Naturwissenschaft und Philosophie: Beiträge zum Internationalen Symposium über Naturwissenschaft und Philosophie anläßlich der 550-Jahr-Feier der Karl-Marx-Universität Leipzig [Reprint 2021 ed.] 9783112575147, 9783112575130


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Naturwissenschaft und Philosophie: Beiträge zum Internationalen Symposium über Naturwissenschaft und Philosophie anläßlich der 550-Jahr-Feier der Karl-Marx-Universität Leipzig [Reprint 2021 ed.]
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NATURWISSENSCHAFT

UND

PHILOSOPHIE

NATURWISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE B E I T R Ä G E ZUM I N T E R N A T I O N A L E N SYMPOSIUM N A T U R W I S S E N S C H A F T UND

ÜBER

PHILOSOPHIE

ANLÄSSLICH DER 550-JAH R-F EI E R DER KARL-MARX-UNIVERSITÄT

LEIPZIG

Herausgegeben von GERHARD

HARIG

und JOSEF

SCHLEIFSTEIN

AKADEMIE-VERLAG

• BERLIN

• 1960

Wissenschaftlicher Redakteur: Rudolf Rochhausen

Erschienen im Akademie - Verlag GmbH, Berlin W 1 , Leipziger StraBe 3-4 Copyright 1960 by Akademie-Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 202 . 100/189/60 Satz, Druck und Bindung: IV/2/14 • VEB Werkdruck Gräfenhainichen • 1366 Bestellnummer 5399 Printed in Germany ES 3 B 4

VORWORT Aus Anlaß der 550-Jahr-Feier der Karl-Marx-Universität Leipzig veranstalteten das Institut für Philosophie und das Karl-SudhoffInstitut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften dieser Universität ein Internationales Symposium über Philosophie und Naturwissenschaften. Rektor und Senat der Karl-Marx-Universität hatten sich bei den Jubiläumsfeierlichkeiten von dem Gedanken leiten lassen, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts und in einer werdenden sozialistischen Gesellschaftsordnung Veranstaltungen wissenschaftlichen Charakters im Zentrum solcher Universitätsfeierlichkeiten stehen müßten. Das Symposium über Philosophie und Naturwissenschaften war eine der wichtigen wissenschaftlichen Tagungen, die aus dieser Zielsetzung geboren wurden, und die der 550-Jahr-Feier der Karl-Marx-Universität im Oktober 1959 ihr Gepräge gaben. Sinn und Zweck des Symposiums war es, Naturwissenschaftler und Philosophen der Deutschen Demokratischen Republik zum gemeinsamen Gespräch über einige besonders aktuelle und wichtige philosophische Probleme der Naturwissenschaften zusammenzuführen und so einem vielfach geäußerten dringenden Bedürfnis auf beiden Seiten entgegenzukommen. Die großen Entdeckungen und ganz allgemein die Ergebnisse, die in den letzten Jahrzehnten durch die naturwissenschaftliche Forschung erzielt worden sind, bedürfen einer gründlichen philosophischen Durchdringung und Verallgemeinerung. Eine solche Verarbeitung naturwissenschaftlicher Ergebnisse ist aber erfolgreich nur auf der Grundlage einer Philosophie möglich, die selbst wissenschaftlichen Charakter trägt, auf der Grundlage des dialektischen Materialismus. Sie erfordert die Zusammenarbeit von Naturwissen-

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schaftlern und marxistischen Philosophen. Mit dem Internationalen Symposium beabsichtigten die Veranstalter einen Schritt vorwärts auf diesem Wege der Zusammenarbeit zwischen ihnen in der Deutschen Demokratischen Republik zu tun und den Anstoß zu einer systematischen und vielseitigen gemeinsamen Arbeit zu geben. Zahlreiche Naturwissenschaftler und Philosophen der älteren wie der jüngeren Generation aus der Deutschen Demokratischen Republik hatten der Einladung der Veranstalter Folge geleistet. Das wissenschaftliche Gewicht der Tagung wurde noch unterstrichen durch die Teilnahme von Gästen aus den befreundeten sozialistischen Ländern, aus Italien usw., oder, wo die persönliche Teilnahme nicht möglich war, durch die Übersendung von Beiträgen. Besonders dankbar nahmen die Teilnehmer die Beiträge der sowjetischen Gelehrten Prof. Kedrow, Prof. Fatalijew f , Prof. Omeljanowski und den Beitrag des Seniors der deutschen Physiker, Nobelpreisträger Prof. Max von Laue f entgegen, dem die Tagung zu seinem 80. Geburtstag am 9. Oktober 1959 die wärmsten Grüße und Wünsche übermittelte. Mit dem vorliegenden Band werden die Ergebnisse des Internationalen Symposiums über „Philosophie und Naturwissenschaften" (Leipzig, 8.—11. Oktober 1959) der Öffentlichkeit unterbreitet. Es handelt sich nicht um ein Protokoll der Tagung, sondern um eine Sammlung der Referate und eine Auswahl derjenigen Diskussionsbeiträge, in denen beachtenswerte Gesichtspunkte enthalten und die auf den Verlauf der Diskussion von Einfluß gewesen sind. Für die Auswahl der Beiträge tragen ausschließlich die Herausgeber die Verantwortung. Die Beiträge sind nach den drei Fragenkomplexen gegliedert, welche die Grundlage des Ablaufs des Internationalen Symposiums bildeten, und zwar: 1. Philosophische Probleme der modernen Physik 2. Philosophische Probleme der Biologie 3. Allgemeine philosophische Probleme der Naturwissenschaften. Dadurch wird dem Leser die Übersicht über die umfangreiche Problematik erleichtert und gleichzeitig der tatsächliche Verlauf des Symposiums angedeutet. Innerhalb jedes Abschnittes sind die Beiträge nach ihrem Inhalt geordnet, wobei wir uns bemüht haben, ähnlich wie 6

auf dem Symposium selbst Naturwissenschaftler und Philosophen abwechselnd zu Wort kommen zu lassen. Gleichzeitig konnten auch noch einige Beiträge aufgenommen werden, die während der Tagung selbst wegen Behinderung der Teilnehmer oder aus Zeitmangel nicht vorgetragen worden sind. Wir glauben damit im Interesse der Fortsetzung und Vertiefung des Gespräches gehandelt zu haben. Die Herausgeber danken an dieser Stelle allen Referenten und Diskussionsteilnehmern des Symposiums, von denen sie autorisiert wurden, ihre Beiträge in diesen Band aufzunehmen. Sie danken dem Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der Deutschen Demokratischen Republik, das durch seine Unterstützung das Erscheinen des Bandes ermöglichte, und dem Verlag f ü r die sorgfältige und schnelle Herausgabe. Mögen die hier veröffentlichten Beiträge zu den philosophischen Problemen der modernen Physik, der Biologie und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen dazu beitragen, das Interesse f ü r diese Fragen zu erhöhen und die weitere Diskussion und Forschung auf diesem Gebiet anzuspornen und zu befruchten! Möge der Band vor allem die gemeinsame Arbeit von Naturwissenschaftlern und marxistischen Philosophen sowohl an den auf dem Leipziger Symposium debattierten als auch an den vielen anderen der Diskussion und wissenschaftlichen Bearbeitung harrenden philosophischea Fragen der Naturwissenschaften anregen und fördern! Leipzig, im Februar 1960 GERHARD

HARIG

JOSEF

SCHLEIFSTEIN

INHALTSVERZEICHNIS Gerhard, Harig (Leipzig), Der dialektische Materialismus und die moderne Naturwissenschaft I. P H I L O S O P H I S C H E

PROBLEME PHYSIK

DEE

MODERNEN

Gerhard, Heber (Jena), Über einige philosophisch wichtige Aspekte der Quantentheorie Ernst Schmutzer (Jena), Über das Wesen und den Gehalt der Relativitätstheorie Ch. M. Fatalijew f (Moskau), Das Problem der Kausalität und die moderne Physik Max von Laue f (Westberlin), Erkenntnistheorie und Relativitätstheorie M. E. Omeljanowski (Moskau), Das Problem der Realität in der Quantenphysik F. T. Archiptzew (Moskau), Die Kategorie Materie und die moderne Physik J. P. Terletzki (Moskau), Das Eindringen in die Tiefe der Elementarteilchen Robert Havemann (Berlin), Über Kausalität Klaus Zweiling (Berlin), Dialektische Gesetzmäßigkeiten in den atomaren und subatomaren Prozessen Hermann Ley (Berlin), Einige Bemerkungen zu den Beiträgen von Max von Laue und Robert Havemann . Martin Strauss (Berlin), Quantentheorie und Philosophie . . . Zdzislaw Augustynek (Krakow), Kritik der konventionalistischen Interpretation der Definition der Gleichzeitigkeit . . . . Alfred Pfeiffer (Dresden), Zwei Fassungen des Kausalitätsbegriffs Azari Polikarow (Sofia), Über das Kausalitätsgesetz in der Physik

8

11

27 33 47 61 71 89 103 113 129 153 167 177 183 195

Wilhelm Mache (Dresden), Anschaulichkeit und Abstraktion beim Erkenntnisprozeß der Physik Karl Bogel (Ilmenau), Sind die meßbaren Naturgrößen stetig und differenzierbar? Johannes Picht (Potsdam), Das Elektron und seine Welle . . . . Herbert Hörz (Berlin), Über die Widerspiegelung der Bewegung der Elementarobjekte im Denken Armin Uhlmann (Jena), Zum Aufbau der Relativitätstheorie nach Alexandrow Bodo Wenzlaff (Berlin), Der Wellen-Korpuskel-Dualismus als Bewegungsproblem Martin Strauss (Berlin), Widerspruch und Aufhebung in der Entwicklung der Physik ' . . II. P H I L O S O P H I S C H E

PROBLEME

DER

201 213 223 233 243 253 259

BIOLOGIE

Jakob Segal (Berlin), Die besonderen Gesetzmäßigkeiten der Bewegungsform „Leben" Atari Polikarow (Sofia), Ist die Widerspiegelung eine allgemeine Eigenschaft der Materie? Rudolf Rochhausen (Leipzig), Die Ganzheit lebender Systeme und ihre philosophische Deutung Dietfried Müller-Hegemann (Leipzig), Theoretische und praktische Auswirkungen der Lehre Pawlows in der Deutschen Demokratischen Republik Ernest Ouensberger (Bratislava), Reflex und Spontaneität. Ein philosophischer Aspekt des zweiten Signalsystems . . . . Jan Kamaryt (Prag), Zur Frage der dialektischen Auffassung der Entwicklung und einige allgemeine Kriterien des Entwicklungsprozesses Günther Sterba und Konrad Senglaub (Leipzig), Individuum und Kolonie Oerd Pawelzig (Berlin), Über Reversibilität und Irreversibilität von Prozessen

267 283 305

325 341

343 357 363

III. A L L G E M E I N E P H I L O S O P H I S C H E PROBLEME DER MODERNEN NATURWISSENSCHAFT

B. M. Kedrow (Moskau), Die dialektische Logik und die Naturwissenschaft Ldszlö Kalmar (Szeged), Einige philosophische Probleme der Kybernetik

369 389

9

Miloslav Kral (Prag), Der Begriff der Materie und die moderne Physik Friedrich Hansen (Ilmenau), Dialektischer Materialismus und Konstruktionswissenschaft Wolfgang Krah (Dresden), Über die Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und marxistischen Philosophen Galvano della Volpe (Rom), Engels und das wissenschaftliche Gesetz (Ein kritischer Überblick) Josef Schleifstein (Leipzig), Schlußwort

403 409 419 425 431

DER DIALEKTISCHE MATERIALISMUS UND MODERNE NATURWISSENSCHAFT Gerhard Harig

DIE

(Leipzig)

Wenn das Symposium über Philosophie und Naturwissenschaften mit einem einleitenden Vortrag über den dialektischen Materialismus und die moderne Naturwissenschaft eröffnet wird, so bedeutet diese Präzisierung der Themenstellung keineswegs eine Einschränkung in dem Sinne, daß auf dem Symposium nur vom dialektischen Materialismus und nur von der neuesten Naturwissenschaft die Rede sein soll, oder daß Vertreter anderer philosophischer Ansichten nicht zu Worte kommen sollen, wohl aber eine, wie mir scheint, notwendige und wünschenswerte Aktualisierung der Themenstellung in dem Sinne, daß wir geradewegs die brennenden Probleme aufzugreifen und uns unmittelbar an ihrer Klärung zu beteiligen wünschen. ' Wer auch immer, gleichgültig welche politische oder weltanschauliche Überzeugung er teilt, und wo er lebt und arbeitet, sich heute f ü r die Beziehung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft näher interessiert und darüber nachdenkt, stößt unweigerlich auf die moderne Naturwissenschaft und auf den dialektischen Materialismus. Die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften h&t durch .grundlegend neue Erkenntnisse ganz allgemeine Probleme und Begriffe, wie Raum und Zeit, Bewegung und Veränderung, Quantität und Qualität, Kausalität und Wechselwirkung neu aufgeworfen und zur Diskussion gestellt. Der philosophisch Interessierte, der sich mit solchen und ähnlichen Problemen beschäftigt, kann deshalb an der modernen Naturwissenschaft nicht vorübergehen. Zugleich h a t die marxistische Philosophie als weltanschauliche Grundlage der politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Erfolge der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers ihre Stärke und Bedeutung so 11

überzeugend nachgewiesen, daß sie von immer mehr Mensehen studiert wird. Das gilt insbesondere auch für die Naturwissenschaftler und Philosophen selbst. Der weiterdenkende Naturwissenschaftler sieht sich veranlaßt, sich mit dem dialektischen Materialismus zu befassen und jeder Philosoph muß heute die moderne Naturwissenschaft studieren. Es kann nicht die Aufgabe eines einleitenden Referates sein, die in diesem Zusammenhang auftauchenden konkreten Fragen im einzelnen zu behandeln, und ich werde sie deshalb nicht einmal aufzuzählen versuchen. Es handelt sich um eine solche Fülle von Problemen, daß wir uns sogar veranlaßt gesehen haben, im Symposion einige wesentliche herauszugreifen und in den Vordergrund zu stellen. Worum es zunächst geht, ist die allgemeine Frage der Beziehung und des Zusammenhanges von dialektischem Materialimus und moderner Naturwissenschaft und damit die Frage der Beziehungen und der Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und marxistischen Philosophen als Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung im allgemeinen und in unserer Republik und ihren wissenschaftlichen Einrichtungen im besonderen. Worauf beruht diese Beziehung ? Warum bedarf es einer solchen Zusammenarbeit ? Das Wasser fließt im Osten wie im Westen bergab; der Verbrennungsmotor funktioniert im SIM ebenso wie im Mercedes und eine automatische Drehbank oder ein Röntgenapparat können von einem Menschen bedient werden, unabhängig davon, welcher politischen Partei er angehört, d. h. die Naturgesetze und die Werkzeuge sind unabhängig von der Gesellschaftsordnung, von den Klassen, von der Weltanschauung und von philosophischen Einstellungen. Ja, mehr noch. Ist eine Messung durchzuführen oder eine bestimmte naturwissenschaftliche bzw. technische Aufgabe gestellt, so kann sie auf Grund der bekannten Tatsachen und Verfahren bearbeitet werden, ohne daß der Wissenschaftler philosophische Fragen zu lösen oder auch nur philosophische Kenntnisse zu besitzen braucht. Es liegt auf der Hand, daß unter diesen Umständen alte und junge Naturwissenschaftler erklären, sie brauchten bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten keine philosophischen Kenntnisse. Trotzdem gibt es in der Vergangenheit und Gegenwart kaum einen bedeutenden Natur12

Wissenschaftler, der sich nicht auch zu erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragen geäußert hätte. Das ist natürlich kein subjektives Zusammentreffen, sondern ein Ausdruck der Tatsache, daß ohne allgemeine Begriffe, ohne erkenntnistheoretische Grundlagen und ohne methodische Prinzipien keine Wissenschaft möglich ist. Was wir heute als selbstverständlich ansehen, wie etwa die Begriffe Länge und Gleichzeitigkeit, die Sinnestäuschung und das Experiment sind keineswegs mit dem sogenannten „gesunden Menschenverstand" gegeben. Sie sind vielmehr das Resultat einer oft langwierigen und schwierigen Verallgemeinerung einzelner und besonderer Erkenntnisse, d. h. auch das Resultat philosophischer Forschung. Wie für jede andere Wissenschaft, so gilt zugleich auch für die Philosophie die Tatsache, daß ihre Ergebnisse keineswegs Wahrheiten letzter Instanz darstellen, sondern ständig erweitert und vertieft werden müssen und können. Die entscheidende Bedeutung der philosophischen Grundlagen der Wissenschaft und der nicht abgeschlossene Charakter der Resultate philosophischer Forschung und damit zugleich der unbedingte, zwangsläufige Zusammenhang zwischen Philosophie und Naturwissenschaft gewinnt stets dann aktuelle Bedeutung, wenn die Entdeckung neuer Tatsachen, neuer Zusammenhänge und neuer Gesetzmäßigkeiten zeigt, daß die bis dahin der Naturwissenschaft zugrunde liegenden allgemeinen Begriffe und Theorien nicht mehr ausreichen, um die Naturerscheinungen und ihre Zusammenhänge begrifflich zu erfassen. Eine solche Situation war zweifellos im 16. und 17. Jahrhundert vorhanden, als die scholastische Naturlehre durch die heute sogenannte klassische Naturwissenschaft abgelöst wurde, und in einer solchen Situation befinden wir uns seit der Entdeckung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, der Entdeckung des Elektrons, der Entdeckung des Wirkungsquantums und des Photons und seit dem Eindringen in die innere Struktur der Atome. In einer solchen Situation gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Entweder man verzichtet auf Wissenschaft und Naturerkenntnis oder man bemüht sich, zu neuen Grundbegriffen und allgemeinen Vorstellungen vorzudringen, um die Naturerkenntnis zu vertiefen und zu erweitern. 13

Der erste unwissenschaftliche Weg ist der des philosophischen Idealismus und Fideismus. Ihn haben in der Gegenwart alle diejenigen beschritten, die den Zusammenbruch der Wissenschaft verkünden oder Aufgabe und Sinne der Wissenschaft auch nur im bloßen Konventionalismus erblicken. Unter den besonderen Bedingungen des Herannahens der Periode der imperialistischen Kriege und der proletarischen Revolutionen verloren schon im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die herrschenden bürgerlichen Klassen das Vertrauen zur Wissenschaft und wendeten sie sich dem Irrationalismus zu. Der optimistische Glaube an den Portschritt begann einer pessimistischen Stimmung zu weichen. Damit waren für die Verbreitung idealistischer philosophischer Strömungen auch in der Naturwissenschaft günstige Bedingungen vorhanden. Es entwickelte sich der Positivismus und physikalische Idealismus, der bekanntlich von einigen Naturwissenschaftlern wie Mach, Ostwald u. a. in die Naturwissenschaft hineingetragen wurde. Mancher Naturwissenschaftler, der richtig die Notwendigkeit erkannte, die philosophischen Grundlagen der klassischen Naturwissenschaft zu überprüfen, wurde auf diese Weise zum Opfer solcher Modephilosophien, die längst überholte philosophische Ansichten als neueste Ergebnisse philosophischer Forschung ausgaben und ausgeben. Ein Philosoph, der heute die Erkenntnislehre von Plato, Berkeley, Hume oder Kant vertritt, gleicht einem Naturforscher, der an der antiken Lehre von den vier Elementen, an der Phlogistontheorie oder an der Ätherlehre festhält. Bekanntlich hat der subjektive Idealismus weder in der Form des Positivismus von Mach noch des logischen Positivismus oder Neopositivismus die Naturwissenschaft vorwärtsgeführt. Er konnte sie nicht vorwärtsführen, da er letzten Endes die Existenz und Erkennbarkeit der Natur verneint. Solche bedeutende Naturwissenschaftler der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wie Max Planck und Albert Einstein sahen sich deshalb angesichts dieser Gefahr veranlaßt, ganz entschieden gegen diese Abkehr vom Ausgangspunkt und Fundament jeder Wissenschaft aufzutreten. Ein Verzicht auf die Erforschung der Natur bedeutet aber auch die Auffassung, die die Naturerscheinungen als sekundär oder als Äußerungen und Schöpfungen geistiger Prinzipien ansieht. Der objektive Idealismus behauptet bekanntlich das Primat des Geistes in der 14

Weise, daß er das Wesen der Natur in der oder in den Ideen sucht oder auch, wie sich in der Ausdeutung der letzten Entwicklung der theoretischen Naturwissenschaft zeigt, in der oder in den Weltformeln. Damit verschwindet die Materie, es bleibt allein die Formel und die Naturwissenschaft wird zur reinen Mathematik. Naturkonstante, wie etwa die Lichtgeschwindigkeit, das Wirkungsquantum usw. aus reinen Zahlbeziehungen ableiten zu wollen, führt zurück zur Zahlenmystik der Pythagoräer, aber nicht vorwärts zur Erkenntnis und Beherrschung der Natur. Allen teils wohlmeinenden, teils drohenden Warnungen zum Trotz, hat nicht die Reduktion der Naturforschung auf Denkökonomie, Semantik, agnostischen Verzicht oder staunendes Bewundern neue Erkenntnisse und Einsichten vermittelt, sondern die unermüdliche, tausendfaltige praktische Arbeit des Experimentators, in deren Gefolge neue riesige wissenschaftliche Apparaturen und Instrumente entstanden sind, das zähe Suchen und Probieren des Theoretikers, der seine Ansätze aus den Ergebnissen der Experimentaluntersuchungen ableitet und bis zu Schlußfolgerungen führt, die experimentell nachgeprüft werden können, und das geduldige und scheinbar trockene Rechnen des Mathematikers, das heute durch moderne Rechenmaschinen beschleunigt und vervielfacht wird. Die Existenz des Positrons, des Neutrons und Neutrinos, der Mesonen und der sog. Antiteilchen ist auf Grund neuer kühner theoretischer Ansätze und Verallgemeinerungen vorausgesagt und später durch Experimente bestätigt worden. Nicht das Aufgeben der materialistischen Grundhaltung, sondern der Übergang zur Erfassung allgemeinerer und tieferer Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten verbürgt neue Erfolge und weitere Fortschritte in der Naturwissenschaft. Die großen Naturwissenschaftler unserer Zeit haben, vielfach allerdings mit großem Zögern und nur unter dem Zwang der von ihnen selbst entdeckten Tatsachen, diesen anderen von mir genannten Weg beschritten, d. h., sie haben begonnen, die Grundbegriffe, allgemeinen Vorstellungen und Verfahren der Naturwissenschaft zu verallgemeinern und zu vertiefen und neue Theorien geschaffen. Aus dem Versagen der klassischen Mechanik und der klassischen Theorie des Elektromagnetismus entstand die Relativitätstheorie, die Atomtheorie und die moderne Quantentheorie einschließlich der Quanten15

mechanik und der Quantentheorie der Felder. Mit der Erforschung des Subatomaren wird immer deutlicher, daß neue grundlegende physikalische Begriffe und Vorstellungen notwendig sind. Sie zu schaffen und mit den bereits vorhandenen modernen Theorien zu verbinden, ist heute das grundlegende Anliegen aller Naturwissenschaftler. Niemand vertritt heute die Ansicht, daß eine umfassende moderne Naturwissenschaft bereits vorläge. Aber ganz zweifellos hat die moderne Naturwissenschaft seit der Aufstellung der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie sowie der Bohrschen Atomtheorie bedeutende Fortschritte gerade auch in Hinsicht auf die Vertiefung und Verallgemeinerung ihrer Grundbegriffe erzielt. Wenn wir die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft unter diesem Gesichtspunkt betrachten, so zeigt sich, daß die alten klassischen Vorstellungen des Baumes, der Zeit, der Masse und der Kraft heute überwunden und an die Stelle der Grundbegriffe der klassischen Naturwissenschaft die Begriffe der Relativitätstheorie und der Quantentheorie getreten sind. Dabei wird immer deutlicher, daß sich eben die Formen und Deutungen der neuen Begriffe und Vorstellungen als fruchtbar erwiesen haben und erweisen, denen die Ausgangspositionen des dialektischen Materialismus zugrunde liegen, d. h. die Anerkennung der Existenz und Erkennbarkeit der realen Außenwelt und die Einsicht, daß es, um einen Ausdruck von Engels aufzugreifen, in der Natur letzten Endes dialektisch hergeht. Nicht die Ansicht, daß die Materie verschwindet, sondern die Einsicht, daß ihre verschiedenen Formen ineinander übergehen, hat vorwärtsgeführt; nicht die Deutung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation als Indeterminiertheit des Subatomaren, sondern als Ausdruck des Zusammenhanges zwischen Makrophysik und Mikrophysik bringt Klarheit. Die Erforschung des Atomkernes führte von der alten Proutschen Hypothese, wonach alle Elemente aus Wasserstoff bzw. Wasserstoffkernen und Elektronen bestehen, über andefe ähnliche Hypothesen, die von der Existenz starrer, unveränderlicher Elementarteilchen ausgingen, zu der prinzipiell neuen Einsicht, daß es solche unveränderliche korpuskulare Bausteine gar nicht gibt, sondern daß die Elementarteilchen veränderlich sind und sich ineinander ver16

wandeln. Der alte Streit über die Wellennatur oder korpuskulare Natur des Lichts, durch neue Entdeckungen auch auf den Stoff ausgedehnt, wird seine Lösung nicht in der einen oder anderen Alternative finden, sondern in der begrifflichen Bewältigung ihres Zusammenhanges. Entsprechendes gilt für die Verbindung von statistischen und dynamischen Gesetzmäßigkeiten als Formen des kausalen Zusammenhanges der Naturerscheinungen anstatt für deren Trennung, für die dialektische Auffassung von Wirklichkeit und Möglichkeit usw. usf. Solche Einsichten oder genauer gesagt die Anerkennung dieser Tatsachen finden sich nicht etwa nur bei solchen Naturwissenschaftlern, die bewußt auf dem Boden des dialektischen Materialismus stehen, sondern in zunehmendem Maße auch bei solchen, die ihm abwartend oder sogar ablehnend gegenüberstehen. So tritt etwa Max Born, der sich dagegen verwahrt, als Kronzeuge für den dialektischen Materialismus genannt zu werden, ausdrücklich für das Vorhandensein einer objektiven Kausalität in einer objektiven Außenwelt ein. Auch Niels Bohr (seit kurzem auch korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion) hält heute nicht mehr an der Auffassung fest, daß die atomaren Prozesse „unkontrollierbar" seien. Werner Heisenberg bestreitet keineswegs die reale Existenz der Elementarteilchen usw. Diese und eine ganze Reihe anderer Physiker nehmen heute eine schwankende Haltung zwischen Materialismus und Idealismus ein, sie distanzieren sich immer deutlicher vom Positivismus und in Einzelfragen zeigen ihre Antworten deutlich eine Tendenz zur Übereinstimmung mit denen des dialektischen Materialismus. Ganz zweifellos stellt diese Entwicklung eine wachsende Annäherung an die Positionen des dialektischen Materialismus dar und bestätigt so die Worte Lenins, der die Situation richtig erkannt hat, als er schrieb: „Die moderne Physik steuert auf diese einzig richtige Methode und einzig richtige Philosophie der Naturwissenschaft hin, aber nicht schnurstracks, sondern im Zickzack, nicht bewußt, sondern instinktiv, wobei sie ihr 'Endziel' nicht klar sieht, sondern sich ihm tastend, schwankend nähert, manchmal sogar mit dem Rücken voran. Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären." 2

Naturwissenschaft und Philosophie

17

Um diese Sätze Lenins in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, wollen wir unser Thema von der anderen Seite behandeln und uns dem Anliegen der Philosophie zuwenden. Der dialektische und historische Materialismus, d. h., die moderne wissenschaftliche Weltanschauung ist bekanntlich in Übereinstimmung mit der Entwicklung der Naturwissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer neuen Grundlegung der Gesellschaftswissenschaften erwachsen. Marx und Engels haben zunächst und vor allem die politische Ökonomie und die Geschichtswissenschaft auf eine neue, wissenschaftliche Basis gestellt und dabei zugleich die Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus geschaffen. Die marxistische Philosophie gründet sich gleichzeitig auf die Erfahrungen der Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung, für den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft. Damit aber umfaßt sie ein weit größeres Gebiet als nur die Naturerkenntnis und die Naturwissenschaft und darum kommt ihren Begriffen und Grundsätzen ein umfassenderer und tieferer Wahrheitsgehalt zu als allen allgemeinen Begriffen und Grundsätzen des vormarxistischen Materialismus, die allein aus der Erkenntnis der Natur abgeleitet waren. So konnte es geschehen, daß die moderne Naturwissenschaft zu Anfang unseres Jahrhunderts ihre philosophischen Grundlagen bereits vorfand, ähnlich wie sie die nichteuklidische Geometrie vorfand, als sie gebraucht wurde — eine Situation, die für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft von großer Bedeutung ist (und in der Geschichte der Naturwissenschaft durchaus nicht die Regel). Es genügt, Lenins bedeutendes Werk „Materialismus und Empiriokritizismus", dessen 50 jähriges Erscheinen wir 1959 feiern, zu erwähnen, um die Wahrheit dieser Behauptung zu erhärten. In diesem Werk hat Lenin die philosophischen Grundlagen der modernen Physik untersucht, die idealistischen und fideistischen Entstellungen als solche nachgewiesen und schon damals gezeigt, daß die Grundsätze des dialektischen Materialismus der neuen Entwicklung der Naturwissenschaft entsprechen. Ja mehr noch: Er hat durch die Klärung und Vertiefung des Begriffes Materie, durch seinen Hinweis auf die Unerschöpflichkeit der Materie, auf die Unendlichkeit von Raum und Zeit und die objektive Existenz der Gesetzmäßigkeit sowie 18

durch die Weiterentwicklung der materialistischen Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft wertvolle Hinweise gegeben. Wir sehen heute, daß die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft in den letzten 50 Jahren die Schlußfolgerungen Lenins voll und ganz bestätigt hat. Ich denke, Sie werden mit mir übereinstimmen, wenn ich aus dem bisher Gesagten die Schlußfolgerung ziehe, daß marxistische Philosophen und Naturwissenschaftler in Zukunft eng zusammenarbeiten und voneinander lernen müssen und daß sie heute angesichts der Lage in der Naturwissenschaft, die sich von der klassischen zur modernen Naturwissenschaft weiterentwickelt, und angesichts der Lage in der wissenschaftlichen Philosophie, die sich vom mechanischen zum dialektischen Materialismus weiterentwickelt hat, auch vieles voneinander zu lernen haben und eng zusammenarbeiten können. Lenins Werk zeigt aber auch zugleich, daß die notwendige Verbindung von dialektischem Materialismus und Naturwissenschaft auf tiefliegende gesellschaftliche Hindernisse stößt. Es war damals und ist noch heute in den kapitalistischen Ländern für den Naturwissenschaftler aus gesellschaftlichen und ideologischen Gründen bedeutend schwieriger, sich die Grundlagen des dialektischen Materialismus anzueignen als etwa die Lehrsätze der nichteüklidischen Geometrie. Ähnlich wie die Entwicklung der Produktivkräfte stößt auch die Entwicklung der Naturwissenschaft unter den Bedingungen des Imperialismus und Monopolkapitalismus auf die Grenzen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und eine dadurch bedingte Zunahme der reaktionären, chauvinistischen und militaristischen Tendenzen, die zwischen der fortschrittlichen Entwicklung der Naturwissenschaft und der fortschrittlichen Entwicklung der Philosophie einen eisernen Vorhang aufzurichten versuchen, um das Vordringen dei gesellschaftlich fortschrittlichen und humanistischen Ideen, die mit der marxistischen Philosophie verbunden sind, zu verhindern. Ich brauche nur etwa an die Auseinandersetzung um den Darwinismus zu erinnern, um deutlich zu machen, daß die Naturerkenntnis von den reaktionären gesellschaftlichen Kräften bekämpft wird, wenn sie ihren Interessen widerspricht und daß sie mißbraucht und verfälscht wird, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Es ist sicher nicht zu viel behauptet, wenn wir heute feststellen, daß diese gesellschaft2*

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liehen Gründe die Entwicklung der theoretischen Naturwissenschaft ganz bedeutend verzögert und gehemmt haben. Bei der Untersuchung und Darlegung der negativen Auswirkungen des Kapitalismus, speziell des Monopolkapitalismus und des Imperialismus auf die Wissenschaft, sollte gerade dieser Faktor besonders hervorgehoben werden. Erst mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der Errichtung und Erstarkung der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers wurden diese gesellschaftlichen und ideologischen Hindernisse mehr und mehr beseitigt und damit auch von dieser Seite her eine fruchtbare Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und marxistischen Philosophen ermöglicht. Diese Zusammenarbeit ist heute in der Sowjetunion am weitesten entwickelt und hat in der Kosmogonie, Astrophysik und Weltraumforschung, in der Physiologie und der Lehre von der Entstehung des Lebens, in der Lehre von Mitschurin usw. ihre ersten großen Ergebnisse gezeitigt. In einer von der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion im Oktober 1958 durchgeführten Konferenz über philosophische Fragen der Naturwissenschaft wurde die große Bedeutung der Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und marxistischen Philosophen herausgearbeitet, in ihren Grundzügen geklärt und gleichzeitig auf die hohe Stufe des gegenseitigen Vertrauens und der Kameradschaftlichkeit gehoben. Es ist ein sichtbarer Ausdruck des Fortschrittes sowie der Pflege und Förderung der Wissenschaft in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat, wenn wir heute an der Karl-Marx-Universität Leipzig anläßlich ihres 550jährigen Bestehens zum 10. Jahrestag unserer Republik ein Internationales Symposion über Naturwissenschaft und Philosophie durchführen können, frei von den ideologischen und politischen Hindernissen und Schranken, die in den kapitalistischen Ländern einer engen Verbindung von Naturwissenschaft und marxistischer Philosophie entgegenstehen. Mit der Feststellung, daß die moderne Naturwissenschaft im dialektischen Materialismus ihre philosophischen Grundsätze bereits vorfindet, ist keineswegs, wie man zunächst vermuten könnte, und wie es wohl gelegentlich von den Naturwissenschaftlern befürchtet und von engstirnigen Dogmatikern praktiziert worden ist, eine Erneue20

rung des Herrschaftsanspruches der Philosophie über die Naturwissenschaft verbunden. Ein solcher Anspruch wird heute, wie im Mittelalter, nach wie vor nur von der idealistischen Philosophie und von religiöser Seite erhoben. So formuliert etwa der Neothomist I. Maritain ganz offen, das Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft gleiche dem einer Dame zu ihrer Zofe. Aber auch der Positivist Philipp Frank, der lehrt, daß die Wissenschaft selbst Philosophie sei und deshalb keinerlei Philosophie bedürfe, behauptet im gleichen Atemzug es sei unsinnig, solche Fragen zu stellen wie: Was ist Wahrheit? Existieren materielle Dinge? Gibt es eine Außenwelt außerhalb des menschlichen Bewußtseins ? Sowohl die positivistische als auch die neothomistische Position in der Frage des Verhältnisses Philosophie — Naturwissenschaften stellen einseitige Verabsolutierungen dar. Übersieht man, wie die Neothomisten das Einzelne und Besondere, das die Naturwissenschaft erforscht, so wird die Philosophie zu einer obersten Prinzipienwissenschaft jenseits jeder Einzelwissenschaft und damit zum Dogma und zur Spekulation. Übersieht man, wie die Neopositivisten das Allgemeine, das die Philosophie erforscht, so wird die Summe der Ergebnisse der Naturwissenschaft zum Ersatz für die Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang. Der dialektische Materialismus bestimmt das Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaft entsprechend der dialektischen Lösung der Frage nach der Wechselbeziehung von Allgemeinem und Besonderem in der wissenschaftlichen Erkenntnis, wobei die marxistische Philosophie das Allgemeine, die Naturwissenschaften aber das Besondere zum Gegenstand haben. Die Begriffe der theoretischen Naturwissenschaften stellen ihrerseits Verallgemeinerungen der Ergebnisse experimenteller Untersuchungen dar und diese verallgemeinern die Vielzahl einzelner Erkenntnisse von den Gegenständen und Erscheinungen der objektiven Realität. Das Allgemeine existiert also nicht ohne das Besondere, es gibt kein Allgemeines an sich. Zugleich aber unterscheidet sich das Allgemeine vom Einzelnen qualitativ. Deshalb sind die allgemeinsten Gesetze, wie z. B. das Gesetz der Negation der Negation, nicht nur das Ergebnis der wissenschaftlichen Abstraktion aus dem Besonderen, sondern zugleich auch Glieder der allgemeinsten Erkenntnis von der Welt als 21

Ganzem, und als solche nicht auf eine einfache Summierung spezifischer Gesetze zurückzuführen. Da das Allgemeine nur im Besonderen und im Einzelnen existiert, kann ein Philosoph nicht losgelöst von den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft arbeiten, ohne in unwissenschaftliche Spekulation zu verfallen, d. h., der dialektische Materialismus ist auf die Ergebnisse der Naturwissenschaft angewiesen und muß sie auswerten. Da sich das Allgemeine qualitativ von der Summe des Besonderen ,und Einzelnen unterscheidet, erhalten zugleich die Naturwissenschaften wichtige Hinweise von der marxistischen Philosophie. Die Kenntnis der allgemeinsten Gesetze ermöglicht es, Stagnation und Irrwege in der wissenschaftlichen Forschung zu vermeiden, sie bewahrt den Naturwissenschaftler vor dem Abgleiten in den Neopositivismus, diese Philosophie der Philosophielosen, und vor der Vormundschaft der absoluten, dogmatischen Philosophie des Neothomismus, sie vermittelt ihm das Verständnis des relativen Charakters seiner Begriffe und Erkenntnisse. Es gilt heute, die Grundsätze des dialektischen Materialismus auf die Erforschung der Natur auszudehnen und anzuwenden und es gilt ebenso, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft mit Hilfe dieser Grundsätze zu verstehen und begrifflich zu bewältigen, d. h., die marxistische Philosophie muß mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft Schritt halten und die moderne Naturwissenschaft ihre immer noch vorhandene abwartende oder gar ablehnende Haltung gegenüber dem dialektischen Materialismus aufgeben, dann wird die marxistische Philosophie in der Lage sein, der modernen Naturwissenschaft konkrete Kriterien für die Lösung ihrer Probleme zu geben und die moderne Naturwissenschaft den Philosophen die exakte Grundlage zur tieferen Erkenntnis der allgemeinen Gesetze der Bewegung und Entwicklung in der Natur vermitteln. Das sind keine leichten und keine kurzfristigen und einmaligen Aufgaben. Um ihre Lösung ringen Naturwissenschaftler und Philosophen seit Jahren. Die Aufgaben werden bestimmt schneller und besser gelöst, wenn Naturwissenschaftler und Philosophen sich gemeinsam darum bemühen und damit die spontane Entwicklung der modernen Naturwissenschaft zum dialektischen Materialismus, die Lenin so treffend gekennzeichnet hat, in eine zielbewußte übergeht. 22

Einen bescheidenen Beitrag dazu und dapiit zu einer fruchtbaren wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen zu leisten, betrachten wir als Sinn und Ziel unseres gegenwärtigen Symposions, das zum ersten Mal in unserer Republik Naturwissenschaftler und Philosophen in größerer Zahl zu ernster wissenschaftlicher Arbeit und zum Meinungsaustausch zusammenführt. Wir hoffen und wünschen, daß dabei verschiedene Meinungen zum Ausdruck kommen und zugleich das gegenseitige Verstehen und Vertrauen wächst, ohne daß dabei die prinzipielle Grenze zwischen Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit oder Wissenschaftsfeindlichkeit und die prinzipielle Grenze zwischen Materialismus und Idealismus verwischt wird. Mit der Überwindung der bisher immer noch verbreiteten Trennung von Naturwissenschaftlern und marxistischen Philosophen wollen wir in unserer Republik gleichzeitig dazu beitragen, die großen fortschrittlichen Traditionen der Philosophie und Naturwissenschaft in Deutschland, die Errungenschaften von Marx und Engels, von Planck und Einstein zu verbinden. Ich bin überzeugt, daß das Bündnis der marxistischen Philosophie und der Naturwissenschaft unüberwindlich ist und dazu beitragen wird, die Zukunft der Menschheit zu sichern und sie reicher, schöner und wahrhaft menschlich zu gestalten.

ÜBER EINIGE PHILOSOPHISCH ASPEKTE DER

WICHTIGE

QUANTENTHEORIE

Gerhard Heber

(Jena)

Im vorigen Jahr fand in Moskau eine Allunionskonferenz der Akademie der Wissenschaften der UdSSR über „Philosophische Fragen der Naturwissenschaft" statt. Auf dieser Konferenz hielt W. A. Fock «in Hauptreferat: „Über die Interpretation der Quantenmechanik". Dieses Referat liegt in deutscher Übersetzung vor und ist außerdem fast identisch mit dem in der Max-Planck-Festschrift 1958 enthaltenen Beitrag von Fock. Ich darf deshalb wohl den wesentlichen Inhalt dieser Arbeit voraussetzen. Besonders hervorheben möchte ich nur, daß Fock zu dem Resultatgelangt, daß die Quantenmechanik, konsequent interpretiert, völlig im Einklang mit den allgemeinen Gesetzen des dialektischen Materialismus ist. Ich habe den Eindruck, daß man dieses Resultat ohne weiteres akzeptieren kann, daß man aber in einigen speziellen Punkten noch etwas mehr zu diesem Problemkreis sagen kann, als Fock gesagt hat. Erlauben Sie deshalb, daß ich einige dieser Gedanken in Anlehnung an Focks Referat vortrage. Es sei zuvor aber darauf hingewiesen, daß auf der erwähnten Konferenz in Moskau auch andere Meinungen vertreten wurden; die Focksche Auffassung ist mir persönlich aber am sympathischsten, weshalb ich hier von ihr ausgehe. Über das Wesen der Dualität der atomaren Objekte sagt Fock etwa folgendes: Atomare Teilchen verhalten sich unter gewissen Umständen so, als ob sie Welleneigenschaften hätten, unter anderen Umständen aber zeigen sie korpuskulare Eigenschaften und unter noch anderen Umständen zeigen sie eine gewisse Mischung von Korpuskel* und Welleneigenschaften. Dies ist nach Fock der wesentliche In27

halt des Welle-Teilchen-Dualismus und jede modellmäßige Interpretation dieser Naturerscheinung sei fehlerhaft. Um Beispiele vor Augen zu haben, vergegenwärtige man sich diesen Sachverhalt an: a) Elektronen-Interferenz bei hoher Intensität (Wellen), b) Massenspektrographie (Korpuskeln), c) Elektronen-Interferenz bei sehr niedriger Intensität (Wellen und Korpuskel). Meines Erachtens kann man aber noch etwas mehr zu diesem Thema sagen: Atomare Objekte verhalten sich stets nur in mehr oder weniger guter Näherung wie klassische Wellen bzw. wie klassische Korpuskeln. In keinem einzigen Experiment verhalten sie sich genauso wie klassische Wellen bzw. klassische Korpuskeln. Denn sonst müßte z. B. die Elektronen-Interferenz bei hohen Intensitäten in allen Einzelheiten durch eine klassische Wellentheorie beschreibbar sein, man braucht ja aber die Quantenmechanik für die Erklärung der Feinheiten dieses Effektes. Entsprechendes kann man über die Bewegung von atomaren Teilchen in Feldern sagen, wie sie ja im Massenspektroskop vorliegen. Das heißt aber, daß atomare Objekte weder mit klassischen Wellen noch mit klassischen Korpuskeln identifiziert werden dürfen, vielmehr haben atomare Teilchen eine Natur, die wir mit unserem modellmäßigen Denken, welches ja an der klassischen Physik gebildet, geschult und entwickelt wurde, z. Z. nicht erfassen können. Die mathematische Beschreibung ist uns möglich, aber ein anschauliches Bild dieser Objekte haben wir im Augenblick nicht. Auf diesen Punkt komme ich noch zurück. Dieser Umstand ist übrigens ein schönes Beispiel zum Verhältnis zwischen relativer und absoluter Wahrheit: In der Aussage: „Atomare Teilchen haben die Eigenschaften von klassischen Wellen" steckt ein Stückchen Wahrheit, wenngleich sie streng genommen falsch ist. Sie hat nur begrenzte Gültigkeit, ist eine relative Wahrheit. Entsprechendes gilt für die Aussage: „Atomare Teilchen haben die Eigenschaften von klassischen Korpuskeln". Da die atomaren Objekte wirklich existieren, gibt es natürlich auch eine absolute Wahrheit über diese Objekte. Aber niemand kann heute den Satz „Atomare Teilchen haben exakt die Eigenschaften von . . . " formulieren; es ist sehr wahrscheinlich, daß wir auch in Zukunft immer nur genäherte Aussagen werden machen können. Dies ist natürlich völlig im Ein28

klang mit dem dialektischen Materialismus, wonach eine absolute Wahrheit zwar existiert, von uns aber nur in immer besserer, nie vollständiger Näherung erkannt werden kann, obwohl sie prinzipiell erkennbar ist. Bei allen Diskussionen um die Interpretation der Quantenmechanik spielt die Frage der Kausalität eine große Rolle. Dabei gibt es bis in die jüngste Zeit leider viele Mißverständnisse. Ich erinnere nur an die jüngste Äußerung von Max Born zu dieser Frage 1 , in der er meines Erachtens ungerechtfertigterweise behauptet, daß der Materialismus unbedingt deterministische Naturgesetze postuliere. Hierbei beruft sich Born auf Fock. Aber gerade Fock stellt meines Erachtens völlig richtig fest, daß der klassische Determinismus, nach dem die Zukunft aus der Gegenwart eindeutig voraussagbar ist, nicht identisch ist mit dem allgemeinen Kausalitätsprinzip, welches auch der dialektische Materialismus enthält. 2 Dieses Kausalitätsprinzip behauptet: Es ist unmöglich, von der Gegenwart (oder gar Zukunft) aus die Vergangenheit zu beeinflussen; oder in der schärferen Fassung der Einsteinschen Speziellen Relativitätstheorie: Wirkungen können sich höchstens mit Vakuum-Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Es ist klar, daß die Quantentheorie mit ihrer wesentlich wahrscheinlichkeitstheoretischen Struktur das Prinzip der unbedingten Determiniertheit klassischer Größen verletzt, aber mit dem Kausalitätsprinzip im Einklang ist. Man vergegenwärtige sich dies etwa an Hand des typisch indeterministischen Verhaltens eines Photons an einer halbdurchlässigen Platte; es gibt dabei keine Spur von Akausalität! Wir können meines Erachtens auch einen tieferen Grund hierfür angeben: Statistische Voraussagen liefert die Quantentheorie ja immer für Bestimmungsstücke des klassischen Korpuskel- oder des klassischen Wellenbildes. Da diese beiden Bilder aber niemals exakt richtig sind, die atomaren Objekte also exakt gar nicht mit klassischen Korpuskeln bzw. Wellen identifiziert werden dürfen (s. o.), brauchen wir uns nicht zu wundern, daß wir über die Bestimmungsstücke dieser klassischen Physikalische Blätter, 1959, S. 342. ' Vgl. etwa O. Klaus: Jesuiten, Gott, Materie, Berlin 1957, S. 310ff.

1

29

Bilder keine exakten Voraussagen machen können. — (Übrigens bleibt für die nicht klassisch beschreibbaren Quantenzustände die Theorie von durchaus deterministischer Struktur!) Es ist hier vielleicht von Interesse, zu vermerken, daß Vertreter des dialektischen Materialismus neuerdings dazu neigen, das, was wir oben „allgemeines Kausalitätsprinzip" nannten, als „Prinzip der Determiniertheit" zu bezeichnen. Hierauf hat mich Herr Professor Dr. Korch, Jena, aufmerksam gemacht. Dabei hat aber diese Determiniertheit nichts mit der der klassischen Mechanik gemein. Es handelt sich darum, daß man keinen Unterschied zwischen Determinismus und Kausalität machen möchte. Unter Determinismus will man einfach diejenige Gesetzmäßigkeit verstanden wissen, welche in der Natur tatsächlich herrscht. — Von einem prinzipiellen Standpunkt aus läßt sich dagegen freilich nichts einwenden. Es ist nur zu befürchten, daß bei der praktischen Verwendung eines solchen Begriffes erneut unliebsame Verwechslungen mit dem alten, klassischen Begriff der Determiniertheit vorkommen werden. Oben trafen wir die Feststellung, daß wir die Natur der atomaren Objekte zwar mathematisch beschreiben, aber nicht modellmäßig verstehen können. Man sagt gewöhnlich in diesem Zusammenhang, daß die Natur der Objekte der Quantenmechanik „unanschaulich" sei. Ich möchte vermuten, daß unser Unvermögen, ein anschauliches Modell der Mikroweit zu ersinnen, nicht unabänderlich ist, sondern daß man im Laufe der Zeit in der Lage sein wird, ein anschauliches Modell der atomaren Objekte zu entwerfen. Denn unser Anschauungsvermögen ist ja entwicklungsfähig, ebenso wie unser Abstraktionsvermögen. Die Entwicklung braucht nur ihre Zeit. Es wäre meines Erachtens interessant, diese Entwicklung in der Vergangenheit im einzelnen zu verfolgen. Z . B . : Punktmechanik ->• Feldtheorie; 3-dimensionale Welt -> 4-dimensionale ebene Welt 4-dimensionale gekrümmte Welt. In einem allerdings nicht sehr wesentlichen Punkt bin ich jedoch mit Focks Ausführungen nicht völlig einverstanden. Er behauptet nämlich am Ende des Paragraphen „Wesen des Dualismus WelleKorpuskel", daß das Pauli-Prinzip3 nicht aus diesem Dualismus ableitbar sei. Hierzu möchte ich bemerken: 30

Die konsequente Synthese von Wellen- und Korpuskelbild für Objekte mit Spin (mechanischem Eigen-Drehimpuls) h/24 (nur für diese gilt das Pauli-Prinzip) ist die quantisierte Form der Diracschen Feldgleichung. Dies ist dann eine spezielle Quantenfeldtheorie, also eine Theorie, in der beliebig viele Teilchen zweier verwandter Arten (z.B. Elektronen und Positronen) vorkommen dürfen. Für eine solche Theorie hat aber Pauli zeigen können, daß das Pauli-Prinzip aus der Feldtheorie, also aus dem Welle-Korpuskel-Dualismus folgt, wenn man noch verlangt, daß die Theorie nur physikalisch vernünftige Lösungen enthält (positive Massen und ähnl.). Allerdings muß man beachten, daß der eben genannte Beweis von Pauli wesentlich Gebrauch von den Elementen der Speziellen Relativitätstheorie macht. Verzichtet man hierauf, beschränkt sich also auf kleine Geschwindigkeiten, so kann man das Pauli-Prinzip nicht deduzieren. Fock hat also recht, wenn er sich auf die nichtrelativistische Quantenmechanik beschränkt. Die genauere und auch umfassendere Theorie ist aber die relativistische, und sie enthält das Pauli-Prinzip organisch und notwendig. Für einen Hinweis auf diesen Punkt bin ich Herrn Prof. Dr. Tsu, z. Z. Dubna, dankbar. Besonders reizvoll ist es stets, zu versuchen, mit Hilfe allgemeiner Überlegungen auf die zukünftige Entwicklung zu extrapolieren. Das führt wohl kaum zu eindeutigen Schlußfolgerungen, aber manchmal doch zu einigen nicht völlig trivialen Erkenntnissen. Wenn man die bisherige Entwicklung der Physik überschaut, so bemerkt man, daß die physikalischen Begriffe, d. h. die meist mathematisch gefaßten Abbilder der physikalischen Realität, immer allgemeiner und immer abstrakter geworden sind. Ein etwaiger umgekehrter Vorgang hat meines Wissens nie zu einem wirklichen Fortschritt der physikalischen Erkenntnis geführt. Heute sehen wir nun mit Ungeduld der Schaffung einer Theorie entgegen, die uns die Massen, Wechselwirkungen, Lebensdauer usw. der Elementarteilchen zu berechnen erlauben sollte. Diese Theorie wird, wenn obige Überlegungen richtig sind, nicht mit den Begriffen 3

Pauli-Prinzip: Jeder Quantenzustand darf nur einmal von einem Teilchen besetzt werden.

* h =

; h = Plancksches Wirkungsquantum.

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der klassischen Mechanik oder der klassischen Feldtheorie arbeiten. Auch die schon existierende Quantenmechanik ist ebenso zu eng wie die lokale, konventionelle Quantenfeldtheorie. Alle diese Theorien müssen aus der allgemeinen Theorie der Elementarteilchen ableitbar sein; eben deshalb muß letztere mit noch allgemeineren, noch abstrakteren Mitteln formuliert werden. In welcher Richtung allerdings diese Verallgemeinerung gehen muß, darüber läßt sich mit Hilfe so allgemeiner Überlegungen nichts aussagen. Zum Schluß sei betont, daß die völlig abgeschlossenen Gebäude der Quantenmechanik und der lokalen Quantenfeldtheorie notwenddige Stufen im Prozeß unserer Erkenntnis sind. Wie alle unsere Erkenntnisse sind sie natürlich relative Wahrheiten. Wir kennen heute recht genau den Bereich ihrer Gültigkeit; in diesem Bereich sind sie durch die Erfahrung tausendfach bestätigt. Teilweise sind sie schon zur Ingenieurwissenschaft geworden. Es ist also durchaus falsch, zu hoffen, daß die zu schaffende Theorie der Elementarteilchen gewisse Schwierigkeiten in der Interpretation der Quantenmechanik überwinden werde (z. B. erneuter Determinismus). Vielmehr bin ich der Meinung, daß der Inhalt der Quantentheorie auf der Basis einer genügend allgemeinen Philosophie ohne Schwierigkeiten verstanden werden kann, und ich habe den Eindruck, daß der dialektische Materialismus eine solche Philosophie ist.

Ü B E R DAS W E S E N U N D D E N GEHALT RELATIVITÄTSTHEORIE Ernst Schmutzer

DER

(Jena)

Bekanntlich unterscheidet man zwischen zwei Arten der Relativitätstheorie, nämlich 1. der speziellen Relativitätstheorie, die 1905 von Einstein veröffentlicht wurde, und 2. der allgemeinen Relativitätstheorie, die Einstein 1916 zum Abschluß gebracht hat. Während die erste Theorie unmittelbar als Ergebnis der Lösung des Widerspruchs zwischen der experimentellen Erfahrung um die Jahrhundertwende und der Newtonschen Konzeption der Physik aufzufassen, ist, muß man die zweite Theorie in erster Linie als gedankliche Weiterführung gewisser Erkenntnisse der ersten ansehen. Die spezielle Relativitätstheorie ist durch umfangreiches experimentelles Material bestätigt, so daß heute an ihrer Richtigkeit nur noch von einigen Philosophen gewisser idealistischer oder mechanistischer Richtungen gezweifelt wird, die sich von ihren a-priori-Anschauungen nicht lösen können und die nicht imstande sind, die 4-dimensionale Grundlage der Raum-Zeit-Einheit zu begreifen. Wesentlich anders ist die Situation in der allgemeinen Relativitätstheorie, die sich bis heute leider nur auf einige wenige qualitative experimentelle Erfahrungen stützen kann und deshalb auf logische Extrapolation gegründet ist. Wir erleben jetzt gerade den Beginn der Epoche, in welcher sich der Mensch von der Erde löst und in kosmischen Maßstäben zu experimentieren beginnt, was eine Aktualisierung der allgemeinen Relativitätstheorie bedeutet, denn sie bildet die theoretische Grundlage für die Erforschung der kosmischen Struktur. Aus dieser durch Man3

Naturwissenschaft und Philosophie

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gel an experimenteller Erfahrung gekennzeichneten Sachlage erklärt sich die Tatsache, daß in physikalischer und um so mehr in philosophischer Hinsicht die logische Durchdringung der allgemeinen Relativitätstheorie noch nicht abgeschlossen ist und selbst über das eigentliche Wesen dieser Theorie noch viele entgegengesetzte Meinungen vertreten werden, obwohl die mathematische Formulierung der Grundgesetze der Theorie seit fast einem halben Jahrhundert gelungen ist. Die Situation ist ähnlich wie in der Theorie der elektromagnetischen Erscheinungen von Maxwell, deren Wesen auch erst von Lorentz erkannt wurde. In den entscheidenden Fragen gibt es heute zwei Zentren mit teilweise entgegengesetzten Auffassungen, nämlich das eine um Einstein, der allerdings seit einigen Jahren nicht mehr an der Diskussion teilnehmen kann, Infeld und andere Schüler Einsteins und das andere um Fock und Alexandrow. Es wird noch einer langen, kameradschaftlichen, aber hartnäckigen und konsequenten Diskussion bedürfen, bis, eventuell unterstützt durch neue experimentelle Erkenntnisse, eine vollständige Aufklärung des Gehalts der allgemeinen Relativitätstheorie erreicht wird. Bekanntlich geht im allgemeinen der historische Erkenntnisprozeß, vorwiegend verknüpft mit der induktiven Forschungsmethode, nicht gerade den logisch kürzesten Weg, da die Lösung aufgetretener Widersprüchlichkeiten zwischen Praxis und bekannter Theorie vom Standpunkt der jeweils gerade bekannten Einzelfakten versucht wird. Es ist ganz natürlich, daß dadurch zwangsläufig eine Überbetonung gewisser Seiten des vor dem Forscher liegenden, ihm aber noch unbekannten neuen Erscheinungskomplexes auftreten muß, bis er den Gesamtkomplex übersieht. Diese Erscheinung trifft auch auf den Entstehungsprozeß der Relativitätstheorie zu. Einsteins scharfsinniger und tiefgründiger Verstand hatte die Relativität der Gleichzeitigkeit entdeckt. Ausgehend von dieser Erkenntnis, daß die Zeit keinen absoluten Charakter besitzt, sondern mittransformiert werden muß beim Übergang zu anderen Bezugssystemen, führte ihn ein unaufhaltsamer Weg zu immer neuen Stationen der Erkenntnis, auf welche ich nur skizzenhaft hinweisen kann: Spezielles Relativitätsprinzip, Lorentztransformation, Zeitdilatation, Längenkontraktion, Geschwindigkeitsaddition, Massenveränderlichkeit, Masse-Energie-Beziehung usw., allgemeines Relativi34

tätsprinzip, Gleichheit von schwerer und träger Masse (von Eötvös vorher experimentell geprüft), Äquivalenz von Beschleunigungssystemen und Gravitationsfeldern, Kovarianz, metrische Feldgleichungen usw. Diese Ketten von Erkenntnisstufen sind typisch für den aus mehr oder weniger Erfahrung geborenen induktiven Erkenntnisprozeß, den Einstein durchlaufen hat. Die Untersuchung der logischen Abhängigkeitsverhältnisse und Zwangsläufigkeit der einzelnen Kettenglieder muß hier aus Zeitgründen unterbleiben. Um den erkenntnistheoretischen Gehalt einer Theorie aufzuklären, muß man sie auf einem Minimum von unabhängigen Prinzipien fundieren und davon ausgehend auf deduktivem Wege die bruchstückhaften Einzelerkenntnisse zu erklären versuchen. Um eine solche Fundierung der Relativitätstheorie haben sich u. a. Fock und Alexandrow bemüht. Kritisches dazu folgt später. Ich möchte thesenartig den physikalisch-philosophischen Gehalt der beiden Stufen der Relativitätstheorie, so wie ich ihn sehe, in folgenden Grunderkenntnissen festhalten: A. Spezielle Relativitätstheorie: 1. Raum und Zeit bilden in gegenseitiger, dialektischer Wechselbeziehung eine 4-dimensionale Einheit, nämlich das sog. Raumzeitkontinuum. Dabei ist Einheit in dem Sinne zu verstehen, daß die Differentiale der Raum-Zeit-Koordinaten einen Tensor 1. Stufe bilden. 2. Das Raumzeitkontinuum existiert absolut, d. h. von der Materie losgelöst. Es steht also in keiner Wechselbeziehung mit der Materie. Deshalb ist die Struktur des Raumzeitkontinuums überall gleichartig, d. h. seine raumzeitliche Geometrie ist euklidisch. Wegen der Euklidizität der Geometrie ist für das gesamte Raumzeitkontinuum die Einführung von Minkowski-Koordinaten (x, y, z, ict) möglich. 3. Bewegen sich zwei Beobachter geradlinig und gleichförmig gegeneinander und beschreiben sie die Naturerscheinungen in Minkowski-Koordinaten, so haben die Naturgesetze für beide gleiche Form mit dem metrischen Tensor gßv = dßv (spezielles Relativitätsprinzip). 3'

36

Aus diesen drei Grundprinzipien folgt dann zwangsläufig unter der Annahme, daß die Größe e in den Maxwell-Gleichungen eine Naturkonstante ist, die im Vakuum die Lichtgeschwindigkeit bedeutet, die Lorentztransformation mit ihren mannigfachen Konsequenzen. Außerdem gestatten diese Prinzipien den Aufbau einer speziell-relativistischen Mechanik mit gleichfalls mannigfaltigen Folgerungen (man beachte, daß die Newtonsche Mechanik mit der Galilei-Transformation als Grenzfall für kleine Geschwindigkeiten in der speziellen Relativitätstheorie enthalten ist). Erkenntnistheoretisch wichtig erscheint dabei die Tatsache, daß viele bis dahin lose nebeneinander existierende Erscheinungen zu dialektischen Einheiten mit gegenseitiger Durchdringung verschmelzen : a) Elektrisches und magnetisches Feld werden zu einem antimetrischen Tensor 2. Stufe zusammengefaßt. b) Die physikalischen Eigenschaften Spannung, Energiestromdichte, Impulsdichte, Energiedichte werden durch einen symmetrischen Tensor 2. Stufe, den Energietensor, beschrieben. c) Die elektrische Strom- und Ladungsdichte werden durch einen Tensor 1. Stufe repräsentiert. d) Die Materialeigenschaften, Permeabilität und Dielektrizität der Materie werden zu einem Tensor 4. Stufe vereinigt. e) Energie und Impuls eines Teilchens werden zu einem Tensor 1. Stufe zusammengefaßt. Dabei tritt die Lichtgeschwindigkeit als Grenzgeschwindigkeit für die Bewegung eines Teilchens auf. f) Wellenzahlvektor und Frequenz einer Welle werden durch einen Tensor 1. Stufe beschrieben, usw. Es ließen sich noch viele hochinteressante Konsequenzen der speziellen Relativitätstheorie aufzählen, die auf diesen drei Prinzipien — trotz deren gnoseologischen Mängel, auf die wir sogleich eingehen werden — mit Hilfe des mathematischen Apparates zu einer derartig guten Widerspiegelung der Naturerscheinungen führen. Wir vermerken, daß sie versagen, wenn wir Gravitationserscheinungen in Betracht ziehen. Im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie lassen sich keine Gravitationsgleichungen aufstellen, die mit der Erfahrung der Periheldrehung des Merkur verträglich sind. 36

Dieser Mangel führte Einstein zur Verallgemeinerung seiner speziellen Relativitätstheorie zur allgemeinen Relativitätstheorie, die nun beliebige physikalische Bewegungsformen erfassen und außerdem eine Gravitationstheorie beinhalten soll. B. Allgemeine Relativitätstheorie Vom Standpunkt eines deduktiven Aufbaus der allgemeinen Relativitätstheorie formulieren wir ihre Grundprinzipien und -erkenntnisse folgendermaßen: 1. (wie in der speziellen Relativitätstheorie, da diesem Prinzip kein offensichtlicher erkenntnistheoretischer Mangel anhaftet). 2. Das Raumzeitkontinuum existiert in immanenter Wechselbeziehung mit der Materie. Seine geometrische Struktur errechnet sich aus dem Bewegungszustand der Materie nach der Einsteinschen metrischen Feldgleichung: Rpv

9/iv R—x TMV.

Dabei charakterisiert T ^ als Energietensor der Materie den Bewegungszustand der Materie und Rßv die Krümmungsstruktur des Raumzeitkontinuums (R ist die Riemannsche Krümmungsinvariante). H ist die Kopplungskonstante dieser beiden Qualitäten. Die Geometrie des Raumzeitkontinuums ist in diesem Fall die Riemannsche Geometrie. Leitmotiv für die Aufstellung dieser Feldgleichung war die Newtonsche Gravitationstheorie, die als Spezialfall für kleine Krümmungen in der allgemeinen Relativitätstheorie enthalten ist. Der erkenntnistheoretische Mangel eines absoluten, d. h. von der Materie losgelösten Raumzeitkontinuums ist damit beseitigt. In welcher Weise muß nun das ebenfalls mangelhafte 3. Prinzip abgeändert werden ? Bekanntlich lassen sich in einem Riemannschen Raum keine für den ganzen Raum gültigen Minkowski-Koordinaten einführen. Es gibt vom prinzipiellen Standpunkt keinerlei bevorzugte Koordinatensysteme, ähnlich den Minkowski-Koordinaten im Euklidischen Raum. Wohl gibt es aber für spezielle Zwecke mit speziellen Aspekten bevorzugte Koordinatensysteme, deren Bevorzugung aber nicht prin37

zipieller Natur ist. Deshalb sind vom prinzipiellen Standpunkt im Riemannschen Raum alle Koordinatensysteme gleichwertig, so daß die Formulierung von Naturgesetzen von Anfang an gleich in beliebigen Koordinatensystemen vorgenommen werden muß. Der vom mathematischen Standpunkt dafür in Präge kommende Apparat ist der Tensorkalkül. Jeder Beobachter muß bei der Konstatierung einer physikalischen Aussage auf ein von ihm fixiertes Bezugssystem, welches durch ein Koordinatensystem realisiert wird, Bezug nehmen, um Reproduzierbarkeit und Vergleich mit anderen Beobachtern zu ermöglichen. Deshalb ist durch die Gleichwertigkeit aller beliebigen Koordinatensysteme auch die Gleichwertigkeit beliebiger Beobachter, selbstverständlich vom Standpunkt der Erkenntnistheorie und nicht vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit, bedingt. Daher wird das 3. Prinzip in folgender Weise verallgemeinert: 3. Für zwei in beliebigem Bewegungszustand befindliche Beobachter mit im Prinzip kontinuierlich auseinander hervorgehenden Bezugssystemen haben die Naturgesetze gleiche Form (allgemeines Relativitätsprinzip) . Wir verzichten auch in diesem Falle auf die Darlegung der vielen interessanten Konsequenzen, die aus der allgemeinen Relativitätstheorie folgen und ihre Ursachen in der Krümmung der raumzeitlichen Welt haben, wie z. B. Aufgabe der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, Frequenzverschiebung im Gravitationsfeld, Ablenkung des Lichtes im Gravitationsfeld, Periheldrehung usw. Auf der Grundlage der von uns formulierten Prinzipien der Relativitätstheorie behandeln wir nun die wesentlichsten Streitfragen zwischen den von uns bereits erwähnten Schulen und wollen versuchen, eine Antwort zu geben. 1. K o v a r i a n z : Fock und Alexandrow haben klar herausgearbeitet, daß von Einstein und in den daran anschließenden Darstellungen der Übergang von der speziellen zur allgemeinen Relativitätstheorie in betonter Weise mit dem Übergang von speziell-kovarianten zu allgemeinkovarianten Gleichungen verkoppelt wird. Beide Dinge haben aber 38

in prinzipieller Hinsicht nichts miteinander zu tun, da man selbstverständlich auch die Gleichungen der speziellen Relativitätstheorie allgemein-kovariant in beliebigen Koordinaten formulieren kann. Die Gewinnung allgemein-kovarianter Gleichungen, die den Ausgangspunkt der Einsteinschen Überlegungen bildet, kann lediglich als heuristisches Vorgehen angesehen werden, Gleichungen aufzustellen, die man a posteriori im Rahmen der Riemannschen Geometrie zu interpretieren hat. Ich stimme mit Fock und Alexandrow darin überein, daß das wahre Wesen dieses Übergangs in der Ersetzung der Euklidischen Geometrie durch die Riemannsche Geometrie besteht, so daß man die Relativitätstheorie vom Standpunkt der Geometrie als „Theorie der Raumzeit" bezeichnen könnte. 2. B e s c h l e u n i g u n g s s y s t e m und G r a v i t a t i o n s f e l d : In der Newtonschen Physik spielte der Begriff des Inertialsystems, das seine Festlegung im hypothetischen absoluten Raum besaß, eine besondere Rolle. Beschleunigungen mußte wegen dieser Bezugnahme eine absolute Bedeutung zugesprochen werden. Auch in der speziellen Relativitätstheorie sind Beschleunigungen als absolut anzusehen, wobei allerdings nicht mehr der als sinnlos erkannte absolute Raum, sondern die mittlere Verteilung der Weltmaterie zur Fixierung eines Inertialsystems dient. Man kann also von einem Lorentzschen Inertialsystems durch eine Koordinatentransformation zu einem beschleunigten System übergehen. Dadurch wird aber der Bereich der speziellen Relativitätstheorie, definiert durch die Euklidizität des Raumzeitkontinuums, nicht verlassen, obwohl sich rein räumliche Krümmungserscheinungen ergeben können. Es entsteht nun die Frage, ob dieser kinematische Aspekt die volle Problematik der beschleunigten Bewegung ausschöpft. Fock und Alexandrow bejahen diese Frage und lehnen damit das allgemeine Relativitätsprinzip, d. h. die allgemeine Relativitätstheorie als Theorie der allgemeinen Bewegung ab, sondern reduzieren diese Theorie auf eine alleinige Gravitationstheorie. Ist der Standpunkt von Fock und Alexandrow haltbar oder überschätzen beide ihre richtige Erkenntnis der unzulässigen Verquickung von Relativität und Kovarianz? Wird ein Bezugssystem gegenüber der mittleren Materieverteilung der Welt, die erfahrungsgemäß als Inertialsystem fungiert, gleich39

mäßig beschleunigt, so verlaufen in ihm die Naturvorgänge in derselben Weise wie in einem entsprechend gewählten homogenen Gravitationsfeld (Satz von der Äquivalenz eines Gravitationsfeldes mit einem Beschleunigungssystem). In engem Zusammenhang damit steht der empirische Satz von der Gleichheit der schweren und trägen Masse. Vom Standpunkt der rein kinematischen Konzeption der Beschleunigung sind diese Erfahrungstatsachen insofern in zufalliger Weise miteinander verknüpft, als nämlich in dieselben Christoffelsymbole GravitationsefEekte und Beschleunigungseffekte eingehen. Eine eigentliche Erklärung für diese Parallele von Beschleunigung und Gravitation kann von diesem Standpunkt nicht gegeben werden. Wesentlich anders ist die Situation, wenn man Einsteins Gedanken folgt: Ein beliebig bewegter Beobachter weiß, daß er wegen der Anerkennung des allgemeinen Relativitätsprinzips in seinem Bezugssystem die Einsteinschen Feldgleichungen ansetzen kann. Für ihn ist die Geometrie aus dem Bewegungszustand der Materieverteilung der Welt zu errechnen. In der gravitierenden Wirkung der Weltmaterie hat er die eigentliche Ursache für die Verhältnisse in seinem beschleunigten System zu sehen (Machsches Prinzip), die nur im Zusammenhang mit der übrigen Welt begriffen werden können. Vom Standpunkt der rein kinematischen Auffassung der Beschleunigung gibt es für diese Sachlage keine eigentliche Erklärung. Ich glaube deshalb, daß Einsteins Ansicht physikalisch-philosophisch befriedigender als die Meinung von Fock und Alexandrow ist. Wir gehen bei der Diskussion des Energieproblems noch einmal auf diesen Fragenkomplex ein, da sich dort ein weiteres entscheidendes Argument zugunsten Einsteins finden läßt. Warum nach Fock und Alexandrow Einsteins Konzeption der dialektisch-materialistischen Philosophie widersprechen soll, ist mir unverständlich. 3. A l l g e m e i n e s R e l a t i v i t ä t s p r i n z i p : Im Gegensatz zum speziellen Relativitätsprinzip wird dieses von Fock und Alexandrow als inhaltslos angesehen. Ich bin der Meinung, daß dann, wenn man die spezielle Relativitätstheorie als bei Vernachlässigung der Gravitation in der allgemeinen Relativitätstheorie enthaltenen Spezialfall ansieht, auf das allgemeine Relativitätsprinzip nicht verzichtet werden kann, und dieses sogar die konsequente 40

Weiterentwicklung des speziellen Relativitätsprinzips darstellt: Ein in einem beliebigen Bewegungszustand befindlicher Beobachter A findet für die Beschreibung eines Naturgeschehens die physikalische Gleichung GÄ = 0, aus der er die physikalischen Größen y>A errechnet. Ein ebenfalls in einem beliebigen Bewegungszustand befindlicher Beobachter B findet für die Beschreibung desselben Naturgeschehens die physikalische Gleichung GB = 0, aus der er die physikalischen Größen ipB errechnet. Das allgemeine Relativitätsprinzip legt nun auf Grund der Kovarianz der physikalischen Grundgleichungen den geometrischen Transformationscharakter y>Ä ->y) ß fest, den man erst als Folge des allgemeinen Relativitätsprinzips ausfindig machen kann. (Man könnte natürlich inhaltlich das allgemeine Relativitätsprinzip ersetzen durch die konkrete Angabe des geometrischen Charakters der auftretenden physikalischen Größen, da dann die Transformation der Naturgesetze von selbst folgen würde, was allerdings nichts am Inhalt des Relativitätsprinzips ändern würde). Somit ist klar, daß bei einem von der speziellen Relativitätstheorie logisch unabhängigen Aufbau der allgemeinen Relativitätstheorie auf das allgemeine Relativitätsprinzip nicht verzichtet werden kann. 4. B e z u g s s y s t e m : Jeder Beobachter — er muß sich zur Fixierung seiner Konstatierungen stets auf ein Bezugssystem beziehen — hat den Umständen entsprechend freie Wahl in der Festlegung eines Bezugssystems. Es unterliegt seiner Willkür, wie er zu diesem Zweck Koordinatennetze aussteckt, deren dicht liegende Gesamtheit wir als Bezugssystem ansprechen wollen. Dabei ist stets zu beachten, daß eine solche Fixierung eines Bezugssystems letzten Endes ein materieller Vorgang ist und daß das Bezugssystem selbst materieller Natur ist. Ich verstehe deshalb Alexandrows Kritik an den Auffassungen namhafter Physiker, die wie Eddington das Bezugssystem als etwas Fiktives, d. h. nur Gedachtes ansehen. Doch scheint mir andererseits eine gewisse Seite der Auffassung Alexandrows fehlerhaft zu sein, nämlich seine Ablehnung von Aussagen der Art: „Das raumzeitliche Bezugssystem ist etwas, das der Beobachter der Außenwelt auferlegt." Unter Berufung auf den dialektischen Materialismus leugnet er die Willkür bei der Festlegung des Bezugssystems und sieht z. B. als das für unsere Erde 41

maßgebliche Bezugssystem das der Breiten- und Längenkreise an. Auch das von Alexandrow konstruierte „elektromagnetische" Modell von der Struktur der Raumzeit zur Rechtfertigung gewisser bevorzugter Koordinatensysteme ist m. E. abzulehnen, da es die elektromagnetischen Wechselwirkungen im Rahmen der materiellen Wechselwirkungen zu sehr in den Vordergrund stellt. Ich glaube, daß Klarheit in die Situation getragen wird, wenn man die beiden Begriffe „willkürlich" und „fiktiv" scharf voneinander trennt. Im Rahmen des objektiv Möglichen bekommt meiner Meinung nach das der menschlichen Entscheidung unterliegende Willkürliche keineswegs einen subjektivistischen Inhalt, wodurch das Objektiv-Reale negiert würde. Man beachte aber, daß trotz dieser Situation die Koordinaten selbst keine unmittelbare physikalische Bedeutung haben, sondern nur noch Markierungsnamen sind. Was den Aufbau des physikalisch gegenständlichen Bezugssystems als Inbegriff der Koordinatenliniensysteme betrifft, so hat man aus physikalischen Gründen die Scharbildung aus den willkürlich durch Koordinaten benannten Raumzeitpunkten so zu vollziehen, daß drei der Liniensysteme raumartig und eines zeitartig ausfallen. Durch diese Signatur ist auch der Übergang zu neuen Bezugssystemen vorgezeichnet. Man beachte, daß trotz dieser physikalischen Degradierung der Koordinaten räumliche und zeitliche Abstände, gemessen durch das Linienelement, physikalisch sinnvoll bleiben. 5. K r i t i k e r der R e l a t i v i t ä t s t h e o r i e : Ich schließe mich der Einschätzung der hemmenden Rolle gewisser idealistischer sowie vulgär-materialistischer Kritiker der Relativitätstheorie durch Alexandrow an. Die Relativitätstheorie als „machistisch" oder „reaktionären Einsteinianismus" zu verwerfen, nachdem sie bereits auf dem Wege ist, Ingenieurswissenschafb zu werden, ist absurd, hemmt die vorwärtsdrängende Entwicklung und löst keines der eigentlichen ernsten Probleme. I. W. Kusnezow („Philosophische Fragen der modernen Physik") macht es sich zu leicht, wenn er den Idealismus in der Physik dadurch beseitigen will, daß er selbst die Abkehr vom physikalischen Inhalt der Relativitätstheorie vorschlägt. Es ist offensichtlich, daß eine frachtbare Diskussion über die komplizierten Probleme der modernen Physik nicht mit allgemeinen For42

mulierungen zu führen ist, sondern ein langes, eingehendes Fachstudium voraussetzt. Auch die mechanistischen Modellbetrachtungen Janossys dürften das Verständnis des eigentlichen Wesens der Relativitätstheorie kaum fördern. Schließlich möchte ich noch auf ein Problem zu sprechen kommen, das weniger im Rahmen der obigen Polemik eine Rolle spielt, sondern seit der Entstehung der Relativitätstheorie umstritten ist, und neuerdings wieder mit neuen Lösungsvorschlägen zur Diskussion gestellt wurde. Es handelt sich um das Problem der Gravitationsenergie, das auch in philosophischer Sicht bemerkenswert ist. Der erste Vorschlag für die Formulierung eines Erhaltungssatzes für Impuls und Energie im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie stammt von Einstein selbst. Einstein kommt zu einer Energie-Impuls-Größe für das Gravitationsfeld, die gegenüber Energie-Impuls-Größen bekannter Felder die neuartige Eigenschaft besitzt, daß sich in einem Punkt des Raumzeitkontinuums immer ein itoordinatensystem angeben läßt, für das die Energie-Impuls-Größe in diesem Punkt verschwindet. Man sagt, man kann die Energie-Impuls-Größe wegtransformieren. Physikalisch heißt das, daß sich für einen Beobachter stets ein Bewegungszustand ausfindig machen läßt, so daß vom Beobachter die Gravitations-Energie-Impulsdichte Null registriert wird. Außerdem behauptet Einstein, daß die Definition von Energie und Impuls im Sinne eines integralen Erhaltungssatzes nur noch in bestimmten Koordinatensystemen möglich ist. Diese Situationen hat viele Physiker unbefriedigt gelassen, so daß neue Lösungsvorschläge veröffentlicht wurden. Insbesondere führt die Energie-Impuls-Größe von Möller zu der Konsequenz, daß die Gravitationsenergiedichte um einen ruhenden gravitierenden Körper identisch verschwinden soll, im Gegensatz etwa zur elektromagnetischen Analogie, wo in der Umgebung einer Punktladung das elektrische Feld eine nichtverschwindende Energiedichte aufweist. Ich selbst sehe keine erkenntnistheoretische Unmöglichkeit darin, daß unter gewissen Beobachtungsbedingungen die Energiedichte eines Feldes, deren Wert auch bei allen anderen Feldern vom Bewegungszustand des Beobachters abhängt, insbesondere auch den Wert Null annehmen kann, zumal man eine ähnliche Situation bei dem elektromagnetischen Feld in Medien antrifft, wo bekanntlich die elektromagnetische Energiedichte indefinit ist, und sie deshalb für 43

einen unter der Lichtgeschwindigkeit liegenden Wert der Relativgeschwindigkeit Null wird. Ich glaube, daß die Einsteinsche Lösung des Gravitationsernergieproblems bereits die sinnvollste ist, wenn sie auch ungewohnte Konsequenzen mit sich bringt. Mein Argument dafür ist das folgende: Jede neue Theorie muß ein wichtiges Charakteristikum aufweisen, wenn sie die Realität widerspiegeln soll: Sie muß unter gewissen Umständen die an der Erfahrung geprüfte ältere Theorie, die sie verallgemeinern soll, als Spezialfall enthalten. Die Newtonsche Gravitationstheorie läßt sich so formulieren, daß einem Raumpunkt eine Lokalisierung von Gravitationsenergie entspricht, deren Energiedichte dem Quadrat der Gravitationsfeldstärke proportional ist. Es zeigt sich nun, daß es gerade die Einsteinsche Theorie der Gravitationsenergie ist, die sowohl nach Vorzeichen als auch nach dem quantitativen Vorfaktor in erster Näherung in den Newtonschen Ausdruck übergeht. Ich gehe, wie in Abschnitt 2 angekündigt, noch einmal auf den Zusammenhang von Beschleunigungssystemen und Gravitationsfeldern ein: Im Minkowski-Raum gilt bekanntlich für einen in beliebigem Bewegungszustand befindlichen Beobachter (beliebige Koordinaten) für die Dichte des Energietensors X £ die Beziehung: dx*

