wenn Wittgenstein den Hintergrund für die Problematik bildet, dann wird der größte Teil des Vordergrunds heute von der Figur Rorty ausgefüllt.« (A.a.O. S. 71). 52 Zu den neueren Interpretationen siehe Wuchterl (2009a): Neue Tendenzen in der Wittgenstein-Interpretation. S. 16 f.

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gel der Natur 53 – übernimmt Rorty Quines Holismus sowie Wilfrid Sellars’ Kritik am »Mythos vom Gegebenen«54 und interpretiert damit Wittgensteins, Heideggers und John Deweys Konzeptionen als Vorbilder einer »antifundamentalistischen« Philosophie. In dieser geht es nicht mehr um die Klärung der Fundamente unseres Wissens und um letzte Gewissheiten im Sinne Descartes’ oder der modernen Epistemologie, beispielsweise der logischen Empiristen. Vielmehr wird der Standpunkt einer Gewissheit garantierenden Epistemologie, von der aus alle Erkenntnisse und Wissenschaften ihren Stellenwert erhielten, radikal in Frage gestellt. Epistemologie wird »naturalisiert« (Quine) und erhält den gleichen Sicherheitsstatus wie andere Wissenschaften und hypothetische Wirklichkeits-Konzepte. Diese neue kritische Sicht deutet Rorty als eine durch Kontingenz beherrschte Hermeneutik, die keine Sicherheiten und Notwendigkeiten kennt und in »nichtnormalen« Diskursen das »abendländische Gespräch« fortsetzt. Aus der historischen Tatsache, dass auf die traditionellen Fragen nach der Wahrheit und dem Wissen keine endgültigen Antworten gefunden werden konnten, schließt er – wohl weniger der Logik, als dem Zeitgeist folgend –, dass diese Fragen überhaupt verworfen werden müssen. So geht er von der Überzeugung aus, dass Wahrheitssuche samt Letztbegründung »nichts als Apologetik ist, der Versuch, bestimmte zeitgenössische Sprachspiele, Sozialpraktiken oder Selbstauffassungen zu verewigen«.55 Nach Glendinning »repräsentiert Rorty die gegenwärtige Philosophie als eine Kultur des Übergangs, als Wende von der Beschäftigung mit den Grundlagen der Wissenschaften hin zur Realisierung des fortwährenden Gesprächs der Menschheit«.56 Rortys Antifundamentalismus enthält zugleich eine Kritik des Repräsentationsgedankens, der seit Jahrhunderten die Philosophie beherrscht und auch nach dem linguistic turn durch seinen Bezug auf reale Sachverhalte in Wahrheits- und Bedeutungstheorien sowie 53 54 55 56

Rorty (1981). In Sellars (1997) A.a.O. S. 20. Glendinning (1999a): Wittgenstein’s Apocalyptic Librarian. S. 71.

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insbesondere im Referenzbegriff weitergelebt hat. Diese Kritik richtet sich sowohl gegen die naive Form der Repräsentation, wonach in ihr eine Abbildung von Eigenschaften und Strukturen realer Gegebenheiten vorläge, als auch gegen die durch Kant inspirierte Annahme, dass wegen der Unerkennbarkeit der Dinge an sich die Wirklichkeit durch symbolische Repräsentationsprozesse dargestellt würde. Unter Berufung auf Wittgenstein und Heidegger polemisiert Rorty gegen Erkenntnistheorien im Allgemeinen und gegen die Möglichkeit, vom Wesen der Dinge zu sprechen. In einem Pragmatismus des Gruppenkonsenses gehe es nicht mehr um die Einsicht in das Wahre, sondern um vertrautes und interessiertes Reden über assoziativ und zufällig Gedachtes und vor allem um die Überredung zur Übernahme der eigenen Position. In den auf sein erstes Hauptwerk folgenden Arbeiten rückt der Kontingenzbegriff allmählich explizit in den Vordergrund.57 Zufall und Geschichtlichkeit bestimmen nicht nur unsere Sprache und unser Verstehen, wie es die Hermeneutik lehrt, sondern auch unsere Gemeinschaft und das menschliche Bewusstsein, so dass jede teleologische Deutung der Geschichte des Denkens und der gesamten Kultur ad absurdum geführt wird. Kontingent ist vor allem auch unser Bezug zur Wirklichkeit. Wir können zwar mehr oder weniger nützliche Beschreibungen der Welt praktizieren, über die Welt an sich erfahren wir aber nach Rorty dabei nichts. In den neueren Arbeiten58nimmt er zwar den überaus kritischen Standpunkt bezüglich der Stellung der Philosophie etwas zurück; die Idee der Philosophie als Bemühung um die Wahrheit wird von ihm aber weiterhin demontiert. Da zwischen Sprache und Welt keine reale Beziehung erkennbar sei und damit jedes korrespondenzartige Verhältnis zwischen den Vokabularen und der Welt als kontingent betrachtet werden müsse, bliebe der Philosophie nur noch die Nützlichkeit unserer Überzeugungen als Thema.59 57 Siehe v. a. Rorty (1989). 58 Rorty (2000 a, b, c). 59 Da Nützlichkeit wiederum die Dienlichkeit für menschliche Zwecke meint, stellt sich den Philosophen weiter die Aufgabe, die in den Weltsichten angewandten Vokabulare übersichtlich anzuordnen und für Kohärenz zu sorgen. In Rortys »roman-

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Dies alles steht in stärkstem Kontrast zu den ursprünglichen Zielen einer endgültigen Klärung philosophischer Probleme durch eine eindeutig revolutionäre sprachbezogene neue Methode: Die Vergeblichkeit, rein formale Beziehungen einer »Idealsprache« im Bereich menschlicher Handlungen als notwendige Voraussetzungen ihres Gelingens nachzuweisen; die Einschränkung auf die Geltung von »Normalsprachen«, die geschichtlich in größter Vielfalt entstanden sind; das enttäuschte Vertrauen auf die Lösung philosophischer Probleme durch die Analyse des zufälligen Sprachgebrauchs und schließlich die therapeutische Selbstaufgabe der Philosophie durch deren Gleichsetzung mit der Erzählung unverbindlicher Geschichten – dies alles sind Symptome einer Auflösung von vermeinten Sicherheiten durch die Macht der Kontingenz. Bei genauerer Betrachtung lösten sich die angenommenen durchgängigen Notwendigkeiten auch hier in ein Nichts auf. Es lässt sich nicht einmal andeutungsweise ein Ersatz für den Konsens der naturwissenschaftlichen Forschergemeinschaft finden, der die Kritik an der Religion durch Berufung auf philosophische Reflexionen rechtfertigen könnte. So ereilte alle »großen Erzählungen« das gleiche Schicksal: Die Argumentationsstränge der autonomen Vernunft mit ihren Notwendigkeiten wurden immer kürzer, die Kontingenzen offensichtlicher und damit die vermeintlichen Sicherheiten prinzipieller Religionskritiken immer unglaubwürdiger. Die Bereiche der auf Vernunft gegründeter Argumentationen innerhalb der Philosophie sind demnach eng umgrenzt und von Kontingenzen aller Art umgeben; sie sind gleichsam wie Eisschollen auf dem Meer. Die Wege zwischen ihnen sind unterbrochen und können nur durch mehr oder weniger weite und gewagte Sprünge bewältigt werden; einen sicheren Weg gibt es nicht. Wer wie Descartes oder Husserl glaubt, auf diese Weise den ganzen Globus tischem Innovationsmodell« (Heinen (2004)) fällt der Philosophie also doch wieder eine wichtige Aufgabe zu: Sie hat Vokabulare und Terminologien so weiterzuentwickeln, dass die alten Ausdrücke, die zur Lösung eines Problems verwendet wurden, hinterfragt und mit Hilfe eines neuen Vokabulars als Instrumente zur Konstruktion von Scheinproblemen entlarvt werden.

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umrunden und überall hin gelangen zu können, übersieht die Mühen und Gefahren, die solche Unternehmungen begleiten; zudem ist es Eis, auf dessen Festigkeit man vertraut, das aber zu jeder Zeit und überall brechen kann. Glaubten die Phänomenologen noch an zusammenhängende Wege längs der Meridiane, so misstrauten die therapeutischen Analytiker schließlich einer überall tragenden Eisdecke und begnügten sich mit den in sich geschlossenen Wegen auf größeren wetterharten Schollen. Wer Religion nach dieser Einsicht in die Schwächen einer allgemeinen autonomen Vernunft weiterhin in deren Namen kritisiert, hat längst die Ebene verlassen, auf der überzeugend argumentiert werden kann. Denn alle Beweisführungen der Nichtexistenz von Wirklichkeiten jenseits der ontologischen Möglichkeiten müssen indirekt geführt werden. Indirekte Beweise setzen indessen ein klares kontradiktorisches Gegenüber voraus, das heuristisch angenommen und dann ad absurdum geführt wird. Weil aber damit die Transzendenz als ontologisch strukturiert angenommen werden muss, wird man den religiösen Vorstellungen der Transzendenz nicht mehr gerecht.60 Trotzdem darf die Macht der Schlagworte und der verbreiteten Denkmoden, philosophischer ausgedrückt, die Macht des »Zeitgeistes«, nicht unterschätzt werden. Denn obwohl in der Gegenwartsphilosophie radikale Zweifel an einer universellen Vernunft weit verbreitet sind, ist deren indirekte Wirkung innerhalb der Religionskritik faktisch ungebrochen. Selbst die Thesen der negativen Dialektik61 konnten in der Religionskritik die 60 Gelegentlich versucht man, diesem Dilemma durch den Vorwurf der Irrationalität der religiösen Vorstellungen zu entgehen. Der Irrationalitätsverdacht setzt jedoch Klarheit über den Begriff der Rationalität voraus. Ohne sich hier auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen – und damit eine kontingente Entscheidung zu treffen –, wird der diffuse Vorwurf der Irrationalität wertlos, zumal wir heute eine deutliche Aufwertung der Gefühle im philosophischen Diskurs feststellen. Siehe hierzu z. B. Döring (2005). 61 Es war ein weiter Weg von Adorno und Horkheimer zu Habermas, der neuerdings darauf hingewiesen hat, dass in der Religion etwas zu finden ist, das der Anerkennung der Diskursrationalität zu Hilfe kommen kann. Siehe die Diskussion in Reder/ Schmidt (2008). Auf S. 29 betont dort Habermas: »Die moderne Vernunft wird sich

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Selbstsicherheit der Aufklärungsideen nicht in Frage stellen, die Licht in das Dunkel vergangener Epochen bringen sollten. Erst die Einsicht, dass das Festhalten an einer autonomen Vernunft eine illegitime Extrapolation philosophischer Denkweisen auf das gesamte Sag- und Denkbare bedeutet, also die behauptete totale ontologische Kontingenzbewältigung nur eine scheinbare ist, macht Kontingenzanerkennungen und -begegnungen als gerechtfertigte Verhaltensweisen verständlich. Diese wiederum bezeugen die Möglichkeit von Religion ohne intellektuelle Opfer. Wenn Agnostiker zwar Kontingenzen anerkennen, gleichzeitig aber Menschen, die von der Möglichkeit von Kontingenzbegegnungen überzeugt sind, Unredlichkeit vorwerfen, dann lässt sich das nur durch das unkritische Festhalten an einer autonomen Vernunft rechtfertigen, die einer echten Kontingenzanerkennung widerspricht, weil sie ja das »ganz Andere« nur als ontologisch Strukturiertes im Auge hat. Aber nicht nur die Gedanken von Theologen, den Experten der Transzendenz, sondern auch von Philosophen wie Heidegger, Jaspers, Lévinas oder Derrida beziehen sich in ihren Reflexionen auf das »ganz Andere«, indem sie das Unsagbare in den Chiffren des Eigentlichen, der Lichtung, des Sich-Gebens, der philosophischen Transzendenz, des Nicht-Identischen oder der Differenz denkend zu umkreisen versuchen. Damit wird eine Grenze überschritten, und wir befinden uns im Bereich des Religiösen.

selbst nur verstehen lernen, wenn sie ihre Stellung zum zeitgenössischen, reflexiv gewordenen religiösen Bewusstsein klärt […].«

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Kontingenzerfahrungen werden im Allgemeinen im Falle eines persönlichen Betroffenseins vom Wunsch begleitet, deren Stachel zu beseitigen oder – falls diese einen erfreulichen Charakter haben – sich ihrer möglichst lange zu erfreuen, mit anderen Worten, sie selbst oder die Umstände ihrer Verhinderung zu bewältigen. Wer im Beruf oder in einer Beziehung scheitert, wer aus dem Trott des Alltags an das Krankenbett eines Freundes gerufen wird, wer die Diagnose einer eigenen schweren Erkrankung vernimmt, weiß, wovon hier die Rede ist. Aber es geht dabei nicht nur um die Bewältigung von Schicksalsschlägen, deren Häufigkeit und Brutalität einen Schopenhauer zum Pessimisten par excellence, einen Marquis de Sade zum modernen Urbild des Bösen oder einen Camus zum Propheten der Absurdität machten. Wir erleben auch positive Seiten, sei es in der geglückten Karriere, in der erfüllten Liebe, in der unverhofften Heilung, sei es im gelungenen Experiment oder im Genuss eines symphonischen Werkes. In all diesen Situationen verspüren wir die Großartigkeit oder bisweilen auch die Gunst des Unverfügbaren. Nach dem ersten Erschrecken oder glückvollen Erstaunen setzt die Suche nach Möglichkeiten der Vermeidung des Übels oder nach der Verlängerung der Gunst der Stunde ein. Es beginnt das Aufspüren der Ursachen und Gründe, um im einen Fall die Wiederholung zu vermeiden, im anderen Fall eben diese herbeizuführen. Wer sich hier zu sehr auf naturwissenschaftliche Erklärungen verlässt, stößt sehr schnell an Grenzen; wer die Vielfalt der vernünftigen Möglichkeiten im weiten Felde der ontologischen Kontingenzen bemüht, wird vom Gewicht der Relativierungen erdrückt und erfährt erst auf dem Umweg der philosophischen Reflexion – oder auf dem kürzeren Weg der praktischen Billigung – die Grenzen artikulierter Rede. Versuche, ontologische Kontingenzen bewältigend zu beseitigen, verweisen noch deutlicher auf Schranken, weil hier alle Legitimati-

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onsinstanzen bruchstückhaft bleiben. Sie führen schließlich nach der Distanzierung vom dogmatischen Charakter der Selbstorganisation und der Vernunftautonomie zur Notwendigkeit der Kontingenzanerkennung. Die bloße Anerkennung im Bannkreis der Skeptiker und Agnostiker hat ihre Tücken. Das schlichte Hinnehmen des Zugefallenen scheint naheliegend zu sein, wenn eigene Eingriffsmöglichkeiten fehlen. Der Hinweis auf diesen stoischen Akt ist für die Normalität und für Glücksfälle leicht ausgesprochen, hinterlässt aber einen spürbaren Stachel im Falle bedrängender Nöte. Jede Reflexion der Begründung der Möglichkeit, sich mit Kontingenzen im Leben zufrieden zu geben und sich ohne Ausblick auf das Andere der Vernunft orientierend einzurichten, bedarf jedoch wieder der persönlichen Überzeugung, das Richtige zu tun, auch wenn sich diese in einer pragmatischen oder rhetorischen Verhüllung präsentiert, also ihre bloße Berufung auf Vernunft zu verbergen sucht. Das bedeutet, die Bemühungen enden entweder in der Dogmatik der verborgenen autonomen Vernunft und nehmen damit die Anerkennung zurück, oder aber, sie beharren auf einem radikalen skeptisch-agnostischen Schweigen. Die Radikalität des Schweigens bedeutet aber nicht nur den Verzicht auf Artikulation, sondern auch die Auslieferung an eine Prinzipienlosigkeit des Handelns, das heißt, sie endet letztlich in der Erstarrung und damit in der Selbstaufgabe. Wir leben unter Handlungszwang im ständigen Vollzug von mehr oder weniger zielgerichteten Handlungsabläufen. Das prinzipielle Fehlen einer Handlungsordnung bedeutet im Allgemeinen Wahnsinn. Daher bleibt scheinbar als einzige Alternative zu dieser Selbstpreisgabe und zur Dogmatik der disparaten autonomen Vernunft nur noch die Kontingenzbegegnung, das heißt die Überzeugung, dass jenseits der Vernunft ein »Anderes« wirklich ist. Doch für Skeptiker ist diese Folgerung voreilig. Nach ihrer Überzeugung kann man religionsphilosophische Kontingenzen anerkennen und trotzdem den Schritt zur Kontingenzbegegnung ablehnen, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, auf die Absolutheit der Vernunft zu bauen; denn es reiche aus, sich auf Wahrscheinlichkeiten zu berufen.

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Das Wahrscheinlichkeitsargument ist uralt und weit verbreitet. In der traditionellen Form bezieht es sich auf die Existenz Gottes. Es geht um die Frage, ob die Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der Aussage »Gott existiert« größer ist als die Wahrscheinlichkeit der Nichtexistenz Gottes. Nun ist die Wahrscheinlichkeitslehre eine mathematisch formulierte Theorie, bei deren Anwendung man sich auf möglichst eindeutige Aussagen bezieht. Das heißt, die Problematik beginnt in unserem Beispiel bereits bei der Frage, ob hier der Proponent und der Opponent von der gleichen Bedeutung des Wortes »Gott« ausgehen. In der berühmten Swinburne-Mackie-Kontroverse1 am Ende des vorigen Jahrhunderts war diese Bedingung einigermaßen erfüllt. Richard Swinburne expliziert den Satz »Gott existiert« wie folgt: »Es existiert eine Person, körperlos (d. h. ein Geist), ewig, vollkommen frei, allmächtig, allwissend, vollkommen gut und Schöpfer aller Dinge« und bemerkt dazu: »Ich gebrauche das Wort ›Gott‹ als Name für die so beschriebene Person.«2 John Mackie bezieht sich in seiner Kritik auf genau diese Definition. Die damit eingenommene theologisch unreflektierte Position in Bezug auf den Gottesbegriff gibt sicher die Sicht vieler religiöser Menschen wider und wird vor allem auch von den meisten Religionskritikern, die das Wahrscheinlichkeitsargument ins Feld führen, den gläubigen Christen unterstellt.3 So kommt Swinburne nach einem riesigen technischen Aufwand zum Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes angesichts der Existenz des Universums nicht Null ist und nicht zu nahe bei Null liegt; Mackies nicht weniger aufwendigen Überlegungen kommen zum gegenteiligen Ergebnis, nämlich dass die besagte Wahrscheinlichkeit doch sehr nahe bei Null liegt. Ganz entscheidend wirken sich in der Wahrscheinlichkeitstheorie bekanntlich die jeweiligen Bewertungen der Ereignisse aus. 1 Ausgangspunkt waren die beiden Werke Swinburne (1987) Die Existenz Gottes und Mackie (1985) Das Wunder des Theismus. Eine umfangreiche Skizze der Kontroverse findet man in Wuchterl (1997) Exkurs in 4.51. 2 A.a.O. S. 16/17. 3 Eine Zurückweisung des theologisch völlig undifferenzierten Gottesbegriffs findet man in Alston (1994) S. 21 ff.

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Da beide Kontrahenten diesbezüglich sehr vage argumentieren und natürlich keine Zahlenwerte angeben können, bleibt alles offen. Das jeweilige Ergebnis solcher diffusen Bewertungen drückt nichts anderes aus als die Summe der positiven (Swinburne) beziehungsweise negativen (Mackie) Einzeleinschätzungen religiöser Phänomene im Laufe des Lebens.4 Kehren wir zur Reaktion des Skeptikers auf Kontingenzerfahrungen zurück. Die Ablehnung der Möglichkeit, Kontingenzbegegnungen zuzulassen, ist kein Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitsabwägung, sondern Folge bisheriger, oft fremdgeleiteter und daher unbewusster Einschätzungen religiöser Phänomene. Die Legitimation erfolgt durch den Bezug auf die Gesamtheit der Lebenserfahrungen, die zugleich die für dieses Individuum charakteristischen vernünftigen Entscheidungen bedingt, also letztlich durch die Autonomie der Person selbst. Es liegt keine neue Einsicht vor, und die Kontingenzanerkennung verliert durch die hinreichenden Gründe der Ablehnung religiöser Optionen ihr Objekt. Der Einwand des Skeptikers ist wirkungslos; es bleibt bei der einzigen Alternative zu Selbstpreisgabe und autonomer Vernunft, nämlich bei der Kontingenzbegegnung, das heißt bei der Überzeugung, dass jenseits der Vernunft ein »Anderes« wirklich ist. Als Bezeichnung jener Wirklichkeit ist der Terminus des Religiösen üblich. In diesem Bereich stehen jedoch alle Reflexionen, Aussagen und Handlungsanweisungen stets unter einem ontischen Vorbehalt, in dem das Bewusstsein des Sprechens vom Unsagbaren in Erinnerung gebracht wird. Das Prädikat »ontisch« drückt aus, dass vom Anderen zwar eine Wirkung ausgeht, diese aber weder ontologisch beschreibbar noch durch das Prinzip des zureichenden Grundes gestützt ist. Damit wird jede religionsphilosophische Kontingenzbewältigung ausgeschlossen. Eine solche liefe letztlich auf einen fundamentalistischen Standpunkt hinaus, in dem die Grenzen der Vernunft geleugnet 4 Ein bekanntes Beispiel zur Einbeziehung wahrscheinlichkeitstheoretischer Überlegungen in theologische Kontexte ist »Pascals Wette« (Pensées Nr. 233), wo die Abhängigkeit der Gewichtung von der existenziellen Situation des ganzen Menschen recht deutlich wird.

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werden und die andersartige Existenzweise des Begegneten nicht nur ontologisiert, sondern auch banalisiert wird. Eine religionsphilosophische Kontingenzbewältigung durch die Anerkennung des Absurden und Paradoxen, wie sie aus der obigen Selbstpreisgabe abgeleitet werden könnte, läuft wiederum der Intuition der Bewältigung zuwider und verweist eher auf Möglichkeiten, den ontischen Vorbehalt metaphorisch zu umschreiben. Das jenseits der Vernunft sich öffnende Feld der Kontingenzbegegnungen bestimmt die Dimension des Religiösen. Natürlich wird hier sofort die Frage auftauchen, ob dieser religionsphilosophisch eingeführte Begriff des Religiösen sich einigermaßen mit dem üblichen Sprachgebrauch deckt, der das Religiöse aus dem Begriff der Religion herleitet und in der Theologie thematisiert wird. Paradoxerweise sind sich über den Gebrauch des Religionsbegriffs zahlenmäßig die meisten lebenden Menschen einig, obwohl über den expliziten Begriffsinhalt kaum größere Meinungsverschiedenheiten denkbar sind. Immerhin zählt man Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus zu den vier Weltreligionen und viele werden mit gewissen Einschränkungen auch den heutigen Buddhismus hinzurechnen. Genau dieser Umstand verleitet viele Religionskritiker dazu, aus diesen historisch gewachsenen und institutionell auffälligen Formen von Religion die gemeinsamen Hauptmerkmale abzulesen und daraus das Wesen der Religion abzuleiten. In der abrahamitischen Tradition konzentriert sich der Glaube auf einen personalen Gott als Schöpfer und Erhalter des Universums, in dem sich der Mensch moralisch bewähren muss, sowie auf die Gewissheit vom Weiterleben der Menschen über die diesseitige Existenz hinaus.5 Schon die propositionale Charakterisierung des Glaubens, aber auch der oft zur Routine erstarrte Ritus etablierter Religionen bergen Gefahren der Unterbewertung der praktischen Lebenserfahrung der Individuen mit ihren existenziellen Bezügen, weil nicht die Überzeugung 5 So beschränkt sich beispielsweise Hoerster in seiner religionsphilosophischen Textsammlung (1979) auf eben diese drei theistischen Buchreligionen und legt sich auf die erwähnten »relevanten Merkmale« zur Charakterisierung von Religion fest (S. 12), um diese dann einer scharfen Religionskritik zu unterziehen.

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von der Wahrheit der genannten Aussagen oder die äußerliche Einhaltung von Geboten ausreichen, sondern allein die positive Prägekraft der Überzeugungen für die Lebensgestaltung zählt. Entscheidend sind vor allem die grenzüberschreitenden Akte des Vertrauens und Hoffens, die allein verantwortliches Handeln ermöglichen. Vertrauen ist nicht nur als frühkindliches Urvertrauen (Erik Erikson) von größter Bedeutung, sondern prägt – wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen – die gesamte weitere Persönlichkeitsentwicklung. Konkret wird seine Wirkung in der existenziellen Betroffenheit, die uns trotz aller harten objektiven Tatsachen ein Leben lang begleitet. Dazusein ist für den Menschen von ureigenstem Interesse. Bei Augustinus wird dieses Interesse sogar als Liebe zum Sein verstanden, wenn es heißt: »Wir sind, und wir wissen dass wir sind, und wir lieben das Sein und Wissen.«6 Hoffnung entsteht stets aus solchen positiven Motivationen. Zwar können missbräuchliche Interpretationen des großen Unbekannten die Menschen in Angst und Schrecken versetzen, wie zahllose Beispiele aus der Religionsgeschichte bezeugen. Letztlich sind keine Institutionen gegen Missbrauch immun, auch die religiösen nicht. Aber Szenarien eines rächenden und eifersüchtigen Gottes – hervorragende Mittel zur Stabilisierung herrschaftlicher Machtansprüche – entstehen im Bannkreis fundamentalistischen Denkens, das den ontischen Vorbehalt nicht kennt. Deshalb sind Philosophien der Hoffnung von solch großer Bedeutung, weil in ihnen die Positivität des Hoffens reflexiv umkreist wird und so eine Annäherung an das Zentrum des menschlichen Lebens erfolgt. In der Phänomenologie der Hoffnung Gabriel Marcels ist zu lesen: »Das ›ich hoffe‹ ist im eigentlichen Sinne des Wortes auf ein Heil gerichtet. Es geht für mich in Wahrheit darum, dass ich aus der Dunkelheit herauskomme, die mich tatsächlich verschlungen hat, möge es nun die Dunkelheit der Krankheit, der Trennung, des Exils oder der Knechtschaft sein.«7 Marcels von existenzphilosophischen Prämissen geprägtes Denkens erkennt an vielen Stellen den engen Zusammenhang von Hoffnung und Gemeinschaft, ja von Hoffnung 6 Augustinus (1887) II; 11. 7 Marcel (1957) S. 31

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und Liebe,8 dem wir in unseren weiteren Überlegungen ebenfalls wiederholt begegnen werden. Erst solche Zusammenhänge verdeutlichen die positiven Möglichkeiten der in der Kontingenzbegegnung wirksamen Hoffnungsakte. Letztere bleiben weiterhin durch den ontischen Vorbehalt eingeschränkt, umfassen aber die Verpflichtungen zur Menschlichkeit und Toleranz. Genau in diesen Akten erhält eine Existenz religiöse Qualität, ob nun in einer großen Gemeinschaft oder im kleinen Kreis. Das Verhalten nach Geboten in etablierten Religionen ist demnach nicht a priori religiös, sondern nur, wenn es die Qualität der Kontingenzbegegnung unter ontischem Vorbehalt aufweist, der nicht nur darauf hinweist, dass hier von einem »ganz Anderen« allein metaphorisch gesprochen wird, sondern dass die Metaphorik zugleich Elemente des direkten Sprechens von Toleranz und Menschlichkeit enthält. Mit diesen Hinweisen wird zugleich deutlich, was Religion nicht ist. Völlig verfehlt ist ihre Charaktersierung als Korrelat individueller Gefühlszustände und sonst nichts, wie sie in der gegenwärtigen naturalistischen Religionskritik häufig verbreitet wird. Dort erscheint Religion fast immer als ein Konglomerat von Gefühlen, die bestimmte Erfahrungen am Rande der Normalität betreffen. Dazu gehören die gefühlsmäßige Auflösung der Ich-Welt-Grenze und der Raum-ZeitOrdnung, das Gefühl der extremen Verbundenheit mit dem Universum und mit der ganzen Menschheit; die recht seltenen, aber immer wieder ähnlichen Nahtoderfahrungen sowie übersteigerte Abhängigkeits- und Schuldgefühle, in denen sich der Mensch als sündhaftes Wesen versteht und dabei seine Mündigkeit untergräbt. Bei allen diesen Gefühlen können Forscher in gewissen Hirnarealen gleichzeitig messbare Aktivitäten beobachten. Diese faktische Korrespondenz von Gefühl und neuronalem Prozess wird dann in dem Sinne interpretiert, dass die materiellen Vorgänge im Gehirn die eigentliche Wirklichkeit repräsentierten und die korrespondierenden inneren spirituellen Zustände als Epiphänomene aufgefasst werden müssten. Das heißt nä8 A.a.O. S. 65 bzw. 66.

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her, dass die im Inneren erfolgende kognitive Weiterverarbeitung der Gefühlselemente wissenschaftlich irrelevant ist, weil sie nur scheinbare Realitäten vorspiegelt. Größere Komplexe solcher illusionären Interpretationsprodukte bezeichnet man schließlich als Religion, die zugehörigen Gefühle als religiös. Damit wird aus der Perspektive der Hirnforschung die Religion »wissenschaftlich« durchschaut. Da zudem die entsprechenden Hirnprozesse auch experimentell erzeugt werden können und evolutionstheoretische Annahmen die Entstehung solcher abnorm erscheinenden Gefühle erklären, schließt man daraus, dass die Religion letztlich vom Gehirn erzeugt wird und jeder Bezug zu einer naturalistisch nicht nachweisbaren Wirklichkeit ausgeschlossen ist.9 Nach der ausführlichen Auseinandersetzung mit reduktionistischen naturalistischen Thesen in den vorausgegangenen Überlegungen, in denen der uns wichtige Bezug zum Kontingenzen reflektierenden Individuum verteidigt wird, können wir im Folgenden diese Interpretation der Religion als Produkt des Gehirns außer Acht lassen. Es bleibt aber weiterhin die Frage, wie sich Religion vom Allgemein-Religiösen der Kontingenzbegegnung abgrenzt und inhaltlich charakterisiert werden kann.

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In der Religionsphilosophie und Religionswissenschaft gibt es solche Definitionsversuche zuhauf.10 Bis in das 20. Jahrhundert hinein bildete in den philosophischen Universalentwürfen die Religion als 9 Zahlreiche Beispiele findet man hierzu in populärwissenschaftlichen Zeitschriften. Hier sind besonders die Artikel in bild der wissemschaft 7/2005, 2/2007 und 1/2010 zu erwähnen. Siehe dazu auch in Vaas (2009) die Seiten 13/14, 23/24, 62, 112/113 und den letzten Abschnitt zur Neurotheologie. 10 Ausführliche Diskussion in Wagner (1986). Einen kurzen neueren Überblick der wichtigsten Versuche, den Religionsbegriff zu erfassen, findet man in Pollack (2000) S. 55–101. Wir zählen Religionsphänomenologie und Religionssoziologie zur Religionswissenschaft, da beide im Gegensatz zur Religionsphilosophie eine objektivierende und das Individuelle relativierende Grundeinstellung voraussetzen.

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höchstes Kulturphänomen den krönenden Abschluss der Systeme. Für viele bedeutete der Gedanke, die Religion in ein philosophisches Kultursystem aufgehen zu lassen, keine Reduktion oder Abwertung, sondern Aufwertung und höchste Auszeichnung. In atheistischen Konzeptionen, wie beispielsweise im kritischen Rationalismus Nicolai Hartmanns, wurden religiöse Erscheinungen auf ethische Prinzipien reduziert und bewahrten so weiterhin eine gewisse Sonderstellung. Parallel dazu verlagerten sich die Versuche, das Wesen der Religion zu definieren, schließlich auf die Phänomenologie, in der – besonders eindringlich bei Rudolf Otto und Max Scheler11 – deren Eigenständigkeit herausgearbeitet wurde. An die Stelle einer abstrakten Analyse der Gottesvorstellung, die vor allem in der Religionsphilosophie und in der Theologie jahrhundertelang im Vordergrund stand, trat bei Otto die Beschreibung der Art der Begegnung des Verehrungsgegenstandes, die in einer Phänomenologie des Heiligen kulminierte. Dabei ging es nicht nur um biologisch beschreibbare Gefühle, sondern um die allgemeine Anerkennung des Begegnungsprozesses im Sinne der Identifikation des Begegneten als eines nicht-profanen Anderen (Friedrich Schleiermacher). Die meisten Versuche, Religion durch eine Definition zu erfassen, zeichneten sich dem gegenüber durch ihren offenen Bewältigungscharakter aus. Nicht nur in der Systemphilosophie, die Religion souverän in ihr spekulatives Schema zwängte, auch in der Kulturphilosophie, für die Religion trotz ihrer Auszeichnung nur ein kulturelles Phänomen unter anderen war, oder in der Religionskritik, in der Reduktionen auf Ethik oder auf projektive Selbstvergötterung erfolgten, feierte die alles vermögende Vernunft ihre Triumphe. Viel seltener dagegen waren Ansätze, die in der Verteidigung der Eigenständigkeit der Religion die prinzipielle Andersartigkeit ihrer Quellen erahnten. Erwähnenswert ist beispielsweise der Versuch Hermann Cohens, die Religion nicht als letztes und qualitativ gleiches Glied des philosophischen Systems zu deuten, sondern das in der Philosophie allgemein diskutierte transzendentale Grundproblem als Frage nach 11 Siehe Otto (1917) und Scheler (1921).

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der Religion im Gesamtsystem zu verstehen, wobei die entontologisierten Bedingungen bei Cohen eindeutig auf spezifisch jüdische Ursprünge verweisen.12 Im Gegensatz dazu wird Religion vor dem Hintergrund funktionalistischer Grundpositionen häufig offen als Bewältigungsakt beschrieben. In evolutionstheoretischen Varianten des Funktionalismus werden die geläufigen Merkmale von Religion13 als für das Überleben vorteilhafte natürliche Eigenschaften interpretiert. Die Funktion der Bewältigung erledigt die sich selbst organisierende Natur. Zwiespältiger sind die soziologischen Beiträge.14 Der Systemtheoretiker Luhmann reduziert Religion auf deren ausschließlichen Beitrag zum Zusammenhalt eines Systems; zugleich repräsentiert diese für ihn eine spezifische – nämlich nie zu ihrem Ende kommende – Form der zahlreichen Stabilisierungsmöglichkeiten, die für einen sozialen Zusammenhang sorgen. Dagegen spricht der Religionssoziologe Thomas Luckmann von einer das eigentliche Menschsein bestimmenden umweltstabilisierenden Funktion der Religion. Seine funktionale Deutung verneint ausdrücklich »die Möglichkeit und Nützlichkeit, religiöse Konstanten inhaltlich zu bestimmen, zum Beispiel als ›Glauben‹ an Übernatürliches. Vielmehr fasst sie Glauben als besondere historische Ausprägung einer konstanten religiösen ›Funktion‹, der Menschwerdung. Die religiöse ›Konstante‹ im Menschen ist Sozialisierung in ein das Einzeldasein transzendierendes, meist historisch vorkonstituiertes Sinngefüge. Dies verleiht dem verhältnismäßig instinktarmen Einzelmenschen Lebensfähigkeit.«15 Durch den Bezug auf ein bereits vorhandenes Sinngefüge meint Funktionalität hier nicht mehr reine Bewältigung qua Leistung, sondern verweist auf etwas sich in der Menschwerdung Vollziehendes. Aber solche Sinngefüge müssen noch genauer charakterisiert wer12 Cohen (1915) S. 18. Heute gilt Cohen als Klassiker der jüdischen Religionsphilosophie und aufgrund seines Einflusses auf seinen Schüler Rosenzweig als Begründer der dialogischen Philosophie. 13 In Vaas (2009) S. 22 werden sieben »wesentliche« Merkmale aufgezählt: Transzendenz – Ultimative Bezogenheit – Mystik – Mythos – Moral – Ritus – Gemeinschaft. 14 Siehe dazu auch oben 4.3. 15 Luckmann (1971) S. 75

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den. Denn sie werden nicht zuletzt auch von Ideologien bereitgestellt, die mit der von Luckmann gemeinten, Humanität einbeziehenden Menschwerdung nicht vereinbar sind. Offensichtlich fehlt noch etwas, um solche Missverständnisse auszuschließen. Auch Lübbe versucht immer wieder, den falschen Eindruck seiner leistungsverdächtigen Terminologie zu korrigieren. Oft genug bezeichnet er Religion als eine »Kultur der Anerkennung unverfügbarer Daseinskontingenz«, das heißt als eine Kultur der Kontingenzanerkennung.16 Die auf Schleiermacher Bezug nehmende Formulierung »Kontingenzbewältigung durch Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten«17 führt dann auf die Definition von der Religion als Kontingenzbewältigungspraxis und erhöht mit ihrer Griffigkeit auch die Möglichkeiten einer Fehlinterpretation. Um die Intention Lübbes zu verstehen, muss hier stets die religionsphilosophische Kontingenz im Auge behalten werden, weil diese in der Voraussetzung der Absolutheit bereits die Unverfügbarkeit einbezieht und daher die Bewältigung durch Anerkennung keine Möglichkeit von menschlichen Leistungen offenlässt. Dieser Bereich des Unverfügbaren erscheint in der Anerkennung nur als tabula rasa. Aber wozu dann Lübbes gewichtige Feststellung: »In der Tat: die funktionalistische Religionstheorie enthält kein Bekenntnis«, 18 die er angesichts konkurrierender Wahrheitsansprüche formuliert? Doch diese Aussage erhält nur dann einen Sinn, wenn er mit »Anerkennung« eigentlich »Begegnung« in unserem Sinne meint: in ihr allein können wegen des geforderten ontischen Vorbehalts Differenzierungen vorgenommen werden, die den gewünschten Effekt haben, nämlich »eine Theorie zu sein, durch die man die spezielle [sic!] Wahrheit des eigenen Bekenntnisses nicht gestützt findet«.19 Damit zeigt sich das ganz Andere als ein Ort möglicher Wahrheit, der existenziell personale Sicherheit und potenziell universelle Toleranz zulässt.

16 17 18 19

Lübbe A.a.O. A.a.O. A.a.O.

(1986) S. 16. S. 174, 179. S. 250. S. 251.

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Unsere These, die Religion als eine Kultur der Kontingenzbegegnung zu verstehen, bedeutet genau dies, nämlich das Andere als einen solchen Ort möglicher Wahrheit zu deuten. Da es eine Wahrheit sein soll, die nicht der Mensch geschaffen hat, sei es als Adäquation in der Anschauung, sei es als Konsens im Kommunikativen, bleibt nur die Möglichkeit einer Aktion jenes Anderen, das Heidegger metaphorisch als »Geschick des Seins, das sich uns zuschickt«20 und religiöse Menschen als »Offenbarung Gottes« bezeichnen. Weitere Bestimmungen, wie Hinweise auf das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit (Schleiermacher) oder auf eine uns bedingende bewusstseinstranszendente Wirklichkeit (Ernst Troeltsch21), müssen selbst wieder dem ontischen Vorbehalt unterstellt werden, um nicht als Bewältigungsvorgang missverstanden zu werden. Fassen wir kurz die bisherigen Überlegungen zur Charakterisierung des Religiösen im Allgemeinen und der Religion im Besonderen zusammen: – Pure Kontingenzanerkennung hebt sich auf, weil sie auf latente Vernunftgründe baut und damit im Namen der Vernunft die Anerkennung zurücknimmt, oder weil sie – ohne Abstützung durch Vernunft – Lebensunfähigkeit bewirkt. – Kontingenzbegegnung bedeutet die Anerkennung des sich selbst enthüllenden Anderen der Vernunft. Die unter dem ontischen Vorbehalt artikulierten Inhalte dieser Selbstgabe des Anderen sind Manifestationen des Religiösen. – Religiöses enthält Momente der Unverfügbarkeit, die aber von sprachlichen Akten (Metaphern, Gleichnissen, Parabeln u. ä.) und zudem häufig von bestimmten konkreten Handlungsvollzügen (Gesten, Riten, Kommunikation) der Menschen begleitet sind, um vermittelbar und für andere nachvollziehbar zu werden. Wichtige 20 Heidegger (1957) S. 158. 21 Quellen bei Barth (2005) S. 361. Dort heißt es »Religion ist für den frühen Troeltsch das Sich-Beziehen des menschlichen Geistes auf eine bewusstseinstranszendente Wirklichkeit, als durch deren Macht sich jener (der menschliche Geist) bedingt weiß«.