= I v- 8 g °' 2 dxn '

d. h. in einem gegen ein Inertialsystem beschleunigten System gilt d% " kein Energieerhaltungssatz der Form = 0. Stellt man sich aber im Gegensatz zur rein kinematischen Auffassung der Beschleunigungen auf Einsteins Standpunkt, so sorgt gerade das in einem Beschleunigungssystem induzierte Gravitationsfeld wieder für einen sinnvollen Erhaltungssatz, da man dann mit Hilfe ¿er Einsteinschen Gleichungen die rechte Seite umformen kann, wodurch man zum Erhaltungssatz: ¿ ¡ ( V + V)=o gelangt, an dem man, unabhängig von der konkreten Gestalt der t,/ festhalten muß, wenn man nicht den Energiebegriff grundsätzlich 44

neu fassen will, wobei dann allerdings charakteristische Merkmale der Energie verloren gehen würden. Ich komme zum Ende meiner Ausführungen: Ich stelle fest, daß die Beschäftigung mit der Relativitätstheorie nicht nur vom physikalischen Standpunkt — ich selbst spreche hier als Physiker — sondern auch vom philosophischen Standpunkt ein außerordentlich nützliches Werk für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis darstellt. Relativitätstheorie und Quantentheorie sind die beiden Grundfesten, aufweichen die heutige Physik fundiert ist. Viele Forscher sind heute damit beschäftigt, eine befriedigende Synthese dieser beiden großen Zweige der modernen Physik zu finden, von der man sich eine Lösung des Problems des Aufbaus und der Struktur der Elementarteilchen verspricht. Die Lösung dieses Problems unserer Tage ist verbunden mit einer tiefen gnoseologischen Durchdringung dieser Materie. Sie wird um so eher gelingen, je mehr unsere Vorstellungen um diesen Gegenstand mit dem Gegenstand selbst übereinstimmen. Herrn Dr. A. Uhlmann danke ich für zahlreiche interessante Diskussionen. Literatur A. Einstein, Grundzüge der Relativitätstheorie, 3. Aufl., Vieweg, Braunschweig 1956 A. D. Alexandrow, Philosophischer Gehalt und philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, Moskau 1958 W. A. Fock, Theorie des Raumes, der Zeit und der Schwerkraft, Moskau 1955

DAS P R O B L E M D E R K A U S A L I T Ä T U N D MODERNE PHYSIK Gh. M. Fatalijew

f

DIE

(Moskau)

Es ist bekannt, daß das Problem der Kausalität eines der zentralen Probleme der Philosophie ist. Dieses Problem besteht seit der Geburt des philosophischen Denkens und den Anfängen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und steht auch heute im Zentrum der Aufmerksamkeit der Wissenschaftler. I n der Geschichte der Philosophie findet ein ununterbrochener Kampf des Materialismus mit dem Idealismus um das Problem der Kausalität statt. Die verschiedenen Seiten dieses bekannten philosophischen Problems lenken angesichts der Veränderungen, die in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Leben insgesamt vor sich gehen, immer wieder von neuem die Aufmerksamkeit auf sich. Die Entwicklung unserer Vorstellungen über die Kausalität stößt auf Schwierigkeiten, die mit der historischen Beschränktheit der Ergebnisse der Wissenschaft in jeder Epoche, mit der ungenügenden Erforschung neuer Gebiete der Wirklichkeit verbunden sind, mit denen der Mensch in seiner gesellschaftlich-historischen Tätigkeit zusammentrifft. Diese Schwierigkeiten bringen unter gewissen Bedingungen Versuche hervor, die Kausalität, ihre universelle Bedeutung zu negieren. I n der Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaft sind zahlreiche unfruchtbare Versuche bekannt, das Prinzip der Kausalit ä t zu widerlegen. Heute wird in Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, die in der physikalischen Interpretation des mathematischen Apparats und einiger experimenteller Ergebnisse der Quantenmechanik aufgetreten sind, das Prinzip der Kausalität erneut angefochten. Alle Physiker, bzw. ihre überwältigende Mehrheit sind damit einverstanden, daß die klassische Physik auf dem Prinzip der Kausali47

tat beruhte, aber viele angesehene Physiker, ganz zu schweigen von den idealistischen Philosophen, meinen, daß der Übergang von der klassischen Physik zu den modernen physikalischen Theorien zur Zerstörung des Fundaments geführt habe, auf dem das Prinzip der Kausalität in der klassischen Physik aufbaut. Mein Beitrag setzt sich nicht das Ziel, alle mit diesem Problem verbundenen Fragen zu behandeln. Ich beabsichtige hier nicht, das Problem der Kausalität im ganzen im Zusammenhang mit der modernen Physik zu analysieren. Ja man kann das kaum in einem Beitrag tun. Ich möchte nur Ihr Augenmerk auf einige Momente richten, die der Anlaß für die oben angeführten falschen Behauptungen sind. 1. Um darüber zu urteilen, ob die Erfolge der modernen Physik das Fundament des Prinzips der Kausalität in der modernen Physik untergraben oder nicht, muß man sich vor allem darüber klar werden, welcher Art dieses Fundament war, was die klassische Physik mit dem Prinzip der Kausalität verband. Als ein solches Fundament betrachtete man den Determinismus von Laplace. Es hat sich historisch die Auffassung herausgebildet, daß der Kausalzusammenhang, der von der klassischen Physik untersucht wurde, ganz und gar im Sinne des Laplaceschen (mechanischen) Determinismus zu verstehen ist, daß der mechanische Determinismus den allumfassenden, universellen Ausdruck des Kausalitätsprinzips darstellt. Diese Meinung hat sich bei einem bedeutenden Teil der Physiker bis heute erhalten. Von diesem Standpunkt aus dient die Verbindung von Zuständen, die in der Zeit aufeinander folgen und gleichzeitig und genau durch die angegebenen Parameterwerte (Koordinaten und Impulse) charakterisiert sind, als einziges, erschöpfendes Kriterium der Kausalität. Wenn man von diesem Standpunkt die Erfolge der modernen Physik (Quantenmechanik) einschätzt, so sind sie in der Tat mit dem Prinzip der Kausalität unvereinbar. Das Kriterium der Kausalität, das im mechanischenDeterminismus ausgedrückt ist, ist für quantenmechanische Objekte nicht anwendbar. Aber die Sache ist die, daß der mechanische Determinismus kein universeller Ausdruck des Kriteriums der Kausalzusammenhänge ist. Mehr noch, ich wage zu behaupten, daß der mechanische Determinismus kein konzentrierter oder grundlegender Ausdruck der Kausalität in der klassischen Physik ist. Mit anderen 48

Worten, der mechanische Determinismus drückt sogar in der klassischen Physik nicht das Hauptsächliche am Prinzip der Kausalität aus, sondern einzelne seiner Momente. Der oben erwähnte entgegengesetzte Gesichtspunkt ist das Ergebnis dessen, daß sich das Kausalitätsprinzip historisch in der klassischen Physik behauptete und in dieser Form in der philosophischen Begründung im Rahmen des metaphysischen, mechanischen Materialismus seinen festen Platz eingenommen hat. Charakteristisch für den metaphysischen, mechanischen Materialismus ist die Verwechslung äußerst weitgefaßter philosophischer Kategorien mit den naturwissenschaftlichen Vorstellungen über dieselben. Die naturwissenschaftlichen Vorstellungen jeder historischen Epoche haben historisch bedingte Konturen, die mit der Tiefe und den Prinzipien der Naturerkenntnis seitens der fortschreitenden Wissenschaft verbunden sind; sie bestimmen die Grenzen, bis zu welchen die Naturprozesse in der jeweiligen historischen Epoche erkannt sind. Mit der Entwicklung der Wissenschaft werden die Grenzen der Erkenntnis weiter hinausgeschoben, entsprechend verändern sich ihre naturwissenschaftlichen Vorstellungen und durchlaufen zu gewissen Zeiten grundsätzliche Umwälzungen. Die Verwechslung philosophischer Kategorien mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen führt dazu, daß in den Perioden grundsätzlicher Umwälzungen der letzteren die objektive Bedeutung philosophischer Kategorien angezweifelt wird. So steht es auch mit der Kategorie der Kausalität. Im metaphysischen, mechanischen Materialismus wird die philosophische Kategorie der Kausalität mit dem mechanischen Determinismus identifiziert, der die für eine bestimmte historische Epoche charakteristischen naturwissenschaftlichen Vorstellungen von der Kausalität zum Ausdruck bringt. Die Hauptsache aber ist, daß der mechanische Determinismus sogar im Rahmen der Physik des 19. Jahrhunderts nur den spezifisch-naturwissenschaftlichen Ausdruck der Kausalität darstellte. Die Erfolge der Physik des 19. Jahrhunderts deckten immer neue, tiefere, in der Natur vorhandene Kausalverbindungen auf, die sich nicht auf die Vorstellungen des mechanischen Determinismus zurückführen ließen. Um diese Frage zu klären, wollen wir betrachten, worin das Wesen der Kausalitätskategorie in der modernen wissenschaftlichen 4

Naturwissenschaft und Philosophie

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materialistischen Philosophie, dem dialektischen Materialismus besteht. Der Begriff Kausalität in der marxistischen Philosophie entspringt aus der dialektischen Konzeption der Bewegung, der Entwicklung der materiellen Welt, genauer — aus der Lehre von der Eigenbewegung der Materie. Der Ausgangspunkt dieser Lehre besteht bekanntlich in folgendem: Die materielle Welt, die unabhängig von uns und außerhalb von uns existiert, befindet sich in ewiger Veränderung, Bewegung; die Quelle dieser Bewegung befindet sich in der Materie selbst, und alle Veränderungen, die in der Welt vor sich gehen, sind von dieser Eigenbewegung der Materie hervorgerufen. Wenn eine beliebige Erscheinung, ein beliebiger Gegenstand der materiellen Welt ein Produkt der Eigenbewegung der Materie ist, so folgt daraus, daß die verschiedenen Gegenstände und Naturerscheinungen sich in Wechselwirkung und wechselseitiger Abhängigkeit befinden, wobei sie ineinander übergehen, einander bedingen. Diese Ausgangsvoraussetzungen der Lehre von der Eigenbewegung der Materie schließen auch solche Leitsätze ein, wie die Untrennbarkeit von Materie und Bewegung, ihre Ewigkeit und Unzerstörbarkeit. Wenn Materie und Bewegung getrennt voneinander existierten, oder wenn sie nicht ewig wären, zerstörbar wären, könnte man nicht jede beliebige Erscheinung, jeden beliebigen Gegenstand der Natur als ein Produkt der Eigenbewegung der Materie erklären. Somit ist nach der dialektischen Konzeption der Entwicklung die Herkunft der einzelnen Gegenstände und Erscheinungen der Natur durch die Eigenbewegung der Materie, durch die Existenz und Entwicklung anderer Gegenstände und Erscheinungen der Natur bedingt. Diese Bedingtheit der einen Gegenstände und Erscheinungen durch andere ist eben das Wesen der Kausalität, der Ursache—Wirkung—Beziehungen in der Philosophie des dialektischen Materialismus. Man kann eine Vielzahl verschiedener Seiten und Merkmale von Ursache—Wirkung—Beziehungen angeben, aber das wichtigste im Inhalt der Kausalitätskategorie ist, daß sie die erwähnte Bedingtheit der einen Gegenstände und Erscheinungen durch andere ausdrückt. Gerade so gingen auch die Begründer des dialektischen Materialismus an die Bestimmung der Kausalität heran. Als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Kausalität dient bei W. I. Lenin die Selbst50

bewegung der Materie. Bei der Bestimmung von Ursache und Wirkung unterstreicht Lenin die objektive wechselseitige Abhängigkeit (Bedingtheit) der Gegenstände und Erscheinungen der Wirklichkeit, die im Prozeß der Selbstbewegung, der Entwicklung der Materie vorhanden ist. Im „Philosophischen Nachlaß" Lenins lesen wir: „Ursache und Folge, ergo, nur Momente der weltumfassenden gegenseitigen Abhängigkeit, des (universellen) Zusammenhangs, der wechselseitigen Verkettung der Ereignisse, nur Glieder in der Kette der Entwicklung der Materie"1. Friedrich Engels unterstreicht ebenfalls2, daß die Kausalität die wechselseitige Verbindung, die Bedingtheit der einen Gegenstände und Erscheinungen durch andere ausdrückt. Wenn wir jetzt die klassische Physik unter dem Gesichtspunkt dieses Hauptinhalts des Kausalitätsprinzips betrachten, kommen wir zu dem Schluß, daß in der klassischen Physik die Kausalitätsverbindung der Naturerscheinungen vor allem (ich sage nicht ausschließlich) in den Gesetzen der Erhaltung, insbesondere in den Gesetzen der Erhaltung der Masse und Energie aufgedeckt und begründet wird. Dies erstens deshalb, weil diese Gesetze die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit der Materie und Bewegung ausdrücken, die Fähigkeit ihrer verschiedenen Arten und Formen zur gegenseitigen Verwandlung, aber ebenso die Unteilbarkeit von Materie und Bewegung, d. h. die wichtigsten Momente der Lehre von der Selbstbewegung der Materie, aus der die Kausalität hervorgeht. In Verbindung damit kann man sich auf folgende Momente berufen: Die Begründung des Gesetzes von der Erhaltung und Umwandlung der Energie gab die Möglichkeit, den geheimnisvollen „ersten Anstoß" Newtons, der die Quelle der Bewegung auf das Gebiet außerhalb der Materie verlegte, aus der Wissenschaft zu entfernen. Die qualitative Unzerstörbarkeit der Energie, die durch dieses Gesetz fixiert wurde, diente als eines der gewichtigen Argumente gegen die Theorie des Wärmetodes des Universums, die einen Zustand der Materie gelten läßt, bei dem die Materie ihrer inneren Entwicklungsquellen beraubt ist. 1 2



W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 79. Siehe F. Engels, Dialektik der Natur (Kausalität).

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Zweitens deshalb, weil die Gesetze von der Erhaltung der Masse und Energie die Möglichkeit gaben, die Entstehung der konkreten Erscheinungen und Gegenstände der Natur zu erklären und die Beziehungen, die ihr Entstehen bedingen, aufzudecken. Dies ist nicht weniger wichtig als das erstere, weil die Kausalität im Prozeß der Selbstbewegung der Materie als Verbindung ihrer verschiedenen konkreten Glieder auftritt, von denen das eine das andere bedingt, als Moment des allgemeinen Zusammenhanges, der Wechselwirkung. Bis zur Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung und Umwandlung der Energie blieb die Entstehung von Wärmeerscheinungen rätselhaft (und die Theorie des Wärmestoffes zeigte hier ihre Hilflosigkeit und vollständige Unzulänglichkeit). Mit der Entdeckung dieses Gesetzes und auf seiner Grundlage gelang es, die Ursache, die sie hervorbringen, aufzudecken; es wurde festgestellt, daß diese Erscheinungen in jedem einzelnen Falle die Verwandlung mechanischer, elektromagnetischer oder anderer Bewegungen bedingen. Ebenso wurde auf der Grundlage des Gesetzes von der Erhaltung der Energie die Entstehung elektromagnetischer Erscheinungen als Folge der Verwandlung mechanischer oder Wärmebewegung festgestellt. Die Verwandlung der Bewegungsformen, ihre gegenseitige Bedingtheit hat eine solche fundamentale Bedeutung in der Physik, daß die Beachtung des Gesetzes der Erhaltung und Verwandlung der Energie eine der wesentlichen Kriterien der Richtigkeit jeder physikalischen Theorie ist. Folglich begründet sich eine beliebige physikalische Theorie auf den gegenseitigen Zusammenhängen, die vom Gesetz der Erhaltung der Energie aufgedeckt werden. Dieser Standpunkt wurde von uns vor einigen Jahren entwickelt. Gleichzeitig kam auch, wie bekannt wurde, Genosse Polikarow zu einem Standpunkt, der dem unseren analog ist. Manchmal wird behauptet, daß die Zusammenhänge, die im Prozesse der gegenseitigen Verwandlungen der Formen der Bewegung der Materie zu einem anderen Typ von Verbindungen, aber nicht zu der Kategorie der Kausalität gehören, und daß die Begründer des dialektischen Materialismus in den Begriff der Kausalität auch nicht solche Zusammenhänge einbezogen hätten. Diese Meinung ist nicht richtig. Wenn die Hauptsache im Inhalt des Begriffes Kausalität genetische Zusammenhänge der Erscheinungen sind, bei denen eine die andere 52

bedingt, dann sind diese im Prozeß der gegenseitigen Verwandlung der Formen der Bewegung typische Ursache—Wirkung-Zusammenhänge. Die Begründer des dialektischen Materialismus zählten sie auch zu den Ursache—Wirkung-Zusammenhängen. Friedrich Engels unterstrich, als er über die Formen der Bewegung sprach, daß sie „ineinander Übergehn, einander gegenseitig bedingen, hier Ursache, dort Wirkung sind". 3 Wenn wir davon sprechen, daß in den Gesetzen der Erhaltung das Kausalprinzip dargelegt und begründet wird, so folgt daraus nicht, daß Gesetzmäßigkeit und Kausalität ein- und dasselbe sind. Es handelt sich um verschiedenartige philosophische Probleme. Es kann Gesetze geben, die keine Ursache—Wirkung-Zusammenhänge widerspiegeln, sondern einen anderen Typ von Zusammenhängen (denn die Kausalität ist nur eine von vielen Formen von Zusammenhängen, die in der objektiven Wirklichkeit existieren). Z. B. gibt es Gesetze, die einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Elementen innerhalb von Ursache oder Wirkung widerspiegeln. Dazu gibt es noch Gesetze, die einen Ursache—Wirkung-Zusammenhang direkt oder indirekt widerspiegeln. Die Gesetze der Erhaltung, über die wir sprachen, sind eine unmittelbare Widerspiegelung von Ursache— Wirkung-Zusammenhängen. Aus dem Gesagten folgt ebenfalls nicht, daß in der klassischen Physik nur die Gesetze der Erhaltung als Widerspiegelung von ursächlichen Zusammenhängen dienen. Die ursächlichen Zusammenhänge in der Natur sind ebenso mannigfaltig wie ihre Gegenstände und Erscheinungen vielgestaltig sind. Sogar in dem Falle, wenn wir über ein- und dieselben Gegenstände und Erscheinungen sprechen, können ihre verschiedenen Seiten ihre spezifische Entstehung haben, können durch verschiedene Ursachen bedingt sein. Entsprechend existieren in jedem Gebiet der Wissenschaft verschiedenartige Widerspiegelungen der ursächlichen Zusammenhänge. In der klassischen Physik ist der mechanische Determinismus eine der Formen dieser Widerspiegelungen. Aber unter dieser Vielzahl von Widerspiegelungen der ursächlichen Zusammenhänge nehmen die Gesetze der Erhaltung als fundamentale Gesetze der Physik einen besonderen Platz ein. * F. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 246.

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Was den mechanischen Determinismus anbelangt, so scheint mir, daß er nicht nur nicht das Fundament der Kausalität in der klassischen Physik ist, sondern selbst nur indirekt auf die ursächlichen Zusammenhänge hinweist. In Wirklichkeit weist der mechanische Determinismus auf die zwischen zwei Bewegungszuständen existierenden Verbindungen hin, die gleichzeitig und genau die vorgegebenen Bedeutungen von Koordinaten und Impulsen (g0, Pg und qt, Pt) charakterisieren. Aber man kann nicht sagen, daß der Zustand qt, Pt eine Folge des Zustandes q0, Pg ist, wir können nicht sagen, daß das Zweite durch das Erste begründet wird. Die Verbindung dieser Zustände geht aus dem Bewegungsgesetz, das den Hinweis auf Ursache und Wirkung enthält, hervor. Aber trotzdem geht die Verbindung zwischen den Bedeutungen der Koordinaten und Impulse für die verschiedenen zeitlichen Momente, auf welche die Formulierung des mechanischen Determinismus hinweist, aus der Bestimmung der Form von ursächlichen Zusammenhängen hervor, die für die klassische Physik charakteristisch sind. In diesem Sinne hat der mechanische Determinismus die Bedeutung einer der naturwissenschaftlichen Widerspiegelungen der Kausalität. Damit antworteten wir auf die Frage, welches das Fundament des Kausalprinzips der klassischen Physik war. 2. Wenden wir uns jetzt den modernen physikalischen Theorien zu und sehen wir, was in Verbindung mit den neuen Entdeckungen geschah. Das Fundament, auf dem das Auswahlprinzip in der klassischen Physik beruhte, wurde infolge der neuen Entdeckungen nicht zerstört, sondern erhalten und gefestigt. Das Gesetz der Erhaltung und der Verwandlung der Masse und Energie, das die grundlegenden Ideen der Kausalität in der Natur widerspiegelt, behält in der Quantenmechanik, in der Relativitätstheorie, in der Physik der Elementarteilchen vollständig seine Bedeutung und bereicherte sich auf der Grundlage der Errungenschaften dieser neuen Gebiete der Physik. Auf dem Gebiet der Mikroprozesse verliert der mechanische Determinismus, der eine spezifische Widerspiegelung bestimmter Seiten der ursächlichen Zusammenhänge ist, die für die klassischen Erscheinungen charakteristisch sind, seine Kraft. Das zeugt davon, daß die ursächlichen Zusammenhänge in den quantenmechanischen Erschei54

nungen ihre Spezifik haben. Die Verbindung der Bewegungszustände der Mikroobjekte kann nicht gleichzeitig und genau durch vorgegebene Werte der Koordinaten und Impulse charakterisiert werden. Aber neben diesem Besonderen existiert in den ursächlichen Zusammenhängen der beiden Gebiete der Wirklichkeit auch Allgemeines. Zwischen den neuen physikalischen Theorien und den Theorien der klassischen Physik existieren Zusammenhänge, die ihre innere Einheit charakterisieren. Es ist bekannt, daß der mathematische Apparat der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie asymptotisch in den Apparat der klassischen Physik übergeht, wenn bestimmte Parameter sich den Werten, die für die klassische Physik charakteristisch sind, annähern. Die zwischen ihnen existierenden inneren Verbindungen zeigen sich auch darin, daß sowohl die neuen als auch die alten physikalischen Theorien auf einigen allgemeinen fundamentalen Gesetzen — den Gesetzen der Erhaltung — beruhen. Die letzteren charakterisieren das Allgemeine, das den qualitativ verschiedenen Gebieten der Natur und ihrer Ursacheverbindungen, die sich in alten und neuen physikalischen Theorien widerspiegeln, eigen ist. Betrachten wir etwas näher, in Welcher Beziehung die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik zum Kausalitätsprinzip und seiner fundamentalen naturwissenschaftlichen (physikalischen) Widerspiegelung stehen. Beginnen wir mit der Relativitätstheorie. Die Relativitätstheorie basiert auf den Gesetzen der Erhaltung der Masse und Energie. Sie zeigte einen unzerstörbaren gegenseitigen Zusammenhang der Masse und der Energie, begründete damit eine naturwissenschaftliche Vorstellung der inneren organischen Einheit von Materie und Bewegung und gab neue Beweise dafür, daß die Quelle der Bewegung sich in der Materie selbst befindet. Das bedeutet, daß die Relativitätstheorie das Fundament noch festigt, auf welchem das Prinzip der Kausalität basiert und welches dieses Prinzip mit der klassischen Mechanik verband. Um die eben ausgesprochene Meinung zu bekräftigen, kann man noch auf eine Seite der Relativitätstheorie hinweisen, die mit der Kausalität verbunden ist. Die Kausalität ist, wie schon bemerkt, ein Moment der Wechselwirkung. Wenn man von räumlich getrennten Ereignissen spricht, ist die Frage ihres Ursache—Wirkung-Zusammenhangs eng verbunden 55

mit dem Charakter der Verbreitung der Wechselwirkung von einem Ort des Raumes an einen anderen. Ein Ereignis, das in Punkt B vor sich geht, kann nur dann Folge eines Ereignisses sein, das in Punkt A vor sich geht, wenn zwischen ihnen ein bestimmtes zeitliches Intervall liegt, das heißt, wenn die Wechselwirkung von Punkt A zum Punkt B sich mit einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit ausbreitet. Bekanntlich ging in der Geschichte der Wissenschaft lange der Kampf um die Frage, wie sich diese Wechselwirkung vollzieht: Augenblicklich oder mit endlicher Geschwindigkeit? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte Maxwell, daß bei elektromagnetischen Erscheinungen diese Wechselwirkung mit endlicher Geschwindigkeit vor sich geht, die der Lichtgeschwindigkeit gleich ist. Die Relativitätstheorie löste diese Frage in allgemeiner Form, indem sie den Grenzcharakter der Lichtgeschwindigkeit für eine beliebige Wechselwirkung feststellt. Das hat äußerst wichtige Bedeutung für die Begründung des ursächlichen Zusammenhangs räumlich verteilter Ereignisse. Manchmal trifft man Behauptungen, daß die Relativitätstheorie die Grundlage des Kausalitätsprinzips durchbrach, indem sie die Umkehrbarkeit von räumlich getrennten Ereignissen in der Zeit feststellte (das ist die Frage von der Relativität der Begriffe „früher" und „später"). Wenn aus der Relativitätstheorie folgt, daß beliebige räumlich getrennte Ereignisse in einem Bezugssystem eine bestimmte Reihenfolge haben, aber in einem anderen Bezugssystem die umgekehrte Reihenfolge, so würde hier wirklich das Prinzip der Kausalität durchbrochen, denn die Wirkung kann auf keinen Fall zeitlich früher liegen als ihre Ursache. Es ist aber so, daß die Relativitätstheorie die Umkehrbarkeit in der Zeit nur für solche Ereignisse festgestellt hat, zwischen denen keine Wechselwirkung sein kann, das heißt, es keinen ursächlichen Zusammenhang geben kann. (Wechselwirkung kann es dann nicht geben, wenn das Intervall von Raum und Zeit [At und Ae] so beschaffen ist, daß das Signal, das sich mit äußerst hoher Geschwindigkeit in der Zeit At ausbreitet, den Abstand Ae nicht durchlaufen kann.) Wenn das Intervall von Raum und Zeit zwischen den Ereignissen so beschaffen ist, daß zwischen ihnen Wechselwirkung auftreten kann (und folglich auch der Ursache—Wirkung-Zusammenhang), so sind die 56

Ereignisse zeitlich nicht umkehrbar. Folglich vernichtet auch von dieser Seite her die Relativitätstheorie das Kausalitätsprinzip nicht, sondern schafft ihm eine noch festere Basis. Wenden wir uns nun der Quantenmechanik zu. Hier muß vor allem bemerkt werden, daß die physikalischen Ideen, von denen die Entstehung der Quantenphysik ihren Ausgang nimmt, für die Err klärung solcher Erscheinungen formuliert wurden, deren Entstehung im Rahmen der klassischen Physik rätselhaft blieb, für die Erklärung ursächlicher Zusammenhänge solcher Prozesse, wie die Strahlung schwarzer Körper, den Fotoeffekt, das Linienspektrum der Strahlung. Die klassische Physik konnte keine befriedigende Antwort auf die Fragen geben, wodurch der Austritt der Elektronen beim fotoelektrischen Effekt begründet wird, wodurch die Existenz des Schwellenwertes der Frequenz für die Verwirklichung dieses Effektes bedingt ist. Die Ursachen, die den Austritt der Elektronen und die Existenz der Schwelle des Fotoeffektes, wie auch andere Besonderheiten des Fotoeffektes hervorrufen, wurden ausgehend von der Hypothese des Lichtquants und des Gesetzes der Erhaltung der Energie erklärt. Die klassische Physik konnte ebenfalls nicht die Ursachen zeigen, die die Entstehung von Linienspektren und ihre Besonderheiten bedingen. Durch spektroskopische Beobachtungen wurden Besonderheiten der Strahlungsfrequenz festgestellt, die sich keineswegs aus den der klassischen Physik bekannten Strahlungsprozessen ergaben. Im Zusammenhang damit stellte Bohr die Hypothese auf, daß die Strahlung ein Quantenprozeß ist und wies auf prinzipielle neue Momente hin, die die Linienspektren bedingen. Ausgehend von dieser Hypothese und indem man sich auf das Gesetz der Erhaltung der Energie stützte, wurde auf die Ursachen hingewiesen, die die beobachteten Besonderheiten der Strahlungsfrequenz bedingen. Diese und andere ursprüngliche Ideen der Atomphysik, die auf die Ursachen hinweisen, welche den Ursprung und die Besonderheiten des Charakters der früher unbekannten Erscheinungen bedingen, wurden später auf der neuen, tieferen Grundlage der Quantenmechanik entwickelt. Die Quantenmechanik hat in ihren beiden Varianten (der Wellen- und Matrizenmechanik) gezeigt, daß das früher unerforschte, umfangreiche Gebiet der Mikroprozesse aus den inneren Zusammenhängen, die in der Natur selbst existieren, zu erklären ist, sie deckte 57

den Zusammenhang und ihre wechselseitige Bedingtheit auf. Bei der Erforschung der spezifischen Seiten der Zusammenhänge, der wechselseitigen Bedingtheit der Mikroprozesse, stützt sich die Quantenmechanik fest auf die Gesetze der Erhaltung, die die allgemeinen Seiten der ursächlichen Zusammenhänge in der Natur zum Ausdruck bringen. Auf der Grundlage der Quantenmechanik finden wir nicht nur Zusammenhänge, die diese oder jene Erscheinung bedingen, sondern wir können sogar diese Erscheinungen hervorrufen, solche Bedingungen schaffen, unter denen sie in der Natur entstehen, wir können sogar solche Erscheinungen hervorrufen, die in fertiger Form in der Natur überhaupt nicht anzutreffen sind. Das bedeutet, daß sich die Quantenmechanik mit solchen Erscheinungen beschäftigt, die aus den inneren Zusammenhängen, die in der Natur selbst existieren, folgen, solchen, die sich gegenseitig bedingen, d. h., mit Erscheinungen, die einen Ursache—Wirkung-Zusammenhang haben. Nehmen wir eine solche Erscheinung, wie die Diffraktion der Elektronen, die eine besondere Bedeutung für die Entstehung und die Bedeutung der Quantenmechanik hat. Das Elektronenbündel verteilt sich bei seinem Durchgang durch ein Atomgitter so, daß sich auf dem Schirm ein ganz bestimmtes Diffraktionsfeld abzeichnet. Die Quantenmechanik zeigte, daß eine solche Verteilung der Intensität des Elektronenbündels eine Folge der Einwirkung des Gitters auf die Elektronen mit ihren Welleneigenschaften ist. Mit Hilfe der Quantenmechanik erklären wir diese Erscheinung nicht nur, sondern rufen sie hervor, da wir die Bedingungen kennen, unter denen sie entstehen. Das ist der Ursache—Wirkung-Zusammenhang. Diese oder jene komplizierte Naturerscheinung braucht nicht nur einen, sondern kann auch mehrere Ursache—Wirkung-Zusammenhänge haben. Wenn diese Erscheinung als Ganzes irgendeine allgemeine Ursache hat, so folgen die einzelnen Seiten und Bestandteile dieser Erscheinung nicht unbedingt aus diesem allgemeinen Zusammenhang. Sie können ihre spezifische Entstehung haben, können aus anderen Zusammenhängen, die innerhalb dieser Ursache wirken, oder sich mit ihnen kreuzen, folgen. Das trifft auch auf das Elektronenbündel zu, das durch ein Atomgitter geht. Wenn die Verteilung der Intensität des Bündels eine Folge der Diffraktion der Elektronenwellen ist, so folgt die Richtung der Bewegung jedes einzelnen Elektrons innerhalb 58

des Diffraktionsbildes nicht aus diesem allgemeinen Zusammenhang. Die spezifischen Zusammenhänge, die das Verhalten jedes' einzelnen Elektrons bedingen, sind im Apparat der Quantenmechanik nicht gegeben. In dieser Beziehung gibt es im Apparat der Quantenmechanik einen Hinweis: Das Verhalten des einzelneA Elektrons kann nicht nach der Art des mechanischen Determinismus bestimmt werden, d. h. als eine Aufeinanderfolge von Zuständen, die gleichzeitig und genau durch die gegebenen Koordinaten und Impulse charakterisiert werden. Das bedeutet, daß eine bestimmte Seite des Problems der Ursachezusammenhänge des Mikroobjekts nicht gelöst ist und im Rahmen des mechanischen Determinismus auch nicht gelöst werden kann. In welcher Form und mit welchen Methoden sie gelöst wird, auf diese Frage kann man nicht allein im Rahmen der philosophischen Lehre über die Kausalität antworten. Aus der philosophischen Lehre über die Kausalität folgt, daß die Richtung der Bewegung und der Ort des Auftreffens eines einzelnen Elektrons im Diffraktionsbild aus Zusammenhängen erfolgt, die in der Natur existieren. Welchen Charakter diese Zusammenhänge ihrer konkreten Natur nach haben, ob sie in mathematischer Form ausgedrückt werden können, und wenn sie es können, dann in welchem Grade und mit welcher Genauigkeit, all das ist Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung. Aus dem Gesagten folgt, daß die existierenden Leitsätze nicht als Grundlage für die Behauptung gelten können, das Prinzip der Kausalität in der Quantenmechanik werde verletzt. Die Quantenmechanik entstand und beruht auf dem naturwissenschaftlichen Fundament der Kausalität.

ERKENNTNISTHEORIE UND RELATIVITÄTSTHEORIE Max von Laue f ( (Vortragender:

Westberlin)

Friedrich

Herneck)

Zu einem mich befriedigenden Verständnis der Relativitätstheorie bin ich erst gekommen, als es mir gelang, sie mit der Kantschen Lehre von Raum und Zeit in Verbindung zu bringen. Die Einwände, welche auch heute noch viele gegen sie erheben, erklären sich m. E. größtenteils durch die noch nicht überwundene Newtonsche Auffassung einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes, an denen man wie an materiellen Gegenständen messen könne. Denn danach wäre es z. B. in der Tat paradox, daß zwei richtiggehende Uhren, die anfangs beieinanderliegen, dann aber verschiedene Wege durchlaufen, bei einer späteren Wiederbegegnung verschiedene Zeiten anzeigen. Im Gegensatz dazu betrachtet Kant bekanntlich Raum und Zeit als der menschlichen Vernunft eingeprägte Formen der Anschauung. Jedes Ereignis, welches die Erfahrung uns erkennen läßt, muß sich in diese Formen einordnen lassen. Kant begründet dies u. a. durch die m. E. schlagenden Argumente, daß der Mensch sich zwar einen leeren, von allem physikalischen Geschehen, insbesondere von jeder Materie freien Raum vorstellen könne — was die Geometrie ja stets tut — aber kein solches Geschehen ohne Raum. Folglich liegt die Raumvorstellung der physikalischen Erfahrung zugrunde und ist in diesem Sinne a priori. Ebenso kann man sich sehr wohl eine Zeitspanne ohne physikalisches Geschehen vorstellen, aber kein Ereignis ohne Beziehung zur Zeit. Daß Letzteres auch für Ereignisse der inneren, rein psychischen Anschauung gilt, kann bei den hier in Rede stehenden physikalischen Betrachtungen außer acht bleiben. Daß der Raum unserer Anschauung drei Dimensionen hat, die Zeit nur eine und daß sie einen bestimmten Richtungssinn besitzt, sind a priori 61

festliegende Merkmale, die ausnahmslos für alle physikalischen Vorgänge gelten. Wenn die Mathematiker gelegentlich von Bäumen höherer Dimensionszahl reden, so ist das eine zweckmäßige Façon de parier, um Funktionen vieler Veränderlicher darzustellen; anschaulich werden diese Räume nie. Leider knüpfte Kant an diese m. E. unwiderlegliche Vorstellung einen Fehlschluß, indem er keine andere, als die euklidische Geometrie als mit der Raumanschauung verträglich erklärte. Daran haben zuerst große Mathematiker, wie C. F. Gauß, Anstoß genommen und eine „elliptische", dann auch eine „hyperbolische" Geometrie für drei Dimensionen geschaffen, und besonders Felix Klein hat später darauf hingewiesen, daß jede dieser Geometrien genau wie die euklidische ein in sich widerspruchsfreies Ganzes darstellt. Und die letzte, für die Relativitätstheorie grundlegende Verallgemeinerung gab 1854 der große Mathematiker Bernhard Riemann im Anschluß an die Gaußsche Theorie der gekrümmten Flächen; er warf auch schon die Frage auf, welche Geometrie sich an der Erfahrung bestätige, sich also für die Physik brauchbar erweise. Für die Zeit gilt Ähnliches. Die Zeitmessung sollte, abgesehen vom Anfangspunkt und der Zeiteinheit, die selbstverständlich menschlicher Vereinbarung überlassen bleiben, a priori festliegen. Beide Fehlschlüsse entsprangen einer gemeinsamen Quelle. Raumund Zeitanschauung sind beide kontinuierlich, und ein Kontinuum — das übersah Kant — trägt nie ein eingeprägtes Maß in sich. Das sieht man am einfachsten an der Zeit. Eine Kette, die ebenfalls eindimensional ist, hat von sich aus ein Maß-System, man kann die Glieder numerieren. Nicht so bei einem kontinuierlichen Faden, er hat keine Eichstriche (jeder Eichstrich unterbräche ja die Kontinuität). Will man an ihm messen, so muß man nach alter Schneiderart einen Maßstab daneben legen und dessen Einteilung übertragen. Für die Zeit kann man sich aber keine Skala erborgen. Eine für die Physik und damit für das menschliche Leben brauchbare Zeitmessung muß sich auf physikalische Gesetze stützen. IJnd das haben die Menschen, solange historische Überlieferung reicht, auch instinktiv gesehen und dazu irgendwelche periodischen Naturvorgänge benutzt, etwa den Wechsel von Tag und Nacht oder den der Jahreszeiten. Das ergab bei immer weiterer Vervollkommnung der Astronomie unsere astrono62

mische Zeitskala, deren Brauchbarkeit sich dann auch an den künstlichen Uhren erprobte. Denn auch in diesen liegen physikalische Vorgänge zugrunde, etwa die periodischen Schwingungen eines Quarzstabes oder — noch moderner — periodische Schwingungen in gewissen Atomen. Daß sich in derselben Zeitskala auch der Lauf der Planeten nach Kepler und Newton darstellen läßt, ist eine weitere Bestätigung dafür. Selbstverständlich aber unterliegt diese Skala ständiger weiterer Nachprüfung an physikalischen Erscheinungen. Man verstehe dies nicht falsch. Keine Logik zwingt zu einem solchen Verfahren; man könnte im Gegenteil die übliche Zeitskala ohne weiteres auf eine beliebige andere umrechnen, wenn nur die Transformationsformel umkehrbar eindeutig wäre. Denn dann wäre nach wie vor jedem Ereignis eindeutig eine Zeitmarke zugeordnet. Aber dann müßte man z.B. zwei aufeinander folgenden Pendelperioden verschieden lange Zeiträume zuordnen. Welche Komplikation brächte das in die Physik! Für den Raum gilt Entsprechendes, nur, daß man seine höhere Dimensionszahl zu berücksichtigen hat. Den Inbegriff aller Maßangaben in ihm bildet seine Geometrie; sie gibt für jedes eindimensionale Gebilde in ihm — also für jeden Kurvenzug — die Längeneinteilung. Seit dem Altertum wählte man dafür die euklidische Geometrie. Sie reichte aus zur Schaffung einer allen damals bekannten Erscheinungen Rechnung tragenden Physik. Diese Überlegung war den Menschen früher kaum bewußt, sie handelten rein instinktiv. Immerhin hat Gauß einmal den optischen Versuch gemacht, ob in einem von drei Bergspitzen gebildeten Dreieck, dessen Seiten durch drei als geodätische Linien betrachtete Lichtstrahlen verwirklicht sind, die Winkelsumme 180 Grad beträgt, wie es Euklid fordert. Er fand keine Abweichung und nahm das als empirische Bestätigung dieser Geometrie. Kennzeichnend für die vorrelativistische Wissenschaft ist jedenfalls, daß sie die Fragen der Raum- und der Zeitmessung völlig voneinander trennt. Die euklidische Geometrie bezieht die 3 Koordinaten eines Punktes bekanntlich zumeist auf ein rechtwinkliges Achsenkreuz; alle denkbaren Achsenkreuze sind dafür gleich geeignet, auch, wenn diese sich gegeneinander bewegen. Darin kann ihr die Physik nicht folgen. Schon die Anfange der Mechanik zeigten, daß man scharf unter 63

scheiden muß zwischen Inertialsystemen, die dadurch gekennzeichnet sind, daß in ihnen die Newtonsche Mechanik gilt, und anderen, in denen sie nicht gilt. Freilich muß zum räumlichen Inertialsystem noch die Inertialzeit hinzutreten, damit z. B. der Satz gilt, daß jeder frei bewegliche Körper eine gerade Linie mit konstanter Geschwindigkeit durchläuft. Diese Inertialzeit stimmt erfahrungsgemäß mit der vorerwähnten Zeitskala überein, ein weiterer Beweis für deren empirische Berechtigung. Nun gibt es nicht nur ein Inertialsystem, vielmehr sind alle dagegen mit konstanter translatorischer Geschwindigkeit bewegten Koordinaten-Systeme ebenfalls Inertialsysteme. Diesen aus der Newtonschen Dynamik folgenden Satz bezeichnet man als deren Relativitätsprinzip. Von einem Inertialsystem zu einem anderen führt die „Galilei-Transformation". Sie transformiert nur die Raumkoordinaten; die Zeitmessung bleibt unverändert, gilt für alle Inertialsysteme, ist in diesem Sinne — in der Newtonschen Mechanik — absolut. Die Gesamtheit der Inertialsysteme aber ist mehr als mathematischer Ausdruck für eine physikalisch sinnvolle Raummessung. Wir erkennen in ihr zusammen mit der Inertialzeit etwas Physikalisch-Reales, insofern sie die Körper mit konstanter Geschwindigkeit auf gerader Bahn führt. Sie übt Wirkungen aus, ist also wirklich. Man nennt diese Gesamtheit heute das Führungsfeld jeder freien Bewegung. Dies ist nur ein anderer Ausdruck für das Trägheitsprinzip. So befriedigend dies schien, solange man an die Zurückführbarkeit der gesamten Physik auf die Newtonsche Dynamik glaubte, in der Optik stieß man damit auf eine große Schwierigkeit. Nach der GalileiTransformation ist in verschieden bewegten Inertialsystemen jede Geschwindigkeit nach Richtung oder Größe oder beidem verschieden. Die Lichtgeschwindigkeit im leeren Raum bildete eine Ausnahme. Unzählige optische Versuche, bei denen die verschiedenen Bewegungszustände der Erde im Laufe eines Jahres die verschiedenen Inertialsysteme verwirklichten, ergaben für die Lichtgeschwindigkeit gegenüber der Erde immer denselben richtungsunabhängigen Wert c = 3.1010 cm/sec. Daran knüpft die spezielle Relativitätstheorie an, die 1905 einer genialen Intuition Einsteins entsprang. Sie verkoppelt Raum- und Zeitmessung miteinander unter dem Gesichtspunkt, daß dabei die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen und für alle 64

Richtungen denselben Wert haben muß. Dabei muß sie aber für jedes Inertialsystem eine eigene Inertialzeit einführen. Die Umrechnung von einem zum anderen System besteht nun nicht mehr in einer Transformation der Raumkoordinaten allein, sondern auch des Zeitmaßes. Man bezeichnet diese Transformation bekanntlich in Analogie zur Galilei-Transformation als „Lorentz-Transformation". Das Maßsystem der euklidischen Geometrie ist vollkommen festgelegt dadurch, daß zwei Punkte, deren Koordinaten sich um dxv dx2, dxä unterscheiden, einen Abstand ds haben, für den nach Pythagoras gilt: ds2 = dxi -f dx\ + dx%. Dieses „ds" ist invariant gegen alle Verschiebungen und Drehungen des Achsenkreuzes. Im Anschluß daran führte Hermann Minkowski 1909 den Gedanken einer gemeinsamen Raum- und Zeitmessung auf die Maßbestimmung einer vierdimensionalen „Welt" zurück, indem er für die Zeit t eine Zeitkoordinate xi = et einführte und für den „Abstand" zweier Raum- und Zeitpunkte, deren Koordinaten sich um dxv . . . dxi unterscheiden, die Beziehung ansetzte: dsi = dx\+

dx\+ dx\ — dx\.

(1)

Daraus folgt mathematisch für den Abstand s zweier Raum—ZeitPunkte mit den Koordinaten xx, x'x, ... xv x^

x[r

s* = (arx + K - 4)2 + - 4 ) 2 ~ («4 ~ O 2 • (2) Jedes physikalische Ereignis ist ein Raum—Zeit—Punkt; man kann aus Gl. (2), indem man die vier Koordinaten auf ein bestimmtes Inertialsystem bezieht, die in diesem System gültigen Raum- und Zeitabstände zweier Ereignisse ableiten. Den Unterschied zwischen RaumundZeitmessung gewährleistet das Minuszeichen in (1) oder (2). .s2 fällt für zwei Ereignisse mit denselben Raumkoordinaten negativ, s also imaginär aus. Darum bezeichnet man diese Geometrie auch nicht als euklidisch, sondern als pseudo-euklidisch. Der Brauchbarkeit des Ansatzes (1) tut dies keinen Abbruch. Gemäß der Definition der Lorentz-Transformation ist dieses s eine Invariante. Die Gleichung s = 0 ist nun die Gleichung der „Lichtkugel", ihr genügen alle die Raumpunkte x'v x'2, x'a, die gleichzeitig, zur Zeit t' = x'4jc, von einem Lichtsignal erreicht werden, das zur 5

Naturwissenschaft und Philosophie

65

Zeit t = xjc vom Raumpunkt xv xa, x3 ausgegangen ist. Diese Kugel hat in jedem Inertialsystem dieselbe Gleichung. Die Lichtgeschwindigkeit hat demzufolge für alle Inertialsysteme denselben richtungsunabhängigen Wert c, wie es die Erfahrung fordert. Die Rolle des Führungsfeldes, jener Gesamtheit der Inertialsysteme einschließlich der Inertialzeit, geht in der Relativitätstheorie über auf die Minkowskische ,,Welt", die etwas durchaus Wirkliches ist. Es zwingt — wie früher besprochen — jeden freien Massenpunkt, sich auf gerader Bahn mit konstanter Geschwindigkeit zu bewegen. Die spezielle Relativitätstheorie hat einen ungeheuren Gültigkeitsbereich. Sie umfaßt eigentlich alles, was man zur Deutung irdischer Experimente braucht, solange die Gravitation nicht in Betracht kommt, einschließlich der gesamten Elektrodynamik. Aber auch die Gravitation ließ sich, wie z. B. 1912/13 Gunnar Nordström zeigte, unschwer unter Berücksichtigung aller damaligen Kenntnisse einfügen. Einstein dachte tiefer. Er empfand es als unbefriedigend, daß nach der speziellen Theorie das Führungsfeld zwar Wirkung auf die Körper ausübt, aber keine Gegenwirkung erfährt, während doch sonst in der Physik sich stets Wirkung und Gegenwirkung entsprechen. Ebenso unbefriedigend erschien es ihm, daß der Satz von der Gleichheit der trägen und der schweren Masse, der die Unabhängigkeit der Fallgesetze von der Art des fallenden Körpers formuliert, nach dieser Theorie, wie auch nach der Newtonschen, nur als ein allerdings nicht störendes Anhängsel erscheint, wo er doch ein Fundamentalgesetz der Physik ausspricht. So suchte Einstein nach einer Theorie, welche die Gravitation in ihre Grundlagen einbaut und zugleich diese beiden Mängel behebt. Er schuf in 7jährigem Ringen (von 1908 bis 1915) die allgemeine Relativitätstheorie. Einstein begann mit einem Schritt von außerordentlicher Kühnheit. Hatte Riemann für 3 Dimensionen auf jede spezielle Maßbestimmung verzichtet, so setzte er entsprechend für die 4 Dimensionen der Welt: ds 2 = 3 n dx\ + g22 dx\ + g33 dx\ -f- gM ds\ + 2 [s-23 dx2 dx3 + g.A dxs dxt + gx% dx1 dxt + (014 dxi+ 66

024 dx2+

034 dxz)

dx

i\

(3)

mit stetig veränderlichen, zunächst noch nicht festgelegten Funktionen der 4 Koordinaten als Koeffizienten. Man erkennt hier für 4 Dimensionen denselben Schritt, durch den Gauß für 2 Dimensionen die Theorie der gekrümmten Flächen begründete. Die Koordinaten haben hier selbst keine Beziehung zur Maßbestimmung, sie sind willkürlich -wählbare „Namen" der Weltpunkte, die sich in andere, ebenso berechtigte Koordinaten umrechnen lassen. Erst die Koeffizienten gik ergeben die Geometrie der Welt. Daraus, daß ds gegen alle Koordinaten-Transformationen invariant sein muß, ergeben sich die Transformationsformeln der gik. Alle physikalischen Gesetze müssen jetzt auf eine gegen alle Transformationen unveränderliche (kovariante) Form gebracht werden. Für die Elektrodynamik hat sich dies unschwer durchführen lassen. Damit die Maßbestimmung (1) als Sonderfall in (3) enthalten ist, müssen glv g22, gS3 positiv, gti negativ sein. Dann aber läßt sich mathematisch beweisen, daß es für jeden Weltpunkt Koordinatensysteme gibt, für welche angenähert und nur für beschränkte RaumZeit—Bereiche gültig die Maßbestimmung (2) zutrifft. Innerhalb dieser Bereiche ist die spezielle Relativitätstheorie zu Hause, mit allen ihren Konsequenzen. Diese Koordinatensysteme sind die Inertialsysteme der allgemeinen Relativitätstheorie. Der entscheidende Gedanke Einsteins aber war es, die Koeffizienten gik der Maßbestimmung zugleich zu Repräsentanten des Gravitationsfeldes zu machen. Dies Feld transformiert sich also beim Übergang zu anderen Koordinatensystemen, die gik spielen die Rolle verallgemeinerter Gravitationspotentiale. Ihre Ableitungen nach den Koordinaten sind in diesem Sinne verallgemeinerte Gravitationsfeldstärken. In den soeben erwähnten Inertialsystemen gibt es keine Feldstärken und damit überhaupt keine Gravitationswirkungen. Betrachtete man bisher jedes mit der Sonne fest verbundene Koordinatensystem als Inertialsystem, so ist dies in der allgemeinen Relativitätstheorie unrichtig; nur ein im Weltraum — wenn auch unter der Anziehung größerer Massen — frei herumschwirrender Meteorit ohne eigene SchwereWirkung könnte als Repräsentant eines Inertialsystems dienen. Freilich herrscht auch im Innern eines frei fallenden Aufzugs, den Einstein gern als Beispiel benutzte, ein Inertialsystem. 5*

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Die Probe auf die Durchführbarkeit dieses Programmes war es, ob man die gik, also das Gravitationsfeld, aus Verteilung und Geschwindigkeit der im Feld vorhandenen Körper berechnen könne. Dies leisten in der Tat die 1915 von Einstein als Krönung seiner Theorie aufgestellten Feldgleichungen der Gravitation. Es sind 10 Differentialgleichungen zweiter Ordnung für die 10 Koeffizienten g i k ; sie legen also für jede solche Verteilung das Gravitationsfeld und die damit identische Maßbestimmung fest. Erst hier erhält Gleichung (3) einen bestimmten Inhalt. Die Ableitung dieser Feldgleichungen war eine große mathematische Leistung, da auf dem Wege zu ihnen kein empirischer Wegweiser stand. Und dennoch: Als Einstein eine für schwache statische Gravitationsfelder passende Näherung suchte, fand er auf Grund seiner Gleichungen das Newtonsche Attraktionsgesetz, daß die Anziehung zweier Körper dem Quadrat des Abstands umgekehrt proportional ist. Das war eine entscheidende Bestätigung für die Feldgleichungen. Diese enthalten aber außer der Bestimmung des Feldes auch noch die gesamte Dynamik. Eine nicht minder bedeutsame Folgerung war es, daß jeder Körper, gleichviel welcher Masse oder sonstigen Beschaffenheit, unter Wirkung eines Gravitationsfeldes eine geodätische Linie der Maßbestimmung (3), also eine geodätische Weltlinie beschreibt, d. h. denselben Fallgesetzen gehorcht. Dieser Sachverhalt, den die ältere Physik als Beweis für die Gleichheit der trägen und der schweren Masse deutete, ist also jetzt in den Feldgleichungen mit enthalten, und zwar in voller Strenge. Damit beseitigt die allgemeine Relativitätstheorie alle Bedenken, die Einstein der speziellen entgegenhielt. Die Feldgleichungen enthalten — um es zu wiederholen — außer der Bestimmung des Gravitationsfeldes auch die gesamte Dynamik. Nur die Elektrodynamik läßt sich aus ihnen nicht ableiten, wohl aber angleichen. Auch sie einzubeziehen, hat sich Einstein die letzten Jahrzehnte seines Lebens bemüht, aber weder ihm noch den vielen Anderen, die es ebenfalls versuchten, gelang es. Nicht angeglichen sind bisher nur die Quantenerscheinungen. Aber auch so war Einstein mit Recht stolz auf seine Leistung. Das hinderte ihn nicht, nach beobachtbaren Erscheinungen zu suchen, die, der älteren Physik unbekannt, in seiner Theorie enthalten waren. Es haben sich deren drei gefanden, die Perihelbewegung des Merkur, die

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mit unerwarteter Genauigkeit mit den schon älteren astronomischen Messungen übereinstimmte, die Lichtablenkung an der Sonne und die Rotverschiebung der Spektrallinien an größeren Fixsternen. Als 1919 Eddington die Lichtablenkung wirklich beobachtete, wuchs der Ruhm der Relativitätstheorie geradezu ins Unermeßliche. Fassen wir zusammen: Es gibt keinen erkenntnistheoretischen Zwang zur Annahme eines bestimmten Maßsystems für Raum oder Zeit. Aber die Natur schreibt uns ein solches vor, sofern wir es mit der Mechanik und Gravitationstheorie in Zusammenhang bringen wollen. Und zwar sind die natürlichen Maßsysteme für Raum und Zeit miteinander gekoppelt und festgelegt durch das vierdimensionale Führungsfeld, welches nach der allgemeinen Relativitätstheorie eine nicht-euklidische Geometrie hat. Es ist keineswegs eine mathematische Erfindung, sondern eine allen physikalischen Vorgängen zugrunde liegende Realität. Diese Erkenntnis ist Albert Einsteins größte Leistung; sie bewährt das Schiller-Wort: „Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde".

DAS P R O B L E M D E R R E A L I T Ä T I N D E R QUANTENPHYSIK M. E. Omeljanowski 1. Die

(Moskau)

Problemstellung

Das Problem der Realität ist in der Quantentheorie stark in den Vordergrund getreten. Die philosophischen Bedürfnisse der Physik erwiesen sich stärker als die Anschauungen des modernen Positivismus, der dem Realitätsproblem jeglichen Sinn absprach. Nicht zufällig haben die hervorragenden Physiker — A. Einstein, N. Bohr, W. Heisenberg, L. de Broglie, M. Born — dem Begriff der Realität in der Physik, besonders in ihren letzten Arbeiten, höchste Aufmerksamkeit geschenkt. Die Entwicklung der physikalischen Wissenschaft konnte das Problem der Realität niemals umgehen und umging es auch nie, da notwendig folgende Fragen zu lösen waren: Erstens: Haben die physikalischen Begriffe, z. B. Stoff, Feld, Energie, Kraft, Elektron einen objektiven Charakter, d. h. können sie einen solchen Inhalt haben, der vom Subjekt nicht abhängt, oder aber sind sie bloß logische Konstruktionen, die zur Ordnung des zu Beobachtenden eingeführt werden? Zweitens: Wenn das objektiv Reale existiert, wie ist es dann möglich, vom Beobachteten oder sinnlich Wahrgenommenen zum objektiv Realen überzugehen? Wie kann man z. B. von der beobachteten Bewegung der Quecksilbersäule im Thermometer zu einer Aussage über die Temperatur übergehen, oder von den in der Wilsonkammer wahrgenommenen Nebelspuren zu einer Behauptung, sagen wir, über das Elektron ? Die moderne Physik, und vor allem die Quantentheorie, hat erneut diese Fragen gestellt. Hervorgerufen wird diese Fragestellung durchaus nicht deshalb (wir lassen die sozialen Gründe unberührt), weil die klassische Physik diese Fragen nicht gelöst, bzw. falsch gelöst hätte. 71

Es ist bekannt, — und darin sind sich die Vertreter verschiedener philosophischer Strömungen im allgemeinen einig, — daß in der klassischen Physik diese Fragen materialistisch gelöst wurden. Diese Lösung ist die richtige, da sie der Praxis der Menschheit und dem führenden Geist der Naturwissenschaft entspricht. Die neue, nicht-klassische Physik, die aus der großen wissenschaftlichen Revolution des X X . Jahrhunderts emporgewachsen ist, stellte philosophische Fragen, die natürlich in der alten Physik nicht auftauchen konnten. Die moderne Physik, die es mit Atomen und Atomkernen, Elektronen und anderen Elementarteilchen, mit der zweieinigen Natur des Lichtes und des Stoffes, mit Erscheinungen, die mit riesiger Geschwindigkeit, die an die Lichtgeschwindigkeit grenzt, verlaufen, mit den Umwandlungen von Elementarteilchen, mit der organischen Einheit von Masse und Energie zu tun hat, kurzum, mit solchen Objekten, ihren Eigenschaften und Gesetzen operiert, die anscheinend mit der üblichen gewöhnlichen makroskopischen Erfahrung unvereinbar sind, erfüllte das Problem der Realität mit neuem, tieferem Inhalt und forderte eine neue, diesem neuen Inhalt entsprechende Lösung. Als H. Hertz die elektromagnetischen Wellen entdeckte, A. S. Popow das Radio erfand und P. N. Lebedew den Lichtdruck nachwies, war bewiesen, daß bestimmte Begriffe der elektromagnetischen Lehre Maxwells (wie auch die Lehre selbst) der objektiven Realität entsprechen, und die Physiker haben darin keine besonderen philosophischen Probleme gesehen. In der neuen Physik hat sich die Sachlage radikal geändert. Wenn der Physiker die große Anzahl der Elektronen in einem Falle als einen Teilchenstrom, und im anderen Falle als eine Wellengruppe betrachtet, so taucht unwillkürlich die Frage auf: Entspricht der Begriff Elektron der Realität, wenn sich das Elektron vom Standpunkt der makroskopischen Erfahrung und der diese Erfahrung verallgemeinernden klassischen Physik so widerspruchsvoll benimmt ? Wir können also das Problem der Realität in der modernen Physik folgendermaßen formulieren: Ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, so wie sie den makroskopischen Objekten gegeben ist, auch den Mikroobjekten und Erscheinungen der Mikroweit eigen, über die man nur an Hand der Information der Geräte urteilen kann, wobei die aus

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dieser Information gefolgerten Urteile nicht in die Vorstellungen der klassischen Physik hineinpassen? Um das Problem der Realität in der Quantenphysik führen in der Literatur die philosophischen Strömungen einen harten Kampf. Eine richtige Lösung des Problems kann nur die Philosophie geben, die dem allgemeinen Geist der Naturwissenschaft entspricht, d. h. jeglichen Dogmatismus und positivistischen Relativismus ausschließt. Die Philosophie, die die Natur so betrachtet, wie sie ist, in ihrer Veränderung und Entwicklung, ist der dialektische Materialismus. Im folgenden beabsichtigen wir den Standpunkt des dialektischen Materialismus anderen, hauptsächlich positivistischen Gesichtspunkten, von denen aus das Problem der Realität in der Quantentheorie betrachtet wird, gegenüberzustellen. 2. Die Materie Der dialektische Materialismus lehnt die Anerkennung einer unveränderlichen Substanz, eines starren Wesens aller Dinge und Erscheinungen, sowie jedes metaphysische Absolutum ab. Alle Formen des Idealismus und Agnostizismus legten ihren Konstruktionen über die Welt in dieser oder jener Weise das eine oder das andere Absolute zugrunde, z. B. die Ideen Piatos, den absoluten Geist Hegels, das Kantsche unfaßbare Ding an sich, die Empfindungselemente des Empiriokritizismus, die logischen Atome der Philosophie von Russell usw. Der alte mechanische Materialismus, der in der Naturwissenschaft der vergangenen Epoche herrschte, sah in der Materie eine unveränderliche Substanz und die Naturforscher, die die Ideen des alten Materialismus annahmen, verstanden gewöhnlich unter Materie unveränderliche Atome, die sich nach den Gesetzen der Newtonschen Mechanik bewegen. Für den dialektischen Materialismus ist „das Wesen der Dinge" oder „die Substanz" relativ; diese Begriffe drücken nur die Vertiefung der menschlichen Erkenntnis von Objekten aus. Unveränderlich ist bloß eines: Die Existenz der Natur außerhalb des Bewußtseins, die Widerspiegelung der unabhängig vom Menschen existierenden und sich entwickelnden Außenwelt durch das menschliche Bewußtsein (wenn es existiert). In organischem Zusammenhang mit der 73

Verneinung jeglicher metaphysischer „UnVeränderlichkeiten" durch den dialektischen Materialismus steht die von W. I. Lenin gegebene Bestimmung der Materie: „Materie bedeutet . . . erkenntnistheoretisch nichts anderes als: die objektive unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende und von ihm abgebildete Realität" 1 . So sind in der dialektisch-materialistischen Bestimmung der Materie die gnoseologische und ontologische Seite untrennbar miteinander verbunden. In der dialektisch-materialistischen Auffassung der Materie ist die Antwort auf die durch die Quantentheorie gestellte Frage nach der Realität enthalten. Kosmische Gebilde, makroskopische „gewöhnliche" Körper, Moleküle, Atome und Atomkerne, Elektronen und andere Elementarteilchen, physikalische Felder, Antiteilchen, Systeme atomarem Typus, wie etwa das Positronium usw. (wir beschränken uns auf die anorganische Natur) existieren alle unabhängig vom menschlichen Bewußtsein und werden mehr oder weniger genau in physikalischen Begriffen und Theorien widergespiegelt. Alle sind sie objektive Realität, verschiedene Arten der sich bewegenden Materie. Weshalb muß denn die Bewegung des Elektrons im Atom genau nach denselben Gesetzen erfolgen, wie die Bewegung der Makroteilchen oder wie die Ausbreitung der Wellen ? Weshalb müssen dem Weltall unveränderliche, ewig gegebene Elemente zugrunde liegen? Bloß der metaphysische Verstand verwandelt ein Teilchen der unendlichen Natur, die in Form eines unendlichen asymptotischen Progresses erkannt wird, in eine einseitige Allgemeinheit. Die Unendlichkeit der Natur, die Unerschöpflichkeit des Elektrons und des Atoms, die Unmöglichkeit, die Materie auf irgendeine ihrer Formen zu reduzieren, wurden durch die Entdeckungen der Quanteneigenschaften des Elektrons, der Materialität des physikalischen Vakuums, der Vielzahl von Arten von Elementarteilchen und ihrer Verwandelbarkeit bestätigt, sie wurden bestätigt durch die Quantenmechanik, deren Grenzfall die klassische Mechanik Newtons wurde. Die Quantenmechanik wächst gegenwärtig in eine neue, die Erscheinungen tiefer erfassende Theorie hinüber, die noch nicht mit entsprechender Vollkommenheit von der Quanten- und Relativitätstheorie erfaßt werden 1

W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952, S. 231.

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Wenn also Behauptungen über Objekte, die aus den Informationen der Geräte geschlossen wurden, sich nicht in den Rahmen der vorhandenen, durch die Erfahrungen bestätigten Theorie einfügen lassen, so ist das ein Symptom der Beschränktheit dieser Theorie, ein Symptom ihrer Unfähigkeit, sie auf das zu untersuchende Objekt anzuwenden, ein Beweis für die Notwendigkeit einer neuen Theorie, die mit einem tiefer schürfenden Erkenntnisbereich einen weiteren Schritt in der Erkenntnis der objektiven Realität darstellt. Die klassische Mechanik, die die Bewegung der Makrokörper mit geringen Geschwindigkeiten widerspiegelt, erwies sich als zu eng für das Erfassen des Verhaltens von Mikroteilchen. Die Quantenmechanik überwand die Beschränktheit der klassischen Mechanik und widerspiegelte die Bewegung der Materie auf ihrer atomaren Stufe. Die Quantenmechanik, ihre Gesetze und Begriffe haben folglich einen objektiven Charakter, ebenso wie die klassische Mechanik und jede wissenschaftliche Theorie überhaupt. 3. Der Begriff der Realität in der Physik und einige zeitgenössische Autoren In der modernen Literatur über philosophische Fragen der Naturwissenschaft wird auch eine Auffassung des Realitätsproblems vertreten, die der oben angeführten Konzeption entgegensteht. So behauptet z. B. der namhafte Positivist Ph. Frank, anscheinend gegen die Metaphysik polemisierend, daß die moderne physikalische Wissenschaft kein Wort über die Materie oder den Geist sagt, dafür aber sehr viel über die Semantik spricht. Seiner Meinung nach handelt es sich darum, daß in die Erfahrungssätze der Physik diesen fremde Bedeutungen der Termini des gesunden Menschenverstandes hineingelegt wurden. Daraus ergibt sich die Meinung, als würde laut Relativitätstheorie „das Verschwinden der Materie" den Spiritualismus bestätigen, während der Physiker unter diesem Ausdruck bloß das Einsteinsche Gesetz versteht, das in einer bestimmten Gleichung die Größen der Masse, der Energie und der Lichtgeschwindigkeit verbindet. 2 2

Siehe Atti del Congresso Internationale di Filosofia. Relationi Introduttione, p. 3-16, G. C. Saksoni-Editore, Firenze 1958.

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Aber der Kern der Sache liegt eben darin, daß Frank stillschweigend „den Geist" in die Physik „einführt", denn für ihn widerspiegeln die physikalischen Begriffe nicht die objektive Realität, und die Termini, die diesen Begriffen entsprechen, bezeichnen bloß die Ergebnisse der Beobachtungen. Wenden wir uns nun dem Neothomisten G. Wetter zu. Er sieht einen Mangel der Bestimmung der Materie durch den dialektischen Materialismus darin, daß er die Frage, ob die Materie „die einzige und letzte Wirklichkeit" ist, nicht löst. Wetter behauptet, daß die Quantenphysik mit dem dialektischen Materialismus nur vereinbar ist, aber ihn nicht bestätigt, da die Deutung der Quantenphysik nicht nur vom Standpunkt des dialektischen Materialismus, sondern auch vom Standpunkt des Positivismus mit gleichem Erfolg vorgenommen werden kann. 3 Wetter hat nicht berücksichtigt, daß die Bestimmung der Materie, die er kritisiert, dialektischen Charakter trägt und deshalb jegliche „letzte Wirklichkeit" (unter der Wetter „Gott" versteht) ausschließt. Was die Quantenphysik anbetrifft, so erkennt diese die Veränderlichkeit der Atome und Mikroteilchen, ihre Unerschöpflichkeit, den innern Zusammenhang der korpuskularen Eigenschafben und der Welleneigenschafben der Materie an. All das — wie noch vieles andere — bedeutet aber, daß die Quantenphysik den dialektischen Materialismus bestätigt. Wenn die positivistischen Philosophen den Begriff der objektiven Realität aus dem philosophischen Umgang der modernen Wissenschaft zu verbannen suchen, so bemühen sich gewöhnlich die Physiker — wir sprechen hier nur von den Physikern, die sich selber nicht zu den Materialisten zählen — den Begriff der objektiven Realität bei der Untersuchung philosophischer Probleme der Naturwissenschaft zu bewahren. Dabei gewinnt oft die philosophisch-unbewußte Überzeugung des Gelehrten von der Existenz der Außenwelt, oder der naturgeschichtliche Materialismus, die Oberhand über die idealistischen oder agnostischen Anschauungen. Die Unkenntnis des dialektischen Materialismus führt diese Physiker im Endergebnis dazu, daß 3

Siehe O. A. Weiter, Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion, Hamburg 1958, S. 36/37.

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ihre Einwände gegen die idealistischen Anschauungen in der Wissenschaft einseitig und nicht genügend folgerichtig sind. Dies können wir besonders in den Arbeiten von Heisenberg und Born verfolgen. W. Heisenberg zählt sich selber nicht zu den Positivisten. Seine Auffassung widerspricht, seinen Worten nach zu urteilen, sowohl dem Materialismus als auch dem Idealismus. Er behauptet, daß „dem Realen" in der Quantenmechanik die gleiche entscheidende Bedeutung zukommt, wie auch in der klassischen Physik. Aber bei ihm wird der Begriff „das Objektive" vom Begriff „das Reale" abgesondert. Das Objektive, so behauptet Heisenberg, wird nur mathematisch beschrieben und ist das Mögliche, das Reale dagegen wird durch die Begriffe der klassischen Physik beschrieben. In der Quantenmechanik — sagt er — muß die klassische Idee von den „objektiv-realen Dingen" in bestimmter Hinsicht abgelehnt werden, die Idee „des Realen" aber bleibt, da bei Beschreibung der Atomexperimente in der Quantenmechanik die klassischen Begriffe nicht zu entbehren sind. 4 So deutet also Heisenberg den Begriff „das Objektive" im Geiste des Platonschen Idealismus und das „Reale" dient bei ihm als Syno nym der Beschreibung mittels der Begriffe der klassischen Physik. Andererseits stößt man bei Heisenberg auf Aussagen, denen der dialektische Materialismus zustimmen kann. Im folgenden führen wir einen Gedanken Heisenbergs an, der zu seiner sogenannten einheitlichen Theorie der Materie in Beziehung steht. „Es hat sich aber in den Experimenten der letzten Jahre herausgestellt, daß die Elementarteilchen sich bei Zusammenstößen mit großer Energieumsetzung ineinander verwandeln können . . . Diesen Sachverhalt kann man am einfachsten beschreiben, wenn man sagt, alle Teilchen bestehen im Grunde aus dem gleichen Stoff, sie sind nur verschiedene stationäre Zustände ein und derselben Materie . . . Es gibt nur eine einheitliche Materie, aber sie kann in verschiedenen diskreten stationären Zuständen existierén."5 Diesem Zitat möchte man nur hinzufügen, daß sein Verfasser folgerichtig bei der Ansicht bleiben möge, daß die Materie, von der er schreibt, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existiert. 4

5

Siehe W. Heisenberg, Wandlungen in den Grundfragen der Naturwissenschaften, Stuttgart 1959, S. 171. W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 32.

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Die Unmöglichkeit, den Begriff der objektiven Realität in der modernen Physik ausmerzen zu können, kommt besonders deutlich in den letzten Arbeiten von M. Born zum Ausdruck. Born kritisiert die Positivisten und unterstreicht, daß der Gelehrte in seinen „Sinneseindrücken mehr sehen muß als Halluzinationen, nämlich Botschafben von einer realen Außenwelt" 6 . Geräte, Elektronen, Atome, Felder sind ein Teil der an und für sich existierenden Außenwelt, sagt Born. Lehren, die dies leugnen, bezeichnet er als „physikalischen Solipsismus" 7 . Obwohl die durch den Positivismus gezogene Grenze zwischen der atomaren Welt und den gewöhnlichen Dingen in Beziehungen zur objektiven Realität nicht existiert, unterscheiden sich doch, wie Born völlig gerechtfertigt betont, die Atome und die gewöhnlichen Dinge voneinander. Born will gemeinsame Züge finden, die die Realität des „einfachen Menschen" — wie er sie bezeichnet — und die Realität der heutigen Wissenschaft vereinen. Zu diesem Zweck schlägt er vor, den Begriff der Invarianz zu verwenden. Entsprechend diesem Standpunkt, meint Born, sind die Dinge, die der einfache Mensch „reale Dinge" nennt, „Invarianten der Wahrnehmung", die der „Verstand . . . durch einen unbewußten Prozeß" konstituiert. 8 In der Relativitätstheorie ist die „Realität" das Intervall, das eine „Invariante des zeitlichen und räumlichen Aspekts" darstellt; in der Quantenmechanik sind es die Elektronen und andere Mikroteilchen, die „Invarianten des korpuskularen Aspekts und des Wellenaspekts" darstellen. Diese Gedanken von Born über die „Invarianz" sind von den dialektischen Ideen über die Einheit von Raum und Zeit, über den innern Zusammenhang von Welleneigenschaften und korpuskularen Eigenschaften durchdrungen. Wenn Born aber behauptet, daß die Invarianten durch den Verstand konstituiert werden, so ist diese Behauptung mit der Anerkennung der objektiven Realität der Außen6

M. Born, Physik und Metaphysik, in: Physik im Wandel meiner Zeit, Braunschweig 1958, S. III. ' M. Born, Physikalische Wirklichkeit, in: Physik im Wandel meiner Zeit, S. 246. 8 M. Born, ebenda, S. 110.

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weit unvereinbar. Überhaupt kann natürlich der Begriff „Invarianz" den Begriff „objektive Realität" nicht ersetzen, da er die Frage nicht beantworten kann, ob die gewöhnlichen Dinge, Atome, Elementarteilchen usw. unabhängig von der sie erkennenden Vernunft existieren, oder ob sie ihrem Wesen nach Produkte dieser Vernunft sind. Die letzte Frage entscheidet lediglich die Philosophie, Die richtige Anwendung des Begriffes der Invarianz — eines Begriffes der physikalisch-mathematischen Wissenschaften — setzt eine materialistische Lösung dieser Frage voraus. 4. Der Begriff der Realität in der

Quantentheorie

Die Quantenphysik ist ein glänzendes Beispiel für die philosophische Bedeutung, die der dialektische Materialismus und seine Auffassung von der Materie für die moderne Physik hat. Die Entdeckung der zweieinheitlichen Korpuskular-Wellennatur der sich bewegenden Mikroobjekte, auf der die Quantentheorie fußt, stellte dem philosophischen Denken eine ernste Aufgabe. Die empirischen Bilder (Korpuskular- und Wellenbild) des Verhaltens von Mikroobjekten werden von keinem Physiker bestritten. Wie aber sollen diese Bilder verbunden, synthetisiert werden? Das ist um so schwieriger, da Korpuskeln und Wellen dem Verstand als sich einander ausschließend erscheinen. Folgende Interpretationen einer solchen Synthese sind bekannt: 1. Die Mikroobjekte werden als Wellengebilde betrachtet. Der korpuskulare Aspekt bildet sich im Ergebnis der Interferenz der ursprünglichen Wellen (das „Wellenpaket" in der Theorie von Schrödinger). 2. Die Mikroobjekte werden als eigenartige korpuskulare Gebilde betrachtet, wobei die korpuskularen Eigenschaften die Realität nur als Ausdruck der unkontrollierbaren Wechselwirkung von Gerät und Mikroobjekt gewinnen. Den Welleneigenschaffcen der Mikroobjekte wird die Realität abgesprochen; die Wellen sind nur ein gewisses Bild der mathematischen Funktion, die die Wahrscheinlichkeiten der Messungsergebnisse von Mikroobjekten bestimmen (die Kopenhagener Interpretation von N. Bohr und W. Heisenberg). 79

3. Die Wellen- und Korpuskulareigenschaften von Mikroobjekten sind gleich real und existieren nebeneinander („Wellen-Pilot" von L. de Broglie's „kausaler Interpretation" der Quantenmechanik von L. de Broglie — D. Böhm — J . Vigier). Die erste Interpretation fiel aus dem Grunde weg, weil sie den Tatsachen nicht entsprach, obwohl bis auf den heutigen Tag Versuche ihrer Wiederherstellung in neuen Formen noch nicht aufgegeben werden. Die zweite Interpretation gewann eine große Verbreitung unter den theoretischen Physikern. I n der letzten Zeit wird sie stark angegriffen und teilweise modifiziert, indem sie von der Idee der „prinzipiellen Unkontrollierbarkeit", ihrem eigentlichen philosophischen Kern befreit wurde. Entsprechend dieser zweiten Auffassung sind die Korpuskularvorstellungen innerlich verbunden mit den Wellenvorstellungen in Form der „Komplementarität" des klassischen Impulses und der klassischen Koordinate mit der Beschreibung durch klassische Begriffe und der symbolischen Vorstellung durch Wellenfunktion, statistische Gesetze und Wellengleichungen vom Typus des dynamischen Gesetzes. Die zweite Auffassung oder genauer die Idee der Komplementarität stellt also ein gewisses Annähern an die Quelle der Dialektik — an die Einheit der Gegensätze — dar, schließt aber von vornherein die Fragestellung von hinsichtlich der Begriffe der klassischen Physik prinzipiell neuen Begriffen, Qwaw/ewbegriffen aus, was letzten Endes zu Schlußfolgerungen führt, die den objektiven Charakter der Quantengesetze und -großen leugnen. Die Frage nach der zweieinigen Korpuskular-Wellennatur der Mikroobjekte wird faktisch durch die Frage nach einander ausschließenden, aber komplementären Klassen von Geräten ersetzt. , Die dritte Interpretation hat noch keine entwickelte Form gefunden. In ihrer Evolution befreite sie sich allmählich von den Einseitigkeiten, die ihrer ursprünglichen Form eigen waren. In ihrer gegenwärtigen Gestalt unterstreicht sie mehr die Seite des Nebeneinanderbestehens des korpuskularen und Wellenaspekts, als die der Einheit und gegenseitigen Durchdringung beider Aspekte. I n dieser Interpretation kommt die Eigenschaft der Symmetrie des mathematischen Apparats der Quantenmechanik, d. h. die Symmetrie der Koordinate sowohl des Impulses oder Teilchens als auch der Welle nicht zum Ausdruck. 80

Jede der genannten Interpretationen versucht in ihren theoretischen Konstruktionen die entgegengesetzten Begriffe Teilchen und Welle zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden, aber in ihnen — und zwar in jeder auf eine besondere Art und Weise — kommt die Verbindung der Korpuskular- und Wellenvorstellungen in einer Form zum Ausdruck, die der Identität der Gegensätze von Teilchen und Welle inadäquat ist: Daraus folgen eben die Mängel dieser Auffassungen, von denen oben gesprochen "wurde. Die Entwicklung der Theorie des Atoms und der Mikroteilchen durchlief einen Weg, der zur Behauptung der zweieinigen Korpuskular-Wellennatur des Stoffes und des Feldes führte. Die Materie, d. h. der Stoff und das Feld, ist im ganzen weder ein Teilchen, noch eine Welle im Sinne der klassischen Physik, noch eine Vermengung von ihnen; sie besitzt vielmehr gleichzeitig die Eigenschaften von Wellen und Teilchen.9 Diesem dialektischen Standpunkt entspricht die Quantenmechanik, die die Bewegungsgesetze des Stoffes untersucht, der gleichzeitig die Eigenschaften von Korpuskeln und Wellen besitzt, im Unterschied zur klassischen Mechanik, die die Bewegung des Stoffes untersucht, die eine Berücksichtigung der Welleneigenschaffcen nicht erfordert. Der wesentliche Zug des Quantenformalismus — seine Symmetrie — widerspiegelt eben das korpuskulare Wesen und gleichzeitig die Wellennatur der Mikroobjekte. Es ist verständlich, daß die Quantengrößen Größen sui generis sind, da sich in ihnen gegenseitig ausschließende klassische Parameter untrennbar vereinigen. Dadurch entsteht ein neuer Begriff, der sich qualitativ von den sich verbindenden kor' Diesen dialektischen Standpunkt bei der Lösung der Frage über den Charakter der Synthese von Korpuskular- und Wellenvorstellungen haben viele Gelehrte betont. Siehe zum Beispiel D. S. Roshdestwenski, Die Analyse der Spektren und die Spektralanalyse, OFN, 1936, Bd. X V I , H. 7 ; I. E. Tamme, Neue Prinzipien der statistischen Mechanik von Bose-Einstein, U F N , 1926, Bd. VI, H. 2 ; D. I. Blochinzew, Grundlagen der Quantenmechanik, Moskau 1949; 8.1. Wawilow, Die Mikrostruktur des Lichts, Sämtliche Werke, Bd. II, Moskau 1952; auch seine Artikel über die philosophischen Fragen der Physik, Sämtliche Werke, Bd. III, Moskau 1956; Heber-Weber, Grundlagen der modernen Quantenphysik, Teil I, Leipzig 1956; W.A.Fock, Über die Interpretation der Quantenmechanik, U F N , 1957, Bd. X I I , H. 4. 6

Naturwissenschaft u n d Philosophie

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puskularen Seiten und Wellenseiten unterscheidet. Folglich, sind die Quantengrößen genetisch mit den klassischen Größen verbunden, können aber nicht auf sie reduziert werden, obwohl sie mit ihnen ähnliche Züge haben. Mathematisch drückt sich all das darin aus, daß in den Gleichungen der Quantenmechanik Symbole auftreten, die nicht gewöhnliche mathematische Größen bezeichnen (wie in der klassischen Physik), sondern abstraktere mathematische Gebilde (DifTerentialoperatoren und Matrizen), für die, allgemein ausgedrückt, das kommutative Multiplikationsgesetz ungültig ist. Die Eigenschaften dieser Gebilde drücken in mathematischer Form die Eigenschaften der Quantengrößen aus. Die von uns umrissene Auffassung der Quantentheorie, unsere Interpretation ihrer Begriffe geht in philosophischer Hinsicht mit der Kopenhagener Interpretation auseinander. Nach Heisenberg ist es überhaupt unmöglich, eine vollständige physikalische Beschreibung auf Grund des neuen „quanten-theoretischen" Begriffssystems zu geben. Es erhebt sich die Frage: Warum ist das unmöglich? Heisenberg beruft sich auf Weizsäcker und verweist darauf, daß die Begriffe der klassischen Physik bei der Interpretation der Quantentheorie eine ähnliche Rolle spielen, wie die Anschauungsformen a priori in der Kantschen Philosophie. Wie bei Kant die Raum-, Zeit- und Kausalbegriffe, die in seiner Philosophie Voraussetzung jeglicher Erfahrung sind, zu Begriffen a priori erklärt werden, so stellen auch die Begriffe der klassischen Physik — nach Heisenberg — die apriorische Grundlage der quantentheoretischen Erfahrung dar. Gleichzeitig aber lehnt Heisenberg den Anspruch des kantianischen ,apriori' auf das Absolute ab: die apriorischen Begriffe der klassischen Physik — behauptet er — sind untauglich für die Beschreibung der feinsten Experimente, mit denen es die Relativitätstheorie und die Quantentheorie zu tun hat. Schließlich handelt es sich in der Quantenphysik — nach den Worten Heisenbergs — nicht um die Natur als solche, sondern um die mit Hilfe apriorischer Begriffe der klassischen Physik „vom Menschen durchdachte und beschriebene Natur". 1 0 10

W. Heisenberg, Die Plancksche Entdeckung und die philosophischen Probleme der Atomphysik, in: Universitas, Februar 1959, S. 135—49.

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In Übereinstimmung mit den Anschauungen Heisenbergs gelangt man schließlich zur Schlußfolgerung, daß die Quantentheorie viel weniger den Menschen mit der atomaren Welt verbindet, als sie vielmehr voneinander trennt. In den Gedankengängen Heisenbergs zeigt sich, daß er der Dialektik der Begriffe, die die Dialektik der objektiven Realität widerspiegelt, keine Beachtung schenkt. Die Idee von der Veränderlichkeit und der Entwicklung der Begriffe wird schon längst in der Wissenschaft angewendet, obwohl sich nicht alle Forscher darüber Rechenschaft ablegen. Wenn einst der Begriff ,,Zahl" das bedeutete, was man heute „ganze Zahlen" nennt, so hat die Entwicklung der Mathematik den Begriff „Zahl" erweitert und seinen Inhalt durch Brüche, irrationale, transzendente und imaginäre Zahlen bereichert. Dasselbe beobachten wir auch in der physikalischen Wissenschaft: so hat sich zum Beispiel mit der Entwicklung der klassischen Physik die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Licht" oder „Schall" verändert. Heute wissen wir zum Beispiel, daß unsichtbares Licht und unhörbarer Schall existieren. So haben sich auch die Begriffe Masse, Energie usw. verändert, die zwar manches Gemeinsame mit den Ausgangsbegriffen behielten, gleichzeitig aber einen tieferen Inhalt gewonnen haben. Die nicht-klassische Physik bildet hierbei keine Ausnahme. So verändern sich mit dem Eindringen der Physik in die atomare Welt notwendigerweise die klassischen Begriffe, indem sie sich den allgemeineren und gehaltvolleren Begriffen unterordnen und in sie hinüberwachsen, in Begriffe, die zum Ausdruck bringen, daß ein weiterer Schritt auf dem Wege der Erkenntnis der Natur getan wurde. Bei der Bildung der nicht-klassischen Begriffe ist folgendes sehr wesentlich: Die klassischen Begriffe sind in der nichtklassischen Theorie, z. B. in der Quantentheorie nicht ausgeschlossen, sondern bleiben erhalten, aber sie treten hier schon nicht mehr als solche des Begriffssystems der klassischen Physik auf, sondern als Element der gebildeten Quantenbegriffe. So bleibt z. B. im Begriff des Quantenimpulses, sozusagen retrospektiv, der klassische Impuls in Form der eigentlichen Bedeutung des Operators des Impulses erhalten. Solch ein Gesetz der Bildung von Begriffen, wo aus einer Theorie eine zweite, breitere und gehaltvollere Theorie erwächst, wirkt nicht nur beim Übergang der klassischen Physik in die nichtklassische, o*

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sondern auch innerhalb der klassischen Physik (Entwicklung der Begriffe der Strahlung, der Masse usw.), in der Mathematik (Entwicklung der Begriffe Zahl, geometrische Gerade usw.) und in anderen Wissenschaften. In der Physik wirkt dieses Gesetz deshalb, weil die Angaben der Geräte nicht anders als in makroskopischen Erscheinungen wahrgenommen werden können. Folglich können bei der Beobachtung die klassischen Begriffe nicht entbehrt werden. 'Auf diese Weise findet die Lehre des dialektischen Materialismus über, die Materie als objektive Realität, die mit ihren dialektischen Widersprüchen von den Menschen immer voller und tiefer erkannt wird, in der Quantenphysik nicht nur eine erneute Bestätigung, sondern auch die Quantentheorie selbst findet im dialektischen Materialismus Antworten auf ihre philosophischen Fragen. Schlußfolgerung

In der modernen Physik finden die Gesetze der Dialektik schon lange ihre Anwendung. Sie werden von den Wissenschaftlern entweder unbewußt, unter dem Druck der neuen Entdeckungen, die in den Rahmen alter metaphysischer Vorstellungen nicht mehr hineinpassen, oder aber von den Wissenschaftlern, die den dialektischen Materialismus kennen und sich von ihm in ihren Forschungen leiten lassen, bewußt angewendet. Im ersten Falle werden die entsprechenden Ergebnisse unter großen Schwierigkeiten gewonnen und der Weg, der zu diesen Ergebnissen führt, ist in der Regel sehr kompliziert. Im letzteren Falle — alle anderen Bedingungen gleichgesetzt, ist der zu Ergebnissen führende Weg bedeutend kürzer und man gelangt unvergleichlich schneller zum Ziel. Die in der modernen Physik verbreitete methodologische Forderung, daß jede neue Idee die Errungenschaften der vorangegangenen wissenschaftlichen Forschungen aufzubewahren, die neuen Ergebnisse, die vorangegangene Ideen in Zweifel setzen, in befriedigender Weise zu erklären und neue Erscheinungen vorauszusagen hat, ist eine der Forderungen der dialektischen Methode. Die These, daß die klassischen Theorien als spezieller Fall, als Grenzfall der neuen Theorien zu bezeichnen seien (ein Satz, der in der modernen Physik eine ernste Rolle spielt) — ist ebenfalls eine Anwendung der Gesetze der Dialektik. 84

Die der Relativitätstheorie zugrunde liegende Idee vom inneren Zusammenhang der räumlichen und zeitlichen Begriffe oder die Idee von der Einheit der Korpuskular- und WellenVorstellungen, die von der Quantentheorie vertreten wird, sind ihrem Wesen nach Anwendungen des dialektischen Gesetzes von der Einheit der Gegensätze. Und so könnten zahlreiche Beispiele von Anwendungen der Gesetze der Dialektik in der modernen Physik angeführt werden. Die Wissenschaftler, auch die, die in ihren philosophischen Anschauungen dem dialektischen Materialismus sehr fernstehen, vertreten im Grunde genommen die gleiche Meinung. Die Auffassungen von M. Planck über das Verhältnis vom Relativen und Absoluten in der Physik, seine Behauptung, „daß von einem höheren Standpunkt aus sowohl die Berechtigung als auch die Einseitigkeit", der gegensätzlichen Wellen- und Korpuskularhypothesen des Lichts zu überschauen ist 11 , so wie viele andere seiner Äußerungen zeugen davon, daß Planck an die philosophischen Probleme der Wissenschaft dialektisch herangeht. N. Bohr spricht im Zusammenhang mit der Atomphysik von „tiefen Wahrheiten", „deren Gegenteil auch tiefe Wahrheit enthält". Bohr fügt hinzu, daß „auf den Zwischenstufen, auf denen die tiefe Wahrheit vorherrscht, . . . die Arbeit voller Spannung" ist „und . . . die Phantasie zur Suche nach einem festen H a l t " anregt. 12 Diese „tiefen Wahrheiten" sind eben die Wahrheiten der Dialektik, denen die marxistische Philosophie den erforderlichen Halt gibt. Ähnliche Äußerungen finden wir oft in den Arbeiten von Einstein, Heisenberg, Pauli, Born und anderer Wissenschaftler, die die moderne Physik gefördert haben. Die Errungenschaften dieser Gelehrten bestätigen in anerkennenswerter Weise den Gedanken Lenins, daß die neue Physik den dialektischen Materialismus gebiert, hervorbringt. Das Gerede, wonach dialektischer Materialismus und moderne Physik angeblich getrennte Wege gehen, wonach die moderne Physik unge11

12

M. Planck, Ursprung und Auswirkung wissenschaftlicher Ideen, in: Wege zur physikalischen Erkenntnis, Reden und Vorträge, 4. Aufl., Leipzig 1944, S. 250. N. Bohr, Diskussionen mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme der Atomphysik, in: Atomphysik und menschliche Erkenntnis, Braunschweig 1958, S. 66/67.

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achtet der materialistischen Dialektik und ihr entgegen — zu ihren Entdeckungen kommt, wurde von verschiedenen politischen und philosophischen Gegnern des Marxismus in Umlauf gesetzt, und von einzelnen Naturwissenschaftlern, die den antikommunistischen Vorurteilen der imperialistischen Reaktion Tribut zollen, unterstützt, hat aber in Wirklichkeit keinerlei vernünftige Begründung und wird durch den wissenschaftlichen Gehalt der Physik selbst widerlegt. Neben der spontanen Hinwendung der modernen Physik zum dialektischen Materialismus faßt dieser in der Physik deshalb immer mehr Fuß, weil er von den Wissenschaftlern bewußt als konsequent wissenschaftliche Philosophie der Naturwissenschaften angewendet wird. Der Sieg des dialektischen Materialismus in der Naturwissenschaft bedeutet nicht nur einen Sieg des materialistischen Geistes, der der Naturwissenschaft zugrunde liegt, über alle in ihr entstandenen Krisen, sondern auch die Schaffung der erforderlichen philosophischen Voraussetzungen für den weiteren Aufschwung der Wissenschaft. Historisch gesetzmäßig ist die Tatsache, daß gerade die UdSSR, die heute auf der Grundlage des Sieges des Sozialismus in die Periode des entfalteten Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft eingetreten ist, die kapitalistischen Länder in bezug auf die industrielle Anwendung der Atomenergie überholt und durch den erfolgreichen Start der ersten künstlichen Erdtrabanten und des Sonnentrabanten die Ära der Bezwingung des Kosmos eröffnet hat. Die Erreichung des Mondes durch eine sowjetische kosmische Rakete und das Umfliegen desselben durch die interplanetarische automatische Station ist die natürliche und hervorragende Fortsetzung dieser großen Leistungen der menschlichen Vernunft. Der Triumph der sowjetischen Wissenschaft und Technik ist ein Ausdruck der Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaft, ihrer großen Errungenschaften auf dem Gebiet der industriellen Entwicklung der Kultur und der Wissenschaft, der alles bezwingenden Kraft ihrer Weltanschauung. Die moderne Physik ist weder mit metaphysischen Dogmen, noch mit relativistischem Positivismus zu vereinen, worauf heute von vielen hervorragenden Vertretern dieser Wissenschaft hingewiesen wird. Dieser charakteristische Zug der modernen Physik entspricht vollkommen dem dialektischen Materialismus. Der dialek86

tische Materialismus ist kein vollendetes, ein für allemal gegebenes System, in das der Naturforscher seine Entdeckungen und Theorien hineinzuzwängen hat. Mit jeder neuen großen Entdeckung auf dem Gebiete der Naturwissenschaft muß der dialektische Materialismus unvermeidlich seine Form ändern und folglich seinen Inhalt durch neue Leitsätze und Folgerungen bereichern. Dieser Gedanke wurde schon von Engels geäußert, und Lenin hat glänzend bewiesen, was das faktisch bedeutet, indem er vom dialektisch-materialistischen Standpunkt die Errungenschaften der Naturwissenschaft Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert verallgemeinerte. Unsere Zeit zeichnet sich auf dem Gebiete der Entwicklung der Wissenschaft durch eine unzertrennliche, immer stärker werdende Verbindung zwischen Naturwissenschaft und dialektischen Materialismus aus. Der dialektische Materialismus bildet die philosophische Quelle der Entwicklung der modernen Physik und der gesamten modernen Wissenschaft.

DIE KATEGORIE MATERIE UND PHYSIK F. T. Archiptzew

DIE

MODERNE

(Moskau)

Die grundlegenden physikalischen Theorien des XX. Jahrhunderts — die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik und die Quantentheorie des Feldes — haben infolge des Zusammenbruchs der alten physikalischen Begriffe philosophische Grundfragen, wie Fragen nach der objektiven Realität des Gegenstandes der physikalischen Theorie, nach der Beziehung von Materie und Bewegung, von Raum und Zeit, von Kausalität und Determinismus, in den Vordergrund gestellt. Der Idealismus hat versucht, diesen tiefgehenden revolutionären Bruch mit den überlebten physikalischen Begriffen auszunutzen, um die philosophischen Probleme, die durch die neuen Theorien und Entdeckungen der Physik aufgeworfen wurden, einer ihm genehmen, antiwissenschaftlichen Deutung zu unterwerfen. Hierbei wurde ein besonderes Augenmerk auf die Kategorie der Materie und auf diejenigen Leitsätze der Philosophie gerichtet, die in dieser Kategorie ihren Ausdruck finden. Angesichts der neuen Angriffe, die in letzter Zeit sowohl von den offenkundigen Idealisten — den Thomisten als auch von den Neopositivisten und Revisionisten gegen die materialistische Weltanschauung, deren Wesen im Begriff der Materie zum Ausdruck kommt, unternommen wurden, haben die Marxisten verschiedener Länder Diskussionen geführt, die zur Klärung des Inhalts und der Bedeutung des Begriffs der Materie als philosophische Kategorie beitragen sollten. Die Diskussion dieses Problems in der DDR hatte zum Ziel, den Zusammenhang zwischen der Leninschen Definition der Materie und der Grundfrage der Philosophie zu ermitteln und die Beziehung der Materie zu ihren Daseinsformen: Bewegung, Raum und Zeit zu klären. 89

Eine klare und exakte Vorstellung in diesen Fragen ist unbedingt erforderlich, da die gleichen Probleme heute von der modernen Physik gestellt werden. Die Anhänger des dialektischen Materialismus müssen eine streng wissenschaftliche philosophische Grundlage für die Schaffung eines Weltbildes ausarbeiten, das den Ergebnissen der modernen Physik gerecht wird. In diesem Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit auf folgende Seiten der Kategorie der Materie lenken: Auf die Tatsache, daß der Begriff Materie eine Kategorie des Seins und der Erkenntnis ist und das Wesen der materialistischen Weltanschauung ausdrückt. Ich möchte zunächst die Leninsche Definition der Materie in Erinnerung bringen. Es ist allgemein üblich, sich auf die kurzgefaßte Definition der Materie zu berufen, die Lenin in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus" oft wiederholt. In dem vorliegenden Fall ist aber die erweiterte Definition vorzuziehen, die Lenin in seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus" gibt. Lenin schreibt: „Die Machisten zucken verächtlich die Achseln über die ,veralteten' Ansichten der ,Dogmatiker', der Materialisten, die sich an den Begriff der Materie halten, der ja durch die ,neueste Wissenschaft' und den .neuesten Positivismus' widerlegt sein soll.. . Es ist aber völlig unzulässig, die Lehre von dieser oder jener Struktur der Materie mit einer erkenntnistheoretischen Kategorie zu verwechseln, die Frage nach den neuen Eigenschaften der neuen Arten der Materie (zum Beispiel der Elektronen) mit der alten Frage der Erkenntnistheorie, der Frage nach den Quellen unseres Wissens, der Existenz einer objektiven Wahrheit u. a. m. zu verwechseln . . . Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, photographiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert. Davon zu reden, daß ein solcher Begriff ,veralten' kann, ist daher kindisches Geschwätz, eine sinnlose Wiederholung der Argumente der reaktionären Modephilosophie. Konnte der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in den zwei Jahrtausenden der Entwicklung der Philosophie veralten ? Der Kampf zwischen den Tendenzen oder Linien eines Plato und eines Demokrit in der Philosophie ? Der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft ? Zwischen der Verneinung der objektiven Wahrheit 90

und ihrer Anerkennung ? Der Kampf zwischen den Anhängern eines übersinnlichen Wissens und seinen Gegnern?"1 Das wichtigste in der Leninschen Definition der Materie ist die dialektisch-materialistische Lösung der Grundfrage der Philosophie, die Bekräftigung des Materialismus gegenüber dem Idealismus, die Verfechtung der Parteilichkeit in der Philosophie, die These von der Teilung der Philosophie in zwei Lager. Lenin weist hier klar und eindeutig auf den Zusammenhang hin, der zwischen Materie als philosophischer Kategorie und dem Kampf zwischen Materialismus und Idealismus, dem Kampf zwischen den Tendenzen Demokrits und Piatos in der Philosophie, dem Kampf zwischen der Wissenschaft und der Religion, der Anerkennung und der Ablehnung der objektiven Wahrheit besteht. Lenin legt seiner Definition des Begriffs der Materie nicht etwa die von den alten Materialisten des XVII. Jahrhunderts vertretene primitive Vorstellung von der Materie als einer erstarrten, inerten Substanz zugrunde, sondern die durch die Entdeckung des XIX. und Anfang des X X . Jahrhunderts erweiterte Vorstellung, die die Materie als die gesetzmäßige Bewegung der Welt in Raum und Zeit auffaßt. Daher identifiziert Lenin an mehreren Stellen die Begriffe Welt und Materie. Lenin bemerkt, daß die Materie nur dem Bewußtsein entgegengesetzt sei, und auch das nur in bestimmten Grenzen der erkenntnistheoretischen Grundfrage. Nur der Gedanke darf nicht in den Begriff der Materie einbezogen, als materiell bezeichnet werden. „. . . Den Gedanken aber als materiell bezeichnen, heißt einen falschen Schritt zur Vermengung von Materialismus und Idealismus tun", sagt Lenin, indem er auf den Irrtum von Dietzgen hinweist.2 Lenin kritisiert die Energetik nicht deshalb, weil diese die Bewegung, die Energie als Substanz der Welt anerkennt, sondern, weil sie die Bewegung von der Materie trennt und sie als die Bewegung der Empfindungen, der Vorstellungen, der Gedanken bezeichnet. Lenin charakterisierte die Auffassung Ostwalds, des Begründers der Energetik, mit den Worten: ,,. . . nicht unser Gedanke widerspiegelt die Verwandlung der Energie in der Außenwelt, sondern die Außenwelt 1 2

W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952, S. 118/119. Ebenda, S. 234.

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widerspiegelt die ,Beschaffenheit' unseres Bewußtseins". 3 Lenin betrachtet das Problem der Energie, der Bewegung, indem er von der Grundfrage der Philosophie ausgeht, und äußert die Meinung, daß der Materialismus durch folgenden Leitsatz ausgedrückt werden k a n n : ,, Ob wir sagen: die Welt ist die sich bewegende Materie, oder: die Welt ist die materielle Bewegung — dadurch wird die Sache nicht anders". 4 Und er f ü g t hinzu: „. . . In den Termini der E n e r getik' k a n n m a n (natürlich mehr oder minder konsequent) den Materialismus und Idealismus ebensogut ausdrücken . . ." 5 Wenn danach gefragt wird, ob Bewegung, R a u m und Zeit Materie oder aber vielmehr deren Eigenschaften sind, die deshalb nicht als Materie angesehen werden dürfen, so werden bei einer solchen Fragestellung zwei Probleme vermengt: Das Problem der Anerkennung der objektiven Realität der Außenwelt, der Anerkennung der Existenz außerhalb unseres Bewußtseins einer sich ewig bewegenden und sich ewig in Zeit und R a u m verändernden Materie mit dem Problem der Beziehung des Inhalts der Materie zu ihren Daseinsformen, zu Bewegung, R a u m und Zeit. Das erste Problem betrifft die Beziehung der Materie zum Bewußtsein im Rahmen der erkenntnistheoretischen Grundfrage. Lenin löst dieses Problem, indem er ausdrücklich erklärt, daß der Gegensatz zwischen Materie und Bewußtsein im Rahmen der erkenntnistheoretischen Grundfrage absolut sei, da es sich darum handelt, zu entscheiden, was primär und was sekundär ist. Soweit es um die Grundfrage der Philosophie geht, um die Gegenüberstellung des Materiellen und des Ideellen, des Materialismus und des Idealismus, benutzt Lenin die Kategorie der Materie als einen Begriff, der die Gesamtheit der objektiven Realität, d. h. nicht nur die materiellen Körper und Prozesse, sondern auch deren Eigenschaften und Beziehungen, nicht nur konkrete Arten der Materie, sondern auch ihre Daseinsformen (Bewegung, R a u m und Zeit) erfaßt. Lenin bemerkt jedoch, daß dieser Aspekt nicht mit dem qualitativen Unterschied zwischen dem dialektischen und dem metaphysischen Materialismus, mit der Aufdeckung der gesamten Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen der Materie verwechselt werden 3

Ebenda, S. 261/262.

92

4

Ebenda, S. 260.

5

Ebenda, S. 264.

dürfe. Um die Mannigfaltigkeit, die Vielseitigkeit der materiellen Wirklichkeit erschließen zu können, ist es erforderlich, den Zusammenhang und die Beziehung der Materie zur Bewegung, zu Raum und Zeit einer Betrachtung zu unterziehen. Während die Kategorie der Materie den Inhalt widerspiegelt, sind Bewegung, Raum und Zeit Daseinsformen der Materie. Doch da es keinen Inhalt ohne Form gibt, ist auch die Existenz der Materie ohne Bewegung, Raum und Zeit undenkbar und umgekehrt. Würde man aber in dieser Hinsicht noch weitergehen und behaupten, daß die von Lenin formulierte Definition der Materie einer Ergänzung bedürfe, d. h. daß sie in ihrer früheren Form veraltet sei, und daß eine solche Ergänzung in der Abgrenzung der Materie vom Materiellen bestehen müßte, wobei dem Materiellen der ganze Reichtum der Materie, namentlich Bewegung, Raum und Zeit und alle ihre Beziehungen und Eigenschaften zuzuordnen seien, so würde dies einem Verwischen des Gegensatzes zwischen Materialismus und Idealismus gleichkommen, wie dies mit Recht Gerhard Koch in seinem Artikel „Materialismus und Empiriokritizismus — eine Waffe im Kampf gegen die bürgerliche Ideologie" feststellt. 6 Ebensowenig darf man das Problem der Beziehung der Materie zum Bewußtsein dem der Beziehung der Materie zu ihren Eigenschaften und Daseinsformen gegenüberstellen oder beide Fragen gar voneinander trennen. So betrachtet auch Lenin die Probleme der Unzertrennlichkeit von Materie und Bewegung, des Zusammenhanges der sich bewegenden Materie mit Raum und Zeit unter dem Gesichtspunkt der Grundfrage der Philosophie: der Beziehung des Denkens zum Sein. Und umgekehrt versteht Lenin die Materie, die objektive Realität als sich in Raum und Zeit bewegend. Die Materie als philosophische Kategorie drückt das Wesen der materialistischen Weltanschauung aus, weil sie die wesentlichsten Züge der Wirklichkeit und deren Erkenntnis widerspiegelt, also eine Kategorie des Seins und der Erkenntnis ist. In der Definition Lenins, die die Materie als die objektive, uns in den Empfindungen gegebene Realität bezeichnet, werden zwei der wichtigsten Eigenschaften, die den Dingen und Naturerscheinungen • Einheit, Heft 10, 1958.

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zugrunde liegen, hervorgehoben. Es handelt sich erstens um die Eigenschaft aller Gegenstände und Erscheinungen der uns umgebenden Welt, objektiv, außerhalb und unabhängig von dem Bewußtsein des Menschen und der Menschheit zu existieren. Die Leninsche Definition der Materie verwirft jede Existenz einer göttlichen Ursache, sie lehnt einen Ursprung der Materie aus der Vernunft oder dem Willen, die die uns umgebende Welt erzeugt haben und heute noch die Welt regieren sollen, ab. Die Materie ist auch in dem Sinne primär, daß sie dem Bewußtsein, dem (reist vorangeht. Daher kann sie keinesfalls, wie die Idealisten behaupten, als die Gesamtheit der Empfindungen oder als das Anders-Sein des Geistes bezeichnet werden. Sie existiert ewig und ist von niemand erschaffen worden. Zweitens weisen die Dinge und Erscheinungen der Außenwelt einen sinnlichen und nicht einen übersinnlichen, einen natürlichen und nicht einen übernatürlichen Charakter auf. Das bedeutet, daß die Wirklichkeit nicht etwas jenseitiges ist, sondern daß die uns umgebenden realen Dinge und Erscheinungen direkt oder indirekt (über die Wechselwirkung mit anderen Gegenständen, namentlich auch über die Geräte) auf unsere Sinnesorgane einwirken und von uns wahrgenommen werden. Nachdem Lenin die Materie als objektive, uns in den Empfindungen gegebene Realität definiert hat, konkretisiert er diese Ausgangsthese des marxistischen philosophischen Materialismus, wobei er die Beziehung des Inhalts der objektiven Realität — der eigentlichen Materie — zu ihren wichtigsten allgemeinen Eigenschaften, den Daseinsformen, klärt. Aus der dialektisch-materialistischen Auffassung von der Materie lassen sich eine Reihe prinzipieller Thesen ableiten, die die Wirklichkeit charakterisieren. Die Thesen von der Unzertrennlichkeit von Materie und Bewegung; die Auffassung von der — ihrer Natur nach — materiellen Welt und ihrer Einheit; die Erkenntnis, daß die Materie letzter Grund, Basis, Quelle der gesamten qualitativen Vielfalt der Außenwelt ist; die Anerkennung der Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit der Materie, der Einheit der Materie und ihrer Daseinsformen Raum und Zeit, der Unerschöpflichkeit der Eigenschaften und der Bewegungsformen aller Dinge und Erscheinungen, der Unendlich94

keit der Materie in der Tiefe, der unendlichen Selbstentwicklung der Materie nach den Gesetzen der Dialektik. Die wichtigste, unzertrennliche Eigenschaft der Materie, ihr Attribut, ist die Bewegung. Die Ursache und die Quelle der Bewegung sind die inneren Widersprüche. Die Bewegung der Materie ist ihre Selbstbewegung, ihre Selbstentwicklung. Die dialektisch-materialistische Konzeption der Materie unterscheidet sich von der metaphysischen dadurch, daß sie die Materie als ewig in Bewegung begriffen charakterisiert. Obwohl der metaphysische Materialismus davon ausging, daß die Materie primär und das Bewußtsein sekundär seien, gelang es ihm nicht immer, den materialistischen Standpunkt folgerichtig durchzusetzen, da ihm der tatsächliche Zusammenhang zwischen Materie und Bewegung unbekannt war. Die Definition Lenins, die davon ausgeht, daß die Welt sich bewegende Materie sei, ist streng wissenschaftlich und materialistisch, da sie die Bewegung, die Veränderlichkeit der Welt in den Vordergrund stellt. Die Welt ausschließlich und nur als materiell zu bezeichnen, wäre eine einseitige Charakteristik, denn die Materie ist ohne Bewegung undenkbar. „Nur in der Bewegung läßt ein Körper erkennen, was er ist." 7 Die moderne Physik hat diese geniale Idee des dialektischen Materialismus glänzend bestätigt. In den letzten fünfundzwanzig Jahren ist die Theorie der „Elementarteilchen" und die Kernphysik durch eine Reihe von Entdeckungen, die sich auf die wechselseitige Umwandlung der Teilchen, ihren Übergang ineinander beziehen, bereichert worden. Die Vorstellung von der wechselseitigen Umwandelbarkeit der „Elementarteilchen" ist in die Physik 1933 mit der Entdeckung der Umwandlung des Elektrons und des Positrons in Photonen und umgekehrt eingeführt worden. Nach der Entdeckung des Antiprotons 1956 war experimentell nachgewiesen, daß die physikalische Umwandelbarkeit ausnahmslos allen „Elementarteilchen" eigen ist. Man kann sagen, daß die wechselseitige Umwandelbarkeit ein allgemeines Gesetz der „Elementarteilchen", dieser einfachsten z. Z. erkannten Materiearten ist, die das Fundament der Welt bilden. Jede beliebige Art der „Elementarteilchen" weist unter bestimmten 7 Marx-Engels,

Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 334.

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Bedingungen die Fähigkeit auf, sich, in andere Arten der Elementarteilchen umzuwandeln. Die „Elementarteilchen" können entstehen und verschwinden, indem sie sich in Teilchen anderer Art umwandeln. Dieses Gesetz der „Elementarteilchen" der Materie bestätigt die dialektische Entwicklungstheorie, die besagt, daß es keine unveränderlichen, nicht miteinander in Wechselbeziehung stehenden Arten der Materie gibt, daß ununterbrochene qualitative Veränderungen, Umwandlungen der einen Art sich bewegender Materie in eine andere Art derselben vor sich gehen. Auch die Entdeckung der Photonen (Lichtteilchen), die im Ruhezustand nicht existieren, spricht zugunsten der These, daß die Materie ohne Bewegung undenkbar ist. Unter den neuen Bedingungen des philosophischen Kampfes, als der „physikalische Idealismus" und eine seiner Abarten, der Energetismus, die Bewegung von der Materie losrissen, hat Lenin die These von Engels, daß nicht allein Materie ohne Bewegung, sondern daß auch „die Bewegung ohne Materie undenkbar sei" allseitig begründet und konkretisiert. Lenin erklärte, daß diese These von Engels für die Bestimmung „des Wesens des Materialismus unerläßlich, äußerst wichtig" sei. Die von Lenin an der Energetik geübte Kritik half und hilft den fortschrittlichen Wissenschaftlern in ihrem Kampf gegen alle möglichen Behauptungen über die „Annihilation" der Materie. Die Anhänger der modernen Energetik halten noch heute an der Behauptung fest, daß die Materie sich in Bewegung bzw. in Energie umwandele. Dabei versichern sie, sich auf experimentelle Tatsachen zu stützen, wie z. B. auf den Massendefekt, auf die Umwandlung des Elektron-PositronPaares in Photonen usw., die sie entstellt deuten. Es genügt, sich auf einen so hervorragenden deutschen Wissenschaftler, wie W. Heisenberg, zu berufen, der behauptet, daß die „Elementarteilchen" aus Energie „zusammengesetzt" seien, daß sie angeblich aus kinetischer Energie „entstehen" und daß die Energie sich in Masse „umwandelt", in Materie übergeht. 8 8

Die Plancksche Entdeckung und die philosophischen Grundfragen der Atomlehre, in: W. Heisenbergs „Wandlungen in den Grundfragen der Naturwissenschaft" 9. Auflage, S. Hirzel-Verlag, Stuttgart 1958, S. 175: „Denn die hohe kinetische Energie der zusammenstoßenden Teilchen kann nach der Relativitätstheorie in Masse verwandelt werden, sie wird tatsächlich dazu benutzt, neue Elementarteilchen zu erzeugen."

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Die marxistische These, daß die Materie außerhalb der Bewegung nicht existieren kann, daß die Bewegung die Daseinsweise der Materie ist, begründet das Prinzip der Materialität der Welt, beweist, daß die vielfältigen Erscheinungen in der Welt nicht isolierte, selbständige Wesenheiten darstellen, sondern verschiedene Arten der sich bewegenden Materie, daß es in der Welt nichts gibt, was immateriell, substantiell-geistig, übernatürlich wäre. Die Welt ist — ihrer Natur nach — einheitlich, und ihre Einheit besteht in ihrer Materialität. Lenin schrieb, daß eine halbwegs konsequente Philosophie die Einheit der Welt entweder aus dem Denken (Idealismus) ableiten kann,,,. . . oder aus jener objektiven Realität, die außer uns existiert und seit langem schon in der Erkenntnistheorie als Materie bezeichnet und von der Naturwissenschaft erforscht wird". 9 Unter den neuen Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung, als die bürgerliche Philosophie sich auf Erkenntnistheorie spezialisierte und einige Bestandteile der Dialektik einseitig und in entstellter Form auslegte (z. B. Relativismus), als sie die Entwicklung relativistisch interpretierte, jedes Moment der Ruhe, der Stabilität und Beständigkeit der Erscheinungen leugnete, trat Lenin entschieden gegen subjektivistische Vorstellungen in der Wissenschaft auf. „Außerdem", schrieb Lenin, „muß das allgemeine Entwicklungsprinzip mit dem allgemeinen Prinzip der Einheit der Welt, der Natur, der Bewegung, der Materie etc. vereinigt, verknüpft, vereinbart werden . . ,". 10 Lenin erklärte, indem er die philosophische Bedeutung der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft erläuterte, daß „die Naturwissenschaft zur Einheit der Materie führe". Die Entdeckungen der modernen Naturwissenschaft liefern neue Beweise zugunsten dieser These Lenins. Die wechselseitige Umwandelbarkeit der „Elementar"teilchen und Anti-Teilchen, die Umwandlung des Lichts in Stoff und umgekehrt, die Einheit der Felder und Stoffe — das alles zeugt von der Einheit der materiellen Welt, dient als Beweis dafür, daß es in der Natur „keine unversöhnlichen Gegensätze, keine gewaltsam festgelegten Abgrenzungslinien und Unterschiede gibt" (F. Engels). Die These von der Einheit der Welt stellt das wichtigste Element der von 9 10

W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 163. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 190.

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Naturwissenschaft und Philosophie

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Lenin formulierten Charakteristik der Materie als einer Kategorie des Seins dar. Zur Klärung des Inhalts der Kategorie der Materie als einer Kategorie des Seins ist es äußerst wichtig, die Einheit der Materie und ihrer Daseinsformen (Raum und Zeit) einer Analyse zu unterziehen. Die dialektisch-materialistische Auffassung, die die Welt als sich bewegende Materie bezeichnet, setzt voraus, daß diese Bewegung sich in Raum und Zeit vollzieht. ,,. . . In der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie, und die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als im Raum und in der Zeit." 1 1 Die Frage nach dem Zusammenhang von Materie einerseits und ihren Daseinsformen — Raum und Zeit — andererseits ist eine der wichtigsten Fragen der Philosophie. Es ist nicht verwunderlich, wenn diese Frage seit langem ein Angriffsobjekt der Idealisten war. Die Idealisten schränken den Begriff der Materie ein, indem sie Raum und Zeit von der Materie trennen. Sie verneinen nicht nur die objektive Realität der Materie, sondern auch die objektive Realität von Raum und Zeit. Die Frage nach der Beziehung der Materie zu Raum und Zeit ist ein altes Problem der Philosophie und der Naturwissenschaft. I n der Newtons chen Physik wurde die Vorstellung von dem sogenannten „absoluten Raum" und der „absoluten Zeit" entwickelt, deren Wesen als etwas, was „an sich" unabhängig von der Materie existiert, aufgefaßt wurde. Diese alte metaphysische Auffassung von Raum und Zeit wurde von der modernen Naturwissenschaft widerlegt. Die Naturwissenschaft hat die Lehre des dialektischen Materialismus bestätigt, daß die Bewegung der Materie sich stets in Raum und Zeit vollzieht. Der objektive Gehalt der Relativitätstheorie hat den Leitsatz des dialektischen Materialismus von der untrennbaren Einheit der Materie, des Raums und der Zeit bereichert. In der Tat werden Raum und Zeit von dieser Theorie als die Daseinsformen der Materie bezeichnet. Der von Lenin aufgestellte Grundsatz, daß die Materie nicht anders existieren kann als in Raum und Zeit, wird von der modernen Physik bestätigt und dient den fortschrittlichen Denkern als Waffe in ihrem Kampf gegen die Spekulationen der modernen „physikalischen" Idealisten. 11

W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 165.

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In den letzten Jahren hat sich unter den Physikern auf Grund der Relativitätstheorie die Meinung verbreitet, daß gemäß den Forderungen der relativistischen Kovariation die „Elementarteilchen" nicht dimensional seien und weder Form noch Größe besäßen, sondern Punktgebilde darstellten. Diese Schlußfolgerung einer physikalischen Theorie allein steht in offenem Widerspruch zur allgemeinen Schlußfolgerung der philosophischen Theorie, wonach es keinen adimensionalen materiellen Körper gibt, wonach die Materie und ihre konkreten Arten, so klein und elementar sie auch sein mögen, nicht außerhalb des Raums existieren können, sondern unbedingt räumliche Eigenschaften aufweisen müssen. Die moderne Theorie der „Elementarteilchen" hat die Vorstellung von ihrem Punkt-Charakter aufgegeben. Die theoretischen Physiker, die sich auf die experimentellen Angaben stützen, erkennen das Vorhandensein einer inneren Struktur der „Elementarteilchen" und deren Dimensionalität an. Folglich ist die Kenntnis dieses Grundsatzes, der zu den fundamentalsten Leitsätzen des dialektischen Materialismus gehört, und der besagt, daß die Existenz der Materie außerhalb von Raum und Zeit unmöglich sei, eine methodologische Waffe im Kampf der Physiker um eine höhere Entwicklungsstufe in der Theorie der „Elementarteilchen". Die Naturwissenschaft und die materialistische Philosophie sind schon lange zu dem Schluß gelangt, daß die Welt ewig existiert und daß sie von niemandem erschaffen wurde. Die ewige Existenz der Materie in der Zeit ist einer der wichtigsten Grundsätze der materialistischen Philosophie, der sich auf die jahrhundertelange Entwicklung der Naturwissenschaft und der Philosophie stützt. Die Auffassung vom Raum als einer allgemeinen Grundform der Existenz der sich bewegenden Materie ist gegen die idealistischen „Erfindungen" von der räumlichen Endlichkeit der Welt gerichtet und zeigt, daß alle in ihrer qualitativen Mannigfaltigkeit unendlichen Dinge und Erscheinungen der Welt eine räumliche Existenz aufweisen. Die Kategorien der marxistischen Philosophie stellen nicht nur „Grundbegriffe des Seins" dar, sondern sind gleichzeitig Kategorien der Erkenntnis. Die Materie als Kategorie der Erkenntnis bezeichnet die Quelle, das Objekt der Erkenntnis. Die Materie als das Widergespiegelte ist das Primäre. Sie kann ohne ihr Abbild — das Bewußt7*

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sein — existieren. Das Bewußtsein ist ein Abbild der Materie und kann ohne die Materie, die widergespiegelt wird, nicht existieren. Die sich bewegende Materie, die außerhalb und unabhängig von ihren Widerspiegelungsformen existiert, ihre Arten, Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen bilden die einzige Quelle der menschlichen Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe. Die materialistische Lösung des Problems vom Objekt unseres Wissens, die Auffassung von der Materie als der Quelle der menschlichen Vorstellungen, Begriffe und Theorien führen zur Anerkennung der Tatsache, daß unsere Vorstellungen, Begriffe und Theorien in sich die objektive Wahrheit enthalten. Die modernen Positivisten sind ebensowenig wie ihre Vorgänger imstande, die Dialektik des Übergangs vom Gegenstand der Empfindungen zur Empfindung des Gegenstandes zu erfassen, weshalb sie unsere Empfindungen für den Gegenstand der Erkenntnis halten. Diese menschlichen Empfindungen und Wahrnehmungen erhalten, je nach dem Geschmack der Autoren, die eine oder die andere Bezeichnung: „sinnliche Angaben" (sense data), „Elemente", „logische Konstruktionen", „Strukturen", „Erfahrungen" u. dgl. Eine solche Auffassung vom Objekt der Erkenntnis führt dazu, daß nicht die Klärung der Wechselbeziehungen zwischen den Dingen und Erscheinungen in der Natur und in der Gesellschaft als die Aufgabe der Erkenntnis betrachtet wird, sondern dieselbe auf die Klärung der Wechselbeziehungen zwischen den Empfindungen und Wahrnehmungen beschränkt wird. Die Anerkennung oder Ablehnung des Begriffs der Materie zeigt, inwiefern man den Aussagen der Sinnesorgane vertraut, wie man ihre Fähigkeit, die objektive Welt widerzuspiegeln, beurteilt. Die Anerkennung der Materie als einzige Quelle unserer Kenntnisse führt zu einer wahrhaft wissenschaftlichen Lösung des Problems der Wege und Gesetze der Erkenntnis und des Kriteriums der Wahrheit der menschlichen Erkenntnisse. Die Anerkennung der Tatsache, daß die Materie die Quelle unseres Wissens ist, daß die Erkenntnis eine Widerspiegelung der objektiven Welt im Bewußtsein darstellt, steht in engem Zusammenhang mit der Antwort auf die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit. Die Idealisten, die einen objektiven Inhalt unserer Erkenntnisse negieren 100

und bestreiten, daß diese eine Widerspiegelung der äußeren Welt sind, suchen nach den Kriterien der Wahrheit im Subjekt, im Denken. Der dialektische Materialismus dagegen, der die Erkenntnis als Widerspiegelung der materiellen Welt im Bewußtsein des Menschen im Prozeß seiner materiellen Tätigkeit auffaßt, sucht nach Wahrheitskriterien in der praktischen Tätigkeit des Menschen, die die Umgestaltung der Welt zum Ziel hat. Die praktische Tätigkeit des Menschen hat ihrerseits den Menschen zu der Überzeugung gebracht, daß die objektive Welt, die Materie, Quelle aller seiner Erkenntnisse ist. Die marxistisch-leninistische Auffassung von der Praxis ist mit der Anerkennung der Materie als Quelle unseres Wissens, mit der Anerkennung der Existenz der objektiven Wahrheit organisch verbunden. Sie geht von der Tatsache aus, daß das Objekt der menschlichen Tätigkeit, sowohl der erkennenden als auch der praktischen, außerhalb des Menschen existiert. Der praktischen Tätigkeit des Menschen liegen objektive Gesetze der äußeren Welt — der Natur und der Gesellschaft — zugrunde. Der von Lenin formulierte Grundsatz, daß eine wahrhaft wissenschaftliche Auffassung von der Praxis als Grundlage der Erkenntnis und als Kriterium der Wahrheit unmöglich ist, wenn man die Existenz der Materie, der objektiven Welt außerhalb und unabhängig von der praktischen Tätigkeit der Menschen nicht anerkennt, ist gegen die subjektive Auffassung von der Praxis gerichtet, die als persönlicher Erfolg, als individuelle Tätigkeit des Menschen, als Befriedigung seiner Wünsche und Bestrebungen hingestellt wird. Lenin schrieb: „. . . Für einen Materialisten beweist der „Erfolg" der menschlichen Praxis die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der objektiven Natur der von uns wahrgenommenen Dinge. Für den Solipsisten ist „Erfolg" alles, wessen ich in der Praxis bedarf . . ," 12 " Ebenda, S. 128/129.

DAS E I N D R I N G E N I N D I E T I E F E ELEMENTARTEILCHEN J. P. Terletzki

DER

(Moskau)

Ein bedeutender Teil der gegenwärtigen experimentellen und theoretischen Forschungen der Physiker ist dem Studium der Elementarteilchen, den einfachsten uns heute bekannten Strukturelementen des Stoffes gewidmet. Zur Erforschung der physikalischen Eigenschaften der Elementarteilchen, der Gesetze ihrer Wechselwirkung und gegenseitigen Umwandelbarkeit werden riesige Beschleuniger für Ionen und Elektronen — Phasotrone, Synchrophasotrone, Synchrotrone, Betatrone und lineare Beschleuniger — errichtet. Für diesen Zweck werden auch die kosmischen Strahlen ausgenutzt. 1 Beim Experimentieren mit Bündeln schneller Teilchen in den Beschleunigern oder in der kosmischen Strahlung, sind in den letzten Jahren die fundamentalsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Physik gemacht worden, die die Grundgesetze und Gesetzmäßigkeiten der einfachsten Formen der Materie offenbaren. Es sind bereits direkte experimentelle Untersuchungen der Struktur der Elementarteilchen selbst, die bis in die letzte Zeit hinein von vielen Physikern als strukturlos, sozusagen als „letzte" Bausteine des Weltalls betrachtet wurden, im Gange. Auf diese Weise drangen die Physiker in das Innere der „Elementar"-Teilchen selbst ein und bestätigen damit nicht nur die tiefgründige Prophezeiung Lenins von der Unerschöpflichkeit des Elektrons, sondern hoben die These von der in die Tiefe gehenden Uner1

Das sind schnelle geladene Teilchen, die durch die elektromagnetischen Felder der Sterne und der interstellaren Materie beschleunigt werden und ständig aus dem interplanetaren Raum in die Atmosphäre der Erde eindringen.

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schöpfJichkeit der Materie als eines der Leitprinzipien der Physik der Elementarteilchen hervor. Die in jüngster Zeit entdeckten Gesetzmäßigkeiten der einfachsten Formen der Materie bestätigen und konkretisieren darüber hinaus die allgemeinen Lehrsätze der materialistischen Dialektik. Sie zeigen weiterhin, daß das Gesetz von der Einheit der Gegensätze und der Satz von der materiellen Einheit der Welt die Leitprinzipien beim Aufbau einer Theorie der Elementarteilchen sind. Damit wurde die Leninsche Voraussage bestätigt, daß die Physik den dialektischen Materialismus gebiert. Bisher sind 23 Elementarteilchen experimentell entdeckt worden, und es gilt als sicher, daß noch weitere — bisher nicht entdeckte — sieben Teilchen existieren. Die Annahme der Existenz dieser sieben Teilchen gründet sich auf zuverlässige theoretische Überlegungen, oder auf indirekte experimentelle Beobachtungsdaten. Theoretisch wird sogar die Existenz noch weiterer etwa zehn Elementarteilchen als möglich angesehen, jedoch haben diese rein theoretischen Überlegungen noch nicht zu überzeugenden Voraussagen geführt. Die Mehrzahl der entdeckten Teilchenarten ist instabil, d. h. diese Teilchen zerfallen spontan in andere Elementarteilchen und bilden am Ende der Zerfallsreaktion stabile Teilchen. Sie existieren nur während eines begrenzten, in der Regel äußerst kleinen Zeitraums und entstehen im Prozeß des Zusammenstoßes schneller, stabiler Teilchen. Zu ihrer Bildung sind Teilchenströme mit sehr hohen Energien notwendig. Von den stabilen Teilchen waren lange Zeit nur das Proton, das Elektron und das Photon bekannt. Später wurden das Positron und Neutron entdeckt und vor kurzem das Antiproton und das Antineutrino. Es gibt auch indirekte experimentelle Beweise f ü r die Existenz des Neutrinos. Jedes Elementarteilchen hat seine streng bestimmte Masse, elektrische Ladung, Spin (Drehmoment des Teilchens), sein eigenes bestimmtes Magnetmoment, sowie einige spezifische Charakteristika, wie z. B. Barionenzahl, Leptonenzahl, ,,strangeness", Parität, „helicity" und bestimmte Konstanten der Wechselwirkung mit anderen Teilchen. Fast alle Elementarteilchen, außer dem Photon und dem neutralen jr-Meson, bestehen aus Paaren von Teilchen und Antiteilchen. Teilchen und Antiteilchen haben streng gleiche Massen und einige andere Eigenschaften gemeinsam, sind aber gegensätzlich in 104

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der elektrischen Ladung, in der Barionenzahl, der Leptonenzahl und der „strangeness". Auf diese Weise äußert sich die Einheit und Identität der Gegensätze in der Mikroweit in der einfachsten Form. Wenn im Prozeß der Wechselwirkung der Elementarteilchen qualitativ neue Teilchen entstehen, so vollzieht sich das in der Regel auf dem Wege der Bildung eines Paares von Teilchen und Antiteilchen, d. h. das qualitativ Neue entsteht auf dem Wege der Spaltung der Ausgangsmaterie auf der Grundlage sich gegenseitig ausschließender Gegensätze. Alle bekannten Elementarteilchen können in vier qualitativ verschiedene Gruppen zusammengefaßt werden (siehe Tabelle). Wenn man alle Teilchen nach steigender Masse ordnet, so gehört zur ersten Gruppe lediglich das Photon, in die zweite Gruppe — die Gruppe der Leptonen — werden das Neutrino und Antineutrino, das Elektron und Positron, sowie das negative und positive /¿-Meson eingehen. Zur dritten Gruppe gehört die Gruppe der Mesonen — das positive, das neutrale und das negative jr-Meson sowie die vier schweren Mesonen (das positive, das negative und zweineutrale /i-Mesonen). Schließlich gehören zur vierten Gruppe — die Gruppe der Barionen — die Nukleonen und Antinukleonen, d. h. das Proton und Antiproton, das Neutron und Antineutron, sowie die Hyperonen — das sind instabile Teilchen, die noch größere Massen als die Masse der Nukleonen besitzen. Insgesamt sind fünf Hyperonen bekannt, jedoch wird das Vorhandensein eines weiteren Hyperons sowie der entsprechenden sechs Antihyperonen vorausgesagt. Die Entdeckung der Z- und E- Antihyperonen kann mit Hilfe des großen Synchrophasotrons des Vereinigten Instituts für Kernforschung in Dubna verwirklicht werden. Eine der fundamentalsten Eigenschaften der Elementarteilchen ist ihre völlige gegenseitige Umwandelbarkeit, die mit der Entdeckung des Antiprotons Ende 1955 vollends bestätigt wurde., Jedes Elementarteilchen kann sich entweder spontan oder im Zusammenwirken mit dem entsprechenden Antiteilchen in ein qualitativ anderes Teilchen umwandeln. Es gibt kein Teilchen, aus dem sich in der Wechselwirkung mit dem Antiteilchen nicht ein beliebig anderes Teilchen bilden könnte. Die Materie existiert auch in ihren einfachsten Formen in einer Einheit und kann sich aus der einen Form in eine qualitativ andere Form verwandeln. Folglich liegt der Physik der Elementar106

teilchen der Lehrsatz des dialektischen Materialismus von der materiellen Einheit der Welt zugrunde, der das Fundament der gesamten gegenwärtigen Physik bildet. Eine andere wichtige Entdeckung ist die Aufstellung neuer Erhaltungssätze. Die Erhaltung der Barionenzahl — oder in einer engeren Formulierung die Erhaltung der Zahl der Nukleonen — ist ein neues, fundamentales Erhaltungsgesetz, daß die vermeintlichen Möglichkeiten der völligen Verwandlung des Stoffes in Strahlung einschränkt. Es ist also nicht möglich, die Energie, die nach dem bekannten Einsteinschen Verhältnis E = m • c2 potentiell in jedem beliebigen Stoff enthalten ist, völlig in Strahlung zu verwandeln und auszunutzen. Es wurden auch die Gesetze von der Erhaltung der Leptonenzahl und der „strangeness" aufgestellt, wobei das letztere Gesetz nicht absolut gilt, sondern bei einigen Reaktionen verletzt wird. Dieser Umstand bedarf noch einer tiefen theoretischen Auslegung. Besonders überrascht waren die Physiker von der Entdeckung der Nichterhaltung der Parität, die von den in den USA arbeitenden chinesischen Physikern Lee und Yang im Jahre 1956 gemacht wurde. Das Gesetz von der Erhaltung der Parität wurde in der Quantentheorie als eine unvermeidliche Folge der absoluten Symmetrie des Raums bezüglich der Spiegelreflexion angesehen. Ähnlich werden in der Quantenmechanik auch die Gesetze von der Erhaltung der Energie, des Impulses und des Drehmoments als Folge der Homogenität der Zeit sowie der Homogenität und Isotropie des Raumes abgeleitet. Die letzteren Gesetze sind absolut, sie werden in keinerlei Prozessen verletzt. Als ein solches absolutes Gesetz wurde bis in die letzte Zeit auch das Gesetz von der Erhaltung der Parität angesehen. Jedoch führten die Eigenschaften der schweren Mesonen, die bei Experimenten in Beschleunigern mit Bündeln dieser Teilchen entdeckt wurden, Lee und Yang zur Hypothese von der Verletzung dieses Gesetzes, und zwar bei Reaktionen, die durch sogenannte schwache Wechselwirkungen bedingt werden. Diese Hypothese wurde durch Wu und andere Physiker in Prozessen des radioaktiven Zerfalls nachträglich überprüft und glänzend bewiesen. Die Nichterhaltung der Parität stellte die Physiker vor die Notwendigkeit, einige grundlegende theoretische Auffassungen über die Elementarteilchen zu überprüfen. Insbesondere mußte die Auffassung einiger Physiker von der Strukturlosigkeit der Elementar107

teilchen revidiert werden, denn das Vorhandensein einer inneren Struktur der Teilchen vom Spiraltypus könnte natürlich die beschränkte Gültigkeit des Gesetzes von der Erhaltung der Parität erklären. Das Vorhandensein einer inneren Struktur, die sich in einer bestimmten räumlichen Verteilung der elektrischen Ladung der Nukleonen äußert, wurde vor kurzem auch in den Experimenten von Hofstalter entdeckt. Eine solche Verteilung wurde bei der Zerstreuung eines Elektronenbündels, das in einem großen linearen Beschleuniger erzeugt wurde, auf Wasserstoff und Deuterium gefunden. Damit wurde die Auffassung von der Punktförmigkeit der Elementarteilchen verworfen, die von vielen Physikern lange Zeit als die einzig mögliche betrachtet wurde. Jede dieser Entdeckungen bestätigt die tiefgründige Leninsche These von der Unerschöpflichkeit der Materie in der Tiefe, von der Unerschöpflichkeit sogar der einfachsten Formen der Materie — der Elementarteilchen. Die Mehrheit der Physiker — sowohl die Experimentatoren als auch die Theoretiker — lassen sich bei der Erforschung der Elementarteilchen von diesem Lehrsatz leiten. Die oben aufgezählten Entdeckungen sowie viele andere experimentelle Tatsachen bestätigten eine Reihe von Lehrsätzen der allgemeinen Theorie der Elementarteilchen, wie sie in Form der Quantentheorie der Wellenfelder besteht. Jedoch entstanden durch diese Tatsachen eine Reihe weiterer Probleme, die von der Quantentheorie der Wellenfelder nicht erschöpfend beantwortet werden konnten. Diese Theorie in der — bis zur letzten Zeit allgemein angenommenen — linearen Form war nicht in der Lage, die Massenspektren der Elementarteilchen (d. h. das Gesetz von der Massenverteilung der Elementarteilchen) zu erklären. Sie konnte zwar die Existenz der Antinukleonen und der yr-Mesonen, jedoch nicht die Hyperonen und die schweren Mesonen voraussagen. Die in der obigen Tabelle dargestellte Systematik der Elementarteilchen war halbempirisch aufgestellt worden. Obgleich sie in den Rahmen der Theorie hineinpaßte, war diese Systematik jedoch nicht die allein mögliche. Die neuen grundlegenden Erhaltungsgesetze, wie das Gesetz von der Erhaltung der Barionenzahl und der Erhaltung der „strangeness", wurden empirisch entdeckt und fanden keine einheitliche theoretische Erklärung. Mit dieser Theorie konnten 108

die Beziehungen zwischen den Wechselwirkungskonstanten nicht erklärt werden, die allein in der Lage gewesen wären, eine widerspruchsfreie Theorie von den inneren Kernkräften zu geben. Große Schwierigkeiten traten bei den Versuchen auf, die innere Struktur der Elementarteilchen zu erklären, weil der Quantentheorie der Wellenfelder die Vorstellung von der Strukturlosigkeit der Elementarteilchen zugrunde liegt, die als Quantenerregungen betrachtet werden. Es stellte sich heraus, daß die bestehende Theorie zwar viele allgemeine Züge der Bewegung richtig widerspiegelt — so die Wechselwirkung und die gegenseitige Umwandelbarkeit der Elementarteilchen —, daß sie aber nicht in der Lage ist, jene grundlegenden Tatsachen befriedigend zu erklären, die ihre inneren Eigenschaften widerspiegeln. Vor der theoretischen Physik entstand nun als das aktuellste Problem die Notwendigkeit, eine Theorie vom Aufbau oder der Struktur der Elementarteilchen aufzustellen. Die Schaffung einer solchen Theorie vom inneren Aufbau der Elementarteilchen begann die Physiker bereits Anfang dieses Jahrhunderts zu interessieren. Abraham, Lorentz, Poincaré und andere bekannte Physiker schlugen Modelle von Elektronen und Protonen vor, wobei sie von der Hypothese einer einheitlichen elektromagnetischen Natur der Materie ausgingen. Jedoch wurden in diese Modelle künstlich hypothetische Kräfte hineingebracht, die nicht aus der elektromagnetischen Theorie selbst gefolgert werden konnten. Daher waren diese Versuche lediglich als Arbeitshypothesen anzusehen, die helfen sollten, Wege für den Aufbau einer vollkommeneren Theorie zu finden. Etwas später wurde von Einstein, Born, Infeld und anderen festgestellt, daß Teilchen mit einer für sie charakteristischen Struktur als spezielle Lösungen einer nichtlinearen Theorie erhalten werden könnten, deren Gleichung sich qualitativ von der Gleichung eines gewöhnlichen elektromagnetischen Feldes unterscheidet. In ihr sind Glieder vorhanden, die nichtlineare Funktionen der Feldkomponenten und ihres Differentialquotienten enthalten. Diese Forschungsergebnisse klärten die reichhaltigen Möglichkeiten, die bei einer nichtlinearen Verallgemeinerung der Feldtheorie für den Aufbau einer Theorie der inneren Struktur der Elementarteilchen entstehen. Jedoch war noch keine endgültige Theorie geschaffen worden, die die Eigenschaften konkreter Teilchen erklären konnte. 109

Die Aufmerksamkeit für die nichtlinearen Theorien wurde in hohem Maße durch die schnelle Entwicklung der allgemeinen Quantenfeldtheorie abgeschwächt. Diese umging die Frage der Struktur der Elementarteilchen, konnte jedoch die Prozesse der Wechselwirkung und der gegenseitigen Umwandlung der Elementarteilchen erfolgreich klären. Unter den theoretischen Physikern verbreitete sich sogar die Meinung, daß die nichtlinearen Verallgemeinerungen ohne Perspektive wären, da die Ergebnisse einer großen Anzahl von Versuchen mit Hilfe der Quantentheorie der linearen Wellenfelder erklärt werden konnten. Nur der unbefriedigende allgemeine Zustand der Theorie, der sich aus der Verbindung mit den experimentellen Tatsachen ergab, welche die innere Struktur der Teilchen widerspiegelten, lenkte die Aufmerksamkeit einzelner Physiker erneut auf die nichtlineare Feldtheorie. Mit ihrer Ausarbeitung begannen sich — seit 1953 — solche großen Physiker wie der französische Wissenschaftler Louis de Broglie und der deutsche Wissenschaftler Heisenberg zu beschäftigen. Anfang 1958 wurde die nichtlineare Theorie der Elementarteilchen überall diskutiert, nachdem sich der Schweizer Physiker Pauli der von Heisenberg ausgearbeiteten Theorie angeschlossen hatte. Allerdings verhielt sich Pauli später wiederum skeptisch gegenüber dieser Theorie, was das allgemeine Interesse an ihr abschwächte. Man darf jedoch bei der Einschätzung der Bedeutung einer Theorie nicht von Erwägungen einer theoretischen „Mode" oder der Meinung dieses oder jenes, wenn auch großen Physikers ausgehen. Die vorläufigen Ergebnisse Heisenbergs sind sehr vielversprechend, weil sie die natürliche Systematik der Elementarteilchen und ihre Grundeigenschaften qualitativ erklären. Hierzu war die traditionelle Quantentheorie der linearen Wellenfelder nicht in der Lage. Der Theorie Heisenbergs liegt die Vorstellung einer einheitlichen Materie, eines einheitlichen materiellen Spinorfeides zugrunde, das sich einer bestimmten nichtlinearen Gleichung fügt. Heisenberg gibt neue Regeln zur Quantelung des nichtlinearen Feldes und erhält die bekannten Elementarteilchen mit ihren grundlegenden Eigenschaften als eigene Lösung des entsprechenden Quantenproblems. Dabei erhält man einen annähernden Wert der Massen der Elementarteilchen und auch den Wert der Wechselwirkungskonstanten. Außerdem sind in dieser Theorie neue Erhaltungssätze enthalten. 110

Obgleich die Übereinstimmung der theoretisch errechneten Größen mit ihren experimentellen Werten vorläufig nicht sehr gut ist, kann jedoch das annähernde Zusammenfallen als ein großer Erfolg der Theorie betrachtet werden. Man kann annehmen, daß der grundlegende Beitrag Heisenbergs in der Einführung neuer, verbesserter Quantelungsregeln besteht. Die Idee des einheitlichen materiellen Feldes wurde bereits früher von de Broglie ausgesprochen, und die nichtlinearen Gleichungen des Spinorfeides haben bereits D. D. Iwanenko und andere Autoren früher erforscht. Somit ist ein Erfolg auf dem Wege einer gewissen Abänderung der Quantentheorie des einheitlichen nichtlinearen Feldes erreicht. Radikale Änderungen in der Theorie der Elementarteilchen werden von de Broglie und anderen Physikern vorgeschlagen, indem sie ein bereits von Einstein aufgestelltes Programm entwickeln. De Broglie schlägt vor, von der Vorstellung eines einheitlichen (nichtgequantelten) materiellen Feldes auszugehen, das eine einheitliche Materie der Elementarteilchen darstellt. Besondere, sogenannte teilchenartige Lösungen der nichtlinearen Gleichung dieses Feldes, die sich nur in einem begrenzten Gebiet, das in den Ausmaßen mit denen der Elementarteilchen zusammenfällt, wesentlich von Null unterscheiden, werden als Darstellung der Elementarteilchen selbst betrachtet. Die Quantengesetze der Bewegung und der Umwandlung der Teilchen werden nicht wie in der gewöhnlichen Quantentheorie (darunter auch in der Theorie Heisenbergs) postuliert, sondern man erhält sie als allgemeine Folge der Theorie der Bewegung und Veränderung besonderer teilchenförmiger Lösungen der Feldgleichungen. Es ist wesentlich, daß man in dieser Theorie die Struktur der Elementarteilchen ohne irgendwelche ergänzenden Annahmen erhält wie die Verteilung des materiellen Feldes innerhalb des Bereiches der besonderen Lösungen. Durch die Ausarbeitung der letzten Variante der nichtlinearen Theorie sind wichtige Resultate erzielt worden. Die unter der Führung von de Broglie arbeitende Gruppe zeigte, daß man die natürliche Systematik der Elementarteilchen als ein Ergebnis dieser Theorie betrachten kann. Mit konkreten Berechnungen über die Struktur der Elementarteilchen wurde bereits begonnen. Durch diese Berechnungen, die mit Hilfe von Elektronenrechenmaschinen von unserer Gruppe an der Moskauer Universität durchgeführt wurden, konnte festgestellt 111

werden, daß sich bei dieser Theorie die Massenspektren als begrenzt erweisen, d. h., daß sie imstande ist, die Begrenztheit der Anzahl der existierenden Elementarteilchen zu klären, was die gewöhnliche Quantenfeldtheorie nicht zu klären vermochte. Leider sind die Berechnungen der nichtlinearen Gleichungen äußerst kompliziert und mühsam. Infolgedessen hat man bisher noch keine zuverlässigen Werte für die Massen der Elementarteilchen erhalten. Somit wurde auch noch keine entscheidende Gegenüberstellung zwischen der Theorie und der Erfahrung durchgeführt. In dieser sowie in den vorangegangenen Varianten der Theorie ist die Möglichkeit für die Erklärung neuer Erhaltungssätze enthalten. Es besteht die begründete Aussicht, daß sowohl die Heisenbergsche, als auch die de Brogliesche Variante von der nichtlinearen einheitlichen Theorie der Elementarteilchen zu einer allgemeinen, vollkommeneren nichtlinearen Theorie führen wird. Diese Theorie wird in der Lage sein, das Massenspektrum und die Grundparameter der Elementarteilchen zu berechnen, sowie die Grundeigenarten ihrer Struktur zu erklären. Der Unterpfand des Erfolges dieser theoretischen Richtungen ist dadurch begründet, daß ihnen die Auffassungen von einer einheitlichen Materie, von einem einheitlichen, nichtlinearen, sich sozusagen selbst erzeugenden Feld, das Teilchen und Antiteilchen als gegenseitige, identische Gegensätze enthält, zugrunde liegen. Diese Thesen, die sich aus dem Experiment ergeben haben, befinden sich in voller Übereinstimmung mit der materialistischen Dialektik, sie präzisieren ihre Gesetze und entwickeln sich weiter.

ÜBER

KAUSALITÄT

Robert Havemann

(Berlin)

Lenin bemerkt in seinem „Philosophischen Nachlaß", daß „die Allseitigkeit und der allumfassende Charakter des Weltzusammenhangs . . . durch die Kausalität nur einseitig, bruchstückweise und unvollständig zum Ausdruck gebracht wird." 1 Lenin notiert dann in diesem Zusammenhang die folgenden Sätze aus Hegels „Wissenschaft der Logik": „Die Notwendigkeit ist das Sein, weil es ist; die Einheit des Seins mit sich selbst, das sich zum Grunde h a t ; aber umgekehrt, weil es einen Grund hat, ist es nicht Sein, ist es schlechthin nur Schein, Beziehung oder Vermittlung. Die Kausalität ist dies gesetzte Übergehen des ursprünglichen Seins, der Ursache in Schein oder bloßes Gesetztsein, umgekehrt, des Gesetztseins in Ursprünglichkeit; aber die Identität selbst des Seins und Scheins ist noch die innere Notwendigkeit. Diese Innerlichkeit oder dies Ansichsein hebt die Bewegung der Kausalität auf; damit verliert sich die Substantialität der im Verhältnisse stehenden Seiten, und die Notwendigkeit enthüllt sich". 2 In diesen Sätzen bringt Hegel zum Ausdruck, daß die Kausalität nur die äußerliche Form, der Schein der inneren Notwendigkeit ist. Nicht in dem Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, sondern in der dem ganzen Prozeß zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeit, im Grunde, nicht in der Ursachenkette, liegt das Wesen der Notwendigkeit. Hegel trennt aber den gesetzmäßigen Grund des Seins nicht absolut vom Sein ab, sondern sagt: Das Sein hat sich selbst zum Grunde. Aber darum, weil es etwas — wenn auch sich selbst — zum Grund hat, 1 1

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W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 79. Zit. bei W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, S. 82. Naturwissenschaft und Philosophie

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kann es hervortreten nur als Schein, Beziehung oder Vermittlung — eben als Kausalität. Notwendigkeit als allgemeines Wesen des Seins kann tatsächlich nicht einfach mit jedem konkreten Sein identifiziert werden, sondern in jedem konkreten Sein wirkt die Notwendigkeit als der besondere Grund, als die besondere Gesetzmäßigkeit dieses Seins. Aber diese Gesetzmäßigkeit, so sehr sie auch mit der Entstehung dieses Seins jeweils erst hervorgebracht wird und mit seinem Untergang wieder vergeht, ist doch nichts zeitlich Vergängliches, sondern etwas Bleibendes und Dauerndes, von Hegel als Idealisten aufgefaßt als zeitlose Idee der Erscheinung, materialistisch einfach die mit der Erfüllung ihrer Bedingungen stets wiederkehrende und wieder wirkende Gesetzmäßigkeit, als einzelne besondere Gesetzmäßigkeit auch nur konkrete Form der mit der Existenz der Materie unlösbar verknüpften allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit. Anders ist es mit der Kausalität der als Ursachen und Wirkungen miteinander verknüpften Ereignisse in Raum und Zeit. Sie sind einmalig und vergänglich, nie wiederkehrend, zwar nur zustande gebracht durch das tiefere Wesen des Prozesses, durch seinen Grund, aber eben nur das vergänglich flüchtige Zutagetreten dieses Wesens, das zu reich ist, um sich in einer einzelnen zufällig zustande gekommenen Kausalkette völlig enthüllen zu können. Wenn wir die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ergründen wollen, die einem bestimmten Prozeß zugrunde liegen, so müssen wir uns zweifellos zuerst einmal eine möglichst genaue Kenntnis des historischen Ablaufs dieses Prozesses verschaffen. Aber niemand wird ernstlich behaupten, daß mit der genauen Kenntnis der jeweiligen Kausalkette bereits das Wesen der Erscheinung ergründet sei. Eine noch so genaue Kenntnis der Umlaufbewegungen der Planeten um die Sonne steht erkenntnismäßig tief unter der Kenntnis der Keplerschen Gesetze — und deren halbempirische Erschließung durch Kepler wiederum tief unter ihrer theoretischen Begründung durch Newton. Friedrich Engels hebt in der „Dialektik der N a t u r " darum hervor, daß selbst die Regelmäßigkeit der Wiederkehr der Verknüpfung zweier Ereignisse wohl das ,,post hoc" (nach diesem) des einen nach dem anderen, nie aber ein ,,propter hoc" (wegen diesem) begründen könne. Aus der Konstatierung der zeitlich-räumlichen Beziehungen bestimm114

ter Ereignisse allein, aus ihrer kausalen Verknüpfbheit also, können wir noch nicht auf ihren tieferen Grund schließen. Engels kommt zu dem Schluß, daß erst die Tätigkeit des Menschen die Probe auf die Kausalität macht. 3 In diesem Satz von Engels wird für das Problem der Kausalität mehr ausgesagt, als nur der allgemeine erkenntnistheoretische Zusammenhang von Theorie und Praxis. Das „propter hoc" eines Kausalzusammenhangs wird uns erst vollends bewußt, wenn wir selbst die Ursache setzen, dem die vorausgesehene Wirkung als das ,,post hoc" folgt. Bei dem Versuch einer formal-logischen Analyse des Kausalitätsbegriffs kommt Georg Klaus zu dem Ergebnis, daß die Kausal-Relation asymmetrisch sei: Sie läßt sich nicht umkehren. Klaus weist darauf hin, daß diese Asymmetrie, die verbietet, daß Ursache und Wirkung ihre Rolle vertauschen können, nicht aus dem Bestehen einer unabhängigen Richtung des Zeitablaufs hervorgeht, sondern daß umgekehrt sich die Zeitrichtung aus der Asymmetrie der Kausalrelation ergibt. 4 Daß die Zeit für die Kausal-Relation eine bestimmende Größe oder, wie Klaus sagt, auch umgekehrt die Gesamtzahl aller KausalRelationen zugleich den Fortschritt und die Richtung des Zeitablaufe bestimmen, besagt nur, daß der Kausalzusammenhang sich immer auf wirkliche Ereignisse in Zeit und Raum bezieht, auf die gesetzmäßig begründete zeitliche Aufeinanderfolge von Vorgängen im Raum. Raum und Zeit sind eben die Existenzformen der Materie. Die fortschreitende Bewegung und Veränderung der Materie in Raum und Zeit erscheint in der Form der kausalen Verknüpfung aller Ereignisse der Wirklichkeit. Nun wird gewöhnlich die Kausalbeziehung nicht nur als die tatsächliche Verknüpfung zweier Ereignisse aufgefaßt, von denen das eine die Ursache des anderen war, sondern es wird behauptet, das Wirken eines allgemeinen Gesetzes, eben des „Kausalgesetzes", verlange, daß eine bestimmte Art von Ursachen stets entsprechende Wirkungen mit Notwendigkeit hervorbringe. Klaus, der diesen Standpunkt gleichfalls vertritt, sagt, „daß man einen Kausalzusammenhang zwischen (zwei Ereignissen) x und y nur wie folgt formulieren k a n n : x bringt y notwendigerweise hervor". 3 4

F. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 244/245. Vgl. G. Klaus, Jesuiten, Gott, Materie, Berlin 1957, S. 309.