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Realisierungen erfolgen in historischen Religionen und speziellen Vernunftkonzepten. – Alle Versuche, Religiöses zu bewältigen, missachten den ontischen Vorbehalt und betreffen von Menschen erfundene pseudoreligiöse Phänomene. Diese beziehen sich auf isolierte Bedürfnisse von Individuen. – Religion ist eine Manifestationsform des Religiösen, allerdings die wichtigste, weil mit ihr die meisten Menschen konfrontiert werden und von ihr die stärksten Wirkungen ausgehen. Die bisherige Beschreibung der Religion als Ort möglicher Wahrheit, der existenziell personale Sicherheit und potenziell universelle Toleranz zulässt, ist erläuterungsbedürftig und vor allem nicht ausreichend. Religionen sind genauer historische Kristallisationspunkte innerhalb mehr oder weniger bewährter, bereits vorhandener Sinngefüge größerer Gemeinschaften. Sie entstehen nicht aus dem Nichts, sondern ihre Begründer bewirken radikale Umdeutungen und innovative Erweiterungen von Vorstellungen, Denkweisen, Normen und Handlungsweisen innerhalb einer vorstrukturierten Gemeinschaft. Durch die Intensivierung des existenziellen Interesses und der personalen Beziehungen entstehen Gemeinschaftsformen, feste Rituale und effektive Institutionalisierungen. Dies geschieht vor allem durch Identifizierungsakte mit Vorbildern, die bestimmte Verhaltensweisen zu jenem Anderen vorleben und intellektuell verteidigen. Der historische Ursprung der neuen Lebensformen ermöglicht die Vermittlung individueller Verkündigungen und damit die Entstehung einer Gefolgschaft, in der durch neue gemeinsame Praktiken und Normen, durch geregelte Riten, kontinuierliche Weitergabe der Überzeugungen und eventuell auch durch gemeinsames Erdulden von Verfolgungen sich allmählich die Identifikation als Religionsgemeinschaft vollzieht. In der jüdischchristlichen Tradition wird die historische Einbettung durch den Leidensweg des Volkes Israel und durch das wiederholte Auftreten von Propheten offenkundig. Erleuchtete isolierte Einzelgänger, die durchaus relevante Kontingenzbegegnungen erfahren, also auch als religi-

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öse Menschen bezeichnet werden können, die aber keine Möglichkeit haben, vor anderen von ihrer Erfahrung Zeugnis zu geben, werden schnell vergessen. Ihre sprachlichen Artikulationen und lebenspraktischen Regeln, die sogar rituellen Charakter haben können, stellen zwar eine Art atomisiertes Vorstadium von Religion dar, verdienen aber wegen des Fehlens einer Bekenntnisgemeinschaft nicht den Namen »Religion«. Religionen sind demnach Gemeinschaften, in denen eine »geoffenbarte Wahrheit« Anlass und Anleitung zu gemeinsamen Handlungs- und Orientierungsweisen wird. Geschichten und Parabeln, Bilder und Symbole, Metaphern und Analogien, Riten, Gesten und Körperhaltungen, Ordnungshierarchien und Abgrenzungen sorgen zunächst für Stabilität, die später aber auch zur Routine erstarren und schließlich zum Untergang führen kann. Religion realisiert sich stets in der Gemeinschaft. Diese Einbettung in ein gemeinsames Sinngefüge bedingt eine Verantwortung des Einzelnen gegenüber den anderen Mitgliedern. Deshalb bietet sich die Liebe zum Nächsten als Grundmetapher für die durch die Begegnung des ganz Anderen mitgedachte Zuwendung an. In jeder Artikulation des ontischen Vorbehalts wird sie als Humanität und Toleranz offenbar und avanciert zum Leitfaden des Handelns. Der Kardinalpunkt, der die jeweilige Identität der Religion ermöglicht und sich immer wieder bewähren muss, ist eben dieser in der Gemeinschaft wirkende ontische Vorbehalt. Der Umgang mit diesem bestimmt über die Nähe zur Wahrheit oder über den Rückfall in Magie, Zauberei und Selbstverfügung. Die Definition des Vorbehalts als Erinnerung an das Sprechen vom Unsagbaren zeigt, dass der Vorbehalt umso schwieriger akzeptiert werden kann, je größer die Domäne des Sagbaren ist. Das erklärt auch, dass in frühgeschichtlichen Religionen der Vorbehalt kaum eine Rolle gespielt haben kann, weil der Bereich der Notwendigkeiten noch sehr klein war. Das wiederum hängt mit der damaligen Ordnungsfunktion des Mythos zusammen. So hat Kurt Hübner überzeugend gezeigt, dass der Mythos als Denk- und Erfahrungssystem vergangener Epochen betrachtet werden muss, die Mythologie also damals die Rolle der Ontologie übernommen hat, weil es

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seinerzeit noch keine expliziten Wissenschaften gab, die den Bereich der Kontingenzen hätten einschränken können.22 Der Donner war eben nur das Grollen der Gottheit; das Wachsen des Getreides nur die Gabe der Muttererde; der Tod der Ahnen nur eine Ortsveränderung – was sonst? Wir Spätgeborenen können vieles davon durch Wissenschaft und Vernunft einordnen; beim Tod der Ahnen sieht es anders aus. Hier differieren die Antworten eklatant und jede Glaubensaussage hierzu steht unter dem ontischen Vorbehalt. Wie sich dieser im Einzelnen artikuliert, wird unten (in 11.1) noch zu klären sein. Die bisherigen Ausführungen zur konstitutiven Rolle der Gemeinschaft für die Religion scheinen in einem offenen Widerspruch zu deren Randstellung in der gegenwärtigen säkularen Gesellschaft zu stehen. In der Tat hat die notwendige Einbindung der Religion in die Lebenswelt vor dem Hintergrund einer Verstärkung säkularer Tendenzen zu immer größeren gesellschaftlichen Spannungen geführt, die vor allem seit der Aufklärung das Thema Glauben und Wissen in zunehmendem Maße belastet haben. Die Autonomie der Vernunft verurteilte die Religion zur Privatsache außerhalb des gesellschaftlichen Geschehens. Das Denken eines Anderen der Vernunft war einer fortschrittsgläubigen Zeit vollkommen fremd. Aber die schon in der Dialektik der Aufklärung zu beobachtenden Verunsicherungen des optimistischen Selbstbewusstseins des modernen Menschen haben sich inzwischen weiter verstärkt. Skeptiker und Agnostiker jenseits von Naturalismus und Religion zeigen sich heute gegenüber Möglichkeiten, das Andere zu denken, etwas sensibler als in früheren Zeiten. So hat Habermas, der Seismograph für kleinste gesellschaftliche Veränderungen, bereits im »postmetaphysischen oder postsäkularen« Denken eine Vokabel für 22 Hübner (1985) und (1979), S. 405: »Die Götter sind das Apriori des mythischen Griechen, sie ermöglichen mythische Erfahrung. Und insofern sind sie für ihn so objektiv, wie es in den Wissenschaften allgemein Kausalgesetze und […] durch diese Gesetze bestimmte Qualitäten sind«. S. 404: »Der Grieche sieht die Welt im Lichte seiner Götter und indem er […] ihre Namen, Ehren, Fertigkeiten und Gestalten kennt, artikuliert und ordnet sich ihm überhaupt erst die Welt.« Siehe ferner den Exkurs »K. Hübners ›Kritik der wissenschaftlichen Vernunft‹ und das Problem der Kontingenz«, in: Wuchterl (1982) S. 175–181.

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die neue gesellschaftliche Stimmung gefunden. Mit dieser bezeichnet er die Einsicht des aufgeklärten Menschen, auch nach der Aufklärung mit der Religion und mit ihrem Einfluss auf Gesellschaft und Politik rechnen zu müssen. Postsäkulare Interpreten ahnen zudem, dass die autonome menschliche Freiheit von einem gebrochenen Vermögen begleitet wird, nämlich von »einem Bewusstsein von dem, was fehlt«, oder noch drastischer: von einem Bewusstsein »von dem, was zum Himmel schreit«. Die erste Formulierung (aus dem Jahre 1964) zirkulierte aufgrund eines Diktums Ernst-Wolfgang Böckenfördes in weiten Kreisen, die zweite findet sich in dem von Habermas verfassten aufschlussreichen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 10.2.2007.23 Die seit Jahren geführte Diskussion um das Böckenförde-Zitat führt direkt in das Zentrum unserer Frage nach dem praktischen Verhältnis von Religion und Gesellschaft, genauer nach den normativen Voraussetzungen des modernen säkularisierten Staates. In einer späteren Formulierung hat die These Böckenfördes den folgenden Wortlaut: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«24 In den Auseinandersetzungen konkurrieren verschiedene Interpretationen. Böckenförde selbst hat sich mehrmals gegen eine religiöse Deutung ausgesprochen, wonach das Fehlende auf ein religiöses Ethos Bezug nehmen müsse, weil Moral nur religiös begründet werden könne.25 Die verfassungsbezogene Grundprämisse, von der Böckenförde ausgeht, betrifft allein die Forderung nach Gesetzestreue und die Garantie weltanschaulicher Neutralität. »Als Staat hat und vertritt er keine Religion mehr, ist nicht länger 23 Abgedruckt in Reder/Schmidt (2008) S. 31. Dort befindet sich auch die »Replik« auf die Beiträge, die anlässlich der Podiumsdiskussion an der Hochschule für Philosophie in München (Februar 2007) entstanden sind und eben »das Bewusstsein von dem, was fehlt« zum Gegenstand hatten. 24 Böckenförde (1976) S. 60. Präziser bei Habermas (2005): »Der demokratische Staat zehrt von einer rechtlich nicht erzwingbaren Solidarität von Staatsbürgern, die sich gegenseitig als freie und gleiche Mitglieder ihres politischen Gemeinwesens achten.« (S. 9). 25 Die Beziehung von Ethik und Religion wird im letzten Abschnitt von 12.2 nochmals diskutiert.

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christlicher, jüdischer oder muslimischer Staat.«26 Wenn nun Böckenförde von etwas spricht, das fehlt, dann meint er damit offensichtlich nicht die Legitimation durch Gott, Vernunft oder einer anderen Instanz, sondern die universale Anerkennung solcher allgemeinen ethischen Qualitäten wie Solidarität und Gerechtigkeit, die beide im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert sind. Diese Zustimmung könnten allein die vom Gewissenszwang befreiten mündigen Bürger geben; vom Staat sei sie nicht durchsetzbar. Böckenförde bestätigt diese Deutung im Artikel Die Reinigung des Glaubens von 2010. Dort wird explizit von einer sittlichen Idee gesprochen, »die sich im säkularisierten Staat und der übergreifenden offenen Neutralität der staatlichen Ordnung realisiert«.27 Damit distanziert er sich eindeutig vom Rechtspositivismus, der das existierende Verfassungsrecht als historische Gegebenheit einfach hinnimmt und sich kein Urteil über Universalität und Unabänderlichkeit der Gesetze anmaßt. Böckenförde bekennt sich dagegen offen zur Vernunft der Aufklärung, deren Erkenntnisse zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und zur Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 mit jenen ethischen Implikationen führten. Problematisch wird diese Interpretation, sobald sie als Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft ins Feld geführt wird. Wenn Böckenförde glaubt, es sei »eine säkulare, weltliche Vernunft, nicht theologisch inspiriert von einem Offenbarungsglauben, sondern von ihm sich ablösend«28, gewesen, die jene Gesetzeswerke schufen, so ignoriert er das gewaltige ethische Potenzial der aus religiösen Motiven ausgewanderten Väter der damaligen Akteure; ebenso vergisst er die vielen Beispiele religiöser Vorkämpfer für Solidarität und Gerechtigkeit, die als Ketzer zu Grunde gingen. Der Gedanke, dass sich Sittlichkeit jener Vernunft der Aufklärung verdankt und Glaubensinhalte sich im historischen Prozess letztendlich diesen vernünftigen 26 Böckenförde (2010) Absatz 1. 27 A.a.O. Absatz 6 und 9. Die erwähnte offene Neutralität stellt er einer distanzierenden gegenüber, die im laizistischen Staat praktiziert wird und jeden religiös-weltanschaulichen Einfluss auf deren Handlungen und Entscheidungen zurückweist. 28 A.a.O. Absatz 12.

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Forderungen anpassen würden, wurde schon oft geträumt. Böckenförde bekennt sich hier voll und ganz und ohne jede Einschränkung zur Allmacht der aufgeklärten Vernunft. Sieht man vom Legitimationsgedanken ab, der den Rechtswissenschaftler nicht zu beunruhigen braucht, so lässt sich hier im Sinne einer sehr weit gefassten praktischen Vernunft von einer pragmatischen Maxime sprechen. Und so steht einer Unterstützung der Aufforderung, sich dessen bewusst zu sein, was als fehlende Solidarität und als Ungerechtigkeit »zum Himmel schreit« und Konsequenzen einfordert, nichts im Wege. Aber die in dieser List der Vernunft versteckte Idee der Gerechtigkeit wirkt nur als absolute Metapher und erhält ihr Gewicht nur aus dem Bezug zum Bewusstsein des Anderen der Vernunft. Da Böckenförde als Staatsrechtler spricht, kann er sich auf die ethische Idee beziehen; religionsphilosophisch bleibt dagegen vieles offen. Es ist vor allem Habermas, der das über die Praxis hinaus reichende religionsphilosophische Verhältnis von Glaube und Vernunft im Kontext jenes ähnlichen Zitats intensiver reflektiert. Für ihn ist Vernunft hier explizit auf praktische Vernunft und Glaube vor allem auf Weltreligionen aus dem Ursprung der »Achsenzeit« bezogen. Das, was fehlt, wird nicht nur als rechtsphilosophisches, sondern als allgemein philosophisches Defizit anvisiert. Habermas holt zur Erklärung weit aus.29 Es geht um Schellings Reflexionen zu der verlorenen Welt, um die Entfremdung bei Marx, um die »pathologische Entstellung von Lebensformen« und auch um die von Böckenförde diskutierten Mängel in der Akzeptanz von Gerechtigkeitsnormen und im Verhalten zur Solidarität. Viele der dabei auftretenden Fragen finden ihre Antwort im Rekurs auf die konstitutive Kraft des allgemeinen Konsenses, deren Autonomie von Habermas nie in Frage gestellt worden ist und deren Problematik oft genug diskutiert wurde. Aber gerade vor diesem Hintergrund erscheint ein entscheidender Gedanke als eklatanter Widerspruch, der auch durch dialektische Kunstgriffe nicht aus der Welt geschafft werden kann. 29 Siehe »Replik« in Reder/Schmidt (2008) S. 94/95.

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Gemeint ist der bekannte Passus aus seinem Kommentar zur Totenfeier für Max Frisch in der Stiftskirche von Zürich: »Max Frisch – ein Agnostiker, der jedes Glaubensbekenntnis verweigerte – […] hat durch die Wahl des Ortes öffentlich die Tatsache dokumentiert, dass die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rîte de passage gefunden hat.« Es handelt sich hier um keine Nebenbemerkung, sondern der Passus steht am Anfang seines Beitrages Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, ist also gewissermaßen die Einführung eines Themas, dessen Variationen folgen sollten. Habermas will diesen Wunsch des Toten nicht »als Ausdruck der Melancholie über ein unwiederbringlich Verlorenes verstehen«, sondern als ein »paradoxes Ereignis, … das uns etwas über die säkulare Vernunft sagt: diese ist über das Opake ihres nur scheinbar geklärten Verhältnisses zur Religion beunruhigt.« Aber sehr schnell verlieren sich die Ausführungen in allgemeine theoretische Reflexionen über das Verhältnis von Glauben und Wissen; zu dem angesprochenen existenziellen Kernproblem sucht man vergeblich Erläuterungen oder wenigstens Andeutungen, von einer klärenden Aussage ganz zu schweigen.30 Ein einziges Mal wird nochmals das Beunruhigende angesprochen; »Der Glaube behält für das Wissen etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf.«31 Aber dieses Opake hat schon längst keinen Bezug mehr zu jenem »eine Lebensgeschichte abschließenden rîte de passage«. Es geht wieder um das ungelöste Problem des solidarischen Handelns trotz der Leistungen der praktischen Vernunft, die nach Habermas die Basis von Moral und Recht »auf eine normativ einsichtige Weise bestimmen« kann.32 Hier verliert er sich in vagen Andeutungen über die Notwendigkeit der Übersetzung der religiösen Sprache in 30 Häufig geht es um die Bedingungen des universalen Diskurses; z. B. in Habermas (2005): »Indem der liberale Staat seinen Bürgern ein kooperatives Verhalten über weltanschauliche Grenzen hinweg ansinnt, muss er voraussetzen, dass sich die dazu auf religiöser wie auf säkularer Seite erforderlichen kognitiven Einstellungen bereits als Ergebnisse historischer Lernprozesse herausgebildet haben.« (S. 9). 31 Habermas (2008) S. 29. 32 A.a.O. S. 30.

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die öffentlich zugängliche, das heißt in eine säkulare und vernünftige Sprache. Die Berufung auf den kognitiven Schub vom Mythos zum Logos in der Achsenzeit ist äußerst dürftig, hat aber den Vorteil, sich auf Vorgänge zu beziehen, die ob der historischen Ferne beliebig interpretierbar sind. Der Vernunftdefätismus, den Habermas beklagt, scheint eher darin seine Quelle zu haben, dass das postsäkulare Denken die existenzielle Dimension jener Solidaritätsverweigerung aus den Augen verloren hat. Anders ausgedrückt: Auch die vollendete Solidaritätsgemeinschaft kann nicht das gesuchte angemessene Äquivalent der religiösen Bewältigung jenes Abgangs bereitstellen. Die von einigen Beobachtern vermutete Öffnung des postsäkularen Denkens für das Religiöse erweist sich somit als ein Vereinnahmungsversuch, weil es das Andere der Vernunft prinzipiell ausschließt. Das Bewusstsein von dem, was fehlt, betrifft hier nicht das Andere der Vernunft. Die praktische Vernunft im Sinne von Habermas schließt ein Sprechen vom Unsagbaren aus. Jedoch gibt es andere Philosophen, die solche Vernunftgrenzen anerkennen und so das Andere der Vernunft in ihrem Bewusstsein haben, also die eigentlichen »postsäkularen« Denker repräsentieren. Einigen bemerkenswerten Beispielen wollen wir uns im Folgenden zuwenden.

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Die folgende Charakterisierung philosophischer Sprechweisen als religionsphilosophische Kontingenzbegegnungen an ausgewählten Beispielen unterstellt keine Gleichsetzung der philosophischen Äußerungen mit religiösen Glaubensaussagen. Es geht nur darum, zu zeigen, dass religiöse Rede nicht von vornherein rückständiger, unglaubwürdiger und unzumutbarer ist als die folgende exemplarische philosophische Rede jenseits von streng rationalen und naturgesetzlich abgrenzbaren Tatsachen. Paradigmatisches Vorgehen ist stets von einer gewissen Willkür begleitet. Im Zeitalter der Unübersichtlichkeit scheint eine repräsentative Auswahl zur gesamten Philosophie fast unmöglich; aber gerade dieses Symptom kann als Leitfaden dienen. Denn seit einigen Jahrzehnten kursiert in der Philosophie – aber nicht nur hier, sondern in fast allen Kulturbereichen – das Schlagwort von der »Postmoderne«. Es wird dabei in zwei wesentlich verschiedenen Bedeutungen verwendet: einmal als neutrale, rein temporal gemeinte Bezeichnung für die Zeit »nach der Moderne«, wobei nicht immer klar ist, wann genau diese beginnt; zum Andern steht das Wort für den »Zeitgeist« eben dieser Epoche. Vertreter der ersten Art nennen wir besser »postmetaphysisch«. Doch uns interessieren vor allem die Denker der zweiten Art, welche die Postmoderne als neue Lebensform verstehen. Diese kritisieren zentrale, in der Moderne verbreitete Leitgedanken, die früher durch Schulbildungen, Strömungen und Systematisierungen Übersichtlichkeit ermöglichten. Dabei wird die Moderne teils in – oft durchaus auch zu ihr zählenden1 – originellen Gewichtungen neu bewertet, teils radikal aufgehoben, indem ein neuer Bezug auf das Andere des modernen

1 Charakteristisch für diese Selbstbezüglichkeit ist der Titel des im deutschen Sprachraum einflussreichen Werkes von Welsch (1987): Unsere postmoderne Moderne.

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Denkens gefordert wird.2 Häufig herrscht hierbei ein diffuser Postmodernismus3 vor, in dem die Charakterisierung der Moderne zu wünschen übrig lässt und die entsprechenden Kritiken unscharf bleiben. Trotzdem bestätigen einige Beiträge die eminente Bedeutung des Kontingenzproblems zum Verständnis der gegenwärtigen Geisteshaltung. Wir beschränken uns auf einige Hauptrepräsentanten der Postmoderne, nämlich auf Jean-François Lyotard, Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Roberto Caricciolo sowie auf Hans Blumenberg, der allerdings eher der Postmetaphysik zuzuordnen ist (10.3). Da sich die meisten wiederholt auf Heidegger (10.1) und Wittgenstein (10.2) beziehen und diese beiden wesentliche Gedanken zum Problem des Unsagbaren beigetragen haben, stehen diese zuerst im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Zudem sind beide für das gesamte 20. Jahrhundert repräsentativ: sie zählen mit Recht zu den bedeutendsten Philosophen jenes Jahrhunderts,4 werden doch beiden revolutionäre Neuansätze des Denkens5 nachgesagt, die sich von der Moderne absetzen, und 2 Dazu gehören vor allem die herausragenden Konzepte der »Dekonstruktion« des frühen Derrida (1974) und der »Verwindung der Metaphysik« bei Vattimo (1992).

3 Es handelt sich um eine Charakterisierung von Welsch (1987) S. 2, der seine eigene Theorie als präzisen Postmodernismus den anarchischen Tendenzen der diffusen Varianten gegenüberstellt. 4 Zum Beispiel spricht Habermas in einer Skizze der Geschichte der Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den »beiden Heroen Wittgenstein und Heidegger«. Auf S. 7 nennt Habermas (1999) die analytische und hermeneutische Philosophie »zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende«, wobei die erstere durch ihre Bemühung um die Darstellungsfunktion, die letztere durch den Hinweis auf den weltbildenden Charakter der Sprache Einseitigkeiten und Übertreibungen der anderen Seite kompensiert. 5 Hannah Arendt berichtet, dass Heidegger schon in seiner Marburger Zeit als der »heimliche König« im Reiche des Denkens galt, und in Safranskis Heidegger-Biographie (1994, S. 14) lesen wir: »Der Name Martin Heidegger steht für das erregendste Kapitel der Geschichte des deutschen Geistes in diesem Jahrhundert«. Die Stellungnahmen zu Wittgenstein sind insbesondere wegen seiner bemerkenswerten Biografie oft enthusiastisch, so wie bei Fann (1971): »Für Wittgenstein bedeutet die Philosophie ein Besessensein; ein Philosoph sein bedeutet ein solch intensives Ringen mit den Problemen, dass man sich ständig am Rande des Wahnsinns befindet. Ähnlich wie die Existentialisten windet sich Wittgenstein beim Philosophieren beständig in See-

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haben doch beide – im gleichen Jahr 1889 geboren – die kontinentale beziehungsweise die englischsprachige Philosophie bis zur Mitte des Jahrhunderts entscheidend geprägt, so dass sie für unsere religionsphilosophische Thematik zahlreiche Anknüpfungspunkte bereitstellen. Da sie auch zeitlich der Postmoderne unmittelbar vorangehen, hat dies gelegentlich zur Vereinnahmung durch die Postmoderne geführt.6

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Unser Weg zur Kontingenzanerkennung und -begegnung ist ein Weg der Destruktion, nämlich der Ideen von der Selbstorganisation der Natur und der Selbstermächtigung der autonomen Vernunft. Diesen Weg hat Heidegger auf seine Weise vorbildlich durchschritten und ist dabei nicht stehen geblieben. Seine Philosophie nach der »Kehre« verläuft auf den Bahnen einer in der Kontingenzbegegnung »begründeten« Denkweise, die in Andeutungen schon im Vollzug des Destruktionsmodus in Sein und Zeit erkennbar ist, aber sowohl in der Früh- wie auch in der Spätphilosophie wieder zurückgenommen und deshalb oft als esoterisches Denken missverstanden wird. Werfen wir zunächst einen Blick auf seinen Lebensweg. Nach der Ablösung vom streng religiösen Elternhaus, nach dem Abbruch des Theologiestudiums und schließlich nach seiner Hinwendung zur Philosophie war für Heidegger, der sich schon früh in einem existenziellen Gestus zu Neuem berufen fühlte, ein Einstieg in die Philosophie über die damals verbreitete Neuscholastik nicht denkbar. Religiöses konnte für ihn nur als Anstoß für eine radikal neue Philosophie dienen und dies keinesfalls durch Verwendung fester dogmatischer Formen. Daher blieb dem stets nach letzten Gründen suchenden Heidegger nur die religiöse existenzielle Erfahrung der christlichen lenqualen. Nicht zufällig waren Augustinus, Kierkegaard und Dostojewskij Wittgensteins Lieblingsautoren.« (S. 101). 6 So etwa bei Vattimo (1992), der »in Heidegger den Philosophen der Post-Moderne« sieht (S. 65). Den gegenteiligen Standpunkt nimmt zum Beispiel Putnam in Renewing Philosophy (1995) ein.

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Urgemeinde als Anknüpfungspunkt.7 So waren denn auch Martin Luther und Søren Kierkegaard die Leitgestalten, die ihm einerseits die urchristliche Authentizität vermittelten und andererseits durch deren Distanz zu Aristoteles beziehungsweise zur streng phänomenologischen Deskription (Husserl) die Spannung zwischen eben dieser ihm wichtigen Erfahrung und dem genuin philosophischen Denkprozess demonstrierten: »Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener hasste. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt«, schreibt Heidegger.8 Das philosophische Verstehen der urchristlichen Religiosität bedeutete zugleich eine Distanzierung von der Theologie. Nicht die theologische Reflexion, sondern nur die innere Logik des urchristlichen Glaubens kann nach seiner Auffassung die Brücke zur faktischen existenziellen Erfahrung schlagen; in der Diktion Wittgensteins: Man muss das religiöse Sprachspiel der Urgemeinde mitspielen, um es für die »faktische Lebenserfahrung« fruchtbar zu machen. Wie unbefriedigend diese Abhängigkeit für die selbstbewusste Entfaltung einer neuen revolutionären Philosophie war, zeigt der plötzliche Abbruch der religionsphänomenologischen Überlegungen nach der Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus im Sommersemester 1921. Hier hat Heidegger das Grundanliegen von Augustinus auf den Kampf gegen die Auslieferung an die Welt reduziert und dessen »quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te« am Anfang der Confessiones dem Einfluss des Neuplatonismus zugeschrieben. Aber solch ein befreiendes Ringen lässt sich auch aus der existenziellen Lebenserfahrung unabhängig vom Urchristentum vollziehen. Man könnte diesen Bruch mit der religiösen Tradition als »erste Heidegger’sche Kehre« bezeichnen, in der sich der Philosoph von allen ihn seit der Kindheit belastenden Banden befreien und so die Voraussetzungen für seine autarke Philosophie der Endlichkeit bereitstellen wollte. Damit erhielte aber das erste philosophische Tasten 7 Ausführliche Darstellung dieser Entwicklung in Jung (2005). 8 Heidegger GA 63, S. 5. Siehe dazu Jung (2005): Phänomenologie der Religion. Das frühe Christentum als Schlüssel zum faktischen Leben. I.3.

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des jungen Heidegger ein zu großes Gewicht. Dieser Schritt war eher nur die letzte Konsequenz des Ablösungsprozesses von der überkommenen Glaubenstradition und erst der Ausgangspunkt für einen philosophischen Selbstfindungsprozess. Heideggers Fundamentalontologie im Jahrhundertwerk Sein und Zeit (1927) ist die Frucht einer Transformation der weite Bereiche der Philosophie beherrschenden Phänomenologie, die das absolute, selbstsichere und unendliche transzendentale Bewusstsein Husserls durch das geschichtliche, bedürftige und endliche Dasein ersetzt. Der Mensch wird als seinsverstehendes Seiendes interpretiert, das sich zu sich selbst eigentlich, das heißt in Bezug auf die Existenz (bei Augustinus auf »Gott«) verhalten kann. Dieses Seiende existiert aber meistens uneigentlich, das heißt im Verfallensein an das seinsvergessene Man (bei Augustinus an die »Welt«). Das In-der-Welt-Sein und andere Existenzialien wie Sorge, Geworfensein, Mitsein oder Verstehen beschreiben die Grundformen der endlichen menschlichen Existenz. Diese Philosophie der Endlichkeit konzentriert sich zwar als »Fundamentalontologie« auf die »Seinsfrage«, aber diese wird vom Dasein gestellt und der Sinn des Daseins wiederum ist die Zeitlichkeit. Da das Dasein damit zugleich ein »Sein zum Tode« ist, bleibt die Seinsfrage und damit die Frage nach der Grenze unbeantwortet.9 Alles dreht sich um die Entfaltung einer Existentialanalytik im abgeschlossenen Binnenraum des Daseins. »Außerhalb« nichtet das Nichts. Das heißt, eine Kontingenzbegegnung ist für Heidegger ausgeschlossen; die Kontingenzanerkennung erscheint als brutale Faktizität; das Nichts wird in der Stimmung der Angst enthüllt und die unklare »Wahrheit des Seins« ist im geschichtlichen Dasein des Menschen beheimatet. Diese Interpretationen Heideggers sind meist einerseits durch Destruktion, andererseits durch Rückfragen nach dem Ursprung bestimmt. Das methodische Vorgehen lässt sich stark vereinfacht durch folgende Schritte umreißen:

9 Nicht umsonst wird die Ausarbeitung von Sein und Zeit von Figal (1992) als »Verunglückung« bezeichnet (S. 51).

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– Zunächst wird bisher Gedachtes radikal in Frage gestellt; beispielsweise die Raumstruktur, wie sie seit Aristoteles und den späteren Präzisierungen in Ontologie und Wissenschaft geläufig ist. – Dann erfolgt die Aufforderung, eine Dimension tiefer zu schürfen, indem beim Raum – um bei unserem Beispiel zu bleiben – auf Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdes verwiesen wird, die im reinen Dimensionsgedanken nicht enthalten sind. – Das Tiefergelegene erhält eine Bezeichnung und wird zur Bedingung des Oberflächenphänomens; der »Raum« wird zur »Gegend« und als Möglichkeit des Umgangs mit Seiendem zur Bedingung des Zeughaften. – Das Neue, nun namhaft Gemachte, soll in einer unabdingbaren Forderung das Alte ersetzen und zugleich als prinzipiell nicht weiter Begreifbares stehen bleiben. – Im letzten Schritt schließlich muss dieser Prozess als genuin philosophischer verstanden und im Pathos der permanenten Wiederholung rhetorisch wirksam werden.10 Alle Einwände gegen die autarken, intersubjektiv nicht mehr vermittelbaren Redeweisen sowohl Heideggers als auch seiner Schüler werden von diesem »Sprachspiel« der Daseinsanalytik unterlaufen. Deshalb kann diese Denkweise niemals als Begründung einer vollwertigen Kontingenzanerkennung betrachtet werden. Die letzte Rechtfertigung liegt in der Intuition des jeweiligen philosophischen Genies oder in der usurpierten Autonomie einer höheren Vernunft beziehungsweise einer philosophischen Prophetie. Hier kann also kaum mehr von einer von allen Menschen nachvollziehbaren Annäherung an eine letzte Grenze gesprochen werden. Nur um diese Einsicht, dass hier keine Kontingenzanerkennung im eingeführten Sinn vorliegen kann, geht es uns hier, nicht dagegen um eine Bewertung der zweifellos verdienstvollen Heidegger’schen Beschreibung verbreiteter Grundstimmungen vorangegangener Generationen, die Kriegen und Krisen ausgesetzt waren 10 Gut verfolgen lässt sich diese Strategie in der berühmten Davoser Disputation mit Cassirer. Siehe dazu Wuchterl (1997) 3.13.

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und für uns Menschen der Gegenwart einer fernen Vergangenheit angehören. Schon bald nach der Publikation von Sein und Zeit beginnt eine Phase des Umbruchs, die Ende der 1940er Jahre durch die so genannte Kehre in die seinsgeschichtliche Spätphilosophie des Ereignisses einmündet. Doch zunächst bringt Heidegger den Begriff des Seins mit dem des Grundes in Zusammenhang. Die erste Ausformung dieses Bezugs erfolgt noch im Zusammenhang mit der Fundamentalontologie in der Abhandlung Vom Wesen des Grundes.11 Mit der Entscheidung für die Endlichkeit des Seins ist die dogmatische Setzung des Nichts verbunden und deshalb erfährt der Transzendenzbegriff eine Neuinterpretation. Transzendenz oder der »Ursprung des Gründens«12 (nicht im Sinne eines genetivus objectivus!) bedeutet einmal Transzendentalität, also Bedingung der Möglichkeit des Überstiegs zur Welt im Rahmen des In-der-Welt-Seins, ferner aber auch den Ursprung des Bodens, also das Sein selbst. Die Bedingung der Möglichkeit des Seins wiederum erscheint als Freiheit, genauer als Bedingung, dass das Dasein weltbildend sein kann. So ergeben sich dann die paradoxen Formulierungen der Freiheit als »Grund des Grundes« und zugleich als »Ab-Grund des Daseins«.13 Von dieser engen Bindung an das »Da-sein«, das als Terminus eines auf Innerlichkeit zielenden Ansatzes steht, versucht sich Heidegger später im Aufsatz »Der Satz vom Grunde« (1957) etwas zu lösen.14 Das Sein des Seienden, um das alles Bemühen Heideggers kreist, ist nun »grundartig«, sofern es Seiendes aus sich hervorgehen lässt,15 und 11 Erstmals publiziert 1929 in der Festschrift für Husserl (vgl. GA Bd.9). 12 GA 9, S. 170. 13 GA 9, S. 158 bzw. 174. 14 Zur Diskussion des Verhältnisses der beiden Aufsätze zum Grund siehe Wetz (2005) I.34

15 Der Satz vom Grund S. 90. Auch schon in der Vorlesung »Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz« (GA Bd.26, S. 138) heißt es: »Jede Weise von Sein hat je ihren Grund. Hier zeigt sich ein Neues und Wesentliches: die Verklammerung der Idee des Seins überhaupt und der von Grund überhaupt. Zu Sein gehört Grund.«

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zwar Seiendes jeglicher Art, nicht nur Seiendes aufgrund freiheitlicher Entscheidungen. Aber in dieser Wendung wird nicht mehr vom Dasein her, sondern ontologisch im klassischen Sinn gedacht. Zunächst scheint in der Tat der »Grund« im »Prinzip vom zureichenden Grund« von Leibniz16 das Gleiche zu leisten wie das »Sein« bei Heidegger. Aus dem »Nichts ist ohne Grund« bei Leibniz wird »Jedes Seiende [sic!] hat einen Grund« bei Heidegger. Das würde bedeuten, dass Heidegger die Möglichkeit eines Daseins ohne Grund nicht denken kann, was aber der Charakterisierung des Daseins durch das Existential der Geworfenheit widerspricht, das auf die zur Diskussion stehende Grundlosigkeit verweist. Diese Überlegungen zum Grund demonstrieren, wie das Sprachspiel der Daseinsanalytik häufig zu Widersprüchen führt. Zugleich bieten diese ein weiteres Beispiel zur oben skizzierten Methodik: Zuerst wird in Heideggers Verdikt der Seinsvergessenheit dem neuzeitlichen Denken vorgeworfen, den »Satz vom Grund« ausschließlich auf mathematische, rationale und empirisch-naturwissenschaftliche Gründe, also auf das Berechenbare und Verfügbare zu beziehen. Zweitens muss der »Satz vom Grund« seinsverstehend ein tiefer liegendes Prinzip meinen: einen verschwiegenen Grund, der auch Nichtberechenbares und Unverfügbares möglich macht. Es ist drittens das »Sein«, das ohne jene Gründe des Verfügbaren aufgrund des richtig verstandenen »Satzes vom Grund« den Überschritt in die Unverborgenheit ermöglicht. Dieses Sein ist als letzte Grundlage zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Begründens von Verfügbarem. Viertens ist das solches Sein berücksichtigende »besinnliche Denken« letztlich nicht begreifbar: »Die Seinsgeschichte ist das Geschick des Seins, das sich uns zuschickt, indem es sein Wesen entzieht.«17 Solche Formulierungen lassen uns vergessen, dass sich diese Gedanken noch immer innerhalb der Daseinsanalytik artikulieren, obwohl sie wie Aussagen der späteren Lehre vom Ereignis klingen. Schon in der Metaphysik des Satzes vom Grund wirft Heidegger Leibniz vor, 16 Leibniz (1714) Monadologie § 32. 17 Der Satz vom Grund S. 158.

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auf theologische Prämissen zurückzugreifen: »Die ganze Abhandlung freilich lässt deutlich sehen, dass im Hintergrund und Zentrum die Idee des Geschaffenseins steht […].« Aber sogleich wird betont, dass die Bedeutung des Prinzips weiterhin besteht, »auch wenn die spezifisch theologische Deutung nicht in Rechnung gesetzt wird.«18 Direkt daran anschließend wendet er sich dem »völlig andersartigen Zusammenhang« zu, nämlich dem von Grund und Freiheit. Darin wird deutlich, wie stets die Subjektivität, das spätere Dasein, ins Spiel kommt, wenn auf die theologische Deutung verzichtet wird. Die durch die latente Wirkung des Daseinsbezugs auftretenden Widersprüche lösen sich erst auf, wenn man die Aussagen metaphorisch deutet und man dann die Schickung, die im Satz vom Grund auf geheimnisvolle Weise mitgedacht wird, im Zusammenhang mit Kontingenzbegegnungen wörtlich versteht, wiewohl unter dem ontischen Vorbehalt. In einer Philosophie der Endlichkeit führt demnach jeder Versuch, Kontingenzanerkennungen als ultima ratio zu betrachten, zu einem Widerspruch. Wenn man sich – wie Heidegger – weder zur Autonomie der Vernunft bekennt, noch wegen der in einer Stimmung vermittelten Setzung des Nichts Kontingenzbegegnungen zulassen kann, bleibt nur die Immunisierungsstrategie, Widersprüche einfach zu ignorieren oder unter Berufung auf höhere Einsicht zu Indizien der Wahrheit zu erklären. Im vorher herangezogenen Zitat zur Seinsgeschichte taucht interessanterweise der Ausdruck »Geschick des Seins« auf. Dieser erhält bei Heidegger später im Sinne von »Schickung« neues Gewicht. Ab etwa 1930 befand sich Heidegger in einer Krise. Trotz des enormen Einflusses von Sein und Zeit bereitete ihm die Umdeutung seiner Gedanken als Beitrag zur philosophischen Anthropologie Unbehagen; so fühlte er selbst, dass das eigentlich Revolutionäre noch nicht gesagt war. Zudem erkannte er, dass der geplante Weg von »Sein und Zeit« zu »Zeit und Sein« nicht gangbar war. Die Zweifel an seiner Mission, die von Nietzsche nicht vollendete Radikalkritik der abendländischen Metaphysik 18 GA 26, S. 142 bzw. 143.

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zu ihrem Ende zu bringen, verstärkten sich proportional zur Wirkung seiner Daseinsanalytik. Die Weiterentwicklung seiner Gedanken erfolgt nun in eine Richtung, die einen Bruch oder eine »Kehre« sichtbar werden lässt. Die Beschreibung der Grundformen des endlichen menschlichen Daseins in Sein und Zeit erfolgte aus der Überzeugung, dass der Mensch in einem Gesamtentwurf über das Wahrsein entscheidet. Das Dasein war gewissermaßen das Fundament, von dem her von Sein gesprochen werden konnte. Jetzt, nach der Kehre, ist das Sein das Fundament des Daseins. Die existenziale Geschichtlichkeit, in der das geschichtliche Dasein als Bedingung des Historischseins vorausgesetzt wurde, sollte in dem nie geschriebenen Werk »Zeit und Sein« expliziert werden. An ihre Stelle tritt nun das seinsgeschichtliche Denken, in dem von Schickung, Gunst, Huld, Scheu und Ähnlichem die Rede ist. Aus der »Geworfenheit des Daseins«, in der die Kontingenz zum Grundzug des In-der-Welt-Seins geworden war, wird eine heilsgeschichtliche Schickung, die nur von einer tieferen Notwendigkeit geleitet sein kann. Terminologisch spricht Heidegger nicht mehr von der im Dasein erfahrenen »Existenz«, sondern von dem Menschen als Ek-sistenz oder als ekstatisches Wesen, das sich dem sich schickenden »SEYN« bedingungslos öffnet. Das frühere Denken in all seinen die Endlichkeit umkreisenden Formen wird zum »besinnlichen« Denken. Bedeutete die von der Daseinsanalytik verfolgte Destruktion der Ontologie die Vollendung einer (allerdings nicht gelungenen) Kontingenzanerkennung, so enthält das besinnliche Denken als Ansinnen des Anderen den von Heidegger ursprünglich als unmöglich gedachten Überstieg der Endlichkeit und offenbart sich als Akt der Kontingenzbegegnung. Die Beiträge zur Philosophie des Seyns und des Ereignisses sind zwar psychologisch, nicht aber argumentativ aus den vorangegangenen Analysen verstehbar. Die »Kehre« bedeutet so keine Richtungsänderung eines zusammenhängenden Weges, sondern einen Sprung über einen Graben.19 Die eher esoterischen Texte, die sich sogar selbst als 19 Siehe dazu Polt (2005): Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Ein Sprung in die Wesung des Seyns. Auch Habermas diagnostiziert in dem geschichtlich dynamisierten Wahrheitsbegriff nach der »Kehre« zugleich dessen Entwurzelung, die jede Argumen-

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»Erschweigung« ausweisen, präsentieren keine Philosophie im geläufigen Sinn. Deshalb ist auch die gelegentliche Bezeichnung der »Beiträge zur Philosophie« (im Band 65 der Gesamtausgabe) als »zweites Hauptwerk Heideggers« irreführend.20 Diese Denkbruchstücke verweisen vielmehr auf Versuche, jenes »ganz Andere«, auf das wir in Kontingenzbegegnungen Bezug nehmen, inhaltlich in Wortbildern und Gefühlsregungen zu umkreisen. Allerdings müssen auch hier alle neuen Begriffe und Aussagen unter dem ontischen Vorbehalt gelesen werden und können genauso gut als Beiträge zu einer negativen Theologie betrachtet werden. Die Rede vom »zweiten oder anderen Anfang«(57) 21oder von der »Verwindung des ersten Anfangs«, das neue Leitwort »Ereignis« und die neue Schreibweise des Seins als »SEYN« (436), sind solche Artikulierungsversuche des Unsagbaren.22 Der zweite Anfang ist kein neuer Anfang für die Philosophie; er ist inhaltlich nicht allgemein thematisierbar wie der erste Anfang bei den Vorsokratikern, sondern vollzieht sich einfach als etwas Neues, und zwar nur in einigen Auserwählten. Das Ereignis ereignet sich nicht, ist kein objektivierbares Geschehen, sondern etwas Geheimnisvolles, in dem das Seyn zum Menschen kommt und ihm im »Geviert« eine unheimliche23 Wirklichkeit erfahren lässt. Mit Geviert wird das Verhältnis von »Sterblichen, Unsterblichen, Erde und Himmel« bezeichnet, in dem alles gründet: »Wir nennen das im Dingen der Dinge verweilte einige Geviert von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen: die Welt.«24 Vom Seyn schließlich darf nicht gesagt werden, dass es das Sein als Abstraktion tation ausschließt. Da heißt es: »Anhaltspunkte bieten nur noch religiöse Konnotationen, die aber zugleich als onto-theologische Überreste demontiert werden.« Habermas (1985) S. 193. 20 So auch Polt (2005) S. 184. 21 Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf GA 65. 22 Ähnlich auch Pöggeler (1994) S. 8: Heidegger wolle in der Philosophie des Ereignisses »nicht ein vollkommenes Begreifen erwirken, sondern einen Wandel der Grundstimmung anbahnen«. Das eigentlich zu Denkende sei dort »verschwiegen«. 23 In GA 13, S. 205 nennt Heidegger das Ereignis eine Erscheinung, bei dessen »Gewahrwerden […] den Menschen eine Art von Scheu bis zur Angst überkommt«. Hier wird man an das »Unheimliche des Numinosen« bei Otto erinnert. (Das Heilige S. 52). 24 Heidegger (1954) S. 44 bzw. (1959) S. 22.

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des Seienden sei, sondern es »west«: »Das Seyn west als das Ereignis« (260). Auch wenn der poetische Umgang mit diesen Metaphern glanzvoll gelingt, die meisten Varianten – wie etwa in »Der Anfang ist das Seyn selbst als Ereignis« (58) oder Das Seyn darf »nicht […] vom jeweiligen Seienden her, sondern muss […] aus seiner ursprünglichen Wesung« verstanden werden (75) – liefern keine neuen Erkenntnisse über das Unsagbare, wie es in philosophischen Aussagesätzen üblich wäre. Dennoch enthalten sie alle eine Botschaft: Es »gibt« ein Anderes der vordergründigen Vernunft, und dieses »es gibt« ist ein Sich-geben. Die Kontingenzerfahrung wird zur Kontingenzbegegnung. Das Unbefriedigende dieses einfachen »Es gibt ein sich gebendes Anderes« zwingt geradezu zu Konkretisierungsversuchen und verführt dabei zu Allgemeingültigkeit einfordernden Bezugnahmen; so etwa wie in den beiden folgenden Beispielen, die sich auf die Bedeutung der Geschichte und auf die An- oder Abwesenheit Gottes in unserer konkreten Welt beziehen: »Das Seyn als Ereignis ist die Geschichte« (499); »Das Seyn aber west als das Ereignis, die Augenblicksstätte der Entscheidung über Nähe und Ferne des letzten Gottes« (250). Die Ausgestaltung solcher Ahnungen setzen den ontischen Vorbehalt außer Kraft. Was die Geschichte betrifft,25 wird in der Metapher des »Gevierts« auch eine künftige Welt entworfen, in der die in Heideggers Technik-Kritik enthaltene Hoffnung auf eine wesensmäßige Behausung des Menschen (auf das »Haus des Seins«) erfüllt zu werden scheint. In allen diesen Versuchen verdrängt vor allem seine neu erfundene Rolle als Prophet des »Vorbeigangs des letzten Gottes«,26 die einige sogar als Rettung des Abendlandes interpretieren,27 die Er25 Die Verwicklungen in den Nationalsozialismus werden hier bewusst ausgespart. Das enorme charakterliche Versagen wurde oft genug dokumentiert, z. B. in Ott (1992). Hier nur ein Beispiel. Im ersten Brief nach dem Kriegsende, den Heidegger beim Versuch einer Kontaktaufnahme mit Jaspers diesem schreibt, ist das Bewusstsein von seiner historischen Mission als Wächter des Seins ungebrochen; da heißt es: »Der Wächter des Denkens sind in der steigenden Weltnot nur wenige«, und er meint damit sich selbst und Jaspers (Briefwechsel (1990) 171). 26 Fügungen VII. Der letzte Gott. GA 65. 27 Bei Jäger (1978) heißt es beispielsweise: »In seinem Denken wandelt sich alles, in

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fahrungen, die auf die Brüchigkeit einer Philosophie des endlichen Seins verweisen und schon früh Kontingenzbegegnungen artikulierten. Dieses Hinübergleiten in eine geschichtliche Mission lässt auch bei der Verwendung des Ausdrucks »Gott« Zweifel aufkommen, ob dieser noch als Metapher für das sich gebende »ganz Andere« verstanden werden kann. Wenn Heidegger unter dem Diktat der Geschichtlichkeit mit Hölderlin glaubt, in einer »dürftigen Zeit« des zweifachen Mangels, nämlich des Mangels des Nichtmehrs der entflohenen Götter und des Nochnichts des »kommenden Gottes« zu leben, dann verrät sich hier eine Inkonsequenz der Gedankenführung, die sich im Bewusstsein des ontischen Vorbehalts prinzipiell solcher Einordnungen und Distanzierungen enthalten sollte. Die Bedeutung des Religiösen in der Spätphilosophie wird durch diese säkularen Bezüge trotzdem kaum in Frage gestellt. Hier kann man Karl Löwith zustimmen: »Was […] allem von Heidegger je Gesagten hintergründig zugrunde liegt und viele aufhorchen und hinhorchen lässt, ist ein Ungesagtes: das religiöse Motiv, das sich zwar vom christlichen Glauben abgelöst hat, aber gerade in seiner dogmatisch ungebundenen Unbestimmtheit um so mehr diejenigen anspricht, die nicht mehr gläubige Christen sind, aber doch religiös sein möchten.«28 Diesem Faktum einer Rückkehr zum Religiösen, das am Anfang des Denkweges dem Theologiestudenten die grundlegenden Motive zur philosophischen Reflexion geliefert hatte, folgte zwangsläufig eine umfangreiche Diskussion des Verhältnisses der Daseinsanalytik zum neuen Sprechen von Gott und den Göttern. Dabei bestätigen die meisten Beiträge den Bruch zwischen der Philosophie von Sein und Zeit und den späten, oft ins Dichterische, Prophetische und kaum Nachvollziehbare abgleitenden Ausführungen. Besonders überzeuseinem Ausblick auf Rettung geht es um die Rettung des Abendlandes.«(S. 399).

28 Löwith (1960) S. 111. Noch deutlicher bei Habermas (2005): »So redet denn der späte Heidegger von Schrecken, Wagnis und Sprung […]. Gleichzeitig muss er die Spuren der Herkunft dieses Sprachspiels verwischen. Denn die christliche Erlösungsbotschaft, auf deren Semantik er nicht verzichten kann, hat er längst zum bedeutungslosen ontotheologischen Zwischenspiel einer ›abgelebten Herrschaft der Kirchen‹ herabgewürdigt.« Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. S. 256.

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gend kann man dies bei Karsten Harries 29 nachlesen, der mühevoll Zusammenhänge zwischen den Grundgedanken beider Entwürfe aufzuspüren versucht, die eine argumentative Rechtfertigung des Weges »vom Ding zum Geviert«30 liefern könnten, am Ende der Untersuchung aber feststellen muss: »Keine zwingende transzendentale oder phänomenologische Betrachtung weist uns den Weg zum Geviert.« Das In-der-Welt-Sein, aus dessen Struktur das Zuhandensein der Dinge abgeleitet wurde, erhält als Bewahren des Gevierts eine völlig andere Bedeutung mit neuen, weitgehend normativen Implikationen: »als ein Retten der Erde, ein Empfangen des Himmels, ein Vermögen des Todes, ein Erwarten der Göttlichen«.31 Die Ding-Analyse erfolgt in Etappen und ermöglicht jeweils neue Annäherungen an das Geviert. So vermittelt beispielsweise die Begegnung mit einem Kunstwerk eine fundamentale »Verlässlichkeit«, die den früher alles beherrschenden Sorgebegriff weit hinter sich lässt; die Technik-Diskussion ebnet den Weg zur Interpretation der Eigentlichkeit als »ursprüngliches Wohnen«, das zwar wegen der Herrschaft des Ge-stells erst in der Zukunft, der Ankunft der Götter, möglich wird, aber kaum mehr mit der Angst vor dem Nichts und dem Sein zum Tode in Verbindung gebracht werden kann. Nicht nur diese externen Stichwortgeber, sondern auch die Tatsache, dass schon in Sein und Zeit immer wieder Grundcharaktere von Existentialien auftauchen (z. B. in § 57 Das Gewissen als Ruf der Sorge), die ohne Überschreiten des Endlichkeitshorizontes unverständlich bleiben,32 zeigen die Vergeblichkeit einer Selbstrechtfertigung von Kontingenzanerkennungen. Natürlich kann man diese im besinnlichen Denken vollzogene Rückkehr zum Ansinnen des Anderen trotz ihres argumentativ unvermittelten Charakters auch begrüßen. Wenn bei Heidegger Gott in 29 Siehe Harries (2003). 30 A.a.O. S. 291. 31 A.a.O. S. 301 bzw.300. 32 Allgemeiner noch bei Harries (a.a.O. S. 208): »Sein und Zeit hat einen Platz für eine Gottheit, die dem Dichter und durch ihn den Menschen ihr Maß gibt«, durch das die Vermessung des Menschenwesens gelingt.

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einem sich gebenden Seyn gedacht werden muss, dann ist der Gedanke des Sichgebens nicht mehr im Sinne einer religiösen Offenbarung, sondern als poetischer Schöpfungsakt zu verstehen. Damit ergeben sich aber schwerwiegende Nachfragen, zum Beispiel, ob Künstler der Gegenwart sich in dieser Rolle wiedererkennen. Viel gravierender aber ist die grundsätzliche Frage, ob die von Heidegger behauptete enge Nähe von Dichtung und (spätem) Denken gerechtfertigt ist, wenn er beispielsweise sagt: »Alles sinnende Denken ist ein Dichten, alle Dichtung aber ein Denken. Beide gehören zueinander aus jenem Sagen, das sich schon dem Ungesagten zugesagt hat, weil es der Gedanke ist als der Dank.«33 Das assoziative »weil« täuscht hier geschickt über den fehlenden Grund dafür hinweg, dass das Denken des Anderen den Akt des Dankens veraussetzt. Deshalb kann man Dieter Thomä zustimmen, der dem Geviert oder dem Bild vom »Hause des Seins« eine »szenische, theatralische, fiktionale Qualität« zuschreibt. Zugleich verweist er bezüglich der Berufungen der Künstler auf Heidegger (und umgekehrt) auf ein großes Missverständnis: »In ihren programmatischen Erklärungen berufen sich Künstler (und auch Medientheoretiker) bevorzugt auf den späten Heidegger, doch sie scheinen weniger vom ›Sein‹ fasziniert zu sein als von der ›Bewegung‹, welch letztere eher noch zu Heideggers früher ›Hermeneutik der Faktizität’ als zu seinen späten Texten passt.«34 Die angesprochene Problematik zeigt, dass auch viele Künstler – ebenso wie der Heidegger der Daseinsanalytik – von Kontingenzanerkennungen am Rande des Sagbaren zeugen, sich aber mit einer Kontingenzbegegnung schwer tun, weil diese meistens mit religiösen Fundamentalismen in Verbindung gebracht wird, obwohl diese bei Beachtung des ontischen Vorbehalts hinfällig würden. Im Gegensatz zu den Spekulationen über die Beziehung zwischen Geschichte und Gott,35 die weitgehend durch die theologische Her33 Heidegger (1959) S. 267. 34 Thomä (2003a) S. 323 bzw. 324. 35 Nach Safranski (1994) verbindet Heidegger sogar beides: »Bei den tiefsten Denkern, so Heidegger, wird Gott zu einem Namen für das Mysterium der Zeit.« S. 135.

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ausforderung der Inkarnation bedingt sind, werden die Überlegungen Heideggers, die letzten Möglichkeiten der Philosophie im Anschluss an Hölderlin und Schelling in die Nähe der Dichtkunst zu stellen, dem Gedanken der Kontingenzbegegnung durchaus gerecht. Aber auch im Bereich der Dichtung, dem eigentlichen Ursprungsbereich der Metaphern,36 muss differenziert werden. In der Diskussion ihres Wesens zwischen der Schöpfung authentischer Lebensformen auf der einen und dem dichterischen Pathos der Eigentlichkeit auf der anderen Seite spiegelt sich die gesamte uns interessierende Problematik des Sprechens vom Unsagbaren wieder – nur eben poetisch. Trotz der großen philosophischen Bedeutung der Spätphilosophie lässt sich nicht leugnen, dass die gewaltige Ausstrahlungskraft des Heidegger’schen Denkens nicht von den hehren Ansprüchen des Spätwerks mit seinen religiösen Untertönen ausgeht, sondern von den kritischen Analysen des bisher Gedachten aus der Zeit vor der »Kehre«. Die Verwendung neu erfundener Sprachformen – der »philosophische Lyrismus letzter Grenze«, wie es Ernst Bloch bezeichnet hat37 – verschleiert dort die fehlende Legitimation der angedeuteten Alternativen, die den Ablehnungen der bisherigen Problemlösungsversuchen folgen. Was in Sein und Zeit als neue Erkenntnis erscheint, ist kein Beitrag zur angestrebten Philosophie der Endlichkeit, sondern kontingente Artikulation, die jene Grenzen der Endlichkeit als Letztes gerade in Frage stellt. In der Destruktion der klassischen Ontologie, der abendländischen Metaphysik und des seinsvergessenen Denkens geschieht die scheinbare Vollendung der Kontingenzanerkennung; doch die aufgezeigten Brüche im Denken und die vagen Angebote dessen, was an Stelle des Kritisierten treten soll, verdecken deren Unmöglichkeit. Andererseits eröffnet die Einsicht in das Misslingen einer Philosophie 36 Siehe unten Abschnitt 11.1 und 12. 37 Zitiert bei Safranski (1994) S. 128. Äußerst kritisch auch Habermas (2005): »Von einem Ort jenseits des Logos sprechend, muss sich diese neuheidnische Spekulation über ›die Flucht oder Ankunft der Götter‹ allerdings einer Rhetorik anvertrauen, die die Kraft des überzeugenden Arguments hinter sich gelassen und durch die beschwörende Selbstinszenierung der ›großen und verborgenen Einzelnen‹ ersetzt hat«. S. 256.

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der Endlichkeit die Möglichkeit, die Spätphilosophie – wie auch Dichtungen und Kunstwerke – als Orte eines metaphorischen Angebots im Prozess der Kontingenzbegegnung zu denken.38

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Paradigmatisches Vorgehen sollte charakteristische Repräsentanten vorstellen, die jeweils für möglichst viele ähnliche Denkweisen stehen. Deshalb ist es kein Zufall, wenn wir uns nach der Würdigung Heideggers nun Wittgenstein zuwenden, der einer völlig anderen Denktradition zuzuordnen ist. Auch hier versuchen wir, zentrale und zugleich umstrittene Aussagen einer weit verbreiteten und oft zitierten Philosophie durch den Rückgriff auf die Kontingenzproblematik neu zu interpretieren. Wie bei allen großen Klassikern wird auch Wittgensteins Erbe kontrovers und zu jeder Zeit neu interpretiert. Die Variationsbreite der Deutungen ist hier besonders groß, weil Wittgenstein gerade einmal etwa hundert Seiten in Buchform veröffentlicht und meist in Bruchstücken gedacht und geschrieben hat. Sein Frühwerk, der Traktat, wurde schnell als »Bibel des logischen Positivismus« vereinnahmt. Jedoch ignorierte man die jedem Positivismus widersprechenden Ausführungen im letzten Teil der Untersuchung, dem »anderen Traktat«, wo von Grenzen, vom Mystischen und Unsagbaren die Rede ist. Wenn auch Ingeborg Bachmann39 bereits 1953, also kurz nach dem Erscheinen der postum publizierten Texte der Spätzeit, diese Einseitigkeit anprangerte, ließ es sich Walter Schulz noch 14 Jahre später nicht nehmen, Wittgenstein als Vollstrecker eines positivistischen Verwissenschaftlichungsprozesses zu interpretieren.40 Und ein Jahrzehnt später weitete Leo Adler die Kritik von Schulz am Subjektivitätsbegriff Wittgensteins zum

38 Diese Chance ergreift vor allem Derrida. Siehe dazu unten 10.3 und 11.2. 39 Siehe Bachmann (1960): »L. Wittgenstein. Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte.« S. 7 ff.

40 »Wittgenstein. Die Negation der Philosophie.« Schulz (1967).

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Vorwurf eines universellen Antihumanismus aus.41 Inzwischen ist das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen: Man konzentriert sich fast nur noch auf die seltenen, oft kryptischen Bemerkungen zum Problem des Sichzeigens und des Unsagbaren; biographische Fakten treten in den Vordergrund und viele Beiträge der WittgensteinForschung betreffen die Bereiche Ethik, Kunst und das kulturelle Umfeld.42 Wegen der Marginalisierung des sprachphilosophischen Werks und gewisser naturalistischer Tendenzen der analytischen Philosophie werden allerdings die religionsphilosophischen Implikationen des Denkens Wittgensteins nur selten beachtet.43 Reflexionen über das Unsagbare beim frühen Wittgenstein findet man im Traktat und in seinen Tagebüchern. Die Traktat-Stellen müssen im Kontext der durch die Abbildtheorie festgelegten Terminologie gedeutet werden. Da die Sprache unter dem Aspekt der Abbildung der Welt der Tatsachen betrachtet wird, sind die Grenzen der Sprache, also des Sagbaren, durch dieses Verhältnis vorgegeben. Wenn die Konstatierung von Tatsachen aus positivistischer oder – im heutigen Kontext – aus naturalistischer Sicht allein durch die Naturwissenschaften möglich ist, liefern allein diese die »sinnvollen« Sätze. Aber Wittgenstein transzendiert diese Dogmatik, indem er auf die Möglichkeit verweist, dass Aussagen nicht nur Tatsachen abbilden und durch sinnvolle Sätze ausdrücken, sondern auch etwas zeigen, was nicht ausgedrückt werden kann.44 Dabei handelt es sich nicht nur um die Bedingungen der Sprache, also um die logische Struktur der Sprache beziehungsweise der Welt, auf die sich der Traktat konzentriert und die als »sinnlose« Sätze bezeichnet werden können; auch Grenzerfahrungen können sich zeigen: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (T 5.6) und »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« (T 6.44). – Dies alles sind Aussagen, die man 41 L. Wittgenstein. Eine existentielle Deutung. Basel/München 1976. 42 Einen kurzen Überblick über Neue Tendenzen in der Wittgenstein-Interpretation findet man in Wuchterl (2009a) S. 14–23.

43 Dies gilt in diesem Ausmaße nicht für die englischsprachigen Länder. 44 Vergleiche den Brief an Russell. Siehe oben in 8.3.

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im Unterschied zu den sinnlosen als »unsinnige« Sätze bezeichnen kann. Beides ist aber paradox, weil das »Ausgedrückte« in ihnen nach Definition nicht ausdrückbar ist. Wittgenstein weist am Ende der Abhandlung in seinem Leiter-Gleichnis (T 6.54) auf diesen Widerspruch selbst hin. Dieses Paradoxon kann man positivistisch deuten, indem man den Hinweis auf das sich Zeigen als Gerede45 abtut und alle diesbezüglichen Passagen ignoriert. Man kann es aber auch als Selbstaufhebung des positivistischen Denkens betrachten. Genauer: Wittgensteins Gedankengang beweist die Unmöglichkeit, allein mit den strengen Methoden der exakten Wissenschaften ethische, ästhetische und religiöse Phänomene korrekt erklären oder widerlegen zu können. Aber das Leiter-Gleichnis zeigt mehr; der Leser ist nach Wittgensteins Vorstellung hinaufgestiegen, das heißt, er hat dabei etwas erfahren, was er nicht im Traktat findet, und was als Kontingenzerfahrungen in unserem Sinne verstanden werden kann. Dass Wittgenstein so interpretiert werden muss, zeigen seine Ausführungen in den Tagebüchern 1914–1916.46 Für uns sind folgende Sätze bedeutsam: »Den Sinn des Lebens, d. i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran anknüpfen. Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens.« (11. Juni 1916)

Ähnlich am 8. Juli 1916: »An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. An Gott glauben heißt sehen, dass das Leben einen Sinn hat.«

45 Patzig (1966) hat stattdessen die schöne Formulierung vom »mystischen Blütenstaub« gewählt, den man leicht abschütteln zu können glaubt. S. 104.

46 Siehe Werkausgabe Band 1, S. 167–169.

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Aufschlussreich ist die Fortsetzung, weil hier der Wille und Gefühle erwähnt werden: »Die Welt ist mir gegeben, das heißt mein Wille tritt an die Welt ganz von außen als an etwas Fertiges heran. Daher haben wir das Gefühl, dass wir von einem fremden Willen abhängig sind. Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir in einem gewissen Sinne abhängig und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen.«

Keiner dieser Sätze wurde in den Traktat übernommen. (Man erinnere sich, dass der Text des Traktats nicht als zusammenhängender Text geschrieben worden ist, sondern aus den Tagebuchnotizen mehrerer Jahre ausgewählt und nachträglich in eine nummerierte Ordnung gebracht wurde, die einen streng logischen Aufbau suggerieren sollte). Denn weder »Gott« noch »Sinn des Lebens« oder »Wille« sind Sachen oder Dinge, die in dieser philosophischen Abhandlung zu Sachverhalten verbunden werden. »Gott« ist kein Thema des Traktats.47 »Sinn« wird dort stets semantisch verstanden48 und »Wille« ist für Wittgenstein ein psychologischer Begriff (T 6.432). Es handelt sich also sowohl bei »Gott« als auch bei »Sinn des Lebens« um Metaphern, die Grundstimmungen einer komplexen individuellen Lebensform zu artikulieren suchen. Ganz deutlich wird dies beim Hinweis auf das Abhängigkeitsgefühl, das den Bezug zur ganzen »Welt« betrifft. Wittgensteins Äußerungen setzen hier demnach eine Kontingenzbegegnung voraus, in der ein Überstieg der »Welt der Tatsachen« vollzogen ist; die diesbezüglichen Interpretationen stehen unter dem (auf den Traktat bezogenen) ontischen und semantischen Vorbehalt. 47 Trotzdem ist Wittgenstein kein Atheist. Aus den Tagebüchern spricht eine persönliche Überzeugung von der Existenz Gottes. Man kann höchstens (mit Peukert (1978) S. 95) einen semantischen Atheismus konstatieren, wie Naturwissenschaftler methodische Atheisten sein müssen. 48 In den wenigen Ausnahmen, in denen keine semantische Verwendung vorliegt (5.641, 6.41 und 6.52), dient der Begriff dem Hinweis auf »Grenzziehungen«.

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In seinem »Vortrag über Ethik«49 erwähnt Wittgenstein drei mystische Grunderfahrungen, die er ausdrücklich als »ganz persönliche Sache«50 qualifiziert und nicht zur Grundlage philosophischer Reflexionen verwendet. Diese sind für ihn Überlegungen zu einer Ethik, die darüber Auskunft geben, »was wirklich wichtig ist«.51 Aber da es für Wittgenstein keine Sätze der Ethik (T 6.42), sondern nur ethisches Verhalten gibt, sind solche Gefühle Indizien für eine Antwort auf ein akzeptiertes Geschehen, das sich in der Person Wittgenstein ereignet und mit seiner Philosophie nichts zu tun hat – ganz im Sinne des letzten Satzes des Traktats: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Solange der Logos auf das Sagen von Faktischem verkürzt ist, zeigt sich das Religiöse als wortloses Phänomen, das in jeder Hinsicht unvermittelbar bleibt. Deshalb müssen alle Versuche, auf dem Boden der Traktat-Philosophie eine Religionsphilosophie zu etablieren, scheitern. Was bleibt, ist ein stummes Handeln, schlichtes Gut-Sein, motiviert aus einem rein persönlichen Erlebnis. Kein Wunder, wenn Wittgenstein in dieser Not auf die Poesie verweist, wo er etwa im Gedicht »Graf Eberhards Weißdorn« von Uhland – das nach Karl Kraus »so klar ist, dass es niemand versteht«52 – das gleiche »Sichzeigen« des Unsagbaren entdeckt wie im Traktat: »Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!« Wittgenstein versucht zwar, ab 1930 in seinen »Bemerkungen über Frazers Golden Bough«53 durch die Ritualisierung des mystischen Erlebnisses im »zeremoniellen Tier« einen Weg in die Kommunikation zu finden; aber der Durchbruch gelingt erst im Spätwerk, in dem die enge Sprachauffassung des Traktats überwunden wird. Das 49 Wittgenstein (1989) S. 9–19. 50 »Dies ist, wie gesagt, eine ganz persönliche Sache, und andere würden andere Beispiele eher frappierend finden.« Wittgenstein (1989) S. 14.

51 A.a.O. S. 10. 52 Zitiert nach McGuiness (1988) S. 387. 53 In Wittgenstein (1989) S. 29–46.

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Ernstnehmen jener Gefühle, der Erfahrungen von Kontingenzen und der Einsichten in die Grenzen des Sagbaren zwingt uns zu einem offeneren Sprachverständnis, das heißt zu einer kommunikablen Idee der Kontingenzbegegnung mit einem ontischen Vorbehalt. Beim späten Wittgenstein läuft dies auf die Möglichkeit religiöser Sprachspiele hinaus. Die sprachtheoretische Wende in Wittgensteins Spätphilosophie, in der sich dieser von der Fixierung auf eine logisch-naturwissenschaftlich geprägte Methode löst, ebnet im Gegensatz zur Frühphilosophie den Weg zu einer gewissen Rehabilitierung der Religionsphilosophie. Mit der Hinwendung zur Alltagssprache und der These, dass sich alle Wortbedeutungen in ihrem regelhaften Gebrauch innerhalb von »Sprachspielen« konkretisieren, kommt ein pragmatisches Element zur Geltung, das der Möglichkeit von Religion offener entgegentritt. Zugleich setzt der pragmatische Bezug ein durch Sprachkommunikation erzeugtes vorgängiges Weltverständnis voraus, das jeglichen Atomismus, wie wir ihn im Traktat vorfinden, unglaubwürdig erscheinen lässt. Wenn Sprache durch ihren Gebrauch in bestimmten Kommunikationszusammenhängen Wirklichkeit konstituiert, dann ist es naheliegend, auch dem Sprachgebrauch in religiösen Gemeinschaften diese Fähigkeit zuzusprechen. Die den Sprachgebrauch regulierenden Funktionseinheiten nennt Wittgenstein Sprachspiele. Die charakteristischen situativen Bedingungen für einen bewährten Umgang mit einem solchen Sprachspiel bezeichnet Wittgenstein mit dem Begriff der Lebensform, der dem in der Hermeneutik verwendeten Begriff der Lebenswelt nahe kommt, aber nicht mit dem geschichtlichen Lebensweltbegriff bei Husserl und Blumenberg identifiziert werden darf. Die entscheidende Frage lautet demnach, ob ein – einer religiösen Lebensform zugeordnetes – funktionierendes »religiöses Sprachspiel« einen analogen Wirklichkeitsanspruch erheben kann wie die zahlreichen nicht-religiösen Sprachspiele. Obwohl Wittgenstein selbst den Begriff des religiösen Sprachspiels nicht verwendet und dieser erst bei zahlreichen Epigonen54 konkretere Formen annimmt, gibt er in seinen 54 Dabei werden recht kontroverse und auch reduktive Standpunkte vertreten. Wichtige Beiträge liefern Phillips, Hordern, High, Ramsey, Hepburn; besonders reduktiv

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»Vorlesungen über den religiösen Glauben«55 Beispiele von solchen Funktionseinheiten, die den Gebrauch von Wörtern wie »Glauben«, »Gott« oder »Vorstellungen vom Tode« betreffen. Im letzten Fall verwendet Wittgenstein sogar das Wort »Spiel«: »Wenn das, was er seine ›Vorstellung vom Tode‹ nennt, relevant werden soll, muss es zu einem Teil unseres Spiels werden« (107). Für unsere weiteren Überlegungen steht die Frage im Vordergrund, ob die religiösen Sprachspiele, die offensichtlich eine Sonderrolle einnehmen, auch als solche identifiziert werden können. Das heißt, ob dort gewisse Begriffe prinzipiell andersartig verwendet werden als im gewöhnlichen Sprachgebrauch, zum Beispiel als absolute Metaphern und nicht als gängiges Mittel zur Charakterisierung, Differenzierung und Klassifizierung verschiedener Gegenstände. Betrachten wir das Beispiel vom Glauben an das Jüngste Gericht, mit dem die »Vorlesung« anhebt: »Angenommen, jemand wäre gläubig und sagte ›Ich glaube an das Jüngste Gericht‹, und ich sagte ›nun ich bin da nicht so ganz sicher. Vielleicht.‹ Man würde doch sagen, dass ein Abgrund uns beide trennt. Wenn er sagte ›Das da oben ist ein deutsches Flugzeug‹, und ich antwortete ›Vielleicht, ich bin nicht ganz sicher‹, würde man sagen, dass unsere Ansichten sich ziemlich nahekommen«(87). Während das zweite Beispiel sich auf einen problemlosen verifizierbaren Sachverhalt bezieht, stellt der Glaube an das Jüngste Gericht nach Wittgenstein eine »Lebensregel« (88) oder ein verhaltensregulierendes Bild dar. Denn dieser Glaube erhält seinen Sinn erst durch die Vielzahl von Bezügen, zum Beispiel zu bestimmten moralischen Vorstellungen, zu jenseitigen Hoffnungen auf Gerechtigkeit, zur Existenz einer allmächtigen Instanz usw. Wenn jemand von seinem Glauben an ein Jüngstes Gericht spricht, so ist das nicht nur eine Aussage darüber, dass dieses künftig tätig sein wird. Deshalb handelt es sich beim Zweifel des Gesprächspartners nicht um eine schlichte Negation jener argumentiert Braithwaite, bei dem die ethische Komponente das Religiöse stark relativiert. Einzelheiten in Dalferth (1974), Schrödter (1979) und Wuchterl (1982). 55 Enthalten in Wittgenstein (1971) S. 87–110. Die folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf dessen »Vorlesungen über den religiösen Glauben«.

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Aussage (also »es wird nicht tätig sein und die erhoffte Gerechtigkeit realisieren«), sondern es wird die gesamte regulative Funktion des Bildes in Frage gestellt. Davon kann im Beispiel des Flugzeugs keine Rede sein. Religiöse Sprachspiele sind häufig solchen totalen Verweigerungen ausgesetzt. Trotzdem scheinen sie nach den gleichen Regeln wie die nicht-religiösen abzulaufen; denn jeder versteht die einzelnen verwendeten Wörter, weil jeder deren individuellen Gebrauch kennt. Es sind aber nichtsdestoweniger verschiedene Gebrauchsweisen! Wenn das Gespräch mit einem anderen Glaubenden geführt wird, dann verlaufen die Auseinandersetzungen in den gleichen Bahnen wie in nichtreligiösen Fällen. Diese Tatsache wird häufig dadurch umschrieben, dass man betont, man könne Glaubensfragen nur richtig verstehen, also das entsprechende Spiel mitspielen, wenn man selbst gläubig sei. Hermeneutiker werden hier auf die Rolle des Vorverständnisses verweisen und keinen Unterschied sehen. Wenn man bestimmten Wortverbindungen (im extremen Fall durch explizite Angabe) ansieht, dass es sich um absolute Metaphern handelt, bei denen in einem Vorbehalt die ontologischen und semantischen Geläufigkeiten außer Kraft gesetzt sind, können Sprachspiele ihren üblichen Gang nehmen. Es handelt sich dann um religiöse Sprachspiele und diese unterscheiden sich durch eben jenes Vorkommen der absoluten Metaphern von nicht-religiösen Sprachspielen. Wittgenstein bestätigt diesen Zusammenhang, indem er nach der Begründung des Geglaubten fragt. Für ihn gibt es für solche Regulative (wie das Bild vom Jüngsten Gericht oder vom alles bedingenden Gott) keinen Grund. Der jeweils Glaubende hat »vielmehr das, was man einen unerschütterlichen Glauben nennt. Und der wird sich nicht beim Argumentieren oder beim Appell an die gewöhnliche Art von Gründen für den Glauben an die Richtigkeit von Annahmen zeigen, sondern vielmehr dadurch, dass er sein ganzes Leben regelt« (88). Zur Legitimation solcher Regulative äußert sich Wittgenstein in seinen grammatikalischen Zustandsbeschreibungen nicht.56 Das wird mit 56 »Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht

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Recht als unbefriedigend empfunden. Aber man kann vermuten, dass er hier – wie im Umfeld der Traktat-Philosophie – wieder Erfahrungen ausklammert, die nach seiner Meinung nicht zur Philosophie gehören, ihn aber zu einem toleranten Umgang mit religiösen Freunden und Institutionen veranlasste. Geht man davon aus, dass Wittgenstein im Ringen mit den Grenzen des naturwissenschaftlichen und des vernunftphilosophischen Denkens selbstverständlich zu einer Kontingenzanerkennung geführt wurde, so zeugen die auf private Gefühle bezogenen Ausführungen zu den religiösen Regulativen darüber hinaus von einer Kontingenzbegegnung. Diese wiederum steht unter einem ontischen und semantischen Vorbehalt, der zu verschiedenartigen und intersubjektiv nicht fassbaren Ausprägungen von Metaphern führt. Am brisantesten sind die Überlegungen zum Gottesproblem, das heißt bei Wittgenstein zum Gebrauch des Wortes »Gott«. In den »Vorlesungen« füllen sie den zweiten der drei Abschnitte. Wie in der gesamten Spätphilosophie57 steht am Anfang der sprachkritischen Untersuchungen meist die Frage, wie das problematisierte Wort erlernt wird.58 »Das Wort ›Gott‹ gehört zu denjenigen, die am frühesten gelernt werden – [in] Bilder[n], Katechismen usw. Aber diese Bilder haben nicht dieselben Folgen wie die Bilder von Tanten. Man hat mir nicht das gezeigt (was das Bild abbildet). Dieses Wort wird wie ein Wort gebraucht, das eine Person repräsentiert. Gott sieht, belohnt usw.« Sogleich weist Wittgenstein auf eine wesentliche Eigenart hin: »Ich habe gelernt, was es nicht bedeutet. Ich habe mich selbst dazu gebracht, das zu verstehen« (95). Mag sein, dass heute die Situation etwas anders ist und das Wort den Kindern erst spät begegnet, etwa im Zusammenhang mit Phantasiegestalten aus den Medien. Aber sobald man mit diesem Wort begründen. Sie lässt alles wie es ist« (PU 124). »Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts« (PU 126). 57 Die »Vorlesungen« fanden 1939 statt, also lange nach dem »Braunen Buch« (1934/35) und den Vorarbeiten für die PU im Jahre 1936. 58 Dieses Vorgehen hat in der analytischen Philosophie Schule gemacht und wurde zu einem Prinzip erweitert, nämlich durch die Einbeziehung der Etymologie auch die geschichtliche Dimension zur Klärung des Sprachgebrauchs heranzuziehen. So z. B. Zimmermann (2010) S. 84. Siehe unten 11.2.

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konfrontiert wird, erfolgt auch hier die gleiche eingeschränkte negative Charakterisierung. Natürlich müssen alle kindlichen Wortaneignungen später transformiert werden, wobei zahlreiche Existenznachweise nachgeholt werden. Aber bei dem Wort »Gott« erfolgen selbst bei gläubigen Menschen alle Modifikationen einschränkend: »Gott ist Vater, – aber nicht vergleichbar mit unserem körperlichen Vater«; »Gott liebt uns – aber ganz anders, als Menschen uns lieben«; »Wir werden Gott schauen, – aber erst nach dem Tode«. Bei gläubigen Menschen behält trotzdem das Bild »Gott« die ursprüngliche regulative Funktion, obwohl dieses kognitiv immer unbestimmter wird. Fehlt bei Zweiflern wegen der Unmöglichkeit der direkten Verifikation die regulative Funktion des Bildes, können diese mit Antony Flew sagen: »Eine schöne, kühne Hypothese kann so schrittweise den Tod durch tausend Modifikationen erleiden.«59 Für uns sind dies dagegen Formen des Hinweises auf den ontischen Vorbehalt und auf den Metapherncharakter. Diese Andeutungen reichen natürlich in keiner Weise aus, daraus eine Religionsphilosophie Wittgensteins abzuleiten. Auch in den Niederschriften der späteren Jahre sind nur spärliche Hinweise und sehr unterschiedlich interpretierbare Bruchstücke zu dieser Thematik zu finden. Selbst persönlicher gehaltene Notizen wie in den Vermischten Bemerkungen und in Über Gewissheit lassen nur auf eine diffuse Religiosität, nicht aber auf eine aus dem neuen Sprachkonzept argumentativ ableitbare Legitimation religiöser Sprachspiele schließen. Trotzdem ist die Vielfalt solcher Andeutungen erstaunlich. Sie hat im englischsprachigen Bereich das religiöse Potenzial der Anregungen Wittgensteins entfaltet und so geradezu zu einer Rehabilitierung der Religionsphilosophie geführt. Im Folgenden interessieren uns vor allem jene Konzeptionen, in denen der konstitutive Bezug auf Kontingenzbegegnungen deutlich in Erscheinung tritt.60 59 Vgl. die »Gärtnerparabel«, in der der unsichtbare Gärtner sich ins Nichts auflöst. Zitiert nach Dalferth (1974) S. 85. 60 In Wuchterl (1982) Abschnitt 2.3 werden anhand einiger Beispiele drei charakteristische Grundformen der analytischen Religionsphilosophie dargestellt, in denen religiöse Sprachspiele ganz verschiedene Rollen spielen. Es handelt sich um reduktive

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Große Beachtung fand und findet auch heute noch Dewi Z. Phillips Werk The Concept of Prayer (1965). Hier ist die Anknüpfung an Wittgenstein offenkundig. Für beide ist die Sprache konstitutiv, und die sprachbezogene Realität hängt eng damit zusammen, wie in der jeweiligen Sprachgemeinschaft gedacht und gehandelt wird. Für die religiöse Wirklichkeit heißt dies: »Wir müssen den Gebrauch religiöser Begriffe erlernen […]. Den Gebrauch dieser Sprache zu kennen, heißt Gott zu kennen. Das allgemeine Wissen von Gott ist Religion.«61 Für Phillips realisiert religiöses Sprechen in einer Gemeinschaft ein Sprachspiel, das sich von nicht-religiösen Sprechweisen durch den Bezug auf Gott wesentlich unterscheidet. Ein solches Sprachspiel ist autonom, das heißt, die religiösen Aussagen haben in der Glaubensgemeinschaft ihren Sinn in sich; nur die aktive Teilnahme an der religiösen Kommunikation ermöglicht ein adäquates Verstehen des Gemeinten. Durch eine strenge Scheidung von religiösem und philosophischem Verstehen (251) verliert jede Philosophiekritik ihre Basis und alle Reduktionsversuche, etwa auf das Moralische, gehen ins Leere. Phillips gibt sich große Mühe, diesen weitgehenden Thesen ihren Immunisierungscharakter zu nehmen, indem er auf naturalistische Fehlschlüsse in der Religion hinweist (101) und so Kritik übende Sprachspiele als falsch auszuweisen sucht. Aber solchen offensichtlich philosophischen Rettungsversuchen können mit gleichem Recht philosophische Kritiken zur Seite gestellt werden. Nur wenn die Grenzen des philosophischen, sich auf Vernunft berufenden Argumentierens anerkannt werden, wird die Möglichkeit eines anderen Sprechens plausibel. Man muss also die zahlreichen durchaus treffenden Charakterisierungen der Eigenart des religiösen Sprachspiels durch Phillips auf die Metaphernebene erheben und den religiösen Leitbegriff »Gott« als Zentralchiffre der Kontingenzbegegnung deuten. Die zugehörigen Aussagen erfolgen dann innerhalb einer Gemeinschaft, die sich etwa als bestimmte Konfession auf gleiche Bildmuster und sprachliche Ausdruckformen eingerichtet hat. Der Tendenzen, um die Autonomie des Religiösen und um die Einordnung des Religiösen in Lebensformen. 61 A.a.O. S. 50. (Übersetzung von K.W.).