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Diese Auffassung der Kausalität als das Wirken eines allgemeinen „Kausalgesetzes" entspricht vollständig der Denkweise der klassischen Newtonschen Mechanik. Es ist interessant, daß Klaus sich aber besonders dagegen verwahrt, das Kausalgesetz mit einem wissenschaftlichen Gesetz zu identifizieren, im wesentlichen deshalb, weil „zu einem Gesetz nicht nur die Notwendigkeit des Zusammenhangs gehört, sondern auch die Allgemeinheit. Ein Gesetz verknüpft nicht einzelne Ereignisse, sondern Klassen von Ereignissen." 5 Die Vorstellung, daß die Kausalbeziehung die Bedingung der Notwendigkeit des Zusammenhangs in sich schließe, führt bei konsequenter Gedankenführung zum Laplaceschen Determinismus, der nicht nur behauptet, daß die allgemeinen Gesetze der Wirklichkeit mit Notwendigkeit wirken, sondern daß auch alle Ereignisse der Wirklichkeit mit absoluter Notwendigkeit auseinander hervorgegangen sind und hervorgehen werden, so daß — eben auf der allgemeinen Grundlage des Kausalgesetzes — die Art und Reihenfolge aller künftigen Ereignisse nicht nur schon heute, sondern bereits seit Ewigkeit unausweichlich festliegt. Die einzige Form der Allgemeinheit, die nach Klaus dem Kausalprinzip zugeschrieben werden kann, ist also die Notwendigkeit seines Wirkens. Wirklichen Gesetzen kommt nach Klaus außer der Notwendigkeit ihres Wirkens die Allgemeinheit aber noch in anderer Form zu: Sie gelten für ganze „Klassen" verschiedener Ereignisse, die selbst in keinerlei Kausalzusammenhang miteinander zu stehen brauchen. Ein Kausalzusammenhang zwischen solchen Ereignissen gleicher „Klasse" könnte sogar nur zufällig bestehen. Umgekehrt ist der Kausalzusammenhang von Ereignissen keineswegs an das Bestehen einer gemeinsamen Gesetzmäßigkeit geknüpft. Wenn sie einmal doch vorliegt, wäre das gleichfalls rein zufällig. Aber auch diese Überlegungen führen keineswegs über den Laplaceschen Determinismus hinaus. Sie erscheinen von seiner Position aus sogar als trivial. (Sicher ist, daß in ihnen die Dialektik von Zufälligkeit und Notwendigkeit in bezug auf das Problem der Kausalität überhaupt nicht erfaßt wird). Faßt man den Klausschen Gedankengang zusammen, so ergibt sich, daß die Kausalität nur bedeuten soll, daß alle Ereignisse mit Notwendigkeit aus anderen hervorgegangen sind — sich also so 8

Ebenda, S. 313.

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und nicht anders zutragen konnten —, daß aber die Kausalität noch nichts darüber besagt, aus welchem Grunde ein bestimmtes Ereignis A gerade ein bestimmtes Ereignis B zur Folge haben mußte und nicht irgend ein anderes. Ich habe diese Betrachtungen von G. Klaus nur zitiert, weil aus ihnen mit Deutlichkeit hervorgeht, daß die weit verbreitete Vorstellung, die Kausalbeziehung schließe die Notwendigkeit des Zusammenhanges in sich, sie sei sogar nichts weiter als der Ausdruck des Bestehens einer absoluten Notwendigkeit des Zusammenhangs, einfach mit der Position des metaphysischen Determinismus identisch ist. Engels hat diesen Determinismus auf das schärfste abgelehnt: „Mit dieser Art Notwendigkeit kommen wir auch nicht aus der theologischen Naturauffassung heraus." 6 Tatsächlich ist dieser KausalitätsDeterminismus einfach mechanischer Materialismus, der das gesamte Weltgeschehen als den unabänderlichen Ablauf eines, wenn auch unendlich komplizierten, Prozesses auffaßt, auf den keine Macht der Welt — nicht einmal ihr göttlicher Schöpfer — auch nur den geringsten Einfluß ausüben kann. Einmal in Gang gesetzt — durch einen ersten göttlichen Anstoß — läuft der gewaltige Mechanismus des Kosmos unaufhaltsam bis in Ewigkeit mit absoluter Notwendigkeit im Größten wie im Kleinsten. So sehr unser Denken — der gesunde Menschenverstand! — daran gewöhnt ist, gerade diese mechanisch-materialistische Naturauffassung als Exemplarfall eines auf strenger Kausalität aufgebauten Weltbildes anzusehen, tatsächlich findet sich in diesem vollständig determinierten Geschehen überhaupt kein vernünftiger Platz für den Begriff der Kausalität. Nicht nur, daß der Mensch in dieser Welt keine neuen Ursachen setzen kann und keine „Probe auf die Kausalität" machen kann, weil ja alles — auch jedes menschliche Tun — bereits seit Ewigkeit vorherbestimmt ist, auch die „passive" Natur erleidet nur ihr unabänderliches Schicksal, weil alle Wirkungen längst vorherbestimmt sind. Alles Zukünftige ist in der Vergangenheit eigentlich längst „bewirkt" worden und der Begriff „Ursache" versinkt in der „Urzeit" der Naturgeschichte und entschwindet in der grundlosen Tiefe der vergangenen zeitlichen Ewigkeit vollends, wenn wir nicht 6

F. Engels, Dialektik der Natur, S. 232.

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einen Anfang der Welt durch einen göttlichen Schöpfungsakt setzen wollen, der damit als einzige wirkliche „Ursache" in dieser Welt erscheint. Es ist interessant, daß auch Hegel in Schwierigkeiten mit dem Begriff der Kausalität geraten ist. In dem Abschnitt „Das Kausalitätsverhältnis" in „Wissenschaft der Logik" (2. Teil, S. 189) hat es zunächst den Anschein, als ob er sich — wenn auch sehr vorsichtig — mit der „notwendigen" Kausalität einverstanden erklärt. Er legt größten Wert auf die Feststellung: „Die Wirkung enthält daher überhaupt nichts, was nicht die Ursache enthält. Umgekehrt enthält die Ursache nichts, was nicht in ihrer Wirkung ist." 7 Für Hegel sind diese Sätze allerdings nur zur Klarstellung der Begriffe gebraucht, die noch nichts darüber besagen sollen, ob alles Geschehen ausschließlich aus solcher Verknüpfung im Grunde miteinander identischer Ursachen und Wirkungen bestehe. Sofern dies aber angenommen wird, befindet man sich vollständig in der Ideenwelt des mechanischen Materialismus. Hegel bekräftigt dies noch mit folgenden Sätzen: „Es ist in Rücksicht dieser Tautologie des Kausalitätsverhältnisses (Tautologie der Identität von Ursache und Wirkung, Anmerkung Hav.) zu bemerken, daß es dieselbe dann nicht zu enthalten scheint, wenn nicht die nächste, sondern die entfernte Ursache einer Wirkung angegeben wird. Die Formveränderung, welche die zugrunde liegende Sache in diesem Durchgange durch mehrere Mittelglieder erleidet, versteckt die Identität, die sie darin behält."8 Als ob er bemerke, in welch gefährliche Nähe zum Laplaceschen Determinismus er nun geraten ist, verkündet Hegel wenige Zeilen später, zwar mit Nachdruck aber eigentlich ohne wirkliche Begründung: „Dann hauptsächlich ist noch die unstatthafte Anwendung des Kausalitätsverhältnisses auf Verhältnisse des physisch-organischen und des geistigen Lebens zu bemerken. Hier zeigt sich das, was als Ursache genannt wird, freilich von anderem Inhalte, als die Wirkung, darum aber, weil das, was auf das Lebendige wirkt, von diesem selbständig bestimmt, verändert und verwandelt wird, weil das Lebendige die Ursache nicht zu ihrer Wirkung kommen läßt, d. h. sie als Ursache aufhebt." 9 Hegel ' G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, II. Teil, Leipzig 1948, S. 190f. 8 11 Ebenda, S. 193. Ebenda.

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konnte sich als idealistischer Philosoph diese Außerkraftsetzung der Kausalität im Bereiche des Lebens leisten, zumal auch die Naturwissenschaft seiner Epoche der Meinung war, daß die organische Natur prinzipiell von der anorganischen unterschieden sei. Damals herrschte in bezug auf die anorganische Natur der mechanische Materialismus der Newtonschen Physik mit dem absoluten Determinismus als Prinzip. Dem Leben sollten aber besondere höhere Kräfte innewohnen, die ihm vom Schöpfer verliehen waren. Ich glaube, daß diese Beschränktheit seiner zeitgenössischen Naturwissenschaft trotz allen Streites, den Hegel mit ihr hatte, die Schärfe des Denkens dieses großen Philosophen gerade bei seinen Betrachtungen über die Kausalität beeinträchtigt hat. Im Grunde trifft nämlich Hegel einen sehr wichtigen Aspekt der Kausalität, wenn er die Ausnahmerechte, die er der belebten Natur zubilligte, nicht auf diese beschränkt hätte. Sicher sind seine Überlegungen über die Identität von Ursache und Wirkung zutreffend. Aber soweit diese Identität als tautologisch aufgefaßt wird, betrifft sie nur die formale Beziehung von Ursache und Wirkung, nicht die inhaltliche. Im konkreten Inhalt der Kausalbeziehung kommt die andere Seite, nämlich die Verschiedenheit von Ursache und Wirkung, zur Geltung. In der Wirkung hat die Ursache nicht nur die Form gewandelt, sondern auch den Inhalt. I n der Wirkung tritt ein neuer Inhalt hervor, der nicht mit Notwendigkeit aus dem alten Inhalt der Ursache stammt. Zwar ist in dem neuen Inhalt zugleich auch das Alte wiedergekehrt, aber es ist zugleich aufgehoben; es ist ein anderes geworden. Hegel drückt diesen Zusammenhang am Schluß des Kapitels mit folgenden Worten aus: „In der Wechselwirkung stellt die ursprüngliche Kausalität sich als ein Entstehen aus ihrer Negation, der Passivität, und als Vergehen in dieselbe, als ein Werden dar . . .; die Negation, welche Grund der Ursache ist, ist ihr positives Zusammengehen mit sich selbst. Notwendigkeit und Kausalität sind also darin verschwunden; sie enthalten beides, die unmittelbare Identität als Zusammenhang und Beziehung und die absolute Substantialität des Unterschiedenen, somit die absolute Zufälligkeit derselben — die ursprüngliche Einheit substantieller Verschiedenheit, also den absoluten Widerspruch." 10 (An diesen Satz schließen sich direkt 10

Ebenda, S. 203/204.

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die eingangs zitierten, von Lenin notierten Sätze an.) Das Neue, das als Wirkung von der Ursache hervorgebracht wird, ist identisch mit dem Alten, der Ursache, gerade insofern es seine Wirkung ist. Als Wirkung eben bewahrt die Ursache ihre Identität und setzt die ihr innewohnende Notwendigkeit durch. Aber zugleich sind Ursache und Wirkung auch substantiell verschieden voneinander. Im Neuen ward zugleich das Alte ausgelöscht, es wandelte sich. Und dieses Anderswerden, wodurch die widersprüchliche Einheit des Identischen mit dem Verschiedenen geschaffen wird, bedeutet die absolute Zufälligkeit. Diese Zufälligkeit, sagt Hegel dann, wird zur Freiheit, „indem die Seiten der Notwendigkeit, welche die Gestalt f ü r sich freier, nicht ineinander scheinender Wirklichkeiten haben, nunmehr gesetzt sind als I d e n t i t ä t . . , " u Durch die kausale Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung wird die Identität des Verschiedenen geschaffen. Der Mensch setzt eine Ursache und f ü h r t dadurch die Wirkung herbei; so ist auch die Wirkung sein Werk, und doch ist sie verschieden von dem, was er getan hat, da er nur die Ursache schuf. Ein Beispiel: Ich drücke auf den Starter, d. h., ich schließe einen ganz bestimmten Stromkreis — die Wirkung: Der Motor springt an. I m ganzen aber: Ich habe den Motor angelassen, nicht aber der Anlassermotor oder die elektrochemischen Vorgänge in der Batterie, die die benötigte Energie lieferten usw. Dadurch, daß ich die Ursache setzte, war die Wirkung mein Werk. Dies ist die Identität und Verschiedenheit von Ursache und Wirkung. „ . . . Die Tätigkeit des Menschen macht die Probe auf die Kausalität" 1 2 . Wie schon oben gesagt wurde, ist der zeitliche Abstand zwischen Ursache und Wirkung von wesentlicher Bedeutung. Nur als Werden und Vergehen sind Wirkung und Ursache voneinander abgeschieden. I m zeitlichen Prozeß erst k a n n sich die Identität des Verschiedenen als Ursache—Wirkung-Beziehung manifestieren. Indem wir eine Ursache setzen, beeinflussen wir ein Ereignis, das noch in der Zukunft liegt. Der Mensch k a n n aber nur Ursachen setzen und auf diese Weise die Zukunft beeinflussen, wenn noch Freiheit vorhanden ist, einen Einfluß auf die Zukunft auszuüben. Auch darum k a n n in der Wirklich11 12

Ebenda, S. 204. F. Engels, Dialektik der Natur, S. 245.

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keit keine absolute Determiniertheit gelten, weil sie keinen Raum ließe für diese Freiheit. Diesen Raum für die Freiheit, die Zukunft nach unserem Willen zu gestalten, gewährt uns die Zufälligkeit, die dadurch geschaffen wird, daß das Anderssein von Ursache und Wirkung die Notwendigkeit ihrer Verknüpfungen aufhebt. Unsere gewohnten Vorstellungen von der Zeit entstammen der beschränkten Erfahrungswelt unseres täglichen Lebens und sind in Einklang mit den engen Verhältnissen, in denen sich bisher unser Dasein abspielte. Gerade jetzt erleben wir, wie der Mensch sich aus den engen Verhältnissen der Erdoberfläche befreit und sich anschickt, die dritte Dimension des Raumes zu erobern. Er stößt in den kosmischen Raum vor. Sputniks und künstlicher Planet sind die ersten Vorboten wirklich weltweiter Unternehmungen größten Stils. Mit der gewonnenen Beherrschung großer Energien und großer Greschwindigkeiten beginnen sich auch unsere Vorstellungen von der Zeit zu wandeln. Für den sogenannten „gesunden Menschenverstand" zerfällt die Zeit in zwei große Abschnitte: Vergangenheit und Zukunft, die voneinander durch einen Schnitt, dem selbst keine zeitliche Dauer zukommt, geschieden sind: der Gegenwart. Wir stellen uns vor, daß dieser unaufhörlich voranschreitende Schnitt gleichzeitig ist in der ganzen Welt. Wir haben uns an die Vorstellung der absoluten Gleichzeitigkeit alles Geschehens im Kosmos gewöhnt, obwohl unsere Zeitvorstellungen aus einer Erfahrungsquelle stammten, die räumlich und zeitlich geradezu mikroskopisch klein ist verglichen mit dem uns umgebenden Kosmos, in den wir diesen Zeitbegriff extrapolieren. Durch Einsteins Relativitätstheorie wissen wir, daß diese Extrapolation falsch ist. Die absolute Gleichzeitigkeit existiert nicht. Auf der Grundlage der Relativitätstheorie gelangen wir zu einer neuen Definition der Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche lautet: Vergangenheit ist das, wovon wir bereits Kenntnis haben können, Zukunft das, worauf wir noch Einfluß ausüben können, Gegenwart aber ist, wovon wir noch keine Kenntnis haben und worauf wir auch keinen Einfluß mehr ausüben können. Nur direkt am Ort unseres Wirkens ist dieser Zeitraum der Gegenwart unendlich kurz, wie es unseren alten Zeitvorstellungen entspricht. Mit wachsendem räumlichen Abstand aber dehnt sich der Zeitraum der Gegenwart immer mehr aus. Diese neue Definition der Zeitbegriffe versagt voll121

ständig, wenn wir sie im Weltbild des mechanischen Determinismus anwenden. In der völlig determinierten Welt der klassischen Physik gibt es keine Zukunft mehr. Alles ist Vergangenheit! Denn prinzipiell können wir in dieser Welt beliebig vollständige Kenntnis nicht nur der Vergangenheit, sondern ebenso auch der Zukunft erlangen, und außerdem können wir auf das Zukünftige nicht den geringsten Einfluß ausüben. Wenn wir unsere Definition der Zeitbegriffe in dieser Weise erweitern, so soll das nicht etwa heißen, daß die moderne Physik jede Möglichkeit der Vorausschau in die Zukunft bestreitet. Selbstverständlich gibt es viele Ereignisse der Zukunft, die wir mit großer Exaktheit voraussehen können. Man denke nur an den Lauf der Planeten. Aber wir finden, daß zukünftige Ereignisse, die wir voraussehen können, immer zugleich Ereignisse sind, auf die wir praktisch keinen Einfluß ausüben können. Es sind dies Ereignisse, die mit einem Grad der Wahrscheinlichkeit eintreten müssen, der äußerst nahe gleich 1 ist. Um diesen Wahrscheinlichkeitsgrad herabzusetzen, müßten wir eine enorm starke Wirkung auf den Vorgang ausüben können. I n diesem besonderen Sinne könnte man sagen, daß das Voraussehbare der Zukunft eigentlich noch der Vergangenheit angehört. Dies ist nur ein anderer Aspekt der Identität von Ursache und Wirkung. Wenn wir heute eine Ursache setzen, deren voraussehbare Wirkung in weiter Zukunft liegt, so ist dieses Stück beeinflußte Zukunft Bestandteil unseres gegenwärtigen Tuns, es gehört also eigentlich bereits der Gegenwart an. Ursache und Wirkung verbinden aber nicht nur Gegenwart und Zukunft, sie verbinden auch Vergangenheit und Gegenwart. Ständig sind wir Zeugen von Ereignissen, deren Ursachen tief in der Vergangenheit liegen und die diese Vergangenheit zur Gegenwart werden lassen. Vieles, was wir heute tun, ist Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ist oft darauf gerichtet, Wirkungen vergangener Ursachen zu mildern oder auch aufrechtzuerhalten. Unlösbar ist die Kausalität mit dem Handeln des Menschen verbunden. Die Kausalität ist einer der Begriffe, die sich schon mit den ersten erfolgreichen Handlungen des Menschen entwickelten. Unvermittelt erlebte der Mensch die Folgen seiner Handlungen, teils wider sein Erwarten, wenn er nämlich den Zusammenhang noch nicht 122

erfaßt hatte, teils empfand er schon die Identität von Ursache und Wirkung, von eigener Tätigkeit und ihren Folgen, wenn er nämlich bereits auf Grund von Einsicht und Erfahrung handeln konnte. Gegenüber den Kausalzusammenhängen seines eigenen Tuns erschienen ihm die Ereigniszusammenhänge der Natur wild, willkürlich und planlos, das Werk von Kobolden und Göttern. Aber im Laufe der Zeit lernte er, daß auch diese Kobolde und Götter an Gesetze der Natur gebunden waren und, wollten sie ein bestimmtes Ziel erreichen, nicht weniger planvoll und zweckmäßig operieren mußten, als der Mensch auch. So projizierte der Mensch den aus seiner praktischen Tätigkeit erwachsenen Begriff der Kausalität in die ihn umgebende Natur. Die Vorstellung von der zwangsläufigen Verknüpftheit von Ereignissen wurde dabei auf immer größere Ereigniszusammenhänge ausgedehnt, wobei sich das Reich und die Freiheit der willkürlich handelnden Götter mehr und mehr einengten, bis sie schließlich gänzlich aus der Schöpfung vertrieben waren. Mit diesem Schritt hob aber der Mensch zugleich die Möglichkeit der eigenen Freiheit auf. Was für die Götter galt, galt nicht weniger für ihn selbst. Wenn auch seine Handlungen zweifellos die Zukunft beeinflußten, so waren doch auch diese Handlungen selbst das Ergebnis, ja nur der Bestandteil eines unabänderlich ablaufenden Schicksals, das sich nach den ehernen Gesetzen vollziehen muß, unter deren Herrschaft sich diese Welt befindet. An die Stelle der Kobolde und Götter t r a t im Bewußtsein der Menschen der eine über allem thronende Gott, der Schöpfer aller Dinge und weise Gesetzgeber, in dessen Hand das Schicksal der Welt liegt. Der mechanische Materialismus mit seinem unbedingten, absoluten Laplaceschen Determinismus steckt eben noch tief in der Theologie. „Ob wir das den ewigen Ratschluß Gottes mit Augustin und Calvin, oder mit den Türken das Kismet, oder aber die Notwendigkeit nennen, bleibt sich ziemlich gleich für die Wissenschaft" 1 3 , spottet treffend Friedrich Engels. Der mechanische Determinismus läßt den Begriff der Freiheit als eine fatale Illusion erscheinen, deren der Mensch bedarf, um die Unabänderlichkeit des Schicksals ertragen zu können. In Wirklichkeit ist es aber gerade umgekehrt. Weil wir Freiheit des Handelns erlangen können, weil wir Ursachen schaffen kön" Ebenda, S. 232

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nen, die voraussehbare Wirkungen haben, ist in unserem Bewußtsein die Illusion des mechanischen Determinismus entstanden. Weil wir selbst zielstrebig handeln, haben wir den anthropomorphen Begriff der Zielstrebigkeit in die wilde Natur hineinprojiziert und zu ihrem allgemeinen Gesetz erklärt. Die wahre Grundlage der Möglichkeit der Freiheit ist die Blindheit des Zufalls, der Sinn der Freiheit aber die Überwindung des Zufalls. Zufälligkeit, Notwendigkeit und Freiheit bilden eine unlösbare dialektische Einheit. Die Verkettung von Ursachen und Wirkungen in der vom Menschen unbeeinflußten Natur ist reine Zufälligkeit, wobei allerdings diese Zufälligkeit sich nur stets in den Grenzen bewegen kann, die durch die gesetzmäßigen Möglichkeiten des Zusammenhangs gezogen sind. Unser menschliches Tun ist nun stets darauf gerichtet, diese Zufälligkeit und Regellosigkeit der Naturereignisse aufzuheben und zu ordnen. Wir greifen in den Lauf der Dinge ein und sorgen dafür, daß etwas geschieht, das von selbst zwar auch geschehen könnte, aber wohl meist nur mit äußerst geringer Wahrscheinlichkeit. Durch Änderung und Korrektur der Bedingungen verändern wir die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse und beeinflussen sie im Sinne unserer Absichten. Dies „Corriger la nature" hat Verwandtschaft mit dem „Corriger la fortune" beim Glücksspiel. Wir betrügen die Zufälligkeit der Natur. Damit zielt die Kausalität unseres Handelns auf die Erzwingung bestimmter Notwendigkeit. Wir wollen, daß sich von den verschiedenen Möglichkeiten nur bestimmte verwirklichen, und je mehr wir durch unser „corriger" die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Verwirklichung der Gewißheit genähert haben, um so mehr haben wir die Zufälligkeit aufgehoben in der angestrebten Notwendigkeit. Unser menschliches Streben geht auf die Notwendigkeit aus und ist gegen das Zufällige gerichtet. Die Naturwissenschaft interessiert sich nicht für das Zufällige der Ereignisse, sondern für die ihnen zugrunde liegende Notwendigkeit. Die Wissenschaft geht nicht auf eine Beschreibung der Wirklichkeit aus, sie sucht nicht nur darzustellen, wie die Wirklichkeit ist, sondern sie strebt danach zu erkennen, warum die Wirklichkeit so ist, wie sie ist. Im „Warum" wird nicht nach den Zufälligkeiten, nicht nach dem gefragt, was einmalig, flüchtig und vorübergehend ist, sondern nach dem, was im unaufhörlichen Strom 124

der Ereignisse und im ständigen Wandel der Dinge das Bleibende, Dauernde und Wiederkehrende ist. Es wird nach dem Grunde gefragt. Nur in der idealistischen Philosophie ist allein die Ursache eine Kategorie der materiellen Wirklichkeit, der Grund dagegen eine Kategorie des Denkens, der Idee. Vom Standpunkt des Materialismus gibt es aber nicht nur den „logischen" Grund in unserem Denken, sondern der Logik unseres Denkens liegt primär die Logik der Wirklichkeit zugrunde. Es ist aber trotzdem falsch, wie es der mechanische Materialismus versteht, wenn man die Begriffe Ursache und Grund einfach miteinander identifiziert. Wir sind seit Jahrhunderten derart an diese Identifizierung gewöhnt, daß wir in unserer Alltagssprache Ursache und Grund praktisch als Synonyme verwenden. Weil nun im Grund der Dinge und Erscheinungen gar nichts Zufälliges ist, denn der Grund ist ja das Gesetzmäßige, die Notwendigkeit, so geraten wir durch die kritiklose Identifizierung von Grund und Ursache zu der mechanisch-materialistischen absoluten Determiniertheit aller Ereignisse. Wir machen aus der Notwendigkeit des Wirkens der Gründe die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung. Wenn nun der Grund aber nichts anderes ist, als das gesetzmäßig Notwendige, so kann sein Wirken nicht auf einmalige Ereignisse beschränkt sein. Der gleiche Grund kann in vielen verschiedenen Ereignissen und Erscheinungen gleichermaßen wirksam sein. Im Begriff des Grundes liegt deshalb nicht nur seine Notwendigkeit, sondern zugleich, daß sein Wirken nur eine Möglichkeit ist. Durch ihn wird die gesetzmäßige Möglichkeit geschaffen, daß all diese Ereignisse und Erscheinungen zustande kommen können. Das Gesetzmäßige schließt das Unmögliche vom Möglichen aus. Aber es beschränkt sich nicht auf die einzelne konkrete Verwirklichung des Möglichen an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit. Es bezieht sich vielmehr auf alle Verwirklichungen, wo und wann sie auch erfolgen mögen. Damit sich ein bestimmtes Ereignis vollziehen kann, müssen also zwei ganz verschiedene Voraussetzungen erfüllt werden: 1. Es müssen die Bedingungen geschaffen sein, die das Ereignis ermöglichen. 2. Es müssen die Ursachen wirken, die es hervorbringen können. Zwar ist es richtig, daß die Ursachen selbst es sind, die auch die Bedingungen schaffen, die das Ereignis ermöglichen. So sehr die 125

Möglichkeit das in den Ereignissen stets Wiederkehrende ist, sie muß doch auch jedesmal erst von Neuem geschaffen werden. Das Gesetzmäßige, der Grund der Erscheinungen ist nicht weniger konkret, als die wirkliche Erscheinung selbst. Der vulgäre mechanische Materialismus nimmt nun an, daß, wenn die oben genannten zwei Bedingungen erfüllt sind, das bestimmte Ereignis auch mit Notwendigkeit eintreten müsse. Da die Ursachen auch die Möglichkeit geschaffen haben, wird auf diese Weise das Zustandekommen des Ereignisses aller Zufälligkeit beraubt. Die Zufälligkeit wird — wenn nicht gänzlich aus der Welt geschafft — so doch in die Tiefe der Vergangenheit verdammt. Alle Zufälligkeit von heute, heißt es, verdanken wir dem Übelstand der ursprünglichen Zufälligkeit der Wirklichkeit, die gewissermaßen ein paradiesischer Mißstand der Natur war. In Wahrheit bleibt aber das Zustandekommen der Ereignisse auch bei Erfüllung der genannten zwei Bedingungen notwendig und zufallig zugleich, und zwar nicht nur notwendig in einer Beziehung und zufällig in einer anderen, sondern notwendig und zufallig auch in ein und derselben Beziehung. Zufälligkeit und Notwendigkeit bilden eben eine wirkliche dialektische Einheit, nicht einen scheinbaren Widerspruch oder Gegensatz, sondern einen wirklichen. Friedrich Engels zitiert hierzu die folgenden Sätze aus Hegels „Wissenschaft der Logik": ,,. . . daß das Zufällige einen Grund hat, weil es zufallig ist, und ebensosehr auch keinen Grund hat, weil es zufällig ist, daß das Zufällige notwendig ist, daß die Notwendigkeit sich selbst als Zufälligkeit bestimmt, und daß andererseits diese Zufälligkeit die absolute Notwendigkeit ist." 1 4 Hegel begründet diese Sätze sehr ausführlich,^ aber im wesentlichen mit der Überlegung, daß ein wirkliches Ereignis zwar stets auch ein mögliches sein müsse, daß aber die Schaffung der Möglichkeit eines Ereignisses noch keineswegs fordere, daß sich diese Möglichkeit verwirkliche, denn als nur Mögliches sei das Eintreten des Ereignisses ebensosehr zugelassen wie auch das Nichteintreten des Ereignisses. Wenn man fordere, daß jedes mögliche Ereignis auch eintreten müsse, und zwar mit Notwendigkeit, so sei das Ereignis dem Sinne nach gar nicht als Mögliches, sondern als Notwendiges bestimmt. Sofern es aber 14

Ebenda, S. 234.

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nur als Mögliches bestimmt sei, könne seine Verwirklichung nur zufällig sein. Als Mögliches habe also das Ereignis seinen Grund, weil nämlich das Mögliche mit Notwendigkeit bestimmt wird. Da seine Verwirklichung aber nur zufällig sein könne, habe es deshalb auch wiederum keinen Grund. Daraus folgt dann sehr einfach, daß die Notwendigkeit in der Form der gesetzmäßigen Möglichkeiten sich nur in den mannigfachsten Zufälligkeiten bestimmen, d. h. manifestieren kann, und daß eben dieses zufällige Wirken der Notwendigkeit selbst absolute unausweichliche Notwendigkeit sei. Einen bedeutsamen Beitrag zu diesem Problem hat im Bereich der Naturwissenschaft die Quantenmechanik geleistet. Hier ergibt sich nämlich, daß das Mögliche nicht nur mit Notwendigkeit vom Unmöglichen ausgeschlossen ist, sondern daß das Wesen des Möglichen darin liegt, daß es stets eine breite Skala von Möglichkeiten verschiedenen Grades umschließt. Wenn sich z. B. ein Elektron mit bestimmter Geschwindigkeit durch einen Kristall hindurch bewegt, so gibt es für die Bahn des aus dem Kristall austretenden Elektrons nicht nur eine Möglichkeit, sondern deren viele. Auf einer hinter dem Kristall aufgestellten Auffangplatte kann das Elektron an den verschiedensten Stellen auftreffen. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß das Elektron an diesem oder jenem Punkt des Schirms ankommt, ist keineswegs überall gleich groß. Mit Hilfe des sogenannten Wellenbildes ist es möglich, f ü r jeden Punkt des Schirms die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der sich die zugehörige mögliche Bahn verwirklichen kann. Die Ursache, das Ankommen des Elektrons mit bestimmter Geschwindigkeit, und die weiteren örtlichen Umstände, gegeben durch die Lage und die innere Struktur des Kristalls, schaffen gesetzmäßige Möglichkeiten für die weitere Bahn des Elektrons. Aber diese Möglichkeiten umschließen eine breite Skala verschiedener Bahnen mit jeweils gesetzmäßig bestimmtem Grade ihrer Möglichkeit, d. h. mit jeweils gesetzmäßig bestimmter Wahrscheinlichkeit. So sehr also auch die Ursachen und Umstände die gesetzmäßigen Möglichkeiten bestimmter weiterer Ereignisse erst hervorbringen oder — anders ausgedrückt — das Wirken bestimmter Gesetzmäßigkeiten in K r a f t setzen, die von allen diesen Möglichkeiten schließlich verwirklichte Bahn bleibt doch zufällig und ist durch die ursächlichen Vorgänge und Zusammenhänge noch nicht vollkommen determiniert worden. 127

Sehr bedeutsam ist die Tatsache, die aber hier nur gestreift werden kann, daß nämlich die Dialektik von Zufälligkeit und Notwendigkeit im Bereich der Mikrophysik sehr eng zusammenhängt mit der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität. Die Partikelwirklichkeit hat das Wesen des Diskontinuierlichen an sich. Die Teilchen sind lauter einmalige und vergängliche Individuen. Die Gesetzmäßigkeiten aber, denen sie unterworfen sind, werden in einem theoretischen Bilde dargestellt, das völlig kontinuierlich und homogen ist. Der allgemeine, gesetzmäßige Zusammenhang also ist kollektiv und damit auch notwendigerweise streng determiniert. Er determiniert aber nicht das Zustandekommen der wirklichen Ereignisse der Partikel, sondern nur deren gesetzmäßige Möglichkeiten. Ich will zum Schluß der klassisch-mechanischen Definition der Kausalität, wie sie von Georg Klaus gegeben wird, das Ergebnis meiner Überlegungen in einigen Thesen gegenüberstellen. Bei Klaus (1. c.) heißt es, „daß man einen Kausalzusammenhang zwischen (zwei Ereignissen) x und y nur wie folgt formulieren kann: x bringt y notwendigerweise hervor." Meine Thesen lauten: 1. Ursache und Wirkung sind zugleich miteinander identisch und voneinander verschieden. In der Wirkung setzt sich die Ursache fort und wird zugleich in ihr überwunden. 2. Jede Wirkung hat Ursachen. Ohne Ursache geschieht nichts. 3. Die Ursache bringt die Wirkung hervor, aber sie kann stets verschiedene Wirkungen hervorbringen; denn sie schafft nur deren Möglichkeiten. Welche sich davon verwirklicht, ist gegenüber der Ursache zufallig. 4. Ursache und Wirkung sind Ereignisse, die nicht mit Notwendigkeit verknüpft sind. Daß eine bestimmte Wirkung durch eine Ursache hervorgebracht wird, ist mit gesetzmäßiger Notwendigkeit nur als Möglichkeit bestimmten Grades vorherbestimmt.

DIALEKTISCHE

GESETZMÄSSIGKEITEN

ATOMAREN UND SUBATOMAREN Klaus Zweiling

IN

DEN

PROZESSEN

(Berlin)

Die Natur ist ein wahres Lehrbuch der Dialektik. Darauf h a t uns schon Friedrich Engels mit Nachdruck hingewiesen. Zu seiner Zeit aber kannte die große Mehrzahl der Naturwissenschaftler die Dialektik nicht. Insbesondere in den Bereichen der Physik schien es so, als ob man ohne sie auskommen könne, als ob m a n alle Qualitätsunterschiede in rein quantitative Verschiedenheiten auflösen, alle Gesetzmäßigkeiten auf mechanische zurückführen könne. Als aber die Physiker begannen, das Verhalten der Atome zu erforschen, als sie in das Innere der Atome und schließlich auch in das Innere der Atomkerne einzudringen begannen, änderte sich das Bild grundlegend. Die Physiker stießen auf Gesetzmäßigkeiten, die sich mit keinen Mitteln mehr auf mechanische reduzieren ließen, die sich qualitativ von den mechanischen unterschieden. Zunächst erschien es zwar so, als ob das Eindringen in die Struktur der Atome den Triumph der mechanistischen Auffassungen in den Bereichen der Physik erbrächte. Das Atom schien sich als ein Sonnensystem im Kleinen zu erweisen, mit dem positiv elektrisch geladenen Kern als Zentralgestirn und den negativ geladenen Elektronen in der Atomhülle als Planeten. Aber es zeigte sich bald, daß auf der Grundlage dieser Auffassung die Vorgänge im Atom völlig unverständlich blieben, daß die Materie in diesen Bereichen und Strukturen qualitativ andere Eigenschaften besitzt als in den von der Mechanik erfaßten Bereichen. Vorgänge, von deren absolut stetigem, kontinuierlichem Charakter die Physiker fest überzeugt waren, zeigten in ihrer elementaren Struktur diskontinuierliche Eigenschaften, erwiesen sich als gequantelt: die Wirkung der elektromagnetischen Strahlung auf andere materielle 9

Naturwissenschaft und Philosophie

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Systeme, die Übertragung der Energie von einem solchen System auf ein anderes, ja schließlich die Struktur der Strahlung selbst. Um die Gesetzmäßigkeiten der materiellen Elementarbereiche adäquat erfassen zu können, mußte eine vollkommen neue Wissenschaft entwickelt werden, die Quantenmechanik und die Quantentheorie der Felder. Dabei ergaben sich Gesetzmäßigkeiten bisher völlig unbekannter Art. Statistisch formulierte Gesetze, die für ein bestimmtes Teilchen nicht sein Verhalten im einzelnen ausdrücken, sondern nur die Wahrscheinlichkeit des Verhaltens in der einen oder anderen Art, waren den Physikern zwar schon aus der Thermodynamik bekannt. Aber in den elementaren Bereichen spielten sie eine qualitativ neue, in entscheidender Hinsicht dominante Rolle. In Heisenbergs Unbestimmtheitsrelationen, in Schrödingers Wellenfunktion spiegelt sich weiter die Tatsache wider, daß auch die Elementarteilchen des Stoffes nicht einfach quapipunktförmig lokalisierte Gebilde sind, sondern mit bestimmten ihrer Eigenschaften in bestimmten Beziehungen wellenartig schwingend größere Raumbereiche erfüllen. Das Atom war eben doch etwas ganz anderes als ein Sonnensystem im kleinen. Das Eindringen in die atomaren und subatomaren Bereiche brachte nicht — wie es zunächst schien — den höchsten Triumph der mechanistischen Auffassung in der Physik, sondern deren endgültigen Zusammenbruch, indem es die Relativität, die Bedingtheit, die Grenzen der Gültigkeit der Gesetze der Mechanik offensichtlich, unübersehbar machte. Die neuen Bereiche waren in ihrem eignen Zusammenhang, das heißt materialistisch, und das heißt wirklich wissenschaftlich nur noch aus dem Bewußtsein der objektiven Dialektik zu verstehen. Blättern wir ein wenig in diesem Lehrbuch der Dialektik! Jede Gesetzmäßigkeit drückt etwas Allgemeines aus, das gemeinsame Wesen vieler einzelner Dinge und Prozesse, die sich in unendlich vielen Einzelheiten individuell voneinander unterscheiden. Um sich dieser Gesetzmäßigkeiten bewußt werden zu können, müssen die Menschen gedanklich von jenen individuellen Besonderheiten der wirklichen Dinge und Prozesse abstrahieren, müssen sie diese aus unendlich vielen Zusammenhängen, in denen jedes wirkliche Ding, jeder wirkliche Prozeß steht, isoliert denken. Das ist notwendig, unvermeid130

lieh. Wie weit aber diese gedankliche Isolierung in jedem konkreten Fall gehen muß, um hinter den individuellen Besonderheiten zum wirklichen Wesen zu gelangen, und welche Grenze umgekehrt jene gedankliche Isolierung nicht überschreiten darf, wenn der Erkenntnis nicht ein Teil des wirklichen Wesens verlorengehen soll, das liegt nicht im Belieben der Menschen, sondern bestimmt sich objektiv eben im Wesen, in der Gesetzmäßigkeit jener wirklichen Dinge und Prozesse selbst. Bleibt man im Prozeß der gedanklichen Isolierung, der Abstraktion vor der zuerst bezeichneten Grenze stehen, so entsteht notwendig die Illusion der Unerkennbarkeit des wirklichen Wesens. Überschreitet man die zweite Grenze, so ergibt sich eine unvollständige, einseitig verzerrte Vorstellung des Wesens und damit in der Konfrontation der Vorstellung mit der Wirklichkeit wiederum die Illusion der Unerkennbarkeit des Wesens, in der weiteren logischen Konsequenz — wie in der Philosophie der Kopenhagener Schule der Quantenphysik — die Leugnung einer objektiven Gesetzmäßigkeit und schließlich sogar die Leugnung der objektiv-realen Existenz der wirklichen Dinge und Prozesse überhaupt. Im tiefsten Grunde kommt man zu dem gleichen Ergebnis, wenn man — wie dies die Ontologen tun, z. B. Nicolai Hartmann und Günther Jacobi — den Widersprüchen der mechanistischen Auffassung dadurch zu entrinnen versucht, daß man den ,,mathematischen Gebilden" eine selbständige Existenz neben dem ,,realen Sein" zuschreibt. Indem dabei die „Zeitlosigkeit" und ,, Allgemeinheit" dieser mathematischen Gebilde als die Besonderheiten ihrer selbständigen Existenz gegenüber dem ,,realen Sein" bezeichnet werden, wird ihre Sphäre sogar in durchaus Platoachem Sinne nicht nur neben, sondern über die Sphäre des ,,realen Seins" gestellt. Gewiß haben die Ontologen völlig recht, wenn sie sagen, daß ,,gerade die Frage nach dem Zusammenhang von realem und idealem Sein im Hinblick auf die Wirklichkeitsverhaltnisse im atomaren Geschehen einer vordringlichen Lösung" bedürfe. Aber diese Lösung ist nicht in der platonischen Fiktion eines selbständigen ,,idealen Seins" zu finden, die trotz der feierlichen Anerkennung des ,,realen Seins" notwendig in den subjektiven Idealismus führt. Die wirkliche Lösung ist vielmehr allein enthalten in dem Bewußtsein, daß auch in den Bereichen der Quantenphysik die ,,mathematischen Gebilde" lediglich bestimmte Formen der Widerspiegelung 131

der objektiven Realität und ihrer objektiven Gesetzmäßigkeit im. menschlichen Bewußtsein sind, und zwar Formen einer besonders hohen Abstraktionsstufe. Tatsächlich zwingen uns die Atome und Elementarteilchen keineswegs zur Preisgabe des Bewußtseins der objektiven Realität oder zur Annahme eines besonderen „idealen Seins" neben und über ihr. Tatsächlich zwingen uns diese Teilchen lediglich durch die Dialektik ihres Daseins zum dialektischen Denken, wenn wir sie wirklich verstehen wollen. Im Prozeß der Erkenntnis der mechanischen Gesetzmäßigkeiten konnte und mußte eine sehr weitgehende — wenn auch selbst in diesen Bereichen keineswegs absolute — gedankliche Isolierung der einzelnen Dinge und Prozesse vorgenommen werden. Der Fehler des mechanistischen Materialismus bestand nicht in dieser relativen, objektiv bedingten Isolierung, sondern in deren Verabsolutierung, in der Übertragung ihrer Grenzen auf qualitativ andersartige Gesetzmäßigkeiten, z. B. auf die biologischen, gesellschaftlichen und quantenphysikalischen. Außerdem wurde auch die Erkenntnis der wissenschaftlichen Notwendigkeit einer gedanklichen Isolierung verabsolutiert, ging das Bewußtsein der Relativität dieser Isolierung verloren und wurde die so verabsolutierte gedankliche Isolierung in die Wirklichkeit projiziert, gedanklich in eine objektiv reale Isolierung verwandelt. Der wirkliche allgemeine wechselseitige Zusammenhang mußte sich, wo er sich auch in den mechanischen Bereichen als unübersehbar erwies, als nachträgliche „Korrektur" durchsetzen. So wurde etwa die Bewegung der Planeten zunächst nur einseitig auf die Anziehungskraft der Sonne zurückgeführt. Dann ergab sich die wechselseitige Anziehung zwischen Sonne und Planet bei der Bewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt und schließlich mußte auch die allgemeine Gravitationswirkung zwischen allen Massen des Sonnensystems berücksichtigt werden, die aber im Bewußtsein der Astronomen lediglich als „Störung" der „reinen" Bewegung durch den Einfluß der übrigen Planeten erschien. In den atomaren und subatomaren Prozessen aber wird der allseitige Zusammenhang, die universelle Wechselwirkung unübersehbar. Da kommt man auch mit „Störungs"-Vorstellungen, mit der Veräußerlichung des Zusammenhangs nicht mehr aus. Denn die konkreten Eigenschaften des einzelnen Elementarteilchens bestimmen sich überhaupt erst in seiner Wechselwirkung mit den anderen Elementar132

teilchen des Systems, in dem es sich befindet. Das zeigt sich, etwa in der als Pauliachea Ausschließungsprinzip bezeichneten Gesetzmäßigkeit, die besagt, daß in einem System von Elementarteilchen mit halbzahligem Spin (also z. B. von Elektronen) keine zwei der in unmittelbarer Wechselwirkung miteinander stehenden Teilchen genau, in jeder möglichen Beziehung den gleichen Energiezustand besitzen können. Weiter zeigt sich, daß sich die Gesamtenergie eines ganz bestimmten Systems von Elementarteilchen — etwa der Elektronenhülle oder des Kerns eines Atoms — nicht restlos auf die einzelnen dieses System bildenden Teilchen aufteilen läßt. Ein Teil dieser Energie — in der Quantenphysik wird er als Austauschenergie bezeichnet — ist nicht Eigenschaft irgendwelcher Komponenten des Systems, auch nicht teilweise, sondern ausschließlich Eigenschaft des Gesamtsystems. Das heißt, daß dieses System eben mehr ist als die bloße Summe seiner Teile, diesen gegenüber eine neue, höhere Qualität repräsentiert. Das drückt sich auch darin aus, daß sich die Schrödingerache Wellenfunktion eines Systems von Teilchen — die mathematisch-abstrakt die Welleneigenschaften eines solchen Systems wiedergibt — nicht aus den Wellenfunktionen dieser einzelnen Teilchen zusammensetzen läßt. Diese und noch viele andere quantenphysikalische Zusammenhänge weisen uns nachdrücklich auf die objektive Dialektik von Individuum und System hin. Im Zusammenhang eines jeden Systems wirkt jedes Individuum auf alle anderen Individuen dieses Systems, ist also bestimmendes Element des Systems, das seinerseits nichts anderes ist, als der Gesamtzusammenhang jener Individuen und doch — eben als ihr wechselwirkender Zusammenhang — etwas qualitativ anderes, höheres ist als die bloße Summe dieser Individuen. Das heißt, das Individuum ist selbst bestimmendes Moment desjenigen Zusammenhanges, der seine eigenen Eigenschaften, sein eigenes Verhalten erst im einzelnen bestimmt. Wir wissen gut, welche große Bedeutung diese objektive Dialektik von Individuum und System, die sich unserem Bewußtsein beim Eindringen in die elementarsten uns heute bekannten Bereiche der Materie so eindrucksvoll offenbart, in den höchstorganisierten Bereichen der Materie, in unserem eigenen menschlichen Leben in der spezifischen Form der Dialektik von Individuum und Gesellschaft 133

besitzt. In der Wirklichkeit unseres gesellschaftlichen Lebens existiert die Dialektik dieses Widerspruchs auf vielen verschiedenen Stufen, in sehr vielen verschiedenen konkreten Formen, die sich gegenseitig durchdringen und bedingen: Individuum und Familie, Individuum und Staat, Familie und Staat, Staat und sozialistisches Weltlager, Staat und Weltlager des Friedens, sozialistisches Weltlager und Menschheit, Individuum und Weltlager des Friedens, Individuum und Brigade, Brigade und Betrieb, Betrieb und staatliche Volkswirtschaft, Volkswirtschaft und sozialistisches Weltlager, sozialistisches Weltlager und weltwirtschaftlicher Zusammenhang, Individuum und Partei, Partei und Internationale usw., usf. Und auch diese Vielfalt sich durchdringender und gegenseitig bedingender Stufen und Formen dieses Gegensatzes von Individuum und System finden wir — natürlich in qualitativ andersartiger Spezifik — bereits in den atomaren und subatomaren Bereichen: Elektron und Elektronenschale, Elektron und Elektronenhülle, Schale und Hülle, Hülle und atomarer Gesamtverband, Kernteilchen und Kern, Kern und atomarer Gesamtverband, Valenzelektronen eines Atoms und andere Atome, Atom und Molekül usw., usf. Dabei befindet sich ein bestimmtes Teilchen nicht j etzt in einem bestimmten einzelnen dieser Zusammenhänge und später in einem anderen, sondern stets gleichzeitig in vielen von ihnen und gleichzeitig auf verschiedenen Stufen. So steht ein einzelnes Hüllenelektron gleichzeitig im Zusammenhang seiner Schale, der ganzen Elektronenhülle und des atomaren Gesamtsystems, steht weiter als konstituierendes Element im Zusammenhang der Schale mit der Hülle, der Schale mit dem Gesamtsystem, und der Hülle mit dem Gesamtsystem sowie in allen Zusammenhängen, in denen das ganze Atom im gegebenen Fall steht, zu dessen konstituierenden Elementen ja auch dieses Elektron gehört. Und erst in der Gesamtheit dieser sich gegenseitig durchdringenden, bedingenden und bestimmenden Zusammenhänge bestimmen sich die konkreten Eigenschaften, das konkrete Verhalten dieses Elektrons und damit auch die konkrete Wirkung, mit der es selbst als bestimmendes Moment in den Gesamtzusammenhang eingeht, der sein eigenes Verhalten bestimmt. Das bedeutet, daß in diesen Bereichen der Natur — ebenso wie in den Bereichen des Menschseins der Menschen — nicht einmal mehr an134

nähernd richtige Erkenntnisse zu gewinnen sind ohne das Bewußtsein der Dialektik dieser Prozesse. Dies zeigte sich z. B. deutlich in einer Mitteilung Werner Heisenbergs auf der Tagung, die die Physikalische Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik im April 1958 zu Ehren des 100. Geburtstages von Max Planck in Leipzig abhielt. Heisenberg teilte dort mit, daß er bei seinen neuesten Versuchen, die quantenphysikalischen Zusammenhänge umfassend mathematisch darzustellen, von der Erkenntnis ausging, daß es unmöglich sei, die Eigenschafben der Elementarteilchen unabhängig von ihrer gegenseitigen Wechselwirkung in den elementaren Systemen zu verstehen und mathematisch zu erfassen. Es ist leicht verständlich, daß infolgedessen auch die mathematischabstrakte Widerspiegelung der Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der Elementarteilchen einen in vieler Beziehung völlig andersartigen Charakter annehmen muß als in den Bereichen der Mechanik. Die entscheidende Bedeutung der allseitigen Wechselwirkung innerhalb eines solchen elementaren Systems — etwa der Elementarteilchen eines Atoms — gestattet nicht, aus der mathematischen Formulierung der Gesetzmäßigkeit des Systems ins einzelne gehende Schlüsse auf das konkrete Verhalten einer bestimmten Komponente dieses Systems zu ziehen. Für die einzelnen Teilchen dieses Systems nimmt die mathematische Formulierung jener Gesetzmäßigkeit notwendig statistischen Charakter, Wahrscheinlichkeitscharakter an. Daraus ist der Schluß gezogen worden, daß im wirklichen Geschehen das Verhalten der Elementarteilchen überhaupt nicht objektiv real determiniert sei. Pascual Jordan spricht sogar geradezu von einer „Entscheidungsfreiheit", Willensfreiheit der Elementarteilchen. Aber allein die durch unsere menschliche Praxis — durch „Industrie und Experiment", wie Engels es einmal ausdrückte — täglich bestätigte Tatsache, daß die Elementarteilchen gezwungen sind, sich in der Wirklichkeit ständig entsprechend der Statistik zu verhalten, beweist zwingend, daß auch diese statistisch formulierten Gesetze objektiv reale, absolut kausal bedingte und absolut determinierende Wechselwirkungen und den objektiven Zusammenhang ihrer Gesetzmäßigkeiten ausdrücken, widerspiegeln, — genauso wie die Gesetze der klassischen Mechanik, — nur eben in statistischer Formulierung. Sicher haben Sie bereits bemerkt, — aber ich möchte das auch ausdrücklich betonen, — daß ich 135

dabei die Begriffe „Kausalität" und „Determination" in dem hier von unserem verehrten sowjetischen Freund Fatalijew entwickelten Sinne verwende und nicht in der gestern von meinem Freund Havemann dargestellten Art. Die Notwendigkeit der statistischen Formulierung aber führt uns an eine weitere wichtige Seite der objektiven Dialektik heran, an die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit. Daß von einem Stück Radium, das aus einer Milliarde Radiumatomen besteht, nach 1590 Jahren 500 Millionen Atome zerfallen sind, sich in andere Stoffe verwandelt haben, und die anderen 500 Millionen weiter als Radiumatome existieren, ist eine im Wesen dieses Prozesses objektiv begründete Notwendigkeit, eine Seite seiner Gesetzmäßigkeit. Ob aber ein bestimmtes der ursprünglichen Radiumatome dabei zu den bereits zerfallenen gehört oder zu denen, die noch nicht zerfallen sind, das ist für den Gesamtprozeß unwesentlich, zufallig. Auch für das einzelne Radiumatom ist es zufallig, daß es gerade in diesem Augenblick und nicht 500 Jahre früher oder später zerfällt. Der Zerfall gehört zwar zu seinem Wesen, zu seiner Gesetzmäßigkeit als Radiumatom. Aber nicht das Zerfallen in einem bestimmten Augenblick. Trotzdem hat es natürlich einen materiellen Grund, ist es absolut kausal bedingt, daß dieses Atom gerade in diesem Augenblick zerfällt, nicht eine Minute früher oder später. Die besonderen individuellen Eigenschaften aller anderen Atome des Radiumstückes, die spezifische Lage und Rolle unseres bestimmten Atoms innerhalb des Gesamtsystems dieses Stückes, die Bedingungen, unter denen sich dieses Gesamtsystem befindet, — das alles gehört nicht dem Wesen, der Gesetzmäßigkeit unseres bestimmten Atoms an, ist ihm äußerlich, zufällig. Aber die Gesamtheit dieser Beziehungen — in die auch jenes Atom selbst als bestimmendes Moment eingeht — bestimmt in ihrer allseitigen Wechselwirkung mit den spezifischen individuellen Eigenschaften unseres Atoms seinen Zerfall. Die Gesamtheit dieser für unser Atom zufalligen Kombinationen — von denen jede selbstverständlich auch ihrerseits kausal bedingt ist, ihren Grund, ihre eigene Notwendigkeit besitzt — schlägt um in die Notwendigkeit, daß jenes bestimmte Atom gerade in diesem Augenblick zerfällt. Wir sehen also, daß die Zufälligkeit ein objektives Verhältnis ist, nicht etwa in der menschlichen Unkenntnis begründet ist. Wir wissen 136

zwar heute noch so gut wie nichts von den wesentlichen Bedingungen, die in einem bestimmten Augenblick ein bestimmtes Atom zum Zerfall zwingen und ein anderes am Zerfall hindern. Aber auch wenn wir einmal alle wesentlichen Bedingungen dieses Zusammenhanges kennen werden, bleiben sie für das zerfallende Atom ebenso zufällig wie sie es schon waren, als überhaupt noch kein Mensch etwas vom radioaktiven Atomzerfall wußte. Wir sehen weiter, daß auch der Zufall immer seinen Grund hat, kausal bedingt ist, innerhalb der Notwendigkeit steht, daß aber sein Grund außerhalb des Wesens, der Gesetzmäßigkeit des Dinges, des Prozesses liegt, dem er zufällt. Wir sehen schließlich, daß der Zufall umschlägt in Notwendigkeit, indem er zum bestimmenden Moment der Gesetzmäßigkeit des Dinges, des Prozesses wird, dem er zufällt, und daß umgekehrt die Gesetzmäßigkeit, das Gesetz sich nicht anders durchsetzen kann als in den Zufälligkeiten des allseitigen Zusammenhangs, daß sich die konkrete Form des Wirkens der Wesensgesetzmäßigkeit eines bestimmten Teilchens, die Notwendigkeit seines wirklichen Verhaltens jeweils bestimmt in den jeweiligen Zufälligkeiten der Bedingungen seiner Existenz, des Zusammenhanges, in dem allein es wirklich existiert. Und eben diese Entgegensetzung und zugleich Einheit, diese gegenseitige Bedingtheit und das Ineinander-Umschlagen von Zufall und Notwendigkeit erfassen wir mathematisch-abstrakt in der statistischen Formulierung von Gesetzmäßigkeiten. Die objektive Notwendigkeit der statistischen Formulierung vieler quantenphysikalischer Gesetzmäßigkeiten enthält also nicht die geringste objektive Begründung für Behauptungen, daß das atomare und subatomare Geschehen akausal, ursachelos verlaufe, daß die Elementarteilchen oder Atome eine „freie Willensentscheidung" besäßen oder daß wir in diesen Bereichen auf prinzipiell unüberschreitbare Grenzen der menschlichen Erkenntnis gestoßen wären. Unsere bisherigen Überlegungen gestatten uns nun auch jene Beziehung des Elementarobjekts zum Meßgerät in ihrem eignen Zusammenhang, und das heißt materialistisch, wissenschaftlich zu verstehen, die in der bürgerlichen Philosophie zu weitgehenden subjektiv-idealistischen Entstellungen des wirklichen Zusammenhanges mißbraucht wird. So wird behauptet, daß die Elementarteilchen und die Atome an sich objektiv überhaupt keine bestimmten Eigen137

Schäften besäßen, daß wir ihnen solche erst durch unseren Beobachtungsakt, durch unsere „Kenntnis" verleihen. Das mikrophysibalische Objekt sei nicht denkbar ohne ein Subjekt, das von ihm Kenntnis nimmt. Wie ist nun der wirkliche Tatbestand ? Wenn wir irgendeine physikalische Eigenschaft irgendeines Dinges messen wollen, so können wir das nur vermittels der Wirkungen, die es auf ein Meßinstrument ausübt. Wirkung aber ist in der Wirklichkeit immer Wechselwirkung. Das heißt, das Meßinstrument wirkt in jedem Meßvorgang auch auf das zu messende Objekt, verändert dessen Zustand. Das gilt in den Bereichen der klassischen Physik ebenso wie in den mikrophysikalischen Bereichen. Schon wenn man einen Körper mit Licht bestrahlt, um sein Verhalten sichtbar zu machen, führt man ihm Energie zu und vergrößert damit seine Masse, unterwirft man ihn weiter dem Lichtdruck — abgesehen davon, daß man damit auch den inneren Zustand seiner Oberflächenatome und die Wärmebewegung aller seiner Atome verändert. Der Unterschied aber besteht darin, daß in den Forschungsbereichen der klassischen Physik diese Rückwirkung der zur Messung erforderlichen Apparatur auf das Meßobjekt unwesentlich ist, von wesentlich geringerer Größenordnung als die zu messenden Größen, daß sie also im Ergebnis vernachlässigt werden kann. Eben dadurch konnte in diesen Bereichen die Illusion der Einseitigkeit der Wirkung vom Objekt auf die Apparatur entstehen, das Bewußtsein der Allseitigkeit der Wechselwirkung verlorengehen. In den Bereichen der Quantenphysik aber wird diese Wechselwirkung wesentlich für das Verhalten des Meßobjekts und damit unübersehbar für den messenden Menschen, kann sie nicht mehr vernachlässigt werden, ohne den wesentlichen Inhalt des Meßergebnisses zu zerstören. Die Form, in der das Elementarteilchen auf seine Umgebung wirkt, in der es für diese in Erscheinung tritt, bestimmt sich in seiner Wechselwirkung mit dieser Umgebung. Sie bestimmt sich in dem gesetzmäßigen inneren Zusammenhang seiner eigenen Eigenschaften, Momente, Tendenzen, aber gleichzeitig unter den objektiven Bedingungen, in denen es jeweils steht, in dem allseitigen Wechselwirkungszusammenhang mit seiner Umgebung. Das ist eine allgemeine — und nicht nur für Elementarteilchen, sondern für jedes Ding, jeden Prozeß gültige — Gesetzmäßigkeit. Sie bestimmt das Verhalten des Elementar138

teilchens in jedem Zusammenhang, — jeweils gemäß der besonderen Struktur des jeweiligen Zusammenhangs, — gleichgültig, ob ein Teil dieses Zusammenhanges ein Meßinstrument ist, das von einem Menschen beobachtet wird, oder ob dies nicht der Fall ist, ob ein Beobachter dadurch Kenntnisse gewinnt oder nicht. Nicht der Beobachter „verleiht" durch seine „Kenntnis" oder durch den „Beobachtungsa k t " dem Elementarteilchen Eigenschafben, die es an sich nicht besäße. Diese Eigenschaften existieren vielmehr objektiv real, außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein. Aber durch eine bestimmte Meßapparatur schafft der Beobachter bestimmte objektive Bedingungen, unter denen die objektiven Eigenschaften des Elementarteilchens in objektiv, gesetzmäßig bestimmter Weise in Erscheinung treten. Und durch die Konstruktion verschiedener Meßapparaturen, die in zweckmäßiger Variation verschiedenartige objektive Bedingungen für das Elementarteilchen schaffen, wird der Beobachter in die Lage versetzt, die verschiedenartigen objektiven Eigenschaften der Elementarteilchen und ihren inneren gesetzmäßigen Zusammenhang immer genauer zu erkennen. D a die Elementarteilchen — im Gegensatz zu den Makroobjekten — nicht gleichzeitig mit verschiedenen Apparaturen in Wechselwirkung treten können, können auch bestimmte, in besonderer Art gesetzmäßig miteinander verbundene Eigenschaften der Elementarteilchen nicht gleichzeitig gemessen werden. Es handelt sich dabei um die kanonisch konjugierten Größen der klassischen Mechanik. Die mathematisch-abstrakte Widerspiegelung jenes objektiven Zusammenhangs sind die Heisenbergaohen Unbestimmtheitsrelationen. Aber es gibt keinen objektiven Grund, daraus zu schließen, daß das Elementarteilchen jene im gegebenen Experiment nicht meßbare Eigenschaft überhaupt nicht besäße — auch nicht in anderen Formen oder Maßen als in den Zusammenhängen, die die klassische Mechanik erforscht. Das heißt, es gibt keinen objektiven Grund, auf diesen neu entdeckten objektiven Zusammenhängen eine subjektiv-idealistische Theorie wie die Komplementaritätstheorie der Kopenhagener Schule aufzubauen. Der alte mechanistische, seinem Wesen nach metaphysische Materialismus suchte in der Wirklichkeit die „Materie als solche", letzte „Bausteine" der Materie mit starren, ein für allemal gegebenen, ewig unveränderlichen Eigenschaften. In unserem Jahrhundert entdeckte die 139

Quantenphysik, daß die Atome aller damals bekannten 92 chemischen Elemente aus nur drei Arten von Elementarteilchen aufgebaut seien, aus Protonen und Neutronen im Kern des Atoms und Elektronen in seiner Hülle. Dabei besitzt jedes Elektron eine negative elektrische Elementarladung, das Proton, eine 1835mal so große Masse wie das Elektron und eine positive Elementarladung, während das Neutron elektrisch neutral ist und fast die gleiche Masse wie das Proton besitzt. Die verschiedenen chemischen Elemente unterschieden sich dabei lediglich durch die Zahl der Protonen und Neutronen im Atomkern und der Elektronen in der Atomhülle, also anscheinend rein quantitativ. Aber dieses mechanistische Bild wurde schnell und gründlich von den Tatsachen zerstört. In rascher Folge wurde eine Fülle weiterer Elementarteilchen mit völlig anderen Eigenschaften entdeckt, unter denen sich Elektron, Proton und Neutron lediglich durch ihre relative Stabilität auszeichnen: Zunächst das Positron mit Elektronenmasse, aber einer positiven Elementarladung; dann das elektrisch neutrale Neutrino mit weniger als 1 / 30 der Elektronenmasse. Sodann wurden — 1935 von dem Japaner Hideki Yukawa auf Grund theoretischer Überlegungen vorausgesagt — zwei als Mesonen bezeichnete Teilchen gefunden, das eine 1937 (später als /¿-Meson bezeichnet) mit 210facher Elektronenmasse in der Höhenstrahlung, das andere 1947 (als jr-Meson bezeichnet) mit 286facher Elektronenmasse in den Atomkernen. Beide Mesonenarten traten sowohl mit positiver wie mit negativer elektrischer Ladung als auch elektrisch neutral auf. Es gelang sogar, künstlich Atome mit einer schweren Atom hülle herzustellen, in der negative ¡xoder jr-Mesonen an Stelle von Elektronen den Atomkern umkreisen, und ebenso sogenannte „kernlose" Atome, in denen das Elektron nicht um einen normalen, aus Protonen und Neutronen bestehenden Atomkern kreist, sondern lediglich um ein Positron. 1942/1943 entdeckten dann die sowjet-armenischen Forscher Abrain I. Alichanow und Artemi I. Alichanjan weitere, von ihnen als Varitronen bezeichnete Elementarteilchen mit 100-, 150-, 200-, 250-, 300-, 430-, 550-, 680-, 840-, 1000-, 1300-, 2500-, 3800-, 8000- und 25000facher Elektronenmasse, von denen die Mesonen lediglich einen Spezialfall darstellen. Inzwischen sind noch viele weitere Varitronenformen gefunden worden. 1953 entdeckte der polnische Forscher Marian Danysz in den Kernen von Bor-Atomen ein neues, als Hyperon bezeichnetes Ele140

mentarteilchen mit 2182facher Elektronenmasse und damit die Existenz von überschweren, als Hyperkerne bezeichneten Atomkernen. 1955 wurde dann das — theoretisch bereits vorausgesagte — Antiproton entdeckt, das Protonenmasse aber eine negative elektrische Elementarladung besitzt. Schon zu Beginn des Jahrhunderts zeigte sich, daß die elektromagnetische Strahlung nicht nur ein kontinuierlicher Schwingungsprozeß ist, sondern auch diskontinuierliche, korpuskelhafte Eigenschaften besitzt; daß sie — genauso wie der Stoff — ihre eigenen Elementarteilchen besitzt, die Photonen, und ebenso die Eigenschaften der Trägheit und der Schwere (also Masse), die bis dahin gerade als die spezifischen Kennzeichen des Stoffes angesehen worden waren. 1927 ergab sich, daß umgekehrt auch die Elementarteilchen des Stoffes, ja die Atome und sogar die einfachsten Moleküle nicht nur diskreten, korpuskularen Charakter besitzen, Teilchencharakter, sondern auch kontinuierlichen Wellencharakter, unter bestimmten Bedingungen mit bestimmten ihrer Eigenschaften wellenartig schwingend größere Raumbereiche erfüllen. Ja, in den stabilsten Formen der Materie, die wir heute kennen, in den Atomkernen, existieren die Teilchen überhaupt nicht gesondert nebeneinander, sondern feldförmig, wellenartig schwingend und sich gegenseitig durchdringend. So wie auch die Elektronen der Atomhülle nicht wie winzige Planeten den Kern umkreisen, sondern mit bestimmten ihrer Eigenschaften wellenartig schwingend und sich gegenseitig durchdringend die ganze Schale ausfüllen, der sie angehören. Im Jahre 1934 gelang es dann zum erstenmal, die Umwandlung von Strahlung in Stoff und von Stoff in Strahlung zu beobachten, die Umwandlung eines Photons der Gammastrahlung in ein Elektronenzwillingspaar (ein Elektron und ein Positron) und eines solchen Paars in zwei Photonen. Und ständig finden die Forscher noch heute immer neue Formen von Elementarteilchen und immer neue, überraschende Zusammenhänge zwischen ihnen. Die Materie offenbarte gerade in ihren elementarsten Strukturen, die man sich metaphysisch-mechanistisch so ganz besonders einfach vorgestellt hatte, ihre ganze Unerschöpflichkeit, ihre unerschöpfliche Dialektik. So wie Lenin sie schon sah, als er seinen „Materialismus und Empiriokritizismus" schrieb, ohne ahnen zu können, was in den folgenden Jahrzehnten entdeckt werden würde; so wie Marx und Engels 141

sie schon gesehen hatten, zu deren Lebzeiten die Wissenschaft noch nicht einmal das Tor zur konkreten Erforschung der subatomaren Bereiche aufgestoßen hatte. Die Materie offenbarte dabei vor allem unübersehbar, daß ihre Daseinsweise die Bewegung ist, daß ihr die Bewegung, die Veränderung nicht — wie es die mechanistische Auffassung hatte erscheinen lassen — von fremden, äußeren Gewalten aufgezwungen wird, daß sie vielmehr überhaupt nur existiert im ständigen Prozeß der Veränderung. I n den elementarsten heute bekannten Bereichen ihrer Existenz fand sich — entgegen der Erwartung — nichts Starres, Endgültiges, keine ein für allemal gegebenen, unveränderlichen Qualitäten, sondern einzig der ewige, unablässige Prozeß. Selbst in ihren stabilsten uns bekannten Strukturen, den Atomkernen, existiert die Materie nur im Prozeß der ständigen Veränderung, des unablässigen Austausches der elektrischen und der mesonischen Ladung zwischen den verschiedenen Teilchen, der Umwandlung der verschiedenen Arten von Teilchen ineinander, wobei die Lebensdauer einzelner dieser Teilchen nur millionstel bis trillionstel Sekunden beträgt. Und das Begreifen der Bewegung, der Veränderung, des Prozesses als der Daseinsweise der Materie läßt uns auch das Wesen des Zusammenhanges tiefer begreifen. Da sich alles Wirkliche nur in seinem Zusammenhang mit anderem Wirklichen wirklich bestimmt, ist die ständige Veränderung des einen zugleich die Bedingung für die ständige Veränderung des anderen. Der Zusammenhang ist seinem Wesen nach zunächst Wirkungszusammenhang, determinierendes Moment der allseitigen Wechselwirkung. Aber indem er dies ist, ist er zugleich notwendig Bewegungs-, Veränderungszusammenhang. Aber die atomaren und subatomaren Prozesse lehren uns noch mehr. Sie zeigen uns, daß die Veränderungen des Zustands, der Struktur der Materie nicht ausschließlich quantitative sind; daß vielmehr diese zunächst notwendig quantitativ bestimmten Veränderungen unter jeweils bestimmten Bedingungen in qualitative Veränderungen umschlagen, in Veränderungen des Wesens des Zusammenhanges, in Veränderungen seiner Gesetzmäßigkeit. Die Umwandlung der verschiedenen Teilchen ineinander in den atomaren Kernprozessen oder in der Höhenstrahlung sind qualitative Veränderungen, die gesetzmäßig unter bestimmten Bedingungen den zunächst rein quantita142

tiven Veränderungs-, Bewegungsprozessen entspringen, Ebenso der Massedefekt, die Umwandlung von Teilen der stofflichen Materie in strahlende Materie, etwa bei der Bildung von Heliumkernen aus Wasserstoffkernen, Deuteronen und Tritonen, wie sie ständig in der Sonnenatmosphäre vor sich geht. Ebenso das Eindringen von Neutronen in Atomkerne, durch das unter bestimmten Bedingungen stabile Kerne in radioaktiv-instabile verwandelt werden; der radioaktive Zerfall, bei dem die chemischen und physikalischen Qualitäten der Atome sich ändern; die Bildung von Hyperkernen oder schweren Atomhüllen, bei der sich die gesamte Gesetzmäßigkeit des atomaren Zusammenhangs verändert, usw. usf. Damit führen uns die elementaren Prozesse auch zu einem tieferen Verständnis der Bewegung als der Daseinsweise der Materie. Die Bewegung ist nicht nur Prozeß der Veränderung überhaupt, sondern sie ist der schöpferische Prozeß, in dem die Materie aus der Gesetzmäßigkeit ihrer eigenen Wirkungszusammenhänge heraus ständig neue Qualitäten ihrer eigenen Struktur, ihrer eigenen Existenz hervorbringt. Und zugleich verstehen wir nun auch nochmals tiefer das Wesen des allseitigen Zusammenhangs, der nicht nur Wirkungs-, Bewegungs-, Veränderungszusammenhang ist, sondern — eben indem er dies ist — der Zusammenhang, in dem sich die schöpferische K r a f t der Materie bestimmt, ihre jeweils bestimmte, konkrete Form erhält. Die Gesetzmäßigkeiten des Zusammenhangs, der Bewegung und der qualitativen Veränderungen im Daseinsprozeß der Elementarteilchen richten unsere Aufmerksamkeit auch noch auf eine andere Seite der allgemeinen dialektischen Gesetzmäßigkeit; nämlich darauf, daß alles Wirkliche nur als Einheit von Gegensätzen existiert. Wir sahen, daß das Atom nur in der Einheit der positiven elektrischen Ladung des Kerns und der ihr entgegengesetzten negativen Ladung der Elektronenhülle existiert. Wir fanden die Entgegensetzung von Stoff und Strahlung und sowohl bei den Elementarteilchen des Stoffes wie bei denen der Strahlung, den Photonen, den Gegensatz von Diskontinuität und Kontinuität, von korpuskularen und Wellen-Eigenschaften, wobei bei den Elementarteilchen des Stoffes die diskontinuierlichen, korpuskularen Eigenschaften die übergreifende, die dominante, die den Charakter des Zusammenhanges bestimmende Seite bilden, bei den Photonen dagegen die kontinuierlichen, die Wellen143

Eigenschaften. Wir sahen, daß zu fast allen heute bekannten Teilchen auch die entsprechenden Antiteilchen gefunden wurden, die ihnen entweder in der elektrischen oder der mesonischen Ladung oder in anderer Beziehung entgegengesetzt sind. Diese einander entgegengesetzten Eigenschaften aber stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Sie bedingen und bestimmen sich gegenseitig. So ist beispielsweise der mathematische Ausdruck für das Energiequantum E eines Photons derjenigen Strahlung, die die Frequenz, die Schwingungszahl v besitzt, bekanntlich E = h • v, wobei h = 6,62 • 10—27 erg sec das elementare Wirkungsquantum ist. I n dieser Gleichung spiegelt sich mathematisch-abstrakt die Einheit der einander entgegengesetzten diskontinuierlichen, korpuskularen Eigenschaften (Quantelung der Energie) und der kontinuierlichen Welleneigenschaften (Zahl der Wellenschwingungen pro Sekunde) wider. Und nicht nur ihre Einheit überhaupt, sondern auch ihre gegenseitige gesetzmäßige Bedingtheit und Bestimmung. In dieser Gleichung — wie übrigens auch in den Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelationen und vielen anderen Gleichungen der Quantenphysik — drückt sich mathematisch aus, daß jede dieser einander entgegengesetzten Eigenschaften nur in der anderen und durch die andere existiert. Alles Wirkliche existiert nur als Einheit einander entgegengesetzter Eigenschaften, Seiten, Teile, Momente, von denen jedes in der allseitigen Wechselwirkung die Aufhebung, die Negation des anderen ist, indem es für dieses determinierende Bedingung seiner eigenen gesetzmäßigen Veränderung ist. Der ständige Kampf seiner eigenen einander entgegengesetzten Eigenschaften, Seiten, Teile, Momente ist das wirkliche Leben, der reale Daseinsprozeß jedes wirklichen Dinges. Und die Einheit und den Kampf des Entgegengesetzten, der Gegensätze, die sich zugleich ausschließen und zugleich bedingen, bezeichnen wir als den Widerspruch. In ihrem niemals ruhenden Kampf durchdringen sich die Gegensätze gegenseitig. Wir fanden den Widerspruch von diskontinuierlichen und kontinuierlichen Eigenschaften, von Korpuskel und Welle, in dem die Materie in ihren elementarsten uns heute bekannten Strukturen existiert. Dabei stellen beim Stoff die diskontinuierlichen Eigenschaften die übergreifende, die dominante, die den G«samtcharakter 144

des Widerspruchs bestimmende seiner beiden Seiten dar, bei der Strahlung dagegen die kontinuierlichen Eigenschaften. Wir fanden so den Gegensatz von Stoff und Strahlung. Aber wir fanden auch, daß dieser Gegensatz nicht absolut, nicht ausschließend ist, daß zum Beispiel in den stabilsten uns heute bekannten elementaren Strukturen der Materie, den Atomkernen, die Elementarteilchen des Stoffes als schwingende Strahlungsfelder existieren. Oder ein anderes Beispiel:

gegenüber aber verhält sich das Alumiumhydroxyd wie eine schwache Säure und verbindet sich auch mit ihnen zu neutralen Salzen, ζ. B. mit Natriumhydroxyd (Natronlauge) zu Natriumaluminat NaA10 2 . I m Aluminiumhydroxyd durchdringen sich also die beiden einander entgegengesetzten chemischen Charaktere, der basische und der saure. Wir sahen aber auch, daß die Gegensätze sich nicht nur gegenseitig durchdringen, sondern in ihrem Kampf auch unter gesetzmäßig bestimmten Bedingungen ineinander umschlagen. Wir fanden in den Kernprozessen wie in der Höhenstrahlung die ständige, unvorstellbar schnelle Umwandlung von Elementarteilchen in andere Teilchen mit in vieler Beziehung entgegengesetzten Eigenschaften. Wir fanden das Umschlagen von Stoff in Strahlung im Massedefekt, in den Kernprozessen, in der Höhenstrahlung, im radioaktiven Zerfall usw., usf. Was aber bedeutet dieses Umschlagen der Gegensätze ineinander in seinem Wesen ? Betrachten wir etwa den Massedefekt bei der Bildung von Heliumkernen aus Wasserstoffkernen, Deuteronen und Tritonen. Jede dieser Komponenten existiert für sich in dem Widerspruch zwischen diskontinuierlichen und kontinuierlichen, Korpuskel- und Welleneigenschaften. Dabei sind in diesem Widerspruch die diskontinuierlichen Eigenschaften dominant. Unter den Bedingungen der neuen Einheit, die der Prozeß hervorbringt, im Heliumkern, wird der Kampf dieser Gegensätze auf die Spitze getrieben. Ihre Einheit kann in der bisherigen Form nicht weiterbestehen. In einem gesetzmäßig bestimmten Teil des ursprünglichen Stoffes schlägt innerhalb jenes Widerspruches die Dominanz um von der Seite der Diskontinuität auf die Seite der Kontinuität, schlägt dieser Teil des Stoffes um in seinen eigenen spezifischen Gegensatz, in Strahlung. Das aber be10