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ontische Vorbehalt braucht dann nicht stets wiederholt zu werden und wird stets mitgedacht. Unter solchen Voraussetzungen leuchten die folgenden Ausführungen Phillips als treffende Phänomenbeschreibungen ein. Hier einige Beispiele: »Um zu sagen, was mit dem Glauben an Gott gemeint ist, muss man in Betracht ziehen, was Gott für die Gläubigen der Religion bedeutet, muss man ein gewisses Gefühl für das Spiel haben. Wir müssen fragen, was die Verehrung eines ewigen Gottes in der Lebensweise, in der sie ihr Leben hat, bedeutet« (251); »Man könnte die These aufstellen, je lockerer die Beziehung zwischen dem Gebet und dem übrigen Leben der Person ist, desto verdächtiger wird das Gebet; die Ähnlichkeit mit dem Aberglauben wächst« (115); »Das Wesen des Gotteslobs liegt im Gebet selbst, weil ohne Gebet diese Verehrung nicht ausgedrückt wird. Genau wie wir in dem, was wir zueinander sagen, offenbaren, wie wir selbst sind, so offenbaren wir uns selbst auch in dem, was wir zu Gott sagen. Folgender Unterschied besteht: im letzteren Fall offenbaren wir dies uns selbst. Das Gebet drückt eine Seinsweise aus, einen Zustand unserer Seele« (109/110). Geradezu wie eine Aussage Wittgensteins klingt der folgende Passus: »Gott danken zu können, bedeutet die Welt lieben zu können. […] Durch die Danksagung erkennt der Gläubige, dass das Leben Hoffnung hat; er ist von der Verzweiflung, vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit befreit. […] Die Welt als Gottes Schöpfung zu sehen, heißt im Leben Sinn zu entdecken« (97). Dies alles leuchtet dem Christen ein, der sich in einer Gemeinschaft mit Menschen sieht, die in ähnlichen Metaphern und Bildern eine bestimmte Möglichkeit der vor allem aus der Inkarnationsidee gespeisten Kontingenzbegegnung leben. Und dies alles hört sich wie Wortgeklingel an für den, der glaubt, Worte wie »Gott«, »Liebe« oder »Dank« hätten hier die gleiche Bedeutung oder den gleichen Gebrauch wie in einem alltäglichen Gruß, einer Liebesgeschichte oder einer Höflichkeitsfloskel. Phillips hat aus der Vielfalt der von Wittgenstein angeregten Interpretationsmöglichkeiten eine ausgewählt, dabei aber die Autonomie der Sprache zu stark in den Vordergrund gerückt.

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Wie einseitig dies ist, erkennt man, sobald man die Beispiele von Sprachspielen im Allgemeinen bei Wittgenstein betrachtet, etwa in PU 23. Dort betreffen Sprachspiele das Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen – Berichten eines Hergangs – Theater spielen – »Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.« Davor heißt es: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« Hier kann man sich vorstellen, dass jeder Mensch zu jeder Zeit in die eine oder andere Rolle schlüpft, also vormittags Gegenstände beschreibt, mittags betet und abends Theater spielt. Die religiöse Tätigkeit hätte mit den anderen Handlungen nicht das Geringste zu tun. Aber das widerspricht den obigen Ausführungen in Wittgensteins »Vorlesungen« genauso wie dem allgemeinen Pathos der zitierten Stellen von Phillips (insbesondere S. 115). Wittgenstein erwähnt zwar auch inkommensurable Sprachspiele wie die 1. Person- und die 3. Person (Singular)-Äußerungen, meistens aber sind die Sprachspiele nicht vergleichbar und daher auch nicht inkommensurabel. Die Missverständnisse ergeben sich vor allem daraus, dass der Sprachspielbegriff vieldeutig und viel zu unscharf ist, um mit diesem die religiösen Phänomene ganz allgemein – das heißt, eben als durch jenen Sprachprozess erschaffene – verstehen zu können. Aus diesen Vieldeutigkeiten ergeben sich verschiedene Abgrenzungsversuche des Religiösen mit verschiedenen Terminologien. Allerdings treten immer wieder Versuche in den Vordergrund, eine schwer beschreibbare Grundhaltung, die eine Gesamtpersönlichkeit in allen Stadien des Lebens prägend begleitet, trotz aller Schwierigkeiten sprachlich zu umreißen. Dieser universelle Aspekt scheint das Entscheidende zu sein. Bei Richard M. Hare ist es der richtige »blik«, der die Unerschütterlichkeit des Glaubens ermöglicht, und sich vom falschen »blik« des Irren unterscheidet, der trotz aller offensichtlichen Gegenbeweise im Verfolgungswahn befangen bleibt.62 Ian T. Ramsey spricht von engagierten »Erschließungssituationen« (disclosure situations), die zunächst als 62 Wortlaut der zugehörigen Parabel in Schrödter (1979) S. 107. Dort findet man auch zu den folgenden Beispielen Einzelheiten und Quellen.

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merkwürdig (odd) beurteilte Sachverhalte in das richtige Licht rücken; für Paul van Buren geht es um ein an die Ränder der Sprache Gehen (end-statements), dem er sogar eine logische Struktur zuschreibt; bei Donald D. Evans schließlich hat die Inblicknahme (onlook) den Charakter eines existenziellen Sprechakts, in dem der verbindliche Einfluss auf das Gesamtleben realisiert wird. In den meisten Beispielen, deren Liste noch verlängert werden könnte, übernimmt dabei der Gottesbegriff eine entscheidende Funktion, um die Prägungskraft als spezifisch religiöse zu signalisieren und zu bestimmen. Unser Vorschlag, den religiösen Charakter des Sprachspiels durch den expliziten Hinweis auf die Verwendung von Metaphern offenkundig zu machen, scheint zunächst die Probleme nur zu verschieben. Denn ein nicht weiter legitimierter Hinweis würde ausreichen, die Autonomie zu begründen und so Religiöses zu stiften. Um ein solches fideistisches Vorgehen zu vermeiden, muss also der Metapherngebrauch allgemein gerechtfertigt werden. Nur wenn es gelingt zu zeigen, dass das scheinbar Unübliche im religiösen Fall auch in anderen kommunikativen Kontexten (z. B. in der Dichtkunst) wirksam ist, kann der Vorschlag sinnvoll sein. Eine wertvolle Hilfe hierfür bieten die Untersuchungen Dallas M. Highs in Language, Persons, and Belief, die direkt an Wittgensteins Auffassungen über die im Titel genannten Themen anknüpfen.63 High versucht, durch die Betonung der Personalität des Sprechenden die Hermetik des Ansatzes von Phillips zu korrigieren und den damit verbundenen Fideismus-Vorwurf zu entkräften. Der Fehler liegt nach High in der Überbetonung des Regelhaften in Sprachspielen (86). Es ist kein Zufall, dass sich Wittgenstein auf keine Definition des Sprachspiels festgelegt und auf die gleichwertige Bedeutung von nicht rein sprachlichen Elementen hingewiesen hat. Denn für ihn,64 wie auch 63 Untertitel: «Studies in Wittgenstein’s Philosophical Investigations and Religious Usages of Language «(1967). Die folgenden Seitenzahlen betreffen High (1967). (Zugehörige Übersetzungen von KW). 64 Z. B. PU 7: »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, ›Sprachspiel‹ nennen.«

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für High, ist Sprache weniger ein Konglomerat von Regeln, wonach man sich richten muss, als vielmehr die in überschaubaren Bereichen ablaufende Interaktion der beteiligten Personen (84). Für diese Sprachhandlungen sind persönliche Fürwörter von Bedeutung, vor allem das selbstreflexive »ich«. In Highs Bemerkungen zur Rolle dieses Pronomens wird deutlich, was wir in unseren Betrachtungen zur religionsphilosophischen Kontingenz als »existenziellen Bezug« bezeichnet haben. Wenn »ich« in Sätzen als Subjekt verwendet wird, dann versucht nicht nur der Sprechende durch die Selbstreflexivität auf seine Gedanken, Gefühle und Interessen aufmerksam zu machen, sondern er lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auch auf die Selbstreflexivität des Hörenden, so dass in allen Beteiligten ein Selbstinteresse aktiviert wird, das sich letztlich im Begriff des Existenziellen artikuliert. Die Eigenart des Existenziellen im religiösen Sprachspiel ist nur eine besonders in den Vordergrund gerückte Konsequenz dieser alltäglichen Selbstreflexivität. Hier zeigt sich die Unmöglichkeit, die Erfahrung des Existenziellen im Anderen durch Beschreibung vermitteln zu wollen. Das Verstehen anderer Personen und allgemein die Kommunikation zwischen Menschen offenbart Grenzen, die im Sprachspiel nach eingespielten Regeln übersprungen und in der religionsphilosophischen Reflexion zu Tage treten. Aus den Überlegungen Highs, die in dem genannten Werk ganz auf den Gebrauch des Wortes »glauben« konzentriert sind, folgt damit ganz allgemein, dass bereits im alltäglichen Umgang zwischen Personen Glaubensakte vollzogen werden, die Vertrauen, Treue und Zugeständnisse von Werten für andere Personen einschließen. Diese schon im Profanen feststellbare Transzendenz des Personalen, in der die Grenzen des Zugangs zu anderen Menschen überschritten werden, ist durch ihre Alltäglichkeit zur Selbstverständlichkeit geworden. Die menschliche Personalität ist demnach durch ihren Bezug zu anderen Menschen so angelegt, dass in ihr auch die mögliche Beziehung zu Gott als dem schlechthin Anderen bereits mitgegeben ist. Die latenten Metaphern im alltäglichen Sprechen über menschliche Beziehungen bereiten den Boden für eine Verwendung absoluter Metaphern in religiösen Kontexten.

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Sowohl bei Heidegger als auch bei Wittgenstein lassen sich zahlreiche schwer verständliche Aussagen aus der Perspektive einer Kontingenzbegegnung neu interpretieren. Für beide sind Grenzerfahrungen und die Problematik des Unsagbaren selbstverständlich; beide suchen Wege, die damit zusammenhängende Not der Vermittlung des Selbsterfahrenen zu überwinden. Ihre metaphorischen Antworten geben religiösen Alternativen freien Raum und distanzieren sich nur von extremen Fehlformen säkularer Ordnungen, ohne deren Grundlagen zu erschüttern. Eine solch offene Einstellung ist bei anderen Denkern nicht immer gegeben. Schon bei Heidegger lassen sich Tendenzen beobachten, sich selbst als Prophet eines allgemeinen Seinsgeschehens zu verstehen, in dessen Zukunft eine neue Welt erscheint. Damit verbunden ist die Versuchung, die eigene Metaphernwahl (bezüglich des SEYNs oder der Geschichtlichkeit) zu verabsolutieren. Diese Tendenz wird in der nachfolgenden Zeit, die häufig auch als Postmoderne bezeichnet wird, noch verstärkt. Sie wächst proportional zum Niedergang traditioneller Glaubensvorstellungen und zur universalen Kritik säkularer Ordnungsprinzipien. Wir beginnen mit einer Beobachtung, die den kritischen Ausgangspunkt vieler Überlegungen im Umkreis der Postmoderne zu charakterisieren vermag. Die vorgetragene Kritik und behauptete Überbietung der Thesen der Moderne bezieht sich in den meisten postmodernen Arbeiten vorwiegend auf die Absage an ein wissenschaftlich und technologisch orientiertes Rationalitätsprinzip der Neuzeit. Diesem schreibt man eine nivellierende, ja repressive Logik sowie eine eindimensionale Herangehensweise an die Phänomene zu, das heißt näher sowohl eine Indifferenz gegenüber der Vielfalt der Erscheinungen als auch Tendenzen einer Totalisierung des Denkens unter der Verfügungsmacht einer abstrakten, Menschen verachtenden Technokratie. Das Pathos, mit dem diese Gedanken in zahlreichen sprachlich eindringlichen Varianten65 65 Zahlreiche Beispiele im so genannten »Positivismusstreit« der deutschen Sozio-

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verkündet werden, verdeckt die Tatsache, dass eine solche Radikalkritik ihre eigene Möglichkeit untergräbt, die neuen Sichtweisen überhaupt verständlich machen zu können. Vernunft hat viele Facetten, die in Form diverser Rationalitätstypen wirksam sind. Deshalb kann man die berechtigte Verurteilung der Exzesse der instrumentellen oder der logischen Folgerungsrationalität nicht zu einer philosophischen Kritik des Primats der Vernunft in toto ausweiten. Es hilft auch nichts, sich in den entscheidenden Fragen auf die »okkasionale Rationalität« zu beschränken, die in den Kritiken häufig als »deus ex machina« erscheint und von Lenk und Spinner folgendermaßen umrissen wird: »In konkreten Einzelfällen wird hic et nunc, sozusagen ohne allgemeinen Maßstab im Sinne einer konkreten situationsspezifischen ›rationalen‹ Lösung entschieden. In der okkasionalen Rationalität verbinden sich konkreter Realismus und Situationismus mit antitheoretischer Einstellung zu einer Art von postmodernem Präsentismus, der auf alle [sic!] allgemeinen Ideen, Prinzipien und Regeln verzichtet.«66 Der leitende Gedanke, der dazu verführt, eine solche im Allgemeinen schlicht als »Willkür« bezeichnete Verhaltensweise als »rational« zu bezeichnen, ist offensichtlich der, dass neue historische und gesellschaftliche Situationen es vernünftig oder rational erscheinen lassen, anders zu denken und zu handeln als in vergangenen Zeiten. Aber aus der Ablehnung der oben genannten fundamentalen Rationalitätstypen folgt, dass die verschiedenen Formen des Andersdenkens – sei es als Metaphysikkritik oder als Dekonstruktion – inhaltlich nicht mehr festgelegt werden können. Das Pochen auf einen puren Pluralismus signalisiert zwar eine Kontingenzanerkennung, wird aber durch das Bestehen auf einer möglichen authentischen Existenzweise trotz des Verlustes aller traditionellen und moralischen Bindungen und jeder gesellschaftlichen Solidarität zu einem Rückfall in die autonome Vernunft eben dieser Moderne. Das Engagement für Freiheit und Tologie. Siehe dazu Wuchterl (1997) 1.4 und Wuchterl (1999) 6.1a (»Der Mythos der totalen Vernunft«). 66 Die okkasionale Rationalität ist ein Typus in der zwei Dutzend umfassenden Liste von Rationalitätstypen in: Lenk/Spinner (1989); Zitat S. 7.

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leranz, für eine avantgardistische Kunst und für eine erneuerte Kultur, das in den postmodernen Alternativen dann doch tragend wird, löst sich aber ohne eine nicht-okkasionale Vernunft im Rücken in Sinnlosigkeit und Absurdität auf. In den vielen Fällen, in denen trotzdem auf der radikalen Distanz zur Moderne bestanden und diese Absurdität nicht eigens als neue Lebensform propagiert wird, verbleiben jedoch massive Verständnisschwierigkeiten, wenn man die Lösungsandeutungen nicht im Sinne von Chiffren einer Kontingenzbegegnung interpretiert. Dass dies möglich ist, dann aber doch nicht bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt wird, soll im Folgenden gezeigt werden. Der erste Philosoph, der sich ausdrücklich zu einer Postmoderne als Denkform bekannte und damit zum Initiator der postmodernen Philosophie wurde, ist Lyotard. Von ihm stammt die von uns schon öfter verwendete Formulierung vom »Ende der großen Erzählungen«, die er speziell auf die einflussreichsten Strömungen in der Nachfolge der Aufklärung und des deutschen Idealismus bezieht.67 Dabei denkt er vor allem an Hegel, Marx und die positivistische Naturwissenschaft. Seine Kritik lehnt jede Philosophie der Totalität ab, insbesondere die weit verbreitete Form der vermittelnden Dialektik, in der sich alle Widersprüche auflösen; ferner entlarvt sie die Utopien der emanzipierten Vernunft als leere Versprechungen und verdächtigt die wissenschaftliche Strenge als eine Form von Machtausübung. An die Stelle solcher Meistererzählungen tritt bei Lyotard die Pluralität der in unauflösbarem Widerstreit stehenden Positionen; es sind jene kleinen Geschichten einer »narrativen Philosophie«. Dies alles steht in bestem Einklang mit unseren früheren Beschreibungen,68 in denen die Dogmatik der autonomen Vernunft als Bedingung der Möglichkeit solcher Universalsysteme erkannt wurde. Problematisch wird der auch von uns beobachtete Pluralismus aber dort, wo dieser von den Anhängern der Postmoderne zu einer inhaltlichen philosophischen Alternative hochstilisiert wird, die eine neue Erkenntnisqualität von Wirklichkeit propagiert. Lyotard beruft sich dabei auf 67 Lyotard (1986) S. 13. 68 Siehe Abschnitt 8.

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Wittgenstein und setzt die inkommensurablen Positionen der »kleinen Erzählungen« in Bezug zu dessen autonomen Sprachspielen.69 Dabei erblickt er nicht nur innerhalb der Wissenschaft, der Moral sowie der Freiheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen ausschließlich atomisierte Einheiten, die autistisch ihre Interessen gegeneinander stellen, und auch die übergeordneten Bereiche spielen ihre eigenen Melodien. Trotzdem springen die Assoziationen willkürlich von der sprachlichen zur kognitiven und schließlich zur normativ-praktischen und politischen Ebene. Es mögen ja einzelne Kritikpunkte und Beobachtungen zutreffen; der Mangel an argumentativen Rechtfertigungen in größeren Bereichen aber macht es unverständlich, wie die Einsicht in ein solches Chaos von möglichen Positionen eine lebensfähige Identität ermöglichen soll. Auch die Beschreibung solcher Sprünge als Akte einer »transversalen Vernunft« im »präzisen« Postmodernismus von Wolfgang Welsch70 vermag nicht zu überzeugen. Auffällig ist hier, wie ebenso bei Lyotard und anderen, dass trotzdem immer wieder von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit oder von der Verurteilung von Intoleranz, Gewalt und Terror die Rede ist.71 Das zeigt, dass im Rücken der Postmoderne die »große Erzählung« des humanen Ethos der Moderne weiterwirkt, weil diese Option die einzige Möglichkeit zu sein scheint, jene genannten Werte weiter zu vertreten. Nachdem deren metaphysische oder religiöse Begründung zurückgewiesen wird, erscheint dieses Bekenntnis als blinde Dezision, über die auch keine neue Terminologie und keine rhetorische Überredungskunst hinwegtäuschen können. Die Beobachtungen von Verflechtungen und Verknotungen im Netz der komplexen Wirklichkeit mit ihren widerstreitenden Aussagen etwa als Transversalität einer Vernunft zu deuten, gleicht der Quadratur des Kreises. 69 Das postmoderne Wissen (1986). Ausführlich in Abschnitt 3. »Die Methode: Die Sprachspiele«.

70 Welsch (1995): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft.

71 Lyotard (1986) Z. B. S. 190: »Der Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert, nicht aber die Gerechtigkeit.«

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Auch die zahlreichen Verweise auf die ästhetische Erfahrung (Welsch, Vattimo72 und viele andere) helfen nicht weiter. In der Kunst können zwar verschiedene Stile und Zitate nebeneinander bestehen. Aber es geht im Widerstreit eben beispielsweise nicht um Möglichkeiten einer Verbindung von ethischen mit ästhetischen Theorien, sondern um die Widersprüche in den ethischen Positionen selbst, deren konflikthafter Charakter durch keine Vernunft beseitigt werden kann. Auch die Berufung auf Wittgensteins Sprachspiele bei Lyotard verschiebt das Problem nur; denn die Diskussionen über die Autonomie der Sprachspiele bleiben – wie wir bei den Überlegungen zum religiösen Sprachspiel gesehen haben – weiterhin offen. Trotz Lyotards Hinweis auf die konstitutive Bedeutung des Widerstreits durch ihre Ansprüche im Kraftfeld der autonomen Vernunft der Moderne verharrt die Postmoderne in einem extrem verschleierten Zustand, so dass ihre Konturen kaum erfasst werden können. Solch fundamentale, im Widerstreit stehende Positionen können ohne indifferente Diskursverweigerung nur von Personen hingenommen werden, die diese als metaphorische Entwürfe betrachten und für eine Kontingenzbegegnung offen sind. Auch wir erkennen einen Konflikt zwischen Pochen auf Selbstorganisation, Verweis auf die Absolutheit der Vernunft und Vertrauen auf Kontingenzbegegnungen, bestehen aber auf der Notwendigkeit, sich zu einer dieser Möglichkeiten zu bekennen. Die Zurückweisung des Satzes vom Widerspruch in Dialektik, Mystik oder individuellen Spekulationen, die unsere Problematik betrifft, ist nicht realisierbar oder dient nur zur Verbrämung einer Verweigerung der »Mühen des Begriffs« (Hegel). Ähnliche Gedankengänge wie bei Lyotard, nur in anderer Terminologie, finden sich auch bei Gianni Vattimo. Dieser versteht sich ganz als Vertreter der philosophischen Hermeneutik, die von Gadamer im Geiste der Heidegger’schen Daseinsanalytik begründet und von Richard Rorty in eine postmoderne Gestalt transformiert wurde. Schon in der Einschätzung der Rolle dieser Hermeneutik tritt eine eigenar72 Welsch (1987) Kap. XII. »Transversale Vernunft«; Vattimo (1992) S. 72.

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tige Diskrepanz in Erscheinung. Obwohl Vattimo sich Rorty wegen dessen Angriffen auf die Begründungs- und Widerspiegelungslehren zum Vorbild ausgewählt hat, pocht er auf die Hermeneutik als die herrschende Meistererzählung: »Wollte man nämlich im heutigen Denken eine Tendenz anführen, die sich als die aktuelle philosophische koiné betrachten kann, so nimmt die Rolle, die der Marxismus in den fünfziger und sechziger Jahren und der Strukturalismus in den siebziger Jahren innehatte, heute die Hermeneutik ein.«73 Die Charakterisierung dieser Tendenz als »Säkularisierung der Philosophie« kann als eindeutiges Bekenntnis zur Autonomie des menschlichen Denkens gedeutet werden. Denn Vattimo bezieht sich ursprünglich auf Nietzsches Gottist-tot-Prophetie; für ihn entsteht die philosophische Postmoderne im Werk Nietzsches, das die Moderne dadurch auflöst, dass sie ihre Tendenzen radikalisiert: »Gott ›stirbt‹, getötet von der Religiosität, von dem Willen zur Wahrheit.«74 Der Tod Gottes steht als Metapher für das Ende des Begründungsdenkens und ist Teil der Erzählung eines Religionsverfalls. Die Betonung liegt auf der Form der Verkündigung Nietzsches, »die keine Struktur (die Nichtexistenz Gottes) beschreibt, sondern ein Ereignis erzählt.« (212).75 So schlägt Vattimo die Brücke zu Heideggers Ereignis-Philosophie. Nietzsches fabulierende Wegbeschreibung hin zum Nihilismus wird zur »Geschichte der Fabulisierung« (213), zu Heideggers Sage, An-Denken oder Geschick. Dem metaphysischen und spekulativen Denken wird ein erinnerndes Denken (vergleiche Heideggers »besinnliches« Denken) gegenübergestellt (221).76 Postmodernes Denken ist für Vattimo letztlich Fabulieren und erinnerndes Erzählen oder geheimnisvoller: An-Denken. Die säkularisierte Philosophie erscheint nicht als intersubjektiv verständliches und vermittelbares Gedankengebäude, »sondern in der Art einer nur ›oberflächlichen‹ Synthese, die Merkmale der Erbauung und somit 73 74 75 76

Vattimo (1993): Säkularisierung der Philosophie. S. 207. Vattimo (1988) S. 231. Seitenangaben zu Vattimo (1993). So kann es nicht verwundern, wenn Vattimo (1992, S. 65) Heidegger zum Philosophen der Postmoderne erklärt.

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eher ›rhetorische‹ als ›logische‹ Züge besitzt. Im übrigen hat auch die Wahrheit in ihrer säkularisierten Form – der einzig denkbaren für eine nicht-metaphysische Philosophie – nicht mehr die Merkmale der in einem einzigen, punktuellen Ausdruck erfassten Evidenz, sondern die der Überzeugungskraft eines Systems von Verweisen oder gar eines Systems mit tragendem ›Hintergrund‹.«77 Das Bekenntnis zur Rhetorik und die neue Terminologie verdecken die Leere des Ausgesagten und das Fehlen einer Alternative zum Begründungsdenken, das hier und an den meisten anderen Stellen stets auf ein völlig einseitiges, nur selten vertretenes Extrem bezogen wird. Sieht man von dem in zahlreichen Variationen wiederholten Vorwurf der planetarischen Vorherrschaft der wissenschaftlich-technischen Rationalität und der Deutung des Bewusstseins als Spiegel der Natur (Rorty) ab, sucht man vergeblich nach Hinweisen, warum man das durch Kontingenz und Willkür ausgezeichnete Pathos, die Alternativen zu vertreten, zum Leitfaden des Weltverständnisses werden soll. Alles zeugt von einer hoffnungslosen Ratlosigkeit. Die Positionen zwischen den Extremen eines positivistischen Standpunkts und einer geheimnisvollen »Verwindung der Moderne« (Vattimo78), wie sie in der Hermeneutik durchaus auch vertreten werden, bleiben unberücksichtigt. Während die Wahl der Worte bei Heidegger stets als Hinweis auf eine neue Tiefendimension verstanden werden kann, wird dies hier explizit zurückgewiesen: »Die Philosophie ist […] die ›Disziplin‹ der ›Reduktion‹ dieser vielfältigen Diskurswelten auf den unreinen, unbestimmten Zusammenhang der historisch-natürlichen Sprache« (219). Wie dieses einzige Fundament der »natürlichen« Sprache – möglicherweise jenes »System mit tragendem Hintergrund«, das oben erwähnt wird – die Verantwortung für die Zukunft garantieren soll (222), ist insbesondere in der perfekten Realisierung des Unbestimmten und Unreinen in der Sprache der neuen Medien das Geheimnis der postmodernen Propheten. Das Festhalten an der Kontingenz in ihrer primitivsten Form, in dem jegliche sinnstiftende Ord77 Vattimo (1993) S. 220. 78 Vattimo (1992) S. 50.

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nung geleugnet wird, endet mit der Apotheose der Unbestimmtheit schließlich in der Verweigerung des verantworteten philosophischen Diskurses selbst. Lässt man die zweifelhaften Versuche jener »säkularisierten« Philosophie, die radikal kontingente pluralistische Sichtweise zur einzigen Grundlage der praktikablen Lebensformen zu erklären, beiseite und wendet sich statt dessen dem hermeneutischen Grundgedanken einer vermittelnden Annäherung zu, so kann man durchaus auch Beispiele finden, in denen aus den Kontingenzerfahrungen die Möglichkeit der Kontingenzbegegnung erschlossen wird. Das trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf Derrida zu, obwohl er als Philosoph der Destruktion durchaus auf die Seite der zuletzt genannten Vertreter der Postmoderne gestellt werden kann. Wie Heidegger fühlt auch er sich auf dem Weg zu einem anderen Denken; seine Strategie unterscheidet sich nur wenig von Heideggers Destruktion der Metaphysik. Wie Adorno konzentriert auch er sich auf die Überwindung des Identitätsdenkens und sucht durch eine eigenwillige Interpretation des Nicht-Identischen als différance nach Möglichkeiten, die Alternative von Schweigen und Willkür zu überwinden. Ausgangspunkt ist die Aufwertung des geschriebenen Wortes, das zwar seit Platons Siebten Brief 79 im gesprochenen Wort einen Konkurrenten erhalten hatte, sich aber als Träger fester Bedeutungen durchsetzen konnte. Bei Derrida liegt jedoch der Schwerpunkt auf das als Schrift Erscheinende, das nun nicht mehr – wie zuletzt bei Ernst Cassirer eindrucksvoll entwickelt – als Symbol, sondern als (beliebigen) Interpretationen ausgesetztes Zeichen verstanden wird. Diese Wendung ermöglicht es ihm, an die vorliegenden philosophischen und literarischen Texte anzuknüpfen und sich damit auf eine Quasi-Realität zu beziehen. Mit Habermas kann man eine solche »steinerne Autonomie des Textes« als Ablösung von den Absichten des jeweiligen Autors ebenso wie von den Erwartungen des Lesenden beziehungsweise der Präsenz der angesprochenen Gegenstände verstehen.80 Damit sorgt 79 Siehe Platon Briefe 341 c,d. 80 Habermas (1985) S. 196.

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das geschriebene Wort dafür, dass der Text in immer wieder neu erfundenen Kontexten gelesen und verwertet werden kann. So erfolgt keine systematische oder argumentative Auseinandersetzung mit den Gedanken des Textes, sondern eine punktuelle assoziative Verbindung bestimmter Formulierungen mit anderen Textstellen, die Betrachtung und Verknüpfung von Zitaten, das Aufspüren von versteckten Konnotationen, ein Aufweis von Differenzen, eine ständige Variation der Perspektiven und vor allem eine einfallsreiche Entfaltung dessen, was gewissermaßen zwischen den Zeilen steht, also nicht gesagt, sondern verschwiegen, und häufig dem Gesagten entgegengesetzt wird. Natürlich ist dies keine »Methode« im geläufigen Sinn, wie Heinz Kimmerle betont, aber trotzdem lässt sich dieser Umgang mit den Texten, der häufig als »Dekonstruktion« bezeichnet wird, beschreiben.81 Dem unvoreingenommenen Leser erscheint Derridas Spiel mit Textfragmenten wie eine Ersetzung des Hesse’schen Glasperlenspiels durch ein Intellektuellen-Scrabble mit Gedankensplittern, gewagten Metaphern und politischen Ambitionen. Mit der von Heidegger übernommenen Immunisierungsformel von der gleichzeitigen Offenheit und Verborgenheit der Wahrheit lassen sich hier schnell Verbindungen des Verborgenen mit dem Verdrängten bei Freud herstellen, so dass das Spiel nicht nur Gedanken zur Kunst – neben der Schrift die zweite Konstante im Konzept Derridas – sondern auch die aktuellen, oft auf Politisches bezogenen Themen der Gegenwartsphilosophie einbezieht. »Derrida nimmt wie Heidegger ›das Ganze des Okzidents‹ in den Blick und konfrontiert es mit seinem Anderen, das sich durch ›radikale Erschütterungen‹ anmeldet – ökonomisch und politisch, d. h. vordergründig durch die neue Konstellation zwischen Europa und der Dritten Welt, metaphysisch durch das Ende des anthropozentrischen 81 Kimmerle (2004) S. 23. Letzteres bezweifelt dieser, weil dann die Destruktion als Theorietyp beurteilt würde. Dabei beruft er sich auf Adorno, gibt dabei aber zu erkennen, dass es sich bei beiden bereits um eine spezifische Interpretation des Destruktionsbegriffs handle, deren Berechtigung gerade geleugnet wird. Adorno: »Die Kategorien der Kritik am System sind zugleich die, welche das Besondere begreifen.« Dies trifft aber ebenso wenig zu wie ihre Überzeugung, »dass das Zum-Einsturz-Bringen zugleich schon ein Wieder-Aufbauen ist« (a.a.O. S. 28).

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Denkens«, beschreibt Habermas Derridas Projekt. Hierin betrachtet sich Derrida voll als authentischer Schüler Heideggers und Habermas betont, dass Derrida »nicht ohne Sinn für den Kairos der zeitgeschichtlichen Situation« diese Rolle im Mai 1968 reklamierte.82 Die Möglichkeit, innerhalb solcher Beziehungsnetze unverbindliche Entdeckungen eben auch im Namen des An-denkens an das »Andere« zu machen, kommt im Begriff der transversalen Vernunft (Welsch) zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang erscheint Derrida so als Extremfall der sich im Beliebigen verlierenden Postmoderne. In einer solchen Deutung aber bliebe sein Differenzgedanke völlig unbeachtet, der von der Adorno’schen Identitätskritik her verstanden werden muss. Denn diese kondensiert sich bei Derrida im Begriff der Differenz, dessen diesbezügliche spezifische Bedeutung von ihm durch die Schreibweise »différance« hervorgehoben wird und Kimmerle veranlasst, das Gesamtwerk Derridas als eine »Philosophie der Differenz« zu bezeichnen.83 Differenz enthält den Gedanken des Stehenlassens und Anerkennens des Anderen als solches und der Vermeidung der Identifizierung von Nichtzusammengehörigem. In der Abhandlung Die Stimme und das Phänomen, die gleichzeitig mit der Grammatologie und Die Schrift und die Differenz im Jahre 1967 erschienen ist, wird deutlich, dass die fundamentale Bedeutung des Differenzgedankens vor allem aus der Auseinandersetzung mit der Husserl’schen Phänomenologie des Zeitbewusstseins verstanden werden kann.84 Dort geht es um die Frage, wie etwas in der Welt anwesend sein kann und welche Rolle dabei die Sprache und das Bewusstsein spielen, genauer, in welchem Verhältnis Ausdruck, Bedeutung und Erlebnis zueinander stehen und wieso in diesem Bereich falsche Identifizierungen von Verschiedenem geschehen. 82 Habermas (1985). S. 191. Auch wenn hier auf Heideggers »Brief über den Humanismus« Bezug genommen wird, erinnert dies zugleich auch an dessen misslungene Deutung des Anderen im Zusammenhang mit dem Nationalismus. 83 Kimmerle (2004) S. 17. 84 Eine detaillierte Beschreibung der Kritik Derridas an Husserls Behauptung der Idealität der selbstidentischen Bedeutung durch intuitiv zugängliches Erleben und die dabei wirksame Rolle der Differenz findet man bei Habermas (1985) S. 255 ff.

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Derrida entwickelt dieses Differenzdenken am Husserl’schen Evidenzbegriff der »Logischen Untersuchungen« und kritisiert dessen Annahme, dass Bedeutungen als reine Phänomene in der Erfüllung von Bedeutungsintentionen zur Gegebenheit kommen, wobei der zugehörige Erlebnisakt im Bewusstsein von allen empirischen Beimengungen gereinigt sei. Für Derrida jedoch müsste die Bedeutungserfüllung den im sprachlichen Akt intendierten reinen Gegenstand in der Zeit konstituieren, die aber erst in den späteren Überlegungen Husserls85 berücksichtigt wird. In dessen Zeitanalysen wird der Erfüllungsakt in der Gegenwart in ein Feld von Vor- und Rückblicken eingebettet, so dass erst diese »Protentionen« und »Retentionen« die reine Anschauung ermöglichen. Hier setzt Derrida mit seiner Kritik an. Die von Husserl behauptete innere Einheit des in der Intuition Gegebenen sei in Wirklichkeit ein Zeitigungsvorgang, in dem Verschiedenes fälschlich identifiziert wird und vor allem die Rolle des sprachlichen Zeichens falsch eingeschätzt werde. An die Stelle der Idealität von Bedeutungen tritt bei Derrida die »Idealität der sinnlichen Form des Signifikanten«,86 also des geschriebenen Zeichens, die jene Aufwertung des geschriebenen Wortes erklärt. Was im Vergegenwärtigungsprozess des Bewusstseins geschieht, zerstört demnach als Zeitigungsprozess der eingeschlossenen Retentionen und Protentionen die behauptete Einheit und verrät damit ein Moment der Andersheit. Nach Derrida ist es nur das sprachliche Zeichen, das als ideale Einheit wirkt, damit es in der Zeit wiedererkannt und anderweitig verwendet werden kann.87 Aber der Ursprung, der dem transzendentalen Subjekt den einheitlichen Bewusstseinsgegenstand (das Noema) in der absoluten Gegenwart vorgaukelt, erweist sich als zeitliche Differenz. Habermas fasst die Überlegungen von Derrida zum Ursprung des Differenzdenkens mit folgenden Worten zusammen: »Husserl hat nicht erkannt, dass die[se] Struktur der Vergegenwärtigung durch die symbolisierende Kraft oder die Stellvertre85 Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Husserl (1928) 86 Derrida (1979) S. 106. 87 Derrida (1979) S. 103.

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terfunktion des Zeichens erst ermöglicht wird. Allein der Ausdruck in seiner substrathaften […] Äußerlichkeit des Zeichencharakters zeitigt die unaufhebbare Differenz einerseits zwischen sich und dem, wofür er steht – seiner Bedeutung; und andererseits zwischen der Sphäre der sprachlich artikulierten Bedeutungen und der innerweltlichen Sphäre, der die Sprecher und Hörer mit ihren Erlebnissen, der aber auch die Rede und vor allem deren Gegenstände angehören.«88 Erst in diesem die Zeitigung berücksichtigenden Akt des Differenzierens kann etwas in der Welt anwesend sein. Man kann hier einige Zweifel anmelden, ob aus diesen Überlegungen sich schon die Verabsolutierung des Zeichens zur oben skizzierten »Autonomie des Textes« im Sinne der Dekonstruktion rechtfertigen lässt. Aber Derrida gibt sich nicht mit diesem Spiel der Differenzen zufrieden und so erhalten die von ihm entwickelten Deutungsmöglichkeiten des Anderen häufig einen abgründigen Ernst. Die différance erscheint zwar nicht als Chiffre des »ganz Anderen«, weil sie keinerlei Grenzen zulässt; aber immerhin verleiht sie dem Diesseits eine gewisse mystische Tiefe. Natürlich hat sich Derrida – wie schon Heidegger – dagegen verwahrt, ein höchstes Seiendes wie den allgegenwärtigen christlichen Gott anzuerkennen oder gar seine Gedanken als Beiträge zu einer negativen Theologie zu deuten. Aber nach Habermas lässt sich eine Nähe zur jüdischen mystischen Tradition nicht verleugnen.89 Genauer geht es nicht nur um die kabbalistische Aufwertung der mündlichen Thora, die vom Menschen stammt, gegenüber dem vermeintlich göttlichen Wort in der Bibel, sondern um die Zweifel an den Aufzeichnungen der mündlichen Interpretationen der Thora selbst: nichts ist authentisches Wort Gottes, die Thora bleibt stets verhüllt und erscheint in jeder Generation in einer anderen mystischen Gestalt. Wie Habermas schreibt, will Derrida in diesem Sinne »nicht neuheidnisch zurück hinter die Anfänge des Monotheismus, hinter den Begriff einer Tradition, die sich an die Spuren der verlorenen göttli-

88 Habermas (1985) S. 207. 89 Habermas (1985) S. 195 und 214–217.

& . 2 1 7 ,1 *(1=%(*(*181*(1

chen Schrift heftet und sich durch die häretische Exegese der Schriften fortzeugt.«90 Aber kehren wir zu den Überlegungen zurück, die den Ursprung des Differenzbegriffs betreffen. Es ist kein Zufall, dass die Zeitanalysen (ob von Aristoteles, Augustinus oder Husserl) Derrida ein Leben lang beschäftigen sollen, was auch in den späteren Untersuchungen zu den Aporien91 deutlich wird. Dort geht es ihm wieder um das Jetzt, das, indem es ist, schon nicht mehr ist, und indem es sein wird, noch nicht ist. Es zeigt sich also, dass die Zeit weder ein Seiendes noch ein NichtSeiendes ist; und dann folgt die gewichtige Bemerkung: »Und bei dem Motiv des Nicht-Seienden oder des Nichts ist jenes des Todes niemals sehr fern.«92 Indem Derrida die Aporie, die Aristoteles nur feststellt, der Destruktion unterwirft, versucht er, diese in einer »experimentellen Erfahrung« auszuhalten. Die Erfahrung, die er zugleich als »Versuch der Überschreitung« oder »Durchquerung ohne Linie« bezeichnet, wird wieder nur durch die Kritik der Gegenbegriffe, wie »Grenze« als »Schranke« oder als »Riss«, charakterisiert. Doch verraten plötzlich auftauchende Assoziationen, in denen aporetisch von Entscheidung und Verantwortung93 hinsichtlich der Grenze gesprochen wird, dass hier bereits das »ganz Andere« mit gedacht werden kann; denn Derrida schlägt vor, diese »Art von nicht passivem Aushalten der Aporie als Bedingung der Verantwortung und der Entscheidung« zu betrachten,94 was nur dann möglich ist, wenn die Aporie den ontischen Vorbehalt eines nicht selbst konstruierten Angebotenen ausdrückt. Entscheidung und Verantwortung lassen eine reine Anerkennung weit hinter sich. 90 A.a.O. S. 214. Habermas zitiert dort zur weiteren Begründung seiner These Gersholm Scholems Aleph-Interpretation des Buchstabens »a« im Wort »différance«, die Derrida nicht unbekannt gewesen sein wird. 91 Derrida (1998) Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefasst sein. 92 A.a.O. S. 31. 93 Beide Begriffe werden von Derrida vor allem auch politisch interpretiert und destruiert. Für viele Interpreten Derridas ist die politische Dimension, die mit der ästhetischen in engem Zusammenhang steht, die Alternative zum »falschen« Bewusstsein des »ganz Anderen«. Siehe dazu Kimmerle (2004) Abschnitt V. 94 A.a.O. S. 33 bzw. 35.

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Bernhard Waldenfels hat in einer »Stellungnahme zu Derrida«95 von einer Verlagerung der Gewichte der Dekonstruktion zum Ethischen und Realen gesprochen und dabei diesen Übergang mit der Bedeutung des Anderen begründet; er sagt: »Ohne den Anschluss an Ordnungsprozesse mittlerer Reichweite würde die Dekonstruktion sich in ihren eigenen Wortnetzen verfangen. Schließlich gibt es, wie Derrida sich selbst eingesteht, ›Undekonstruierbares‹, darunter der Anspruch des Anderen, der die Dekonstruktion antreibt, die Fremdberührung und die Forderung nach Gerechtigkeit, deren Unerbittlichkeit jede Berechtigung übersteigt.« Dies ist eine bemerkenswerte Feststellung, die jede einseitige Zuweisung Derridas zur diffusen Postmoderne ausschließt. Auch im zweiten Teil der Abhandlung Aporien, der mit »Auf die Ankunft gefasst sein« überschrieben ist, geht es um den Tod als Grenzüberschreitung und damit wieder um jene »experimentelle Erfahrung«, die hier an Heideggers »Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit« in Sein und Zeit (§ 50) anknüpft. Derrida betrachtet das daseinsontologische Vor-Verstehen ebenfalls unter dem aporetischen Aspekt, der keine Antworten zulässt. Wie im ersten Teil lassen sich Spuren des »ganz Anderen« direkt an Zentralbegriffen (wie Sorge, Schuld oder Verantwortung) der Daseinsanalytik selbst entdecken, wenn Derrida die anthropologischen und kulturellen Interpretationen dekonstruiert und dabei auf Gedanken von Heidegger, Augustinus, Meister Eckehart, Pascal oder Kierkegaard eingeht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, »dass weder die Sprache noch die Vorgehensweise dieser existenzialen Analytik des Todes möglich sind ohne die christliche, ja sogar die jüdisch-christlich-islamische Erfahrung mit dem Tode, von dem sie Zeugnis ablegt […].«96 Aber während bei Heidegger in der Auslieferung an das Fatum des Seinsgeschicks eine letzte Grenze erscheint, ist eine solche in Derridas différance nicht denkbar, so dass dieser letztlich in einer – wenn auch eingeschränkten Dauerkritik mit 95 Waldenfels (2010) S. 30. 96 A.a.O. S. 128. Auch im obigen Zitat von Waldenfels wird im dort besprochenen Zusammenhang auf »jüdische Autoren wie Lévinas, Jabès, Benjamin und Celan« hingewiesen.

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mystischen Anleihen verharrt. Habermas fasst dies Vorgehen mit folgenden Worten zusammen: »Derridas grammatologisch eingekreistes Konzept einer Urschrift, deren Spuren umso mehr Interpretationen hervorrufen, je unkenntlicher sie werden, erneuert den mystischen Begriff der Tradition als eines hinhaltenden Offenbarungsgeschehens. Die religiöse Autorität behält nur solange ihre Kraft, wie sie ihr wahres Antlitz verhüllt und dadurch die Entzifferungswut der Interpreten anstachelt. […] Die Arbeit der Dekonstruktion lässt die Schutthalde der Interpretationen, die sie abtragen will, um die verschütteten Fundamente freizulegen, immer weiter anwachsen.«97 Wenn aber die religiöse Autorität weiterhin Kraft zeigt, liegen unter dem Schutthaufen doch noch Fundamente! In seinem Vortrag »Glauben und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«98 stellt die Differenz zwischen beiden Begriffen keinen Gegensatz dar. Derrida glaubt mit Kant, dass der durch eine historische Offenbarung entstandene christliche Glaube durch philosophische Reflexion legitimiert werden kann. Bei Kant leisten dies die Postulate der praktischen Vernunft (die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes), bei Derrida gewisse Grunderfahrungen, die durch die Dekonstruktion der Hegel’schen Überführung des Glaubens auf das absolute Wissen und in Rekurs auf Heideggers Rückgriffs auf das (bei diesem von der christlichen Tradition abgekoppelte) rational unzugängliche Heilige offen gelegt werden. Und so sind es genau diese Erfahrungen, welche die religiösen Ursprünge der europäischen westlichen Welt verstehen lassen.99 Während bei Derrida die Möglichkeiten einer Kontingenzbegegnung im Dekonstruktionsgeschehen fast mehr verschleiert als aufge97 Habermas (1985) S. 216. 98 In Derrida/Vattimo (1996). 99 Ausführlicher bei Kimmerle (2004) VII. 6. Dieser kritisiert dort, warum wir nur innerhalb dieser eingeschränkten Tradition von Religion sprechen können sollten. Er vermisst den Hinweis auf das universelle »Bedürfnis nach Geborgenheit und Trost« – wir sprachen vom kontingenten Urerlebnis der Endlichkeit –, ferner auf die Bedeutung der gesellschaftlichen »Protestation« (Marx) und mit Gadamer auf das Promotheische der griechischen Tradition (S. 158).

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deckt werden, gibt es auch einige wenige postmoderne Autoren, die hier offen eine positive Stellung beziehen. So kann man beispielsweise bei Alberto Caracciolo direkt von einer religiösen Dimension der Postmoderne sprechen. In seinen Reflexionen über Nietzsches Nihilismus und Heideggers Nichts im Aufsatz »Nihilismus und Hermeneutik«100 stellt er einen Zusammenhang zwischen eben diesem Nihilismus und der Kernfrage der religionsphilosophischen Kontingenz her: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«. Für ihn ist dies nämlich eine existenzielle Frage, »weil sie den Gesamtsinn der menschlichen Existenz betrifft« (29). Caracciolos Nihilismus ist im Gegensatz zu Nietzsches These zum Tode Gottes ein »methodischer Nihilismus«: »Keine Religion, keine Philosophie, keine Kunst, keine poíesis, keine Handlung […] kann wirklich bewusst, ernst, frei, menschlich sein, wenn sie die Erfahrung der radikalen Frage des Nihilismus nicht gemacht hat und diese Frage nicht in sich trägt« (31). Damit kann nicht nur eine Kontingenzanerkennung gemeint sein; vielmehr wird hier ein weiterer Schritt vollzogen, wie er im folgenden Satz deutlich wird: »Das Leben ist nur dann wirkliches Leben, wenn es über die ›Krankheit zum Tode‹ gesiegt hat.« Hier wird das Nichts (»il Nulla«) zum »transzendentalen Raum des Sinn zusichernden Gottes, als Ursprung und Quelle des Glaubens und der möglichen verschiedenen Glaubensgestalten«. Diesem stellt Caracciolo das »il niente« Nietzsches gegenüber, »als Negation von Sinn, der Seinswürdigkeit, als Tod« (35), als ein objektiv-objektivierendes Nichts, »dessen Ausgang und Vollendung der Tod ist« (37). Dabei sieht er auch die Bemühungen Heideggers in dessen Spätwerk als ein Kreisen um das religiöse »il Nulla«. Die hier vorausgesetzte enorme Wirkungskraft, die allen existenziell wesentlichen Bereichen ihre Fülle schenkt, ist nur im Sinne einer Kontingenzbegegnung denkbar. Diese euphorische Apotheose des religiösen Nichts, die allein aus der lapidaren Kernfrage der Kontingenz fließt, ist zwar ein beeindruckendes Zeugnis einer Kontingenzbegegnung in der Philosophie, entwertet aber nicht nur realistische 100 Caracciolo (1993). Seitenangaben beziehen sich auf diese Arbeit.

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Objektivierungen – die Wissenschaft wird permanent verschwiegen –, sondern vernachlässigt selbst ein Minimum an nachvollziehbaren Differenzierungen. Sie macht denn auch den Weg frei, im Namen einer neu verstandenen Hermeneutik die Interpretation als Blick auf jenen Raum zu verstehen, von dem her alle Antworten gegeben werden, bis hin zur adäquaten Sicht auf die Weltgeschichte (44). »Religiöse Semiologie des Ewigen« und »ethische Semiologie der Zukunft« – einst »spekulatives Denken« und »religiöses Schwärmen« genannt – erscheinen hier als Momente der Hermeneutik, die sich ihrer religiösen Quellen erinnert zu haben scheint. Solche Stimmen bilden jedoch die Ausnahme. Denn nicht nur bei den Vertretern einer inhaltlich bestimmten postmodernen Philosophie, sondern auch bei den Philosophen im postmodernen Zeitabschnitt im allgemeinen – wir nannten sie die »postmetaphysischen« – steht die Bemühung im Mittelpunkt, in den Antworten auf die ratlose Situation der postmodernen Sinnverweigerung jeden Verdacht eines Einflusses religiöser Traditionen zu vermeiden. Um zugleich die ausstehende »Legitimität der Neuzeit« zu vermitteln, werden die verschiedenartigsten Untersuchungen angestellt. Paradigmatisch sei hier Blumenberg herangezogen, dessen Überlegungen am weitesten ausholen, gängige Distanzierungen von der christlich geprägten Tradition in radikale Deutungen zu verwandeln, und eine weite Verbreitung gefunden haben. Blumenbergs Philosophie entwickelt ein universelles Panorama negativer Kontingenzerfahrungen und eine Phänomenologie der Begegnungen mit dem Sinnlosen. Alles einst Große, Bedeutende und mit Sinn Versehene wird als Strategie der Verdeckung jener Sinnlosigkeit gedeutet; noch radikaler: Blumenberg zweifelt sogar, ob jener Sinn historisch je realisiert war, ob es das, »was verloren werden konnte, schon einmal gab«.101 Damit verbunden ist der Vorwurf, dass Religionen und die Metaphysik mit ihren Sinnkonstruktionen sträfliche Erwartungen aufgebaut, ja die Intensität des jetzigen Schmerzes über den Sinnverlust zu verantworten hätten. Für Blumenberg ist die Zeit, in der die 101 Blumenberg (1979) S. 57.

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Lebensform von Mythen, Religion und metaphysischen Spekulationen geprägt wurde, für immer vorbei. Wenn auch seine Formulierungen neu und attraktiv erscheinen – die Inhalte stammen aus dem Repertoire gängiger naturalistischer Überzeugungen, nämlich dass jene Sinnstiftungen lebensdienliche Erfindungen seien. Auch seine Versuche, die christliche Frohbotschaft als eine Schreckensbotschaft zu entlarven,102 verraten deutlich die Handschrift Nietzsches. Das ist die eine Seite seiner Philosophie; die andere verkündet die Minimalbotschaft, dass der Mensch nicht anders kann, als seine Anstrengungen und seine Trauer in einer endlichen und sinnlosen Welt nicht als verzweifelte Daseinsfristung, sondern als Daseinserfüllung hinzunehmen und zu gestalten. Beide Unternehmungen – die Kritik der großen tradierten Sinnschöpfungen wie die Ermunterung, die daraus folgende Herausforderung anzunehmen – stehen im Dienste seiner zentralen Legitimitätsthese der Verabsolutierung des gegenwärtigen Zeitgeistes zum non plus ultra des menschlichen Selbstverständnisses. Konkretisiert wird diese These in der Distanzierung von den beiden bisherigen Fixpunkten, dem theologischen Absolutismus und der naturwissenschaftlich-technischen Objektivierung des »Absolutismus der Wirklichkeit«. Betrachten wir zunächst die beiden Extreme, von denen sich das Denken Blumenbergs abstößt. Das erste Extrem, eine Art »Absolutismus des Religiösen«,103 orientiert sich an einem Gottesbild, das nicht nur die Unbedingtheit eines Durchsichselbstseiendes (ens a se) betrifft, sondern auch die absolute Handlungsfreiheit Gottes, die weder von der 102 So etwa in der Matthäuspassion (1988). Siehe dazu Wetz (1999): Abschied ohne Wiedersehen. Die Endgültigkeit des Verschwindens. S. 35/36.

103 Bei Wetz (1993) erscheint als Kapitelüberschrift ein »Absolutismus des Willkürgottes« (Kap.2); er schränkt dort das Schlagwort auf eine bestimmte historische Erscheinungsform des Christlichen ein. Wir sind der Meinung, dass Blumenberg diese letzte wirkungsgeschichtlich bedeutsame und zugleich theologisch etablierte Erscheinungsform in seinen Angriffen auf die Religion als Charakteristikum aller Verfehlungen späterer religiöser Entwicklungen betrachtet und als Ausgangspunkt seiner Argumentationen innerhalb des »Prinzips des unzureichenden Grundes« verwendet. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Ausdrucks »theologischer Absolutismus« etwa in (1966) S. 64.

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Logik noch von der menschlichen Vernunft eingeschränkt ist. Für den Menschen wird dieses Wesen zum »Willkürgott«, zum Ursprung einer totalen Auslieferung an die alles umfassende Kontingenz – die letzte aller »Kränkungen der menschlichen Eitelkeit« – und vor allem auch zum überflüssigen Gott, der durch den Zufall ersetzt werden kann.104 Für Blumenbergs historisches Denken sind deshalb sowohl die hochmittelalterlichen theologischen Reflexionen über die Möglichkeit einer vom Schöpfer gewollten Ordnung erledigt als auch die Folgerungen aus dem für den christlichen Glauben so zentralen Gedanken einer möglichen Inkarnation Gottes, ganz zu schweigen von mystischen Gotteserfahrungen einer unmittelbaren Zuwendung. Das zweite Extrem, von dem sich Blumenberg abhebt, ist eine bestimmte Form der an sich berechtigten autonomen menschlichen Selbstbehauptung angesichts der Unergründbarkeit und Unzuverlässigkeit des nominalistischen Gottes. Der »Absolutismus des Religiösen« wirft den Menschen auf seine ureigensten Möglichkeiten zurück und zwingt ihn zur Selbsthilfe. Als völlig auf sich Gestellter findet er sich in einer grausamen Natur wieder, einem »Absolutismus der Wirklichkeit« ausgeliefert. Dieser Begriff wird von Blumenberg in Arbeit am Mythos zunächst auf den »hypothetischen status naturalis«, eine Art paradiesischer Urzustand, angewandt, genauer als »Grenzbegriff der Extrapolation fassbarer geschichtlicher Merkmale ins Archaische […]. Er bedeutet, dass der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte.«105 Dann nach dem Verlust seiner Unschuld erfährt der Mensch dieses Absolutum als das übermächtige Andere, schließlich nach der mythischen Transformation den übermächtigen Anderen oder Gott.106 Nach der Arbeit am Mythos, das heißt der Überwindung desselben in der Neuzeit, bleibt der Ausdruck »Absolutismus der Wirklichkeit« die Grundmetapher zur Charakterisierung der sinnentleerten Gegenwart, die es zu gestalten gilt. 104 Blumenberg (1966) S. 165. 105 Blumenberg (1996) S. 9 bzw. vorher S. 27. 106 A.a.O. S. 28.

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Die damit gestellte Aufgabe kann verschiedene Formen annehmen. Die wohl wichtigste Form betrifft die in der Neuzeit entstandene Naturwissenschaft, die Blumenberg in seinen Untersuchungen unter recht verschiedenen Aspekten behandelt und beurteilt. In Legitimität der Neuzeit steht die aus dem Selbsterhaltungstrieb der Menschen ableitbare Bemühung um die Beherrschung der Natur durch Wissenschaft und Technik im Vordergrund. Naturwissenschaft wird zum legitimen Mittel der Daseinsbewältigung angesichts der Grausamkeit des »Absolutismus der Wirklichkeit«. Indem der Mensch die Gesetzesordnung durchschaut, macht er sich die Natur dienstbar; auftretende negative Nebenwirkungen, insbesondere im Bereich der technischen Anwendungen, können mit den neuen Möglichkeiten beherrscht werden und führen so zu einem allgemeinen Fortschritt des Menschengeschlechts. Diese gängige Version, die sich unter der Metapher der kopernikanischen Welt verbreitet hat, wird von Blumenberg in seinem umfangreichen Hauptwerk Die Genesis der kopernikanischen Welt in Frage gestellt. Für ihn hat die neue Wissenschaft durch die Betonung der fortschrittlichen Errungenschaften das eigentliche Wesen der Natur verstellt, nämlich ihre radikale Nichtigkeit, die den Menschen in tiefster Verzweiflung zurücklässt. Für Blumenberg ist diese Selbstoffenbarung der Natur, die den Menschen in eine unendliche Sinnlosigkeit verstößt, das eigentliche Ereignis. Unter Verwendung der Metapher des »Absolutismus der Wirklichkeit« und in einer Kritik falscher Erwartungen von einer Rückbesinnung auf verlorengegangene »Lebenswelten« beschreibt er diese neue Situation und zeigt in zahlreichen Variationen die Vergeblichkeit aller bisherigen Versuche, dieser Sinnlosigkeit Sicherheiten entgegenzustellen. Der Mensch ist auf sich selbst gestellt; aus der Gabe der menschlichen Autonomie wird das Danaergeschenk, das auf die Vernichtung des Beschenkten zielt. Mit Hilfe einer aufgewerteten Rhetorik und einer Flucht in die Metaphorik versucht Blumenberg, jenem Absolutismus der Wirklichkeit zu trotzen. Auffällig ist die Selbstsicherheit, mit der hier eine absolute Wahrheit, nämlich die der Sinnlosigkeit des Wirklichen, verkündet wird. So

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bekennt sich Blumenberg explizit zu naturalistischen Grundüberzeugungen, die aus dem Geist einer universellen Kontingenzbewältigung entstanden sind. Das bedeutet, dass Blumenberg einerseits die strikte Ordnung der Selbstorganisation anerkennt, die auch den Menschen als zugehöriges Naturwesen versteht, um diese Ordnung dann andererseits in Bezug auf die menschlichen Anliegen als kontingentes Chaos zu diskreditieren. Zur Rechtfertigung wird wiederum die Rhetorik herangezogen. Diese dient zum Einen dazu, die genannte Inkonsequenz als einzige Reaktionsmöglichkeit darzustellen, und sie liefert zum Anderen in der Verwendung von Metaphern das Werkzeug, um die Bedeutung von Widersprüchen zu bagatellisieren. Dabei tragen die so genannten absoluten Metaphern das Hauptgewicht der Argumentation. Da auch wir schon häufig auf Metaphern verwiesen haben, gerade um über die Möglichkeiten einer Kontingenzanerkennung, wie sie von Blumenberg vertreten wird, hinauszukommen, brechen wir die Betrachtungen zur Postmoderne an dieser Stelle ab und wenden uns dem Zentralthema »Metaphern« zu.

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Der lange Weg von elementaren individuellen Kontingenzerfahrungen über die zwei entscheidenden kontingenzbewältigenden Stationen der Naturwissenschaften und der Philosophie mit den Wegmarken der Selbstorganisation der Natur beziehungsweise der philosophischen Selbstbemächtigung führt über die Brücke der Kontingenzanerkennungen schließlich zum Ziel der letzten Möglichkeiten, sei es als Lichtung oder als das ganz Andere, als das Eigentliche oder das Sichgebende. Wie auch immer dieses Ziel bezeichnet wird, es handelt sich stets um das letzte Unsagbare, um den »Bruch des kohärenten Diskurses«, wie es Emmanuel Lévinas formuliert; dieser fährt fort: »Und doch stimmt der westliche Mensch, unverbesserlicher Philosoph wie er ist, dieser Trennung […] nicht zu. Er will einen Diskurs, der auch diesen Bruch in sich aufnimmt.«1 Dieser gebrochene Diskurs steht unter dem ontischen Vorbehalt, der über allen sprachlichen und bildlichen Darstellungsformen hinweg auf ein intellektuell gerechtfertigtes Sichgeben des Anderen verweist und in dieser Unbestimmtheit zugleich universelle Toleranz ermöglicht. Um sich vom schweigenden Agnostiker zu unterscheiden, muss trotz aller Inkohärenz noch ein Rest von Diskursivität eingefordert werden. Als ein wichtiges Hilfsmittel dient hierzu vor allem die Metapher. An deren Reichweite lässt sich der entscheidende Schritt hin zur Kontingenzbegegnung erkennen (11.1). Ein Blick auf die Religionsgeschichte entdeckt vor allem die »negative Theologie« als Fundgrube weiterer Möglichkeiten, das Unsagbare zu umkreisen, auch wenn dort häufig die Negativität wieder in Positivität umschlägt (11.2). Wie schon die Metaphern und Meditationsformen weit über den religionsphilosophischen Diskurs hinausweisen und auch in Kunst und Alltag konstitutiv wirken, so sprengen ebenso die anderen bewährten Sprachformen 1 Lévinas (1991) S. 79.

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den kohärenten Diskurs und behalten trotzdem ihre Aussagekraft. Auf diese Weise werden viele kulturelle und alltägliche Phänomene zu Chiffren des ganz Anderen und damit zu Hinweisen auf die Anwesenheit des Verborgenen (12.).

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Zur Entfaltung des Metaphernproblems können wir direkt an die obigen Überlegungen zu Blumenberg anschließen. Erinnern wir uns an seine illusionslose Interpretation des »Absolutismus der Wirklichkeit« und sein ostentatives Aufbegehren gegen jeden Illegitimitätsverdacht. Blumenberg pocht auf die volle Eigenständigkeit der Neuzeit und weist den Vorwurf der Theologie zurück, in der menschlichen Selbstermächtigung nur eine aus der christlichen Tradition ableitbare defizitäre Form menschlichen Verhaltens zu sehen. Deshalb ist für Blumenberg »Säkularisierung« das falsche Wort zur Charakterisierung des Neuen; für ihn handelt es sich vielmehr um eine illusionslose Aufklärung im ureigensten Sinn, auch als Antwort auf die Unzumutbarkeiten des vergangenen Mittelalters. Vor allem aber geht es ihm um die »Legitimität der Neuzeit« und um den radikalen Verzicht auf transzendente Tröstungen. Die Legitimation gründet ausschließlich auf die historische Faktizität, auf eine pure, sich selbst rechtfertigende Kontingenzanerkennung unter bewusster Ablehnung jeder Andeutung einer Kontingenzbegegnung. Die kritische Selbstrechtfertigung erfolgt mit Hilfe der uns hier interessierenden Metaphern, die bereits in den frühen Schriften für Blumenberg von großer Bedeutung waren. In seiner kurz nach der Habilitation entstandenen Abhandlung Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960) wird einiges zum Wesen und vieles zur Geschichte der Metaphern gesagt, lange vor der Explikation seines Legitimitätsanliegens. Die Metapher dient hier – wie schon immer – als altes sprachliches Hilfsmittel mit zahlreichen Funktionen.2 Der Begriff der Metapher erscheint – wie könnte es anders sein – erst2 Zur Metapher allgemein und zur diesbezüglichen Literatur siehe vor allem das Standardwerk von Rolf: Metapherntheorien (2005).

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mals bei Aristoteles3. Dessen Charakterisierung war Jahrhunderte lang maßgebend, so dass Eckhard Rolf den die Logik betreffenden Hinweis Kants, dieselbe habe seit Aristoteles keinen Schritt vorwärts tun können, auf die Metapherntheorie überträgt; erst im 20. Jahrhundert sei durch Ivor A. Richards und Max Black ein solcher Schritt erfolgt. Die Ausführungen des Aristoteles werden meistens so gedeutet, dass Metaphern der Übertragung eines Worts nach den Regeln der Analogie und Ähnlichkeit dienen. Während in dieser Interpretation die Metapher einen Vorgang beschreibt, gibt es weitere Fälle, in denen diese einen Ausdruck oder eine Verknüpfung betreffen, zum Beispiel wenn ein Prädikat im übertragenem Sinn gebraucht wird beziehungsweise wenn – wie in der Aussage »Der Mensch ist ein Wolf« – das Prädikat »ist ein Wolf« (das »Vehikel«) mit dem Subjekt »Mensch« (dem »Thema«) verbunden wird.4 Von den zahlreichen Metapherntheorien sind die Vergleichs-, die Interaktions- und die Substitutionstheorien am weitesten verbreitet.5 In den Vergleichstheorien enthalten die metaphorischen Äußerungen Vergleiche zwischen Gegenständen aufgrund ihrer Ähnlichkeit; in den Interaktionstheorien handelt es sich dagegen um Wechselwirkungen zwischen semantischen Gehalten, wobei der eine den metaphorisch verwandten Ausdruck und der andere den wörtlichen Kontext betrifft; in den Substitutionstheorien schließlich, die sich häufig auf komplizierte Analogien zur Traumarbeit beziehen, geht es nach Black auch um Paraphrasierung, das heißt, »dass ein metaphorischer Ausdruck anstelle eines äquivalenten wörtlichen Ausdrucks gebraucht wird«.6 So fungiert die Metapher schon immer als vielfältiges sprachliches Mittel etwa zur Charakterisierung und Differenzierung, aber auch um Neues zu erfinden, zum Beispiel um noch unbenannte Phänomene zu bezeichnen oder dort, wo sich keine eigentliche Benennung eingebür3 Poetik 21, 1457 b7. 4 Rolf (2005) S. 1 bzw. S. 4. 5 Kurz (1997) beschränkt sich auf diese drei Fälle. Rolf untersucht a.a.O. insgesamt fünfundzwanzig Metapherntheorien!

6 Black (1983) S. 61.

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gert hat, Bildelemente einzubeziehen. Die Metapher erscheint ferner in der heute wieder aufgewerteten Rhetorik und – als wichtiges Stilmittel – auch in der Dichtung. In der Literatur werden fiktive Gestalten (zum Beispiel »Doktor Faustus«) erschaffen, die semantisch weder als Namen noch als Beschreibung einer existierenden Person verstanden werden dürfen und deren Merkmalbündel trotzdem metaphorisch auf wirkliche (»faustische«) Menschen zutreffen kann. Neben diesen speziellen Funktionen kommt der Metapher auch in der Philosophie eine grundsätzliche Bedeutung zu. Schon von Giovanni B. Vico bis hin zu Jean J. Rousseau wurde die Auffassung vertreten, dass die gesamte Sprache ursprünglich figürlich oder metaphorisch war, und nicht die Sprache der Prosa, sondern die von uneigentlichen Sprachelementen (Tropen) geprägte Sprache der Dichter am Anfang stand. Keineswegs so einmütig ist die Vorstellung von der Rolle der Metaphern im späteren Sprachgebrauch. Rousseau lehrt in einer Art »Emotionstheorie der Metapher«,7 dass der ursprüngliche Gebrauch von Worten jeweils sichtbare Gestalten in – emotional bedingter – verzerrter Wahrnehmung voraussetzte und betrachtet die Ersetzung von Metaphern durch die richtige Bezeichnung mittels eines Begriffs als einsichtige Korrektur vor aller Metaphysik: »Waren die ersten Motive, welche den Menschen zum Sprechen bewegten, die Leidenschaften, so waren seine ersten Ausdrucksweisen Tropen. Die bildhafte Sprache entstand zuerst, die eigentliche Bedeutung fand man zuletzt. Die Dinge wurden mit ihrem wahren Namen nur benannt, wenn man sie in ihrer wirklichen Gestalt sah.«8 Das heißt, in der entwickelten Sprache verdrängten abstrakte und wohl durchstrukturierte Begriffe mehr und mehr die Metaphern. Insbesondere in den Wissenschaften ist der metaphorische Gebrauch nicht substanziell, sondern eher eine rhetorische Stilmöglichkeit, die jederzeit durch verschärfte Begrifflichkeiten ersetzt werden kann. Dabei gibt es zahlreiche wissenschaftliche Begriffe, wie beispielsweise Kraft, Spannung oder Energie, die zwar in der Alltagssprache auch als Metaphern dienen, aber in 7 Rolf (2005) Abschnitt 25. 8 Zitiert bei Rolfs (2005) S. 264.

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der Wissenschaft durch ihren Gebrauch als klar definierte operative Termini ihren ursprünglichen Charakter verloren haben. So spricht Willard V. O. Quine von einer »Verfeinerung, wie sie für die sauber gearbeiteten inneren Bereiche der Wissenschaft kennzeichnend ist. Es ist eine Lichtung im tropischen Dschungel, die durch Ausmerzung der Tropen geschaffen worden ist.«9 Ganz anders dagegen Derrida. Dieser befasst sich vor allem in der Grammatologie und in der Abhandlung »Die weiße Mythologie«10 mit dem Metaphernproblem und kämpft dort gegen alle Argumente an, welche die Zweitrangigkeit der Metaphern zu begründen versuchen. So deutet er Rousseaus Ausführungen anders als Rolf, der die Theorie Derridas in einem entscheidenden Punkt auf einen Interpretationsfehler zurückführt.11 Die Kernaussage Derridas besagt, dass die ungenaue, vor allem unbegriffliche, ja falsche »uneigentliche« Bedeutung der »eigentlichen« begrifflichen Bedeutung vorausgeht und ihre ursprüngliche fundamentale Rolle durch »Abnützung« (»usure« statt »usage«) oder durch abstrakten »Wucher« (die zweite Bedeutung von »usage«) innerhalb des metaphysischen Denkens verdeckt worden ist.12 Am Anfang steht für Derrida eine sinnlich wahrnehmbare, von Emotionen begleitete Figur, »die Zuflucht sucht und der Abnutzung preisgegeben ist, bis sie unbemerkt in jedem metaphysischen Begriff erscheint. Die abstrakten Begriffe bergen immer eine sinnlich wahrnehmbare Figur« (230). So werden die Ausgangskonstellationen, das heißt die Vorstellungen, welche uns die Affekte präsentieren, von Derrida als Metaphern gedeutet und zur Konkretisierung dieser Vorstellungen – im Gegensatz zur Rousseau-Interpretation von Rolf – noch keine Begriffe verwendet. Damit ist für Derrida die gesamte metaphysische Speku9 Quine (1978). S. 161. Siehe auch Rolf (2005) S. 271. Etwas toleranter ist die Metapherntheorie von Davidson, für den es zwar keinen metaphorischen Sinn gibt, weil Sinn immer propositional sein muss; er anerkennt aber etwas Überschüssiges in den Metaphern, spricht diesem jedoch jeden kognitiven Charakter ab. Zur Distanzierung Derridas siehe Bennington/Derrida (1994) S. 139.f. 10 Derrida (1974) bzw. (1999), die Originale entstanden 1967 bzw. 1972. 11 Rolf (2005) S. 244. 12 Derrida (1999) S. 229. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Werk.

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lation von Metaphern durchsetzt. Das beginnt bereits bei den Prinzipien, mit denen die Entstehung der Philosophie charakterisiert wird, wie theoria, eidos, logos, ja beim Begriff »Begriff« selbst und bei den Tropen (244), und setzt sich mit der Entwicklung der Philosophie fort. Besonders ausführlich wird diese »Bewegung der Metaphorisierung (Ursprung, dann Auslöschung der Metapher, Übergang vom eigentlichen sinnlichen Sinn zum eigentlichen geistigen Sinn […])« bei Hegel beschrieben, der diesen Vorgang als dialektische Aufhebung charakterisiert (245). Doch nachdem der allgemeine Versuch – nicht nur bei Hegel – mit Hilfe dieser versteckten Metaphern die Wahrheit zu finden, kläglich gescheitert ist, scheint sich Derrida in der »weißen Mythologie« die Aufgabe gestellt zu haben, den Vorgang der Metaphorisierung rückgängig zu machen. So diskutiert er im Anschluss an Anatole France13 »die Möglichkeit, unter der Metapher, die gleichzeitigt verdeckt und sich versteckt, die ›ursprüngliche Figur‹ […], welche durch die Zirkulation des philosophischen Begriffs abgeschliffen […] worden ist, wiederherzustellen und zu erneuern« (231), um sie auf diese Weise aus den Fängen der Metaphysik zu befreien. Allerdings unterwirft Derrida anschließend die ganze Problematik seinem Dekonstruktionsaspekt, indem er dieses kritische Unternehmen unter die Devise des »als ob« stellt, also es selbst metaphorisiert, und so dort alle Mühen aufwendet, um den Nachweis der fundamentalen differenten Komplexität der beiden Auffassungen zu erbringen.14 Dabei werden in den gängigen Interpretationen (vorwiegend der aristotelischen Vorgaben) innere Widersprüche und Argumente gegen die eigenen Intentionen des ursprünglichen Textes aufgespürt. Die nur mühsam zu identifizierenden Ergebnisse sind – wie so oft bei Derrida – deprimierend, sofern man eine definite Lösung des Problems erwartet. So erfahren wir als Quintessenz: »Eine allgemeine Taxonometrie der Metaphern – der philosophisch genannten im besonderen – würde also voraussetzen, dass die wichtigen Probleme, zu allererst jene, die das Gerüst der gesamten

13 France (1906) Der Garten des Epikur. 14 Ähnlich in Bennington/Derrida (1994), S. 134/135.

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Philosophie in ihrer Geschichte bilden, gelöst seien«(247) – eine Prämisse, die alle weiteren Fragen verstummen lässt. Für unsere Überlegungen sind solche aporetischen Feststellungen und die Vielfalt der Metapherntheorien nicht sehr hilfreich. Denn unser Interesse bezieht sich nicht auf die Metaphern im Allgemeinen, sondern auf absolute Metaphern, die in unserem Konzept eine bestimmte Funktion übernehmen. Und hier führt uns der Weg wieder zu Blumenberg zurück. Bei diesem erscheint die Metapher zunächst methodisch als Erkenntnismittel; Rolf bezeichnet dessen »Metaphorologie« als »die Lehre von der Rolle, die Metaphern im Rahmen unserer Wirklichkeitserkenntnis spielen«.15 In dieser sollen die Gegenstandsvorstellungen in das Blickfeld gestellt werden, die in den diversen Möglichkeiten, mit Sachverhalten umzugehen, jeweils verborgen sind. Es handelt sich also nicht um eine ausgearbeitete Metapherntheorie, sondern eher um Beispiele aus der philosophischen Praxis, in der Metaphern als Ersatz für das Sprechen vom Ganzen verwendet werden, was früher der metaphysischen Spekulation vorbehalten war. Wer beispielsweise die Metapher von der nackten Wahrheit verwendet, drückt damit aus, dass sie vor jedermann offen da liegt, sich die zugehörigen wahren oder falschen Sachverhalte mithin nicht auf einen Bewusstseinsinhalt beziehen können, sondern einen objektivierbaren Charakter haben müssen. Blumenberg fasst die Metaphern dabei nicht als Begriffe auf. Sie erscheinen ihm eher als spezielle sprachliche Bilder,16 die zu verschiedenen Zwecken gebraucht beziehungsweise missbraucht werden können, letzteres beispielsweise zur Verschleierung unverstandener Sachverhalte oder zur Umschreibung vorwissenschaftlicher Vorstellungen. Ohne sich hier direkt auf Derrida zu beziehen, nähert sich Blumenberg dessen eigenwilliger Interpretation der Thesen von Rousseaus an, in der den Metaphern noch keine Begriffe entsprechen. So ist es wohl dieser Umstand, der es ihm ermöglicht, von der Unbegrifflichkeit absoluter Metaphern zu sprechen. Denn der wichtigste positive Gebrauch von Metaphern betrifft bei Blumenberg eben diese. 15 Rolf (2005) S. 244. 16 Blumenberg (1960) S. 9.

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Absolute Metaphern liegen dann vor, wenn sie einen Bedeutungsgehalt aufweisen, der weder in der begrifflichen Sprache der Philosophie noch in der objektivierenden Sprache der Wissenschaften dargestellt werden kann und zugleich unverzichtbare Grundbestände philosophischer und wissenschaftlicher Kommunikation betrifft.17 Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den Wissenschaften gibt es offene Fragen und ungelöste Widersprüche, » logische Verlegenheiten« oder »begreifend-begrifflich nicht erfüllbare Lücken und Leerstellen«.18 Das Interesse Blumenbergs richtet sich also auf die Fälle, die prinzipiell nicht in das Ordnungsgefüge der Wissenschaften und der Philosophie (»Logizität«) eingeholt werden können, also eben diese Leerstellen in Wissenschaft und Philosophie ausfüllen sollen. Eine solche »metaphorische Bedeutung« lässt sich schwerlich als semantischer Gehalt widergeben – sei es in einer Referenz-, Vorstellungs- oder Behaviorismus-Theorie der Bedeutung –, sondern kann nur durch eine Gebrauchstheorie etwa im Sinne Wittgensteins plausibel gemacht werden.19 Für Blumenberg ist es selbstverständlich, dass dieser Gebrauch nur innerhalb seines endlichen Naturbegriffs und der darauf bezogenen philosophischen Reflexionen möglich ist, also vor allem die geschichtliche Dimension der von Menschen geprägten res gestae abdecken muss, die von den Naturwissenschaften unberücksichtigt bleibt. Absolute Metaphern sind demnach bei Blumenberg vorwiegend Mittel, um diachrone Kontingenzen zu bewältigen, nicht dagegen um den ontischen Vorbehalt bei Kontingenzbegegnungen zu signalisieren, wie wir es bisher mit diesem Begriff versucht haben. Charakteristisch ist das Beispiel der Erinnerung an den Anfang des menschlichen Lebens: »Wir wissen, angefangen zu haben – weil angefangen worden zu sein – ohne es glauben – weil nicht denken – zu können.« Blumenberg 17 A.a.O. S. 10. 18 A.a.O. S. 177. Später bezeichnet Blumenberg die gesamte Metaphorologie als »Theorie der Unbegrifflichkeit«.

19 So könnte man etwa bei Wittgenstein von der Versprachlichung des Schmerzerlebnisses durch absolute Metaphern sprechen, da es sich um eine Vergegenständlichung eines für andere Menschen prinzipiell Unzugänglichen handelt.