Naturwissenschaft und Philosophie

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deutet nichts anderes, als daß hier nach zwei Seiten hin eine qualitative Veränderung stattgefunden hat: einmal eine Umwandlung eines Teiles des Stoffes in Strahlung und zum anderen die Entstehung einer neuen stofflichen Qualität, der Heliumkerne. Mit dem Begreifen der Rolle des Widerspruchs im Daseinsprozeß der Materie verstehen wir also erst das wirkliche Wesen der qualitativen Veränderung als das Umschlagen der Dominanz unter den Polen innerhalb desjenigen Gegensatzpaares, das den Charakter, das Wesen eines materiellen Zusammenhanges bestimmt; oder auch als den Übergang der bestimmenden Rolle dieses Paares von Gegensätzen auf ein anderes solches Paar. Und zugleich begreifen wir nochmals tiefer das Wesen der Bewegung als Daseinsweise der Materie, deren niemals ruhender Motor eben der Kampf der Gegensätze ist; und das Wesen des Zusammenhangs, der in seinem tiefsten Grunde nichts anderes ist als der Zusammenhang, die wechselwirkende, gesetzmäßig bestimmte Einheit der einander entgegengesetzten, miteinander kämpfenden Eigenschaften, Seiten, Momente der wirklichen Dinge; also nichts anderes als die Wechselwirkung des Entgegengesetzten, der Zusammenhang innerhalb der Widersprüche und zwischen den Widersprüchen. Die Daseinsweise der Elementarteilchen, die Gesetzmäßigkeit ihres Zusammenhangs und ihrer Bewegung führen uns aber noch tiefer in die allgemeinsten Formen der Gesetzmäßigkeit der Materie, in die Dialektik hinein. In der Entfaltung des das Wesen eines materiellen Zusammenhanges bestimmenden Widerspruchs bis zu seiner äußersten Zuspitzung schlägt in diesem Widerspruch die Dominanz der Pole um, verändert sich dieser Zusammenhang qualitativ. Im Massedefekt beispielsweise schlägt die Dominanz der diskontinuierlichen, korpuskularen Eigenschaften über die kontinuierlichen, feldförmigen Eigenschaften in die Dominanz dieser über jene um, schlägt Stoff um in sein eigenes Gegenteil, in Strahlung, wird Stoff negiert durch Strahlung. Aber damit hat der Prozeß der Veränderung nicht sein Ende gefunden, auch nicht nach dieser besonderen Seite hin. Werden etwa Quanten dieser Strahlung von einem anderen Atom absorbiert, so gehen sie als Bestandteil in die Kern- oder Hüllenzusammenhänge dieses Atoms ein, werden sie erneut zu stofflichen Bestandteilen. Die Dominanz der Pole in dem Widerspruch zwischen Stoff und Strahlung 146

schlägt erneut um, auf die Seite der stofflichen Eigenschaften. Die Negation des Stoffes durch die Strahlung wird erneut negiert, die Strahlung schlägt um in Stoff. Heißt das, daß durch die Negation der Negation der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt wurde? Offenbar nicht! In diesem Prozeß ist — um bei unserem Beispiel zu bleiben — nicht jener Wasserstoffkern wiederhergestellt worden, der sich bei der Bildung des Heliumkerns mit anderen vereinigte, sondern ein Teil von ihm ist zum konstituierenden Bestandteil eines anderen Atoms — sagen wir etwa eines Sauerstoffatoms — geworden, dessen Zustand qualitativ verändernd. Im Gesamtzusammenhang gesehen — beschränkt auf die von unserem Beispiel erfaßten Seiten — ist aus den relativ isolierten Wasserstoffkernen und jenem Sauerstoffatom bei der ersten Negation neben dem Sauerstoffatom ein Heliumatom und Gammastrahlung entstanden, bei der Negation der Negation neben dem Heliumatom ein neuer, veränderter Zustand jenes Sauerstoffatoms. Im wirklichen Ergebnis ist der Prozeß durch diese Negation der Negation nicht zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, sondern hat dabei seine ganze inzwischen verlaufene Geschichte in sich aufgenommen. Im gesetzmäßigen Zusammenhang des Atoms existieren die das Atom konstituierenden Elementarteilchen (im Kern wie in der Hülle) feldförmig, wellenartig schwingend. Der Atomverband ist die Negation ihrer diskreten, korpuskularen, stofflichen Existenz. Aber diese Negation wird im gleichen Prozeß negiert durch die diskrete, korpuskulare, stoffliche Existenz des Atoms, in dem die stoffliche Existenz der Elementarteilchen aufgehoben ist in dem dreifachen Sinne von zugleich vernichtet (negiert), bewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben, auf die Stufe des Atomverbandes, eine qualitativ höhere Stufe der Struktur der Materie als sie die einzelnen Elementarteilchen darstellen. Die höhere Stufe der Qualität erweist sich darin, daß das Atom alle Gesetzmäßigkeiten des Daseins der Elementarteilchen besitzt, zum Beispiel auch den Widerspruch zwischen korpuskularen und feldförmigen Eigenschaften, daß aber zu diesen eine neue Art von Eigenschaften, eine neue Gesetzmäßigkeit hinzutritt, die die einzelnen Elementarteilchen nicht, auch nicht teilweise besitzen, die aber in der Daseinsweise der Atome dominant ist, die Eigenschaften der niederen Stufe modifizierend, die konkreten Wirkungsformen der 10«

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niederen Gesetzmäßigkeiten bestimmend: die chemischen Eigenschaften, die chemische Gesetzmäßigkeit. Die chemische Affinität, die Fähigkeit und die Tendenz der Atome (mit Ausnahme der Edelgase), sich unter bestimmten Bedingungen mit anderen Atomen zu Molekülen zu verbinden, beruht in Wellenresonanzen zwischen den Valenzelektronen, den Elektronen in den äußersten Schalen der Elektronenhüllen der betreffenden Atome. Die chemische Verbindung von Atomen zu Molekülen ist also die korpuskulare Negation der Wellennegation der Valenzelektronen auf einer noch höheren als der vorher betrachteten Stufe, unter der Wirkung einer neuen, höheren, der chemischen Gesetzmäßigkeit. So führen uns die Elementarteilchen bis in das tiefste Wesen des Zusammenhangs, der Bewegung, der Entwicklung, die unter bestimmten — natürlich nicht beliebigen — Bedingungen notwendige', gesetzmäßige Höherentwicklung in der Negation der Negation ist, in der die Materie durch die Bewegung, die Entwicklung, die äußerste Zuspitzung der Widersprüche, in denen allein sie wirklich existiert, notwendig, gesetzmäßig selbst immer neue, immer höhere Qualitäten ihres Zusammenhanges, ihrer Struktur, ihrer Bewegung, ihrer Gesetzmäßigkeit produziert. Die Erkenntnis der dialektischen Gesetzmäßigkeit der elementaren Prozesse ist für uns Menschen von größter Bedeutung. Denn sie ist die eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß wir die ungeheuren in ihnen enthaltenen Energiemengen beherrschen, in den Dienst unserer eigenen menschlichen Entwicklung stellen, dem ständig wachsenden Reichtum einer wahrhaft menschlichen Existenz aller Menschen nutzbar machen können. Aber sie ist eben nur eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür. Es gibt noch eine zweite, nicht minder wesentliche ! Noch besitzt auf einem Drittel der Erde eine winzige Schicht von großen Ausbeutern, die Herren der Monopole, die Verfügungsgewalt über die Produktivkräfte der Gesellschaft, über die Ergebnisse der gesellschaftlichen Arbeit, über die materiellen und ideologischen Machtmittel des Staates. Die ständige Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus und der Beginn der neuen zyklischen Krise auf der einen Seite, auf der anderen Seite die ständig wachsende Kraft, die ständig zunehmende Überlegenheit des sozialistischen Weltlagers und die wachsende Kraft der Arbeiterklasse auch in den imperiali148

stischen Ländern lassen die Herren immer deutlicher fühlen, daß das objektive Gesetz der Geschichte ihr Abtreten von der Bühne der Geschichte verlangt. Um ihre Macht und ihre Privilegien noch für einige Zeit zu erhalten, bereiten sie dei} dritten, den Atombombenweltkrieg gegen die Staaten des Sozialismus vor, sind sie bereit und gewillt, die unvorstellbar großen Energiemengen der elementaren Prozesse für ihre unmenschlichen Zwecke einzusetzen. Und sie sind dazu auch in der Lage, wenn die Arbeiterklasse, wenn die Werktätigen, wenn die friedliebenden Menschen und Völker der ganzen Welt sie nicht daran hindern. Das aber bedeutet: Nur dadurch, daß die Menschen zu Herren ihrer eigenen Geschichte werden, das objektive Gesetz ihrer eigenen gesellschaftlichen Daseinsweise erkennen und meistern lernen, — dadurch erst werden sie auch zu wirklichen Herren der Atomenergie wie aller übrigen von ihnen erforschten Naturkräfte. Die Kenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Gesellschaft, der historische Materialismus, bedurfte zu ihrer Entstehung nicht der Kenntnis der Dialektik in den atomaren und subatomaren Bereichen. Sie entwickelte sich notwendig, gesetzmäßig als die Weltanschauung der Arbeiterklasse in den Klassenkämpfen der kapitalistischen Gesellschaft, lange bevor die Menschen den ersten Blick in die Welt der Elementarteilchen zu tun vermochten. Und doch vermitteln uns die Elementarteilchen auch ein tiefes Verständnis der Dialektik unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Die Menschen waren fähig, in die subatomaren Bereiche einzudringen, von deren Existenz sie bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatten, deren Objekte weit unterhalb der Grenze der unmittelbaren Erkennbarkeit durch die menschlichen Sinnesorgane liegen. Damit bestätigen uns die Elementarteilchen in glanzvoller Weise die Gewißheit, die uns die Wissenschaft des dialektischen Materialismus gibt: daß es nichts gibt in der wirklichen Welt, das für die Menschen prinzipiell, unter allen Bedingungen unerkennbar wäre; daß die Menschen alles, worauf sie beim Verändern der Welt f ü r ihre menschlichen Zwecke stoßen, auch — früher oder später, langsamer oder schneller — erkennen können. Freilich nur dann, wenn sie sich dem bisher Unbekannten gegenüber wahrhaft menschlich, aktiv verhalten; wenn sie ihm gegenüber nicht resignieren, sondern zielstrebig und sinnvoll 149

handeln, getragen von dem Bewußtsein, daß alles Wirkliche seine eigene objektive Gesetzmäßigkeit besitzt, daß die Menschen diese erkennen und dadurch in den Dienst ihres Veränderns der Welt für ihre menschlichen Zwecke stellen können. Und zugleich geben die Elementarteilchen den Menschen durch die Erkenntnis und Beherrschung ihrer Gesetzmäßigkeit so unvorstellbare Energiemengen in die Hand, daß sie uns damit den erneuten und vielleicht eindrucksvollsten Beweis für die prinzipielle Unbegrenztheit der menschlichen Schöpferkraft geben, deren jeweilige wirkliche Grenzen immer nur historisch bedingt sind; für die Unbegrenztheit der menschlichen Schöpferkraft, sobald die Menschen sich zu Herren ihrer eigenen Geschichte gemacht haben, das heißt, in der kommunistischen Gesellschaft, die heute schon in der Sowjetunion aufgebaut, in den volksdemokratischen Ländern planmäßig vorbereitet wird und die einst notwendig, gesetzmäßig von allen Völkern der Erde errichtet und gemeinsam ständig weiterentwickelt werden wird. Die Imperialisten aber und ihre ideologischen und militaristischen Lakaien, Agenten und Werkzeuge fürchten und hassen die Verbreitung und Festigung dieses Bewußtseins in den Massen der werktätigen und friedliebenden Menschen. Um die Entwicklung dieses Bewußtseins zu hemmen, ist ihnen jedes Mittel recht, von der pfäffischen Verdummung bis zum Justizterror, der Verfolgung, ja dem Verbot der kommunistischen und Arbeiterparteien in den heute noch von ihnen beherrschten Ländern, bis zur Spionage und Sabotage in den Ländern, die heute schon den Sozialismus und Kommunismus aufbauen. Und selbst der Elementarteilchen versuchen sie sich zu diesem Zweck zu bedienen, nicht nur in Atom- und Wasserstoffbomben, sondern auch dadurch, daß sie die Verfälschung ihrer Gesetzmäßigkeiten auf die Spitze treiben und gewissenlos für ihre ideologischen Zwecke mißbrauchen. Das entspricht nicht dem Willen der ehrlichen und bedeutenden bürgerlichen Quantenphysiker, die in der physikalischen Theorie auf agnostizistischen und subjektiv-idealistischen Positionen stehen. Ja, das steht sogar in schärfstem Gegensatz zu dem Willen der besten unter ihnen. Das beweist der mutige Protest der Göttinger Achtzehn und der Kampf vieler weiterer westdeutscher Naturwissenschaftler gegen die atomare Aufrüstung Westdeutschlands, der Kampf vieler namhafter Wissenschaftler der ganzen Welt gegen die imperialistische 150

Drohung mit dem Atomtod. Aber das schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß die ideologischen Agenten des Imperialismus jene Theorien leicht f ü r ihre menschenfeindlichen Zwecke mißbrauchen können unter Berufung auf die angeblich „neuesten Ergebnisse" der Wissenschaft, unter Mißbrauch der Autorität bedeutender Wissenschaftler. Die Elementarteilchen und Atome existieren gar nicht wirklich, sondern nur in unserer Vorstellung ? Da alles Wirkliche aus Elementarteilchen und Atomen besteht, so folgt logisch, daß die ganze Welt, und damit auch Krise und Krieg, Elend und Not gar nicht wirklich, sondern nur in unserer Vorstellung existieren. Dann aber brauchte man ja auch die Welt nicht zu verändern. Die Vorgänge in den atomaren und subatomaren Bereichen — und folglich letzten Endes alle Vorgänge in der Welt — sind akausal, ursachelos ? Dann könnte m a n die Welt gar nicht zweckbestimmt verändern, weil m a n d a n n ja nie vorher wissen könnte, was bei unserm tätigen Eingreifen in ihr Geschehen am Ende herauskommt. Noch einen entscheidenden Schritt weiter geht Pascual Jordan, wissenschaftlich der unbedeutendste unter den Quantenphysikern, dafür im Gegensatz zu allen bedeutenden Quantenphysikern ein offener Propagandist des imperialistischen Atombombenkrieges. E r schließt seine Darstellung der modernen Quantenphysik mit der Frage, ,,. . . ob nicht vielleicht die ganze Welt — und wir mit ihr — nur ein Traum Gottes sei; ob nicht Gebete und Riten vielleicht nichts anderes seien, als der Versuch, IHN tiefer einzuschläfern, damit ER nicht erwache und aufhöre uns zu träumen".1 Wenn aber die Welt nur ein Traum Gottes wäre, dann dürften wir ja nicht einmal versuchen, sie zu ändern, weil wir sonst dabei den Schläfer wecken könnten, er aufhören würde, uns zu träumen, die ganze Welt — und wir mit ihr — in Nichts zusammenstürzen würde. Die Vorstellung aber, daß wir die Welt nicht zu verändern brauchten, nicht verändern könnten, nicht verändern dürften, ist die Preisgabe unseres Menschseins, das ja gerade im tätigen gesellschaftlichen Handeln, im Verändern der Welt zu w a h r h a f t menschlichen Zwecken besteht. Doch eben diese Passivierung der Arbeiterklasse, der Werktätigen, der friedliebenden Menschen ist der 1

Pascual Jordan, S. 163.

„Die Physik des 20. Jahrhunderts", Braunschweig 1947,

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gewollte Klassenzweck der imperialistischen und militaristischen Ideologie, der Verfälschung und Mystifizierung der wirklichen, objektiv realen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, vor allem im gesellschaftlichen Leben der Menschen, aber zu eben diesem Zweck auch — im Gegensatz zu den bedeutendsten Quantenphysikern — in den elementaren Bereichen der Materie. Dagegen ist der gewollte Klassenzweck der Weltanschauung der Arbeiterklasse, der Wissenschaft des dialektischen und historischen Materialismus, die objektive Wahrheit, die ganze Wahrheit. Und darum verschafft die Theorie der Arbeiterklasse und deren gesellschaftliche Praxis im Klassenkampf und beim Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus — in den Brigaden der sozialistischen Arbeit, in den Betrieben der Industrie und der Landwirtschaft, in der Entwicklung der Wissenschaft, in der Tätigkeit der Partei, der Massenorganisationen und des Staatsapparates, in der Erziehung und der allseitigen Entwicklung der Fähigkeiten aller einzelnen Menschen und in der internationalen Politik — den Menschen in immer stärkerem Maße das Bewußtsein der Unbegrenztheit ihrer menschlichen Schöpferkraft, der ganzen Größe, Schönheit und Verantwortlichkeit ihres Menschseins. Und eben dieses Bewußtsein ist die stärkste aktivierende Kraft. Es befähigt die Menschen, den Imperialisten und Militaristen die Atombombe aus der Hand zu schlagen k der Erde den Frieden zu erkämpfen; es befreit die Naturwissenschaftler von ideologischen Hemmungen in ihrer Arbeit und befähigt sie, in immer rascherem Tempo der Natur immer neue Geheimnisse zu entreißen; es befähigt unter den gesellschaftlichen Bedingungen des Sozialismus und des Kommunismus die Menschen, durch die Beherrschung der gewaltigen Energien der elementaren Prozesse den Reichtum aller werktätigen Menschen unbegrenzt zu steigern. Dieses Bewußtsein befähigt die Menschen, sich Schritt um Schritt auch die unvorstellbaren Reichtümer des unendlichen Weltenraumes nutzbar zu machen, zu dem uns die Werktätigen der Sowjetunion gerade jetzt in so überraschender und glanzvoller Weise den ersten Zugang geöffnet haben. 2 2

Ausführlicher ist die Dialektik der atomaren und subatomaren Prozesse dargestellt in: Klaus Zweiling, Der Leninsehe Materiebegriff und seine Bestätigung durch die moderne Atomphysik, Berlin, 4. Auflage 1958.

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E I N I G E B E M E R K U N G E N ZU D E N B E I T R Ä G E N VON MAX VON L A U E U N D R O B E R T H A V E M A N N Hermann

Ley

(Berlin)

Zunächst gestatten Sie einige Bemerkungen zu dem uns freundlichst übersandten Beitrag des Herrn von Laue. Wir hörten seine Darlegungen mit Aufmerksamkeit schon allein der Tatsache wegen, daß Max von Laue Interesse an unserer Begegnung zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen fand und sich an dieser Aussprache durch den uns übersandten Beitrag beteiligen wollte. Er beschäftigt sich in ihm im besonderen mit Problemen der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins. Das Maßgebliche seiner Ausführungen sind die Schlußworte, die ich noch einmal wiederholen möchte. Sie lauten: „Es gibt keinen erkenntnistheoretischen Zwang zur Annahme eines bestimmten Maßsystems für Raum oder Zeit. Aber die Natur schreibt uns ein solches vor, sofern wir es mit der Mechanik und Gravitationstheorie in Zusammenhang bringen wollen. Und zwar sind die natürlichen Maßsysteme für Raum und Zeit miteinander gekoppelt und festgelegt durch das vierdimensionale Führungsfeld, welches nach der allgemeinen Relativitätstheorie eine nichteuklidische Geometrie hat. Es ist keineswegs eine mathematische Erfindung, sondern eine allen physikalischen Vorgängen zugrunde liegende Realität. Diese Erkenntnis ist Albert Einsteins größte Leistung. Sie bewährt das Schillerwort: ,Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde'." Dieser Hinweis auf die Objektivität der Naturerscheinungen ist in einem Zeitalter, in dem Positivismus und Neopositivismus an der Objektivität und Erkennbarkeit der Erscheinungen zu deuteln suchen oder agnostizistische, indeterministische, irrationalistische Varianten des Idealismus vortragen, von besonderer Wichtigkeit. Diese Aussagen erscheinen mir zugleich wichtiger als Laues einleitende Be153

merkungen zu sein. Seine Schlußsätze atmen den Geist des naturwissenschaftlichen Materialismus. Die zuvor gegebene Begründung entspricht dem weniger. Sie nimmt äußerlich Einwendungen des subjektiven Idealismus auf. Tatsächlich ist diese Beziehung aber nur äußerlich. Max von Laue hält sich nämlich an Kants Meinung, Raum und Zeit seien der menschlichen Vernunft eingeprägte Formen der Anschauung. Er meint, seine faktisch materialistische Auffassung des Raum-Zeit-Problems sei mit der bei Kant vorhandenen subjektiv-idealistischen Darstellung von Raum und Zeit identisch. Er vermutet, daß die der menschlichen Vernunft eingeprägten Formen der Anschauung im menschlichen Bewußtsein mit Selbstverständlichkeit auftreten. Sie erscheinen dort sozusagen, wie man im idealistischen Sprachschatz häufig zu sagen pflegt, auf Grund einer Kommunikation des Genius mit der Natur. Sie entspringen unmittelbar klarer Einsicht, weil sie selbstverständlich sind. Man kann sich also, wie Max von Laue sagt, einen leeren, von allem physikalischen Geschehen, insbesondere von jeder Materie freien Raum vorstellen, aber kein solches Geschehen ohne Raum. Deshalb betrachtet er die Raumvorstellungen der physikalischen Erfahrung in diesem Sinne als a priori. Max von Laue läßt jedoch diesen Gedanken als Schlußfolgerung einer Reihe Überlegungen auftreten, in denen deutlich die objektive Erfahrung des Naturwissenschaftlers zum Ausdruck kommt. Die physikalische Erfahrung ist entsprechend seiner eigenen Darstellung bereits in diese Raumvorstellungen eingegangen und erscheint nur dann als a priori, wenn auf die aus der Anschauung der Prozesse der materiellen Wirklichkeit entstandenen Elemente der Wahrnehmung und ihrer begrifflichen Verarbeitung rückblickend verzichtet wird. Den gleichen Gedanken verfolgt Max von Laue hinsichtlich der Zeit. Er grenzt sich ausdrücklich gegen die innere Anschauung ab, obwohl er meint, auch von ihr ausgehen zu können. Er verarbeitet die im Bewußtsein vorhandenen Eindrücke, wenn er das Entstehen der Vorstellungen eines Apriori nachvollzieht, die Formen der Anschauung aber nicht von der wirklichen Entstehung der Begriffe getrennt betrachtet. Max von Laue benutzt übrigens die Gelegenheit zu bemerken, daß trotz der höheren Dimensionen der Mathematiker der unserer Anschauung zugängliche Raum nur drei Dimensionen besitzt, die vierte Dimension der Zeit aber den Richtungssinn der Ereignisse darstellt, die sich 154

in dem Raum der drei Dimensionen vollziehen.Wenn Laue von einem Apriorismus spricht, so ist es in keinem Fall der Apriorismus Kants. Er meint im übrigen, daß Kants Vorstellungen über Raum und Zeit auf Grund logischer Schlüsse zustande gekommen seien und ihnen die Vorstellung vom Raum ihre Existenz verdanke. In den „Grundlagen der Philosophie", Moskau 1958, deutsch Berlin 1959 heißt es zu diesen Problemen: „In der theoretischen Physik und in der Mathematik ist oft vom ,vieldimensionalen Raum', der vier, fünf, sechs usw. und sogar unendlich viele Dimensionen habe, die Rede. Für die Erforschung vieler wissenschaftlicher Probleme ist diese Vorstellung fruchtbar. Widerspricht sie nicht dem Satz von der Dreidimensionalität des Raumes ? Nein, das ist nicht der Fall. Der wirkliche, reale Raum, in dem alle Körper und wir selbst existieren, ist der gewöhnliche Raum mit drei Dimensionen. Der vieldimensionale ,Raum' hingegen ist eine Abstraktion, in der gedanklich alle die mehr oder weniger zahlreichen Größen zusammengefaßt werden, die nicht unbedingt nur die Ausdehnung, sondern auch alle möglichen anderen Eigenschaften der zu untersuchenden Objekte charakterisieren." (S. 154) Natürlich trifft das zu. Die Benutzung logischer Schlüsse garantiert allein bekanntlich nie, ob dem Resultat der Charakter objektiver Wahrheit zukommt. Worüber sich Laue nur ungenau ausläßt, ist die Art und Weise, wie Begriffe in das Bewußtsein kommen, um entsprechende Schlüsse ziehen zu können. Jedenfalls bezeichnet er es als einen Fehlschluß Kants, nur die euklidische Geometrie mit der Raumanschauung für verträglich zu halten. Die Bedeutung der Einsteinschen Entdeckung besteht nun gerade speziell darin, daß das Apriori ganz bestimmter Aussagen über Raum und Zeit widerlegt wurde. Es wurde widerlegt, daß bestimmte Aussagen über die Naturwirklichkeit ausschließliche Angelegenheit erkenntnistheoretischer Art seien. Sie sind Gegenstand der objektiven Forschung des Naturwissenschaftlers. Für unsere weitere Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaft und Philosophie ist gerade auf diesen Tatbestand mit Vorrang hinzuweisen. Wir marxistischen Philosophen legen besonderen Wert auf die Feststellung der allgemeinen Zusammenhänge, die in der Erkenntnis auftauchen, die die objektive Realität bestätigen und vermittels des Bewußtseins gestatten, die besonderen wesent155

liehen Erscheinungen der Naturwirklichkeit zu erkennen. Die objektiven Eigenschaften der Natur sind das Maßgebende. Die Philosophie erörtert die weltanschauliche Seite der betreffenden Vorgänge, um der Naturwissenschaft zu gestatten, weniger gestört von einem dem wissenschaftlichen Denken widersprechenden Ballast an die wesentlichen Zusammenhänge der Natur besser heranzukommen. Hier kann die Philosophie der Naturwissenschaft unmittelbar helfen, den dialektischen Eigenschaften der Naturwirklichkeit nahezukommen. Der Konnex zwischen Naturwissenschaft und Philosophie ist einmal notwendig, damit die Philosophen in wirklichem Kontakt mit der Entwicklung der Naturwissenschaften sich befinden. Sie sind dann, von dieser Seite her auf dem laufenden. I n diesem echten Gespräch gewinnen aber beide gleichzeitig. Sie vermögen ihre philosophische Auffassung weiter zu entwickeln. Zugleich kann der Naturwissenschaftler vermeiden, solche Wege zu beschreiten, die an irgendeiner Erscheinung seines Forschungsgebietes zwar anknüpfen, welche sogar idealistische Ausdeutung anbieten, aber vom Wege der Erkenntnis wegführen. Das Anbieten besonderer, idealistischer Gedankengänge entspringt nicht allein den objektiven Schwierigkeiten bei der Lösung neuer Problembereiche. Auch anläßlich einfacher Fragen tauchen, worauf bereits hingewiesen wurde, idealistische Gedankengänge auf, obwohl keine direkte sachliche Notwendigkeit dazu besteht. Bei ihrer Einführung in die Naturwissenschaft spielt unmittelbar das gesellschaftliche Interesse der bürgerlichen Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Die Fehlinterpretation dialektischer Gesetzmäßigkeiten in der Natur geht in der Regel nicht vom Naturwissenschaftler selbst aus. Es sind häufig Außenseiter wie etwa Pascual Jordan, der Physiker und CDU-Abgeordneter in Bonn ist. Er versuchte bekanntlich populärwissenschaftliche Ableitungen, mit denen er unmittelbar an Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, deren Einflußbereich schmilzt, anknüpft und sie apologetisch befriedigen möchte. Diese verschiedenen Ursachen und Tendenzen gilt es auseinanderzuhalten. Der Entstellung von Sachverhalten und systematischem Mißbrauch objektiver Schwierigkeiten beim Verständnis der Naturerscheinungen gilt es entgegenzuwirken. Insofern ist die Bemerkung Max von Laues über die Natur, die dem Wissenschaftler ihre Vor156

Schriften gibt und der Wissenschaftler wiederzugeben hat, von wesentlicher Bedeutung gerade gegen Neopositivisten. So ist die nichteuklidische Geometrie des Führungsfeldes auch keine mathematische Erfindung. Der Mathematiker spiegelt bestimmte Seiten der Realität wider. Sie beziehen sich etwa zu gleichen Teilen auf die quantitative Bestimmung verschiedenartigster Relationen sehr allgemeiner Art. Das schöpferische Denken des Genius aber zeichnet sich aus, indem es sich nicht von der Natur entfernt, sondern der Natur nähert. Noch einige Bemerkungen zu den Ausführungen Robert Havemanns. Er befaßte sich mit Problemen, die schon häufig bei den verschiedensten Gelegenheiten diskutiert wurden. Aus den Schlußworten des gestrigen Tages geht hervor, daß er sich von bestimmten philosophischen Begriffen abgewendet hat, die eine besonders reaktionäre bürgerliche Naturphilosophie seit langer Zeit ausnutzt. Er versicherte ausdrücklich, daß er sich mit den Äußerungen von Fock identifiziert. Es handelt sich um die Bestimmung dessen, was als Determinismus oder Indeterminismus zu bezeichnen ist. Er brachte zum Ausdruck, daß durch den Begriff Indeterminismus eine Ablehnung des bei Laplace vorhandenen Determinismus ausgedrückt werden soll. Gerade über diesen Gesichtspunkt wurde bereits viel gestritten; die Abgrenzung gegen Laplace ist richtig. Fock selbst schwankt in der Begriffsbestimmung. Er unterscheidet aber exakt zwischen klassischem und nicht-klassischem Determinismus, indem er die „falsche Ansicht kritisiert, als ob die Wahrscheinlichkeitsdeutung eine Absage an die Objektivität der Mikroweit und ihrer Gesetze bedeute, d. h. eine Absage an die grundlegenden Lehren des Materialismus." 1 Dann aber sieht Fock immer die Newtonsche Physik als „deterministisch" schlechthin an. Richtig ist, wenn Fock unterstreicht, die quantenmechanische Auffassung der Kausalität unterscheide sich bedeutend von der klassischen, obwohl sie auch deren Verallgemeinerung darstellt. 2 Eine umfassende Darstellung vom Standpunkt des dialektischen Materialismus gibt Omeljanowski. Er erläutert in einem ausgezeichneten 1

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W. A. Fock, Über die Interpretation der Quantenmechanik, Moskau 1957, Manuskriptdruck 1959, deutsch S. 57. W. A. Fock, ebenda, S. 23.

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Beitrag zu den philosophischen Fragen der modernen Naturwissenschaft folgendes: „In der modernen bürgerlichen philosophischen Literatur wird ein entgegengesetzter Standpunkt vertreten, und zwar, daß die moderne Physik die objektive Kausalität in der Natur ablehne und den Determinismus liquidiere. Der „physikalische" Idealismus unterstützt die philosophische Reaktion in der Frage der Kausalität. Und das ist natürlich, denn die Verneinung der objektiven Realität, die uns durch Empfindungen, Beobachtungen, Erfahrungen gegeben ist, führt unvermeidlich zur Behauptung von dem „Veraltetsein" des Begriffs der Determiniertheit, von der Indeterminiertheit der Natur, von der „Vorwissenschafblichkeit" des Begriffs Kausalität usw. usf."3 Havemann hat zum Teil versucht, sich dem hier wiedergegebenen Gedankengang zu nähern. In der Analyse der mit den Begriffen Gesetzmäßigkeit, Kausalität, Zufall dargestellten Sachverhalte hält er sich aber an einen sogenannten absoluten Zufall, durch den er Freiheit verwirklicht glaubt. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, geht er von den Wahrscheinlichkeiten der Mikrophysik aus. Von ihnen her interpretiert er das Wesen der Gesetzmäßigkeit trotz seiner Berufung auf Friedrich Engels mehr im Sinne jenes Indeterminismus, den die bürgerlichen Popularphilosophen zu berufen pflegen. Unzutreffend ist es schon, den mechanischen Materialismus mit dem Laplaceschen Geist gleichzusetzen und den Vorwurf zu erheben, dieser mechanische Materialismus stecke noch tief in der Theologie. Die Fronten werden geradezu umgekehrt. Der sogenannte Indeterminismus, den die Atomphysik beweisen soll, wird von den idealistischen Popularphilosophen benutzt, um ihre Behauptung zu unterstützen, es gäbe in der Naturwirklichkeit große Bereiche, in denen keine Kausalität herrsche. Unter der Hand wird diese Aussage dazu benutzt, um einen Bereich der Wirklichkeit auszusparen, in dem es kein gesetzmäßiges Verhalten, eine absolute unverursachte Spontaneität gebe, Neues entstehen zu lassen, das keinen Zusammenhang mit dem vorher Existierenden besitze. Obwohl der ernstzunehmende Atomphysiker im Prinzip meist nur ausdrücken will, daß ein Unterschied zwischen klassischer und nichtklassischer Physik besteht, wird 3

M. E. Omeljanowski, W. I. Lenin und die philosophischen Fragen der modernen Physik, Manuskriptdruck 1959, deutsch S. 30.

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in der populären idealistischen Propaganda eine Art Gottesersatz abgeleitet. Die Theologie ist also bei den Indeterministen. Laplace selbst 'wollte seine Bemerkungen ausdrücklich nicht als Unterstützung der Theologie verstanden wissen. 4 Für alles Geschehen der materiellen Wirklichkeit sucht er nach der nötigen Begründung in dieser selbst. Der philosophische Idealismus hat sich des Laplaceschen Beispiels zu dem Zweck angenommen, eine außerweltliche Begründung der Geschehnisse der materiellen Wirklichkeit zu geben oder wenigstens einen gesetzmäßigen Zusammenhang der materiellen Geschehnisse zu bestreiten. Die Einwände entspringen dem Unverständnis für das Entstehen des Neuen und (oder) speziellen reaktionären Klasseninteressen. Der objektive Idealismus Hegels war hierfür wegen seiner dialektischen Logik schwerer benutzbar, weil er gerade die sprunghafte Veränderung des Geschehens als grundlegendes Kriterium dialektischer Vorgänge ansah. Die falsche Gleichsetzung des ganzen oder des partiellen Laplace mit dem mechanischen Materialismus überhaupt erfolgt deshalb in der Regel von den subjektiven Idealisten. Mit dem Begriff des Indeterminismus wurde im besten Fall der Unterschied von klassischer und nichtklassischer Physik ausgedrückt. Die reaktionären Popularisatoren benutzen jedoch den Begriff des Indeterminismus, um eine Pseudobegründung besonders rückschrittlicher Erscheinungsformen der imperialistischen Ideologie zu geben. Sie versuchen, allen Objekten der Wirklichkeit irrationales Verhalten zuzuschreiben. Sie wollen damit nur den Anschein einer soliden Begründung f ü r ihre Behauptung geben, daß in der Gesellschaft 4

Laplace äußert in seinem Essay über die Wahrscheinlichkeit direkt nach der so häufig benutzten Stelle: „Erinnern wir uns, daß einst, und zwar in einem Zeitalter, das noch nicht sehr ferne liegt, ein Wolkenbruch oder übermäßige Dürre . . . für ebenso viele Zeichen des himmlischen Zornes gehalten wurden. Da aber jene Erscheinungen, da sie in langen Intervallen auftraten und verschwanden, der Ordnung der Natur zu widersprechen schienen, so nahm man an, daß sie der Himmel erzürnt über die Verbrechen der Erde gesandt hätte . , . Die Kenntnis der Gesetze des Weltsystems, die innerhalb dieses Zeitraumes erwachsen war, hätte die Besorgnis zerstreut, die aus der Unkenntnis der wahren Beziehungen des Menschen zum Weltall entstanden waren." Vgl.: P. S. de Laplace (1814), Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Leipzig 1932, S. 2, 3. franz. Ausgabe, 4. Aufl. von 1819, S. 5, 6.

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keinerlei Gesetzmäßigkeiten vorhanden seien. Diese längst gelöste Frage hat Robert Havemann in seinem Beitrag durch seine ausführliche Äußerung über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erneut aufgeworfen. Ihn beschäftigt die dem Zufall zukommende Rolle. Auf dem Weg nach hier kam es zu einem Gespräch zwischen einem Mathematiker und einem Physiker aus Ilmenau, in dem unmittelbar gesagt wurde: ,,In der Physik ist der absolute Zufall von dem zu unterscheiden, was als zufällig innerhalb einer bestimmten Gesetzmäßigkeit geschieht." Sie betonten gegen Havemann, daß der objektive Zufall der Atomphysik etwas grundsätzlich anderes als der absolute Zufall sei, der etwa als Unsinnigkeit auftreten kann. Bekanntlich sind die Zufälle beim radioaktiven Zerfall durch die Halbwertszeit zu bestimmen, die für jedes radioaktive Element und seine Isotopen verschieden ist. Der Zufall ist in diesen Fällen durch die Besonderheit des Elementes oder seines Isotops bestimmt. Klaus Zweiling betonte im gleichen Sinne, es läge bei dem Problem der von Engels angesprochene objektive Zufall als andere Seite der Gesetzmäßigkeit vor, allerdings gerade innerhalb des Gesetzmäßigen selbst. Es ist also nicht eine Form des Zufalls, die außerhalb der Bewegung und Entwicklung der gesamten Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft liegt. Sie ist innerhalb dieser Gesetzmäßigkeit enthalten und ein Teil von ihr. Sie verwirklicht in ihrer Streubreite die betreffende Gesetzmäßigkeit, welche die Naturwissenschaft aufsucht und widerspiegelt. Finkelnburg schreibt: „Die Zerfallswahrscheinlichkeit eines ^-aktiven Kerns, bzw. umgekehrt seine Halbwertszeit, dagegen ist von der individuellen Struktur des zerfallenden Kerns abhängig; sie ist, wie die Übergangswahrscheinlichkeiten in den optischen Spektren, durch die Quantenzahlen, hier der Nukleonen . . . bestimmt." Er erwähnt außerdem, daß „Jentschke durch Auftragen der Lebensdauern und Zerfallsenergien aller bekannten a- Strahler gegen die Massenzahlen zuerst empirische Gesetzmäßigkeiten aufgezeigt hat, die die interpolatorische Voraussage von Lebensdauer und Zerfallsenergie noch unbekannter a-strahlender Kerne ermöglichen.'' (Finkelnburg, Einführung in die Atomphysik, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956, S. 271, 269. Vgl. W. Macke, Quanten, Leipzig 1959, S. 149ff.) Tatsächlich hat Robert Havemann in seinen Bemerkungen über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den 160

aus einer fehl gedeuteten Naturwissenschaft abgeleiteten absoluten Zufall auf das Gebiet des Gesellschaftlichen übertragen. So betonte er etwa, daß wir von der Gegenwart keine Kenntnis besitzen und nicht auf sie einwirken können, auf das Zukünftige auch nicht den geringsten Einfluß besitzen und in einer Art von corriger la fortune versuchen, die Zufälligkeit der Natur zu betrügen. Er stützt sich dabei auf die Relativitätstheorie. Unaufhörlich verwechselt er Begriffe, die in der Naturwissenschaft einen gewissen Sinn haben, mit Sachverhalten der gesellschaftlichen Praxis. Wörtlich äußert Havemann: „Auf der Grundlage der Relativitätstheorie gelangen wir zu einer neuen Definition der Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche lautet: Vergangenheit ist das, wovon wir bereits Kenntnis haben können, Zukunft das, worauf wir noch Einfluß ausüben können, Gegenwart aber ist, wovon wir noch keine Kenntnis haben und worauf wir auch keinen Einfluß mehr ausüben können." Havemann bestreitet die Möglichkeit, die Gegenwart zu beeinflussen und gesteht sie zunächst in diesen Ausführungen bis zu einem gewissen Grade für die Zukunft zu. Dann aber ergänzt er, „daß das Voraussehbare der Zukunft eigentlich noch der Vergangenheit angehöre". Freiheit sieht Havemann nicht aus der Gesetzmäßigkeit, sondern aus der Zufälligkeit entspringen, die er in Gegensatz zur Determiniertheit setzt. Wenn er in diesem Falle auch die Laplacesche Determiniertheit meint, so erläutert er, die von ihm gemeinte Freiheit hebe die Notwendigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf. Daraus wird verständlich, daß Robert Havemann das Auftreten von Neuem in der Geschichte, anders als in seinem persönlichen progressiven Verhalten, gemäß der praktischen Vernunft als Bruch der Gesetzmäßigkeit auffaßt. Er läßt sich dabei von Überlegungen leiten, die sozusagen an astronomischen Räumen orientiert sind. Er bemängelt, daß unsere gewohnten Vorstellungen von der Zeit dem beschränkten Erfahrungswerte unseres eigentlichen Lebens entspringen. Insofern widerlegte Einstein die Ansicht Kants von Raum und Zeit, in der tatsächlich eine begrenzte Erfahrung fälschlich verallgemeinert wurde. Ohne Kenntnis der Relativitätstheorie waren jedoch, was immerhin zu bemerken ist, die vormarxistischen Materialisten nicht zu subjektiv idealistischen Schlußfolgerungen gekommen, wenn sie auch wie jede vormarxistische 11

Naturwissenschaft und Philosophie

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Philosophie auf dem Gebiet der Gesellschaft idealistisch blieben. Auch ihre Aufklärung aber war bekanntlich fortschrittlich und häufig ausgesprochen revolutionär. Da die Sputniks und künstlichen Planeten in der Tat wirklich weltweite Unternehmungen großen Stils sind, sieht sich Havemann über die beschränkte Erfahrungswelt unseres eigentlichen Lebens hinaus gehoben. Aus dem Relativismus der RaumZeit des physikalischen Geschehens leitet er allgemeine menschliche Folgerungen ab, in denen er unmittelbar über gesellschaftliche Prozesse Meinungen äußert. Daher kommt er zu der Ansicht, zwischen Vergangenheit und Zukunft liege die Gegenwart, die wir nicht zu kennen vermögen und auf die wir keinen Einfluß mehr ausüben können. Nun: Relativismus gibt es überdies nicht nur in kosmischen Räumen. Die Relativitätstheorie hat einen großen Anwendungsbereich in der physikalischen Chemie gefunden, die Robert Havemanns Arbeitsgebiet ist. In Natur und Gesellschaft gelten, wie wir wissen, verschiedene Gesetze. Die Philosophie des dialektischen Materialismus befaßt sich mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, obwohl in beiden Bereichen verschiedene spezielle Gesetzmäßigkeiten vorhanden sind, verfehlt also nicht, gemeinsame Gesetzmäßigkeiten zu erörtern, die auf den verschiedenen Entwicklungs- und Daseinsstufen der objektiven Realität gelten. Weder in der Natur noch in der Gesellschaft gibt es jedoch eine Unterbrechung der Kontinuität der Prozesse, obwohl es keinen Vorgang gibt, in dem nicht Diskontinuität auftritt. Der objektive Zufall hebt nicht, wie Havemann behauptet, die Notwendigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf, wenn die Wirkung „anders" als die Ursache in Erscheinung tritt. I n jedem Entwicklungsprozeß zeigt die Wirkung einen anderen Aspekt als die Ursache, wobei selbstverständlich die Wechselwirkung zu berücksichtigen ist, ohne daß die Kontinuität des Entwicklungsprozesses aufgehoben wäre. Freiheit ist eine gesellschaftliche Kategorie. Schon von diesem Gesichtspunkt her entstehen Mißdeutungen, wenn von der Freiheit in der Natur gesprochen wird. Max von Laue erwähnt die Räume höherer Dimensionszahl und nennt sie eine zweckmäßige Façon de parier, um Funktionen vieler Veränderlicher darzustellen. Der objektive Zufall der Natur führt zur Verwirklichung von Gesetzmäßigkeiten, die entsprechend der vorliegenden Bedingungen Milch162

straßen vergehen und entstehen lassen oder in dem Auf und Ab einer bestimmten Entwicklungsepoche eines Planeten wie der Erde ebenfalls durch Gesetzmäßigkeit höhere Differenzierungen hervorbringen, in denen der Sprung vom Anorganischen zum Organischen und die Ausbildung des Menschen einschließlich seines Verstandes erfolgen. Die Freiheit im gesellschaftlichen Prozeß hat einen begrifflich und selbstverständlich sachlich differenzierten Inhalt. Die Illusion der Freiheit ist von der tatsächlichen Freiheit zu unterscheiden. Der persönliche Entscheid gegen eine rückschrittliche Gesellschaftsordnung ist objektive Freiheit, die in der Richtung der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze liegt. Die Freiheit der sozialistischen Gesellschaft gründet sich auf Erkenntnis. Sie beruht auf der Vermittlung von Einsicht und Handeln. Die gesellschaftliche Praxis wird durch sie zielbewußt, wirkungssicher und gestattet die bewußte Veränderung der Gesellschaft. Die Schaffung von Neuem hebt das Alte auf, ohne die Gesetzmäßigkeit auszuschalten. Sie beruht auch nicht auf Zufall, sondern auf der Kenntnis gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze und dem der nicht-antagonistischen Gesellschaftsordnung angemessenen Bewußtsein. Einfluß auf die Zukunft ist nicht so zu verstehen, daß „noch Freiheit vorhanden ist". Die Freiheit besteht vielmehr in dem verwirklichten Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung. Nur der tatsächliche Einfluß auf die Veränderung der Wirklichkeit bestätigt, daß die in der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegebenen Möglichkeiten richtig ausgenutzt wurden. Natürlich ist es so, daß die voraussehbare Zukunft auch, was Havemann betont, der Vergangenheit angehört. Das Wesen der wissenschaftlichen Untersuchung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten besteht in der wissenschaftlichen Verbindung des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen des Geschehens. Die wissenschaftliche Vorhersage geht soweit, wie von Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft hin bestimmte Aussagen gemacht und vor allem bewußt Ziele gesetzt werden können. Diese Beziehung gilt natürlich folgerichtig auch in einer dem Sachverhalt entsprechenden abgeänderten Weise für die Arbeit des Naturwissenschaftlers. Sie geben ihm den objektiven Spielraum, Experimente anzusetzen, einen bestimmten Teil der Wirklichkeit zum Zwecke des Versuches herauszuheben, um bestimmte logische Folgerungen auf der Grundlage des bereits Bekannten an der Wirklichkeit 11

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zu überprüfen. Ein wissenschaftliches Experiment setzt vorausgegangene Erkenntnis voraus. Das Resultat gibt Antwort. Im gesellschaftlichen Handeln gibt es kein Experimentieren. Jede Tätigkeit setzt neue Bedingungen, die zu einem Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden und den gesellschaftlichen Fortschritt verzögern oder fördern. Die wissenschaftliche Kenntnis der Sachverhalte, in denen eine fortschrittliche Klasse handelt, gestattet abzustecken, was für die nächste Zeit notwendig zu tun ist. Dieser gedankliche Vorgang verbindet aus der Erkenntnis der objektiven Realität heraus die menschliche Praxis mit dem zukünftigen Handeln. Diese Vorgänge sind kaum mit dem Anlassen eines Motors zu vergleichen. Ein technisches Gerät entwickelt sich weder von allein noch im eigentlichen Sinne ohne menschliches Zutun. Die an einem bestimmten technischen Aggregat vorhandenen Eigenschaften sind durchaus in jedem Falle die Grundlage neuer schöpferischer Überlegungen. Das Drücken auf einen Starterknopf jedoch setzt umgekehrt voraus, daß eine unveränderliche Konstruktion bestimmte, in das Gerät eingebaute Handhabungen gestattet, die ein übersehbares, in der Konstruktion vorgegebenes Resultat haben. Nicht der Druck auf den Starterknopf (ein Beispiel Havemanns) ist für das Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung heranziehbar. Eher noch der schöpferische Vorgang, in dem das betreffende Aggregat auf Grund der Kenntnis von Naturgesetzen innerhalb des gesamten gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses als objektive, neue menschliche Schöpfung entsteht. Es gibt allerdings einen Bereich der Zukunft, über den noch keine Aussage gemacht werden kann. Wir Materialisten haben keinerlei Bedenken zuzugestehen, daß wir nicht wissen, wie sie sich im einzelnen gestaltet. Sicher ist, daß das zukünftige gesellschaftliche Geschehen aus dem Entwicklungsprodukt der Vergangenheit hervorgeht und mit ihm gesetzmäßig verbunden ist. Das bedeutet nicht, daß durch seine Existenz etwa erst die menschliehe Freiheit bestimmt würde oder gar diese selbst zur Voraussetzung hat. Noch nicht. Übersehbares künftiger Entwicklung führt keinen Bereich absoluter Unerkennbarkeit im Sinne des Agnostizismus ein. Jede unserer wissenschaftlich vorwärtsführenden Handlungen bestimmt auch das Zukünftige mit, das wir noch nicht überblicken können. Die Erkenntnis ist ein Prozeß des objektiven Wachstums unseres Wissens; die gesellschaftliche 164

Praxis ein Vorgang, in dem an bestimmten Knotenpunkten der Geschichte absolute Stufen der Entwicklung erreicht werden. Der Materialist hält sich an die Wissenschaft. Die Bewegung der gesamten materiellen Wirklichkeit in Natur und Gesellschaft besitzt objektiven Charakter. Die Richtung der Entwicklung im Vergehen und Werden anzuerkennen, ist eine wissenschaftliche Notwendigkeit, die sowohl Naturwissenschaft wie Gesellschaftswissenschaft auf den verschiedensten ihrer Gebiete bestätigen. In der Biologie sind es die Fragen der Entwicklungslehre, der Deszendenz-Theorie, die besonders interessieren. Mit der Entwicklung in der Gesellschaft beschäftigt sich der Marxist in der praktischen Politik und der direkt dazugehörigen Theorie und bestimmt daraus sein Handeln. Auch in der Astronomie, deren wissenschaftliche Erkenntnisse sich mit der Mikrophysik wechselseitig ergänzen und beeinflussen, besitzen die Entwicklungsprobleme ebenfalls eine außerordentlich wichtige Bedeutung. Für die Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen stehen im Brennpunkt des Interesses Problembereiche, in denen philosophisch inkorrekte oder an alten Schulen des Idealismus orientierte Formulierungen gesellschaftlich ausgenutzt werden. Sie finden vornehmlich Anwendung zur Leugnung der Bewegung und Entwicklung, der Bestreitung der Eingriffsmöglichkeit des Menschen in den Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung. Solche Diskussionen geben unmittelbar eine bessere Fähigkeit zum wissenschaftlich begründeten Eingriff in die Vorgänge der Gesellschaft. Die aus der Naturwissenschaft abgeleiteten Folgerungen besonders rückschrittlicher idealistischer Schulen können durchaus hemmen und hindern, in unserem konkreten Fall die objektive Bewegung und Entwicklung der Gesellschaft unserer Deutschen Demokratischen Republik. So haben unsere erkenntnistheoretischen Bemühungen eine unmittelbare objektive Bedeutung. Enge bewußte Verbindung von Naturwissenschaft und Technik mit der gesellschaftlichen Zielsetzung vermag beschleunigend zu wirken. Weltanschaulich helfen uns solche Auseinandersetzungen, besser mit den Problemen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit fertig zu werden und in unserer persönlichen Arbeit die Entwicklung der Gesellschaft zu fördern.

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QUANTENTHEORIE UND Martin Strauss

PHILOSOPHIE

(Berlin)

In den grundlegenden und richtungweisenden Ausführungen von Prof. Harig, die dieses Symposium eröffneten, wurde u. a. die Aufgabe gestellt, den dialektischen Materialismus durch die philosophische Verallgemeinerung der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu bereichern und weiterzuentwickeln. Die Naturwissenschaftler können bei der Lösung dieser Aufgabe am besten dadurch helfen, daß sie ein klares und richtiges Bild der in Frage kommenden Theorien vermitteln. In dieser Hinsicht ist — was die Quantentheorie betrifft — viel gesündigt worden, und zwar sowohl von bürgerlichen Physikern wie auch von solchen, die sich zum dialektischen Materialismus bekennen. Wie Sie wissen, hat dies in den vergangenen Jahren zu einer beträchtlichen Verwirrung der philosophischen Fronten in der Physik gef ü h r t : objektive Idealisten, mechanische Materialisten und einige marxistische Physiker und Philosophen traten gemeinsam gegen die sog. „Orthodoxie" auf und forderten faktisch eine Revision der modernen Physik im Sinne des mechanischen Determinismus. Wenn heute diese Periode der Verwirrung im wesentlichen als beendet gelten kann, so verdanken wir dies in erster Linie der sachlichen Aufklärungsarbeit, die von physikalischer Seite geleistet wurde, wobei vor allem die Arbeiten von W. A. Fock und A. D. Alexandrow zu nennen wären. Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich gleich hier erklären, daß ich die Quantentheorie keineswegs von der philosophischen Kritik ausgenommen wissen möchte ; eine richtige Kritik kann die Entwicklung der physikalischen Theorie nur beschleunigen. Dazu aber muß 167

sich die Kritik auf die gegenwärtige Theorie, so wie sie ist, beziehen, und nicht auf ein philosophisch oder sonst wie retuschiertes Bild der Theorie. Das landläufige Bild der Quantenmechanik trug in der Tat stark positivistische Züge; dies konnte auch kaum anders sein, da die Begründer dieser Theorie den Materialismus nur in seiner alten mechanistisch-deterministischen Form kannten. Während nun in den vergangenen Jahren die Tendenz bestand, dieses positivistische Zerrbild für bare Münze zu nehmen und die Theorie des Idealismus zu bezichtigen, macht sich heute schon gelegentlich die entgegengesetzte Tendenz bemerkbar, in die Quantenmechanik materialistisch-dialektische Züge hineinzulesen, die über das tatsächlich Vorhandene hinausgehen. Auch vor diesem Fehler müssen wir uns hüten, erstens der Wahrheit zuliebe, und zweitens weil eine derartige Fehleinschätzung eine vorwärtsweisende Kritik an der Theorie unmöglich machen würde. — Nach diesen Vorbemerkungen komme ich zum eigentlichen Thema. Ich will versuchen, jene Züge der modernen Quantentheorie herauszustellen, die mir für das Verständnis der Theorie sowie für ihre richtige philosophische Einschätzung und Auswertung besonders wichtig erscheinen. Dabei werde ich mich vor allem auf solche Züge konzentrieren, die in der bisherigen Diskussion nur ungenügend zur Sprache kamen. I Die erste Feststellung, die man treffen muß, ist die, daß wir es nicht mit einer, sondern mit zwei Quantentheorien zu tun haben: der (unrelativistischen) Quantenmechanik und der (relativistischen) Quantentheorie der Felder. Es wäre sehr bequem, wenn letztere erstere als Grenzfall enthalten würde, so wie die relativistische Mechanik (oder auch die Quantenmechanik) die Newtonsche Mechanik als Grenzfall enthält, dann brauchten wir uns überhaupt nur mit der Quantentheorie der Felder zu beschäftigen. Leider ist jedoch das Verhältnis dieser beiden Theorien wesentlich komplizierter. Man erkennt dies z. B. daran, daß es in der gegenwärtigen („lokalen" und linearen) Quantenfeldtheorie nichts gibt, was den quantenmechanischen Unbestimmtheitsrelationen zwischen Ort und Impuls entspricht. Zum Verständnis der Tatsache, daß es keinen Grenzübergang von der 168

relativistischen zur unrelativistischen Quantentheorie gibt, sind zwei Umstände entscheidend: 1. Zu einer relativistischen Feldtheorie gibt es überhaupt keinen nichtrelativistischen Grenzfall (außer den trivialen ohne jede Bewegung). Dies rührt einfach daher, daß jede relativistische Feldtheorie auf Differentialgleichungen beruht, in denen die Differentiation nach der Zeit den Faktor 1/c enthält (c = Lichtgeschwindigkeit), so daß beim Grenzübergang c -+ oo die Differentiation nach der Zeit identisch verschwindet. — Dieser Umstand hat nichts mit Quantentheorie zu tun. 2. Die relativistische Verallgemeinerung der Quantenmechanik müßte eine „relativistische Quantenmechanik" sein, welche für h -> 0 (h = Plancksche Konstante) in die klassische relativistische Mechanik übergeht. Eine solche Theorie kann es jedoch aus mathematischen Gründen nicht geben, wie zuerst 0. Klein am Beispiel der Diracschen Gleichungen und später W. Pauli allgemein gezeigt hat. Anders ausgedrückt: die Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantentheorie führt immer auf die Quantenfeldtheorie. (Der eigentliche Grund für die Nichtexistenz einer „relativistischen Quantenmechanik" ist bekanntlich die Tatsache, daß in der relativistischen Korpuskularmechanik die Energie in der EnergieImpuls-Beziehung nicht linear, sondern quadratisch vorkommt.) Andererseits ist es aber auch nicht so, daß zwischen Quantenmechanik und Quantentheorie der Felder keinerlei Beziehung besteht — das wäre ja nur möglich, wenn sie sich auf verschiedene Objekte beziehen. Tatsächlich beziehen sich jedoch die beiden Theorien auf die gleichen Objekte — nur für Teilchen der Ruhmasse null (Photonen, Neutrinos und evt. Gravitonen) — gibt es natürlich keine unrelativistische Theorie und daher auch keine Quantenmechanik. In mancher Hinsicht stellt denn auch die Quantenfeldtheorie eine Verallgemeinerung oder „Aufhebung" der Quantenmechanik dar; so ist z. B. die Anzahl der Teilchen in der Quantenmechanik eine konstante Zahl, während sie in der Quantenfeldtheorie eine dynamische Variable, dargestellt durch einen Operator, ist. Aus den genannten Gründen könnte man geneigt sein, die Diskussion der Quantenmechanik überhaupt für überholt und überflüssig zu halten. Vielleicht ist dies sogar der richtige Standpunkt. Der Grund, 169

weshalb man daran zweifeln darf, ist lediglich der, daß die Quantenmechanik nicht als Grenzfall in der Quantentheorie der Felder enthalten ist, und wir nicht sicher wissen, ob dies in der Natur der Sache oder etwa in einer Unvollkommenheit der gegenwärtigen („lokalen" und linearen) Feldtheorie begründet ist. Beginnen wir mit den Zügen, die beiden Theorien — der Quantenmechanik und der Quantentheorie der Felder — gemeinsam und somit für die Quantentheorie schlechthin charakteristisch sind. 1. Der Zustand eines physikalischen Systems wird nicht durch die Werte irgendwelcher aus der klassischen Physik bekannter Größen (wie Koordinaten und Impulse, bzw. Feldstärken), sondern durch eine Richtung (Strahl) in einem unendlich-dimensionalen komplexen Raum (Hilbert-Raum, HR) dargestellt; der Einheitsvektor in dieser Richtung heißt Zustandsvektor. — Schon hierin kommt zum Ausdruck, daß den aus der klassischen Physik bekannten Größen nicht mehr die gleiche Bedeutung zukommt wie in der klassischen Physik. 2. Bleibt das System sich selbst überlassen, so ändert sich die Richtung des Zustandsvektors in kontinuierlicher und deterministischer Weise nach einer sog. Schrödinger-Gleichung. 3. Bei einer plötzlichen (genauer: nicht-quasistatischen) Einwirkung auf das System springt der Zustandsvektor in eine neue Richtung. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: a) Die Einwirkung hat nicht den Charakter einer Messung (Beispiele: Beugung und Streuung, d. h. Einwirkung eines Schirms mit Löchern bzw. eines Potentials); in diesem Fall ist die Zustandsänderung deterministisch, d. h. der Zustand nach der Einwirkung ist eindeutig durch den Anfangszustand und die Art der Einwirkung bestimmt; (der Operator, der den Vektor des Anfangszustandes in den des Endzustandes überführt, ist im Falle der reinen Beugung ein Projektionsoperator, im Falle der Streuung ein unitärer Operator). b) Die Einwirkung hat den Charakter einer Messung, d. h., sie zwingt das System nicht, in einen bestimmten Zustand überzugehen, sondern zwingt es dazu, daß eine bestimmte physikalische Größe einen ihrer möglichen Werte annimmt; in diesem Fall ist die Zustandsänderung indeterministisch, wobei die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Zustandsrichtung von v nach vt springt, durch den 170

Winkel zwischen diesen beiden Richtungen bestimmt ist; (die v i , i = 1, 2, 3, . . ., sind die Zustandsvektoren, die den möglichen Werten der gemessenen Größe entsprechen — vgl. Punkt 4). 4. (Physikalische Größen). Zu jeder durch einen Zustandsvektor v bestimmten Richtung gehört ein Projektionsoperator P„, welcher dadurch definiert ist, daß er einem beliebigen Vektor seine Projektion auf die Richtung von v zuordnet. Wählt man ein beliebiges System von zu einander orthogonalen Vektoren v( (i = 1, 2, 3, . . .), das den gesamten Hilbert-Raum aufspannt, so stellt jeder Operator der Form A = ¿"a,- P„. mit reellen (aber sonst weitgehend beliebigen) Zahlen al eine physikalische Größe im Sinne der Quantentheorie dar, und zwar in dem Sinne, daß die Größe A den Wert ai hat, falls das System im Zustand vi ist; ist das System in einem Zustand, der mit keinem der Zustände vi identisch ist, so hat natürlich die Größe A überhaupt keinen bestimmten Wert. — I n der unendlichen Mannigfaltigkeit dieser quantentheoretischen Größen gibt es einige, die den bekannten Größen der klassischen Physik entsprechen: dadurch wird eine „Korrespondenz" zur klassischen Theorie hergestellt; (diese Korrespondenz hat historisch eine große Rolle gespielt: ursprünglich betrachtete man überhaupt keine anderen Größen als solche, zu denen es korrespondierende Größen in der klassischen Theorie gibt; für viele Anwendungen genügt das auch). 5. (Zum Meßbegriff.) Unter 3b wurde bereits eine allgemeine Definition des (gewöhnlich Undefiniert gebrauchten) Meßbegriffes im Sinne der Quantentheorie gegeben. Diese Definition macht von klassischen Begriffen überhaupt keinen Gebrauch. Es erhebt sich somit die Frage: in welcher Beziehung steht dieser Meßbegriff zum klassischen Begriff der Messung ? Hierzu zwei Bemerkungen: a) Soweit es sich um quasiklassische Größen handelt, d. h. solche, zu denen korrespondierende Größen in der klassischen Theorie existieren, fallen die beiden Begriffe faktisch zusammen; dies will besagen, daß man in beiden Fällen die „gemessenen Werte" nach der klassischen Theorie der Meßvorrichtung bestimmen kann, wobei jedoch große Vorsicht am Platze ist, um eine gegebene, 171

experimentelle Anordnung in der richtigen Weise als Meßanordnung zu interpretieren (z. B. stellt die Frauenhofersche Anordnung bei Beugungsexperimenten eine Anordnung zur Impulsmessung dar!). b) Viele Messungen an Teilchen enden damit, daß das Teilchen absorbiert wird; in diesen Fällen gibt es natürlich keinen Zustand des Teilchens nach der Messung. Anders ausgedrückt: der neue Zustand hört in dem Moment zu existieren auf, wo er entsteht. Diese etwas paradoxe Situation kann als Hinweis auf die begriffliche Unvollkommenheit der Quantenmechanik betrachtet werden: in der Quantentheorie der Felder tritt eine solche Situation nicht auf. Schlußfolgerungen A. (Zum Kausalproblem.) Aus dem unter 3 b Gesagten folgt, daß ; die quantentheoretischen Wahrscheinlichkeiten sich auf den Übergang von einem Zustand in einen anderen Zustand unter der Einwirkung besonderer äußerer Gregebenheiten beziehen; (auf die scheinbare Ausnahme der sog. spontanen Übergangswahrscheinlichkeiten bei der Lichtemission oder dem radioaktiven Zerfall können wir hier nicht eingehen). Sie beziehen sich also nicht auf eine statistische Verteilung in einem Ensemble gleicher Systeme. Daher ist es irreführend, die Quantentheorie als eine statistische Theorie zu bezeichnen. Tatsächlich stimmt auch der quantentheoretische Wahrscheinlichkeitskalkül gar nicht mit der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie, wie sie z. B. von Kolmogoroff formuliert wurde, überein. 1 Aus diesem Grunde ist auch das Suchen nach „verborgenen Parametern" völlig irrational: solche Parameter hätten nur zur Erklärung einer statistischen Verteilung einen Sinn. Vielmehr stellt der quantentheoretische Begriff der Übergangswahrscheinlichkeit etwas prinzipiell Neues in der Geschichte der Wissenschaft dar, nämlich eine weder von Mathematikern noch von Philosophen antizipierte rationale Verallgemeinerung und. dialektische Aufhebung des deterministischen Kausalbegriffes. Ein besonders eindringliches Merkmal der Neuartigkeit sowie auch der Irreduzibilität der quantentheoretischen Probabilistik ist übrigens schon die1

Vgl. M. Strauß, Ber. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Phys.-Math. Kl., 1936, S. 382.

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quantentheoretische Zustandsbeschreibung. Der Zustandsvektor beschreibt zwar einen objektiv vorhandenen Zustand, dieser Zustand ist aber letztlich nur durch die Wahrscheinlichkeiten definiert, mit der das System in dem betrachteten Zustand auf gewisse äußere Einwirkungen reagiert. Auch wenn wir gewöhnlich oder häufig den Zustandsvektor des Systems auf Grund der Vorgeschichte des Systems (ohne Meßeinwirkung) angeben können, so handelt es sich dabei doch genau genommen jedesmal um eine (physikalisch mehr oder minder begründete) Hypothese, deren Nachprüfung nur durch die probabilistische Reaktion des Systems auf äußere Meßeinwirkungen möglich ist. Offenbar haben wir es hier mit einem besonders interessanten, weil neuartigen Beispiel für die dialektische Wechselbeziehung von Potentiellem und Aktuellem zu tun.

Diese Schlußfolgerung steht natürlich im Widerspruch zu der gelegentlich — z. B. auch im Vortrag von Herrn Heber — vertretenen Auffassung, daß die quantentheoretische Probabilistik nur dadurch zustande kommt, daß es sich bei der Messung immer um die Messung von Bestimmungsstücken des klassischen Wellen- oder Korpuskelbildes handle, d. h. von Bestimmungsstücken von Modellen, die niemals exakt richtig sind. Zunächst ist zu sagen, daß solche Begriffe wie Energie und Impuls an kein besonderes Modell gebunden sind. Ferner ist der quantentheoretische Meßbegriff, wie er oben definiert wurde, viel allgemeiner als der klassische und umfaßt nicht nur die klassischen Zustandsgrößen. So stellt z. B. bei der Erzeugung von Beugungsbildern jede Anordnung, bei der der photographische Film oder der Szintillationsschirm sich in endlicher Entfernung vom Beugungsschirm befindet, eine Meßanordnung für eine gewisse quantenmechanische Größe dar, die weder als korpuskular- noch als wellentheoretisches Bestimmungsstück gedeutet werden kann; trotzdem gibt es auch hier nur Wahrscheinlichkeiten für den Ausfall der „Messung"! Die genannte Auffassung betrachte ich daher als ein Überbleibsel aus jener Zeit, in der man versucht hat, den neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, d. h. mit den klassischen Begriffen auszukommen und dem Neuartigen in der Quantentheorie lediglich durch den komplementären Gebrauch dieser Begriffe gerecht zu werden. Bei einem solchen Standpunkt muß die sog. Komplementarität und die mit ihr untrennbar zusammenhängende quantentheoretische Probabilistik als eine Einschränkung bzw. als ein Verzicht erscheinen, die noch dazu durch eine inadäquate Begriffsbildung bzw. eine inadä173

quate experimentelle Fragestellung verschuldet wären, so daß eigentlich. die Gregner der Quantentheorie im Recht wären. Faßt man jedoch die Quantentheorie als eine (näherungsweise) adäquate Widerspiegelung der objektiven Eigenschaften der Materie auf, wie dies die wissenschaftliche Praxis erfordert und rechtfertigt, so muß man konsequenterweise auch den begrifflichen Apparat der Theorie ohne Bezugnahme auf die klassische Physik begreifen lernen; erst dann kann man auch sein Verhältnis zur klassischen Theorie richtig charakterisieren. Die Quantentheorie erscheint dann als Verallgemeinerung und nicht als Einschränkung der klassischen Theorien. B. (Begriffliche Selbständigkeit der Quantentheorie.) Wie oben skizziert, können alle quantentheoretischen Begriffe, inkl. des Begriffs der physikalischen Größe und der Messung, auf den Zustandsbegriff zurückgeführt werden, ohne daß dabei Anleihen bei der klassischen Theorie gemacht werden müßten. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Auffassung nimmt also die Quantentheorie in dieser Hinsicht keine Sonderstellung unter den physikalischen Theorien ein. Soweit die gegenteilige Auffassung nicht einfach historische Ursachen hat, basiert sie auf der Behauptung, daß die Begriffe der klassischen Physik nicht nur praktisch unentbehrlich, sondern erkenntnistheoretisch primär seien, da wir sie zur Beschreibung unserer (makroskopischen) Erfahrung brauchen. Es ist klar, daß dieses Argument nur vom Standpunkt des Positivismus aus stichhaltig ist. Gelegentlich beruft man sich zur Begründung der erkenntnistheoretischen Priorität der klassischen Begriffe nicht auf die Erfahrung, sondern auf die Anschauung. Eine solche kantianische Argumentation übersieht, daß das menschliche Anschauungs- und Vorstellungsvermögen entwicklungsfähig ist, wie Prof. Heber in seinem Vortrag bereits betont hat. III Bisher war vom Korpuskel-Wellen-Problem nur nebenbei die Rede. Der Grund dafür ist der, daß sich Quantenmechanik und Quantentheorie der Felder gegenüber diesem Problem ganz verschieden verhalten. 6. Die Quantenmechanik stellt keine Synthese von Wellen- und Korpuskulartheorie dar, obgleich sie den Teilchen Eigenschafben zu174

schreibt, die als ein Schritt in dieser Richtung aufgefaßt werden können. a) Für ein einzelnes Teilchen mit bestimmtem Impuls ist der Zustandsvektor im HR identisch mit einer Wellenfunktion, welche eine ebene harmonische Welle im.physikalischen Raum darstellt. Daraus folgt jedoch nicht, daß sich das Teilchen in jeder Hinsicht wie eine solche Welle verhält; dies tut es nur solange — und auch dann nicht immer genau in jeder Hinsicht — wie die äußeren Einwirkungen nicht den Charakter einer Messung haben. Haben sie jedoch diesen Charakter, so tritt sofort die probabilistische Bedeutung des Zustandsvektors in Erscheinung. b) Handelt es sich um ein System von mehreren Teilchen, die miteinander in Wechselwirkung stehen oder gestanden haben, so kann man keinem der Teilchen, sondern nur dem ganzen System einen Zustandsvektor zuordnen; dieser ist dann eine Funktion der 3N Teilchenkoordinaten, wobei N = Anzahl der Teilchen. Eine Analogie oder Korrespondenz hierzu gibt es nur in der klassischen Korpuskularmechanik, nicht aber in der Feldtheorie. c) Handelt es sich um ein System von gleichartigen Teilchen, so muß der Zustandsvektor im HR, um zu richtigen Ergebnissen zu führen, so gewählt werden, daß er als Funktion der Teilchenkoordinaten je nach dem Wert des Teilchenspins symmetrisch oder antisymmetrisch ist. Dies ist ein zusätzliches Postulat, daß sich nicht im Rahmen der Quantenmechanik, wohl aber auf Grund der Quantenfeldtheorie begründen läßt. Dies gilt nicht nur — wie allgemein bekannt — für die Korrelation zwischen Spin und Symmetriecharakter; auch die Einschränkung auf die Alternative „symmetrisch oder antisymmetrisch" läßt sich im Rahmen der Quantenmechanik nicht zwingend begründen. Die in diesem Zusammenhang übliche Berufung auf die,,UnUnterscheidbarkeit" gleichartiger Teilchen genügt nämlich nicht zur Begründung: ansonsten müßte schon in der klassischen Gastheorie die Boltzmann-Statistik durch die Quantenstatistik ersetzt werden. Das einschränkende Postulat „symmetrisch oder antisymmetrisch" bringt eine viel tiefer liegende Eigenschaft der Teilchen zum Ausdruck als es die bloße Ununter scheidbarkeit ist, nämlich die Tatsache, daß gleichartige Teilchen Quanten eines gemeinsamen Feldes sind und daher — im Gegensatz

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zu den gleichartigen Teilchen der klassischen Physik — keine Selbständigkeit (unabhängige Existenz-, Genidentität) besitzen. So wird auch verständlich, daß die Quantenfeldtheorie eine Begründung dieses Postulates zu geben imstande ist. Mithin stellt dieses Postulat eine teilweise Antizipation der Quantenfeldtheorie dar. 7. Die Quantentheorie der Felder kann als eine Synthese, oder besser: als eine dialektische Aufhebung, der klassischen Feldtheorie und der klassischen (relativistischen) Korpuskularmechanik aufgefaßt werden. Dies ist wohl heute allgemein anerkannt, so daß sich eine Begründung und Erläuterung hier erübrigt. 8. Die Quantenfeldtheorie hat auch den alten metaphysischen Gegensatz von „Stoff" und „ K r a f t " beseitigt: das quantisierte Feld ist sowohl Träger der „stofflichen" Teilchen als auch der (durch den sog. virtuellen Austausch solcher Teilchen zustande kommenden) Kraftwirkungen. Demgegenüber hält die Quantenmechanik an diesem Gegensatz fest: Kraftwirkungen werden in ihr, ebenso wie in der Newtonschen Mechanik, durch Potentiale beschrieben, und soweit sie neuartige Kräfte (sog. Austauschkräffce) kennt, beruhen diese auf dem zusätzlichen Postulat der Symmetrie bzw. Antisymmetrie der Zustandsfunktionen, welches — wie oben gezeigt — eine teilweise Antizipation der Quantenfeldtheorie darstellt. Schlußfolgerungen C. Die Quantenfeldtheorie stellt sowohl vom physikalischen wie vom philosophischen Standpunkt einen ungeheuren Fortschritt gegenüber der Quantenmechanik dar. Es besteht daher kein Zweifel, daß die weitere Entwicklung von der Quantenfeldtheorie ausgehen muß und nicht von irgendwelchen Versuchen, die Quantenmechanik umzuinterpretieren oder zu modifizieren. D. Diese Schlußfolgerung wird auch noch dadurch unterstützt, daß die Quantenmechanik eine völlig abgeschlossene Theorie ohne sichtbare Entwicklungskeime ist, während die Quantenfeldtheorie solche Entwicklungskeime in der Form von Widersprüchen (Divergenzen bei Wechselwirkungsproblemen) in sich trägt und verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Verallgemeinerung bietet. Die Erforschung dieser Möglichkeiten dürfte weitere physikalische Erkenntnisse liefern, die auch für die Philosophie von erheblicher Bedeutung sein werden. 176

KRITIK DER KONVENTIONALISTISCHEN INTERPRETATION DER DEFINITION DER GLEICHZEITIGKEIT Zdzislaw Augustynek

(Krakow)

Mein Diskussionsbeitrag ist eine Analyse der konventionalistiachen Auffassung der Gleichzeitigkeitsdefinition Einsteins. 1. Die optische Definition Einsteins 1 betrifft die Gleichzeitigkeit räumlich getrennter Ereignisse, die in einem gegebenen Bezugssystem vor sich gehen, und lautet folgendermaßen : Wenn von den Punkten P x und P 2 , in denen sich die Ereignisse S x und S 2 vollziehen, gleichzeitig damit Lichtsignale ausgehen, so sind die Ereignisse S x und S 2 dann und nur dann gleichzeitig, wenn diese Signale gleichzeitig im mittleren Punkt des Abstandes zwischen den Punkten P j und P 2 zusammentreffen. Diese Definition entspricht der Annahme, daß sieh das Licht in den entgegengesetzten Richtungen mit der gleichen Geschwindigkeit ausbreitet. Das folgt logisch aus dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit der speziellen Relativitätstheorie. Das uns interessierende Problem läuft auf die Frage hinaus, ob die Definition Einsteins, und folglich auch ihre entsprechende Annahme, eine willkürliche Konvention oder eine empirische These ist, deren Wahrheit von der Erfahrung abhängt ? Die konventionalistische Auffassung hat zuerst Poincaré2 entworfen ; sie zu begründen versuchte H. Reichenbach in seiner Arbeit „Die Philosophie der Raum-Zeit-Lehre". 3 1

2 3

A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, Ann. d. Phys. B. 17, 1905, S. 891. H. Poincaré, La Valeur de la Science, Paris 1912, S. 45—58. Berlin-Leipzig 1928.