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weist hier ausdrücklich auf das »Reich der absoluten Metaphorik« hin, in dem »nach Mitteln der Substitution für das Undenkbare, der Nachhilfe fürs Unglaubliche, der Surrogate für die blasse Äußerlichkeit des Wissens verlangt« wird.20 Alles spielt sich im immanenten, zeitlichen Bewusstseinsbereich ab; es geht darum, »das Abwesende und Ausstehende und Bevorstehende operabel zu machen«.21 Kontingenzbegegnungen sind für Blumenberg undenkbar. Sein Bestreben, die genuin menschliche Daseinsform von überholten religiösen Formen abzugrenzen und in sich selbst zu legitimieren, bedeutet, die Kontingenzanerkennung durch rhetorische und metaphernreiche Akte als solche zu akzeptieren und die damit verbundenen Widersprüche innerhalb des Logizitätsrahmens als unvermeidbar hinzunehmen. Aber genau dieser Legitimationsprozess ist in sich nicht stimmig. Denn Metaphern gehören sprachwissenschaftlich zu den uneigentlichen Bezeichnungen, das heißt, sie haben keine direkte Bedeutung oder Referenz (Denotation) wie zum Beispiel Prädikate oder Namen. Wörtlich übersetzt verweist »Metapher« auf »Übertragung« (metaphorá), und zwar im Sinne der Setzung eines eventuell zusammengesetzten Ausdrucks (z. B. »Abend des Lebens«) für einen bekannten Bedeutungskomplex (z. B. »Alter des Menschen«) nach einem bestimmten Ordnungsschema (hier der Analogie). Im Falle der Absolutheit der Metapher, der uns hier allein interessiert, weist der in unserem Beispiel bekannte Bedeutungskomplex ein Defizit auf. Bei Blumenberg findet der Vorgang der Setzung allein durch den wiederholten Gebrauch seiner Quasi-Rechtfertigung statt, das heißt, diese bleibt rein rhetorisch. Aber jede Metaphernverwendung geschieht immer innerhalb der verschiedenartigsten Ordnungsschemata, das heißt unter Berücksichtigung der Regeln des Sprachspiels. Wenn nun nach Blumenberg die Menschen die absoluten Metaphern dazu verwenden, jene Lücken in den Sprachspielen »Wissenschaft« und »Philosophie« 20 Blumenberg (1989) S. 11. 21 A.a.O. S. 35. Blumenberg entwickelt diese Gedanken hier an der Leitmetapher der Höhle. Diese ermöglicht als vollwertiger Lebensraum jene Technik, »der unmittelbaren Wahrnehmung nicht Gegebenes zu vergegenwärtigen«.

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zu füllen, könnten sie diese gar nicht identifizieren, ohne die dogmatischen Extrapolationen der Selbstorganisation der Natur und der Selbstbemächtigung der absoluten Vernunft vorauszusetzen. Mit anderen Worten: Der Gebrauch absoluter Metaphern hat nur dann einen Sinn, wenn die Metaphern als Hinweis auf das Misslingen jener Extrapolationen verstanden werden, also religionsphilosophische Kontingenzen betreffen. Während sich Blumenbergs Philosophie in eine nicht realisierbare Kontingenzanerkennung verstrickt und eine Selbstermächtigungsphilosophie par excellence darstellt, übernehmen die absoluten Metaphern in unserem Konzept die Aufgabe, Kontingenzbegegnungen zu signalisieren. Der Hinweis auf die Unmöglichkeit, sie in ihrem Wesen begrifflich zu fassen, stellt eine andere Formulierung des ontischen Vorbehalts dar; die Überzeugung, dass sie für unser Wirklichkeitsverständnis unabdingbar sind, drückt die Möglichkeit der Selbstgabe des Anderen aus. Die letzten Überlegungen gehen vom Begriff der absoluten Metapher aus und versuchen, vor allem am Beispiel Blumenbergs Verbindungen zu Kernaussagen unseres religionsphilosophischen Konzepts herzustellen. Dabei ist deutlich geworden, dass der Gebrauch dieses für uns so wichtigen Begriffs im Allgemeinen vieldeutig ist, sich aber doch in einigen Fällen unserer Verwendungsweise annähert. Wir verwenden daher im Folgenden den Begriff der absoluten Metapher ausschließlich als Hinweis auf die Akzeptanz von Kontingenzbegegnungen. Genauer dient der Begriff dazu, überall dort, wo Kontingenzbegegnungen vorausgesetzt werden, in gewissen Artikulationen die wortwörtlichen Bedeutungen einerseits zu relativieren und andererseits ihnen eine gewisse Legitimation zuzusprechen.

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Seit jeher wird das ganz Andere der Kontingenzbegegnung sprachlich mit Göttern oder mit dem Namen eines Gottes umschrieben. In der christlichen Tradition, die sich auf einen sich offenbarenden Gott bezieht, sollte sich bald eine Theologie entwickeln, in der vor allem die

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schriftlich fixierten Offenbarungsinhalte geklärt, interpretiert und rational ausgeschöpft wurden. Dies alles geschah innerhalb einer institutionellen Etablierung ritueller Praktiken, in welchen der Urquell jener Offenbarung verehrt und angebetet wurde. Gerade hier, aber auch in einer Reihe schriftlicher Formulierungen, blieb das Bewusstsein von einer radikalen Alterität des Glaubensursprungs erhalten, so dass sich zu allen Zeiten parallel zur affirmativen theologischen Sprache eine »negative Theologie« behauptete, in der jene letzte Verborgenheit immer wieder in Erinnerung gerufen wurde. Die Gedanken einer negativen Theologie, die zwar von der Existenz eines ganz Anderen ausgehen, aber die Schwierigkeiten einer rationalen Reflexion des jenseits der Ratio liegenden Gegenübers thematisieren, findet man schon im jüdischen Denken. Das gleiche Problem stellt sich aber auch im allgemeinen säkularisierten Diskurs der Grenze, wie er schon bei den alten Griechen zu finden ist und den wir hier als aktuelles Phänomen im Streit um die Existenzberechtigung von Religion entwickelt haben. Mit dem Gedanken der Kontingenzbegegnung wird ein Gegenüber angenommen, das sich einerseits unseren üblichen Erkenntnismöglichkeiten entzieht, andererseits als ein auf uns Wirkendes in unsere Denkmöglichkeiten einbezogen werden soll. Sichtbar konkretisiert sich dieses Wirken als Erfahrung des existenziellen Betroffenseins von sich als einzigartig verstehenden Individuen. Wir wollen hier nicht in die theologische Diskussion eintreten, wie sich die Idee der Offenbarung im Allgemeinen und die der Inkarnation im Besonderen mit einer radikalen negativen Theologie verträgt; auch wollen wir hier nicht die Frage erörtern, ob die Vernachlässigung der negativen Theologie die Hauptursache für die Abkehr vieler Menschen von den großen Kirchen ist, die den Glauben ganz verlieren oder ihre Religiosität in esoterischen Formen pflegen.22 Uns geht es vielmehr darum, erstens die Argumente der negativen Theologie für unser Prob22 So etwa bei Häring (2001), wo es auf S. 126 heißt »Der Abstand zum eindeutigen und verfügbaren Gott ist ebenso gewachsen wie die Überzeugung, dass das Vertrauen auf den wahren und umfassenden Gott die Doktrinen und Regeln der Kirchen übersteigt.«

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lem des Sprechens vom Unsagbaren fruchtbar zu machen und zweitens die Frage zu diskutieren, inwieweit gewissen affirmativen Verkündigungen eine intellektuell verantwortbare Berechtigung zugesprochen werden kann, sofern sie den ontischen Vorbehalt einbeziehen. Der Terminus »negative Theologie« wird in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Auf der einen Seite ist der Begriff sehr weit gefasst. Nach Willi Oelmüller versucht die negative Theologie zu klären, »wie Menschen über Gott denken und sprechen dürfen, wenn sie gleichzeitig um den unaufhebbaren Unterschied von Gott und Mensch wissen«.23 Hier dürfte es ein Leichtes sein, auch noch die affirmativsten Konzepte als negative Theologie zu betrachten. Auf der anderen Seite ist die Einschränkung gelegentlich so extrem, dass kaum mehr ein Unterschied zum Agnostizismus besteht. Dazwischen gibt es diverse Abstufungen. Denn wenn für Gott als dem ganz Anderen in der negativen Theologie bezüglich Erkennbarkeit, Erfahrbarkeit und Verfügbarkeit Einschränkungen zutreffen sollen, dann müssen die Namen, Eigenschaften, Begriffe und Kategorien, die sich auf Gott beziehen, in irgendeiner Form zurückgenommen werden. Die extremste Form der Rücknahme ist das Schweigen von diesem Gott. Ein solches Verhalten unterscheidet sich aber in keiner Weise vom Schweigen der Agnostiker und Leugner Gottes. Da »Theo-logie« aber wörtlich auf das »Sprechen von Gott« verweist, kann es sich in der negativen Theologie nicht um die direkte Sprache der Wissenschaften und des Alltags handeln – es sei denn, man betrachtet diesen Umstand schon als Beweis nicht nur für die Sinnlosigkeit einer solchen Rede von Gott, sondern auch für die Nichtexistenz dieses ganz Anderen. Letzteres ist für uns irrelevant, weil wir die Betrachtung unter die Bedingung von möglichen Kontingenzbegegnungen gestellt haben; es bleibt also nur der Ausweg, nach einer nicht direkten Sprache zu suchen, die uns vor allem in der Verwendung von Analogien und Metaphern trotzdem ein Sprechen von Gott ermöglicht.

23 Oelmüller (1999) S. 11.

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Wie schon der Name sagt, hängt das Konzept einer »negativen« Theologie mit der Interpretation der Negation zusammen. Eine weit verbreitete Form derselben verlässt sich auf das reine Negieren bestimmter Gott üblicherweise zugeschriebener Eigenschaften und gibt sich mit der Einführung neuer Bezeichnungen für das Negierte zufrieden (z. B. »überseiend«, »übergut« bei Dionysios Areopagita, in der Scholastik die »Übernatur« u. ä.). Aber schon dieses einfache sprachliche Vorgehen ist Ausgangspunkt für zahlreicher Missverständnisse. Nehmen wir beispielsweise eine Eigenschaft wie »gerecht«, die im Zusammenhang mit der Auschwitz-Erfahrung heute von vielen Gott nicht mehr zugesprochen wird. Die Negation »Gott ist nicht gerecht« bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch »Gott ist ungerecht« im Sinne einer strikten (polaren) Entgegensetzung.24 Aber die Intention der Vertreter der negativen Theologie will zum Ausdruck bringen, dass weder die eine noch die andere Eigenschaft Gott affirmativ zugesprochen werden soll. Es handelt sich also um einen Fall, der in der Umgangssprache nicht vorgesehen ist. Wie dann die Ausgangsmotivation (z. B. die Auschwitz-Erfahrung) für die Verwendung der Negation gemeint sein soll, zeigt sich erst in den jeweils folgenden Ausführungen.25 Diese könnten beispielsweise den Weg frei machen, um die negative Theologie in eine Theologie der Befreiung oder in das Lob des religiösen Agnostizismus münden zu lassen, in denen sich die christliche Identität in ein allgemeines humanes Selbstverständnis 24 Die Prädikate f und f’ stehen bezüglich eines Prädikats F in einem polaren Gegensatz zueinander, wenn die zugehörigen Klassen von f und f’ eine Klasseneinteilung der Klasse von F darstellen, also der Durchschnitt der Klassen von f und f’ leer, die Vereinigung dagegen die Klasse F ist. Wenn etwas »gerecht« ist, ist es nicht »ungerecht«; außerdem ist von keinem Fall die Rede, in dem weder »gerecht« noch »ungerecht« zutrifft. Zur Unterscheidung von kontradiktorischen, konträren, polaren und antagonistischen oder heterothetischen Gegensätzen siehe Wuchterl (1999) S. 113–115. 25 Siehe z. B. den Titel von Benk (2008): Gott ist nicht gut und Gott ist nicht gerecht. Umgangssprachlich bedeutet das negative Urteil »Gott ist nicht gerecht« die Affirmation »Gott ist ungerecht«. Benk will in seiner Untersuchung aber zeigen, dass bei »Gott« weder die Adjektive »gerecht« noch »ungerecht« im umgangssprachlichen Sinn anwendbar sind. Psychologisch wirkt der Titel aber als kritisch abwertende Aussage über das Wesen Gottes.

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auflöst; andere könnten einen Rest von Affirmation rechtfertigen, weil sie die Radikalisierung als inneren Widerspruch erklären und negative Theologie nur als Korrektur und Chance einer Erneuerung sehen. So verlieren sich alle Versuche in Redeweisen, die wir zwar als Fälle einer nicht direkten Sprache qualifizieren können, bei denen wir uns aber schwer tun, der Nichtdirektheit einen Sinn zu geben. Kehren wir zur angesprochenen Problematik der Negation zurück. Wer sich auf die Beiträge der formalen Logik beschränkt, darf sich nicht wundern, dass diese keinen Zugang zu den Grenzproblemen finden. Der naheliegende Schritt, der Negation eine neue Bedeutung zu geben, führt aber zu Scheinlösungen. Es ist wohl kein Zufall, dass solche Versuche vor dem Hintergrund eingeschränkter säkularer Kontingenzanerkennungen erfolgen. Wenn beispielsweise Adorno, für den die Logik ein Instrument der Gewaltausübung und eine Fessel für kreatives Denken ist,26 das Nichtidentische an die Stelle der traditionellen Transzendenz setzt und zugleich betont, dass dies keinerlei Affirmation, etwa aus der Negation des Negativen, enthalte, dann wird zugleich verschwiegen, dass hier der Identitätsbegriff mit einem dialektischen Bedeutungsgehalt aufgeladen wird,27 der ohne Schwierigkeiten solche Aussagen ermöglicht, die ohnehin keiner Konsequenzenlogik unterworfen sind. Bei Andreas Benk sieht man, wie solche Ausgangsprämissen den Weg öffnen, dieses Nichtidentische oder unhintergehbar Negative offen durch Formen des Protestes oder eine Theologie der Befreiung zu ersetzen. »Wer auf keine Weise (auch nicht handelnd) mehr auszudrücken vermag, was unserer erbärmlichen Welt eine Ahnung von Hoffnung gewähren könnte – der kann sich freilich nur noch abfinden mit dem bestehenden Elend […]. Der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, durch sein Schweigen und Nichtstun das Bestehende zu belassen, ja zu rechtfertigen.«28 Dann folgt noch der direkte Bezug auf Adorno, bei dem es heißt: »Demgegenüber hat […] ›unbeirrte 26 Adorno (1975) S. 161/162; diese Einschätzung steht im Zusammenhang mit seiner Hegel-Kritik.

27 A.a.O. S. 149–151. 28 Benk (2008) S. 16. Siehe auch S. 17 f.

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Negation ihren Ernst daran, dass sie sich nicht zur Sanktionierung des Seienden hergibt‹.« Eben diese gebotene Veränderung alles Seienden bestimmt schon Adornos ursprünglichen Positivitätsbegriff und bedingt die affirmative Feststellung der Erbärmlichkeit der Welt, die keineswegs nur als säkulare und aufgeklärte Kontingenzanerkennung zu interpretieren ist. Die Offenbarung der Verpflichtung zur heilsamen Weltveränderung aus dem Nichtidentischen und die Sehnsucht nach der vollendeten Gerechtigkeit sind nur verständlich aus der Öffnung für eine Kontingenzbegegnung, in der jene zur Weltverbesserung aufrüttelnde Wirkung metaphorischen Charakter hat. Dies alles erinnert an Horkheimers Diktum, dass »die Sehnsucht nach dem ganz Anderen« eine Sehnsucht danach ist, »dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«.29 Hier ist der Charakter des Überstiegs offenkundig. Wenn aber der Charakter des ganz Anderen bewahrt bleiben soll, ist dies ein konsequenter Schritt in die Metaphorik, der bei anderen und insbesondere bei Blumenberg misslingt, weil dieser – verzweifelt und von Selbstmitleid geplagt – in seiner »Höhle« verharrt. So gerät die gesamte dialektische Logik in den Verdacht, ihren religiösen Kern durch Metaphern geschickt zu verbergen. Wenn es so etwas wie eine religiöse Sprache gibt, dann muss diese unter dem Gebot des ontischen Vorbehalts stehen und sich zur Metaphorik bekennen. In einer solchen Situation muss sich jedoch die analytische Sprachphilosophie herausgefordert fühlen. Eine klare Position bezieht hier beispielsweise Franz von Kutschera. Dieser besteht auf der Trennung einer wissenschaftlichen Sprache des direkten oder wörtlichen Gebrauchs, zu der auch die wissenschaftlich-theologische gehört, von einer religiösen Sprache, in der vor allem Metaphern und andere Elemente indirekt (also nicht wörtlich) verwendet werden. Geht man in der »negativen Theologie« davon aus, dass Gott völlig anders ist als alles, was wir kennen, dann kann von Gott auch keine direkte wissenschaftliche Aussage gemacht werden, weil die Prädikate der di29 Horkheimer (70) S. 69.

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rekten Sprache in Anwendung auf Gott nicht definiert sind. Eine solche Theologie »kann nur sagen, dass solche Aussagen unmöglich sind und damit ist sie dann auch schon am Ende«.30 Dies bedeutet für Kutschera nun aber nicht die Unmöglichkeit von kognitiven Aussagen über Religion. Während radikale Positivisten (wie etwa Alfred J. Ayer) solche Konsequenzen ziehen würden, wurden in der späteren analytischen Philosophie die ursprünglich sehr engen Sinnkriterien durch metaphorische und poetische Elemente (Metaphern, Analogien, Erzählungen, Gleichnisse, Parabeln u. ä.) erweitert. Religiöse Aussagen sind dann für Kutschera nicht leer, sondern eben nur nicht wissenschaftlich und können dennoch »annähernd richtig« sein. Dabei unterscheidet er zwischen der Sprache der Religion und der Sprache der Theologie. Erstere betrifft zum Beispiel die Texte der Bibel mit ihren Psalmen, Hymnen, Gebeten und Predigten. »Sie zielen nicht auf begriffliche Genauigkeit, sondern wollen uns das, wovon sie reden, in seiner Bedeutung für unser Leben verdeutlichen, es unserem Erleben und Fühlen, nicht nur unserem Denken nahebringen. Dabei spielen […] Metaphern, Bilder und Gleichnisse eine große Rolle.«31 Die religiöse Redeform ist deshalb durchaus kognitiv sinnvoll, ohne dabei wörtlich genau zu sein. Demgegenüber muss in der Sprache der Theologie, die wissenschaftlich über Gott sprechen will, der wörtliche Sprachgebrauch zugrunde gelegt werden. »Der Versuch einer Verwissenschaftlichung der Aussagen der Religion kann letztlich nur dazu führen, dass sie durch schlechte metaphysische ersetzt werden, und er wird immer wieder in einen Obskurantismus umschlagen.«32 Kutschera betont anschließend, dass er hier nicht gegen eine wissenschaftliche Theologie argumentiere, »sondern nur gegen den Versuch, in wissenschaftlicher Form von Gott zu reden«. Lässt man die Frage offen, ob negative Theologie eine Wissenschaft sein kann oder nicht – in der Praxis wird der Wissenschaftsbegriff ohnehin recht großzügig verwendet –, so konzentriert sich alles auf die 30 Kutschera (1991) S. 72. 31 A.a.O. S. 81. 32 A.a.O. S. 84.

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Möglichkeiten, jenes »annähernd richtig« im religiösen wie im theologischen Reden auszuschöpfen. Lässt sich in einer »negativen Theologie« aber nicht vielleicht doch in irgendeiner Form Allgemeinverbindliches positiv über Gott aussagen, beispielsweise, ob ihm das Sein als ens a se oder ein Name als spezifisch Einziger zugeordnet werden kann? Einen solchen Versuch, das heißt einen Rest von Affirmation in der negativen Theologie aufzuspüren und diese erst dann mit der Metaphorik in Zusammenhang zu bringen, liefert Thomas Schärtl in seiner Abhandlung »›Negationes non summe amamus‹. Eine sprachanalytische Annäherung an das Konzept negativer Theologie«.33 Schärtl zeigt in dieser Untersuchung wenig Sympathie für Kutscheras pragmatischen Nonkognitivismus (4), den man oft auch als dezisionistisch verdächtigt, weil er die wissenschaftliche Rationalität für die Religion einerseits einschränkt, dann aber andererseits doch wieder rational nicht begründbare religiöse Aussagen zumindest für die Privatsphäre zulässt. Schärtl traut der Vernunft doch mehr zu und versucht, rational zu beweisen, »dass Gott zwar eine singuläre, aber keineswegs (semantisch oder epistemologisch) relationslose Entität ist«. Ausgangspunkt ist die Charakterisierung der negativen Theologie durch die drei34 folgenden Thesen (8):

33 In: Halbmayr/Hoff (2008) S. 54–90. Im Folgenden wird nicht auf Seiten, sondern auf die nummerierten Abschnitte Bezug genommen. Wir berücksichtigen hier vorzugsweise Autoren, die sich bemühen, die Ergebnisse der sprachanalytischen Forschung einzubeziehen. 34 Schärtl führt noch eine weitere These (N4) auf, die er von Pannenberg (1982) S. 186 f. übernimmt, dann aber in seine grundsätzlichen Überlegungen nicht mehr einbezieht. (N4) dient zur Rechtfertigung einer »wissenschaftlich-theologischen Rede« und betrifft die transzendentale Reflexion der Rede vom Transzendenten.

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»(N1) Gott ist transzendent. (N2) Etwas Transzendentes kann von der menschlichen Sprache (wahlweise […]: Vernunft, Erkenntnis, Erfahrung) nicht adäquat erfasst werden. (N3) Von etwas Transzendentem kann nur in einer übertragenen […] Weise gesprochen werden.«

Diese Grundthesen werden daraufhin nach ihrem Gehalt und ihrer Plausibilität untersucht. Schärtl geht dabei von der elementaren Tatsache aus, dass wir üblicherweise zwischen Existenzaussagen und Eigenschaftszuschreibungen unterscheiden können, und dass eben diese »ontosemantische« Differenzierung im Transzendenzbegriff problematisiert wird; denn in Verbindung mit dem Wort »Gott« seien herkömmliche Existenzaussagen und Eigenschaftszuschreibungen nicht möglich (9). Bei der Eigenschaftszuschreibung müsse die elementare Prädikation (Kamlah/Lorenzen) bedacht werden, eine »Sprachhandlung, bei der wir einem Gegenstand x eine Eigenschaft F zusprechen oder bei der wir einen Gegenstand x in eine Sorte einordnen«(11). Bei dem Gegenstand »Gott« aber scheint diese Sprachhandlung nach den Grundthesen in der üblichen Form nicht möglich zu sein. Ziel der Argumentation ist so der Nachweis, dass (N1) und (N2) trotzdem Affirmationen zulassen und keineswegs notwendig auf eine radikale negative Theologie hinauslaufen, in der alle Sprechweisen uneigentlich und Affirmationen nur durch die Berufung auf heilige Schriften oder auf direkte individuelle Gotteserfahrungen möglich sind. Da es sich hier um elementare Überlegungen handelt, können wir diese auf das noch undifferenzierte »ganz Andere« der Kontingenzbegegnung übertragen. Dass Schärtl hier von einem »Gegenstand ›Gott‹« spricht, braucht uns nicht zu stören, weil er den Gegenstandsbegriff sehr weit fasst, nämlich »im weitesten Sinne von ›ens‹ « (16) und ihn als Komplementärkategorie zum »ontosemantischen Nichts par excellence« betrachtet. Dass wir gerade Schärtls Untersuchung heranziehen, hat mehrere Gründe. Einmal zeichnet sich diese durch eine weit gehende Differenzierung der in der negativen Theologie üblichen pauschalen Unmöglichkeitsbehauptungen aus. Ferner führen die Über-

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legungen – wie auch bei uns – zur Frage nach der Rolle von Metaphern, auch wenn seine Antwort in ihrer optimistischen Reichweite nicht zu überzeugen vermag. Schließlich lässt sich anhand dieses Beispiels zeigen, wie die Affirmationen, die ein radikales Negieren aller Möglichkeiten eines Gottesbezugs endlicher Wesen verhindern sollen, rational eben doch nicht gestützt werden können, ohne dass sich ein Sichgeben des Anderen (also Kontingenzbegegnung) ereignet. Dieses Ereignis geschieht aber nach unserem Ansatz nicht als Widerschein des dezisionistischen Fideismus, sondern als Reaktion auf die Grenzerfahrung des rationalen Scheiterns, wie sie im Durchschauen von universellen Dogmatisierungen (also von thetischen Kontingenzbewältigungen) erfolgt. Kehren wir zu den drei Grundthesen zurück, in denen der Begriff der Transzendenz im Mittelpunkt steht. Die angesprochenen Differenzierungen dienen dazu, Gründe für gelingende oder misslingende Eigenschaftszuschreibungen aufzeigen zu können. Schärtl unterscheidet drei Arten von Transzendenz, nämlich Erkenntnis-, Kategorien- und Typenkonnex-Transzendenz (12), die er der Reihe nach und voneinander getrennt ausführlich analysiert. (a) Zur Erkenntnistranszendenz heißt es: »Ein Gegenstand ist erkenntnis-transzendent, wenn er sich unserer Erkenntnis bzw. den herkömmlichen Mitteln unserer Erkenntnis weitgehend oder vollständig entzieht« (12). Wenn das vollständige Entziehen den Gegenstand »Gott« beträfe, wären wir beim ontosemantischen Nichts angelangt, das schwerlich Gegenstand einer Theologie sein kann. Also kann nach Schärtl eine negative Theologie nie den radikalen Begriff der Erkenntnistranszendenz voraussetzen. Zur Rettung der Radikalität könnte man die alternative These vertreten, dass jene geheimnisvolle Entität zwar nicht vollkommen erkenntnis-transzendent, wohl aber vollkommen sprach-transzendent ist (13); man hätte also einen wie auch immer gearteten Erfahrungsbezug, nur könnte man ihn sprachlich nicht ausdrücken. Dann wäre der Weg frei für metaphorische und andere indirekte Sprachformen. Diese Möglichkeit, auf eine vollkommene Sprachtranszendenz auszuweichen, lehnt Schärtl aber ab. Er

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argumentiert dabei mit der Sprachspieltheorie Wittgensteins, die eine enge, auf ostensive Definitionen eingeschränkte Gegenstandstheorie in Frage stellt und das Verstehen von sprachlich nicht Ausdrückbarem ad absurdum führt. Nach Wittgenstein muss es sich im Falle einer Erfahrung um etwas handeln, dessen Existenz jemanden zu bestimmten öffentlich zugängigen Reaktionen veranlasst, die als solche beschreibbar sind und die ursprüngliche Referenzahnung in eine klare Prädikation verwandeln. Beim Ausbleiben dieser Transformation verschiebt sich wegen der engen Verwobenheit von Denken und Sprechen aber die gesamte Problematik nur. Auch die radikale Sprachtranszendenz endet im ontosemantischen Nichts. Die Metaphern einer radikalen negativen Theologie wären also leere Variationen über das Nichts. Schärtl zieht hier eine interessante Alternative in Betracht (13), um dem Satz: »Ich habe eine Vorstellung bzw. einen Gedanken von x, aber ich kann das nicht in Worte ausdrücken« einen Sinn zu geben. Nehmen wir an, man nimmt einen Gegenstand wahr und gibt dabei spontan eine Lautäußerung wie »oh« von sich. Schärtl nennt diese ausdrucksstarke Anzeige rudimentäre Referenz und betrachtet diese als legitimen, weil verständlichen, sprachlichen Akt. Zugleich gibt er zu, hier ein neues Bild von Sprache zu verwenden und qualifiziert den Hinweis auf jenes Etwas »als Ansage einer sozusagen ›sprachtechnologischen Unsicherheit‹ «. Diese hat aber nach Schärtl nur dann einen Sinn, wenn sie zugleich als Aufforderung zur Bemühung um Beseitigung der Unsicherheit verstanden wird. Selbst wenn alle Versuche vergebens sind, so wird doch durch das Ringen etwas angezeigt, nämlich »ein verstehbares Verhaltensmuster […], ein Muster von Kommunikation und damit ein Element von Bedeutung« – und damit von Sinn. Im wissenschaftlichen Kontext ist die »Ansage« dieser rudimentären Referenz für Schärtl aber sprachlicher Unsinn. Doch die Transformation der rudimentären in eine korrekte Referenz mit Hilfe der skizzierten Reaktion auf das Problem der in Worten nicht ausdrückbaren Vorstellung wird im Falle eines »ganz Anderen« gerade ausgeschlossen. Schärtls Überzeugung, wenigstens die partielle Sprach- und Erkenntnistranszendenz doch noch retten zu können, indem er die wissenschaftliche

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Prädikation als »eine Weise des Prädizierens, die von allen kontingent und situativ bedingt erscheinenden Relationen abzusehen versucht«, charakterisiert, muss daher scheitern; auch der hermeneutische Ersatz, der im Hinweis auf Gadamers Kritik angeführt wird (14), kann da nichts ausrichten. Hier handelt es sich um keinen Gegenstand x unter anderen, sondern um etwas religionsphilosophisch Kontingentes, das a priori allen Vereinnahmungsversuchen widersteht. Wenn das x also auf jenes »ganz Andere« bezogen ist, dann ist das Beiseitelassen des wissenschaftlichen Maßstabs wegen der Entlarvung der Selbstorganisation der Natur als falsche Bewältigung selbstverständlich und die Mühen des Ringens führen an die Grenzen der Vernunft. Die »sprachtechnologische Unsicherheit« entpuppt sich hier auf diese Weise als Indiz für die Notwendigkeit des ontischen Vorbehalts. (b) Weil Schärtl in seinem Anliegen, sich den Problemen mit Hilfe der Sprachanalyse anzunähern, diesen Weg nicht mitgehen kann, steht für ihn die Interpretation partieller Erkenntnistranszendenz weiterhin als ungelöstes Problem im Raum. In seiner Überlegung, wo die Störungen genauer ihre Wirkung zeigen könnten, wendet er sich als nächstes der Kategorientranszendenz zu, hängt doch die Prädikation eng mit der Kategorienzugehörigkeit zusammen. So geht es ihm nun nicht mehr allgemein um Eigenschaftszuschreibungen, sondern um Kategorienzuschreibungen. Auch hier weist er – wie im Fall der Erkenntnis- und Sprachtranszendenz – die Möglichkeit einer radikalen Kategorientranszendenz zurück. Die Störungen werden in diesem Fall allgemein als Kategorienfehler bezeichnet. Wenn beispielsweise eine Kategorie A die Prädikate einer physikalistischen Sprache umfasst und Aussagen über Personen in dieser Sprache formuliert werden, dann kann dies als ein solcher Kategorienfehler kritisiert werden. Zur Klärung der offenen Frage, ob wenigstens die Erkenntnistranszendenz in der negativen Theologie partiell sein kann, damit den Theologen etwas zu sagen bleibt, untersucht Schärtl die Struktur der Kategorientranszendenz. Zur Charakterisierung einer Kategorie dienen Eigenschaftstypen, beispielsweise innerhalb der physikalischen Eigenschaften die Typen der Räumlichkeit, der Zeitlichkeit, der Materialität usw. Damit lässt sich

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(analog zu (KT) in (15) etwas vereinfacht) die Kategorientranszendenz auf folgende Weise definieren: (KT’) Es seien α(.), β(.), γ(.), … Eigenschaftstypen bezüglich der Kategorie A. Genauer bedeutet das: Für alle denkbaren Gegenstände x, für die »~α(x) und ~β(x) und ~γ(x), …« gilt, liegt x sicher nicht in der betrachteten Kategorie A. Und eben diese Elemente, die nicht in A liegen können, sind »kategorientranszendent bezüglich A«.

Durch die Kategorienzugehörigkeit wird mit bestimmt, welche Prädikate einem Gegenstand zugesprochen werden. Wenn in unserem Beispiel die Personalität nicht in die Kategorie der physikalischen Gegenstände fällt, also bezüglich der genannten Kategorie kategorientranszendent ist, kann man sie doch eventuell in eine andere Kategorie einordnen, wie beispielsweise in die Kategorie der mentalen Gegenstände (Intentionen, Gedanken, etc.). Die Kategorienzugehörigkeit hängt mit der Prädikation insofern zusammen, als diese entscheidet, welche Prädikate einem Gegenstand zugesprochen werden können und welche nicht (z. B. wird damit klar, warum der Satz»eine Primzahl ist teilbar« sinnvoll, aber »eine Primzahl ist gelb« unsinnig ist). Um genauere Aussagen darüber machen zu können, ob ein Gegenstand in keine Kategorie eingeordnet werden kann, müssen die Strukturzusammenhänge geklärt sein. Bei Schärtl heißt es deshalb: »… eine philosophische und in diesem Fall auch metaphysische Präzisierung wird […] darin bestehen, ein Kategoriensystem zu entwerfen, das maximal umfänglich und vollständig disjunktiv aufgebaut ist […]« (16). Daraus folgert er dann mit Recht, dass jeder Gegenstand in genau eine Kategorie eingeordnet werden muss, also die Annahme, dass Gott kategorientranszendent sei, wieder zu einem ontosemantischen Nichts führt; die vollkommene Kategorientranszendenz ist unter dieser Voraussetzung »letztlich undenkbar« (17). Da aber für Schärtl der Gedanke, es könne keinen vollkommen kategorientranszendenten Gegenstand geben, nicht annehmbar ist, stellt er die maximale Umfänglichkeit und die vollständige Disjunktivität, das heißt indirekt auch

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das wissenschaftliche und metaphysische Vorgehen insgesamt infrage. Seine darauf folgenden neuen Bemühungen, die partielle Transzendenz anderweitig (über die Typen-Konnexität) zu begründen, gehen aber wiederum ins Leere. Der Grund des Scheitern liegt in dem Umstand, dass hinter den formalen Definitionen der einzelnen Transzendenztypen schlichte dogmatische Extrapolation verborgen sind, und diese Einsicht erspart uns den Umweg Schärtls über die Typen-Konnexität. Denn der Versuch, in einer perfekt systematisierten Ontologie bezüglich eines bestimmten »Gegenstandes« Lücken oder gar Fehler und Widersprüche zu finden, um damit die Transzendenz dieses Gegenstandes logisch fixieren zu können und sie als Stütze einer Möglichkeit von Affirmationen innerhalb der negativen Theologie zu verwenden, muss in jedem Fall scheitern, weil endliche Wesen jene Perfektion nicht nachweisen können. In den Grundannahmen, wie hier in (KT’), sind Aufzählungen stets nur potenziell konkretisierbar, aber als aktual unendlich gedacht. Und genau diese Extrapolation ist nach wie vor ein ontologisches Rätsel, und sie bleibt es auch, wenn man sie in Formalismen versteckt. Im Gegenteil, durch die Formalisierungen wird gerade in der Verwendung von Negationen die Grenze der menschlichen Konstruktionsprozesse deutlich. Schärtl bezieht sich hier, wie auch an zahlreichen anderen Stellen, auf Untersuchungen von Keith Yandell.35 Dieser sucht unter Verwendung von Ergebnissen Wittgensteins (z. B. zur Kritik der überbewerteten ostensiven Definition (23)) und der daraus folgenden epistemologischen Ungereimtheiten in Positivismus und Sensualismus ebenfalls nach Möglichkeiten von Affirmationen, also von rationalen oder vernünftigen Spuren in der negativen Theologie. In (27) fasst er die relevanten Ergebnisse Yandells zustimmend zusammen: Ausgehend von der These, dass alles, was unter Kategorien fällt, spezifische Eigenschaften haben muss, heißt es dann bei Schärtl: »Selbst wenn wir im Falle Gottes nicht festlegen können, worin diese spezifischen 35 Siehe Yandell (1979), insbes. S. 86–89.

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Eigenschaften genau bestehen, so können wir alle [sic!] spezifischen Eigenschaften, die wir kennen, durchgehen und uns fragen, ob sie auf Gott zutreffen oder nicht. Und selbst wenn das Ergebnis eine sehr lange Liste von Negationen wäre, wäre diese Liste immer noch ein Ausweis einer ›bestimmten Negation‹, die erstens rational (!) ist – es ist schließlich begründbar[sic!], warum Gott nicht rot, nicht 78 kg schwer oder nicht Thomas Schärtl ist […] –, die zweitens aussagefähig und aussagekräftig und die drittens als Aussage buchstäblich zu nehmen ist.« Was hier als »Begründung« mitgedacht wird, lässt sich schwerlich durch die gängigen Rationalitätsbegriffe abdecken. Das wird auch durch den folgenden Hinweis auf eine mitgedachte »Dialogik der Anerkenntnis« deutlich, die sich auf die Art und Weise bezieht, wie sich Gott uns zu erkennen gibt. Es wird also vorausgesetzt, dass er sich zu erkennen gibt, weil er etwas ist, worauf man sich beziehen kann (vgl. 25). In diesem Argumentationssprung wird das Affirmative eingeschmuggelt, das sich letztlich aus der Art der Negationen rational begründen lassen soll. Der Rekurs auf Kategorien bringt nichts Neues; Affirmationen sind zirkuläre Setzungen jenseits der Grenze, ob es sich um Eigenschafts- oder Kategorienzuschreibungen handelt. (c) Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man auch nach Schärtls Analyse der Typen-Konnex-Transzendenz. Dort wird zunächst der Gedanke skizziert, dass in vielen Fällen das »Haben von Eigenschaften« in notwendigen Zusammenhängen auftritt (17). Man denke an die Annahme, dass geistbegabte Wesen stets notwendig ein Gehirn haben müssen. Schärtl fragt selbst kritisch, »ob diese Zusammenhänge nur Extrapolationen der Bauprinzipien unserer Welt sind oder ob sie mit überwältigender und sozusagen unbezwingbarer Notwendigkeit gelten.« Nach Schärtl gelingt es der Theologie, mit Hilfe der formalen Präzisierung solcher notwendigen Zusammenhänge »eine begrifflich luzide, systematische Rede von Gott aufrecht zu erhalten« (18). Für uns ist es äußerst schwierig, diese Klärung nachzuvollziehen. Schärtl spricht hier offensichtlich stets von der ontologischen Notwendigkeit, die sich auf alle denkbaren Welten bezieht. Betrachten

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wir den Typ T1, der aus den Eigenschaften F(.), G(.), … besteht, und den TypT2 mit den Eigenschaften I(.), K(.), … Wenn allen Entitäten x (z. B. den Menschen), welche die Eigenschaft F(.) (z. B. geistbegabt) haben, notwendigerweise auch die Eigenschaft I(.) (z. B. ein Gehirn besitzend) zugeordnet werden kann, und Entsprechendes für die anderen Eigenschaften von T1 bzw. T2 gilt, so trifft auf diese die TypenKonnexität zu. Existiert nun eine Entität a, so dass F(a), G(a), …und zugleich ~I(a), ~K(a), … zutrifft, ist dieser Gegenstand typenkonnextranszendent. Nun behaupten Theologen, »Gott sei eine Person, aber eben nicht körperlich, er sei überall und doch nicht sichtbar, er sei ein Agent, aber eben nicht an physikalische Kausalität gebunden […] etc.«36 Mit diesem Hinweis scheint für Schärtl die Rede von Gott durch die Typen-Konnex-Transzendenz hinreichend gerechtfertigt, allerdings kann die Formulierung der Existenzaussagen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Folgerung nur durch eine Überschreitung aller denkbaren Welten erfolgt und so indirekt das Jenseits der Grenze ontologisiert wird. In (19) unternimmt Schärtl einen neuen Versuch, die Notwendigkeit von Affirmationen aufzuzeigen, indem er eine weniger radikale Rekonstruktion der Erkenntnistranszendenz durchführt, die mit dem uns so wichtig erscheinenden epistemischen Bezug operiert. Die beiden (miteinander verträglichen) Deutungen der epistemischen Erkenntnistranszendenz, die Schärtl vorschlägt, lauten: »(ET 1)

Ein Gegenstand a ist erkenntnistranszendent, wenn er sich einer Menge M von standardisierten Methoden m1, m2, m3 … des Erkennens entzieht.

(ET 2)

Ein Gegenstand a ist erkenntnistranszendent, wenn er sich einer Menge S von Erkenntnissubjekten s1, s2, s3 … entzieht.«

36 Hier wird man wieder an die Interpretation der Wisdom’schen »Gärtnerparabel« von Flew erinnert, in welcher der Gärtner bzw. Gott »den Tod durch tausend Modifikationen« stirbt. Siehe Dalferth (1974) S. 84/85.

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Man beachte, dass es sich hier um faktisch endliche Mengen von Methoden bzw. Subjekten handelt. Die Versuchung ist groß, statt der angegebenen Deutungen eine radikalere und extrapolierte Alternative ins Auge zu fassen: (ET 3)

Ein Gegenstand a ist vollkommen erkenntnistranszendent, wenn er sich einer Menge M* von allen denkbaren Methoden des Erkennens und einer Menge S* von allen denkbaren Subjekten entzieht.