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Naturwissenschaft und Philosophie

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2. Die Argumentation Reichenbachs läuft auf zwei Schlußfolgerungen hinaus: a) Das Argument des logischen Kreises. Um unmittelbar durch die Erfahrung zu entscheiden, ob die Signaldefinition der Gleichzeitigkeit wahr ist, ist es erforderlich, die Geschwindigkeit des in der Definition genannten Signals erfahrungsmäßig festzustellen, zudem jedoch seine Geschwindigkeit in einer bestimmten Richtung. Die Messung dieser Geschwindigkeit erfordert ihrerseits aber die Anwendung der Gleichzeitigkeitsdefinition. Wenn deshalb die Gleichzeitigkeit z. B. optisch bestimmt ist, so fordert die Überprüfung der Richtigkeit dieser Definition ihrerseits ihre Anwendung. Es ergibt sich also ein logischer Kreis. Nach der Meinung Reichenbachs beweist das, daß die optische Definition (wie auch jede andere) den Charakter einer Konvention hat und keine empirische These ist, deren Wahrheit erfahrungsmäßig begründet wird. Denn nur eine solche Interpretation eliminiert den logischen Kreis, der dann entsteht, wenn wir diese Definition als eine empirische These betrachten und die Frage stellen, ob sie wahr ist oder nicht. Weil die Definition Einsteins der Annahme entspricht, daß die Geschwindigkeit der Lichtsignale in entgegengesetzten Richtungen gleich ist, so ist diese Annahme ebenfalls eine Konvention. b) Das Argument der Übereinstimmung mit der Erfahrung. Die Methoden der Messung der Lichtgeschwindigkeit (die Laboratoriumsmethoden Fizeaus, Foucoults,. Michelsons u. a.) fußen auf dem Prinzip der Messung des Zeitintervalls t, in welchem das Licht den Weg hin und zurück durchläuft. Es geht aus vom Punkt A, wird im Punkt 2 r B reflektiert (AB = r) und kehrt zurück zu A; die Lichtgeschwindigkeit wird dann nach der Formel v = 2rjt errechnet. Die auf diese Weise errechnete Lichtgeschwindigkeit hat die Größe von ungefähr 3 • 1010 cm/sek. Das Lichtintervall t wird nur in einem Punkt gemessen (es ist nicht nötig, die Definition der Gleichzeitigkeit anzuwenden), allerdings ist t nicht die Zeit des Lichtweges in einer Richtung, sondern die Summe der Zeit des Hin- und Rückweges des Lichtes. Die Lichtgeschwindigkeit, die man nach der obengenannten Formel erhält, ist somit nur seine mittlere Geschwindigkeit in den entgegengesetzten Richtungen, keinesfalls aber seine Geschwindigkeit in einer bestimmten Richtung. 178

Nach, der Meinung Reichenbachs zeigt das Gesagte, daß die erfahrungsmäßigen Angaben der Messung der Lichtgeschwindigkeit die Frage der Geschwindigkeit des Lichtes in einer bestimmten Richtung nicht eindeutig lösen. Sie lassen folglich eine gewisse Klasse optischer Definitionen der Gleichzeitigkeit zu, die untereinander gleichberechtigt sind. Ob wir annehmen, daß sich das Licht in entgegengesetzten Richtungen mit gleicher Geschwindigkeit ausbreitet, oder mit verschiedenen Geschwindigkeiten (unter der Bedingung, daß das Lichtintervall, d. h. die Zeit des Hin- und Rückweges des Lichtes zwischen den Punkten A und B konstant ist für den Abstand AB), so wird sich eine jede solche Annahme, folglich auch jede ihr entsprechende De-finition der Gleichzeitigkeit in Übereinstimmung mit den obengenannten Meßangaben befinden. Dieses Fehlen einer erfahrungsmäßigen Determiniertheit beweist, daß die Definition-Einsteins eine Konvention ist. Die Willkür in der Konstruktion der optischen Definition drückt Reichenbach in der verallgemeinerten Formel der Synchronisierung aus: k

h = h

h < h

(1)

je nachdem, ob größer, gleich oder kleiner als l 2 ist. Bereits diese erste Festsetzung ist ohne Experiment unmöglich. Insofern ist (1) bereits eine abstrakte, wenngleich noch nicht mathematische Formulierung physikalischer Beobachtung. Zur weiteren Abstraktion des Begriffs Länge wird eine ganz bestimmte Länge willkürlich als Einheitslänge l 0 bezeichnet. Um jeder Länge l eine Zahl zuzuordnen, definieren wir als Meßvorschrifb, daß jeder unbekannten Länge l durch mehrmaliges Hintereinanderlegen des Einheitsmaßes l 0 eine Zahl a zugeordnet wird, die angibt, wie oft das Einheitsmaß hintereinandergelegt werden mußte, a ist zunächst ganzzahlig, kann aber sinngemäß leicht auf gebrochene Zahlen erweitert werden. Die spezielle Meßvorschrift des Hintereinanderlegens von Einheitsmaßen l 0 bringt es mit sich, daß zwei hintereinandergelegte Längen und l 2 zusammen eine Länge l geben, für deren Maßzahl « die Gleichung «1 + a 2 = gilt. Dies kommt in der Gleichung

a

(2)

k = l (3) zum Ausdruck, wenn man jede dieser Längen entsprechend l — xl0 durch Maßzahl a und symbolische Maßeinheit lQ ausdrückt. Beim Einsetzen in (3) und Fortlassen des gemeinsamen Symbols l 0 entsteht dann nämlich Gleichung (2). Diese Überlegungen zeigen, daß das einfache Gesetz (3) von der Additivität der Längen keine grundsätzliche Aussage schlechthin darstellt, sondern erst durch die speziell gewählte Meßvorschrift erzwungen wird. Dabei wurde die Meßvorschrift ausdrücklich so gewählt, daß hinterher für die Überlagerung von Längen ein so einfaches Gesetz wie Gleichung (3) entsteht. Im dreidimensionalen Raum tritt zum Begriff der Länge noch derjenige des Winkels hinzu. Der Winkel läßt sich als Verhältnis zweier Längen (Kreisbogen: Radius) definieren. Daraus folgt die zu seiner 205

Verwendung erforderliche Meßvorschrift unmittelbar. Zwischen Längen und Winkeln geometrischer Figuren bestehen gesetzmäßige Beziehungen, die in der Euklidischen Geometrie zusammengefaßt sind. Für den Physiker ist die Gültigkeit der Euklidischen Geometrie im Raum unserer Wirklichkeit eine reine Erfahrungstatsache. Wie die Betrachtungen der allgemeinen Relativitätstheorie in astronomischen Dimensionen zeigen, gilt die Euklidische Geometrie, nach der u. a. die Winkelsumme eines Dreiecks 180° ist, nur angenähert. Für den Mathematiker ist die Euklidische Geometrie ein logischer Komplex, in dem sich bei gegebenen Voraussetzungen, den Axiomen, bestimmte Folgerungen ziehen lassen. In diesem letzteren Sinn bedeuten die Beobachtungen des Physikers, daß die Axiome der Euklidischen Geometrie im Weltraum (genähert) erfüllt sind. Zur Beschreibung des zeitlichen Ablaufs von Vorgängen ist eine Meßvorschrift mit Maßeinheit erforderlich, die es gestattet, dem zunächst nur qualitativ anschaulichen Begriff der Zeit t ( = tempus) Zahlen zuzuordnen. Dies ist nur möglich unter Benutzung von Vorgängen, die einen sichtbaren Zeitablauf aufweisen. Den einfachsten derartigen Vorgang liefert ein Apparat, in dem auf irgendeine Weise ein Zeiger rotiert. Neben einer willkürlich wählbaren Einheitszeit t0 läßt sich dann jeder Zeit t = ßt0 eine Zahl ß als Winkel zuordnen. Gleichmäßige Rotation des Zeigers ist keine unabdingbare Forderung, aber sie sorgt dafür, daß beim Zusammensetzen von Zeiten nst [=«>*].

y, z)f]

(3) (4)

Aus der in (3) und (4) in [ ] bereits angegebenen Identifizierung des 2ji -^--fachen der für die Bewegung des materiellen Teilchens charakteristischen Größen „Energie" und „Impuls" einerseits 1

Verlag: Johann Ambrosius Barth, Leipzig (2. Auflage 1957, S. 33 ff.).

223

AJbb. 1 a) Schematische Darstellung eines „ruhenden" Elektrons — also eines von einem „mitbewegten Beobachter" aus gesehenen Elektrons (schraffierter Bereich) — mit einigen das Elektron kugelförmig umgebenden Flächen „konstanten" Potentials, das aber als zeitlich nicht konstant, sondern als mit jenem konstanten, dem Abstand vom Mittelpunkt des Elektrons umgekehrt proportionalen Wert (als Amplitude) schwingend angenommen wird bzw. anzunehmen ist

Hachen gleicher

(Amplitude A, willkürlichem Maß)

Amplitude

des Elektrons —

10

cm

rechte Seite: b) Entsprechende Darstellung für ein gegen den Beobachter mit der Geschwindigkeit v = F0,75 C = 0,866 c bewegtes Elektron. Die „Flächen gleicher Amplitude" sind Rotationsellipsoide c) Darstellung der zu b) gehörigen „Flächen gleicher Phase" der mit dem bewegten Elektron verbundenen Welle mit Angabe der zugehörigen Wellenlänge A = 1,385 • 10 ~ 1 0 cm d) Entsprechend zu b) für ein Elektron der Geschwindigkeit

v = Vo,9375 e = 0,97 . . . c wie in 5 e) Entsprechend zu c), aber für den Fall, daß die Geschwindigkeit des Elektrons den Wert v = Vo,9357 c = 0,97 . . . c hat

und der für die Welle charakteristischen Größen „Kreisfrequenz' und „Rreisschwingungszahl" andererseits: -j^E

r,

=

(o;

2n , -h - mv(x,

, y, z) =

, . k(x,

, y, z)

(5)

findet man weiter: E mv

224

ma c

(6)

Flächen gleicher

Amplitude

Flächen gleicher Phase

\

10'\m

k~1,3B5W ncm

c v-~fÖJ5 c = 0,866c

10' ncm

V'VÖßffic

K'0.6210~ wcm

= 0,97 c v c

__

Abb. 15

Naturwissenschaft und Philosophie

225

z

Mit Bezug auf das „Medium", in dem das Elektron ruht, — anders gesagt: mit Bezug auf einen mit dem Elektron mitbewegten Beobachter folgt aus den angegebenen Gleichungen Ee

226

m0c2

.

h

,

c2

Vom mitbewegten Beobachter aus beurteilt, handelt es sich also nicht um eine eigentliche ,, Welle", sondern um einen sich über den ganzen Raum erstreckenden, überall phasengleichen, zeitlich periodischen Schwingungsvorgang, dessen Amplitude indessen noch örtlich verschieden sein kann und auch örtlich verschieden ist. Denn die Schwingungsgleichung 0

(9)

geht ja für u0 -»• oo über in die Potentialgleichung A W = 0, so daß also die Amplitude jenes mit dem Elektron in seinem Ruhsystem, verbundenen „Schwingungsvorganges" proportional zu ^ ist. Dieses „im ganzen Raum phasengleiche Schwingen" bedeutet keinen Widerspruch zur (speziellen) Relativitätstheorie, da es ja keine „Signalübermittlung" bedeutet, außer bei einem „Geborenwerden" oder einer „Vernichtung" (Umwandlung) des Elektrons. In diesen Fällen sind also die mit der speziellen Relativitätstheorie in Übereinstimmung stehenden Ausdrücke für j>0, A0, u0 wohl nicht gültig. Dann sind die Überlegungen — auch die folgenden — entsprechend der allgemeinen Relativitätstheorie abzuändern. Aus den vorstehenden Überlegungen hatte ich in der zweiten Auflage meiner „EThEO" sowie in Bd. 2 meiner „Vorlesungen über Atomphysik"2 die Folgerung gezogen, daß sich die mit einem Elektron der Geschwindigkeit d = const verbundene Welle darstellen läßt durch 2

Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1957.

Abb. 3 Versuch einer anderen Darstellung zur Veranschaulichung der in Abb. 2 dargestellten Verhältnisse 15»

227

Y±z£

e2niv^W'['-*x]

(10)

mit (11)

wo also v0 die Schwingungsfrequenz des im Äwftsystem des Elektrons mit dem Elektron verbundenen „Schwingungsvorganges" außerhalb des Elektrons ist. Wir haben es hier in (10) also mit einer ¿«homogenen ebenen Welle der Frequenz v zu tun. Sind x*, y*, z* die Koordinaten der Oberfläche des Elektrons, die im Ruhsystem des Elektrons als kugelförmig anzunehmen ist, so gilt für (x—

vtf-\-

(y*+

z 2 ) ( l —ß 2)^,(x*

— vi) 2 + (2/* 2 + 2 * 2 ) ( 1 — ß 2),

— also gewissermaßen im Innern (r r* geltende übergeht. Für r ;> r* gehen die kugelförmigen „Flächen gleicher Schwingungsamplitude" des ruhenden Elektrons für einen Beobachter, gegen den sich das Elektron mit konstanter Geschwindigkeit d =f= 0 bewegt, in Äoiaiiowsellipsoide (gleicher Schwingungsamplitude) über, auf denen aber die „StrahlendicÄie" d nicht konstant ist, sondern von q = j/^2 z i abhängt, und zwar ist auf ihnen (12)

Die mit dem mit konstanter Geschwindigkeit v bewegten Elektron verbundene Welle genügt der Wellengleichung 0

(13)

mit EQ = Ruhenergie des Elektrons. 3

Siehe die demnächst an anderer Stelle (Bd. 2 der Buchreihe „Optik" im North-Holland-Publishing-Verlag) in englischer .Sprache erscheinende ausführlichere Arbeit des Verfassers, ferner die in der Zeitschrift „Optik" z. Z. im Druck befindliche Arbeit.

228

Da es sich bei der mit dem bewegten Elektron verbundenen Welle um eine (««-homogene) ebene Welle handelt, kann man bei ihr nicht von einer Änderung der Strahlungsdichte sprechen. Hier scheint es besser, dem Raum gewissermaßen einen scheinbaren Absorptionskoeffizienten a oder eine relativistische „Scheinleitfähigkeit" x zuzuordnen, durch die die Amplitudenänderung der ebenen Welle in Abhängigkeit von (a;— vt), also in Abhängigkeit vom jeweiligen Abstand des Elektrons darvon der betrachteten Wellenfläche (bei konstantem Q = j/^2 stellbar ist, indem man etwa für die ebene Welle ausgeht von der bekannten Wellengleichung absorbierender Medien (14)

Man findet so für a bzw. für x =

n2 v

Ausdrücke, die von ßr — — c

sowie von v, ferner von q und (x — vt) in komplizierter Weise abhängen, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen. Wohl aber sei noch erwähnt, daß es möglich ist, die mit dem bewegten Elektron verbundene inhomogene ebene Welle, deren „Flächen gleicher Amplitude" Rotationsellipsoide sind — auf denen aber noch zusätzlich die „Strahlendichte" von Q abhängt —, aufzufassen als Überlagerung einer zweifach-unendlichen Mannigfaltigkeit inhomogener ebener Wellen, deren Flächen gleicher Amplitude gleichfalls eben, aber gegen die ebenen Flächen gleicher Phase geneigt sind. Dabei sind diese „Flächen gleicher Phase", also die Wellenflächen, für alle diese zweifach-unendlich vielen ebenen Wellen zur Bewegungsrichtung des Elektrons, also zu o orthogonal. Endlich sei noch erwähnt, daß man die Welle, die mit dem mit konstanter Geschwindigkeit bewegten Elektron verbunden ist, auch auffassen kann als Überlagerung einer einfach-unendlichen Mannigfaltigkeit einer Art von Kopfwellen, die sich in Richtung von o mit zu d orthogonalen Wellenflächen ausbreiten, deren „Flächen gleicher Amplitude" aber Kegelmäntel sind, die für die verschiedenen sich überlagernden Kopfwellen verschieden große Öffnungswinkel besitzen. Jede einzelne der zweifach-unendlich vielen inhomogenen ebenen Wellen — und ebenso: jede einzelne der einfach-unendlich vielen inhomogenen Kopfwellen — läßt sich noch auffassen als eine „Wellengruppe", also als eine Überlagerung von ebenen Wellen (bzw. von 229

Abb. 4 Veranschaulichung der zweifach-unendlichen Mannigfaltigkeit von inhomogenen ebenen Wellen, die durch ihre Überlagerung die einem bewegten Elektron zugeordnete Welle ergeben, durch 4 dieser Wellen und ihre Amplitudenabnahme sowie die Neigung ihrer „Flächen konstanter Amplitude", die indessen nur durch (kurze) Striche (zwischen den die Amplitudengröße angebenden Kurven) angedeutet ist. Alle diese Wellen breiten sich in Bichtung der Geschwindigkeit v des bewegten Teilchens aus. Die „Flächen gleicher Phase" aller Teilwellen liegen senkrecht zu v Kopfwellen), deren Amplituden konstant sind, die sich aber in ihrer Frequenz unterscheiden, wie dies auf meine Veranlassung von Herrn Förste in seiner (z. Z. noch nicht abgeschlossenen) Dissertation durch explizite Darstellung jener sich überlagernden Wellen verschiedener Frequenz bestätigt wurde. Die vorstehenden Betrachtungen lassen prinzipiell verschiedene Interpretationen zu, ohne daß es möglich ist, in allen Fällen eindeutig zu entscheiden, welche von ihnen als zutreffend anzusehen ist. Der Verfasser vertritt die Auffassung, daß in allen Fällen — also sowohl 230

aei dem Elektron, dem Positron, dem Proton, dem Neutron usw. als buch bei dem Photon stets Korpuskel und (inhomogene) Welle [bzw. —im Ruhsystem des Teilchens —: zeitlich periodischer Schwingungsvorgang] gleichzeitig vorhanden sind und die Welle dabei gleichzeitig als eine Art ,,Führungswelle" für das Teilchen wirkt, daß aber jeweils entweder der TeifcÄewcharakter oder der IFeMeracharakter in Erscheinung tritt, je nachdem die korpuskulare Geschwindigkeit kv c ist. Da zwischen der korpuskularen Geschwindigkeit kv ( = v) eines Teilchens und der Phasengeschwindigkeit pv (= u) [ = undulatorische Geschwindigkeit] der dem Teilchen zugeordneten Welle die Beziehuhg e t 2! _C 2 »(— 4®) — ü' E-Epot— ü

besteht, so wechselt also jedes „Teilchen" seine „Erscheinungsform", „erscheint" also als „Teilchen", solange v (= kv) c, dagegen als (Gravitations- und bzw. oder als elektrische) „Welle", sobald v(= kv)^>) c> a ^ s o u ( = vv) ^ c ist bzw. wird, wie ich dies in dem Aufsatz „Bemerkungen zu Masse, Energie und Impuls des Photons, des Elektrons und anderer Elementarteilchen" in der Zeitschrift „Optik" bereits ausgeführt habe.4 [ET — E0 + EMn = TeilcheneneTgie.] Dieser „Wechsel der Erscheinungsform": Korpuskel -»• Welle bzw. Welle -»• Korpuskel, kann als Analogon zu dem durch Temperatur- und (bzw. oder) Druckänderung bewirkten Übergang von einem Aggregatzustand (fest, flüssig, gasförmig) in einen anderen Aggregatzustand betrachtet werden, ohne indessen durch diese Analogieerwähnung (bereits jetzt) den „Wellenzustand" d i r e k t als vierten Aggregatzustand deuten zu wollen. 4

Optik 16, 2 5 7 - 2 7 5 , 1959.

ÜBER DIE WIDERSPIEGELUNG DER BEWEGUNG D E R E L E M E N T A R O B J E K T E IM D E N K E N Herbert Hörz

(Berlin)

Ich möchte von philosophischer Seite zu einigen prinzipiellen Erwägungen bei der Widerspiegelung der Bewegung der Elementarobjekte im Denken sprechen. Bereits Lenin wies in seinen philosophischen Bemerkungen darauf hin, daß die Schwierigkeit bei der Widerspiegelung der Bewegung allgemeiner Natur ist. Er sagt: „Wir können uns die Bewegung nicht vorstellen, wir können sie nicht ausdrücken, ausmessen, abbilden, ohne das Kontinuierliche zu unterbrechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, zu zerstückeln, ohne das Lebendige zu töten. Die Abbildung durch das Denken ist immer eine Vergröberung . . , ' a Die Erfassung der Bewegung in der Logik unserer Begriffe ist also keine spezielle philosophische Schwierigkeit, die sich nur aus der Quantenmechanik ergibt. Aber zweifellos ist es richtig, wenn darauf hingewiesen wird, daß mit den Entdeckungen, die zur Quantenmechanik führten und ihrer Aufstellung, diese Schwierigkeit offensichtlich wurde. Wieso zeigte sie sich nicht in dem Maße in der klassischen Mechanik ? Um die Bewegung in der klassischen Mechanik zu erfassen, wurde davon ausgegangen, daß ein sich bewegender Körper gleichzeitig Ort und Impuls besaß. Zur Anwendung der klassischen Bewegungsgleichungen bedurfte es der Bestimmung der Geschwindigkeit an einem Ort. Diese Bestimmung war unter zwei Bedingungen möglich: 1. Zu jedem Zeitpunkt mußte der Körper einen genau definierten Ort besitzen. War das nicht der Fall, d. h. hätte der sich bewegende 1

W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 195.

233

Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt keine genau definierte Lage, so würden wir beim Grenzübergang eine unendlich große Geschwindigkeit erhalten. 2. Der Übergang von x1 zu x2 muß stetig (kontinuierlich) sein, da sonst die Grenzwertbildung des Differentialquotienten nicht erfolgen könnte. Das Ergebnis wäre bei einem genau bestimmten Ort wegen der diskontinuierlichen Übergänge eine unbestimmte Geschwindigkeit. Beide Bedingungen müssen erfüllt sein, damit dem klassischen Ideal genügt wird, daß ein sich bewegender Körper gleichzeitig einen genau bestimmten Ort und Impuls besitzt. Die Bewegung vollzieht sich also klassisch so, daß der sich bewegende Körper zu jedem Zeitpunkt sich an einen bestimmten Ort befindet. Damit besteht die Bahn des Körpers eigentlich nicht aus einem Kontinuum, sondern aus diskontinuierlichen Übergängen. Gleichzeitig ist jedoch die Stetigkeit der Bahn Voraussetzung für die Differenzierbarkeit. Während wir in der ersten Bedingung von der Stetigkeit absehen, erfordert die Bildung des Differentialquotienten notwendig die Stetigkeit. Wir können also sagen, daß in der klassischen Mechanik zwar die Kontinuität und Diskontinuität der Bewegung als Bedingung existieren, daß aber beide Bedingungen beziehungslos auseinanderfallen. Versucht man zwischen diesen beiden Bedingungen eine Beziehung herzustellen, so verwickelt man sich in Widersprüche. Denn offensichtlich widersprechen die Bedingung der Kontinuität und der Diskontinuität der Bewegung einander. Dabei hatten wir die Diskontinuität nur dadurch erhalten, daß wir annahmen, der Körper befinde sich zu jedem Zeitpunkt an einem genau bestimmten Ort. Wir hatten damit gewissermaßen von der Bewegung dieses Körpers abstrahiert und nur das Resultat seiner Bewegung betrachtet. Wir hatten das Intervall, in dem er sich als bewegter Körper befindet, auf einen Punkt reduziert. Wegen der relativ kleinen Geschwindigkeiten, mit denen sich die Körper der klassischen Mechanik bewegten, war das berechtigt. Aber man mußte sich klar sein, daß es eine einseitige Erfassung der Bewegung war. Lenin unternahm die Kritik dieser Bewegungsauffassung. Er schrieb: „Bewegung ist das Befinden des Körpers im gegebenen Mo234

ment an einem bestimmten Ort und in einem anderen, darauffolgenden Moment, an einem anderen Ort . . . Dieser Einwand ist unrichtig: 1. Er beschreibt das Resultat der Bewegung und nicht die Bewegung selbst; 2. er zeigt nicht, er enthält nicht in sich die Möglichkeit der Bewegung. 3. er stellt die Bewegung als eine Summe, als eine Verbindung von Ruhezuständen dar, d. h., der (dialektische) Widerspruch wird durch ihn nicht beseitigt, sondern nur verhüllt, aufgeschoben, verdeckt, verhängt." 2 Diese Kritik trifft voll und ganz auf die klassische Bewegungsauffassung zu. Wir können aber auch sagen, daß unsere Bemerkung, daß die Bedingungen der Kontinuität und Diskontinuität zueinander in Beziehung gesetzt, Widersprüche ergeben, eben auf den von Lenin erwähnten dialektischen Widerspruch hinweisen. Man darf beide Bedingungen nicht beziehungslos nebeneinander bestehen lassen, wenn man die Bewegung richtig erfassen will. Um die Bewegung zu erfassen, muß man die Beziehung zwischen kontinuierlicher und diskontinuierlicher Seite der Bewegung beachten, muß den objektiven dialektischen Widerspruch zwischen diesen beiden Seiten aufdecken. Dazu ist aber vor allem die Auffassung von der Bewegung aufzugeben, f ü r die der Körper in einem Moment an einem bestimmten Ort und im nächsten an einem anderen Ort ist. Man kann das so ausdrücken, daß man sagt: Der Körper befindet sich an keinem bestimmten Ort, oder: Der sich bewegende Körper ist in bezug auf das Resultat seiner Bewegung an einem bestimmten Ort, d. h., er hat bis zu diesem Zeitpunkt diesen Ort passiert, aber da er sich bewegt, ist er in bezug auf die Kontinuität der Bewegung nicht an diesem Ort. Kurz und mißverständlich wird oft gesagt: Der Körper ist zugleich an einem Ort und ist nicht an diesem Ort. Das scheint dann ein logischer Widerspruch zu sein, ist aber keiner, da dieser zusammengesetzte Satz aus zwei Sätzen besteht, deren jeder für eine bestimmte Beziehung wahr ist, so daß der zusammengesetzte Satz wahr ist. Hier wird aber vom dialektischen Widerspruch abstrahiert. Für die zweiwertige Logik ergibt sich die Wahrheit zusammengesetzter Aussagen aus der Wahrheit •oder Falschheit der Einzelaussagen. Für die Dialektik dagegen ist 3

Ebenda, S. 194fl.

235

gerade die Beziehung beider Aussagen als Ausdruck wirklicher Beziehungen wichtig. Die Dialektik muß also den Zusammenhang zwischen Kontinuum und Diskontinuum untersuchen. Wie bekannt, lieferte dazu die Quantenmechanik und die Untersuchung der Bewegung der Elementarobjekte eine Unmenge zu untersuchendes konkretesMaterial. Konnte in der klassischen Mechanik eben noch davon abstrahiert werden, daß der sich bewegende Körper sich nicht an einem bestimmten Ort befand, so war das bei den Elementarobjekten nicht mehr möglich. Die Elementarobjekte bewegen sich relativ schnell. Ihre Bewegung kann auch nicht mehr als die Bewegung isolierter Objekte erfaßt werden, sondern muß unter Berücksichtigung des Energieaustausches (Compton-Rückstoß) als Wechselwirkung einer Gesamtheit von Objekten miteinander und der umgebenden Materie erfaßt werden. Das konkrete Material bestätigte die philosophische Auffassung der Bewegung als dialektischer Widerspruch. Was allgemein für den Widerspruch zwischen Kontinuum und Diskontinuum als bestimmend für die Ortsveränderung überhaupt galt, mußte auf den konkreten Widerspruch zwischen Wellen- und Korpuskeleigenschaften angewandt werden, der die Bewegung der Elementarobjekte bestimmt. Man kann die Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelationen als die Widerspiegelung dieses objektiven Widerspruchs betrachten. Bei der Diskussion aller dieser Fragen spielte vor allem die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens bestimmter Ereignisse eine Rolle. Philosophisch macht meines Erachtens die Deutung von ¡y7]2 als Wahrscheinlichkeitsdichte keine großen Schwierigkeiten, wenn man das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit betrachtet.. Die Möglichkeit gibt dabei stets einen gewissen Rahmen für die Verwirklichung bestimmter Zustände. Tatsächlich befindet sich ja nach der philosophischen These der sich bewegende Körper nicht an einem bestimmten Ort. Ihm diesen Ort zuzusprechen kann man nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die Gewißheit wird, wenn die Bewegung unterbrochen oder verändert wird, d. h. die Möglichkeit bestimmter Zustände sich in Wirklichkeit verwandelt, indem die Kontinuität der Bewegung unterbrochen wird. Eine andere Frage ist von Interesse, die oft diskutiert wurde: Welche Bedeutung haben 236

mehrwertige Logiken f ü r die Widerspiegelung bestimmter Seiten der Quantenmechanik in unserem Denken ? Diese Frage wurde oft als äquivalent mit einer anderen Frage betrachtet: Gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten f ü r die Tatsachen der Quantenmechanik? Beide Fragen sind nicht äquivalent. Ihre Vermengung f ü h r t oft zu Extremen: 1. Da es in der Quantenmechanik Aussagen gibt, die etwas über die Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatbestände aussagen und denen nicht der Wahrheitswert wahr oder falsch zukommt, wurde die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten bestritten. I n dieser Auffassung existiert neben den Wahrheitswerten wahr und falsch auch der Wert unbestimmt. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten wird aufgehoben. Gegen diese Auffassung verwahrt sich z. B. Georg Klaus in seinem Logik-Lehrbuch auf das Entschiedenste (S. 67f.) 2. In der zweiten Auffassung haben wir das andere Extrem. Die zweiwertige Logik wird als die einzige Logik betrachtet und die mehrwertigen Logiken als Spielerei abgetan. Sie werden als Angriff auf die objektive Wahrheit gewertet (Fogarasi). Man k a n n beide Extreme nicht anerkennen. Wie wir bereits bei der Betrachtung des dialektischen Widerspruchs sahen, bestehen die Grenzen der formalen zweiwertigen Logik darin, daß ihre Gesetze auf Aussagen zutreffen, die über einen Tatbestand zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Beziehung gemacht werden. Wir sahen, daß bei genauer Angabe der Beziehung, die Gesetze der Logik durch die Feststellung des dialektischen Widerspruchs nicht verletzt werden. Das trifft auch auf die Aussagen der Quantenmechanik zu. Wir können sagen: Die Elementarobjekte besitzen Welleneigenschaften (in bezug auf Interferenzen) und Korpuskeleigenschaften (in bezug auf Energieumwandlungen). Das zusammengesetzte Urteil ist nach den Gesetzen der Logik, da seine Einzelaussagen wahr sind, auch wahr. F ü r die zweiwertige Logik ist also entscheidend, daß dasselbe demselben nicht zugleich und in derselben Beziehung zugesprochen u n d nicht zugesprochen wird. Die Philosophie muß jedoch über diese Grenzen hinausgehen. Sie muß, auch in der Logik, die Entwicklung u n d den Zusammenhang der wirklichen Erscheinungen und ihrer Widerspiegelung im Denken untersuchen. Abstrahiert die zweiwertige Logik 237

von allen Beziehungen und vom zeitlichen Verlauf, indem sie nur eine Beziehung zu einem Zeitpunkt untersucht, so muß die, wenn man so will, dialektische Logik die Beziehungen zwischen verschiedenen Aussagen und die zeitliche Änderung der Aussagen als Ausdruck wirklicher Änderungen in der Zeit und wirklicher Zusammenhänge beachten. Auch dabei wird noch abstrahiert, nämlich von unwesentlichen Zusammenhängen. Indem wir aber wesentliche Zusammenhänge einander widersprechender Seiten betrachten, heben wir eben die Ergebnisse der Logik nicht auf. Nehmen wir dazu noch einmal unser Beispiel. Der Satz: Der sich bewegende Körper befindet sich an einem Ort, enthält in sich einen logischen Widerspruch, da Bewegung und an einem Ort sich befinden, einander ausschließen. Wir müssen also sagen: Der Körper befindet sich nicht an einem Ort. Betrachten wir im ersten Satz jetzt einmal nur das Resultat der Bewegung, dann ist es auch richtig zu sagen: Der sich bewegende Körper befindet sich im Resultat seiner Bewegung an einem bestimmten Ort. (Compton-Rückstoß; Auftreffen auf Photoplatte). Dieser Satz ist eben in bezug auf das Resultat der Bewegung richtig, während der Satz, daß der Körper nicht an einem bestimmten Ort ist, nicht in bezug auf das Resultat, sondern in bezug auf die Kontinuität der Bewegung gilt. Soweit, so gut. Aber das reicht für den Physiker und den Philosophen nicht aus. Sie formulieren Aussagen, die von dem sich bewegenden Körper auf das Resultat der Bewegung schließen lassen, etwa der Art: Das Elementarobjekt wird sich mit der Wahrscheinlichkeit w am Ort x zum Zeitpunkt t befinden. Das, was also in der zweiwertigen Logik so schön getrennt existiert, nämlich jede Beziehung für sich, wird hier in der Untersuchung zusammengenommen, indem eben von dem sich bewegenden Körper auf das Resultat der Bewegung geschlossen wird. Dabei wird der Zusammenhang zwischen Bewegung und Resultat der Bewegung durch die Aussage über die Wahrscheinlichkeit des Resultats hergestellt. Man kann also festhalten: Obwohl die Quantenmechanik von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Zustände spricht, wird dadurch der Satz vom ausgeschlossenen logischen Widerspruch nicht aufgehoben. Er behält seine volle Berechtigung. Zweitens muß man aber feststellen, daß es notwendig ist, den wirklichen Zusammenhang zwischen Bewegung und Resultat der Bewegung 238

zum Ausdruck zu bringen durch die Wahrscheinlichkeit. Indem wir diesen Zusammenhang untersuchen, sprengen wir den Rahmen der zweiwertigen Logik, indem wir dem Objekt dasselbe (Befinden an einem Ort) zusprechen und nicht zusprechen, aber nicht in derselben Beziehung. Das Objekt hat zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, sich am Ort x zu befinden. Das wesentliche hieran ist also, daß das Objekt vom Resultat seiner Bewegung her gesehen einen Ort besitzt, daß es aber als sich bewegendes Objekt sich an keinem bestimmten Ort befindet. Nur wenn wir beide Erkenntnisse vereinigen, d. h. auch beide Aussagen zusammenfassen, erhalten wir ein neues wissenschaftliches Ergebnis, nämlich die Wahrscheinlichkeit für das Resultat der Bewegung des sich bewegenden Körpers. Damit kann der Vertreter der zweiwertigen Logik zwar zufrieden sein, aber es ergibt sich ein neues Arbeitsgebiet. Es müssen die Gesetze aufgestellt werden, nach denen sich die Aussagen verhalten, in denen etwas über die Wahrscheinlichkeit eines Zustandes ausgesagt wird. In einer sinnvollen Wahrscheinlichkeitsaussage ist stets ein dialektischer Widerspruch widergespiegelt. Wir haben dies versucht, am Problem der Bewegung zu skizzieren. Soweit unsere Erkenntnis in das Wesen der Bewegung der Elementarobjekte auch vordringen mag, solche Aussagen, wie: Das sich bewegende Objekt wird mit der Wahrscheinlichkeit w zum Zeitpunkt t am Ort x sein, wird es immer geben. Sie entspringen eben aus unserer Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge der Bewegung der Elementarobjekte. Nur mehrwertige Logiken sind in der Lage, uns die Gesetze für die Wahrscheinlichkeitsaussagen zu liefern. Für jede Aussage existiert dabei eine unendliche Reihe von Werten. Diese Reihe besitzt zwei Grenzwerte 0 und 1, die identisch sind mit den Wahrheitswerten wahr und falsch der zweiwertigen Logik. Deshalb stellt auch Georg Klaus in seinem erwähnten Logikbuch richtig fest: „Die Gesetze der Logik gelten nur für absolut wahre oder falsche Urteile. Gehen beliebige Urteile in logische Beziehungen ein, so müssen wir sie, um die Gesetze der formalen Logik überhaupt anwenden zu können, wenigstens im Rahmen der betreffenden Überlegungen als absolut wahr oder falsch betrachten."3 * ö Klaus, Einführung in die formale Logik, Berlin 1959, S. 69.

239

Die zweiwertige Logik behandelt also die Grenzwerte der unendlichen Reihe, absolut wahre und falsche Urteile. Das weist jedoch ebenfalls auf die Notwendigkeit der Beachtung der mehrwertigen Logiken hin, denn die zweiwertige Logik muß die betrachteten Aussagen einer einschränkenden Bedingung unterwerfen, nämlich absolut wahr oder falsch zu sein. Die Betrachtung des dialektischen Widerspruchs zeigt uns jedoch, daß wir auch in unserem Falle bei Voraussagen über das Resultat der Bewegung, mit relativ gültigen Aussagen arbeiten müssen, wobei die Gültigkeit der einen durch die Gültigkeit der anderen eingeschränkt wird. So wird die Gültigkeit der Aussage: Der sich bewegende Körper befindet sich an keinem bestimmten Ort, dadurch eingeschränkt, daß auch der Satz gilt: Der sich bewegende Körper befindet sich im Ergebnis seiner Bewegung an einem bestimmten Ort. Jeder Satz für sich genommen, liefert eben keine vollständige Erfassung der Bewegung. Erfassen wir die Bewegung, dann können wir auch von der Bewegung aufs Resultat schließen (Schrödingergleichung als Aussage über das Resultat). Wir können also über die mehrwertige Logik sagen: 1. Sie ist notwendig, da die zweiwertige Logik nur die Grenzwerte der unendlichen Reihe von Werten berücksichtigt, die einer Aussage überhaupt zukommen können. 2. Die Betrachtung des dialektischen Widerspruchs und seiner Widerspiegelung im Denken zeigt, daß die Beachtung des Zusammenhangs der Aussagen über die beiden Pole des Widerspruchs zu Wahrscheinlichkeitsaussagen führt. Ich glaube damit angedeutet zu haben, wie man zu einer philosophischen Begründung der mehrwertigen Logiken kommen kann. Mehr noch, ich glaube, daß die philosophische Grundlage der mehrwertigen Logik eben die dialektische ist. Die Bemühungen vieler Naturwissenschaftler und Mathematiker um die Ausarbeitung mehrwertiger Logiken haben von Seiten der dialektischen Materialisten unter diesem philosophischen Aspekt noch zu wenig Beachtung gefunden. Noch eine Bemerkung zu der bereits erwähnten Vermengung der Frage nach der Gültigkeit mehrwertiger Logiken mit der Frage nach der Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Weizsäcker schreibt in seiner sehr interessanten Arbeit „Komplementarität und 240

Logik": „Es scheint mir, daß die quantentheoretische Einführung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit den logischen Gegensatz von Wahrheit und Falschheit so modifiziert, daß zwar der Satz vom Widerspruch, aber nicht der Satz vom ausgeschlossenen Dritten erhalten bleibt." 4 Daß der Satz vom Widerspruch erhalten bleibt, hatten wir schon gesehen. Auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bleibt im Gegensatz zu Weizsäckers Behauptung erhalten. Haben wir eine Wahrscheinlichkeitsaussage, so sind wir stets in der Lage, falls es sich um die Widerspiegelung eines Widerspruchs handelt, durch die Lösung dieses Widerspruchs zum Grenzwert unserer Reihe von Werten für die Aussage überzugehen. Lokalisieren wir ein Teilchen, dann haben wir den Widerspruch der Bewegung gelöst. Es gilt die Aussage: Das Teilchen befindet sich am Ort x, mit Gewißheit. Solange das Teilchen sich jedoch bewegt, gilt die Aussage: Das Teilchen befindet sich im Resultat seiner Bewegung am Ort x, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Auch hier gilt natürlich die zweiwertige Logik. Bei ihrer Betrachtung interessiert der Wahrscheinlichkeitswert für die Voraussage gar nicht. Für die zweiwertige Logik ist die Aussage: Der sich bewegende Körper befindet sich mit der Wahrscheinlichkeit w zur Zeit t am Ort x, absolut wahr oder falsch. Das ist ja tatsächlich der Fall. Philosophisch können wir den Satz vom ausgeschlossenen Dritten dann auch so fassen: Jede Aussage kann auf ihre Wahrheit oder Falschheit überprüft werden, wenn es sich im Sinne der formalen Logik um eine Aussage handelt, bei der nicht dasselbe demselben zugleich und in derselben Bedeutung zugeschrieben und nicht zugeschrieben wird. Das ist aber gleichbedeutend mit dem Grenzübergang in unserer Reihe von Werten. Als Grenzen ergaben sich aber gerade die zwei Werte. Man könnte also auch sagen, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten besagt, daß die unendliche Reihe der Wahrscheinlichkeiten nur zwei Grenzwerte hat, die Wahrheit und die Falschheit. Dieser Satz wendet sich also gegen die Annahme eines dritten Wertes „prinzipiell unerkennbar" und damit gegen den Agnostizismus, er wendet sich aber m. E. nicht gegen die Annahme von Zwischenwerten. 4

C. F. v. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1958, S. 283.

16 Naturwissenschaft und Philosophie

241

1. So ergeben sich von philosophischer Seite die Notwendigkeit der Ergänzung der zweiwertigen durch die mehrwertige Logik und die dialektische Logik als die philosophische Grundlage der mehrwertigen Logik. Dabei kann man sich überlegen, ob die Bezeichnung „mehrwertige Logik" glücklich ist. Es handelt sich ja nicht um die Erweiterung der zweiwertigen Logik durch eine neue Logik, sondern um die Untersuchung von Wahrscheinlichkeitsaussagen. 2. Die zweiwertige Logik ist der Grenzfall der „mehrwertigen Logik" auf der einen Seite. Andererseits ist die zweiwertige Logik allgemeingültig. Sie muß auch beim Aufbau der „mehrwertigen Logik" beachtet werden. Alle Aussagen der „mehrwertigen Logik" müssen in dem oben angedeuteten Sinn den Gesetzen der zweiwertigen Logik entsprechen. Für die Erkenntnis der Wirklichkeit sind sowohl die zweiwertige als auch die „mehrwertige Logik" erforderlich.

ZUM AUFBAU D E R R E L A T I V I T Ä T S T H E O R I E NACH A L E X A N D R O W Armin Uhlmann (Jena) 1. Oft ergeben sich sehr unterschiedliche Aspekte, wenn man eine Theorie zur Zeit ihrer Entstehung betrachtet, ihren historischen Werdegang verfolgt oder aber, wenn man ihre Grundlagen vom Standpunkt des Wissens und der Erkenntnisse einschätzt, die sich nach vielen Jahren ihrer „Geburt" angehäuft haben. Man ist geneigt, eine neu entstehende Theorie vom Blickpunkt derjenigen Einsichten zu beurteilen, die vor ihrem Aufkommen vorhanden waren. Im Laufe der Zeit jedoch wird jede Theorie von historischen Zufälligkeiten und subjektiven Unzulänglichkeiten gereinigt. Diese Feststellung können wir auch für die Relativitätstheorie treffen, obwohl sie, wie es scheint, ihr „Reifestadium" noch nicht vollendet hat. Tatsächlich ist es üblich, zur Charakterisierung der Relativitätstheorie davon auszugehen, daß gewisse physikalische Größen, denen man bis Einstein einen nur vom zu untersuchenden Objekt abhängigen Wert zuschrieb, nunmehr zusätzlich vom Bewegungszustand der Beobachter relativ zu diesem Objekt abhängen. Dazu kommt, daß die in Rede stehenden physikalischen Größen sehr elementarer Struktur sind: Räumliche Abstände, zeitliche Distanzen, Masse, Energie, Impuls usw. werden zu Relationen zwischen, physikalischen Systemen und dem Bewegungszustand von Beobachtern (d. h. Meßgeräten usw.). Der von Alexandrow angedeutete Aufbau der Relativitätstheorie verspricht, alle diese Effekte als Folgerungen aus der Struktur der „absoluten" Raum-Zeit-Welt zu verstehen. Dabei bezieht sich das Wort „absolut" auf die Tatsache, daß diese Struktur keine Relation zwischen dem Bewegungszustand irgendwelcher Beobachter und dem 16«

243

physikalischen System ist, sondern nur zu letzterem gehört. Zudem kommt der Alexandrowsche Aufbau mit einem Minimum an Voraussetzungen (Axiomen) aus. Nimmt man den Standpunkt von Alexandrow ein, so handelt die Relativitätstheorie tatsächlich von der Bestimmung der Struktur der Raum-Zeit-Welt und von den Folgerungen, die sich aus dieser Struktur für die anderen (nicht-metrischen) physikalischen Felder sowie für einige ihrer wichtigsten Charakteristika (Masse, Energie, Impuls u. ä.) ziehen lassen. Mit anderen Worten, es handelt sich um die Bestimmung des metrischen Feldes gih und um die Konsequenzen, die man aus den Eigenschaften dieses Tensors ziehen kann. Deshalb sieht Alexandrow in der Relativitätstheorie in erster Linie eine Theorie von Raum und Zeit. 2.

Wir wollen zunächst das Gemeinschaftliche der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie herausstellen, um später ihre Unterscheidung klarer zu ermöglichen. 1 Zunächst enthält die Theorie ganz elementare Dinge, die zu unseren allgemeinsten Erfahrungen gehören. Dabei handelt es sich um die Tatsache, daß der Raum drei- und die Zeit ein-dimensional sind. Die Vereinigung von Raum und Zeit muß somit eine vier-dimensionale Mannigfaltigkeit sein, deren „Punkte" die Raum-Zeit-Punkte sind. Ein räumlich möglichst kleiner und zeitlich möglichst kurzer Ausschnitt aus einem physikalischen Geschehen nennt man kurz ein „Ereignis". Etwas abstrahierend können wir von den Ereignissen sprechen, die mit einem Raum-Zeit-Punkt (einem sog. „Weltpunkt") verbunden sind. Betrachten wir nun den grundsätzlichen Unterschied zwischen den von Einstein gewonnenen Einsichten und den früheren, und betrachten wir dazu die folgenden Bilder. In beiden Bildern betrachten wir eine raum-zeitliche „Umgebung" eines beliebig herausgegriffenen Weltpunktes P. 1

Allerdings wird bei Alexandrow hauptsächlich die Spezielle Relativitätstheorie behandelt. Jedoch liegt die Verallgemeinerung auf der Hand.

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Es ist an dieser Stelle zweckmäßig zu bemerken, daß Baum und Zeit philosophische Kategorien sind, die wir nun einer anderen gegenüberstellen: der Kategorie Kausalität. Wir fragen nach denjenigen Raum-Zeit-Punkten, mit denen Ereignisse verknüpft sein können, die Ursache für Ereignisse sein können, die zum herausgestellten Weltpunkt P gehören. Die Menge dieser Weltpunkte bezeichnen wir als „Vergangenheit von P" (siehe Bild 1

Vergangenheit

P

Abb. 1

Zukunft

Abb. 2

und 2). Ebenso wird mit „Zukunft von P" die Menge aller derjenigen Weltpunkte gekennzeichnet, an denen Ereignisse möglich sind, die Folgen („Wirkungen") von am Raum-Zeit-Punkt P situierten Ereignissen sein können. Der Newtonschen Auffassung entspricht dann das Bild 1 und die mit L bezeichnete Linie ist die „Gegenwart". Ganz anders in der Relativitätstheorie! Dort gibt es ein ganzes Gebiet von Raum-Zeit-Punkten derart, daß kein dort stattfindendes Ereignis mit Ereignissen am Weltpunkt P in kausalem Zusammenhang stehen kann. Der mit L bezeichnete „Lichtkegel" trennt diese Gebiete, und dies entspricht der Tatsache, daß das Licht (das elektromagnetische Feld) mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit Wirkungen von Ursachen „wegträgt". Das charakteristische Bild 2 tritt immer dann auf, wenn es eineGrenze für die Geschwindigkeiten gibt, mit denen Wirkungen übertragen werden. Vor Einstein, als diese Tatsache un245

bekannt war, mußte man zu der im Bild 1 angedeuteten Auffassung kommen, bei der der charakteristische Doppelkegel von Bild 2 entartet, zusammengeschrumpft ist. Immer dann, wenn es eine Grenzgeschwindigkeit für die Ausbreitung von Wirkungen gibt (die noch von Weltpunkt zu Weltpunkt und von Richtung zu Richtung verschieden sein kann), kann man schließen, daß die Raum-Zeit-Welt eine Metrik der berühmten Gestalt ds2 = co2 — a>l — m\ — co2

(1)

(die (oi sind Pfaffsche Formen) trägt. Ohne die Metrik (1) näher zu bestimmen, sieht man die enge Verflechtung ihrer Struktur mit der Struktur der (möglichen und wirklichen) kausalen Zusammenhänge. 2 Interessant ist auch, daß man wegen der begrenzten Ausbreitungsgeschwindigkeit aller Wirkungen den Begriff des Raum-Zeit-Punktes „definieren" kann: Zwei Ereignisse gehören zu demselben Weltpunkt, wenn sie untereinander wechselwirken können. Diese Möglichkeit ist auch vom Standpunkt der Quantentheorie sehr interessant. 3. Die Betrachtungen des vorigen Abschnittes gelten zunächst ganz allgemein sowohl für die Spezielle als auch für die Allgemeine Relativitätstheorie. Wie unterscheiden sich nun beide. Nachdem wir die „absolute" Raum-Zeit-Welt als den objektiven Hintergrund der (wirklichen oder auch nur möglichen) Mannigfaltigkeit der Ereignisse ansehen, kommt es jetzt auf die nähere Bestimmung ihrer Metrik (1) an. 3a. Im Besitze der obigen Vorstellung entsteht die Spezielle Relativitätstheorie durch die Annahme, daß die Verteilung der Energien, Massen u. ä. in Raum und Zeit auf die Struktur der Raum-Zeit-Welt selbst keinen Einfluß besitzen. Diese Annahme ist selbstverständlich nur eine Näherung für die wirklichen Verhältnisse. Allein bei der derzeitigen Konstellation der Massen des uns bekannten Abschnittes der 2

Übrigens bestimmt die Gesamtheit der möglichen kausalen Zusammenhänge die Metrik (1) bis auf eine konforme Abänderung.

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Welt ist sie recht gut erfüllt. Bis heute konnte man z. B . nicht einmal die Frage entscheiden, ob der Raum positiv oder negativ gekrümmt ist! Wir können daher für eine außerordentlich große Anzahl von Problemen den Einfluß der konkreten Verteilung von Energie, Impuls und Spannungen negieren. Als eine Konsequenz dieser Annahme darf in der Raum-Zeit-Welt kein Welt-Punkt vor dem anderen, keine Richtung vor einer anderen usw. ausgezeichnet sein. Es muß vielmehr die Raum-Zeit-Welt maximal homogen bzw., anders ausgedrückt, maximal symmetrisch sein. Überraschenderweise gibt es genau eine maximal symmetrische Metrik (1), nämlich die Metrik der Speziellen Relativitätstheorie! Das einzige noch der Erfahrung zu entnehmende Element ist der Wert der Lichtgeschwindigkeit, die durch die Forderung nach maximaler Symmetrie mit Notwendigkeit orts- und richtungsunabhängig ist. 3 b. Die Allgemeine Relativitätstheorie entsteht aus der tieferen, die Wirklichkeit besser widerspiegelnden Erkenntnis, daß Raum und Zeit als Existenzformen der Materie von ihren konkreten Bewegungsformen abhängig sein muß. (Man beachte jedoch, daß bereits der Zusammenhang mit der Kausalität dieser Erkenntnis gerecht wird!) Den wichtigsten Hinweis für den Charakter dieses Zusammenhangs liefert das Äquivalenzprinzip. In seiner einfachsten Form sagt es, daß sich in einem Gravitationsfeld alle (genügend „kleinen") Körper gleich verhalten — unabhängig von ihrer konkreten Zusammensetzung und ihren sonstigen Eigenschaften. Einstein schloß hieraus, daß das Gravitationsfeld von ähnlicher allgemeiner Bedeutung sein muß wie das metrische Feld und daß bei geeigneter Wahl des letzteren die „Kürzesten" dieser Metrik gerade den Bahnkurven von Partikeln im Gravitationsfeld entsprechen können. Somit schließt die genaue Bestimmung von (1) auch die Gravitation ein. Es folgt die Erkenntnis, daß, da die Schwerkraft von der Masse der gravitierenden Körper abhängt, ein solcher Zusammenhang auch mit der Metrik vorhanden sein wird. Das Analogon zur Masse der Newtonschen Gravitationstheorie konnte nach den Erfahrungen der Speziellen

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Relativitätstheorie nur der sogenannte Energie-Impuls-Tensor sein. Unter Heranziehung allgemeinster Eigenschaften dieses Gebildes (Divergenzfreiheit) gibt es (E. Cartan) genau eine Möglichkeit, ein Analogon zur Newtonschen Gleichung zu schaffen. Diese einzige Möglichkeit bilden gerade die Einsteinschen Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, und zwar mit der sog. kosmologischen Konstante. Man erkennt aber sofort, daß letztere Null oder doch sehr klein sein muß; denn sonst ist bei verschwindender Gravitation die Metrik der Speziellen Relativitätstheorie keine Lösung dieser Gleichungen. 4.

Es folgen einige kurze Bemerkungen zu strittigen Problemen. Auf Grund seiner Komplexität ist es jedoch hier nicht möglich auf das Problem der Gravitationsenergie einzugehen, das auf der Konferenz berührt wurde. a) Das M a c h s c h e P r i n z i p Gelegentlich sagt man wegen der Gestalt der Einsteinschen Gleichungen, die „Materie" bestimme nach Einstein die Weltmetrik (1). Diese Sprechweise ist jedoch ungenau, da natürlich auch das metrische Feld materiell, d. h. objektiv und real vorhanden ist.3 Tatsächlich meint man aber, daß die Verteilung der Massen bzw. die von Energie, Impuls und Spannungen der Raum-Zeit-Welt die Metrik aufpräge. Diese Anschauung ist eine der suggestivsten Formen des Machschen Prinzips. Als eine seiner Konsequenzen gibt es nur relative Bewegung, „Bewegung in bezug auf etwas Äußeres". Jedoch ist das Machsche Prinzip anerkanntermaßen keine Konsequenz der Einsteinschen Gleichungen und somit zu verwerfen. Einmal bestimmt der Energie-Impuls-Tensor die Metrik (1) keineswegs vollständig. Zum anderen aber ist dieser Tensor selbst bereits Ausdruck der Wechselwirkung des metrischen mit den anderen Feldern: Um ihn überhaupt bilden zu können, benötigt man bereits die Kenntnis der metrischen Struktur! * Die meisten Autoren gestehen diesem Feld sogar in Abwesenheit anderer Felder, Partikel usw. Energie zu!

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b) B e s c h l e u n i g u n g e n Es gibt ein objektives Kriterium, ob eine Bewegung beschleunigt ist oder nicht sowohl in der Speziellen als auch in der Allgemeinen Relativitätstheorie. Wir sprechen es aus Gründen der Deutlichkeit nur für Partikel aus : Die Bewegung eines genügend kleinen Körpers ist genau dann beschleunigt, wenn seine Weltlinie keine Kürzeste der Metrik (1) ist. Im anderen Fall spricht man von unbeschleunigter Bewegung. (Der Sachverhalt wird wesentlich komplizierter, wenn die Ausdehnung des Körpers nicht vernachlässigt werden kann.) Dem Abweichen von den Kürzesten der Raum-Zeit-Geometrie entspricht das Auftreten „äußerer Kräfte", Der Begriff der Beschleunigung ist deshalb nicht nur relativ zu anderen Objekten, sondern auch absolut zu fassen. Die Bewegung ist nicht nur relative Bewegung ! Vom Standpunkt der Speziellen Relativitätstheorie ist die Bahn eines Teilchens bei vorhandenem Gravitationsfeld beschleunigt, vom Standpunkt der Allgemeinen jedoch nicht: Die Gravitation ist von der Metrik „absorbiert" worden. c) R e l a t i v i t ä t s p r i n z i p Das Spezielle Relativitätsprinzip ist eine Folge der maximalen Symmetrie von Raum und Zeit in der Speziellen Relativitätstheorie. Diese Symmetrie gestattet überhaupt erst, den Begriff der gleichförmig-geradlinigen Bewegung ausgedehnter Körper zu definieren. Beobachter, die einer solchen Bewegung unterliegen, „befinden sich in einem Inertialsystem". Aus der maximalen Symmetrie folgt die völlige Gleichberechtigung der Inertialsysteme ohne weiteres. In der Allgemeinen Relativitätstheorie gilt das Spezielle Relativitätsprinzip nicht ! (Poincaré, Fock, Cartan). In ihr gibt es im allgemeinen keine zwei Scharen von Beobachtern, die im selben totalen Sinne wie in der Speziellen Relativitätstheorie gleichberechtigt sind. Die Beobachter sind in der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht mehr und nicht weniger gleichberechtigt als irgendwelche, nicht notwendig unbeschleunigte Beobachter in der Speziellen Relativitätstheorie. Das Allgem^ne Relativitätsprinzip kann also keine Verallgemeinerung des Speziellen sein. Was aber ist es dann ? Die Antwort von Fock lautet einfach : Es gibt kein solches Prinzip, wir benötigen 249

es auch gar nicht — oder aber, das ist die andere Möglichkeit — es ist trivial. Zum Beispiel kann man sagen, das Allgemeine Relativitätsprinzip fordere, daß die physikalischen Felder u. ä. durch geometrische Objekte (Tensoren, Spinoren usw.) beschrieben werden. Gegen eine solche Forderung ist nichts einzuwenden, es sei denn, man fragt, was sie mit irgendwelcher Allgemeiner Relativität zu tun habe. Betrachtet man also das Allgemeine Relativitätsprinzip — um es zu retten — in diesem trivialen Sinne, dann sind z. B. Aussagen wie die folgende richtig: „Das Allgemeine Relativitätsprinzip gilt auch in der Speziellen Relativitätstheorie." Ein solches Prinzip kann selbstverständlich kein Merkmal der Unterscheidung zwischen der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie sein. Es ist ebenfalls allgemein anerkannt, daß ein ziemlich inhaltsleeres Prinzip herauskommt, wenn man die Allgemeine Relativität mit der Forderung nach „allgemeiner Kovarianz" identifiziert. d) B e s c h l e u n i g t e B e o b a c h t e r Gefragt wurde, wie beschleunigte Beobachter nach der Speziellen Relativitätstheorie die Lichtausbreitung sehen. Die Antwort lautet: Sind die Weltlinien einer Schar von Beobachtern die orthogonalen Trajektorien raumartiger Hyperflächen, so stellen diese Hyperflächen diejenigen Räume dar, die die Beobachter im Verlaufe ihrer Bewegung als „ihre" Räume verifizieren. Als Flächen der Lichtausbreitung beobachten sie folglich die Schnitte dieser Hyperflächen mit dem Lichtkegel. In der Speziellen Relativitätstheorie ist es möglich, Scharen beschleunigter Beobachter einzuführen, in der Allgemeinen Relativitätstheorie ist es notwendig, da unbeschleunigte in den seltensten Fällen existieren. e) K o o r d i n a t e n s y s t e m e Koordinatensysteme sind Mittel zur Parametrisierung der Mannigfaltigkeit der Raum-Zeit-Punkte. Sie sind Namen, die den einzelnen Weltpunkten gegeben werden und nichts weiter. Sie haben deshalb meist keine besondere physikalische Bedeutung. Die Koordinatendifferenzen geben fast nie räumliche Abstände oder richtige Zeiten 250

(Eigenzeiten) an. Eine Beobachtung aber hängt — wenn überhaupt von der Zeit — von der Eigenzeit der Beobachtungsmittel ab und nicht von irgendwelcher willkürlicher Zeit, etwa von einer Uhr, die im Labor hängt und falsch geht (d. h. nicht ihre Eigenzeit anzeigt). Nur wenn die Raum-Zeit-Welt besondere Symmetrien besitzt, existieren ausgezeichnete Koordinatensysteme, deren Koordinatendifferenzen geometrische Bedeutung besitzen und deren Parameterlinien geometrisch ausgezeichnet sind. Diese „Ausnahmeregelung" finden wir in höchster Vollendung gerade in den Lorentzschen Koordinatensystemen der Speziellen Relativitätstheorie. Zusammenfassend können wir feststellen, daß durch den Alexandrowschen Aspekt bei der Betrachtung der Relativitätstheorie eine Vielzahl bedeutender physikalischer und philosophischer Probleme in einem neuen Lichte erscheinen. Liest man z. B. Einsteins Autobiographie unter diesem Gesichtspunkt, so erscheint die Frage sinnvoll und interessant, ob der Einfluß von Mach auf den jungen Einstein tatsächlich so positiv gewesen ist wie gemeinhin angenommen wird. Für interessante Diskussionen danke ich Herrn Dr. E. Schmutzer herzlich. Literaturauswahl A. D. Alexandrow 1. The space-timeof thetheory of relativity. In: 50 Jahre Relativitätstheorie, Basel 1956 2. Philosophischer Gehalt und philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie. Moskau 1958, Referat auf der Allunionskonf. d. Akad. Wiss. d. UdSSR. Übersetzt und als Manuskript gedruckt vom Staatssekr. f. d. Hoch- und Fachschulwesen der DDR. E. Cartan, J. Math, pures et appliquées 1 (1922) 141 A. Einstein, Autobiographisches. In: Philosophen des 20. Jahrhunderts: Albert Einstein, Stuttgart 1951 V. A.Fock 1. Czech. J. of Phys. 7 (1957), 255 2. Rev. Mod. Phys. 29 (1957), 325

DER

WELLEN-KORPUSKEL-DUALISMUS ALS B E W E G U N G S P R O B L E M Bodo

Wenzlaff

(Berlin)

Die Entwicklung der modernen Quantenmechanik warf eine Reihe neuartiger philosophischer Fragen auf. Man erkannte die Begrenztheit und Unanwendbarkeit der Vorstellungsweisen der klassischen Physik. Die sogenannte „Kopenhagener Schule" schlußfolgerte aus dem Wellen-Korpuskel-Dualismus, daß die materialistische Denkweise überhaupt in der Mikrophysik versage, wobei sie allerdings den Materialismus mit dem mechanischen Materialismus identifizierte. Es entstand die Komplementaritätstheorie, die bestimmte Elemente der alten Denkweise (insbesondere die Korpuskel- und Wellenvorstellung) in ein Ausschließungsverhältnis setzte und im Widerspruch zu der im quantenmechanischen Pormalismus zum Ausdruck kommenden untrennbaren Einheit von Wellen- und Korpuskelaspekten lehrte, daß nur im Zusammenhang mit Meßanordnungen von Wellen oder Korpuskeln gesprochen werden dürfe. Außerhalb des Meßprozesses sollte die Redeweise von einer wie auch immer gearteten objektiv-realen Existenz der Mikroobjekte sinnlos sein. Um dem Vorwurf zu entgehen, daß diese Auffassung zum extremen subjektiven Idealismus führe, wurde die sogenannte prinzipielle Unanschaulichkeit mikrophysikalischer Prozesse in den Grundbestand der philosophischen Argumentation aufgenommen. Abgesehen von den vielfältigen, rein philosophischen Einwänden gegen die Komplementaritätstheorie setzte sich in der sowjetischen Physik der Gedanke durch, daß man bei der Klärung der Probleme nicht von einer Übertreibung der Rolle des Experiments und der Meßgeräte ausgehen dürfe, sondern die qualitativ neue Bewegungsform der Mikroobjekte analysieren müsse. Alexandrow, Blochinzew, Fock, 253

Omeljanowski und andere wiesen darauf hin, daß im Mikrobereich Vorstellungen von „Bewegungen längs einer Bahn", wie sie für die klassische Physik charakteristisch waren, grundsätzlich versagen. Während also in den bisherigen Versuchen einer Deutung des Wellen-Korpuskel-Dualismus die Problematik als eine reine Existenzfrage von Mikroobjekten mit gegensätzlichen Eigenschaften erschien, wurde jetzt die Aufmerksamkeit auf die Bewegung gelenkt, ohne allerdings hinreichend konkret den Charakter dieser Bewegung deutlich machen zu können. Es erscheint in der Tat recht vielversprechend, von hier aus neue Einsichten in das Wesen des Korpuskel-Wellen-Dualismus zu gewinnen. Dem dialektischen Materialismus liegt ja bekanntlich die vielfach bestätigte Erkenntnis zugrunde, daß die Bewegung nicht nur äußerlich als bloßes Bewegtsein zur Materie hinzukomme, sondern ihre Daseinsweise ist. In den Vorstellungen allerdings, die wir uns gewöhnlich vom Wesen physikalischer Prozesse machen, findet diese Erkenntnis jedoch nur ungenügend ihren Niederschlag. Wir sind geneigt, uns mehr oder weniger deutlich zunächst einmal eine Korpuskel vorzustellen, die wir dann im Raum sich auf diese oder jene Weise bewegen lassen. Unbemerkt kommt diese Denkweise einer Trennung von Objekt und Bewegung gleich. Als Moment des Abstraktionsprozesses ist eine solche Trennung sogar unvermeidlich, aber auf welche Weise fügen wir die Einzelteile wieder zu einem untrennbaren Ganzen zusammen, heben wir die Trennung wieder auf? Die Berechtigung zu dieser Fragestellung kann nicht bestritten werden, wenn man von der dialektischen Struktur der Wirklichkeit und der Fruchtbarkeit der dialektischen Denkmethode überzeugt ist. Die unvoreingenommene Prüfung unserer Bewegungsvorstellungen zeigt, daß ihnen eine Idealisierung zugrunde liegt, die im Bereich der klassischen Physik ihre Berechtigung hat, weil sie an ihr ja erst mit aller Schärfe herausgearbeitet wurde, die aber darüber hinaus in ihrer Gültigkeit mit Recht angezweifelt werden muß: Diese Idealisierung ist der in sich starre Raum, in den wir in Gedanken unsere Korpuskel hineinsetzen, um sich darin entsprechend den Krafteinwirkungen zu bewegen. Darum sprechen wir dann von dem Ort, an dem sich die 254

Korpuskel befinden soll, gemessen auf der Grundlage eines bestimmten Koordinatensystems. Es ist verständlich, daß das geistige Abbild der Bewegung immer eines nichtbewegten Kontrahenden bedarf, um als Bewegung überhaupt begreiflich zu sein. Darin kommt die generell gültige dialektische Widersprüchlichkeit des Denkens an einem Spezialfall zum Ausdruck. Kompliziert wird die Sachlage nur dadurch, daß wir unter der Hand den nichtbewegten Kontrahenden leicht verabsolutieren, ihn generell als das Nichtbewegte allen Bewegungserklärungen zugrunde legen und damit mit einer nach einer Seite hin fertigen Vorstellung an alle Erscheinungen herantreten. Wir erkaufen gewissermaßen die Erkenntnis, daß alles bewegt ist, mit dem Eingeständnis, daß es aber doch etwas gibt, das in sich unbewegt ist, und an dem erst die Allseitigkeit der Bewegung deutlich wird. Im Grunde genommen haben wir damit unsere Erkenntnis der Allseitigkeit der Bewegung ad absurdum geführt. Nehmen wir demgegenüber einmal an, daß das reale Kontinuum nicht nur in bestimmter Weise strukturiert und von Feldern überdeckt, sondern in sich selbst bewegt ist, und zwar derart, daß zwischen der Bewegung einer Korpuskel und der Bewegung des realen Kontinuums gesetzmäßige wechselseitige Zusammenhänge bestehen, dann ergibt sich zwangsläufig eine Doppelfrage: 1. Wie und woran ist die Bewegung der Korpuskel erfaßbar? 2. Wie und woran ist die Bewegung des Kontinuums erfaßbar? Darüber hinaus müßte sich zeigen, daß in der Bewegung der Korpuskel irgendwie auch schon die Bewegung des Kontinuums mitenthalten sein muß und umgekehrt. In der Natur bestimmt sich beides aneinander. Auf diese Weise kann es im Denken aber nicht direkt erfaßt werden. Der Erkenntnisprozeß dieser dialektischen Wechselwirkung bedarf eines Mittelgliedes, eines ruhenden Poles, an dem der Fortgang unserer Einsichten sichtbar in Erscheinung treten kann. So kann etwa das in sich bewegte Kontinuum nicht im gleichen Kontinuum abgebildet werden, weil dann ja gerade die Besonderheiten dieser Bewegung verloren gingen, ebenso wie ja die Bewegung der Korpuskel nicht in sich selbst, sondern als Ortsveränderung erfaßt wird. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Konstruktion eines in sich starren mathematischphysikalischen Beschreibungsraumes, in dem nun wiederum Ver255

änderungen des realen Kontinuums, etwa als sich ausbreitende Wellen, faßbar werden. Es ist dann auch nicht weiter beunruhigend, daß diese abstrakten Beschreibungsräume vieldimensional' sind, weil darin eben nur die vielfältigen Komponenten der realen Kontinuumsbewegung ihren Niederschlag finden. Als etwa von Heisenberg die scheinbar logisch zwingende Alternativfrage aufgeworfen wurde, daß die Welle entweder als ein realer Aspekt des Mikrogeschehens sich im realen Raum ausbreiten müsse oder aber bloße mathematische Kontraktion sei, um durch den Hinweis auf die Konfigurationsräume, in denen allein sich Wellen ausbreiten, die materialistischen Deutungsversuche zu widerlegen, wurde der oben skizzierte Sachverhalt übersehen. Tatsächlich breiten sich die dem Mikroobjekt zugeordneten Wellen nicht im realen Kontinuum aus und können es nicht, weil hierbei stillschweigend das Kontinuum als in sich unbewegt angenommen werden müßte. Die Wellenvorstellung ist vielmehr ein spezifisches Abbild, das in der realen Kontinuumsbewegung seine objektive Entsprechung hat. Man darf das reale Kontinuum nicht mit den Vorstellungen verwechseln, die wir uns in Form eines starren Raumes von ihm gemacht haben! Damit erweist sich die Alternative als eine Scheinfrage. Auf dieser Grundlage erweisen sich auch die Heisenbergschen Unbestimmtheitsbeziehungen keineswegs als tragfähige Grundlage für Spekulationen über eine angebliche Akausalität im Mikrobereich. Die wirkliche Problematik sieht doch etwa folgendermaßen aus: Wir projizieren die objektiven dialektischen Wechselbßziehungen von Korpuskel und Kontinuum in einen in sich starren Beschreibungsraum, der darüber hinaus im allgemeinen nicht einmal beide Bewegungen gleichzeitig zu erfassen gestattet und doch irgendwie der nichterfaßten Seite der Bewegung Rechnung tragen muß. Hierbei entsteht überhaupt erst die Vorstellung vom „Ort" des Teilchens. Der Ortsbegriff, so, wie er gewöhnlich diskutiert wird, bezieht sich zunächst nur auf den starren mathematisch-physikalischen Beschreibungsraum, nicht aber auf das reale Kontinuum. Die „Ortsschärfe", die zur Vorstellungsweise dieses Beschreibungsraumes gehört, würde doch im Grunde bedeuten, daß die Korpuskel in dieser Weise adäquat abgebildet werden könnte, woraus folgt, daß der Beschreibungsraum mit dem realen Kontinuum identifiziert werden dürfte. In der klas256

sischen Mechanik erschien diese Annahme ja als völlig berechtigt, weshalb man sich philosophisch keine weiteren Gedanken darüber machte. Für den Mikroprozeß wird hieran aber deutlich, daß ein als starr angenommenes reales Kontinuum gerade von der Bewegung abstrahiert. Bei der Forderung nach Ortsschärfe verzichtet man gewissermaßen zwangsläufig auf jegliche Angaben über die Bewegung, speziell: über den Impuls. Die Heisenbergschen Unbestimmtheitsbeziehungen sagen also wohl etwas über die zwangsläufige Unscharfe unseres Abbildungsraumes gegenüber dem realen Kontinuum aus, über die Grenzen, innerhalb derer beide ungefähr miteinander identifiziert werden können, nicht aber über eine tatsächliche Ortsunschärfe. Der Sachverhalt wurde bisher leider immer auf den Kopf gestellt, so daß das Abbild „scharf" und die Wirklichkeit „unscharf" sein sollte. Auf der Basis der grob umrissenen Grundgedanken ließe sich eine Reihe weiterer Zusammenhänge aufführen, die im Rahmen der Quantenmechanik von großem philosophischen Interesse sind, aber hier ging es ja zunächst nur um die Orientierung, bei der sich der dialektische Materialismus als eine fruchtbare weltanschauliche Grundlage für die Analyse der Forschungsergebnisse der modernen Quantenmechanik erweist. Der Wellen-Korpuskel-Dualismus — obwohl gegenwärtig durch das philosophische Interesse an den Elementarteilchen etwas in den Hintergrund gedrängt — enthält nach wie vor interessante philosophische Aspekte, deren sorgfältige Analyse recht lohnend erscheint, weil hier an einem speziellen naturwissenschaftlichen Problem die tiefe Dialektik der Bewegung herausgearbeitet werden kann.

WIDERSPRUCH UND AUFHEBUNG IN DER ENTWICKLUNG DER P H Y S I K Martin

Strauss

(Berlin)

Nach bürgerlicher Geschichtsschreibung hat es den Anschein, als ob die Entwicklung der Physik vor allem durch die genialen Einfälle einzelner großer Physiker bestimmt sei; dieser Eindruck wird durch verschiedene „wissenschaftliche Selbstbiographien" noch verstärkt. Demgegenüber wird hier der Standpunkt vertreten, daß auch die Entwicklung der Physik objektiven Gesetzen unterliegt und somit im Prinzip bis zu einem gewissen Grade voraussehbar ist, natürlich nicht in den Einzelheiten, aber der Entwicklungstendenz nach. Die Kenntnis der Entwicklungstendenzen oder Entwicklungsgesetze erleichtert nicht nur die Orientierung in den aktuellen Streitfragen der Physik, sondern kann auch ein wichtiges Hilfsmittel in der Planung der Forschung werden. Das Studium der Geschichte der Physik zeigt, daß die allgemeinen Entwicklungsgesetze auch für die Entwicklung der Physik gelten. Das grundlegende Entwicklungsgesetz ist das der Entfaltung und Überwindung der Widersprüche. In der Physik treten folgende Arten von Widersprüchen auf: 1. Widersprüche zwischen Theorie und beobachteten Tatsachen („äußere Widersprüche"); 2a. Widersprüche zwischen verschiedenen Teilen der jeweils akzeptierten Theorie oder, wie wir gewöhnlich sagen: zwischen verschiedenen gleichzeitig akzeptierten Theorien (z. B. zwischen Thermodynamik und Maxwellscher Elektrodynamik: „Ultraviolett-Katastrophe" beim Problem der spektralen Energieverteilung der Wärmestrahlung); 17»

259

2 b. Widersprüche, die sich bei der Anwendung einer Theorie auf bestimmte Probleme ergeben (z. B. „kosmologisch.es Paradoxon" der Newtonschen Theorie, Gibbssch.es Paradoxon der klassischen statistischen Thermodynamik, „explodierendes Elektron", Kleinsches Paradoxon in der ersten Fassung der Diracschen Theorie des Elektrons, Divergenzen der Quantenfeldtheorie). Die Widersprüche von der Art 2 a und 2 b können zusammen als „innere Widersprüche" bezeichnet werden. Während die Bedeutung der „äußeren Widersprüche" für die Entwicklung der Theorie allgemein anerkannt ist, gelten die „innern Widersprüche" oft als Schönheitsfehler, die man durch geringfügige Abänderungen der Theorie beseitigen müsse. Die Geschichte lehrt jedoch, daß die meisten dieser inneren Widersprüche erst durch eine völlig neuartige Theorie überwunden werden; sie sind daher als Entwicklungskeime, als Fingerzeige für die weitere Entwicklung der theoretischen Grundlagen zu betrachten. Etwas Ähnliches gilt übrigens auch für die äußeren Widersprüche. Bevor die neue Theorie gefunden ist, kommt es gewöhnlich zu Zwischenlösungen mit Hilfe von ad-hoc-Hypothesen. Typische Beispiele sind die Lorentzsche Kontraktionshypothese, die BohrSommerfeldschen Quantenbedingungen, und die Renormierung in der Quantentheorie der Felder. Derartige Methoden, mit den (inneren oder äußeren) Widersprüchen schon im Rahmen der alten Theorie fertig zu werden bzw. sie „unschädlich" zu machen, können als •partielle Antizipation der neuen Theorie bewertet werden. Auch die Einführung der sog. Bose-Einstein- bzw. der Fermi-Dirac-Statistik in die Quantenmechanik ist eine partielle Antizipation einer tiefer liegenden Theorie, nämlich der Quantentheorie der Felder. Die neue Theorie, die als Lösung der alten Widersprüche entsteht, stellt stets eine Verallgemeinerung oder besser: Aufhebung der alten Theorie dar. Die alte Theorie wird dabei prinzipiell außer Kraft gesetzt und durch die neue ersetzt. Zugleich werden jedoch einige wesentliche Züge der alten Theorie in die neue übernommen. Der Ausdruck „Verallgemeinerung" bezieht sich auf den mathematischen Apparat und das Axiomensystem der neuen Theorie im Vergleich zur alten; er drückt auch aus, daß der Gültigkeitsbereich der neuen Theorie größer ist als der der alten. Er bringt jedoch ungenügend zum Ausdruck, daß 260

vom Standpunkt der neuen Theorie die alte Theorie begrifflich entartet ist, d. h. daß in ihr verschiedene Begriffe dem Umfang nach zusammenfallen (z. B. „System- oder Koordinatenzeit" und „Eigenzeit", oder „Wellenfunktion" und „Zustandsfunktion", die in der Quantenmechanik zusammenfallen, nicht aber in der Quantentheorie der Felder). Die neue Theorie ist gerade auch insofern eine Aufhebung der alten Theorie als sie begriffliche Entartungen a u f h e b t (beseitigt). Das allgemeine Entwicklungsgesetz — Entfaltung und Überwindung der Widersprüche — fällt in der Geschichte der Physik weitgehend mit der Tendenz zur Vereinheitlichung der Grundlagen zusammen. So h a t z. B. die Spezielle Relativitätstheorie den Widerspruch zwischen Mechanik und Elektrodynamik beseitigt und darüber hinaus ein gemeinsames kinematisches Fundament f ü r alle Teile der Physik geschaffen, während die Quantentheorie u. a. die Widersprüche zwischen Thermodynamik und der übrigen Physik, insb. der Elektrodynamik („Ultraviolettkatastrophe") beseitigt hat. Tatsächlich entstand die Quantentheorie aus dem Bemühen Plancks, die Thermodynamik mit der Theorie des elektromagnetischen Feldes zu vereinen. 1 Das subjektive Streben der Forscher nach einem einheitlichen physikalischen Weltbild ist somit auch objektiv gerechtfertigt; es erweist sich jedoch nur in dem Maße als wirklich progressiv und erfolgreich wie es mit der objektiven Tendenz d. h. mit der jeweiligen geschichtlichen Notwendigkeit und Möglichkeit, übereinstimmt. Gelegentlich schießt jedoch das subjektive Streben nach Vereinheitlichung der Grundlagen über das zur gegebenen Zeit Mögliche hinaus; es entstehen d a n n gewöhnlich spekulative Fehlgeburten wie etwa die Phlogiston-Theorie, die mechanische Theorie des „Lichtäthers" oder die verschiedenen „einheitlichen Feldtheorien". Mitunter schlägt dabei das berechtigte Streben nach Vereinheitlichung in den metaphysischen Versuch u m , die „Weltformel" — m a n k a n n auch sagen: die Formel, nach der Gott die Welt geschaffen h a t — zu erraten. Derartige Tendenzen, die f ü r den objektiven Idealismus charakteristisch sind, finden sich bekanntlich z. B. bei Eddington und in dem Spätwerk Einsteins; sie sind auch der eigentliche Grund f ü r Einsteins ablehnende Haltung gegenüber der Quantenmechanik gewesen. 1

Für eine ausführliche Darstellung vgl.: Planck und die Entstehung der Quantentheorie, Jubiläumsfestschrift der Humboldt-Universität, 1960.

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Den meisten der heute lebenden Physikern erseheint die Naturerkenntnis als ein Prozeß, dessen Ende nicht abzusehen ist und in dem Perioden der revolutionären Umgestaltung mit solchen der Konsolidierung der neuen Theorie abwechseln. Die Triebkräfte für die Umgestaltung sind gewöhnlich die äußeren Widersprüche — eine Ausnahme bildet hier die Einsteinsche G-ravitationstheorie. Für das Auffinden der neuen Theorie- gewinnen jedoch die inneren Widersprüche in dem Maße an heuristischer Bedeutung, in dem die begrifflichen Grundlagen der Theorie sich immer mehr von denen der „Physik des Alltags" entfernen. Damit wächst nämlich nicht nur die Bedeutung der wissenschaftlichen Abstraktion im Vergleich zur Induktion (was allgemein anerkannt ist), sondern auch die heuristische Bedeutung der schon bestehenden Theorie im Vergleich zu der der neuentdeckten Tatsachen. Anders ausgedrückt: der Theoretiker hat heute bei der Aufstellung einer neuen Theorie von vornherein zwei Komplexe zu berücksichtigen: die neuen experimentellen Tatsachen und die schon bestehende Theorie mit ihren inneren Widersprüchen, und seine Aufgabe besteht darin, eine solche Verallgemeinerung oder „Aufhebung" der bestehenden Theorie zu finden, welche den neuen experimentellen Tatsachen Rechnung trägt. Da nun die neuen experimentellen Tatsachen die Richtung der Verallgemeinerung gewöhnlich nicht eindeutig erkennen lassen, und andererseits die inneren Widersprüche selbst ein Ausdruck des provisorischen Charakters der jeweils erreichten Erkenntnisstufe sind, fällt die Aufgabe der Überwindung der inneren Widersprüche gewöhnlich weitgehend mit der der theoretischen Verarbeitung des neuen experimentellen Materials zusammen. Tatsächlich war dies schon bei der Quantentheorie und der Speziellen Relativitätstheorie so, nur erkannte man damals erst nachträglich, daß es sich in beiden Fällen um die Beseitigung innerer Widersprüche gehandelt hat. Heute steht vor den Theoretikern die Aufgabe, die bestehende Quantentheorie der Felder durch eine Theorie der Elementarteilchen aufzuheben. Das Besondere der Situation scheint mir im folgenden zu liegen. Einmal fehlen die äußeren Widersprüche fast vollständig, während die inneren Widersprüche einigermaßen gut bekannt und erforscht sind. Zum anderen erwartet man von der neuen Theorie die Lösung von drei recht unterschiedlichen Problemen: 262

1. Systematik der Elementarteilchen, d. h., die neue Theorie soll uns ein Klassifikationsschema, vergleichbar dem Periodischen System der Elemente, liefern, das alle bekannten Elementarteilchen enthält und zugleich aussagt, ob es noch andere gibt und, wenn so, welche Eigenschaften sie haben; 2. Kopplungskonstanten, d. h. die neue Theorie soll die numerischen Werte der für die Wechselwirkung der verschiedenen Felder (und damit auch für die Lebensdauer der zugehörigen Teilchen) maßgebenden Kopplungskonstanten, die von der bisherigen Theorie prinzipiell nicht geliefert werden, zwangsläufig ergeben; 3. Massenspektrum, d. h. die neue Theorie soll die experimentell festgestellten Verhältniszahlen der Massen der verschiedenen Elementarteilchen liefern. Es ist vollständig klar, daß von diesen drei Problemen allenfalls das erste in direkter Weise, d. h. durch Induktion und wissenschaftliche Abstraktion aus dem vorliegenden Erfahrungsmaterial und ohne wesentliche Zuhilfenahme der bestehenden Theorie und ihrer Widersprüche, gelöst werden kann. Aber ebenso wie das Periodische System der Elemente nach einer theoretischen Begründung verlangte, die erst durch die Quantenmechanik geliefert wurde, würde auch eine solche induktiv gewonnene Systematik der Elementarteilchen für die Entwicklung der Theorie noch recht wenig bedeuten. Die neuen theoretischen Ansätze zielen denn auch ganz bewußt auf eine Verallgemeinerung der bisherigen Theorie ab. Ihre Diskussion von dem hier eingenommenen Standpunkt aus würde allerdings den Rahmen dieses Beitrages weit überschreiten. Ich möchte jedoch nicht meine Überzeugung verschweigen, daß eine nicht-lokale Verallgemeinerung des bisherigen Feldbegriffes mehr in der allgemeinen Entwicklungsrichtung der Physik liegen dürfte als eine nicht-lineare Verallgemeinerung der Feldgleichungen. Vermutlich wird weder die eine noch die andere Verallgemeinerung alle genannten Probleme lösen, aber dies ist auch nicht zu erwarten, da diese Probleme sehr unterschiedlicher Natur sind und vielleicht nur in einer Folge von mehreren Verallgemeinerungen gelöst werden können. Insbesondere scheinen die neuen Erhaltungssätze der Elementarteilchenphysik, die für die Systematik der Elementarteilchen von grundlegender Bedeutung 263

sind, in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem vermutlich sehr viel tiefer liegendem Problem des Massenspektrums zu stehen. Wie immer die Lösung dieser Probleme im einzelnen aussehen mag, es besteht kein Zweifel, daß sie vom mechanischen Materialismus noch weiter entfernt sein wird als die gegenwärtige Theorie und daß sie eine erneute Bestätigung und Weiterentwicklung des dialektischen Materialismus mit sich bringen wird.

DIE BESONDEREN GESETZMÄSSIGKEITEN DER BEWEGUNGSFORM „LEBEN" Jakob Segal

(Berlin)

Die physiko-chemische Analyse der Lebenserscheinungen ist eine Forderung der marxistischen Philosophie. Versuchen wir eine Erscheinung zu erklären, so bedeutet das nichts anderes, als daß wir uns bemühen, diese Erscheinung auf Elemente der nächst niedrigeren Bewegungsqualität zurückzuführen, den Mechanismus des qualitativen Sprungs aufzudecken, durch welchen die höhere Qualität aus der niederen entsteht und aufzuzeigen, wie die Gesetzmäßigkeiten der höheren Bewegungsform aus der neuartigen Wechselwirkung von Funktion der niederen Bewegungsform entstehen. Dieses selbstverständliche Recht eines Wissenschaftlers in seinen Gedanken Qualitätssprünge jeder Größenordnung zu überbrücken und ihr Zustandekommen einer deterministischen Analyse zu unterwerfen, wird merkwürdigerweise gerade von marxistischer Seite im Falle des Problems Leben in Zweifel gesetzt. Psychologisch läßt sich diese Haltung durchaus verstehen. Um die Jahrhundertwende gab es zahlreiche Versuche, die Lebensfunktionen auf einfache physikalische oder physikochemische Erscheinungen zurückzuführen und das gesamte Leben als die Summe derartiger relativ einfacher Prozesse aufzufassen. Diese mechanistischen Versuche mußten zwangsläufig erfolglos bleiben, da Erscheinungen einer höheren Bewegungsform naturgemäß etwas qualitativ anderes darstellen als lediglich die Summe der Erscheinungen niederer Bewegungsformen, die beim Zustandekommen der höheren zusammenwirken. Mit Recht weisen marxistische Biologen darauf hin, daß in der biologischen Bewegungsform neuartige Funktionen und Gesetzmäßigkeiten wie Selektion, Vererbung, Erregbarkeit usw. auftreten, die in der unbelebten 267

Natur nicht angetroffen werden. Aber das Versagen der mechanistischen Deutungsversuche und der Aufschwung vitalistischer Ideen, der daraus resultierte, hatte zur Folge, daß jeder Versuch, die Analyse einer biologischen Funktion bis zu den elementaren physikochemischen Erscheinungen weiterzutreiben, als mechanistisch angesehen und daher von vornherein mit Mißtrauen aufgenommen wird. Damit wird aber dem Erkenntnisprozeß eine willkürliche Grenze gesetzt. Eine jede wissenschaftliche Erkenntnis beginnt mit der Feststellung von Tatsachen. Als zweite Stufe kommt die Ableitung von Gesetzmäßigkeiten, denen diese Tatsachen unterliegen. Diese beiden Erkenntnisprozesse befassen sich mit Erscheinungen einer einzigen Bewegungsform und erfordern daher keinen großen dialektischen Aufwand. Als dritte Stufe folgt die Erklärung der Erscheinungen von Gesetzmäßigkeiten, d. h. ihre Rückführung auf Gesetzmäßigkeiten und Erscheinungen der nächst niedrigen Bewegungsform. Bei dieser Analyse eines qualitativen Sprungs ist eine fundierte Kenntnis der dialektischen Dynamik eine unumgängliche Voraussetzung des Gelingens. Der mechanische Materialismus versagte hier, weil seine in der Hauptsache auf formaler Logik aufgebaute Denkmethode dem Problem des qualitativen Umschlags nicht gewachsen war. Demgegenüber bedeutet es zwar einen weiteren Schritt vorwärts, wenn man die Existenz neuer, höherer Gesetzmäßigkeiten postuliert, sie formuliert und als Folgeerscheinung eines qualitativen Sprungs erkennt, aber der eigentliche Schritt der Erkenntnis wird erst vollzogen, wenn wir den Determinismus dieses Sprunges im einzelnen geklärt haben. Verzichten wir darauf, so verschließen wir uns auch die Möglichkeit, den vierten und gesellschaftlich bedeutsamsten Schritt der Erkenntnis zu tun, den Schritt, der uns vom Verstehen der Naturprozesse zum schöpferischen Eingreifen in ihren Ablauf führt. Beschränkt man die Anwendung der dialektischen Methode auf das bloße Erkennen qualitativer Umschläge und die Feststellung neuer, jüngerer Gesetzmäßigkeiten, verwechselt man die dialektische Analyse eines Qualitätssprungs mit der mechanistischen Vernachlässigung jeder qualitativen Entwicklung, dann verschließt man sich den Weg vom Erkennen zum Verstehen und verzichtet auf eine bewußte Steuerung der Naturereignisse.

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Zyklische und azyklische Bewegung der Materie Bevor wir daran gehen, die Qualität „Leben" zu analysieren, müssen wir diesen Begriff zunächst eindeutig umreißen. Die üblichen Merkmale des Lebens, wie Fähigkeit zur Bewegung, zum Stoffwechsel, zur Erregbarkeit, zur Vermehrung, zur Individualität usw. sind f ü r diesen Zweck wenig geeignet, da sie das Wesen des Lebensprozesses selbst nicht berühren. Der wesentliche Unterschied zwischen belebten und unbelebten Systemen liegt in der Art, in welcher sie auf die Einwirkung ihrer Umwelt reagieren. Eine Bewegung entsteht dadurch, daß zwischen einem materiellen System und anderen mit ihm in Wechselwirkung stehenden Systemen Widersprüche auftreten, wobei die entstehende Veränderung im Sinne der Verringerung dieser Widersprüche erfolgt. Während in einem logischen System ein Auftreten von Widersprüchen eine Absurdität darstellt und auf fehlerhafte Denkoperationen hindeutet, ist im dialektischen System das Auftreten von Widersprüchen ein Zeichen dafür, daß das betrachtete System sich nicht im statischen, sondern in einem dynamischen Zustand befindet. Die Auflösung des Widerspruchs — die Negation der Negation — erfolgt in unbelebten Systemen immer im Sinne des geringsten Arbeitsaufwandes, im Sinne des geringsten Widerstandes, also unter größter Entropiezunahme. Das Wasser fließt über einen H a n g im Sinne des steilsten Gradienten. Ein Fluß bahnt seinen Weg vorzugsweise durch das weichste Gestein. Dabei gibt es keine fertigen, vorausbestimmten Lösungen. Ein Stein auf dem Hang k a n n die Wasserader ablenken und sie auf einen völlig anderen Weg leiten, eine geringfügige Geländewelle läßt den Fluß eine andere Richtung nehmen. Für die Auflösung des Widerspruchs stehen unzählige Möglichkeiten offen u n d jede von ihnen k a n n realisiert werden, je nach dem Zusammenspiel der vielfältigen Faktoren, welche in den Gesamtprozeß eingreifen. Gemeinsam ist ihnen allen eines: sie führen das betrachtete System immer weiter vom Ausgangszustand fort und nur in den seltensten Fällen wird ein ihm mehr oder weniger ähnlicher Zustand wieder hergestellt, wobei dieser Weg genauso zufallsbedingt bleibt wie alle anderen. I n belebten Systemen nimmt die Negation der Negation einen prinzipiell anderen Verlauf. Eine störende Einwirkung löst zunächst 269

eine Veränderung aus, welche das System von seinem Ausgangszustand entfernt. Dadurch wird aber eine Reaktion ausgelöst, welche in der Freigabe endogener Energie das System direkt oder zumeist indirekt zum Ausgangszustand zurückbringt. Voraussetzung hierfür ist natürlich, daß die Menge freigegebener Energie größer ist als die Energie, die beim Abweichen aus dem Normalzustand passiv verausgabt wurde. Die erste passive Reaktion erfolgt zumeist quantitativ unter Entropiezunahme; die zweite aktive Reaktion muß, um den Ausgangszustand wieder herzustellen, unter Entropieabnahme erfolgen, das heißt eine Arbeit leisten. Soweit unsere Erfahrungen reichen, kann Arbeit niemals im qualitativ ablaufenden Prozeß, sondern nur auf Grund eines quantitativen Umschlags geleistet werden, so daß ein System nur vermittels eines qualitativen Umschlags, zumeist aber vermittels einer ganzen Kette von ihnen, in den Ausgangszustand zurückkehren kann, wenn es einmal auf Grund einer Entropiezunahme sich von diesem Zustand entfernt hat. Während in unbelebten Systemen die Negation der Negation sich in vielfältiger Weise auswirken kann, ist in belebten Systemen ihre Bahn genau vorgeschrieben: entweder gelingt es ihr, den Ausgangszustand wieder zu realisieren oder der Organismus hört auf, ein lebendes System zu sein, schlägt den Weg des geringsten Widerstandes in der Negation der Negation ein und verändert sich in irreversibler Weise, wie es auch bei anderen unbelebten Systemen der Fall ist. Wäre die Rückkehr zum Ausgangszustand lediglich dem Zufall überlassen, so würde das Leben einen höchst unwahrscheinlichen und nur kurze Zeit aufrechtzuerhaltenden Zustand darstellen. Nun verläuft aber der Zyklus der Rückkehr zum Ausgangszustand über eine Reihe qualitativer Umschläge und derartige Qualitätssprünge stellen zugleich auch ein korrigierendes'Element dar, das die Wirkung des Zufalls weitgehend auszuschalten vermag. Ich kann einen an einem dünnen Strick aufgehängten Eimer mit Wasser oder mit Steinen füllen, ich kann es schnell oder langsam tun, ich kann sie senkrecht oder in einem Bogen seitlich in den Eimer fallen lassen. Auf jeden Fall wird der Eimer nach Erreichung eines bestimmten Gewichts den Strick durchreißen und in senkrechter Richtung mit einer von der Art der Füllung unabhängigen Geschwindigkeit auf dem Boden aufschlagen. Ein Zyklus, der eine oder mehrere qualitative Umschläge 270

umfaßt, wird daher mit weit größerer Wahrscheinlichkeit einen bestimmten Endzustand erreichen und weit unabhängiger von zufälligen Einwirkungen sein als ein rein quantitativ verlaufender Prozeß. Der zyklische Typ der Negation der Negation, wie er im lebenden System verwirklicht ist, stellt daher nichts außergewöhnlich Unwahrscheinliches dar. Selbstverständlich ist auch jeder qualitative Umschlag an gewisse Grenzbedingungen gebunden und kann nur unter ihrer Einhaltung realisiert werden. Lebensprozesse sind daher an eine relativ enge Spanne von Umweltbedingungen geknüpft, bei derer Überschreitung der Zyklus nicht zum Ausgangszustand zurückführt und der nekrotische Typ der Negation der Negation mit seinem undeterminierten Verlauf einsetzt. Hierbei kann es jedoch auch passieren, daß die Rückkehr zwar nicht genau zum Ausgangspunkt führt, daß aber der neue realisierte Zustand die Ausbildung kompletter Zyklen durchaus zuläßt. Veränderungen, welche den vollständigen Zyklus unmöglich machen, schalten sich selbst unweigerlich aus. Veränderungen, welche einen abgeänderten Zyklus ermöglichen, bleiben erhalten und können sich sogar gegenüber dem ursprünglichen Typ durchsetzen, wenn ihre Grenzbedingungen dem Milieu besser entsprechen als die ursprünglichen, also seltener zu nekrotischen Abweichungen führen. Ein System, dessen Funktion an Grenzbedingungen gebunden ist, entwickelt somit automatisch die Fähigkeit zur Selektion, zur Ausmerzung alles Ungeeigneten, zur Auswahl und Begünstigung aller derjenigen Veränderungen, welche die komplette Durchführung des Zyklus sicherstellen. Die Selektivität, die wir als eine der Grundgesetzmäßigkeiten des Lebens kennen, erweist sich hier als eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Negation der Negation des zyklischen Typs. Das Zustandekommen geschlossener Zyklen ist, wie wir gesehen haben, an die weitgehende Ausschaltung zufälliger Einwirkungen geknüpft. Bei den gegenwärtigen Lebewesen sorgt dafür ein äußerst kompliziertes Regulationssystem, das Sinnesorgane zur Überwachung des Zustandes der Um- und der Innenwelt, ein kompliziertes Nervensystem, Organe der inneren Sekretion und schließlich die aktiven Erregungsreaktionen einer jeden einzelnen Zelle in sein Spiel ein271

bezieht. Dies alles kann, jedoch nur das Produkt einer langen Evolution darstellen, und die gleiche Funktion der Ausschaltung des Zufalls mußte im Verlaufe der Biogenese auf eine einfachere Art gesichert werden. Die Entstehung geschlossener Zyklen — Biogenese Die uns vertrauten chemischen Reaktionen liefern bekanntlich kaum jemals absolut reine Produkte. Das Ergebnis eines jeden Prozesses ist eine Substanz mit einem gewissen Anteil an Verunreinigungen, also von Produkten von Reaktionen, die sich mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit vollziehen und daher auch geringere Mengen von Endprodukten liefern, die sich aber niemals vollständig ausschalten lassen. Das Bestreben des Chemikers geht dahin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Hauptreaktion um ein vielfaches wahrscheinlicher ist als die Nebenreaktionen, um auf diese Weise einen möglichst großen Anteil am gewünschten Hauptprodukt zu erzielen. Die Beziehung zwischen den wahrscheinlichsten und den weniger wahrscheinlichen Reaktionen beruht aber auf rein statistischen Gesetzmäßigkeiten und hat daher einen rein quantitativen Charakter. Daraus ergibt es sich, daß die Reaktionen keinerlei Grenzbedingungen unterliegen und nicht, wie wir es im Falle des qualitativen Umschlages annehmen müssen, einen gewissen Grad an Selbststeuerung aufweisen. Jede Veränderung der Bedingungen bewirkt unweigerlich eine Abweichung von dem zu erreichenden Optimum. Auf dieser Grundlage ist eine so streng gesteuerte Funktion wie die Realisierung eines geschlossenen biologischen Zyklus völlig undenkbar. Die Reaktionen, mit denen sich der Chemiker befaßt, sind mehr oder weniger wahrscheinliche Reaktionen, und er sieht sein Ziel darin, ihre Wahrscheinlichkeit je nach Bedarf zu steigern oder zu verringern. Es gibt aber eine Kategorie des chemischen Verhaltens, die der Chemiker nur selten benutzt, nämlich die Kategorie der unwahrscheinlichen Reaktionen. Derartige Reaktionen verlaufen spontan derart langsam, daß sie vielfach erst nach sehr langen Zeiträumen nachweisbare Reaktionsprodukte ergeben. So muß man zum Beispiel bei der Synthese von Aminosäuren durch Strahleneinwirkung oder durch

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elektrische Energie den Versuch mehrere Wochen lang laufen lassen, um chemisch nachweisbare Mengen dieser Aminosäuren zu erhalten. Im Falle der Eiweißsynthese ist die spontane Ausbeute so gering, daß sie sich praktisch überhaupt nicht nachweisen läßt. Der Grund hierfür ist, daß diese Reaktionen an gewisse Grenzbedingungen gebunden sind, die nur selten durch unwahrscheinliche Koinzidenzen von molekularen und von Umweltfaktoren verwirklicht werden können. Es wird daher nur in größeren Abständen von Zeit zu Zeit eine Elementarreaktion erfolgen, so daß die gesamte Menge des Reaktionsproduktes unter Umständen erst nach Zeiträumen eine merkliche Größe erreicht, welche die Dauer eines möglichen Laboratoriumsversuchs bei weitem überschreitet. Bevor zum Beispiel im Urozean nennenswerte Konzentrationen von Eiweißen auftraten, mögen Millionen von Jahren vergangen sein. Da es keinen Faktor gab, der die einmal gebildeten Eiweiße zerstörte, war die Geschwindigkeit der Eiweißbildung keine ausschlaggebende Bedingung. Diese extrem unwahrscheinlichen chemischen Reaktionen zeigen in ihrem Verhalten Gesetzmäßigkeiten, die wir an wahrscheinlichen Reaktionen nicht kennen. Folgendes Bild möge dies erläutern. Ich fordere alle Bewohner Berlins auf, sich zu melden, falls sie in der Lage sind, 100 m in einer Minute zu durchlaufen. Es melden sich selbstverständlich sehr viele Personen jeden Geschlechts, fast jeden Alters bis auf Säuglinge und einige Greise, Menschen jeden Gesundheitszustandes bis auf schwer bettlägerige Kranke und Krüppel. Lasse ich sie über die Strecke von 100 m laufen, so bekomme ich eine Streuung über einen großen Zeitraum mit einem nur wenig ausgeprägten statistischen Maximum. Stelle ich dagegen als Bedingung, daß die 100 m in 11 Sekunden durchlaufen werden, so ändert sich das Bild vollständig. Es werden sich nur sehr wenige Personen melden, aber diese Personen werden alle männlichen Geschlechts sein, ihr Alter wird zwischen 18 und 35 Jahren schwanken. Sie werden alle vollkommen gesund sein, einen athletischen Körperbau besitzen und eine tadellos durchtrainierte Muskulatur aufweisen. Ihre Leistungen beim Durchlaufen der Strecke von 100 m werden nur um wenige zehntel Sekunden streuen. Durch die Härte der gewählten Bedingungen habe ich also eine nahezu vollkommene Homogenität des auf diese Weise selektiojiierten Materials verwirklicht. 18

Naturwissenschaft und Philosophie

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Die gleichen Verhältnisse finden wir auch in den chemischen Reaktionen. Versuche ich aus einem Gemisch von Aminosäuren Dipeptide zu bilden, also Gruppen von zwei Aminosäureresten, welche als eine primitive Vorstufe des Eiweißes aufgefaßt werden können, so kann ich die Reaktion in der klassischen Weise dadurch wahrscheinlich gestalten, daß ich eine Zwischenreaktion mit Halogelacyl einschalte. Ich erhalte dann eine gute Ausbeute an Dipeptiden, jedoch werden sich in diesem Gemisch verschiedene Typen von Dipeptiden in ungleicher Proportion gebildet haben. Bei einer spontanen Proteosynthese wird sich auf Grund der UnWahrscheinlichkeit der Reaktion mit weit überwiegender Mehrheit nur derjenige Typ der Bindung zweier Aminosäuren vollzogen haben, der am wenigsten unwahrscheinlich ist, und alle anderen Typen werden praktisch kaum vertreten sein. So wird sich nach und nach im Urozean nicht etwa ein wirres Gemisch verschiedenster Eiweißtypen ausgebildet haben, sondern es wird in weit überwiegender Menge ein einziger Typ des Eiweißmoleküls aber dafür in nennenswerter Konzentration entstanden sein. Der erste Akt der Selektion vollzieht sich auf der Basis der unwahrscheinlichen Reaktionen bereits vor der Entstehung der eigentlichen Lebensfunktionen. Dieses Prinzip der unwahrscheinlichen Reaktion beherrscht das gesamte chemische Verhalten der heute lebenden Organismen. Es gibt wohl kaum eine biochemische Reaktion, die sich außerhalb des Organismus spontan vollzöge. Man versuche nur ein Stück Zucker mit einem Streichholz anzustecken, um zu verstehen, daß die Verbrennung des Zuckers, auf welcher unser Energiestoffwechsel beruht, eine Reaktion ist, die spontan gar nicht abzulaufen vermag. Wenn diese Prozesse in unserem Körper ablaufen, so nur deshalb, weil sie durch spezifische biologische Katalysatoren, die Fermente, wahrscheinlich gemacht werden, wobei die außerordentliche Spezifität der Fermente dafür sorgt, daß der Reaktionsverlauf seinen streng determinierten Charakter aufrechterhält. Die primitivsten Lebewesen bezogen ihr Eiweiß wahrscheinlich fertig aus dem Urozean. Da die Eiweißbildung dort nach dem Prinzip der unwahrscheinlichen Reaktion verlief, war damit gewährleistet, daß dje Eiweiße alle eine konstante Zusammensetzung aufwiesen und damit einmal realisierte Reaktionszyklen in unveränderter Form bei 274

gleichem Ausgangsmaterial und gleichen Bedingungen wiederholt werden konnte. I m weiteren Verlauf der Entwicklung der Lebensfunktionen beschleunigte sich der gesamte Prozeß, und der lebende Organismus begann, selbst Eiweiße zu synthetisieren. Wäre diese Synthese einfach nach dem Prinzip der wahrscheinlichen Reaktion erfolgt, so würden sich viele heterogene Eiweißtypen gebildet haben und der zyklische Prozeß wäre abgebrochen. Wahrscheinlich hat sich dies im Laufe der Biogenese auch oft genug ereignet. Aber in gewissen Fällen, in denen die Eiweißsynthese als Reduplikation, als Kopie bereits vorhandener Eiweißmolekel erfolgte, war die Konstanz der Eiweiße gesichert, wenn der Reduplikationsmechanismus mit genügender Treue arbeitete. Nur Organismen mit der Fähigkeit zur korrekten Kopie ihrer eigenen Eiweißmoleküle konnten die kompletten biologischen Zyklen vollziehen, und so kommt es, daß noch heute die Reduplikation der Eiweiße mit Hilfe einer Matrize aus Nukleinsäuren den entscheidenden Faktor bei der Vererbung darstellt. Daß die Vererbung, das heißt die Fähigkeit zur konstanten Aufrechterhaltung der Ausgangssubstanz, eine unbedingte Voraussetzung für das Zustandekommen eines kompletten Zyklus und damit für das Zustandekommen von Lebensprozessen überhaupt darstellt, ist nach dem bisher Gesagten wohl selbstverständlich. Wir haben gesehen, daß zum Zustandekommen eines kompletten Zyklus zumindest ein qualitativer Umschlag mit Entropieabnahme erforderlich ist. Qualitative Umschläge beruhen aber auf Wechselwirkung zwischen räumlich differenzierten Systemen. In der unendlichen Weite des Urozeans gab es praktisch nur einen Ort, an welchem derartige Wechselwirkungen denkbar waren und das war die Oberfläche. Aber Eiweißmoleküle, die an eine Flüssigkeitsoberfläche gelangen, werden dort durch Oberflächenkräfte unwiderruflich denaturiert, das heißt auseinandergezerrt, so daß sie ihre charakteristische Konfiguration verlieren und funktionsuntüchtig werden. Die Biogenese konnte daher nicht an der Grenzfläche Luft-Wasser erfolgen: Weitere räumliche Differenzierungen bildeten sich erst, als die Konzentration von Eiweißen und Elektrolyten im Urozean so groß wurde, daß es zu einer Bildung von Koazervaten kam. Die Trennung in konzentrierte Eiweiß-Salz-Gemische einerseits und stark verdünnte wäßerige Lösungen gleicher Substanzen andererseits, mit scharf aus18*

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geprägten Grenzflächen, schuf erst die Möglichkeit der Ausbildung qualitativer Reaktionen und damit die Möglichkeit der Ausbildung vollständiger Zyklen. Die Größenordnung der Koazervattröpfchen ist so gering, daß eine Wechselwirkung auch ihrer zentralen Teile mit der Außenwelt durch einfache Diffusionskräfte möglich ist. Diese Größenordnung entspricht übrigens derjenigen der heute lebenden Zellen, bei welchen ebenfalls die Diffusionsentfernungen und -zeiten den begrenzenden Faktor darzustellen scheinen. Die notwendige Begrenzung der Ausmaße derartiger lebender Einheiten durch die räumliche Begrenzung möglicher Wechselwirkungen tritt uns heute noch in der Individualisierung lebender Systeme entgegen. Noch eine weitere Bedingung muß realisiert sein, damit vollständige Zyklen sich abspielen können. Wenn auf Grund einer ersten quantitativen Reaktion eine Veränderung mit Entropiezunahme erfolgte, so muß der darauf folgende qualitative Umschlag zumindest das gleiche Maß an Entropie wieder abbauen, das heißt, dem Organismus zumindest genausoviel in Arbeit umsetzbare Energie zur Verfügung stellen. Dies bedeutet, daß auf die erste durch einen Reiz bewirkte passive Veränderung der lebenden Struktur eine energetisch umfangreichere Reaktion in Form eines qualitativen Umschlags, also der „Erregung", folgen muß. Auch diese Bedingung wird, wie wir experimentell zeigen konnten, durch konzentrierte Eiweißbildungen realisiert. Jeder Reiz verursacht eine Denaturation der Proteine, und diese Denaturation verläuft in Form einer verzweigten Kettenreaktion und fährt daher solange fort immer größere Energiemengen freizugeben, bis mit Hilfe dieser Energie die „Reparatur" vollzogen ist, so daß immer gewährleistet ist, daß die durch den qualitativen Umschlag zur Verfügung gestellte Energie ausreicht, um den Ausgangszustand des gestörten Systems voll wiederherzustellen. Diese Reaktion, die man auch sehr leicht an Eiweißlösungen in vitro demonstrieren kann, stellt, wie die Arbeiten der Schule Nassonows in Leningrad und unseres eigenen Instituts zeigen konnten, die Grundlage aller Erregungserscheinungen in der lebenden Natur dar. Wir untersuchten nacheinander die Selektion, die Vererbung, die Individualität und die Erregbarkeit und stellten fest, daß alle diese Funktionen sich zwangsweise aus der Realisierung des zyklischen Typs der Negation der Negation ergeben und daß ihnen nichts Myste276

riöses, Unverständliches anhaftet. Zu ihrer Deutung brauchen wir lediglich physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten, um die allgemeinen Gesetze der Dialektik in Anwendung zu bringen. Auch die Entstehung der ersten zyklischen Reaktionen bietet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten und bedarf keinesfalls einer schöpferischen Intervention höherer Mächte. Die Bildung von Eiweißen und wahrscheinlich auch die von verschiedenen anderen Makromolekülen im Urozean erfolgte ganz zwangsläufig. Die Substanzen, die nach dem Prinzip der seltenen Reaktionen entstanden, hatten bereits einen Teil des Zyklus realisiert, da sie auf einem von Zufallseinwirkungen im wesentlichen unabhängigen Wege geschaffen wurden. Da sie aber im homogenen Medium keine qualitativen Umschläge vollziehen konnten, vermochten sie den Zyklus nicht zu vollenden und verhielten sich infolgedessen wie jede unbelebte Materie, für die der nichtzyklische Typ der Negation der Negation charakteristisch ist. Makromoleküle neigen aber in elektrolythaltigen Medien zur Koazervation. Als ihre Konzentration so weit angestiegen war, daß es zur Bildung von Koazervaten kommen konnte, waren auch die räumlichen Bedingungen für das Zustandekommen qualitativer Umschläge realisiert. Wir wissen nicht, welche makromolekularen Substanzen im Verlaufe der Erdentwicklung im Ozean spontan aufgetreten sein mögen, da im späteren Verlauf der Entwicklung alle frei verfügbaren organischen Substanzen von den einmal entstandenen Lebewesen als Nahrung verarbeitet worden sind. Von den uns heute bekannten Makromolekülen ist das Eiweiß das einzige, das die Fähigkeit zur Denaturation besitzt, das heißt die Fähigkeit, in reversibler Weise Energien freizugeben, ohne daß dabei die chemische Natur der Substanz nennenswert verändert wird. Die aus anderen Makromolekeln gebildeten Koazervate konnten zwar die Vorbedingungen für qualitative Umschläge realisieren, jedoch nicht die Freigabe der f ü r die Vollendung des Zyklus erforderlichen Energiemengen sicherstellen. Auch sie gingen daher den Weg der azyklischen, abiotischen Negation der Negation. Erst als Eiweiße in nennenswerten Mengen entstanden waren und Koazervate bilden konnten, bot sich die Voraussetzung zur Vollendung kompletter Zyklen, und dann trat ein Verhalten in Erscheinung, das wir heute als Leben bezeichnen. Dieses 277

Verhalten erforderte einen bestimmten Grad an Kompliziertheit des chemischen Substrats und seiner physikalischen Struktur und trat zwangsweise auf, als dieser Grad der Kompliziertheit im Verlauf der Entwicklung der Materie erreicht war. Offensichtlich ist das Eiweiß die erste im Verlauf der Erdentwicklung aufgetretene chemische Substanz, auf deren Grundlage sich derartige komplette Zyklen realisieren ließen. Höchstwahrscheinlich waren die früher aufgetretenen Makromolekel infolge weniger kritischer Bedingungen, die zu ihrer Bildung notwendig waren, zwar auch früher da, wiesen aber nicht den erforderlichen Grad von Selektivität auf, der allein die Konstanterhaltung des Substrats und damit der Funktion gewährleistete. Wir können uns auch vorstellen, daß es Substanzen geben könnte, deren Bildung noch weit kritischeren Bedingungen unterläge und die noch homogener als die ersten Eiweiße wären, dafür müßten sie aber erst später als die Eiweiße aufgetreten sein. Auf der Grundlage derartiger Substanzen wäre die Ausbildung kompletter Zyklen durchaus denkbar, jedoch kam es historisch nicht mehr dazu, da ja vorher schon die Eiweiße entstanden waren und auf ihrer Grundlage kompliziertere lebende Systeme sich entwickelten, welche alle sich neubildenden organischen Substanzen ihrer Umgebung sofort als willkommene Nahrung verarbeiteten. So stellen heute die Eiweißsysteme die einzigen Träger kompletter biologischer Zyklen dar, nicht weil das Eiweiß die einzig denkbare Substanz wäre, auf deren Grundlage derartige Zyklen realisiert werden könnten, sondern weil es die erste Substanz von genügend komplizierter Struktur ist, welche historisch entstanden ist und weil durch die Entwicklung von biologischen Zyklen auf Eiweißbasis die Möglichkeit der Ausbildung noch komplizierterer Substanzen mit noch kritischeren Bildungsbedingungen unterbunden wurde. Es besteht jedenfalls weder ein Grund zu einem Eiweiß-Fetischismus, welcher die neue Form des verkappten Vitalismus darstellt, noch zu der mechanistischen Annahme, die Entstehung des Lebens sei einem außerordentlichen Zufall zu verdanken, der das erste lebensfähige Molekül entstehen ließ. Im Prozeß der Komplizierung der Materie mußten zwangsweise Substanzen auftreten, die alle zur Vollbringung kompletter zyklischer Reaktionen erforderlichen Eigenschaften aufwiesen, und das Eiweiß war lediglich die erste dieser Substanzen. 278

Einige •philosophische Verallgemeinerungen Bei dem Versuch, aus allgemeingültigen philosophischen Prinzipien Richtlinien zur Lösung von Problemen einer Einzelwissenschaft, in diesem Falle der Biologie, zu entwickeln, kam es zwangsweise zu Formulierungen, welche den Philosophen wenig vertraut sind. So wird zum Beispiel immer wieder das Prinzip angewandt, wonach Prozesse mit negativer Entropie ausschließlich an qualitative Umschläge gebunden sein sollen. Dieses Prinzip entspricht der Erfahrung, wurde auf verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaften überprüft und läßt sich auch theoretisch begründen.1 In dieser engen und hauptsächlich empirisch fundierten Formulierung erhebt dieses Prinzip keinesfalls Anspruch darauf, ein allgemeingültiges philosophisches Gesetz darzustellen, sondern ist eine bequeme Faustregel, welche die Deutung von Naturerscheinungen vielfach wesentlich erleichtert. Für den Philosophen besonders ungewohnt dürfte der Gebrauch sein, der hier vom Prinzip der Negation der Negation gemacht wird. In der klassischen Formulierung von Hegel entspricht die Negation der Negation einer unvollständigen Rückkehr zum Ausgangszustand, einem inkompletten Zyklus. Auf biologischem Gebiet entspräche dies etwa der Erscheinung der Generationenfolge, bei welcher in jeder einander folgenden Generation annähernd das gleiche Individium wie die Vorfahren gezeugt wird, wobei jedoch individuelle Abweichungen deutlich hervortreten. Bei vollständig geschlossenen Zyklen, wie sie etwa bei jedem Erregungsprozeß auftreten, trifft die von Hegel gegebene Beschreibung der Negation der Negation nicht mehr zu, da es sich hier um eine praktisch 100°/oige Rückkehr zum Ausgangszustand handelt. Und genauso, wie sehr kurze biologische Zyklen der Hegeischen Definition von der Negation der Negation nicht entsprechen, tun es auch die großen Entwicklungszyklen. Als Beispiel für eine unvollständige Rückkehr zum Ausgangszustand wird häufig der Fall der Wale, Robben und Sehkühe zitiert, die nach vielen Millionen Jahren Landleben sich wieder an das Leben im Wasser anpaßten und infolgedessen wieder fischähnliche Züge annahmen, wobei 1

Näheres darüber vgl. J. Segal, „Die dialektische Methode in der Biologie", Berlin 1958.

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selbstverständlich die Anpassung an das Wasserleben mit ganz anderen Mitteln erfolgt als beim Fisch. Es handelt sich also, so wird gesagt, um einen typischen Fall eines unvollständigen Zyklus vom Typ der Hegeischen Negation der Negation. Jedem Biologen ist es klar, daß es sich hier keinesfalls um den Ansatz zu einer zyklischen Entwicklung und um eine versuchte Rückkehr des Säugetiers zum Fisch handeln kann. Ein Seehund ist ein Säugetier mit allen Charakteren eines Säugetieres. Sein Herz hat vier Kammern und nicht zwei, es treibt durch den Körper warmes und nicht kaltes Blut, das durch eine Lunge mit Luftsauerstoff und nicht durch eine Kieme mit Wassersauerstoff versorgt wird. Der Seehund legt keine Eier, sondern bringt lebende Junge zur Welt, die mit Milch gesäugt werden. Sein Gehirn besitzt im Gegensatz zum Fisch eine hochentwickelte Großhirnrinde, kurz, es gibt kein anatomisches oder physiologisches Detail des Seehundkörpers, das nicht völlig eindeutig und unzweifelhaft dem Typ Säugetier entsprechen würde. Lediglich die stromlinienförmige Körperform und die zu plattenförmigen Schwimmerorganen umgewandelten Gliedmaßen erinnern rein äußerlich an den Körperbau eines Fisches. Es handelt sich offensichtlich um eine Anpassung an gegebene Umweltbedingungen, wie wir sie in der Biologie in Massen kennen. Die pflanzenfressende Kaulquappe hat einen sehr langen Darm; der fleischfressende Frosch hat einen sehr viel kürzeren; der Pflanzenfresser Rind hat seinerseits einen sehr langen Darm, ohne daß jemand auf die Idee gekommen wäre, zu behaupten, das Rind stelle eine Rückkehr zum Typ Kaulquappe dar, da mit Ausnahme des langen Darmes absolut keine gemeinsamen Merkmale vorhanden sind. Die Fortbewegung im Wasser erfordert nun einmal einen glatten, möglichst stromlinienförmigen Körperbau und flossenförmige Gliedmaßen, genauso wie die Fortbewegung in der Luft ohne die Ausbildung breiter, tragender Flächen nicht denkbar ist. So entwickelten unabhängig von einander Fische, Robben und Pinguine einen stromlinienförmigen Körperbau. So finden wir Schwimmhäute bei der Ente, beim Fischotter und beim Neufundländer Hund und eine Flügelbildung bei Insekten und beim fliegenden Fisch, beim Vogel, bei der Fledermaus und beim Flughörnchen. Die Fledermaus ist aber keinesfalls eine Widerholung des Typs Vogel, und der fliegende Fisch ist kein 280

unvollkommener Abklatsch eines Insekts. Von einer zyklischen Entwicklung ist hier keine Rede. Es handelt sich nur um das Prinzip, daß die gleiche Funktion auch ähnliche morphologische Strukturen verlangt. Wie man sieht, stellt die Negation der Negation des Hegeischen Typs mit einer unvollständigen Rückkehr zum Ausgangspunkt durchaus nicht den typischen Fall, sondern eher eine Ausnahme dar. Für die Betrachtung zyklischer physiologischer Prozesse kann sie völlig vernachlässigt werden; im Gesamtverlauf einer Entwicklung tritt eine derartige partielle Rückkehr zum Ausgangspunkt überhaupt nicht auf. Was schließlich die Dynamik der Prozesse in unbelebten Systemen anbetrifft, so haben wir bereits gesehen, daß für sie zyklische oder unvollkommen zyklische Prozesse durchaus nicht charakteristisch sind. Wir haben also die Wahl, entweder anzunehmen, daß es ein Grundprinzip der Dialektik gibt, das nicht für alle Formen der Materiebewegung verbindlich ist, sondern nur in ganz ausnahmsweise gelagerten Fällen in Erscheinung tritt und somit gar kein Grundprinzip ist, oder aber zu erklären, daß die von Hegel gewählte Definition den Begriff der Negation der Negation in unzulässiger Weise einengt und auf einen Spezialfall beschränkt, während diesem Prinzip in Wirklichkeit eine sehr viel breitere Bedeutung zusteht. Diese breitere Bedeutung kann nur die sein, daß auf Grund eines Widerspruchs, einer Negation, eine Bewegung in der Materie ausgelöst wird, und zwar im Sinne der Aufhebung dieses Widerspruches, im Sinne einer Negation der Negation. Damit wird gesagt, daß eine durch einen Widerspruch ausgelöste Veränderung nicht eine beliebige Richtung einschlagen kann, sondern in einer bestimmten Richtung ablaufen muß. In dieser Formulierung stellt das Prinzip der Negation der Negation das Prinzip des Determinismus dar, das auf diese Weise in die grundsätzlichen Formulierungen der Dialektik aufgenommen würde. Dadurch, daß Hegel das Prinzip der Negation der Negation auf einen Sonderfall reduzierte, und es sozusagen als eine Ausnahme im Verhalten der Materie darstellte, stellte er zugleich auch den Determinismus lediglich als einen Sonderfall der Bewegung der Materie dar. Das Prinzip der zwangsläufigen gesetzmäßigen Bewegung der Materie, das die Grundlage jedes materialistischen wissenschaftlichen 281

Denkens ausmacht, findet in der Hegeischen Formulierung der Grundprinzipien der Dialektik keinen Niederschlag. Dies entspricht der allgemeinen idealistischen Weltanschauung Hegels, kann aber unser Bedürfnis nach einer materialistisch fundierten philosophischen Darstellung des Naturgeschehens nicht befriedigen. In der hier gewählten erweiterten Form umfaßt der Begriff der Negation der Negation alle Arten der Bewegung der Materie und erleichtert dadurch ihre Analyse. Vom einfachsten Falle einer rein quantitativen Ausweichbewegung im Sinne der größten Entropiezunahme bis zum höchstkomplizierten kompletten Zyklus, der vielfach über zahlreiche qualitative Umschläge führt, erweist sich diese Formulierung als ein geeignetes, gemeinsames Rahmenprinzip, das in jedem einzelnen Falle leicht präzisiert und den Bedürfnissen des jeweiligen Einzelproblems angepaßt werden kann. Ein Beispiel hierfür mag die in diesem Artikel versuchte Analyse der elementaren Lebensprozesse geben. Es war natürlich im Rahmen dieser Arbeit unmöglich, die Vielfalt derjenigen biophysikalischen Prozesse, die wir heute bereits zu übersehen vermögen, in ihrer dialektischen Verkettung vollständig wiederzugeben. Aber auch das stark vereinfachte Bild, auf das ich mich hier beschränken mußte, dürfte genügen, um zu zeigen, wie sehr eine günstig gewählte philosophische Ausgangsformulierung zur Klärung eines naturwissenschaftlichen Problems beizutragen vermag.

IST DIE W I D E R S P I E G E L U N G ALLGEMEINE EIGENSCHAFT DER

EINE MATERIE?

Azari Polikarow (Sofia) Im vorliegenden Falle geht es um eine philosophische Idee, die ihre jahrhundertealte Geschichte hat. Erst ziemlich spät, im vorigen Jahrhundert, entstand eine (in gewissem Sinne) ähnliche Idee und entwickelte sich parallel auf physikalischer und chemischer Grundlage (in Verbindung mit der Erforschung der sogenannten Hysteresiserscheinungen). In wesentlichem Zusammenhang mit diesem Problem steht die moderne Informationstheorie. Hier zeichnet sich u. E. die Möglichkeit für die fruchtbare Wechselwirkung zwischen Philosophie und Naturwissenschaften ab, die eine große Bedeutung sowohl für die Konkretisierung der philosophischen Auffassungen, als auch für die methodologische Lenkung der einzelwissenschaftlichen Untersuchungen und Verallgemeinerungen hat. 1 In meinem Referat möchte ich einige Gedanken zu diesem Problem äußern. Da dieses aber keine große Popularität genießt, bin ich gezwungen, einer möglichst vollständigen (wenn auch prägnanten) Übersicht Platz einzuräumen. I. Die philosophische Idee 1. A l l g e m e i n e F r a g e s t e l l u n g . D a s P r o b l e m in der v o r marxistischen Philosophie In allen seinen Formen vertritt der Idealismus die Auffassung vom primären Charakter des Bewußtseins (individuellen oder überindi1

Das erinnert an die Situation, die von N. Wiener in seiner „ K y b e r n e t i k " geschildert wird, nämlich, daß bei einer parallelen Herausbildung ähnlicher Be-

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viduellen) und seiner selbständigen schöpferischen Kraft. Nur der Materialismus und insbesondere der dialektische Materialismus, für den „das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle" (Marx) ist, kann die Frage nach dem Ursprung des Bewußtseins richtig stellen und lösen — eine Frage, zu der sich der Idealismus nie aufschwingt und seinem Wesen nach auch nicht aufschwingen kann. Ein logisches Denken haben wir nur bei der höchsten Stufe der Entwicklung der lebenden Materie — bei dem Menschen, wobei die Sprache, oder — um in der Terminologie der Pawlowschen Lehre von der höheren Nerventätigkeit zu sprechen — das zweite Signalsystem eine wesentliche Rolle spielt. Bei den Tieren sind Empfindungen und auf dieser Grundlage bedingte Reflexe (des ersten Signalsystems) und Instinkte vorhanden. Die Pflanzen besitzen keine Empfindungen, sondern Empfindsamkeit, Reizbarkeit. Im Sinne der Deszendenztheorie kann man diese Eigenschaften — die logische Widerspiegelung, die Empfindung und die Reizbarkeit — als verwandt ansehen, als verschiedene Formen, Stufen der Enturicklung ein- und derselben Eigenschaft.2 Weiter entsteht die Frage, ob diese Eigenschaft — in entsprechender Form — auch in der anorganischen Materie zu finden ist, also, ob wir es mit einer allgemeinen Eigenschaft der Materie zu tun haben, die auf dem Wege ihrer Entwicklung — durch quantitative Anhäufung und qualitative Sprünge — über einige aufeinanderfolgende Etappen natürlich und gesetzmäßig zu den höheren Formen der Widerspiegelung führt. Besondere Aufmerksamkeit verdient in dieser Hinsicht die Anschauung Diderots, welcher „der Auffassung des modernen Materialismus . . . ganz nahe kommt" (Lenin). Diderot hebt hervor, daß „die Emp-

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grifie in verschiedenen Gebieten die einheitliche Betrachtung wesentlich diese Entwicklung fördern kann. Vgl. D. Diderot, Unterhaltung zwischen d'Alembert und Diderot, Ein Lesebuch für unsere Zeit, Weimar 1953, auch Ch. Darwin, Werke, Bd. VII, S. 417 (russ.) — In diesem Zusammenhang verdient die Ansicht Herings über das Gedächtnis als allgemeine Eigenschaft der lebenden Natur, erwähnt zu werden. (E. Hering, Über das Gedächtnis . . . 1870, Leipzig 1921).

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findsamkeit als Allgemeinbesitz des Stoffes oder als Produkt der inneren Verfassung" aufzufassen sei. 3 Indem er die Fasern unserer Organe mit einer vibrierenden (empfindsamen) Saite vergleicht, betont er ihre Ähnlichkeit einmal im Hinblick auf den „Nachhall" (noch lange nach dem Anschlag) und zum anderen auf die innere Fähigkeit, die Melodien zu bewahren (Erinnerung). 3 * 2. D i e H y p o t h e s e .von d e r W i d e r s p i e g e l u n g a l s a l l g e m e i n e Eigenschaft der Materie Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus wurde diese Frage von Lenin gestellt. Indem er seine Ansicht dem Machismus gegenüberstellt, schreibt Lenin: ,,. . .die Empfindung ist in klar ausgesprochener Form nur mit den höchsten Formen der Materie (der organischen Materie) verbunden, und in den Grundsteinen des Gebäudes der Materie kann man nur die Existenz einer Fähigkeit, die der Empfindung ähnlich ist, vermuten",4 Hier stützt sich Lenin auf die Hypothesen Ernst Haeckels, des englischen Biologen Lloyd-Morgan, sowie auf die Vermutung Diderots. Weiter bemerkt Lenin, im Zusammenhang mit der These von Pearson, daß es unlogisch ist zu behaupten, daß die ganze Materie bewußt sei: ,,Es ist aber logisch anzunehmen, daß die ganze Materie eine Eigenschaft besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung verwandt ist, die Eigenschaft der Widerspiegelung". 44 Dieser Gedanke fand eine Ausarbeitung im Werk von Todor Pawlow „Die Widerspiegelungstheorie" (1. Aufl. 1936). 5 Indem m a n zwischen (äußeren) Antwortreaktionen und (innerer) Widerspiegelung unterscheidet, wird von der letzteren (a) im Sinne einer Anpassung * D.Diderot, S. 448. Sa

Ebenda, S. 445, 446 — Es empfiehlt sich, die Stellungnahme von d'Alembert zu erwähnen. Ohne diese Hypothese zu verwerfen, macht er auf einige Schwierigkeiten, mit denen sie verbunden ist, aufmerksam. * W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1949, S. 35 (von mir hervorgehoben — A. P.). 4a Ebenda, S. 82. ® T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie, Moskau 1949, S. 16 (russ*).

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an die Umwelt (letzten Endes an das Naturganze) gesprochen. Das heißt, zwischen allen Prozessen existiert eine Selbstkoordinierung. 8 Weiter wird (b) der andauernde Charakter dieser Veränderungen in dem Sinne betont, daß sie auch dann bestehen bleiben, wenn die äußere Einwirkung nicht mehr vorhanden ist. 7 Freilich sind diese Spuren nur relativ dauerhaft; im Laufe größerer Zeitintervalle erlöschen sie auch. Überhaupt hängen sie mit der aufsteigenden (strukturellen) Entwicklung der Materie zusammen. Im Rahmen des Weltalls sind sie den Prozessen der Erhaltung der Grundformen der Bewegung der Materie mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Eigenschaften untergeordnet. 8 Zwischen diesen charakteristischen Merkmalen („Komponenten") der Widerspiegelung, nämlich der „Anpassung" und der „Vererbung"' (in bedingtem Sinne) müßte ein korrelativer Zusammenhang bestehen. In der anorganischen Natur, im Prozeß der ständigen Wechselwirkung mit der übrigen Materie, erfährt jeder Körper die verschiedensten Einflüsse. Dabei verändert der Körper den Ort, geht aus einem Zustand in einen anderen über, verändert seine Struktur usw. Alle diese Veränderungen werden äußere (Antwort)-Reaktionen genannt. Die Frage ist, ob mit diesen äußeren Einflüssen die ganze Einwirkung erschöpft wird. In dem allgemeinsten Falle könnte m a n annehmen, daß wir neben diesen Wirkungen (Ergebnissen) auch noch 6

Ebenda, S. 21 — T. Pawlow betont den aktiven Charakter dieser Anpassung bei den höheren Organismen und besonders bei den Menschen, die sich nicht nur an die Umwelt anpassen, sondern auch die Fähigkeit besitzen, sich die Umwelt anzupassen. (Siehe T. Pawlow, Das Grundlegende in der Lehre I. P. Pawlows im Lichte des dialektischen Materialismus, Ausgewählte Werke, Bd. I, Sofia 1957, S. 364 bulg.). 7 T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie, S. 24. 8 Vgl. A. Polikarow, Der dialektische Materialismus und die moderne Physik, Sofia 1950, S. 161 (bulg.), vgl. auch A. Polikarow, Kritik der Auffassung von der gerichteten Veränderung des Weltalls, Berichte des Instituts für Philosophie der Bulg. Akad. d. Wiss. Bd. III, Sofia 1958, S. 9 (bulg.). 9 Wir sehen von der Frage der Zweckmäßigkeit einer solchen Terminologie für die anorganische Natur ab.

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eine zusätzliche Komponente (eine bleibende Wirkung) haben, die wir Proto-Widerspiegelung, oder einfach Widerspiegelung nennen. Anders ausgedrückt, die gesamte Wirkung W besteht aus der AntwortReaktion R und der Protowiderspiegelung P oder symbolisch: W = i?-|- P. Es handelt sich also um eine Zustandsveränderung durch die äußere Einwirkung („elastische" Deformation) und eine weiter existierende („plastische") „Deformation" nach dem Aufhören der äußeren Wirkung. Infolgedessen kommt bei wiederholten Wechselwirkungen von derselben Art eine veränderte Reaktion — in Richtung auf die bessere Anpassung zustande. Die Widerspiegelung soll dadurch ein Hebel der Entwicklung sein. In diesem Sinne äußerte Akademiemitglied S. I. Wawilow die Hoffnung, daß es durchaus möglich ist,, ,daß die künftige Physik als primäre einfachste Erscheinung die Fähigkeit, der die Empfindung verwandt ist, einschließen und auf Grund dessen vieles andere erklären wird". 1 0 Ganz zu schweigen von der Ablehnung dieser Hypothese seitens mancher Autoren wird die Vermutung Lenins häufig falsch ausgelegt, indem man von Widerspiegelung im Sinne physikalisch-chemischer Prozesse oder Wechselwirkungen (Antwort-Reaktionen) spricht. 11 Das ist aber ein Mißverständnis, denn wie könnte Lenin die Existenz solcher Prozesse vermuten, von denen man mit Sicherheit weiß, daß sie existieren. Offensichtlich handelt es sich um etwas anderes. Andererseits sind auch Versuche vorhanden, diese Vermutung sowohl im Hinblick auf die anorganische, als auch auf die lebende Materie weiter zu entwickeln und zu konkretisieren, 12 wobei man sich 10 11

12

S. I. Wawilow, Physik, Pod znamenem marksisma, 1935, Nr. 1, S. 125 (russ.). Vgl. F. I. Chaßschatschich, Materie und Bewußtsein, Berlin 1955, S. 47. A. Kisselintschew, Die marxistisch-leninistische Widerspiegelungstheorie und die Lehre I. P. Pawlows von der höheren Nerventätigkeit, Berlin 1957, S. 33—34fi.; Ion N. Belenesku, Die Kybernetik und einige Probleme der Physiologie und Psychologie, Woprossi Filosofii, 1957, Nr. 3, S. 153 (russ.), S. L. Rubinstein, Sein und Bewußtsein, Moskau 1957, S. 12 (russ.) u. a. A. Polikarow, Der dialektische Materialismus und die moderne Physik Sofia 1950, S. 151; D. Dimow, Über die Frage der biologischen Formen der Widerspiegelung, Nachrichten des Institutes für Philosophie der Bulg. Akad. d. Wiss., Bd. I, Sofia 1954 (bulg.); N. N. Ladygina-Kots, Die Entwicklung der Widerspiegelungsformen im Evolutionsprozeß der Organismen,

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auf neue Tatsachen und Theorien stützt. Obwohl der Auffassung von T. Pawlow im ganzen zugestimmt wird, werden jedoch einige konkrete Behauptungen einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ohne auf einzelne Differenzen mit der angeführten Auffassung von T. Pawlow einzugehen, möchten wir bemerken, daß bei ihm eine gewisse Überschätzung dieser Hypothese vorhanden ist. Sie wird eher als etwas Unvermeidliches betrachtet. E r schreibt: „Logisch, d. h. theoretisch — grundsätzlich folgt dieser Schluß mit voller Notwendigkeit. . ,".13 Weiter erklärt er sie als logische Grundlage der Widerspiegelungstheorie und schreibt ihr außerordentliche gnoseologische Bedeutung zu. 1 3 4 Wir sind weit davon entfernt, diese Hypothese zu unterschätzen, sind aber der Meinung, daß die Widerspiegelungstheorie (im Sinne einer materialistischen Erkenntnistheorie) mit dieser Hypothese nicht auf Gedeih und Verderb verbunden ist — wie diese Frage tatsächlich bei T. Pawlow gestellt wird. 1 4 Woprossi Filosofii, 1956, Nr. 4 (russ.); N. Bakardshiewa, Über die Evolution der Widerspiegelung und ihre biologische Form, Filosofska Mysl, Nr. 1 (bulg.); A. Kisselintschew, Die marxistisch-leninistische Widerspiegelungstheorie und die Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit, Berlin 1957; E. A. Asratjan, Die marxistisch-leninistische Widerspiegelungstheorie und die Lehre I. P. Pawlows von der höheren Nerventätigkeit, Woprossi Filosofii, 1955, Nr. 5 (russ.). 13 T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie, S. 21 (von mir hervorgehoben — A. P.); vgl. auch T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie und die Kybernetik, Filosofska Mysl, 1959, Nr. 3, S. 39 (bulg.) — Eine ähnliche Fragestellung haben wir auch bei A. Pölikarow, Der dialektische Materialismus und die moderne Physik, bei Chaßschatschich, A. Kisselintschew, u. a. T. Pawlow betont, daß es in diesem Falle nicht um irgendeine, sondern um eine logische Vermutung geht. In der Tat bringt das unserer Meinung nach keine Veränderung des Sachverhaltes, denn — unabhängig davon, ob diese Bezeichnung gebraucht wird — haben unlogische Vermutungen im Sinne von „credo, quia absurdum" (Tertullian) in der Wissenschaft überhaupt keinen Platz. i3a rp p a l v i 0 W t Di e Widerspiegelungstheorie, S. 26. 14 Es scheint uns, daß damit selbst Lenin nicht einverstanden wäre. Das ist aus dem Platz ersichtlich, den er dieser Hypothese widmet. Es ist logisch, eine solche Eigenschaft vorauszusetzen, sie stellt aber keine Kardinalfrage für den dialektischen Materialismus dar. 288

Vor allen Dingen liegt es gar nicht im Sinne des dialektischen Materialismus, daß alle Eigenschaften der lebenden Materie ihre Vorform bereits in der anorganischen haben (Präformismus).15 Die Widerspiegelung kann man nicht ohne weiteres zu den Daseinsweisen der Materie rechnen.16 Das heißt, falls sie existiert, ist die Protowiderspiegelung nicht allen, sondern einer bestimmten Klasse von Prozessen eigen, oder, bildlich gesprochen, sie fällt nicht mit dem gesamten Fluß der Bewegung und der Wechselwirkung der anorganischen Materie zusammen, sondern eventuell mit irgendeiner Strömung innerhalb dieses Flusses, die zum Erscheinen der Reizbarkeit führt. Sonst geht die Spezifik jener vermutlichen Klasse von Prozessen verloren, die eine unmittelbarere genetische Beziehung zur Empfindung haben. Konkretere Erwägungen im Sinne dieser These werden im weiteren angeführt. Außerdem darf man nicht vergessen, daß diese Hypothese auch heute noch eine Hypothese bleibt. Auf das Heliozentrische System des Kopernikus eingehend, schrieb Engels, daß es dreihundert Jahre lang eine Hypothese war, auf die hundert, tausend, zehntausend gegen eins zu wetten war; aber doch immer eine Hypothese . . ,17 In letzter Konsequenz muß diese logische Vermutung empirisch bestätigt werden. 11

17

So spricht man z. B. von „Arbeit" in der Gesellschaft. Eine ähnliche Tätigkeit gibt es auch bei den Tieren, nicht aber bei den Pflanzen. Also wäre eine solche Begründung vollkommen fiktiv. In dieser Hinsicht können wir uns nicht mit der Pawlowschen Deutung von der Widerspiegelung als „einer Form der Bewegung" (T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie, S. 21/22) einverstanden erklären. Ohne auf eine Betrachtung zwischen der Form der Bewegung der Materie und der Eigenschaft einzugehen, muß man bemerken, daß hier vor allem ein Widerspruch vorhanden ist. Wäre die Widerspiegelung tatsächlich nur eine (spezifische) Form der Bewegung, wie könnte sie dann eine allgemeine, d. h. allen Formen der Bewegung der Materie zukommende Eigenschaft sein? Es scheint uns aber, daß es sich in diesem Falle bei Pawlow eher um einen terminologisch nicht präzis ausgedrückten Gedanken handelt, nämlich, daß die Widerspiegelung mit der Bewegung verbunden ist, daß sie eine Seite derselben ist. F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 1952, S. 20.

19 Naturwissenschaft und Philosophie

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II. Die naturwissenschaftlichen

Ergebnisse

1. Ü b e r die A b h ä n g i g k e i t e i n i g e r p h y s i k a l i s c h e r u n d c h e m i s c h e r Prozesse von der G e s c h i c h t e des S y s t e m s Ähnliche Ansichten über den Einfluß der Geschichte des Systems bei gewissen physikalischen und chemischen Prozessen haben sich auf der Grundlage der neuen experimentellen Tatsachen über die Hysteresis-Erscheinungen herausgebildet. Die Hysteresis-Erscheinung bei der Magnetisierung von Ferromagneten ist bekannt. Sie besteht darin, daß ein- und derselben Intensität des äußeren magnetischen Feldes verschiedene Intensitäten der Magnetisierung des Eisenstückes entsprechen, je nachdem, ob das Eisenstück zum ersten Mal magnetisiert wird, oder ob dieses nach wiederholter Magnetisierung oder Entmagnetisierung stattfindet, d. h. in Abhängigkeit von der Geschichte des Systems. 18 Diese Erscheinungen sind durch die irreversiblen Prozesse der Umwandlung der Energie der Ummagnetisierung in Wärme verursacht. Die letzteren hängen mit der Existenz von metastabilen Zuständen zusammen, die durch die Kinetik der Prozesse bedingt sind. 19 Die Prozesse des beschriebenen Typs haben einen ziemlich allgemeinen Charakter. Eine ähnliche Erscheinung haben wir bei der sogenannten elastischen Hysteresis. Wenn die festen Körper ideale Kristalle wären, dann bestünde zwischen der Spannung und der Deformation bei Ausdehnung oder Zusammenziehung ein eindeutiger Zusammenhang, der durch eine gradlinige Abhängigkeit (Gesetz von Hooke) ausgedrückt wird. I n der Tat gibt es so ein ideales Kristall nicht und das äußert sich in lokalen plastischen Deformierungen, die in der Umgebung eine anhaltende Spannung erzeugen. Die letztere wirkt der Belastung des Körpers entgegen und ruft die HysteresisErscheinungen hervor. 20 18

19

20

8. W. Wonsowskij, J. 8. Schur, Ferromagnetismus, Moskau 1948 (russ.), I. W. KurUchatow, Seignettekörper, Moskau—Leningrad 1933 (russ.). A.O. Samojloioitsch, Thermodynamik und statistische Physik, Moskau 1953, § 3 3 (russ.); R. W. Telesnin, DAN SSSR, 75, 659, 797 (1950) (russ.); W. K. Arkadjew, Elektromagnetische Prozesse in Metallen, 1936 (russ.); L. Neel, J. phys. rad. 12, 339 (1951). A.Joffe, Physik der Kristalle, Leningrad 1929 (russ.); N. Dawidenkow,

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Eine ähnliche Abhängigkeit von der Geschichte liegt auch bei den sogenannten gekoppelten Prozessen oder Kettenreaktionen in der Chemie vor, zu denen auch bestimmte Arten der Katalyse gehören. 2 1 Es ist wichtig, die Existenz ähnlicher Erscheinungen bei den Kolloidsystemen zu erwähnen, deren Ablauf von der vorhergehenden Geschichte bedingt ist (z. B. der Übergang von Sol in Liogel und umgekehrt). 2 2 In der Kolloidchemie ist die sog. Erscheinung des Gewöhnens bekannt, wobei die für die Koagulation des suspendierbaren Sols erforderliche Menge des Elektrolyts verschieden ist, je nachdem, ob der letztere auf einmal oder allmählich eingeführt wird. 23 Die Existenz derartiger Erscheinungen hat bereits manche Autoren veranlaßt, sie als eigentümliche Vererbungsprozesse zu betrachten und eine Ähnlichkeit zwischen diesen und den Prozessen der lebenden Materie zu suchen. 2 4

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22

23 24

Mechanische Eigenschaften und Prüfung der Metalle, Bd. I, Kap. 3, Leningrad 1933 (russ.); W. D. Kusnezow, Physik des festen Körpers, Bd. IV, Tomsk 1947 (russ.); A. A. Iljuschin, Plastizität, Bd. I, Moskau—Leningrad 1948 (russ.); O. W. ScottClair, A Survey of General and Applied Rheology, London 1949; Das Relaxationsverhalten der Materie, Braunschweig 1953. N. A. Schilow, Über die gekoppelten Reaktionen der Oxydation, Moskau 1905 (russ.;) M. Bodenstein, 50 Jahre chemische Kinetik, Zs. Elektrochem. 47, 667 (1941); N. N. Semjenow, Über einige Probleme der chemischen Kinetik und der Reaktionsfähigkeit, Moskau 1954 (russ.); C. N. Hinshelwood, The Kinetics of chemical Change, Oxford 1952; Eigen, Chemische Relaxation, 1956. N. P. Peskow, Die physikalisch-chemischen Grundlagen der kolloidalen Wissenschaft, Moskau—Leningrad 1932, S. 342, 353 (russ.); 1.1. Shukow, Kolloidchemie, Bd. I, Leningrad 1949, S. 183, 245 (russ.). 1.1. Shukow, S. 280. P. I. Bachmetjew, Die Nachwirkung, Bulgarski pregled, Sofia, II Nr. 2 (1894) (bulg.); P. I. Bachmetjew, Die Nachwirkung in der physikalischen Welt, Westnik opitnoj fisiki i experimentalnoj matematiki, Kiew 1894 (russ.); V. Volterra — d'Ancona, Les associations biologiques au point de vue mathematique, 1935; G. Bradistilow, Die Mathematik und die Erblichkeit in der anorganischen Welt, Godischnik Darsh, Politechnika, Sofia, Bd. II, 1949, S. 51 (bulg.). Hier wäre es am Platze, den Versuch des rumänischen Mathematikers Haimovici, eine verallgemeinerte Mechanik mit Erbmasse

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Vom philosophischen Standpunkt aus sind u. E. solche Schlußfolgerungen voreilig. Vor allen Dingen muß man zwischen zyklischen und nichtzyklischen (einmaligen) Erscheinungen unterscheiden. Weiter sind nicht alle Spurerscheinungen als Widerspiegelung zu fassen. Wenn z. B. das Siegel auf dem Lehm einen Abdruck hinterläßt, so ist das keine Proto-Widerspiegelung. Wesentlich sind im gegebenen Fall die Nachwirkungen, die einen Einfluß auf das weitere Verhalten des Systems und auf seine weitere Entwicklung haben. Mit anderen Worten, die Klasse der Spurerscheinungen ist breiter als die uns interessierenden Erscheinungen. Diese Klasse umfaßt sowohl die Gruppe der Erscheinungen des Älterwerdens der Materialien26, als auch jene, bei denen eine Vervollkommnung vorliegt. Ostwald spricht von etwas ähnlichem wie „Übung" in der anorganischen Welt (oder auch von „Überheilung") und erwähnt in diesem Zusammenhang das Einlaufen einer neuen Maschine, die Formierung eines Bleisammlers und einige Fälle von Autokatalyse.26 Die Widerspiegelung könnte mit der zweiten Gruppe zusammenhängen. 2. I n f o r m a t i o n s p r o z e s s e u n d E m p f i n d u n g Ein neues Herangehen an unser Problem eröffnet die Kybernetik. Die letztere wird gewöhnlich als die Wissenschaft von der Kommunikation, Steuerung und Kontrolle funktionaler Systeme (Maschinen und Organismen) bestimmt. Unter Kommunikation (oder Verbindung) versteht man die Prozesse der Informations-Aufnahme, ihre Speicherung und Übertragung, wie dies mit der Sprache, beim Telegrafieren u. dgl. mehr der Fall ist, die eine eindeutige Transformation (Kodifikation und Dekodifikation) einschließen und Gegenstand des Stu-

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26

aufzubauen, zu erwähnen ( A . Haimovici, Studii si cercetari sciintifice, VII 1951, f. 3—4). — Wie bereits bemerkt, läßt sich u. E. die Protowiderspiegelung nicht auf eine solche Art von „Erblichkeit" zurückführen, sondern sie schließt sie als wesentliches Element in sich ein. A. A. Botschwar, Metallkunde, Moskau 1945 (russ.); D. A. Petrow, Älterwerden der Metalle, Moskau 1953 (russ.); Colloquium on Fatigue, Stockholm 1956 W. Ostwald, Die Pyramide der Wissenschaft, Stuttgart-Berlin 1929, S. 96.

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diums der Informationstheorie sind. Das Umformen der Information in Signale, die das Funktionieren entsprechender Maschinen bestimmen, nennt man Steuerung. Die Kontrolle oder die Regulierung vollzieht sich durch entsprechende Geräte vom Typ der Servomechanismen (Zentrifugalregulator, Thermostat und andere), deren Wirkung auf dem Prinzip der Aufnahme und der Umarbeitung von Information über die Ergebnisse (Nutzeffekt) des Funktionierens beruht. Diese Information bezeichnet man als rückläufige Verbindung. Besondere Bedeutung kommt der sogenannten negativen rückläufigen Verbindung zu, die zur Minderung der Unterschiede von den optimalen Bedingungen führt. Sowohl die Informationsprozesse als auch die Regulationsprozesse bei den Maschinen haben eine größere Allgemeingültigkeit: sie beziehen sich auch auf das Verhalten lebender Systeme und insbesondere auf den Menschen. Von diesem Standpunkt aus gehört die Frage der Reizbarkeit und auch der Empfindung zu den Prozessen der Aufnahme und Umarbeitung von Information. 27 Die Speicherung der Information in den Elektronenrechenmaschinen mit automatischer Steuerung findet im sogenannten Speicher (Gedächtnisapparat) statt. Bei diesen unterscheidet man zwischen äußerem und innerem, „Gedächtnis", das auf dem Prinzip der Bildung von Spurerscheinungen (magnetischen, elektrischen u. a.) beruht. Wesentlich im gegebenen Falle ist die Möglichkeit, sogenannte Regulationsmechanismen der zweiten Art (vom Typ der bedingten Reflexe) zu konstruieren, die Information über die Ergebnisse des Funktionierens der Steuer- oder Regulationsmechanismen der ersten Art anhäufen und auf Grund dessen imstande sind, entsprechend (zweckmäßig) die Art und Weise des Funktionierens der Mechanismen der ersten Art zu verändern (Ultrastabilität). a

' Vom energetischen Standpunkt aus sind das Auslösungsprozesse, bei denen die unmittelbare Umwandlung der Energie unbedeutend ist und lediglich die Einschaltung neuer Vorräte von (potentieller) Energie veranlaßt (vgl. A. Mittasch, J. R. Mayers Begriff der Auslösung in seiner Bedeutung für die Chemie, in: ,, J. R. Mayer und das Energieprinzip", Berlin 1942). Hier sehen wir von der falschen Deutung dieser Prozesse bei einer Reihe bürgerlicher Autoren ab.

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Damit ahmen diese Regulationsmechanismen selbstorganisierende lebende Systeme nach.28 Diese Analogie gestattet mit Hilfe von Elektronenrechenmaschinen erfolgreich, einige Nervenprozesse modellmäßig darzustellen. So hat Ashby seinen Homeostat konstruiert, der unter gewissen Bedingungen neurotische Symptome in Wahlsituationen aufweist. Das veranlaßt manche Autoren, darunter auch einige hervorragende Vertreter der Kybernetik, zu behaupten, daß es zwischen derartigen Maschinen und den lebenden Organismen keinen prinzipiellen Unterschied gibt. 29 Über dieses Problem besteht bekanntlich durchaus keine Einstimmigkeit. Neben einigen zurückhaltenden Stellungnahmen werden ähnliche Schlußfolgerungen von vielen Seiten bestritten.30 Wesentlich ist u. E. die Frage, auf welcher Grundlage man auf die Verwandtschaft zwischen Maschine und Tier bzw. Mensch schließen kann. Freilich geht das nicht nach einer bloßen Analogie, sondern auf Grund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten.31 Das sind aber Gesetz28

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31

N. Wiener, Cybernetics, New York—Paris 1948, Informationstheorie und ihre Anwendung, Moskau 1959 (russ.); W. R. Ashby, An Introduction to Cybernetics, London 1956; St. Goldman, Informationtheory, London 1953; L. Brillouin, Science and Informationtheory, New York 1956; A. N. Kolmogorow, Theorie der Übertragung der Information, Moskau 1956 (russ.); A.I.Kitow, Elektronenrechenmaschinen, Moskau 1956 (russ.); W.R. Ashby, Design for a Brain, New York 1954; A. M. Jaglom—I. M. Jaglom, Wahrscheinlichkeit und Information, Moskau 1957 (russ.); B. A. Trachtenbrot, Algorithmen und Lösung der Aufgaben durch Maschinen, Moskau 1957 (russ.). Vgl. G. Günther, Das Bewußtsein der Maschinen, Eine Metaphysik der Kybernetik, Krefeld—Baden-Baden 1957, S. 25f; 1.1. Galperin, Über die Reflektoren-Natur der lenkenden Maschinen, Woprossi fllosofii, 1957, Nr. 4 (russ.). P. Cossa, La Cybernétique, Paris 1957; P. K. Anochin, Physiologie und Kybernetik, Woprossi fllosofii, 1957, Nr. 4 (russ.). Die Gründe dafür möchte man in einer tieferen Analogie zwischen dem menschlichen Denken und dem Funktionieren der kybernetischen Maschinen sehen. Die Elektronenröhren in der Rechenmaschine fügen sich den Regeln der formalen Logik, indem sie zwischen zwei Möglichkeiten: ja und nein (Eins und Null) wählen. Das wird durch Ein- oder Ausschalten der

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mäßigkeiten des Verhaltens, also ergibt sich diese Schlußfolgerung aus einem funktionellen und in letzter Konsequenz behavioristischen Standpunkt. Übrigens wird das durch die nachdrücklichen Äußerungen hervorragender Vertreter der Kybernetik bestätigt. 32 Die Aufdeckung der Natur solcher höheren Funktionen wie der bedingten Reflexe, des Gedächtnisses und anderer auf Grund der Spurerscheinungen scheint problematisch zu sein. Feststehend müßte unserer Meinung nach sein, daß die Empfindung zur Klasse der Informationsprozesse gehört. In dieser Hinsicht wird durch die Kybernetik die Hypothese der Protowiderspiegelung aktuell. 33 Elektronenröhren erreicht. Eine ähnliche Rolle im Gehirn spielen die Nervenzellen oder Neuronen, die sich auch in zwei Zuständen, und zwar in angeregten und nichtangeregten befinden können (Gesetz vom „Alles oder Nichts"). Sie funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip, nämlich der aufeinanderfolgenden Gabelung oder Auswahl (wobei die Erregung selbst fast gar nicht vom Charakter des Erregers abhängt). Die Kybernetik zeigt, daß das die günstigste Form sowohl f ü r die Fixierung von großen Informationsmengen als auch f ü r ihre dauerhafte Speicherung ist (Stabilität), die bei den Organismen ein Ergebnis des langwierigen Prozesses der Anpassung an die Umwelt ist. 32 Vgl. Ashby, 1/2, auch Gossa, K a p . II. 33 Bemerkenswert ist, daß die entscheidenden Argumente von Diderot im Sinne der modernen Auffassungen formuliert worden sind. Er schreibt: „ D a s empfindsame I n s t r u m e n t oder das lebende Wesen h a t herausgebracht, daß bei der Äußerung dieses oder jenes Tones die oder jene Wirkung außerhalb seiner erfolge, daß andere genau ähnlich empfindsame Instrumente oder ähnliche lebende Wesen näher kamen, sich entfernten, fragten, sich darboten, anstießen und kosten, diese Wirkungen haben sich in seinem und der anderen Gedächtnis verbunden mit der Bildung dieser Töne, beachten Sie noch, daß es im Verkehr der Menschen untereinander nur Geräusche und Handlungen gibt1''. (D. Diderot, S. 449, von mir hervorgehoben — A. P . ; vgl. auch S. 446). Diderot betrachtet die Frage immer noch funktionell, während die Erfolge der Lehre von der Energie zu einem anderen Herangehen geführt haben. Die Entwicklung der modernen Theorie der Information f ü h r t wiederum zu ähnlichen Auffassungen (auf einer höheren Stufe).

295

III.

Weitere Bemerkungen zum Problem

1. Ü b e r den B e g r i f f W i d e r s p i e g e l u n g (in der a n o r g a n i schen Natur) Nach der materialistischen Erkenntnistheorie ist der Inhalt unserer Erkenntnis im Sinne unserer Vorstellungen und Begriffe 34 keine selbständige Realität, sondern hat seine Quelle in der objektiven (vom Subjekt unabhängigen) Realität. In diesem Sinne ist dieser Inhalt eine Widerspiegelung oder ein Abbild der Wirklichkeit. Wir sagen auch, daß das Bewußtsein eine Eigenschaft des menschlichen Gehirns ist, nämlich die materielle Wirklichkeit widerzuspiegeln. In diesem Falle haben wir eine andere Bedeutung des Begriffes Widerspiegelung. Unserer Meinung nach wäre es zweckmäßig, zwei Bedeutungen des Begriffs Widerspiegelung zu unterscheiden, und zwar a) die Eigenschaft oder Fähigkeit widerzuspiegeln und b) das konkret Widergespiegelte, das Abbild oder der Inhalt der Erkenntnis (als Prozeß und Ergebnis). Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen besitzt das Gehirn einerseits die Eigenschaft der Widerspiegelung und andererseits verschiedene konkrete Zustände — Widerspiegelungen. Die Eigenschaft ist zwar allen Menschen in allen Epochen und jedem Alter eigen, aber der Inhalt ihres Bewußtseins, ihre Kenntnisse sind durchaus verschieden. Die Eigenschaft Widerspiegelung ist die Voraussetzung, die Möglichkeit des Prozesses der Widerspiegelung — in reiner Form ist das beim Kinde oder beim primitiven Mensch festzustellen — eine Möglichkeit, die sich in qualitativer und quantitativer Beziehung verschieden, nämlich in Abhängigkeit von einer Reihe von Bedingungen, in Wirklichkeit umwandelt. So steht es auch mit der Fähigkeit zu empfinden, mit der Empfindungsfahigkeit. Jedes Tier besitzt diese Fähigkeit unabhängig davon, ob und was es empfindet. Man kann es von der Umwelt isolieren, dann wird es zwar keine konkreten Empfindungen mehr haben, wohl aber Empfindungsfähigkeit. Selbstverständlich sind diese zwei Seiten — die Eigenschaft und der Prozeß — nicht voneinander zu trennen. Zwischen ihnen besteht 34

Außerdem wird gelegentlich als Inhalt in einem ganz anderem Sinne objektive Quelle der Erkenntnis bezeichnet.