Vom epistemischen Standpunkt aus, der aufgrund unserer Endlichkeit unhintergehbar ist, erweist sich die partielle Erkenntnistranszendenz als plausibel. Sie bestätigt die von uns entwickelten Gedanken zur Grenze von Kontingenzbewältigungen; ferner entspricht die Berufung auf die vollkommene Erkenntnistranszendenz den Dogmatisierungen im Bereich naturgesetzlicher und ontologischer Extrapolationen, die sich Kontingenzanerkennungen widersetzen. Die von Schärtl angedeuteten Widersprüche im radikalen Ansatz bestätigen also unsere allgemeinen Überlegungen zum autonomen Festhalten an Kontingenzanerkennungen, die nach unserer Auffassung stets widerspruchsvoll sein müssen. Besonders interessant ist genau an dieser Stelle (20) der Hinweis auf Dionysios Areopagita, der sich zur Klärung der Möglichkeiten einer radikalen negativen Theologie auf die Zeugnisse aus der Heiligen Schrift beruft. Dazu Schärtls Kritik: »In dieser Form sind seine Gedanken schlicht thetisch und wenig überzeugend: Wird Gott als Überwesenheit apostrophiert, dann ist damit die radikale Transzendenz Gottes lediglich zum Ausdruck gebracht, aber nicht argumentativ dargelegt.« Hier ist es dabei nicht von Belang, ob man innerhalb der Glaubenssetzung von einem platonisch-hierarchischen Erkenntnismodell ausgeht, in dem von Schärtl und Yandell Widersprüche entdeckt werden, sondern dass mit diesem Rekurs eine Kontingenzbegegnung vorausgesetzt wird. Der Versuch, die negative Theologie vor dem Agnostizismus zu bewahren, ist nach unserem Zweifel an dem affirmativen Charakter der behandelten Denkprozesse nicht gescheitert; denn diese zeigen

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gerade die Möglichkeit auf, die Widersprüchlichkeiten menschlicher endlicher Aktivitäten als Chance für eine Kontingenzbegegnung zu ergreifen, in der existenzielle Erfahrungen unter Verwendung von Metaphern artikuliert und unter ontischem Vorbehalt auf das ganz Andere bezogen werden. Demnach ist negative Theologie nur dann als radikal zu betrachten, wenn sie auch die Möglichkeit einer metaphorischen Sprache ausschließt und sich in reine Aktivität verliert. Affirmation bedeutet für uns, dass die Metaphorik nicht als Hilfsmittel der Beschreibung von Transzendenz missverstanden wird, sondern dass diese die Elemente existenzieller menschlicher Erfahrungen in bildliche und vermittelbare Sprachformen gießt. Dabei ist man sich nicht nur ihrer Andersartigkeit bewusst, sondern man vollzieht zugleich die Öffnung für neue Erfahrungen. So hilfreich also alle Differenzierungen und Präzisierungen auch sein mögen, sie können keine Affirmation in dem Sinne bedeuten, dass in ihnen die Notwendigkeit des Übergangs von der Kontingenzanerkennung zur Kontingenzbegegnung realisiert wird. Sie verdeutlichen nur noch einmal auf andere Weise, dass wir in unserer Endlichkeit verfangen bleiben und nur die Grenzen als solche sichtbar machen. Was nach dem Akt der Grenzerkennung geschieht, liegt nicht in unseren Händen. Bevor wir uns dem zweiten großen Thema, der »Einzigartigkeit Gottes«, zuwenden, das Schärtl in seiner Eingangsthese in (4) zur Diskussion stellt, seien noch einige Bemerkungen zur Metaphorik vorweggenommen, die in (N3) angesprochen wird. Dort ist die Rede davon, dass vom Transzendenten nur in einer übertragenen Weise gesprochen werden kann; dabei wird explizit auf Metapher und Analogie Bezug genommen. In (28) wird die These Schärtls zur Metaphern-Problematik formuliert, nämlich »dass erstens Analogie und Metaphern keine Dauerkonkurrenten zum sogenannten buchstäblichen Reden sind und dass zweitens Analogie und Metapher nicht in den Dienst einer negativen Theologie (in radikaler Ausprägung) gestellt werden dürfen, ja dass sie […] Mitstreiter für (TKT) darstellen«.37 Dem Hinweis auf 37 Vergleiche oben (17), wo die Typen-Konnex-Transzendenz als Argument für eine Affirmation angeführt wird.

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das »buchstäbliche Reden« folgen keine weiteren Ausführungen, die klären würden, ob hier die strenge wissenschaftliche Rede oder der Wortlaut in heiligen Schriften gemeint ist. Deutlicher wird Schärtl hingegen im zweiten Teil der These. Die Formulierung in (29), wonach die Metapher »für Ohren des herkömmlichen Sprachgebrauchs zunächst anstößig, ungewohnt, überraschend, aber nicht unvernünftig« ist, bezieht sich offensichtlich auf absolute Metaphern in unserem Sinn und verknüpft die Vernünftigkeit mit der Möglichkeit der Typen-KonnexTranszendenz. Hinsichtlich unserer diesbezüglichen Bedenken wird damit ein Rekurs auf (absolute) Metaphern in der negativen Theologie nicht ausgeschlossen, das heißt, Metaphern können in der negativen Theologie doch eine zentrale Rolle spielen. Ab (33) wendet sich Schärtl abschließend der Frage nach der »Einzigartigkeit « Gottes zu. Bevor er die durch seine Transzendenzanalyse vermeintlich begründete Diskursivität der Theologie an dieser zentralen Problematik demonstriert, weist er auf eine bemerkenswerte Einschränkung hin, die vieles vorher Gesagte relativiert. Da heißt es: »Wer eine nur relative Kategorien- oder Typen-Konnex-Transzendenz konzediert, der hat damit immer noch keine vollkommene Bestimmung des Gottesbegriffs geleistet. […] Jede weitere Bestimmung des Gottesbegriffs muss […] zur Negation Zuflucht nehmen, um etablierte Kategorienzusammenhänge und Typenkonnexe aufzusprengen, ohne dass sie die dabei entstehenden Leerstellen füllen kann.« Besser kann man unseren Begriff des ontischen Vorbehalts nicht umschreiben. Warum dies nicht auch bei der basalen ontologischen Kategorie des »ens« bedacht werden sollte, ist nicht einzusehen – ganz abgesehen von dem »begrifflich wohlbestimmten Rahmen zur Erweiterung von Prädikationsfeldern«, den Schärtl angenommen, aber alles andere als überzeugend entwickelt hat. Man hätte hier eine Anwendung seiner Überlegungen zur Kategorientranszendenz erwartet. Stattdessen knüpft seine religiöse Semantik an den platonisch-plotinischen Begriff des Einen an. Er schränkt hier zunächst den Status von allgemeinen Eigenschaften ein, wonach diese nicht von mehreren Entitäten instantiiert werden müssen, sondern instantiiert werden können (37). Damit werden Aus-

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nahmen zugelassen, und der Einzigkeit Gottes steht nichts mehr im Wege. So gelangt er schließlich auf Umwegen zum gleichen Ergebnis, das in der extensionalen Betrachtung problemlos aus der Existenz von Klassen mit genau einem Element folgt (z. B. bei Frege). Nach dieser eher unbefriedigenden Argumentation zur Problematik der »Einzigartigkeit « oder des »Namens« Gottes wenden wir uns nun im Folgenden anderen Untersuchungen zu, die jenen »begrifflich wohlbestimmten Rahmen« ausführlicher beschreiben. Schließlich geht es hier ja nicht um ein belangloses theologisches Thema, sondern um eine zentrale Glaubensfrage, deren Antwort infolge ihrer Voraussetzungen das gesamte religiöse Selbstverständnis deutlich werden lässt.38 Zunächst scheint alles auf eine religiöse Sprachkritik im Sinne der analytischen Philosophie hinauszulaufen, die einige abschrecken könnte, weil sie hinter der »religiösen Semantik« eine fruchtlose Begriffsdifferenzierung vermuten. Aber es sind gerade hermeneutisch motivierte Forscher, die auf die Bedeutung der historischen Semantik und der gegenwärtigen Sprachpragmatik hinweisen und sich der Mühe unterziehen, die neuesten sprachwissenschaftlichen Unterscheidungen als Hilfsmittel heranzuziehen. Schon in den 1980er Jahren hat zum Beispiel Ingolf Dalferth in seinem Werk Religiöse Rede von Gott (1981) Material bereitgestellt und Brücken geschlagen. Seit der Internalisierung der Wittgenstein’schen Spätphilosophie im sprachbezogenen Denken weiß man, dass – wie bei allen Ausdrücken – auch beim Wort »Gott« Sinn und Referenz von seinem Gebrauch in der Lebenspraxis bestimmt ist. Das ist die eine Seite – eine Feststellung, die viele Fragen offen lässt, aber auch zu endgültigen Verfestigungen verführt. Die andere Seite weiß, dass der richtige Sprachgebrauch in Sinnfragen noch keine Antwort auf die Wahrheit des Gemeinten enthält. Ob dabei gerade der hermeneutische Optimismus berechtigt ist, aus der Begriffsgeschichte hinreichende Winke für eine Antwort auf die Wahrheitsfrage finden 38 Dramatisch formuliert in Dalferth/Stoellger (2008) S. 6: »Die Debatten um […] den Namen Gottes sind nicht selten ›Stellvertreterkriege‹, in denen das Ganze der Theologie auf dem Spiel steht. Wie Gott genannt wird, entscheidet […], was darüber hinaus von Gott gesagt und erzählt werden kann.«

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zu können, sei hier dahingestellt und wird uns später beschäftigen. Beginnen wir zunächst mit einer sprachanalytischen Option. Die Sprachanalyse setzt mit der Untersuchung des Sprachgebrauchs ein. Wir wählen als Beispiel Gunter Zimmermanns Abhandlung Der Begriff »Gott« (2010). Dort wird ausdrücklich eine Art »Prolegomena der Dogmatik der christlichen Theologie«39 entwickelt, die mit einer Skizze der logischen Semantik beginnt und sich dabei an Ernst Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie40 orientiert. Dabei werden zwei Grundprämissen vorausgesetzt: zum Einen das Frege’sche Kontextprinzip, wonach ein einzelnes Wort keine selbständige Bedeutung hat, sondern diese nur als Beitrag zur Satzbedeutung zu verstehen ist (22);41 zum Andern wird diese syntaktische Grundeinheit als prädikativer Satz aufgefasst, der aus spezifizierten Subjekten und charakterisierenden Prädikaten42 besteht, denen semantisch die singulären bzw. generellen Termini zugeordnet werden. Die damit vorausgesetzten Spezifizierungs- bzw. Charakterisierungsmöglichkeiten werden als rein sprachliche Prozesse verstanden. Das heißt, Prädikate stehen nicht für irgendwelche platonischen Entitäten, sondern treffen für bestimmte Subjekte zu, deren Referenz auf bestimmte Individuen oder Gegenstände nur aus dem Wahrheitsgehalt des prädikativen Satzes verstanden werden kann. Diese strikte Sprachimmanenz ist die wichtigste Grundforderung, welche den Tugendhat’schen Ansatz charakterisiert. Im Folgenden wird sich zeigen, dass das Problem der Singularität Gottes auch innerhalb eines sprachanalytischen Ansatzes keine Möglichkeiten offen lässt, Affirmationen für eine nicht-radikale negative Theologie zu entdecken. Im Gegenteil: gerade dort zeigt sich, dass das 39 A.a.O. Vorwort. Die folgenden Zahlen beziehen sich auf Seiten in Zimmermann (2010). 40 Tugendhat (1979). 41 Auf S. 26 wird der Satz ausdrücklich die »primäre Einheit der logischen Semantik« genannt. 42 Hier sind auch mehrstellige Prädikate zugelassen; häufig werden einstelligen Prädikaten Eigenschaften und mehrstelligen Prädikaten Beziehungen zugeordnet. Bei Frege entspricht dies den Funktionen mit einer oder mehreren Leerstellen (Variablen).

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Wort »Gott« in keine semantische Kategorie passt, also keine relative Kategorientranszendenz aufgezeigt werden kann, was aufgrund der strikten Immanenz auch nicht verwunderlich ist. Für unser Problem der Einzigartigkeit Gottes steht die semantische Rolle der Kategorie der singulären Termini im Vordergrund. Diese zerfallen in (Eigen-)Namen, Kennzeichnungen und deiktische Ausdrücke (34). Im Rahmen einer Untersuchung innerhalb der negativen Theologie scheint es selbstverständlich zu sein, dass nur die Auffassung, »Gott« sei ein Name, diskutiert zu werden braucht; denn Kennzeichnungen setzen nicht nur unproblematische Prädikate voraus, sondern bedürfen zusätzlicher Existenzgarantien (38)43; darüber hinaus sind deiktische Ausdrücke von einer konkreten Wahrnehmungssituation abhängig (37), so dass tatsächlich nur Namen übrigzubleiben scheinen. Sie benennen Individuen direkt und es hat wenig Sinn, nach ihrer Bedeutung zu fragen. Aber bei genauerer Betrachtung, was dieses »direkt« bedeuten soll, erkennt man schnell, dass dabei Kennzeichnungen, ferner deiktische und vor allem auch konventionelle Prozesse (Saul Kripke44) beteiligt sind. Die Verwendung von Eigennamen setzt also deiktische Ausdrücke und Kennzeichnungen voraus (39). Das bedeutet, dass die dort in Bezug auf Gott aufzeigbaren Mängel sich auch auf Eigennamen beziehen. Um dies zu verdeutlichen, ziehen wir die Analyse Zimmermanns in Der Begriff »Gott« heran, die ganz allgemein die These untermauert, dass das Wort »Gott« nicht als Eigenname interpretiert werden kann. 43 Ausführlicher in Dalferth/Stoellger (2008) S. 3 f. Dort wird unter Berufung auf Russells »Kennzeichnungstheorie« festgehalten, »dass wir sinnvoll von Falschem reden können«, und daraus wiederum wird allgemein gefolgert, dass auch bei sinnvoller Bildung von Sätzen (z. B. Gott ist genau derjenige, der die und die Eigenschaften hat, und dieser Gott wird von Menschen angebetet) »damit nicht gesagt [ist], dass überhaupt von etwas die Rede ist. Der Sinn unserer Sprachvollzüge ist kein Indiz dafür, dass wir tatsächlich von etwas sprechen, sondern zeigt nur an, dass wir die Sprache richtig zu gebrauchen wissen.« Diese Folgerung würde Tugendhat sicher zurückweisen. 44 Vergleiche die »kausale Namentheorie« in Kripke (1981), wo dieser Zusammenhang begründet wird.

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Zimmermann fasst das allgemeine Untersuchungsergebnis bezüglich der Eigennamen folgendermaßen zusammen: »Letzten Endes genügt es nicht zu wissen, dass ein Eigennamen ein Einzelwesen benennen soll und benennen kann. Vielmehr ist es auch wichtig zu wissen, ob das Individuum überhaupt existiert, das der singuläre Terminus zu benennen vorgibt. Diese Frage ist jedoch empirischer Natur« (58). Aber bei dem Ausdruck »Gott« weist schon der faktische Wortgebrauch darauf hin, dass »Gott« häufig gar nicht als Eigennamen gebraucht wird. Zimmermann zählt – hier auf Dalferth Bezug nehmend45 – einige grammatische Gründe für diesen andersartigen Gebrauch auf (59): die Möglichkeit der Pluralbildung; die Unmöglichkeit der Verbindung von »Gott« mit dem bestimmten oder mit dem unbestimmten Artikel ebenso wie mit quantifizierenden Termen; die Tatsache der Übersetzung von »Gott« in eine andere Sprache anstelle einer Transkribierung; das häufige Fragen danach, wie Gott heißt; die Verständlichkeit eines Satzes wie »Zeus ist ein griechischer Gott« (60). So wird deutlich, dass nicht nur die Unmöglichkeit des empirischen Herausgreifens des Individuums, sondern auch schon der Sprachgebrauch auf die Möglichkeit einer prädikativen Verwendung von »Gott« verweisen. Da es uns ja darum geht, die Nichtzugehörigkeit von »Gott« zu irgendeiner grammatischen Kategorie zu zeigen, hat sich diese These zunächst für singuläre Termini bestätigt. Wenden wir uns deshalb den generellen Termini zu, die zur prädikativen Interpretation verwendet werden. Die vom Sprachgebrauch her naheliegende Behauptung, dass »Gott« ein Begriff sei, fand in der Theologie seit Thomas von Aquin Beachtung, der diese These vertrat, aber gleichzeitig an der Einzigartigkeit Gottes festhielt, das heißt, er reservierte in diesem Fall einen Allgemeinbegriff für ein einziges Individuum. Zimmermann hingegen bemüht sich, in dieser Zusatzannahme sprachlogische Widersprüche aufzuzeigen. So könne ein Wort zwar die beiden Funktionen der Spezifizierung und der Charakterisierung ausüben, allerdings nur in verschiedenen Kontexten und vor allem nicht gleichzeitig (62). Ferner be45 Dalferth (1981) S. 575. Vorher (572 ff.) werden zahlreiche Quellen aufgezählt, in denen »Gott« als Eigenname oder/und als Beschreibung klassifiziert wird.

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stünde die Möglichkeit, durch häufige Wiederholung den allgemeinen Sprachgebrauch zu beeinflussen und aus einem Allgemeinbegriff (wie z. B. »Reformator«) die Beschreibung eines Individuums (wie z. B. von Martin Luther) zu machen. Trotzdem werde jeweils nur eine Funktion erfüllt. Während Zimmermann sich in der bis heute offenen Kontroverse »Begriff – Einzigartigkeit« für die Option der Begrifflichkeit »Gottes« entscheidet und diese durch eine relationale Differenzierung zu begründen versucht (siehe unten), wird bei Dalferth an dieser Stelle die sprachanalytische Ebene offen verlassen und theologisch argumentiert: aus dem allgemeinen Sprachgebrauch wird der biblische.46 Dieser Schritt wird mit dem Hinweis gerechtfertigt, die Analyse des Sprachgebrauchs sei unpräzis: »Die Frage, der sie nachgehen müsste, ist ja nicht die, ob ›Gott‹ ein Eigennamen ist oder nicht, sondern (in faktischer Hinsicht) wie dieser Ausdruck in christlicher Rede gebraucht wird bzw. (in normativer Hinsicht) aufgrund theologischer Erwägungen gebraucht werden sollte.« Des Weiteren sie es vom christlichen Standpunkt aus unmissverständlich, den Ausdruck »Gott« singularisch-designatorisch zu verwenden. Ob diese theologische Forderung adäquat ist, fällt nicht mehr in den religionsphilosophischen Untersuchungsbereich. Ein entsprechender Schritt zum christlich Spezifischen wird auch bei Zimmermann erwähnt und mit der Auflösung der trinitarischen und christologischen Problematik in Beziehung gesetzt.47 Aber diese Erwähnung bezieht sich bei ihm auf eine noch zu leistende Aufgabe, die weiteren Überlegungen dagegen versteht er als Beiträge innerhalb des sprachanalytischen Rahmens und damit als theologische Prolegomena. Ob dies mit Recht geschieht, wird sich bald als zweifelhaft erweisen. Das eigentliche Ziel Zimmermanns ist der Nachweis, dass »Gott« zur Kategorie der zweistelligen Prädikate (»Relationen«) zählt. Die Argumentation erfolgt also innerhalb der Kategorie der universellen 46 Dalferth/Stoellger (2008) S. 13. 47 Zimmermann (2010), Vorwort. Die Prolegomena soll allein »zur Auflösung des Atheismus-Problems« beitragen.

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Termini oder Universalien. Mit Peter Strawson unterscheidet er bei den einstelligen Prädikaten sortale und klassifizierende Universalien (81). Erstere (z. B. »Hund«) enthalten Kriterien zur Abgrenzung von Formen und erscheinen grammatisch als prädikative Substantive, letztere (z. B. »rot« und »sitzen«) betreffen Gruppierungen nach vorausgegangenen Formierungen und erscheinen als Adjektive oder Verben. Ein kurzer Blick zeigt, dass unter der Voraussetzung der Begrifflichkeit »Gott« höchstens zu den Sortalen gerechnet werden kann; aber wo ist dabei die Gestalt und »wie ist sie von der Gestalt und Form anderer Individuen abzugrenzen?«, fragt Zimmermann mit Recht (82). Dann jedoch erfolgt ein entscheidender Gedankensprung hin zu der Annahme, dass es sich bei »Gott« um ein zweistelliges Prädikat handle, weil damit semantisch »Relationen« (Beziehungen) formal ausgedrückt würden und es keinen Zweifel gäbe, dass zwischen Mensch und Gott enge Beziehungen bestünden (85). Was wäre daher naheliegender, als diese Beziehungen näher zu bestimmen. Dabei spielt bei Zimmermann die Etymologie eine wichtige Rolle. Diese erklärt »Gott« etymologisch als »der (von Menschen) Angerufene« oder als »derjenige, dem (von Menschen) geopfert wird«. Hier betont Zimmermann, dass diese Substitute von »Gott« ein Partizip Perfekt Passiv zum Ausdruck brächten, und »anrufen« als auch »opfern« zweistellige Relationsbegriffe seien. Was nun folgt, ist eine phantasievolle Ausgestaltung dieser drei Stichworte, die auf eine Charakterisierung der Anbetung und Opferung als Wesen der Religion samt deren begleitenden »Emotionen der Ehrfurcht, der Demut, der hoffnungsvollen Erwartung, aber auch der Dankbarkeit für jedes Zeichen liebevoller Zuwendung« (85) hinauslaufen. Zimmermann ist überzeugt, diese Ergebnisse aufgrund einer allgemein anerkannten logischen Semantik und einer wissenschaftlichen Etymologie (84) entwickelt zu haben. In Wirklichkeit wird hier aber der archaische Gebrauch eines Begriffes fortgeschrieben und dieser zur Grundnorm der Religion erklärt. Zimmermann liefert gewissermaßen eine Transformation der Geschichtlichkeit und der Phänomenologie des Geistes bei Hegel in ein sprachanalytisches Prozessgeschehen – eine Neuauflage der »großen Erzählungen«? Der gegenwärtige Um-

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gang mit dem Wort »Gott« lässt sich nach seiner Auffassung im Einzelnen aus der spezifischen Begrifflichkeit »Gottes« erschließen, die als »zweistellige oder dyadische Relation« bestimmt wird (85, 88). Die zugehörige Analyse dieses Kerngedankens ist aber unhaltbar. Für das Folgende sei daran erinnert, dass beispielsweise die Größerrelation »x > y« oder »das Individuum x ist größer als das Individuum y« zu den zweistelligen Relationen zählt. Wenn also »Anbeten« eine zweistellige Relation ist, dann hat sie die Struktur »ein Individuum x betet an ein Individuum y«. Selbst wenn man die jeweiligen Individuen durch Klassen von Individuen ersetzt, wie es bei Zimmermann auf S. 89 geschieht, bedeutet die Feststellung, »Gott« sei eine dyadische Relation, das Vorliegen der folgenden abstrusen Struktur: »eine Klasse x* von Individuen (z. B. von Menschen) ›gottet‹ eine Klasse y* von Individuen (z. B. von den Göttern Roms)«. Hier ist völlig unklar, was das überhaupt bedeuten soll. Offensichtlich lässt sich eben »Gott« auch in dieser etymologisch argumentierenden Vorgehensweise in keine semantische Kategorie einordnen. Die Absicht, den Begriff »Gott« innerhalb eines Konzepts der normalen Alltagssprache zu explizieren, lässt sich auf diese Weise nicht realisieren und so scheint sein Gebrauch eben doch metaphorisch zu sein.48 Die eigenartige Charakterisierung Gottes als zweistellige Relation erhält also nur dann einen Sinn, wenn sie die existenzielle Betroffenheit in unserer Beziehung zum »ganz Anderen« ausdrücken soll. Die Gedanken Zimmermanns lassen sich deshalb trotz aller logischen Mängel als Versuch deuten, der auf das »ganz Andere« verweisenden Metapher »Gott« aufgrund historischer Gegebenheiten und faktisch bestehender Interpretationsgemeinschaften sinnvolle Konturen zu geben. Wenn ein Mensch unserer Zeit die Grenzen der Wissenschaft und der Philosophie erkannt und aufgrund einer existenziellen Betroffenheit sich der Möglichkeit eines »ganz Anderen« geöffnet hat, 48 In der Einleitung verkündet Zimmermann: »Der Begriff [gemeint ist »Gott«, KW] wird von Gläubigen und Ungläubigen, von Christen und von Nicht-Christen relativ einheitlich nach einschlägigen Regeln und Konventionen verwandt, so dass Kontroversen und Streitigkeiten überflüssig sind« (14).

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dann können Beobachtungen, wie andere Menschen und andere Zeiten mit dieser Erfahrung umgegangen sind, hilfreich sein. Allerdings geht jede Zeit von ihren eigenen Gegebenheiten aus. Dementsprechend werden die anschaulichen Attribute der Grundmetapher »Gott« auch verschieden ausfallen. In der archaischen Welt mit ihren naiven Selbstverständlichkeiten waren andere Eigenschaften leitend als in der von Wissenschaften geprägten Gegenwart, die von einer schier grenzenlosen Verfügbarkeit träumt und vieles entzaubert hat, das früher im sakralen Bereich angesiedelt war. Wenn Zimmermann am Ende seiner semantischen Überlegungen feststellt, dass alle Attributzuordnungen wie »Allmacht, Allwirksamkeit, Allwissenheit, Ewigkeit, Allgegenwart, Güte, Gerechtigkeit, Treue, Barmherzigkeit, Heiligkeit, Zorn, Liebe usw.« (107) letztlich wertlos sind und nur »Anbetung« und »Opferung« als adäquate Kennzeichnungen verbleiben, dann muss eben diese Charakterisierung als Hinweis auf die Erfahrung des »ganz Anderen«, also als Umschreibung der Kontingenzbegegnung gedeutet werden. Deshalb lassen sich die theologischen Ausführungen über die Entfaltung der beiden Grundattribute »Anbetung« und »Opferung« in der christlichen Tradition als legitimen und erfolgreichen Versuch deuten, die Kontingenzbegegnung innerhalb einer kritischen negativen Theologie sprachlich zu artikulieren und unter den ontischen Vorbehalt zu stellen. Diese Feststellung bezieht sich nicht nur speziell auf die Arbeit Zimmermanns, der hier eine exemplifizierende Funktion zugeschrieben wurde, sondern auch auf viele andere Abhandlungen, die sich einerseits der Einordnung in die (z. B. christliche) Tradition bewusst sind und andererseits auf die Grenzen in Bezug auf Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer wörtlichen Aussagen hinweisen, die ihre existenziellen Erfahrungen metaphorisch begleiten. Dazu bedarf es nicht unbedingt einer sprachwissenschaftlichen Prolegomena, was sich an dem folgenden grundlegend andersartigen Beispiel demonstrieren lässt. Kein anderer Denker der Neuzeit geht – unter Missachtung jeglicher naturwissenschaftlicher und metaphysischer Brücken – so kompromisslos von existenziellen Grunderfahrungen aus wie Søren Kierkegaard. Der Bruch des kohärenten Diskurses (Lévinas) manifestiert sich

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bei ihm im Begriff der Verzweiflung. Die Analyse der verschiedenen Ausprägungen dieser Verzweiflung, wie sie in der reifen Spätschrift Die Krankheit zum Tode (1849) vorliegt, führt zum Begriff des Selbst, des Subjekts der Verzweiflung.49 Hier unterscheidet Kierkegaard drei Formen, die bereits zu Beginn der Abhandlung als Titelzeile aufgeführt sind: »Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, […] verzweifelt nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen« (13). Die erste Form der bewussten Verzweiflung (die Schwäche) betrifft ein Subjekt, das nicht es selbst sein will. Ein Schwerkranker beispielsweise, der »Warum gerade ich?« fragt, verzweifelt nach Kierkegaard nicht an der Krankheit, sondern an seinem Selbst, das ein anderes, nämlich das eines Gesunden, sein will. Auch die zweite Form bewusster Verzweiflung (der Trotz) führt zur Verzweiflung an dem Selbst, nämlich – trotz aller Widerwärtigkeiten – trotzig es selbst sein zu wollen. Das Selbst, das auf die menschliche Autonomie pocht, obwohl es zugeben muss, dass seine Verzweiflung nicht von ihm selbst verursacht und gewollt ist, will letztlich genau dieses Selbst sein und kein anderes. So weit zu den beiden Formen der bewussten Verzweiflung. Aber für Kierkegaard ist Verzweiflung eine Grundverfassung aller Menschen. Auch die »Geistlosen« und Indifferenten, die behaupten, nicht verzweifelt zu sein, befinden sich im Zustand einer »uneigentlichen Verzweiflung«,50 die sich ebenfalls als ein Selbst-Verhältnis deuten lässt. Es sind die Menschen, die sich nicht darüber bewusst sind, ein Selbst zu haben. Sie verdrängen das Existenzielle, das heißt alles, was ihr Selbst betrifft – man denke hier an nur streng objektiv argumentierende Wissenschaftler. Menschen, die sich ihrer Verzweiflung bewusst sind, vollziehen Kontingenzerfahrungen im Sinne der religionsphilosophischen Kontingenz. Das Bewusstsein, an dieser »Krankheit zum Tode« zu leiden, be49 Wir zitieren mit Seitenangeben (direkt im Text) nach der Reclam-Ausgabe von 1997.

50 Vergleiche das »falsche Bewusstsein« bei Adorno u. a., wo ebenfalls eine allgemeine Verfassung vorausgesetzt wird.

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deutet zugleich eine Kontingenzanerkennung – aber eben noch keine Kontingenzbegegnung; denn der Prometheus der Autonomie glaubt, ohne ein Anderes ein Selbst sein zu können. Kierkegaard führt diesen Glauben durch den Begriff der Setzung ad absurdum, die bei ihm aus der Dialektik des Selbst folgt. Schon zu Beginn der Abhandlung weist er darauf hin: » … das Selbst ist nicht das Verhältnis (das sich zu sich selbst verhält), sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält« (13). Diese ominöse, fast als zirkulär erscheinende Formulierung bedarf der Interpretation. Dabei scheint die Unterscheidung des positiven vom negativen Dritten ausschlaggebend zu sein. Kierkegaard bezeichnet das (von ihm »statisch« genannte) Verhältnis zwischen Körper und Seele, das im Allgemeinen häufig als Bewusstsein verstanden wird, als eine negative Einheit oder als das negative Dritte; dieses Verhältnis aber ist noch nicht das Selbst. Erst die Thematisierung dieser negativen Einheit ist das positive Dritte, das im Vollzug des Verhaltens zu jenem Verhältnis sich als Selbst realisiert. Dieser dialektische Sprachspielzug zur Konstitution des Selbstbewusstseins erhält nach Kierkegaard nur dann einen Sinn, wenn das ursprüngliche Verhältnis durch ein ganz Anderes, das der Körperwelt wie auch der seelischen Welt vorausgeht, mitgedacht wird, das heißt bei Kierkegaard gesetzt ist. Denn das negative Dritte (nach Materie, Seele) kann nur dann als Synthese gedacht werden, wenn dieses durch die Setzung jenes ganz Anderen als Einheit identifiziert und so zum Ausgangspunkt eines positiven Dritten werden kann. Hier stehen dann die Menschen vor der Wahl, diese Möglichkeit eines neuen Akts anzuerkennen oder abzulehnen. Erfolgt sodann die Anerkennung eines ganz Anderen, das heißt, liegt eine Kontingenzbegegnung vor, so realisiert sich das geistige Selbst. Dieses ist demnach erst in Folge der Setzung durch ein Anderes existent. Der zweite Fall der Nichtanerkennung des Anderen, das heißt, dass das Selbst sich selbst setzen kann (die bloße Kontingenzanerkennung), ist nach Kierkegaard ausgeschlossen, weil dies der Tatsache widerspräche, dass es zwei Arten bewusster Verzweiflung gibt. Denn wenn man sich selbst setze, könne es nicht sein, dass man nicht man selbst sein will: »Daher kommt es, dass zwei Formen von eigentlicher Verzweif-

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lung möglich sind. Hätte sich das Selbst des Menschen selbst gesetzt, dann könnte nur eine Form von eigentlicher Verzweiflung möglich sein.« (14). Damit wäre die These der Autonomie, ohne ein Anderes ein Selbst sein zu können, dialektisch widerlegt. Dieser dialektische Gedankengang bestätigt unsere These: Das Beharren auf einer Kontingenzanerkennung ohne die Bereitschaft, die Fülle eines Anderen zu denken, setzt die Elimination des existenziellen Bezugs voraus. Also kein semantischer, sondern ein dialektischer Gottesbeweis? Was Zimmermann und viele andere ungewollt als theologische Prämissen in semantische oder hermeneutische Zusammenhänge einfügen, wird in der Kierkegaard’schen Dialektik bereits im Bewusstseinsbegriff gesetzt. Später artikuliert sich diese Setzung an vielen Stellen als Sprung in den Glauben, so dass von einem dialektischen Gottesbeweis gewiss nicht gesprochen werden kann. Denn »der Gegensatz zum Verzweifeltsein ist Glauben«, der »einen Zustand beschreibt, in dem sich nicht das Geringste von Verzweiflung findet«. Kierkegaard spricht von der »Formel des Glaubens«, welche die Beziehung des Sprungs zur Setzung deutlich macht: »Indem es (d. h. das Selbst des Glaubenden) sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in jener Macht, die es setzte« (55, ähnlich 93). Und nochmals ausdrücklich: »Ein solches Selbst ist nicht mehr nur das nur menschliche Selbst, sondern […] das theologische Selbst […], das Selbst unmittelbar vor Gott« (90). Der Gegensatz von Glaube ist Sünde, ganz wie in Römer 14,23: »was aber nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde« (93). Dass es sich bei dieser Setzung wirklich um einen Sprung handelt und keine Notwendigkeit vorliegt, wird zum »entscheidenden Kriterium des Christlichen: das Absurde, das Paradox, die Möglichkeit des Ärgernisses« (94). Deutlicher und radikaler kann der ontische Vorbehalt nicht artikuliert werden. Eine mögliche radikale Theologie und auch Konzepte, die wie bei Kierkegaard oder schon früher bei Tertullian (»credo quia absurdum)« die Realität auf den Kopf zu stellen scheinen, brauchen sich keine Sonderstellung zuzuschreiben; auch die etablierten Theologien, die auf verschiedene Weise die tradierten Vorstellungen in verschiedenen

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Zeiten neu interpretieren, haben ihre Existenzberechtigung, wenn sie sich des ontischen Vorbehalts bewusst sind und diesen je nach Dialogpartner mehr oder weniger intensiv in das Bewusstsein heben. So bleibt von den Anmaßungen einer negativen Theologie, die sich durch Spuren von Affirmationen oder gar durch unmittelbare Erfahrung des Anderen der Vernunft zu bemächtigen sucht, nur ein Akt des Ringens, ein sich stets wiederholendes Umkreisen der unüberbietbaren Unähnlichkeit jenes »ganz Anderen«, um letztlich immer wieder auf die Endlichkeit zurückgeworfen zu werden.

5FNVFKDXXQG$XVEOLFN Durch die Entwicklung eines differenzierten Kontingenzbegriffs konnten den Grenzen der Vernunft und deren Verhältnis zu Religion und Naturwissenschaft klare Konturen gegeben werden. Bezüglich des damit in den Vordergrund gerückten »Anderen der Vernunft« jedoch bleibt ein zweifaches Unbehagen. Zum Einen steht die Option einer Verabsolutierung der Wissenschaften und der Vernunft weiter als Möglichkeit im Raum; zum Anderen bedroht die Radikalität der im ontischen Vorbehalt ausgesprochenen Rücknahme die Substanz von Religion und Theologie. In einem zusammenfassenden Rückblick (12.1) werden beide Probleme als Tribut der Endlichkeit verstanden, zugleich aber im darauf folgenden Ausblick (12.2) durch die Möglichkeit positiver Antizipationen ergänzt.

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Die religionsoffenen Reflexionen der vorgefundenen Ordnungen entscheiden sich vor allem an drei Thesen: an der Selbstorganisation der Natur, an der Absolutheit der Vernunft und an der Indifferenz der Kontingenzanerkennung. Den beiden ersten Thesen und der Kontingenzbegegnung, die jene Indifferenz überwindet, entsprechen drei grundsätzliche Positionen,1 denen wir rückblickend nochmals unsere Aufmerksamkeit schenken wollen. (1) Bei Hawking und anderen wird bereits die Selbstorganisation unhintergehbar. Was für andere nur spezifisches Bekenntnis ist, bedeutet für jene erkannte und letzte Wirklichkeit. Alles steht in einem 1 Wegen ihrer Inkommensurabilität könnte man sie auch »Paradigmen« nennen. Dies erfolgte in Wuchterl (1997). Dort ist die Rede vom »naturalistischen«, »säkularen« und »transzendenten« Paradigma (S. 235/236). Weil der Paradigmenbegriff aber durch seinen in der Zwischenzeit inflationären Gebrauch falsche Assoziationen erzeugen könnte, wurde in der hier vorliegenden Weiterentwicklung der dort und in Wuchterl (1989) vertretenen Gedanken auf ihn verzichtet.

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großen Naturzusammenhang, in den sich neben Kulturellem und Geschichtlichem auch Persönliches, Individuelles und Existenzielles einfügen muss. Bedrohliches wie auch Beglückendes erhält einen epiphänomenalen Index, der beides mit Träumen und Trancezuständen vergleichbar macht. Weil es sich hier nicht um die eigentliche Wirklichkeit handelt, erscheint Schreckliches erträglicher und Erfreuliches durch Aufwertung des Augenblicks intensiver erlebbar. Die vorausgesetzte Ordnung erscheint als Korrelat der naturgesetzlichen Notwendigkeit und ermöglicht die Bewältigung naturgesetzlicher Kontingenzen, wobei zugleich ontologische Kontingenzen ausgeschlossen werden. Da die mentalen und kulturellen Erscheinungen als Epiphänomene auf einer anderen Argumentationsebene stehen, sind normative Entscheidungen für oder gegen Humanität und Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz und Ähnliches nicht aus dieser allgemeinen kosmischen Ordnung erklärbar. Eine positive Entscheidung für diese Werte, die sich auf Klugheit, Pragmatik oder auf den gesunden Menschenverstand beruft, orientiert sich an einer Art von okkasionaler Rationalität und ist daher innerhalb der eingenommenen Position nur als zusätzliches Bekenntnis zu verstehen. Immerhin spricht für diese Option die Erkenntnis, dass die Naturwissenschaften, denen die Einsicht in den Kosmos zu verdanken ist, sich selbst nur unter positiven gesellschaftlichen Bedingungen entwickeln konnten. Wer sich dagegen negativ entscheidet, sucht ebenfalls plausible Motive und gibt beispielsweise vor, Macht- und Eigeninteressen aus biologischen Zwängen ableiten zu können. Weil er dabei aber den naturalistischen Fehlschluss2 missachtet und zugleich die nicht explizierbare Willkürentscheidung als Notwendigkeit hinstellt, vollzieht er ein intellektuelles Opfer und wird zum Fundamentalisten. (2) Für andere Individuen sind solche Einschätzungen unzumutbar. Anleihen bei der Philosophie und der Praxis des gesunden Menschenverstandes reichen ihnen aus, eine inhaltsreichere Seinsordnung zu postulieren, die durch hinreichende Gründe ihr Existenzrecht erhält. 2 Darunter versteht man die Ableitung von Normen aus Fakten oder die Verwechslung von »Sein« und »Sollen«.

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Zu dem naturwissenschaftlich durchschauten Gegenstandsbereich gesellen sich weitere Seinsregionen, in denen Mentales, Geschichtliches und Kulturelles vernünftig eingeordnet werden kann. Ein Anderes dieser vielgefächerten Vernunft lässt diese Position jedoch nicht zu. Wirklichkeit ist durch die Absolutheit der Vernunft definiert. Die Vielzahl der Vernunfttypen erfasst alle Phänomene, die allein durch die Berufung auf eine letzte Einheit zusammengehalten werden. Die Ordnung ist in diesem zweiten Fall durch die ontologische Notwendigkeit bestimmt und ermöglicht die Bewältigung ontologischer Kontingenzen. Sie schließt jedoch religionsphilosophische Kontingenzen aus. Skeptiker werden solch eine Berufung auf eine letzte Einheit abfällig als Bekenntnis eines philosophischen Glaubens diagnostizieren. Sie geben sich wesentlich vorsichtiger bereits mit naturwissenschaftlich und praktisch bewährten Ordnungsbruchstücken zufrieden und verzichten auf weiter gehende Argumentationen, die nach hinreichenden Gründen für problematische Phänomene suchen. In ihrer Indifferenz verschließen sie ihre Augen vor den zwar erfahrenen, aber dann doch bagatellisierten Kontingenzen. Der philosophische Diskurs wird als Erzählung von Geschichten zurückgenommen, allerdings teils versehen mit dem Kolorit kultureller Aktualität und gesellschaftlicher Relevanz, teils umfunktioniert zum zynischen Glasperlenspiel der Aufmerksamkeit erheischenden Beliebigkeiten. Solche Geschichten umfassen natürlich auch und vor allem normative Rechtfertigungen. Geschichten von der Macht und Bedeutung der konsensfähigen Vernunft (Habermas) stehen solchen gegenüber, in denen die Vernunft nur den brutalen »Absolutismus der Wirklichkeit« (Blumenberg) feststellen kann oder sich in einer ästhetisierenden Hermeneutik mit der »Apologie des Zufälligen« beziehungsweise mit dem Lob von Pluralität und Vielfalt zufrieden gibt (Marquard). Wer in den philosophischen Geschichten doch noch Existenzielles einfängt und auf ein Anderes der Vernunft anspielt, würde damit seinen skeptischen Ausgangspunkt unterlaufen und in den Verdacht geraten, mit solchen Hinweisen auch noch den letzten Vernunftrest zu opfern, sofern diese Andeutungen als absolute Metaphern interpretierbar sind. Akzeptiert wird mit diesem Stand-

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punkt der verdrängten Kontingenzanerkennung eine patch work-Ontologie, deren Ordnung zahlreiche unerklärte Kontingenzbrüche enthält, obwohl ihre Regelhaftigkeit durch eine usurpierte ontologische Notwendigkeit garantiert zu sein scheint. (3) In der letzten Position der unvoreingenommenen Kontingenzanerkennung bedarf es nur einen kleinen Schritt, um eine große Chance zu realisieren, nämlich die Möglichkeit der Kontingenzbegegnung als Alternative ernst zu nehmen und die Argumente der anderen Optionen gegen die Religion zu relativieren. Doch ist es völlig unrealistisch zu glauben, diesen »kleinen Schritt« aufgrund einer fideistischen Entscheidung selbst herbeiführen zu können. Der Mensch steht nicht wie der Esel des Buridan vor mehreren Heuhaufen, sondern ist längst festgelegt, bevor er reflektierend alle Alternativen entdeckt. Wir werden in eine Lebenswelt hineingeboren, die uns diesbezüglich entscheidend vorprägt und während unseres Lebenswegs ständig weiter beeinflusst. Meistens konzentrieren sich die Sympathien auf eine der Optionen. Bewertungen aufgrund von guten oder schlechten Erfahrungen werden von Eltern, Freunden, Lehrern, Lektüren und vor allem von den Medien vermittelt. Die Rolle von solchen Vorbildern wirkt prägend. Die Einflussnahme dieser anonymen Mächte kann sich unbewusst oder gezielt vollziehen. Was die Stellung zur Religion betrifft, gehört es in den Medien fast schon zum guten Ton, sich von dieser zu distanzieren. Die nicht zu leugnenden Früchte einer systematischen Indoktrination des »wissenschaftlichen Atheismus« in der einstigen DDR lassen sich bezüglich des christlichen Glaubens gut an den Statistiken ablesen.3 Ebenso sollte man die Methoden religiöser Fundamentalisten der Gegenwart im Grenzbereich des Politischen nicht unterschätzen. Je bewusster man sich mit den Glaubensfragen auseinandersetzt, umso häufiger wird man nachträglich rationale Begründungen konstruieren, um die eigene Wertewelt, in die man hineingewachsen ist, zu rechtfertigen. Das Bewusstwerden dieser Zusammenhänge, insbe3 Siehe Pollack/Pickel (2000). Dort schreibt H. Meulemann: »Zwischen 1955 und 1960 fallen kirchliche Praktiken von 80 Prozent auf 30 Prozent. Seit 1970 sehen sich

rund 70 Prozent der Bevölkerung als Atheisten« (S. 106).

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sondere dass unsere Vorbilder und Quellen völlig zufällig so waren, wie wir sie vorfanden, weckt bei selbstkritischen Personen das Verlangen, die Alternativen genauer kennen zu lernen und die eigene Position auf ihre Wirklichkeitsnähe und Konsistenz zu prüfen. Dabei können unsere Ausführungen zwar helfen, die Alternativen deutlich zu machen; eine Entscheidung zwischen Kontingenzblindheit, Kontingenzanerkennung oder Kontingenzbegegnung aber vermögen sie nicht herbeizuführen. Die Selbstverantwortung zum letzten Schritt in die eine oder andere Richtung begleitet uns durch das gesamte Leben. Sie ist das Charakteristikum eines endlichen Wesens in bedingter Freiheit. Obwohl unsere Überlegungen zu keiner direkten Entscheidung führen können, sollten sie doch gezeigt haben, dass jede Position als Bekenntnis eines selbstverantwortlichen Individuums beurteilt und daher mit Respekt behandelt werden muss, sofern diese Position von keiner fundamentalistischen Ideologie begleitet und damit deformiert wird. Zudem können reflexive Auseinandersetzungen Präferenzen stetig verändern. So stehen manchmal am Ende Konversionen, die oberflächlich betrachtet wie Sprünge erscheinen, letztlich aber als Ergebnis kleinster rational begründeter Schritte zustande kommen. Trotz der ressentimentgeladenen Glorifizierung der Endlichkeit bei Nietzsche und vielen anderen wird dieses Los im Allgemeinen immer wieder als schwere Last empfunden. Deshalb verdient die Möglichkeit der religiösen Option besondere Aufmerksamkeit, vertrauen ihre Anhänger im Ereignis der Kontingenzanerkennung doch darauf, dass die erschreckende »Absolutheit der Wirklichkeit« (Blumenberg) nur vordergründiger Schein und selbst nur Möglichkeit ist. Auch das Hoffen gehört zu den möglichen Verhaltensformen im Hinblick auf Endlichkeit. Die Möglichkeit, das Spezifikum der Kontingenz, schlägt hier in eine Positivität um, die unser Dasein erträglich macht; sie ist keine gewöhnliche Gewissheit, sondern sie muss bis an das Lebensende von der an jedem Tag neu geschöpften Hoffnung getragen sein. Diese Positivität gerät häufig unter Fundamentalismusverdacht. So stehen bei Habermas die religiöse Orthodoxie und der Naturalismus auf einer Stufe und müssen daher beide einer »fundamentalistischen

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Grundsatzkritik« unterzogen werden.4 Wir haben den Fundamentalismus als Dogmatik verbunden mit Vorbehalten gegenüber den allgemeinen menschlichen Grundrechten charakterisiert. Nun besteht kein Zweifel, dass gerade in streng orthodoxen Glaubensrichtungen solche Tendenzen am weitesten verbreitet sind. Aber unsere universelle Forderung nach Berücksichtigung des ontischen Vorbehalts betrifft alle religiösen Menschen, ob sie sich in einer institutionell und rituell streng geordneten Gemeinschaft befinden, oder aber sich als kritische Einzelgänger positiv zum religiösen Glauben bekennen. Religiöser Glaube ist nicht per se fundamentalistisch. Vielen mögen alle positiven Aspekte nicht ausreichen. Einige schrecken vielleicht vor der Reichweite des ontischen Vorbehalts zurück und stellen nur Auflösungserscheinungen fest; nicht wenige dürften um die Diskursivität der Theologie bangen und fundamentale Affirmationen einfordern. Besonders die Ausführungen zur negativen Theologie könnten Ausgangspunkt einer Kritik sein. In der Tat ist es schwierig, auf deren Basis die Einübung in die religiöse Lebensform zu gestalten. Die für das Kleinkind notwendige Geborgenheit in einer »ersten Naivität« (Paul Ricoeur) ist voller anthropomorpher Symbolgestalten, die als solche von Kindern nicht durchschaut werden können. Es bedarf daher einer einfühlsamen Religionspädagogik, um die Entmythologisierungen nicht allein bei der Fragwürdigkeit der Welt enden zu lassen.5 Gebetsinhalte und Orientierungsbilder müssen in Metaphern transformiert werden, was nicht zur Ausmerzung der sprachlichen Figuren, sondern zu deren Neuinterpretation führen sollte.6 In diesem Falle kann der Heranwachsende den Einflüssen radikaler Kritik selbst4 Im Umschlagstext von Habermas (2005) heißt es: »Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnen heute die geistige Situation der Zeit: die Ausbreitung naturalistischer Weltbilder und die religiöser Orthodoxien. […] Mit dieser Wiederbelebung religiöser Kräfte verbindet sich für die Philosophie die Herausforderung einer fundamentalistischen Grundsatzkritik […].« 5 Eine ausführliche Diskussion dieser Problematik findet man in Benk (2008) Kap. 3. 6 Daher ist es irreführend, wenn Benk schreibt: »Negative Theologie erinnert daran, dass alle unsere Gottesbilder menschliche Konstruktionen sind. Das heißt aber auch: Gott ist kein ›Adressat‹ und keine ›persönliche Macht‹, kein ›Gegenüber‹ und kein

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bewusster entgegentreten und weiterhin für Kontingenzbegegnungen offen bleiben. Auch die Sorge um die Diskursivität der Theologie ist unbegründet. Theologie bezieht sich im Gegensatz zur Philosophie auf eine empirische Ausgangsbasis, nämlich auf spezifische Schriften und Traditionen, an denen sich ihre diskursive Kompetenz bewähren kann. Wer allerdings die fundamentallogische Absicherung des Glaubensinhalts durch die Vernunft als wesentliches Merkmal der Diskursivität betrachtet, der muss diese auch der Philosophie absprechen. Der Theologe, der sich seiner Prämissen bewusst ist und bei deren Verwendung die Notwendigkeit des ontischen Vorbehalts nicht aus den Augen verliert, kann auf diesen Voraussetzungen seinen rationalen Diskurs aufbauen, der sich nur wenig von der Struktur eines praktischen, insbesondere ethischen Gesprächs unterscheiden wird. Rational diskutiert werden können beispielsweise falsche Folgerungen aus den Prämissen und Teilbehauptungen, die Glaubwürdigkeit von Quellen, Klärungen zur Begriffsbedeutung, um nicht aneinander vorbeizureden, oder die Unvollständigkeit oder Widersprüchlichkeit der vorgeschlagenen Prämissen. Die konkrete Argumentation zur Rechtfertigung einer Behauptung wird jeweils von gewissen Teilprämissen ausgehen, deren Folgerungen durch Einzelfakten und durch relevante empirische Gesetze gestützt werden. Nach Korrekturen aufgrund vorgebrachter Einwände und erkannter Fehler endet der Diskurs schließlich in der Rückführung der Teilprämissen auf gewisse allgemein anerkannte Teilprinzipien, wie beispielsweise auf das Schriftprinzip. Da Religion nicht nur durch ihre Einbettung in Gemeinschaftsbeziehungen geprägt ist, sondern sich in ihr zudem die gemeinsamen Praktiken als Riten verfestigen, werden theologische Reflexionen sich auch besonders auf Phänomene der Verehrung, des Betens und der Opferung konzentrieren. All diese rituellen Akte setzen etwas »Verehrtes«, »Angebetetes« oder »Opfer Annehmendes« voraus. Im ersten Fall könnte man noch an die Bewunderung des Kosmos, der weltli›Du‹«. (A.a.O. S. 88). Denn »Du« oder »Gegenüber« sind im religiösen Kontext Metaphern und können daher weiterhin sinnvoll verwendet werden.

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chen Ordnung oder der Naturgesetze denken; doch beim Beten und Opfern versagt diese Erklärung. Ähnliches gilt für Glorifizierungen des Menschlichen. Dass hier Sprachanalysen weiterführen, kann man bezweifeln; denn Riten leben bekanntlich von absoluten Metaphern. Ob man das rituelle Substitut »Gott« als Person, Adressat oder Titel bezeichnet, ist zweitrangig, wenn im ontischen Vorbehalt des Metapherngebrauchs die religiösen Intentionen erhalten bleiben, die den rituellen Umgang mit solchen Bezeichnungen begleiten. Theologische Überlegungen zur Bedeutung des Rituals für die religiöse Praxis sind allerdings ein weites Feld und liegen außerhalb der religionsphilosophischen Kompetenz. Die christliche Theologie erhält darüber hinaus durch die Möglichkeit der Inkarnation als konkreten Glaubensinhalt eine Sonderstellung. So kann der Gedanke der Menschwerdung Gottes nicht nur als Legitimation menschlicher Machtausübung interpretiert, sondern auch als Vermittlungsakt verstanden werden. Das allerdings bedeutet keineswegs die Aufhebung des ontischen Vorbehalts, sondern es geht nur um die Überwindung der Sprachlosigkeit, das heißt um die Möglichkeit des sinnvollen Sprechens vom »ganz Anderen« – aber eben des metaphorischen Sprechens. Wer hier den ontischen Vorbehalt ignoriert, verfängt sich in den Fallstricken des antiquierten magischen Denkens, das schnell an seine Grenzen kommt. So ist es kein Zufall, dass die »frohe Botschaft« in Bildern, Gleichnissen, Parabeln, Erzählungen, aber auch in Hinweisen auf Vorbilder geschieht. Gerade hier ist die Theologie gefordert. Ihre Aufgabe kann nicht darin bestehen, einfach vor alle Prädikate, die üblicherweise Gott zugeordnet werden, ein »nicht« zu setzen. Zugleich sollte sie weitblickend und selbstkritisch genug sein, um nicht offensichtliche Tribute des Zeitgeistes als Kern der Verkündigung und des Umgangs mit Metaphern zu propagieren.7 Die zahlreichen metaphorischen Akte bewirken keinen religiösen Substanzverlust, sondern geben in jedem Einzelfall Zeugnis vom 7 So etwa die Umdeutung des »Metanoeite« in »Revolte« bei Sölle (1983): »Beten ist Revolte. Wer betet, sagt nicht: ›So ist es und Amen!‹ Er sagt: ›So ist es! Und das und das soll geändert werden!‹« (S. 53).

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Vertrauen zum »ganz Anderen«. Wenn selbst der Apostel Paulus, der Theologe katexochen, sagt: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse« (1.Kor.13), so fasst er die Situation des endlichen Menschen, der auf die Hoffnung setzt, in einem einfachen Bild prägnant zusammen. Die Spur, die der Lebensweg von Paulus hinterlassen hat, ist nur ein Beispiel für die Kraft des Glaubens und dafür, wie einseitig das Gegenbild des finsteren »Absolutismus der Wirklichkeit« gezeichnet ist. Wir haben auch in der Philosophie schon solche Spuren entdeckt, und es gibt noch viele andere; auf eine äußerst wichtige wollen wir abschließend noch aufmerksam machen.

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Metaphern, Parabeln, Geschichten und andere Möglichkeiten des indirekten Sprachgebrauchs können nicht über die Härten des Daseins hinwegtäuschen; wir leben – um das Gleichnis Platons aufzugreifen – im Dunkel einer Höhle. Aber es gibt Spuren in ihr, wie bei Paulus, die zum Licht zu führen scheinen, auch wenn sie in den Augen einiger den Weg zu Irrlichtern weisen und viele sich schon so sehr an sie gewöhnt haben, dass sie die Zeichen gar nicht mehr als solche erkennen. Es ist kein Zufall, dass sich der Spruch des Paulus in einem »Hohelied der Liebe« findet, ist doch die Liebe eine Zentralmetapher nicht nur des christlichen Glaubens. Als Grundbeziehung zu anderen Personen ist sie zugleich Thema ethischer Reflexionen. Dieser enge Zusammenhang ermöglicht es, in ethischen Verpflichtungen und Verhaltensweisen neue Spuren von Kontingenzbegegnungen zu entdecken. Die Beziehung zwischen Religion und Ethik ist von zahllosen Reduktionsversuchen8 her hinreichend bekannt. Richtungsweisend wirkt 8 Wir verweisen auf zwei Beispiele: Nach Kant gehört der echte Gottesbegriff zur Moral und die eigentliche Religion ist die Religion des Lebenswandels. Nach Braithwaite (siehe oben 10.2) sind religiöse Aussagen spezielle moralische Aussagen, nämlich solche, in denen die Bindung an eine bestimmte Lebensweise bekanntgegeben wird. (»Die Ansicht eines Empiristen über die Natur des religiösen Glaubens«, in Dalferth (1974) S. 176).

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sie in Konzepten der immanenten Transzendenz. Wie wir gesehen haben, realisiert sich Religion stets in der Gemeinschaft. Diese Einbettung in ein gemeinsames Sinngefüge bedingt eine Verantwortung des Einzelnen gegenüber den Anderen. Deshalb fungieren auch Bilder im Zusammenhang mit der Zuwendung zu anderen Personen als Grundmetaphern für die Begegnung mit dem »ganz Anderen«. Eine herausragende Bedeutung erhält in diesem Zusammenhang das Werk von Lévinas, bei dem die Ethik Voraussetzung und Zugang zur Religion wird.9 Obwohl dieser den Metaphern nicht eine solch zentrale Rolle zuschreibt, wie wir dies getan haben, verwendet er trotzdem an entscheidender Stelle das Bild der Spur als Metapher für die Idee der Unendlichkeit, das heißt genauer, für den Prozess, den transzendenten, in keinerlei Hinsicht vom Sein berührten Gott zu denken. Denn die Spur zeigt an, dass etwas vorübergegangen ist, das nicht mehr in der Gegenwart erfassbar ist und doch auf dieses verweist; da bei Lévinas Sein die unentrinnbare Gegenwart bedeutet, zeigt sich in der Spur das Andere dieses gegenwärtigen Seins. Heideggers Reflexion der ontologischen Differenz, sein Weg vom Seienden zum Sein, wird hier fortgesetzt und zu einem Aufbrechen dieses Seins, das ja ohne Spezifizierung durch Seiendes nur als in der Zeit leeres »il y a« (es gibt) gedacht werden kann. Aber diese Spur ist weder kryptisches Zeichen noch abstrakte Metapher, sondern das konkrete Antlitz des Anderen. »Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir […] das Antlitz.«10 Genau dies ist der entscheidende Gedanke bei Lévinas: Philosophie ist für ihn nichts anderes als das Aufbrechen des hermetischen totalitären Seins hin zur konkreten ethischen Verantwortung. Denn von Gott oder dem »ganz Anderen« kann nicht anders gesprochen werden, als es in 9 Siehe oben in 10.2 den Personbegriff in High (1967) und vor allem Parallelen zwischen Lévinas und Wittgenstein. Denn bei beiden Denkern findet man die Überzeugung, dass im Anderen oder in der (unaussprechbaren) Ethik schon die Möglichkeit von Religion liegt. Ausführliche Nachweise zu dieser Parallelität in Wuchterl (1990): Religion bei Wittgenstein und Lévinas. 10 Lévinas (1987) S. 63.

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der Beschreibung dieser Verantwortung des Ich für den menschlichen Anderen geschieht: »Der Weg, der zu Gott führt, führt ipso facto – und nicht obendrein – hin zum Menschen«.11 Das große Thema »Ethik« ist bei Lévinas deshalb nicht Selbstzweck, etwa die Entwicklung einer neuen Grundlegung, sondern Grundvoraussetzung der Religion. Nach Lévinas ist für Alterität in der Totalität des Seins kein Platz. Was anders ist, muss theoretisch als Wissen identifiziert und eingeordnet oder praktisch als Mittel bewältigt werden. So erweisen sich Wissen und Handeln als Gewaltakte gegen Anderes; Sein als Totalität des Krieges! So kann es für Lévinas nur im Außerhalb, in der Exteriorität, Frieden und Freiheit geben. Deshalb zerbricht die ontologische Macht des im Sein verankerten Selbst nur in der Begegnung des anderen Menschen in seiner Ohnmacht und Verwundbarkeit, kurz: im Antlitz des Anderen. »Das Andere als das absolut Andere ist der Andere.12 Der Andere ist nicht ein Sonderfall, eine Art der Anderheit, sondern er ist die ursprüngliche Herausnahme aus der Ordnung. […] Meine Verantwortung für den anderen Menschen, die paradoxe, widersprüchliche Verantwortung für eine fremde Freiheit […] entspringt weder dem Respekt, den man der Universalität eines Prinzips zollt, noch einer moralischen Evidenz. Sie ist die Ausnahme-Beziehung, in der das Selbe durch das Andere betroffen werden kann, ohne dass das Andere dabei im Selben aufgeht.«13 Diese Entzauberung des totalitären Seins kann mit der Kritik an den Vergewaltigungen der Selbstorganisation der Natur und der autonomen Vernunft in Zusammenhang gebracht werden. Die auf die Exteriorität bezogenen Metaphern der Spur und des Antlitzes zeigen überraschende Möglichkeiten, religionsphilosophische Kontingenzen als Leitfaden für neue Erfahrungen zu nutzen und zugleich den Stel11 Lévinas (1976) S. 35. 12 Hier verwendet Lévinas nicht das französische »L’Autre«, das der Andere und das Andere bedeutet, sondern meistens das weniger übliche »Autrui«, um einen Ausnahmestatus anzuzeigen, nämlich den Anderen, in dessen Antlitz zugleich alle anderen Menschen gegenwärtig sind. 13 Lévinas (1985) S. 41 f.

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lenwert des Ethischen neu zu beurteilen. Auch die Paradoxie einer immanenten Transzendenz verliert in der Metapher des Antlitzes ihren destruktiven Charakter. Natürlich lässt sich der von Lévinas eingeschlagene Sonderweg mit seiner jüdischen Herkunft in Zusammenhang bringen.14 In seinen Vier Vorlesungen zum Talmud schreibt er selbst: »Der Jude ist vielleicht derjenige, der – durch die unmenschliche Geschichte, die er erlebt hat – den übermenschlichen Anspruch der Moral, die Notwendigkeit, in sich die moralischen Gewissheiten zu finden, begreift.«15 Aber mit Recht besteht er darauf, als Philosoph und nicht als Theologe zu sprechen.16 Er betrachtet sich als Phänomenologe und Denker, der mit philosophischen Denkmotiven aus dem Judentum vertraut ist. Das Wesentliche der Ethik liegt nach ihm in ihrer transzendierenden Intention.17 Ausdrücklich spricht er jedoch der Exteriorität die Noesis-Noema-Struktur ab und nähert sich dem Unsagbaren in Dutzenden Umschreibungen des ontischen Vorbehalts. Hier einige Beispiele: »Denken des Absoluten, ohne dass dieses Absolute als ein Ziel und Ende erreicht würde, was immer noch Finalität und Endlichkeit bedeuten würde.« »Beziehung ohne Einwirken auf Seiendes, ohne Antizipation von Sein, vielmehr reine Geduld. In der Passivität Unterwerfung, über all das hinaus, was sich übernehmen lässt.«18 »Das Unendliche im Endlichen, das Mehr im Weniger, das sich durch die Idee des Unendlichen vollzieht, ereignet sich als Begehren. Nicht als ein Begehren, das der Besitz des Begehrenswerten stillt, sondern stattdessen geweckt wird. Ganz und gar uninteressiertes Begehren-Güte.«19

14 Eine ausführliche Darstellung dieses Zusammenhangs findet man in Funk (1989) I. 4.12 und 4.13.

15 Zitiert bei Funk (1989) S. 38. 16 A.a.O. S. 41. 17 Dies betont Lévinas mehrmals; siehe z. B. (1987) S. 32/33: »Die Husserlsche Phänomenologie hat diesen Übergang von der Ethik zu der metaphysischen Exteriorität möglich gemacht.« 18 Lévinas (1985) S. 17. 19 Lévinas (1987) S. 62 f.

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Aus der Notwendigkeit, vom »Anderen des Seins« – in unserer Terminologie vom »Anderen der Vernunft« im Sinne vom »ganz Anderen« – zu sprechen, begeht Lévinas, wie er selbst gesteht, gegenüber dem Unsagbaren »Indiskretionen« und lässt seiner sprachlichen Ausdruckskraft freien Lauf. Die ethische Beziehung erscheint so als metaphorisches »Von-Angesicht-zu-Angesicht«, das heißt, der konkrete sinnliche Blick in die Augen des anderen Menschen wird zur Erfahrung einerseits der Ohnmacht und Verwundbarkeit, andererseits der freien Unverfügbarkeit des Anderen des Seins. Im Antlitz ereignet sich die »Epiphanie« dieses Anderen.20 Für Lévinas ist Sprache »Gegenwart des Antlitzes«, und darauf folgt: »In den Augen sieht mich der Dritte an – die Sprache ist Gerechtigkeit. […] Die Epiphanie des Antlitzes als eines Antlitzes erschließt die Menschlichkeit«,21 usw. So scheint der metaphorische Gebrauch allgemein der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen. Doch dieser Eindruck löst sich auf, wenn man bedenkt, dass es hier um absolute Metaphern geht, die stets von einem ontischen Vorbehalt begleitet sein müssen. Dieser soll an den Charakter der Kontingenzbegegnung erinnern, in der die Eigenmächtigkeit des Menschen durch die Öffnung für das ganz Andere überwunden ist. Lévinas gibt hier Hinweise, wie dies geschehen kann. Seine Bilder helfen, missbräuchliche Anwendungen von Metaphern zu erkennen, die offen oder auf Umwegen zur Gewalt aufrufen. Diese Reflexionen zur Ethik als »erste Philosophie«22 verstehen sich nicht als Beitrag zum allgemeinen Problem der Abhängigkeit der Ethik von der Religion. Gott ist weder Lieferant der ethischen Gebote, noch sind philosophische Prinzipien für die Religionen maßgebend. Lévinas zeigt vielmehr, dass einige Grundhaltungen so fundamental sind, dass sie in allen Religionen, die diesen Namen verdienen, wiederzufinden sind. Im Gegensatz zu Küngs Projekt eines »Weltethos«23 sorgen die 20 A.a.O. S. 278. 21 A.a.O. S. 307/308. 22 »Moral ist nicht ein Zweig der Philosophie, sondern die erste Philosophie.« Lévinas (87) S. 442.

23 Was Küng aus einem christlichen Vorverständnis und durch Beobachtungen in

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metaphorischen Möglichkeiten für eine Realisierung jener fundamentaleren Ethik in der jeweiligen gewachsenen Religion. Innerhalb eines religionsphilosophischen Konzepts haben wir vorwiegend Spuren vom »Anderen der Vernunft« im Umfeld der Philosophie gesucht. Sie sind natürlich noch zahlreicher in der Theologie. Wie schon erwähnt, bedeutet die Verwendung absoluter Metaphern keine Demontage deren Diskursivität. Der Umgang mit ihnen ist theologische Alltagspraxis. Doch die vorliegende Untersuchung wurde vor allem für solche Menschen geschrieben, denen das Andere der Vernunft eher fremd ist und die Aussagen darüber schnell als antiquierte Spekulationen, lebensfremde Träumereien und als versteckte Bedürfnisse nach Geborgenheit abwerten. – – – Der Versuch, mit Hilfe des Kontingenzbegriffs religionsphilosophische Kernfragen zu entfalten, führte zu klaren Grenzziehungen und nachvollziehbaren Diagnosen. So lassen sich naturwissenschaftliche Prozessbeschreibungen und philosophische Reflexionen als Kontingenzbewältigungen verstehen; ferner können die in diesen Bereichen stattfindenden Extrapolationen auf die jeweilige Totalität als bekenntnishafte Artikulationen eines letzten, als unhintergehbar erfahrenen Denkrahmens interpretiert werden, der keinerlei Kontingenzen zuzulassen scheint. Ob dies nun die Natur oder die Vernunft ist – beide eliminieren das von allen Menschen erfahrene existenziell Belangvolle, das aber gerade den Gedanken der Grenze erzwingt und so den Menschen als endliches Wesen offenbart, das sich nicht dem Sprechen vom Anderen der Vernunft (und der Natur) entziehen kann. Diese implizite real existierenden Religionen an moralischen Gemeinsamkeiten zu einem »Weltethos« zusammengetragen hat, hat zwar einen Bezug zu diesen Grundhaltungen, geht aber darüber weit hinaus. Als empirischer Befund bestehen für den Anspruch, ein verbindliches Ethos zu repräsentieren, erhebliche Legitimationslücken, die Küng selbst durch den Hinweis auf die Vernunft zu schließen sucht. Außerdem stellt das von der westlichen Kultur geprägte Vorverständnis für Anhänger anderer Religionen ein Hindernis dar. Siehe Küng (1990) Projekt Weltethos.

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Kontingenzanerkennung ist der Ort der Entscheidung: Rücknahme in die Totalität oder Öffnung für ein Unbekanntes. Aber das Bewusstsein, dass in beiden Fällen die Not der existenziellen Betroffenheit im Rücken steht, sollte dieses Zwielicht des Anderen zur Einsicht aufhellen, dass zumindest die Menschlichkeit und Toleranz als Konstante aller metaphorischen Aktivitäten außer Frage stehen. Das ist im theoretischen Sinne nicht viel, im lebenspraktischen aber alles.

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$ Adler, Leo: 191. Adorno, Theodor W.: 77, 107, 151, 213– 215, 240 f., 263. Albert, Hans: 126. Arendt, Hannah: 176. Aristoteles: 26 f., 51, 54, 68, 75 f., 97, 100, 105, 121, 178, 180, 218, 229. Augustinus, Aurelius: 41, 160, 177–179, 218, 219. Austin, John L.: 138. Ayer, Alfred J.: 140 f., 242. % Bachmann, Ingeborg: 191. Barrow, John D.: 93. Bartels, Andreas: 96 f. Barth, Ulrich: 8, 166. Becker, Oskar: 50. Beckermann, Ansgar: 89. Beisswanger, Peter: 113. Benjamin, Walter: 219. Benk, Andreas: 8, 239 f., 272. Bennington, Geoffray: 231 f. Berger, Peter L.: 71, Bieri, Peter: 96. Black, Max: 229. Bloch, Ernst: 190. Blume, Michael: 9, 39, 42, 64. Blumenberg, Hans: 16 f., 22, 34, 45, 49, 71, 73 f., 95, 131–133, 146, 176, 196, 222-226, 228, 233–236, 241, 269, 271. Bochenski, Joseph M.: 26 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: 170–172. Braithwaite, Richard B.: 197, 275. Breuer, Reinhard: 30. Bridgman, Percy W.: 111. Briggs, John: 69.

Broad, Charlie D.: 89. Buber, Martin: 137. Bubner, Rüdiger: 74–77. Buren, Paul van: 204. Buridan, Johannes: 270. & Camus, Albert: 49, 155. Caracciolo, Roberto: 16, 221. Carnap, Rudolf: 95, 139 f. Cassirer, Ernst: 180, 213. Cavell, Stanley: 147. Celan, Paul: 219. Cohen, Hermann: 163 f. Cohen, L. Jonathan: 141. Conrad-Martius, Hedwig: 129, 134. Cresswell, Max J.: 25. ' Dalferth, Ingolf: 29, 35, 46–50, 66, 71, 73, 140, 197, 200, 251, 255, 257–259, 275. Darwin, Charles R.: 106. Davidson, David: 231. Davies, Paul: 69. Dawkins, Richard: 9, 49. Dawson, John W. jun.: 88. Dekker, Eef: 50, 53–55. Dennett, Daniel: 9, 140. Derrida, Jacques: 7, 16, 76, 152, 176, 191, 213–220, 231–233. Descartes, René: 100, 119, 139, 148–150. Dewey, John: 148. Dilthey, Wilhelm: 80, 127, 130. Dingler, Hugo: 111. Dionysios Areopagita: 239, 252. Döring, Sabine A.: 121, 151. Dostojewskij, Fjodor: 177. Duns Scotus: 50, 53 f.

1$0 (1 9(5 = (,& + 1 ,6 

( Einstein, Albert: 9, 93, 95, 98. Erikson, Erik H.: 160. Esterbauer, Reinhold: 67, 70–73. Evans, Donald D.: 204. Evers, Dirk: 9, 25, 50. ) Falkenburg, Brigitte: 96. Fann, K. T.: 176. Feyerabend, Paul: 100. Figal, Günter: 179. Fink, Eugen: 130. Flew, Anthony: 140, 200, 251. Flohr, Hans: 89. France, Anatole: 232 Frazer, James G.: 195. Frege, Gottlob: 137, 139, 255 f. Freud, Sigmund: 42, 78, 214. Frisch, Max: 173. * Gadamer, Hans-Georg: 76, 79 f., 130, 137, 147, 210, 220, 247. Galilei, Galileo: 99 f. Geiger, Moritz: 129, 134. Geyer, Christian: 38. Gleick, James: 69. Glendinning, Simon: 141, 147 f. Glock, Charles Y.: 39. Glock, Hans-Johann: 146. Graevenitz, Gerhart von: 47, 68, 77. Gribbin, John: 30. + Habermas, Jürgen: 28, 37, 107, 151, 169 f., 172–174, 176, 184 f., 187, 190, 213, 215-218, 220, 269, 271 f. Halbmayr, Alois: 243. Hare, Richard M.: 203. Häring, Hermann: 237. Harries, Karsten: 188.

Harris, Sam: 9. Hawking, Stephen: 93 f., 97, 267. Hegel, Georg W. F.: 125, 135, 208, 210, 220, 232, 240, 260. Heidegger, Martin: 15, 23, 49, 124, 130 f., 134–137, 148 f., 152, 166, 176–191, 206, 210–215, 217, 219–221, 276. Heinen, René: 150. Heisenberg, Werner: 9. Hepburn, Ronald W.: 196. Hesse, Hermann: 214. High, Dallas M.: 196, 204 f., 276. Hildebrand, Dietrich von: 134. Hoering, Walter: 27, 87 f. Hoerster, Norbert: 9, 159. Hoff, Gregor: 243. Hölderlin, Friedrich: 187, 190. Hordern, William F.: 196. Horkheimer, Max: 151, 241. Hösle, Vittorio: 33. Hübner, Adolf: 137. Hübner, Jürgen: 8. Hübner, Kurt: 99, 168 f. Hughes, George: 25. Hume, David: 30. Husserl, Edmund: 127–135, 139, 150, 178 f., 181, 196, 215–216, 218, 278. , Ingarden, Roman: 134. Jabès, Edmond: 219. Jäger, Alfred: 186. James, William: 80. Jammer, Max: 96. Janich, Peter: 111, 114 f. Jaspers, Karl: 152, 186. Jonas, Hans: 97, 110. Jung, Matthias: 79 f., 178.

1 $ 0( 1 9 ( 5=(,&+1,6 . Kambartel, Friedrich: 41, 111. Kamlah, Wilhelm: 111, 244. Kanitscheider, Bernulf: 30, 96. Kant, Immanuel: 26, 55, 58, 63, 67, 76, 87, 89, 92 f., 96 f., 106 f., 110–112, 118, 128, 130, 139, 142, 145, 149, 220, 229, 275. Kaulbach, Friedrich: 117 f. Kepler, Johannes: 99 f. Ketelsen, Christel: 114. Kiefer, Claus: 85. Kim, Jong: 89. Kimmerle, Heinz: 214 f., 218, 220. Kopernikus, Nikolaus: 95, 101, 225. Koppelberg, Dirk: 139. Koyré, Alexander: 134. Kraus, Karl: 195. Kripke, Saul A.: 257. Kuhn, Thomas S.: 8. Küng, Hans: 119, 279 f. Kurz, Gerhard: 229. Kutschera, Franz von: 25, 84, 241–243. / Landgrebe, Ludwig: 130. Leibniz, Gottfried W.: 28, 34, 47, 68, 139, 181 f. Lenk, Hans: 106, 207. Lévinas, Emmanuel: 18, 43, 95, 131, 152, 219, 227, 262, 276–279. Lewes, George H.: 88 f. Libet, Benjamin: 38. Lipps, Hans: 130. Lorenz, Ed(ward) N.: 69. Lorenzen, Paul: 111, 114, 244. Löwith, Karl: 187. Lübbe, Hermann: 10, 36, 40, 57, 65–67, 165. Luckmann, Thomas: 71, 164 f. Luhmann, Niklas: 10, 22, 42, 56–66, 164. Luther, Martin: 178, 259.

Lyotard, Jean-François: 16, 125 f., 176, 208–210. 0 Mackie, John L.: 157 f. Marcel, Gabriel: 160. Marquard, Udo: 45, 47, 68, 73, 77, 79, 104, 126, 269. Marx, Karl: 42,78, 125, 172, 208, 211, 220. Mayer, Verena: 121. McGuiness, Brian: 195. Meister Eckehart: 219. Metz, Johann B.: 41. Meulemann, Heiner: 270. Meyer-Abich, Klaus M.: 33, 97, 110. Mittelstaedt, Peter: 96. Mlodinow, Leonard: 93 f. Monod, Jacques: 49. Moore, George E.: 139, 143–145. Mutschler, Hans-Dieter: 9, 33, 55, 84, 97, 102, 108–111, 115–118. 1 Neiman, Susan: 45. Neurath, Otto: 95, 140. Newton, Isaac: 32, 92, 99 f. Nietzsche, Friedrich: 7, 42, 49, 78, 183, 211, 221, 223, 271. 2 Oberschelp, Arnold: 25. Oelmüller, Willi: 238. Onfray, Michel: 9. Ott, Hugo: 186. Otto, Rudolf: 41, 43, 129, 134, 163, 185. 3 Pannenberg, Wolfhart: 243. Pascal, Blaise: 119, 139, 158, 219. Patzig, Günter: 193. Pauen, Michael: 38. Paulus von Tarsus: 275.

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Peat, F. David: 69. Peirce, Charles S.: 8, 97, 109 f. Peters, Ted: 8. Peukert, Helmut: 194. Pfänder, Alexander: 129, 134. Phillips, Dewi Z.: 64, 196, 201–204. Pickel, Gert: 270. Planck, Max: 9, 95. Platon: 112, 139, 213, 275. Pöggeler, Otto: 185. Polanyi, Michael: 118. Pollack, Detlef: 21, 36, 162, 270. Polt, Richard: 184 f. Popper, Karl R.: 88, 107. Putnam, Hilary: 177. 4 Quine, William V. O.: 96 f., 141, 148, 231. 5 Ray, Christopher: 96. Reder, Michael: 151, 170, 172. Rees, Martin: 30. Reinach, Adolf: 129, 134. Reiner, Hans: 129. Richards, Ivor A.: 229. Ricoeur, Paul: 131, 272. Rolf, Eckhard: 228–233. Rorty, Richard: 76, 140, 147–149, 210–212. Rosenzweig, Franz: 164. Rousseau, Jean J.: 230 f., 233. Russell, Bertrand: 112, 137, 139, 146, 192, 257. Ryle, Gilbert: 138, 141. 6 Sade, Marquis Louis de: 155. Safranski, Jürgen: 176, 189 f. Savigny, Eike von: 138. Schaeffler, Richard: 65. Schapp, Wilhelm: 134.

Schärtl, Thomas: 243–254. Scheibe, Erhard: 51 f., 109. Scheler, Max: 129, 134, 163. Schelling, Friedrich W.: 97, 109, 172, 190. Schleiermacher, Friedrich: 163, 165 f. Schlick, Moritz: 95, 140. Schmidt, Josef: 151, 170, 172. Scholem, Gersholm: 218. Schopenhauer, Arthur: 155. Schrödter, Hermann: 197, 203. Schulte, Joachim: 146. Schulz, Walter: 137, 191. Sellars, Wilfrid: 148. Singer, Wolfgang: 38. Sloterdijk, Peter: 147. Sölle, Dorothee: 274. Spengler, Oswald: 7. Spinner, Helmut: 106, 207. Spinoza, Benedictus de: 45 f. Splett, Jörg: 8. Spranger, Eduard: 107. Stegmüller, Wolfgang: 124. Stein, Edith: 134. Stöckler, Manfred: 86. Stoellger, Philipp: 29, 35, 46, 66, 73, 255, 257, 259. Strawson, Peter F.: 138, 260. Swinburne, Richard: 157 f. 7 Tertullian, Quintus: 265. Thomä, Dieter: 189. Toulmin, Stephen: 134. Troeltsch, Ernst: 166. Tugendhat, Ernst: 256 f. 8 Uhland, Ludwig: 195. 9 Vaas, Rüdiger: 9, 30, 39, 42, 64, 89, 94, 104 f., 162, 164.

1 $ 0( 1 9 ( 5=(,&+1,6 Vattimo, Gianni: 16, 176 f., 210–212, 220. Vico, Giovanni B.: 230. Vollmer, Gerhard: 96. : Wade, Nicholas: 64 f. Wagner, Falk: 21, 162. Waldenfels, Bernhard: 219. Weber, Max: 107. Weischedel, Wilhelm: 8. Weizsäcker, Carl F. von: 52. Welsch, Wolfgang: 175 f., 209 f., 215. Wetz, Franz J.: 26, 47, 78, 181, 223. Weyl, Hermann: 113.

Whitehead, Alfred N.: 97, 110. Wittgenstein, Ludwig: 15 f., 30, 64, 87, 97, 101, 134, 137–142, 146–149, 176–178, 191–206, 209 f., 234, 246, 249, 255, 276. Wolff, Christian: 92. Wright, Georg H. von: 139, 142. < Yandell, Keith: 249, 252. = Zimmermann, Gunter: 199, 256–262, 265.