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die

ein sehr enger, korrelativer Zusammenhang. Einerseits ist die Eigenschaft die Voraussetzung für den Prozeß der Widerspiegelung, andererseits aber trägt der Prozeß zur Entwicklung der Eigenschaften bei. Die Berücksichtigung dieses gegenseitigen Zusammenhangs ist sehr wichtig bei der Erklärung der Evolution der Widerspiegelung (darunter auch des Bewußtseins). Das Bewußtsein setzt gewisse Kenntnisse voraus, und die Kenntnisse sind ohne Bewußtsein unmöglich. Dieser Widerspruch löste sich in dem andauernden Prozeß der Evolution des Bewußtseins durch Erweiterung der Kenntnisse sowie der Evolution der Erkenntnis durch Vervollkommnung des Bewußtseins. Ebenso wie Lenin zur Vermutung der Existenz einer Eigenschaft der Materie kommt, die der Empfindung vorangeht und dieser verwandt ist, scheint es uns auch logisch zu sein, die Existenz eines Prozesses anzunehmen, der dem Prozeß der Empfindung vorangeht und mit ihm dem Wesen nach verwandt ist und der auch Proto- Widerspiegelung genannt werden kann. In diesem Sinne trägt der Widerspiegelungsprozeß zur Vervollkommnung der Eigenschaft Widerspiegelung bei, wobei sich parallel auch der Prozeß selbst verändert. Diesen könnte man den Informationsprozessen gegenüberstellen. Außerdem ist anzunehmen, daß entsprechend der Einheit von Erregungs- und Hemmungsprozessen in der höheren Nerventätigkeit 35 , auch in der anorganischen Materie neben den Protowiderspiegelungen irgendein Prototyp des Hemmungsprozesses existiert. 2. D a s P r o b l e m d e s C h a r a k t e r s d e r W i d e r s p i e g e l u n g Vom Standpunkt der Biologie aus gesehen ist die Widerspiegelung der Empfindung verwandt. Die Empfindung ist eine Eigenschaft der höheren Formen der lebenden Materie. Sie stellt einen inneren Zustand dar, verschieden von den äußeren Reizfaktoren und zugleich ein Mittel zur Orientierung, zur Anpassung an die Umwelt. Außerdem 36

Vgl. I. P. Pawlow, Gesammelte Werke, Bd. III, 1949, S. 137 (russ.). Nach Tongur spielen beim Eiweiß die Prozesse der Denaturierung (Veränderung ihrer Struktur) und Regenerierung im Sinne der Umkehrung der Denaturationsprozesse eine ähnliche Rolle (W. 8. Tongur, Über die biochemischen Grundlagen der Reizbarkeit, Woprossi Filosofii, 1957, Nr. 6 [russ.]).

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hängt sie mit der Arbeit der Analysatoren, die ihrerseits ein Teil des Nervensystems sind, zusammen. 36 Die Klärung des Ursprungs der Empfindung ist eine ziemlich komplizierte Frage, da sie mit dem schwierigen Problemkomplex der Entstehung des Lebens, der Genesis des Nervensystems usw. zusammenhängt. In der anorganischen Natur muß man solche Prozesse ausfindig machen, die eine Veränderung des inneren Zustandes eines Systems darstellen und die eine gewisse Rolle für sein künftiges Verhalten bei der Wechselwirkung mit der Umwelt spielen. Und zwar handelt es sich um Prozesse mit anpassendem Charakter, die sich anhäufen („vererben") können. Bei den Spurenerscheinungen haben wir es mit einer bleibenden Veränderung zu tun, die aber keinen feststellbaren anpassenden (selbstkoordinierenden) Charakter besitzt. Andererseits finden wir solche anpassenden Reaktionen in den einfachen Einrichtungen mit rückläufigen Verbindungen (Servomechanismen), bei denen aber die Spurenerscheinungen fehlen. Aus der Kombination dieser zwei Prozesse ergeben sich komplizierte Regulationsmechanismen von der zweiten Art, die beide Eigenschaften besitzen. Das ist aber ein technisches und kein natürliches Erzeugnis, d.h., hier ahmt der Mensch die Natur auf eigenartige Weise nach. Das Problem besteht jedoch darin, ob die Natur dabei einem ähnlichen oder aber einem besonderen Weg folgt, und was das für ein Weg ist. Gewöhnlich wird der Grundunterschied zwischen Organismen und unbelebter Materie darin gesehen, daß bei den ersteren ein ständiger Stoffwechsel mit der Umwelt die Form ihrer Existenz ist. Die Exi36

Allerdings ist das eine Streitfrage. Nach Leontjew existierte die Empfindung auch vor dem Nervensystem ( N . A. Leontjew, Abriß der Entwicklung der Psyche, 1947, S. 21 [russ.]). — In diesem Zusammenhang verdient der Gedanke von Sawarsin Aufmerksamkeit, daß das Nervensystem in engem Zusammenhang mit dem Muskelsystem entstanden ist. ( A . A. Sawarsin, Ausgewählte Schriften, Bd. III, Moskau 1950, S. 18 [russ.], zit. nach N. N. Ladygina-Kots, Entwicklung der Psychik im Evolutionsprozeß der Organismen, Moskau 1958, S. 18 [russ.]).

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stenz der anorganischen Körper aber ist nur denkbar, wenn eine ähnliche Art des Stoffwechsels fehlt. 37 Im gegebenen Falle aber wird die Ähnlichkeit ignoriert. Indem I. P. Pawlow die Tatsache der Anpassung als „genaue Verbindung der Elemente in einem komplizierten System untereinander und des ganzen Komplexes in der Umwelt" erklärt, bemerkt er, daß dasselbe auch bei unbelebten Körpern stattfindet. Sie können als solche nur dank der Gleichgewichtseinstellung der einzelnen Atome und ihrer Gruppen untereinander und ihres ganzen Komplexes mit den Umweltbedingungen existieren. 38 Unseres Erachtens könnte man die Ähnlichkeit zwischen Organismen und anorganischen Körpern im Verhalten gegenüber äußeren Einwirkungen durch das Prinzip von Le Chatelier-Braun zum Ausdruck bringen, wonach, wenn ein Gleichgewichtssystem eine äußere Einwirkung erfährt und die letztere eine von den Bedingungen, die den Zustand des Systems bestimmen, verändert, sich das Gleichgewicht verschiebt, wobei Prozesse vor sich gehen, die den Effekt der äußeren Einwirkungen schwächen. 39 Daher kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß dieses Prinzip auch auf die biologischen Prozesse anwendbar ist. Es ist bekannt, daß nach Mitschurins Lehre die Organismen in Einheit mit den Lebensbedingungen gegeben sind, d. h., daß die Formen der lebenden Natur den Bedingungen der Umwelt entsprechen. Bei der Veränderung dieser Bedingungen erfahren sie entsprechende Veränderungen, indem sie sich den neuen Bedingungen anpassen. (Der Fall des Absterbens interessiert uns jetzt nicht.) Das geschieht durch eine Veränderung des StoffWechseltyps und gestaltet den wachsenden lebenden Körper und entsprechend die Vererbung um. 40 Nach dem Prinzip von Le Chatelier-Braun erfährt der Organismus bei Veränderung der äußeren Bedingungen nicht nur Veränderungen 37 38 39

40

Vgl. K. A. Timirjasew, Ausgewählte Werke, Bd. II, 1948, S. 334 (russ.). I. P. Pawlow, Werke, Bd. III, Buch 1, S. 25 (russ.). H.le Chatelier, C. R. 99, 788 (1884); F. Braun, Zs. physik. Chem. 1, 259 (1887); Ann. Phys. 33, 337 (1888). T. D. Lyssenho, Agrobiologie, Moskau—Leningrad 1948, S. 569 u. a. (russ.).

299

im Sinne der äußeren Einwirkung 4 1 , sondern sein anpassender Charakter äußert sich auch darin, daß er sich mit dieser Veränderung zugleich der äußeren Einwirkung entgegensetzt und infolgedessen ein neuer Gleichgewichtszustand hergestellt werden muß. Als Begründung dieser Auffassung kann man folgende Erwägungen anführen: a) Dieses Prinzip ist ausreichend allgemein — es findet Anwendung in der Mechanik, Physik, Chemie, Geochemie 42 und es wäre deshalb nicht unnatürlich, es auch auf die biologischen Wissenschaften (Biochemie) anzuwenden. Außerdem hängt es eng mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zusammen 4 3 und da dieser für die lebenden Organismen gültig ist 4 4 , haben wir keine besonderen Gründe, die Gültigkeit dieses Prinzips auf diesem Gebiet zu beschränken. Mehr noch, da die Organismen keine abgeschlossenen, sich im Gleichgewicht befindenden, 41

So ist nach Alexandrow die Fähigkeit des lebenden Stofies auf durchaus verschiedenen Einwirkungen mit Veränderungen zu antworten, die nach Richtung und Charakter ähnlich sind, eine spezifische Besonderheit der lebenden Materie ( W . J. Alexandrow, Das Spezifische und das Nichtspezifische in der Reaktion der Zelle auf beschädigende Einwirkungen, Arbeiten des Instituts für Zytologie, Histologie und Embryologie der Akad. d. Wiss. d. UdSSR, Bd. III, Nr. 1, 1948 [russ.], zit. nach Bakardshiewa, S. 107). 42 B. Tomaschek, Grimsehls Lehrbuch der Physik, Bd. I, Leipzig—Berlin 1940, §93; B. W. Nekrassow, Lehrgang der allgemeinen Chemie, 1948, S. 136 (russ.); A. A. Saukow, Geochemie, 1950, S. 195—196 (russ.). 43 P. Epstein, Lehrgang der Thermodynamik, OGIS 1948, Kap. XXI (russ.); Vgl. auch A. O. Samojlowitsch, § 34. 44 Gelegentlich wird hervorgehoben, daß das Leben der Tendenz der Entropiezunahme entgegensteht (Helmholtz, Auerbach, Wernadsky, u. a.), daß es negative Entropie erzeugt (Schrödinger), aber dies ist nur der Fall, wenn der Organismus außerhalb der Umwelt betrachtet wird, während für das System Organismus-Umwelt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gilt. Also verletzen die lebenden Organismen dieses Gesetz nicht (vgl. P. P. Lasärew, Die gegenwärtigen Probleme der Biophysik, Kap. VI, § 28, Werke, Bd. II, Moskau 1950, S. 251 (russ.); W. Bladergroen, Physikalische Chemie in Medizin und Biologie, 1949, Kap. XIII; I. Prigogine, Bull. Acad. Roy. Belg. Cl. Sc. (5) 31 (1945), 600; S. B. de Groot, Thermodynamics of Irreversible Processes, Amsterdam 1952, § 77. 300

sondern stationäre Systeme darstellen 45 , die äußere Einwirkungen erfahren, ist es vielmehr am Platze, eben das Prinzip von Le Chatelier anzuwenden, welches sich auf das Verhalten der Systeme bei äußeren Einwirkungen bezieht. b) Es gibt uns die Möglichkeit, den Anpassungsprozeß als Einheit und Kampf der Gegensätze — Nachgiebigkeit und Widerstehen — gegenüber den Einwirkungen zu verstehen. Wäre das nicht der Fall, so könnten wir nicht die relative Stabilität der Organismen gegenüber den äußeren Einwirkungen und das Herstellen von neuen Gleichgewichtszuständen erklären (dann wäre der Gleichgewichtszustand überhaupt unmöglich und die Veränderung der Systeme hätte zu ihrer Zerstörung geführt). Als Spezifik dieses Prozesses der lebenden Materie könnte man einen Ubergang von den unmittelbaren zu den vermittelten Reaktionen, der Gleichgewichtseinstellung feststellen. 4 6 Diese Frage könnte man auch im Zusammenhang mit dem Problem der Stabilität betrachten. Wesentlich ist der Fall der stationären insbesondere harmonischen (zyklischen) Stabilität. Diese kann m a n als Einheit von Trägheit und Elastizität betrachten 47 45

46

47

L. Bertalanffy, Biophysik des Fließgleichgewichts, Braunschweig 1953; A. G. Passinski, Die Theorie der offenen Systeme und ihre Bedeutung für die Biochemie, Sowjetwissenschaft (Nat.) 10/1958; F. Jung, Zur Anwendung der Thermodynamik auf biologische und medizinische Probleme, Naturwiss. 43 (1956), H. 4, S. 73. Bei den Wechselwirkungen zwischen dem individuellen Objekt und der Umwelt können wir zwischen einer homogenen und einer heterogenen Gesamtheit unterscheiden. In einem homogenen Milieu erfährf jedes einzelne Element eine Veränderung unter der Einwirkung der Gesamtheit der übrigen Elemente, was zugleich eine Veränderung des Milieus bedeutet. Die Veränderungen des Milieus rufen neue Veränderungen der Elemente hervor, die ihrerseits das Milieu verändern usw. Im Resultat einer solchen Kette von Veränderungen gestalten sich die komplizierten heterogenen Formationen (vgl. T. Pawlow, Das Grundlegende in der Mitschurinschen Lehre, Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 229 [bulg.]). Vgl. B. A. Rosenfeld, Das Problem der Stabilität der Erscheinungen vom Standpunkt der Philosophie und der Mathematik aus, Utschenie sapiski Kolomenskogo Pedagogitscheskogo Instituta, Bd. II, ser. fis.-matem. Nr. I, Kolomna 1958, S. 39 (russ.). — Es fällt nicht schwer zu begreifen, daß 301

Rosenfeld macht auf die Bedeutung der Einheit dieser entgegengesetzten Eigenschaften aufmerksam. Wenn irgendeine von ihnen fehlen würde, so hätte sich die Energie, die vom anderen Teil ausgeht, im Raum zerstreut. Nur die Vereinigung dieser zwei Eigenschaften gewährleistet das Reproduzieren der Bewegung. Trotz der unrechtmäßigen Übertragung dieses Schemas auf die Klärung von biologischen und gesellschaftlichen Prozessen, die einen offensichtlich gekünstelten Charakter trägt471, ist für uns der Gedanke des Autors interessant, daß diese zwei Eigenschaften im System verschieden verteilt werden können: von der Polarisation auf zwei verschiedenen Objekten bis zum gegenseitigen Durchdringen, was zugleich mit einer Erhöhung der Stabilität verbunden ist.i7b Diese letzte Feststellung wäre in dem Sinne zu erweitern, daß dies verschiedene Evolutionsstadien sein können, nämlich einmal eine Erdwicklung in Richtung des gegenseitigen Durchdringens dieser Eigenschaften und zum anderen eine Erhöhung der Stabilität durch Differenzierung der Struktur des Systems.4* Ich habe auch früher den Gedanken geäußert, daß die Proto-Widerspiegelung eine komplexe Eigenschaft, eine Manifestation der Vereinigung einer Reihe anderer Eigenschaften von nichtadditivem Typus sein kann.49 Dazu möchte ich jetzt im Sinne des eben Gesagten — als einen Versuch der weiteren Konkretisierung — hinzufügen, daß in die Erscheinungen, die eine Trägheitsstabilität und keine Elastizitätsstabilität besitzen, und diejenigen, die elastische Stabilität und keine Trägheitsstabilit^t besitzen, ihren Eigenschaften nach entgegengesetzt sind. Die ersteren widerstehen den Veränderungen ihrer inneren Bewegung unter der Einwirkung von äußeren Kräften, die anderen widerstehen dieser Veränderung nicht. Nach dem Aufhören der Einwirkung der äußeren Kräfte bewahren die ersteren Erscheinungen die veränderte innere Bewegung, die anderen reproduzieren den früheren Charakter ihrer inneren Bewegung. 47b 47a B. Rosenfeld, S. 41. Ebenda, S. 43. 48 Beachtenswert in dieser Hinsicht ist die Feststellung, daß allen Lebenserscheinungen rhythmische Prozesse zugrunde liegen. (W. A. Pawlow, Eeizbarkeit und ihre Erscheinungsformen, Moskau 1954, S. 32 [russ.]). 49 A. Polikarow, Der dialektische Materialismus und die moderne Physik, S. 157.

302

dieser Hinsicht der eigenartigen Dislokation der genannten Eigenschaften eine wesentliche Rolle zukommen könnte.50 Dieser Umstand stellt nicht nur die untere Grenze jener anorganischen Systeme dar, bis auf welche die betreffende Eigenschaft zu suchen wäre. Diese Grenze ergibt sich aus der (in I I / l erörterten) Besonderheit dieser Prozesse, nämlich solche der Überregenerierung zu sein. Dazu gehören bestimmte katalytische Vorgänge, z. B. die mikroheterogenen (bei denen sich der Katalysator in kolloidalem Zustand befindet; hierher gehören auch diebiokatalytischen Prozesse). 51 Also ist die Proto-Widerspiegelung in verhältnismäßig komplizierten anorganischen Systemen zu suchen 52 , in denen komplizierte Wechselwirkungen von der Art bestimmter Typen der Autokatalyse stattfinden. Alle genannten Eigenschaften und Prozesse, in deren Einheit die Widerspiegelung zu suchen wäre, stehen in einem korrelativen Zusammenhang im Sinne des in Abschnitt III, 1 Gesagten. 60

Jetzt ist es bekannt, daß die Eigenschaft der Reizbarkeit bei den Eiweißkörpern mit ihrer komplizierten differenzierten Struktur, insbesondere mit den verschiedenen funktionellen reaktiven Gruppen, wie den Sulphhydrillen u. a. in der Zusammensetzung des Moleküls (insofern man von Molekül sprechen kann) verbunden ist. (Vgl. Ch. A. Koschtojanz, Die Eiweißkörper, der Stoffwechsel und die Nervenregulation, 1951, S. 91 [russ.]; W. 8. Tongur). 61 Handbuch der Katalyse, Bd. 1—7, Wien 1940—43; S. Berkman, J. C. Morrel, G. Mgloff, Catalysis Inorganic and Organic, Chicago 1940. Bemerkenswert ist, daß unabhängig von den Streitfragen die Bedeutung der Autokatalyse für die Lebensprozesse fast allgemein anerkannt ist. (Siehe A. Mittasch, Lebensproblem und Katalyse, 1. Bd.", Ulm/Donau, 1947; W. A. Engelhard, Fermentative und mechanische Eigenschaften des Muskeleiweißes, Uspechi sowremennoj biologii, Bd. 14, S. 177, 1941 [russ.]; A. E. Braunstein, Erfolge der biologischen Chemie, Sammelb. I 1950 [russ.]; A. I. Oparin, Die Entstehung des Lebens auf der Erde, Berlin 1957; A. S. Konikowa, M. O. Krizman, Zur Frage der ursprünglichen Erscheinungs form des Lebens, Woprossi fllosofli, 1954, Nr. 1 [russ.]; J. D. Iwanow, Die Biokatalyse — die dynamische Grundlage der Lebensprozesse, Filosofska Mysl, 1954, Nr. 1, [bulg.]). 62 Vgl. N. Wiener, A Machine wiser than its Maner, • Electronics, 26, Nr. 6, S. 374 (1953). 303

Auf die gestellte Frage können wir keine eindeutige Antwort geben. Heute wie vor 50 Jahren kann man mit den Worten Lenins sagen: „. . . in Wirklichkeit bleibt noch eingehend zu untersuchen, wie die angeblich durchaus nicht empfindende Materie mit einer Materie verbunden ist, die aus den gleichen Atomen (oder Elektronen) zusammengesetzt ist, zugleich aber eine klar ausgesprochene Fähigkeit des Empfindens besitzt".53 Wir haben gesehen, daß es bei der Lösung dieses komplizierten Problems notwendig ist, erstens neue empirische Tatsachen auszuwerten und zweitens die Merkmale der vermuteten Eigenschaft genauer zu präzisieren. Wenn unsere Ausführungen in diesem Sinne gewirkt haben, können wir die Aufgabe in diesem Beitrag als erfüllt betrachten. 63

W. I. Lenin, Materialismus u. Empiriokritizismus, S. 35.

DIE GANZHEIT LEBENDER SYSTEME UND PHILOSOPHISCHE DEUTUNG Rudolf Rochhausen

IHRE

(Leipzig)

„Es ist in der Tat wunderbar, daß aus . . . Teilvorgängen allein durch die besondere Art ihres Zusammenwirkens, also ohne einen in der Zelle lokalisierten Lenker, jenes Organische wächst, welches uns dem Geist so analog e r s c h e i n t . . . " schreibt Erwin Bünning in seinem Aufsatz „Der Lebensbegriff in der Physiologie". 1 Durch diese Formulierung wird ein Problem berührt, welches nach Needham und Bertalanffy das „Zentralrätsel der theoretischen Biologie" darstellt, nämlich das Problem der Organisation. Wie kommt es, daß die aus der Nahrung durch die Fermente freigesetzten Verbindungen den „richtigen Platz" im Organismus finden? Was ist das Prinzip der Selbststeuerung des Stoffwechsels? Was veranlaßt den Organismus mit einer Präzision ohnegleichen Formen zu entwickeln, die in ihrer Ganzheit eine Harmonie der Teile zeigen ? Die in diesen Fragen enthaltenen Probleme führten und führen immer wieder zu vitalistischen und holistischen Schlußfolgerungen. Selbst bei genauester Kenntnis der Einzelvorgänge im Organismus können diese Fragen auch nicht nur annähernd befriedigend beantwortet werden. Das muß selbst Max Hartmann zugeben, der die Analyse der Teile als die einzig mögliche wissenschaftliche Methode anerkennt. „Wir sind auch nach völliger Erklärung der Einzel Vorgänge vom vollen Verständnis des Gesamtstoffwechsels einer Zelle noch himmelweit entfernt", schreibt er. 1

E. Bünning, Der Lebensbegrifi in der Physiologie, Studium Generale 3/59, S. 131.

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Naturwissenschaft und Philosophie

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Die exakte Analyse der Teile ist zwar ein durchaus materialistisches Anliegen, denn es soll damit jede geistige bzw. immaterielle Wirkbrafb ausgeschlossen werden, stellt aber eine Vereinseitigung der Wirklichkeit dar und führt deshalb zum Irrationalismus und Agnostizismus — weil im organischen Geschehen scheinbar ein absolut unerkennbarer Rest übrig bleibt. Dieser „. . . irrationale Rest des Seins liegt außerhalb der Sphäre der Naturwissenschaft" 2 , schreibt Max Hartmann. Ganz im Sinne von Max Hartmann schreibt 0 . Koehler, daß das „. . . Ganze in seiner Mannigfaltigkeit . . . unübersehbar wie der Sternenhimmel" bleibe und daß in jedem Organismus deshalb ein „Moment" enthalten sei, den man nur als „irrational bezeichnen" könne.3 Es ist notwendig, die sich aus unseren Fragestellungen ergebenden entgegengesetzten Standpunkte kurz zu erläutern, nämlich den „Merismus" (fieqoq = Teil) und den „Holismus" (SXov = Ganzes). Die Holisten behaupten, daß das Ganze seinen Teilen gegenüber primär ist. Zuerst ist das Ganze, und das Ganze schafft sich seine Teile! Dadurch wird die Ganzheit zu einer mystischen immateriellen Erscheinung, der eine Schöpferkraft innewohnt. Es bleibt sich dabei gleich, ob das „Ganze" als immanenter Zweck der Erscheinung (Richard Woltereck — „ontische Zentren", J. Ch. Smuts — „Innerlichkeit des Feldes", Bernhard Dürken — „primäre Ganzheit", dem System immanent)4, oder auch als ihr „transzendentes Ziel" aufgefaßt wird, dem sie sich annähert, ohne es jemals vollkommen erreichen zu können (Gustav Wolff, Oscar Feyerabend, Aloys Wenzl).6 Die Meristen dagegen betonen den Primat der Teile. Die Teile ergeben in ihrer Summe das Ganze, und das Ganze wird durch seine Teile erklärt. 2 3 4

6

Max Hartmann, Biologie und Philosophie, Berlin 1925, S. 16. O. Koehler, Das Ganzheitsproblem in der Biologie, Halle 1933, S. 196. Bernhard Dürken, Entwicklungsbiologie und Ganzheit, Leipzig/Berlin 1936. J. Ch. Smuts, Die holistische Welt, Berlin 1938. Richard Woltereck, Ontologie des Lebendigen, Stuttgart 1940. Oscar Feyerabend, Das organologisohe Weltbild, Tübingen 1956 Aloys Wenzl, Die philosophischen Grenzfragen der modernen Naturwissenschaft, Stuttgart 1954. Gustav Wolff, Leben und Erkennen, München 1933.

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„Das Ganze des lebenden Systems ist die Summe seiner spezifisch geordneten und spezifisch gearteten stofflichen und energetischen Teile"6, schreibt z. B. Feuerborn. Die spezifisch gearteten Teile bewirken nach dieser Auffassung die Veränderung des Ganzen, und das Ganze hat nicht den geringsten Einfluß auf diese spezifische Ordnung. Merismus und Holismus sind 'wiederum Ausdruck des alten Mechanizismus-Vitalismus-Streites. Dabei ist der Merismus nicht etwa einfach mit dem Mechanizismus gleichzusetzen bzw. der Holismus mit dem Vitalismus, obwohl die Mechanizisten zum größten Teil auch Meristen sind und die modernen Vitalisten holistisch denken. Der Mechanizismus reduziert das Lebensgeschehen auf anorganische Prozesse. Die Ganzheit des Organismus wird im Sinne einer Maschine gefaßt, deren Teile zwar genau aufeinander abgestimmt sind, sich aber nach den Gesetzen der Mechanik bzw. der Physik und Chemie oder neuerdings auch der Quantenmechanik bewegen. Ein Prinzip des Mechanizismus ist also die Reduzierung höherer bzw. komplizierterer Gesetze auf Gesetze einer niederen Bewegungsform der Materie. Der Vitalismus betont die Eigengesetzlichkeit des Lebens und zwar auf der Grundlage einer immateriellen Lebenskraft. Die bürgerlichen Naturphilosophen versuchen die Grundfrage der Philosophie — die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein, von Bewußtsein und Materie — dadurch zu verschleiern, daß sie den Mechanizismus-Vitalismus-Streit mit dem Kampf zwischen Materialismus und Idealismus gleichsetzen. In der Vergangenheit war tatsächlich in der Organik die Problematik dieser entgegengesetzten Standpunkte ein Ausdruck des Kampfes zwischen Materialismus und Idealismus. Mechanizismus und mechanischer Materialismus waren zwei Begriffe für ein und dieselbe Sache. Da die Mechanik die erste vollausgebaute Naturwissenschaft darstellte — die industrielle Produktion brauchte Maschinen — so waren die mechanischen Gesetze genau bekannt, und die Zurückführung der Lebenserscheinungen auf mechanische Bewegungsformen und Gesetzmäßigkeiten war ein materialistischer Versuch, die Welt aus sich selbst 6

H. J. Feuerborn, Zum Begrifl der Ganzheit lebender Systeme — Die Naturwissenschaften, 1938, Heft 47, S. 764.

20*

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zu erklären und geistige bzw. seelische Kräfte aus der Natur auszuschalten. Die formale Anwendung der Mechanik auf die komplizierten organischen Systeme, wie sie z. B. von Descartes, Lamettrie und Holbach durchgeführt wurde, war ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der mystischen Lebenskrafttheorie. Mit aller Entschiedenheit lehnte z. B. Lamettrie die Seele als Lebensprinzip ab. Das ist das Positive des mechanischen Materialismus, daß er wissenschaftliches Denken in noch nicht erschlossene Naturbereiche eindringen läßt. Die weitere Entwicklung der Naturwissenschaften war verbunden mit der Erkenntnis immer komplizierterer Gesetzmäßigkeiten, welche eine exakte Abgrenzung qualitativ verschiedener Bewegungsformen der Materie ermöglichten. Die metaphysische Verabsolutierung einer Bewegungsform entspricht nicht der Wirklichkeit mit ihren qualitativ unterschiedlichen Bewegungsformen, ganz gleich, ob die mechanische, quantenphysikalische oder chemisch-physikalische Bewegung als Grundlage aller Erscheinungen angenommen wird. Schließlich ist feststellbar, daß bei allen späteren Mechanizisten idealistische Auffassungen immer mehr gegenüber den materialistischen dominieren. Der Irrationalismus Max Hartmanns und seiner Schüler wurde bereits genannt. Erwin Schrödinger vergöttlicht die Gesetze der Quantenmechanik.7 Geist und Materie sind nach Julian Huxley ,,. . . zwei Erscheinungsformen einer einzigen zugrunde liegenden Weltsubstanz". 8 Das heißt also, Geist und Materie sind gleichberechtigte Eigenschaften einer übergeordneten Erscheinung. Das ist eine Form des Dualismus, die in letzter Konsequenz zum Idealismus führt. Während der Vitalismus grundsätzlich idealistisch ist, sagt die mechanizistische Betrachtungsweise eines Autors noch nichts über dessen weltanschauliche Grundkonzeption aus. Sein Weltbild kann sowohl materialistische als auch idealistische Züge tragen. Damit bedeutet die Gleichsetzung des Mechanizismus-Vitalismus-Streites mit der Grundfrage der Philosophie eine Verwischung des qualitativen Unterschiedes zwischen Materialismus und Idealismus. Der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus vermag viel tiefgründiger die wissenschaffc7 8

Vgl. Erwin Schrödinger, Was ist Leben? München 1951, S. 121. Julian Huxley, Entfaltung des Lebens, Frankfurt a. M.—Hamburg 1954, S. 90ff.

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liehe Situation zu kennzeichnen als die Auseinandersetzung zwischen Vitalismus und Mechanizismus. Der Mechanizismus wird heute sowohl von den Idealisten als auch von den modernen Materialisten bekämpft. Dabei überwindet der moderne Materialismus — der dialektische Materialismus — sowohl den Vitalismus als auch den Mechanizismus. Das Ganzheitsproblem, in biologischer Sicht Viele Naturwissenschaftler verwenden den Begriff Ganzheit, ohne eine exakte naturwissenschaftliche Analyse dieser Erscheinung zu geben. Meist wird dieser Begriff nur zur Erklärung bestimmter Sachverhalte verwandt, für welche dem Mechanizismus einfach die Begriffe fehlen, wie z. B. „Ganzheitskausalität", „Systembedingtheit", „Rückkopplung" usw. Bleiben wir bei den Tatsachen. Eine Eigentümlichkeit der lebenden Systeme ist der Stoffwechsel. Er ist eines der wesentlichsten Merkmale der lebenden Eiweißkörper und ist einem ständigen Fließen vergleichbar. Dabei ist dieser „Fluß", dieser dauernde Aufbau aus Stoffen der Umwelt und der Abbau des Alten und Verbrauchten „. . . ein sich selbst vollziehender Prozeß", wie sich Engels ausdrückt, „der seinem Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den er nicht sein kann".» Das lebende System hält diesen Fluß selbst aktiv im Gang und existiert nur durch ihn. Somit ist der Organismus ein offenes Fließsystem, dessen biologische Prozesse sich selbsttätig im Gang halten und das beim Aufhören dieser zugrunde geht. Das Problem der „offenen Systeme", die als chemisch-physikalische Systeme auch in der abiotischen Natur vorkommen, wird sehr eingehend von Bertalanffy behandelt. Er bezeichnet ein System als abgeschlossen, „wenn keine Stoffe von außen in dasselbe ein- und noch solche aus ihm austreten", als offen, wenn eine „Ein- und Ausfuhr von Stoffen stattfindet". 10 9 10

Friedrich Engels, Anti-Dühring, Berlin 1948, S. 98. L. v. Bertalanffy, Biophysik des Fließgleichgewichts, Braunschweig 1953, S. 11.

309

Die Auffassung A. G. Passynskis, der sich auch Oparin anschließt, ist folgende: „Ein beliebiges begrenztes System kann hinsichtlich seiner Beziehung zum umgebenden Medium: 1. zu den offenen Systemen gerechnet werden, wenn in ihm ein Stoff- und Energieaustausch mit dem Medium stattfindet; 2. zu den geschlossenen Systemen, wenn der Austausch auf die Energie beschränkt ist (z. B. auf den Wärmeübergang), Wenn ein Stoffaustausch aber fehlt, und 3. zu den isolierten Systemen, wenn das System mit dem Medium weder Stoff noch Energie austauscht . . . Die letzten beiden Arten von Systemen kann man als abgeschlossen bezeichnen.''11 Die unbelebten offenen Systeme sind die kompliziertesten Systeme der abiotischen Materie. Sie bilden nach Oparin die Voraussetzung für die lebenden Systeme. Die Evolution der Materie in Richtung der lebenden Organismen konnte nur auf Grund der Wechselwirkung der Systeme mit der Umwelt vor sich gehen, und die intensivste Wechselwirkung wird durch die offenen Systeme ermöglicht. Diese Systeme haben sich sowohl in räumlicher Hinsicht — d. h. im Hinblick auf ihren strukturellen Aufbau — als auch in zeitlicher Hinsicht — d. h. im Hinblick auf die Koordination des Ablaufs der Reaktionen — immer weiter vervollkommnet. In das offene System treten ununterbrochen Stoffe ein, und die im System entstehenden chemischen Verbindungen werden wieder an die Umwelt abgegeben. Das gilt auch für die chemischen offenen Systeme. Der biologische Stoffwechsel ist aber eine gesetzmäßige Ordnung von Prozessen, die für die Existenz eines jeden lebenden Systems obligatorische Bedingung ist. Die Substitutionsreaktionen abiotischer Systeme hingegen sind rein chemische Vorgänge, bei denen zwei Moleküle organischer Stoffe oder sogar anorganischer Salze Atomgruppen austauschen. Solche chemischen Reaktionen sind für die Existenz des Eiweißmoleküls nicht unbedingt notwendig. Zwischen den chemischen Reaktionen und den biologischen Prozessen und ihren Gesetzmäßigkeiten besteht demnach ein qualitativer Unterschied. Das heißt 11

A. G. Paaaynahi, Die Theorie der offenen Systeme und ihre Bedeutung für die Biochemie, Sowjetwissenschaft, Naturwissensch. Abteilung 10/1958, S. 1032.

310

natürlich nicht, daß die chemisch-physikalischen Untersuchungen in der Biologie keine Bedeutung haben. Im Gegenteil, sie gehören zum System der ganzheitlichen Untersuchungen der Lebensprozesse. G.M.Frank schreibt: „Mkn muß sie (die chemisch-physikalischen Untersuchungen d. Verf.) begreifen als organische Glieder der Biologie, die als ein Mittel zur tieferen Aufdeckung gerade der Besonderheiten der Lebenserscheinungen gebraucht werden."12 Während so eine Strömung von Stoff und Energie den Organismus durchzieht, setzt eine ununterbrochene Erneuerung der Baustoffe ein, welche dem Organismus erlauben, die Funktionen seiner Organe, Organteile, Zellen usw. zu erhalten. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen einmaligen Aufbau, sondern um einen ständigen Wiederaufbau, denn dem aufbauenden Prozeß entspricht der Abbau. Stoffwechsel ist also wesentlich die Erhaltung des organischen Systems in einem Zustand des „Fließgleichgewichts". Das lebende System erhält sich in einem stationären Zustand nicht deshalb konstant, weil sich seine freie Energie im Minimum befindet — wie das z. B. beim thermodynamischen Gleichgewicht der Fall ist — sondern deshalb, weil es dauernd Stoff und Energie aus der Umwelt erhält, die den Verlust wieder ausgleichen. „Das System 'ernährt' sich also mit freier Energie auf Rechnung der Außenwelt . . ." 13 , schreibt Oparin. Die Theorie vom „Fließgleichgewicht", die im wesentlichen von Bertalanffy erarbeitet wurde, wird von den meisten Biologen anerkannt. Bernhard Rensch schreibt: „Die Konstanz der Organismen kommt . . . nur durch ein 'Fließgleichgewicht' zustande."14 Felix Mainx weist daraufhin, daß sich der Organismus „unter dem Einfluß seiner inneren und äußeren Existenzbedingungen" in einem „Fließgleichgewicht" befindet.16 Ähnliche Gedanken äußern auch 12

13 14

15

Q. M. Frank u. W. A. Engelhardt, Über die Rolle der Physik und Chemie bei der Erforschung biologischer Prozesse, Referate der Allunionskonferenz, Moskau 1957, S. 6. A. J. Oparin, Die Entstehung des Lebens auf der Erde, Berlin 1957, S. 275. Bernhard Rensch, Evolution als Eigenschaft des Lebendigen, Studium Generale 3/1959, S. 153. Felix Mainx, Der Organismus als genetisches System, Studium Generale 3/1959, S. 148.

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Lotze und Sihler.1® Oparin betont, daß das Protoplasma „kein statisches, sondern ein stationäres oder fließendes System" ist. 17 Das harmonische Zusammenwirken der Teile kommt im Organismus besonders deutlich zum Ausdruck. Jeder einzelne Teilvorgang zeigt, um mit Erwin Bünning zu sprechen, ,,daß er aus einem schier unglaublich. verwickelten harmonischen Ineinanderwirken zahlreicher Teilvorgänge besteht . . ." 18 Die Existenz des ganzen Systems ist abhängig von diesem „Netz" der sich in ihm vollziehenden biochemischen Reaktionen. Dieses geordnete Netz des zeitlichen Ablaufs der biochemischen Reaktionen erhält die Spezifik des Gesamtsystems im Wechsel seiner Bestandteile. Das System ist zwar in jedem Augenblick stofflich gesehen ein anderes, bleibt aber auf der Grundlage des zeitlich geordneten Ablaufs seiner spezifischen Reaktionen immer das gleiche Individuum. Bildlich ausgedrückt: der Stoff fließt durch bestimmte zeitlich festgelegte Bahnen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, so daß eine spezifische Gestalt des Gebildes entsteht. Aber auch diese Gestalt ändert sich im Lebensprozeß des Gesamtorganismus in einem ganz bestimmten Rhythmus gesetzmäßiger Prozesse — beginnend mit dem Keim und endend mit dem Tod des Individuums. Gerade die Zeitlichkeit des Ablaufs der Reaktionen, des Stoffwechsels der Organe und des Gesamtorganismus mit der Umwelt, zeigt, daß der Lebensprozeß kein rein innerer, im Organismus sich selbst vollziehender ist, sondern daß er vielmehr über diesen hinausgeht und eine Verbindung mit der umgebenden Natur herstellt. Der Organismus wirkt auf seine Umwelt ein und die Umwelt verändert wiederum den Organismus. Außenwelt und Organismus bilden also eine Ganzheit besonderer Art. Der Organismus ist Teil einer umfassenderen Ganzheit, genauso wie die Organe Teile des Gesamtorganismus sind. Dieses Wechselverhältnis Organismus-Umwelt ist genauer zu verfolgen, wenn man nicht von den zeitlich begrenzten Ablauf des Einzelindividuums ausgeht, sondern dieses als Teil seiner Art betrachtet. 16 17 18

LotzejSihler, Das Weltbild der Naturwissenschaften, Stuttgart 1954, S. 359. A. J. Oparin, Die Entstehung des Lebens auf der Erde, S. 273. E. Bünning, Der Lebensbegrifi in der Physiologie, Studium Generale 3/1959, S. 132.

312

Das Leben der Axt ist die Bewegungsform eines organischen Systems höherer Ordnung, d. h., es ist dem Leben des Individuums übergeordnet. Die Art bildet ein System selbsttätiger Teilprozesse, aktiver Selbsterhaltung und Regulation, dargestellt durch die innerartlichen Wechselbeziehungen. Das Leben des Individuums erlischt, wird aufgehoben im Leben der Art. Während der Organismus ständig seine Strukturbestandteile erneuert, besteht die Selbsterneuerung der Art in einer dauernden Neubildung vollständiger Organismen und im Absterben alter Organismen. Bei der Erklärung der Wechselwirkung Art-Umwelt wird von einigen Biologen die Kybernetik in Analogie zur Biologie herangezogen (P. K. Anochin, S. L. Sobolew, C. M. Frank, W. A. Engelhardt, 1.1. Schmalhausen, u. a.). 19 Die durch die widersprüchlichen Beziehungen zwischen einer Art und ihrer Umwelt existierende Ganzzeit kann nämlich mit einem automatisch gesteuerten kybernetischen System verglichen werden. Dabei würde die Organismenart dem „gesteuerten Objekt" entsprechen. Der „Regulator" würde durch die Umwelt dargestellt, in welcher die jeweilige Art lebt. Er braucht wiederum zur Steuerung „Kanäle mit direkter Verbindung" zum „gesteuerten Objekt", das wären die Steuerungssignale von der Umwelt, welche auf die Zusammensetzung der in ihr lebenden Art Einfluß haben. Schließlich werden Kanäle für die Rückkopplung benötigt, die den Regulator über den Zustand des gesteuerten Objekts informieren — ihnen entsprächen die Signale, die von der Art ausgehend wiederum die Umwelt beeinflussen. Ein kybernetischer Mechanismus kann also die komplizierte Wechselwirkung zwischen einer Art und ihrer Umwelt „nachahmen". 19

P. K. Anochin, Physiologie und Kybernetik, Sowjetwissenschaft, Naturwissenschaft!. Abteilung 5/1958. S. L. Sobolew, A. A. Ljapunow, Die Kybernetik und die Naturwissenschaften, in: Zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften, Referate der Allunionskonferenz, Moskau 1957. O. M. Frank, W. A. Engelhardt, Über die Rolle der Physik und Chemie bei der Erforschung biologischer Prozesse. 1.1. Schmalhausen, Die Steuerungsmechanismen des Evolutionsprozesses, Sowjetwissenschaft, Naturwissenschaft!. Abteilung 2/1959.

313

Der Steuerungseinfluß der Umwelt bedingt die erblichen Besonderheiten der jungen Generation. Diese „direkte Verbindung" ist die sogenannte „Informationsübergabe des Mediums an die A r t " . Die Rückkopplung besteht nun in der Einwirkung jedes einzelnen Individuums auf das äußere Milieu (Regulator). Die Gesamtheit dieser Rückinformationen werden vom Regulator wieder in Steuerungssignale umgewandelt. Die Informationstheorie in Analogie zur Biologie führt zu einer ganzen Reihe von Erkenntnissen. Die Organismen, die von ihrer Umwelt eine Serie von „Botschaften" erhalten (d. h. durch den Stoffwechsel bestimmten Umwelteinflüssen ausgesetzt werden), reagieren auf diese Bötschaften nicht chaotisch. In einer Reihe von vorhergehenden Generationen haben sie bereits bestimmte Umwelteinwirkungen durch den Stoffwechsel „überprüft", und diese Einwirkungen sind in den Erbanlagen konzentriert. Während seines individuellen Lebens „assimiliert" der Organismus durch den Stoffwechselprozeß Veränderungen der Umwelt, die ebenfalls ihren Niederschlag in den Erbanlagen finden. Er wird auf diese Veränderungen — eben auf Grund seiner über Generationen erfolgenden Anpassungen und der damit in seinen Erbanlagen konzentrierten „Erfahrungen" (nicht psychologisch zu verstehen, sondern nur als Vergleich gebraucht!) — nicht absolut willkürlich, sondern aktiv mit gerichteten Reaktionen „antworten" 20 . Der Organismus als Ganzes ist also eine historische Erscheinung, welche im, Laufe der Generationen durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt ,¡Erfahrungen" gesammelt hat, die ihr gestatten, das Reaktionsnetz ihrer Teile von der „Organisation des Systems im Ganzen" so zu bestimmen, daß eine höchstmögliche Anpassung an die Umwelt erfolgt. Da alle Organismen der Art diesen veränderten Umweltbedingungen ausgesetzt sind, wird eine gewisse Anzahl unterschiedlicher „Antworten" vorliegen. Die für den Organismus „zweckmäßigsten" Anpassungen haben die meiste Aussicht, die Art als Ganzes weiter voranzubringen. Die Entwicklung des Zweckmäßigen in der organischen Natur ist also ein naturhistorischer gesetzmäßiger Prozeß, der auf der Grundlage einer komplizierten Wechselwirkung der Organismen mit 20

Siehe auch I. T. Frolow, Über die Zweckmäßigkeit in der organischen Welt, Sowjetwissenschaft, Naturwissenschaft!. Abteilung 9/1958, S. 930.

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ihrer Umwelt vor sich geht. Die für einen Organismus zweckmäßigen Erbänderungen haben sich allmählich als außerordentlich komplizierte Ergebnisse der Entwicklungsgeschichte einer langen Reihe von Vorfahren, unter Mitwirkung gerichteter Veränderungen und der regulierenden Wirkung der Zuchtwahl herausgebildet.

Philosophische

Bedeutung

der Beziehung

Ganzheit—Teil

Aus den naturwissenschaftlichen Fakten ergeben sich folgende Verallgemeinerungen : Das „geordnete Netz" des zeitlichen Ablaufs der spezifischen Reaktionen innerhalb des Organismus erhält die Spezifik des Gesamtsystems im Wechsel seiner Bestandteile. Damit wird durch das komplizierte Zusammenwirken der Teile des Organismus das Wirken des Gesamtsystems bestimmt. Aber der Organismus ist auch eine historische Erscheinung, welche durch ihre Auseinandersetzung mit der Umwelt „Erfahrungen" gesammelt hat und deshalb auch als Ganzes die Prozesse ihrer Teile reguliert. Oparin faßt diese Tatsachen folgendermaßen zusammen: „ . . . die Existenz des Systems" hing ab „von einem Netz der sich in ihm vollziehenden Reaktionen und umgekehrt wurde das Netz selbst bestimmt von der Organisation des Systems im Ganzen". 2 1 Außerdem ist der Organismus seinen Organen gegenüber ein umfassenderes System, genauso wie die Art ein umfassenderes System gegenüber dem individuellen Organismus ist und die Umwelt wiederum gegenüber der Art. Ein System kann also Glied eines umfassenderen Systems sein. Das sind alles bereits Verallgemeinerungen, die in die philosophische Problematik hineinreichen. Den Formulierungen der Klassiker des Marxismus zum Ganzheitsproblem ist folgendes zu entnehmen: 1. Die Teile bedingen durch ihre gegenseitige Einwirkung das Wirken des Ganzen. Sie besitzen innerhalb des Ganzen Selbständigkeit, 11

A. J. Oparin, Das Problem der Entstehung des Lebens im Lichte der Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften, Referate der Allunionskonferenz . . ., Moskau 1957, S. 9.

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denn ein Aufeinanderwirken und eine wechselseitige Beeinflussung kann nur zwischen selbständigen Gebilden stattfinden. 22 2. Die Teile werden wiederum erst durch ihr Zusammenwirken im Ganzen durch ihre widersprüchlichen Beziehungen untereinander zu dem, was sie sind. Wird z. B. in einem Organismus ein Organ — also ein Teil isoliert, aus diesem Zusammenhang herausgerissen, dann stirbt es in absehbarer Zeit ab, d. h., mit seiner Isolierung hört es auf, Teil des Organismus zu sein. „Die vom Körper losgetrennte Hand ist nur dem Namen nach eine Hand . . .", schreibt Lenin. 23 Die Beziehung Ganzheit-Teil spiegelt also einmal die Erscheinung einer quantitativen Anhäufung von Teilprozessen wider — die Teilprozesse bestimmen das Wirken des Ganzen — in diesem Falle ist das Ganze Summe, bzw. Vollzähligkeit seiner Teile, zum andern wird durch diese Beziehung das Verhältnis einer Funktionseinheit zu ihren Gliedern ausgedrückt. Beide Verhältnisse existieren in der objektiven Realität. Es ist deshalb empfehlenswert, die Beziehung Ganzheit—Teil philosophisch nach diesen beiden Gesichtspunkten zu konkretisieren, und zwar: 1. in die quantitative Beziehung Teil-Aggregat und 2. in die qualitative Glied -Systemeinheit 22

23 24

Die Bewegung des individuellen Kapitels ist z. B. für Karl Marx die Bewegung „. . . eines verselbständigten Teils des gesellschaftlichen Kapitals". Auf der anderen Seite verschlingen sich aber die Kreisläufe der individuellen Kapitale setzen sich voraus und bedingen einander, und bilden gerade in dieser Verschlingung die Bewegung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals". K. Marx, Das Kapital, Bd. 2, Berlin 1951, S. 355. Nach K. Marx ist demnach die Ganzheit nicht aus der Summe ihrer Teilprozesse zu erklären, sie ist vielmehr dem Komplex der Teile gegenüber eine andere Qualität. - Vgl. auch S. 352/353. W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 123. Nicolai Hartmann unterscheidet einmal zwischen Ganzheit — Teil im Sinne einer quantitativen Beziehung und zwischen Gefüge und Element im Sinne einer Beziehung zwischen einem dynamischen Gefüge und seinen Kraftbzw. Prozeßkomponenten. Er begeht dabei den Fehler, beide absolut einander gegenüberzustellen. — Vgl. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, Meisenheim am Glan 1949, S. 329£E.

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In der objektiven Realität gibt es weder absolutefAggregate noch absolute Systemeinheiten, sondern eine jede Erscheinung ist sowohl Aggregat als auch Systemeinheit, d. h. beide Beziehungen sind 'wirksam. Als Aggregat bezeichnen wir die Gebilde, bei denen die quantitativen Beziehungen überwiegen — z. B. Sandkörnchen, Feldsteine usw. Ein Sandkorn ist durch Zerreibung gröberen Gesteins entstanden und die Kräfte, die seine Form hervorbrachten, stammen von anderen Gefügen. Ein abgerundeter Feldstein unserer heimatlichen Gefilde hat seine Gestalt durch das Reiben des Eises gewaltiger Gletscher der Eiszeit erhalten. Weder seine Gestalt noch seine Struktur ist das Werk des eigenen Gefüges. Es gibt aber auch Erscheinungen, die nicht nur Produkte anderer Gebilde sind. Ihre Struktur ist das Ergebnis eines gerichteten Entwicklungsprozesses der Materie, der von weniger komplizierten Materieformen zu komplizierteren führt. Solche Gebilde, bei denen die qualitativen Beziehungen überwiegen, wie z. B. die Elementarteilchen, die Atome und Moleküle, alle Kristalle, die Erde, die Planetensysteme und Galaxien, Pflanzen und Tiere und schließlich der Mensch und die Gesellschaft, kennzeichnen wir als Systemeinheiten. Wenn auch die quantitativen Beziehungen im Aggregat überwiegen, so sind doch die qualitativen ebenfalls wirksam. So bestehen z. B. die Aggregate aus echten Systemeinheiten, nämlich den Molekülen. Die Moleküle eines bestimmten Elementes gleichen keinesfalls gleichförmigen Bausteinen. Um die Moleküle relativ gegeneinander zu verschieben, ist bei den festen Aggregaten eine gewisse Arbeit notwendig. Die Verkleinerung der Distanz ruft eine abstoßende Wirkung hervor, die Vergrößerung hingegen eine anziehende; in den normalen Distanzen herrscht zwischen beiden „Kräften" Gleichgewicht. Alles das weist daraufhin, daß zwischen den Molekülen Beziehungen vorhanden sind, die nicht auf ihrer bloßen Summierung beruhen. Umgekehrt gilt auch für das System die quantitative Abhängigkeit von den Gliedern. Die Selbständigkeit des Systems geht nämlich nicht so weit, daß beliebig viele Glieder entfernt werden können. Eine Veränderung der für ein System wesentlichen Glieder kann zu einer grundlegenden Veränderung des Systems führen, ja kann sogar seine 317

Auflösung bedeuten. Die Anzahl der Glieder bestimäit also auch die Systemeinheit. Damit bildet eine jede Erscheinung eine Einheit quantitativer und qualitativer Beziehungen. Da die Glieder eines Systems untereinander und gegenüber dem Gesamtsystem in •widersprüchlichen Beziehungen stehen, müssen sie Unterschiede aufweisen und eine gewisse Selbständigkeit besitzen. Ohne relative Selbständigkeit kann es zwischen ihnen keine gegenseitigen Einwirkungen geben, denn diese setzen Selbständigkeit voraus. Die widersprüchlichen Wechselwirkungen relativ selbständiger Glieder bedingen die qualitativ andere Gesamtwirkung des ganzen Systems. Folglich ist die relative Selbständigkeit des Systems gegenüber seinen Gliedern bedingt durch die relative Selbständigkeit der Glieder, die demnach selbst untergeordnete Systemeinheiten darstellen. Die von uns betrachtete Systemeinheit — z. B. ein tierischer Organismus — steht wiederum in Wechselwirkung mit anderen relativ selbständigen Systemeinheiten und ist deshalb Glied einer umfassenderen Systemeinheit — z. B. einer bestimmten Variation bzw. Art. Diese Art wiederum steht in Wechselwirkung mit den relativ selbständigen Systemen der Umwelt. Es ergibt sich also ein Stufenbau relativ selbständiger Systemeinheiten von den Elementareinheiten der Materie bis zu den kompliziertesten organischen bzw. gesellschaftlichen Systemen, ja über die Galaxis bis zum Universum. Das unendliche Weltall bildet schließlich einen oberen Abschluß aller Systeme. Das Universum ist ebenfalls Ganzheit aber nicht im Sinne einer sich entwickelnden Systemeinheit. Da es räumlich und zeitlich unbegrenzt ist, kann es kein „Worin" geben, in dem es sich entwickeln könnte. Die qualitativ komplizierteren Systemeinheiten entstehen durch das Zusammentreffen einfacherer Système. Dieses quantitative Aneinanderfügen führt zur Herausbildung neuer widersprüchlicher Beziehungen, die den Komponenten an sich auch nicht teilweise zukommen. Quantitative Beziehungen schlagen in qualitative um — und da die entstandenen qualitativ neuen Systeme Glieder umfassenderer Systeme sind — schlägt Qualität wieder in Quantität um. Es hieße die Dialektik zwischen Teil und Ganzem mißverstehen, wollte man absolut von einem Primat der Teile oder von einem Primat des Ganzen sprechen. Sowohl der Merismus als auch der Holismus er318

weisen sich als metaphysische Vereinseitigungen der Wirklichkeit, weil sie jeweils eine der beiden Beziehungen zwischen Ganzheit und Teil verabsolutieren. Je nachdem, welche der beiden objektiven Beziehungen untersucht werden, muß man entweder den Teilen oder dem Ganzen mehr Beachtung schenken. Dabei ist der Systemcharakter der Erscheinungen außerordentlich unterschiedlich, d. h., die qualitative Beziehung Systemeinheit-Glied ist mehr oder weniger stark ausgeprägt. So ist z. B. bei den organischen Systemen, die sich im Resultat der Anpassung und der damit verbundenen Auslese entwickelt haben, mit der Organisationshöhe eine immer ausgeprägtere Differenzierung der Glieder und eine sich damit vertiefende Integration, d. h. eine Verstärkung der funktionellen Abhängigkeit der Organe, feststellbar. Der Systemcharakter der Organismen nimmt also mit wachsender Organisationshöhe zu. Wir wollen das bisher Gesagte zusammenfassen: 1. Es ist zu empfehlen, die Beziehung Ganzheit-Teil in qualitativer und in quantitativer Hinsicht zu konkretisieren, und zwar: in die quantitative Beziehung Teil-Aggregat und in die qualitative Glied-Systemeinheit. In der objektiven Realität gibt es weder absolute Aggregate noch absolute Systemeinheiten, sondern jede Erscheinung ist sowohl Aggregat als auch Systemeinheit — d. h., sie ist einmal ein Gefüge relativ selbständiger Teile und zum anderen ein System, welches als Ganzes die Funktion seiner Glieder bestimmt. 2. Die Spezifik des Systems gegenüber dem Aggregat ist in dem Überwiegen der qualitativen Beziehung Systemeinheit-Glied und der daraus resultierenden relativen Selbständigkeit des Systems gegenüber seinen Gliedern begründet. Die Bedeutung der Glieder besteht in ihrer Funktion, d. h. in ihrer widersprüchlichen Wechselbeziehung untereinander und zur Systemeinheit. Die Voraussetzung dieser Wechselwirkung ist wiederum die relative Selbständigkeit aller Teile des Systems. 3. Im Aggregat überwiegt der quantitative Charakter, d. h. die Summe, die Vollzähligkeit und Vollständigkeit der Teile. Diese Vollzähligkeit der Teile verschwindet, wenn ein Teil entfernt wird. 4. Die Glieder einer Systemeinheit können wiederum Systemeinheiten, und eine Systemeinheit kann Glied einer umfassenderen Systemeinheit sein. 319

Viele hervorragende Naturwissenschaftler der Vergangenheit und der Gegenwart haben diese enge Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen erkannt. So schreibt z . B . Charles Darwin: „Alle Teile der Organisation hängen in gewisser Ausdehnung miteinander zusammen oder stehen in Korrelation . . . denn wenn ein Teil durch fortgesetzte Zuchtwahl modifiziert wird, entweder durch den Menschen oder im Naturzustand, so werden andere Teile der Organisation unvermeidlich mit modifiziert." 2 5 Gegen die holistische Psychologie eines Ehrenfels wendet sich Pawlow, der sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Beziehungen zwischen einer Ganzheit und ihren Teilen richtig erkennt. In seiner Polemik gegen Pi6rron (einem Pariser Psychologen — Anhänger des Ehrenfels'schen Holismus), der erstaunt war, daß Pawlow einmal von einem Mosaik der Großhirnhemisphären und zum anderen von einem „dynamischen System" sprach — schreibt er: „Übermittelt ihm, er möge nur eine Seite organische Chemie aufschlagen und die Abbildung irgend einer Verbindung betrachten. Dann wird er einerseits ein Mosaik sehen: Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, und andererseits sind sie miteinander verbunden und bilden ein dynamisches System." 2 6 Auch Max Planck erkennt die Widersprüchlichkeit der Beziehung Ganzheit-Teil. Er schreibt: „Sie (die neuere Physik — R. R.) hat uns gelehrt, daß man dem Wesen eines Gebildes nicht auf die Spur kommt, wenn man es immer weiter in seine Bestandteile zerlegt und dann jeden Bestandteil einzeln studiert, da bei einem solchen Verfahren oft wesentliche Eigenschaften des Gebildes verloren gehen. Man muß vielmehr stets auch das Ganze betrachten und auf den Zusammenhang der einzelnen Teile achten . . . Stets ist das Ganze noch etwas anderes als die Summe der einzelnen Teile . . ," 2 7 Die Systemeinheit Organismus-Umwelt hervorhebend schreibt A. J . Oparin: „Die Anwendung der Methode der markierten Atome in 26

Ch. Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation, Stuttgart 1910, S. 364/365. 26 I. P. Pawlow, Ausgewählte Werke, Berlin 1953, S. 421. " Max Planck, Wege zur physikalischen Erkenntnis, Reden und Vorträge, Leipzig 1944, S. 271.

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biochemischen und physiologischen Untersuchungen zeigte . . . daß sich alle Stoffe des lebenden Körpers, alle seine Eiweiße, Nucleinsäuren, Lipoide usw. im Verlauf sehr kurzer Zeitabstände erneuern, daß sich das materielle Substrat des Lebens in ununterbrochenem Austausch mit dem umgebenden Medium befindet . . . So fand das Mitschurinsche Prinzip von der Einheit des Organismus mit seiner Umwelt, d. h. die These, daß man das Lebewesen nicht isoliert von dem umgebenden Medium, ohne diese Einheit betrachten darf, seine volle Bestätigung." 28 An anderer Stelle schreibt er, daß Organe nur entstehen, bzw. sich entwickeln können auf ,,. . . der Grundlage der evolutionären Entwicklung des ganzen Organismus als eines einheitlichen Ganzen".29 In unserer naturwissenschaftlichen Darstellung gebrauchten wir den Begriff eines „geordneten Netzes biochemischer Reaktionen". Dieses Netz soll die Spezifik des Gesamtsystems im Wechsel seiner Bestandteile erhalten. Die im Protoplasma sich vollziehenden biochemischen Reaktionen, die nach zehn- und hunderttausenden zählen und die in ihrer Gesamtheit den Stoffwechsel darstellen, verlaufen in gut „eingefahrenen Bahnen", sind zeitlich streng aufeinander abgestimmt und stellen eine ständige Selbstreproduktion des Ganzen dar. Es erscheint so, als verwirklichten sie ein einheitliches Ziel, nämlich die ständige Selbsterhaltung und Autoreproduktion des Systems als Ganzes. Jiier setzen die teleologisch-vitalistischen Theorien bürgerlicher Naturphilosophen an. Diesen geordneten Ablauf der Prozesse können sie nicht ohne ein gestaltendes und aufbauendes geistiges Prinzip erklären, welches ein „objektives Ziel" verwirklicht. In Wirklichkeit ist diese zeitliche Ordnung ein Produkt der Anpassung an die Umwelt. Dieses fahrplanmäßige Nacheinander der Prozesse stellt die zeitliche Ganzheit des Systems dar. Die offenen Fließsysteme sind also raumzeitliche Ganzheiten in dem Sinne, daß neben der räumlichen Lage und der gegenseitigen Beeinflussung der Glieder (Organsysteme, Organe, Gewebe, Zellen usw.) noch ein gesetzmäßiger Ablauf zeitlich nacheinander folgender streng 28 29

21

A. J . Oparin, Die Entstehung des Lebens auf der Erde, S. 274. A. J . Oparin, Das Problem der Entstehung des Lebens, S. 6. Naturwissenschaft und Philosophie

321

koordinierter Prozesse vorhanden ist. Dieser Ablauf ist für jedes Fließsystem spezifisch und charakterisiert seinen individuellen Stoffwechsel. Der Systemcharakter des Ablaufs der Prozesse in seiner einzigartigen Harmonie ist nun nicht etwa Ausdruck einer geistigen Wirkkraft oder ein erstrebenswertes dem Organismus immanentes Ziel — sondern er ist entstanden im Prozeß der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt. Oparin versucht die natürlichen Faktoren zu ergründen, die für das gerichtete Nacheinander von Bedeutung sind. Um in der Umwelt bestehen zu können, mußten die biochemischen Prozesse mit hoher Geschwindigkeit ablaufen. Nur die Systeme erhielten sich, bei denen diese Prozesse mit größter Geschwindigkeit ausgelöst wurden, alle anderen gingen zugrunde. Die „natürliche Auslese" ist es also, die alle unvollständigen Kombinationen vernichtet und nur solche Systeme für die weitere Evolution übrig ließ, die ihre biologischen Funktionen am rationellsten ausübten. Sie ist demnach ein wichtiger Faktor für die dauernde Vervollkommnung des zeitlichen Nacheinander der komplizierten Reaktionszyklen. Ein weiterer Faktor, der z. B. die Reaktionsgeschwindigkeit der biologischen Prozesse erhöht, ist die katalytische Wirkung der Fermente. 30 Die Fermente sind Eiweißkörper, die nur im Organismus zu finden sind. Die Kombinationen ihrer Atomgruppen sind nicht zufällig entstanden, sondern ebenfalls ein Produkt der Auslese. Die Auslese ist damit die Ursache für das Entstehen der hochkomplizierten Fermente, die wiederum aktiv den Stoffwechselprozeß beschleunigen und damit die Anpassung des lebenden Systems an die Umwelt vervollkommnen. Vervollkommnung der Anpassung an die Umwelt bedeutet auch Vervollkommnung des aktiven Reagierens auf Veränderungen der Umwelt. Die Formbildung eines Organismus und seine Fähigkeit der Regeneration sind Beispiele des gerichteten Nacheinander und der Selbsterneuerung. Es gibt also noch eine ganze Reihe von Problemen, die gründlich erarbeitet werden müssen. Gerade der mit der „Ganzheit" zusammenhängende Problemkomplex — Zweckmäßigkeit, Organisiertheit, Widersprüchlichkeit, Widerspiegelung usw. — zeigt, daß weder die 30

Vgl. A. J. Oparin, Die Entstehung des Lebens . . ., S. 310.

322

Naturwissenschaftler, noch die Philosophen allein in der Lage sind, diese Probleme zu lösen. Nur eine wirkliche Gemeinschaftsarbeit zwischen Naturwissenschaftlern einerseits und marxistischen Philosophen mit gründlichen naturwissenschaftlichen Kenntnissen andererseits ermöglicht exakte und umfassende Resultate. In enger Wechselwirkung mit der Einzelwissenschaft zeigt der dialektische Materialismus den einzig möglichen Weg einer wissenschaftlichen Überwindung des Holismus und des Merismus — nämlich einen klaren und eindeutigen materialistischen Standpunkt, der keinerlei geistige Faktoren außerhalb des menschlichen Bewußtseins zuläßt und eine dialektische Methode, welche die Naturprozesse richtig widerspiegelt und diese verallgemeinernd die Erkenntnis erleichtert.

T H E O R E T I S C H E UND P R A K T I S C H E AUSWIRKUNGEN D E R L E H R E PAWLOWS IN D E R DDR Dietfried Müller-Hegemann

(Leipzig)

Bis zum Jahre 1950 hat die Lehre Pawlows nur einen geringen Einfluß auf das wissenschaftliche Leben in Deutschland ausgeübt. Gewiß fand sie in den grundlegenden Publikationen der Physiologie Erwähnung und wurde hie und da bei Vorlesungen und anderen Gelegenheiten mit und gelegentlich auch ohne Respekt erwähnt. Größere Konsequenzen für die Forschungsarbeit und Praxis der Mediziner und anderer Naturwissenschaftler ergaben sich daraus aber nicht. Nur ganz wenige Mediziner, in erster Linie der Leipziger Pädiater A. Peiper und der Berliner Physiologe v. Skramlik hatten die Gesichtspunkte der Lehre Pawlows schon jahrzehntelang in ihre eigenen Arbeiten einbezogen und wiederholt auf die große Bedeutung dieser Lehre hingewiesen. Aus naheliegenden Gründen war ihnen die Weiterentwicklung der Lehre Pawlows nach dem Jahre 1933, im besonderen die Lehre von den beiden Signalsystemen, kaum zugänglich gewesen. Über sie waren auch in den ersten Jahren nach Kriegsende im deutschen Schrifttum nur recht weilige Informationen erschienen. Erst die Gemeinsame Tagung der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Medizinischen Wissenschaften der UdSSR über die Lehre Pawlows im Jahre 1950 hat hier Wandel geschaffen. Von ihr gingen auf die Theorie und Praxis der Medizin, bis zu einem gewissen Grade auch der Psychologie und Pädagogik und anderer Wissenschaftsbereiche in der DDR wichtige Impulse aus. In Westdeutschland kam es hingegen nicht zu bedeutenden Veränderungen, so daß die Begrenzung dieser Mitteilungen auf die DDR berechtigt erscheint. Da es bisher an einem zusammenfassenden Überblick über diese Auswirkungen gefehlt hat, wird es für angebracht gehalten, hier kurz über 325

die seit jenem Zeitpunkt erreichten Erfolge, aufgetretenen Mängel und einige vorhandene strittige Probleme zu berichten. Anschließend daran soll selbst Stellung zu einigen Problemen genommen werden. Eine umfassende Darstellung der Pawlowschen Lehre auch nur in ihren Hauptzügen ist hier nicht am Platze, indessen erscheint es notwendig, einige grundlegende Bemerkungen über sie vorauszuschicken. Die Entstehung und weitere Ausbildung der Pawlowschen Lehre stellt ein besonders instruktives Beispiel aus der Geschichte der Naturwissenschaften dar, wie eine konsequent vertretene materialistische Theorie einer Fachdisziplin, nämlich der Physiologie, zu einem wesentlich höheren Stande der Forschung verholfen hat. Pawlow äußerte sich im Jahre 1909 dazu, daß der seit Galileis Zeiten unaufhaltsame Gang der Naturwissenschaften zum ersten Mal augenfällig vor dem höchsten Abschnitt des Gehirns oder, allgemeiner gesagt, vor dem Organ der kompliziertesten Beziehungen der Lebewesen zur Umwelt, halt gemacht hat. Es scheint, schrieb Pawlow weiter, dies habe seinen Grund darin, daß wir es hier mit einem wirklich kritischen Moment in der Naturwissenschaft zu tun haben; denn das menschliche Gehirn, das die Naturwissenschaft schuf und noch schafft, werde nun selbst zum Objekt der Naturwissenschaft. Tatsächlich war im ganzen 19. Jahrhundert, abgesehen von sehr wenigen bedeutenden Vorläufern Pawlows, wie dem russischen Physiologen Setschenow und wohl auch dem deutschen Psychiater Griesinger, kein methodisches Bestreben sichtbar, die Funktionsweise des Gehirns als Grundlage der psychischen Vorgänge naturwissenschaftlich zu erforschen. Nicht nur im 19., sondern auch im 20. Jahrhundert bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt dominierte außerhalb der Pawlowschen Schule die Tendenz, sich mit diesen Vorgängen im Prinzip auf subjektive Weise zu beschäftigen oder sie ganz der Psychologie zu überlassen. Auch Pawlow unterlag anfanglich dem Einfluß einer solchen dualistischen Denk- und Arbeitsrichtung. Er bezeichnete die Speichelabsonderung, die beim Hunde schon dann auftrat, wenn die Schritte des regelmäßig zur Fütterung kommenden Wärters zu hören waren, als „psychische Sekretion". Anschaulich schilderte er die Verwirrung, die unter den sonst nüchtern naturwissenschaftlich arbeitenden Physiologen auftrat, sobald ein psychologisches Verstehen und Deuten bei der Beschäftigung mit dieser besonderen Sekretionsform um sich griff. 326

Pawlow hat jene Verwirrung dadurch überwunden, daß er seinen großen russischen Vorbildern unter den materialistischen Denkern, -wie Herzen, Belinski, Tschernyschewski, Pissarew, und unter den Physiologen, wie Setschenow, folgend die psychologischen Deutungsversuche zurückstellte und mit physiologischen Mitteln die1 Erklärung dieses Phänomens unternahm. Nur auf diese Weise gelang ihm der epochale Schritt zur Entdeckung des bedingten Reflexes, der zeitweiligen Verbindungen von Nervenzellgruppen der Hirnrinde (Kortex), die einer solchen Sekretion und allgemein den psychischen Vorgängen zugrunde liegen. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei betont, daß Pawlow unter heuristischen Gesichtspunkten in dieser Weise vorging, daß er die Psychologie keineswegs im Prinzip ablehnte, vielmehr sein Bemühen auf eine neue Psychologie, die auf der Lehre von der höheren Nerventätigkeit basiert, hinzielte. Wörtlich schrieb er, er sei nicht geneigt, „irgend etwas von dem tiefsten Drang des menschlichen Geistes zu verneinen. Jetzt und an dieser Stelle verteidige ich lediglich die absoluten, unanfechtbaren Rechte des naturwissenschaftlichen Denkens. Wer aber weiß, wo diese Möglichkeit zu Ende ist?" Durch die von Pawlow geschaffene Lehre von der höheren Nerventätigkeit hat die Naturwissenschaft nach langjährigem Stillstand eine wesentliche Erweiterung erfahren, die sich auf den Bereich der kortikalen und damit psychischen Funktionen erstreckte. Durch Pawlow ist der menschliche Gesamtorganismus einschließlich seiner psychischen Funktionen einer einheitlichen naturwissenschaftlichen Erforschung zugänglich geworden. Durch diesen grundlegend wichtigen Schritt wurde eine verhängnisvolle Lücke in der medizinischen und biologischen Forschung in mehrfacher Hinsicht geschlossen. Denn die höhere Nerventätigkeit und die damit zusammenhängenden psychischen Funktionen stellen ein wichtiges integrierendes Element für den Gesamtorganismus und das wesentliche Verbindungsglied zur Umwelt dar. Mit ihrer Hilfe vermag der Organismus eine fortwährende Anpassung, eine ununterbrochene vorgreifende Gleichgewichtseinstellung zur Umwelt zu erreichen. Die letztere ist beim Menschen durch eine immense Mannigfaltigkeit und vielseitige Veränderungen gekennzeichnet. Da die Umwelt des Menschen einen sozialen Charakter aufweist, sind unter deren 327

belebendem Einfluß die kortikalen Punktionen des Menschen im wesentlichen auch sozial bestimmt, worüber in der Pawlowschen Schule einheitliche Auffassungen herrschen. Pawlow hatte auf seinem Forschungswege eine synthetische Physiologie geschaffen, mit der der menschliche oder tierische Organismus unter Erhaltung der höchsten regulativen Funktionen über längere Dauer (z. B. mittels der Dauer-Speichelfistel) in seinen Reaktionen auf Umweltreize erforscht werden konnte. Pawlow gelangte dabei zur Auffassung von der Einheitlichkeit des Organismus in sich und in dessen Relation zur Umwelt, er legte die Vielfalt von Wechselbeziehungen zwischen Organismus und Umwelt, zwischen dem Kortex und Subkortex, sowie hormonalen und anderen Funktionen dar. Statt der früher vorgewiesenen morphologischen Befunde vermochte er nunmehr eine spezifische Dynamik der zerebralen Prozesse für die psychischen Vorgänge anzugeben. Wir sehen ihn deshalb als bedeutenden Dialektiker an, obgleich er von einem naturwissenschaftlichen Materialismus ausgegangen war und bisweilen noch mechanistische Termini (z. B. „Maschine" für den Organismus) verwandt hat. Die Auffassung ist bis in die Gegenwart hinein verbreitet, daß die Pawlowsche Lehre in einem grundlegenden Gegensatz zur analytisch orientierten Physiologie stehe, die im 19. und 20. Jahrhundert zu imponierender Höhe aufgestiegen ist. Mit ihr wird der Organismus in Teilbereichen, ohne den Einfluß der höchsten regulativen umweltverbindenden Funktionen untersucht. Nun ist der Gegenstand der humanmedizinischen Physiologie und Klinik der unteilbare lebende Mensch mit all seinen Eigenschaften somatischer und psychischer Art. Jeder gute Arzt hat diese Aufgabe gesehen und ihr zu genügen gesucht, hinsichtlich der psychischen Eigenschaften hauptsächlich mit Hilfe allgemeiner Lebenserfahrungen sowie subjektiv-psychologischer Beobachtungen. Erst die Pawlowsche Lehre eröffnete den Weg zu einer methodischen Bearbeitung dieser Probleme auf objektiver Grundlage, denn sie ermöglichte die Erforschung der spezifischen Funktionen des menschlichen Kortex, der mit seinen mehr als 10 Milliarden Ganglienzellen das höchstdifferenzierte Organ der gesamten belebten Welt darstellt. Jede Methodik, mit der die spezifischen, bedingt-reflektorischen Funktionen dieses Organs bei der physiologischen und klinischen Forschung ausgeklammert werden, ist mit dem Irrtum ver328

bunden, daß die Natur sich hier, ein luxurierendes Größenwachstum erlaubt haben könnte. Da dies nicht der Fall ist und dem Kortex eine hervorragende, aber meist übersehene Bedeutung für die Physiologie und Klinik zukommt erweist sich die Pawlowsche Lehre als notwendige Ergänzung jeder exakten analytisch orientierten Forschung. Gewiß war und ist es noch unter heuristischen und didaktischen Gesichtspunkten berechtigt, Teilbereiche des Organismus, z. B. die Zellen, das Knochen-Bändersystem, die Verdauungs-, die Kreislauforgane usw. gesondert zu erforschen. Man muß nur wissen, daß gemäß dem Prinzip von der Unteilbarkeit des lebenden Gesamtorganismus solche Arbeitsrichtungen auf eine Pseudoexaktheit hinauslaufen und sogleich ihr verfallen sind, wenn sie sich über ihr Teilgebiet hinaus zu allgemeinen Aussagen verleiten lassen. Bei der Solidarpathologie, der Zellularpathologie, der Selyeschen Lehre vom Streß usw. ist dies bis in die neueste Zeit hinein allzu oft geschehen. Die Pawlowsche Lehre steht mit solchen unberechtigten Verallgemeinerungen im entschiedenen Widerspruch, keinesfalls aber mit exakten Forschungsergebnissen der analytischen Physiologie. Diese bedürfen von Seiten der Pawlowschen Lehre nur insofern einer Korrektur, als die synthetische Forschungsmethode der Einheitlichkeit des Organismus weit besser Rechnung trägt. Denn vollgültig können die Forschungsergebnisse erst dann sein, wenn in der Physiologie, physiologischen Chemie, Pharmakologie usw. und nicht zuletzt in der Klinik die Einzelabläufe des Organismus in ihren Beziehungen zur höheren Nerventätigkeit und damit zu maßgeblichen Umwelteinflüssen erforscht werden. Erst damit gelangen wir unter methodischen Gesichtspunkten zu einer spezifisch menschlichen Medizin mit Einschluß ihrer theoretischen Disziplinen. Die Pawlowsche Lehre basiert auf den Ergebnissen der analytischen Forschungen, zugleich erweitert und ergänzt sie dieselben durch die Erforschung der höheren Nerventätigkeit und deren integrierender Einflüsse auf den Gesamtorganismus. — Es sei nicht übersehen, daß die Gemeinsame Tagung beider Akademien der Sowjetunion im Jahre 1950 diese Sachlage noch nicht klar genug beleuchtet hat, ja, daß es auch an einigen dogmatisch-einseitigen Tendenzen nicht gefehlt hat, die den Eindruck erwecken konnten, als sei der Gesamtorganismus ein Anhängsel der höheren Nerventätigkeit und gebe es nicht Be329

reiche des Organismus von bestimmter Autonomie, als sei die Pawlowsche Lehre in ihrem damaligen Entwicklungsstande bereits in der Lage gewesen, alle übrigen Forschungsmethoden in der Physiologie und KUinik abzulösen. Von einem solchen Extremismus hat sich die Pawlowsche Schule in der Zwischenzeit eindeutig entfernt. Es muß noch betont werden, daß für die Gemeinsame Tagung der beiden Akademien kennzeichnend nicht eine solche Einseitigkeit, sondern die Hervorhebung der epochalen Bedeutung der Pawlowschen Lehre für die Medizin und zahlreiche andere Wissenschaftsgebiete war. Die stark ausstrahlenden Ideen der Gemeinsamen Tagung der beiden Akademien, die die Mediziner und anderen angesprochenen Wissenschaftler der DDR nahezu unvorbereitet trafen, gaben zunächst Veranlassung für eine Förderung der bisher vernachlässigten Übersetzung von Werken der Pawlowschen Schule und für eine größere Propagierung ihrer Ideen in der DDR. Bei den zahlreichen Diskussionen im größeren und kleineren Kreise häuften sich jedoch zunächst die Unklarheiten, wofür die erste Pawlow-Tagung am 9. 2. 52 in Dresden kennzeichnend war. Die Pawlowsche Lehre wurde besonders von den Wissenschaftlern, die sie seit längerer Zeit kannten, als Reflexologie, ohne den Aspekt der Lehre von den beiden Signalsystemen, d. h. eng naturwissenschaftlich mißverstanden. Bei einer solchen Einschränkung mußte jedoch das Hauptcharakteristikum der Pawlowschen Lehre, die Erforschung der höchsten Integrationsleistungen des Organismus und der wesentlichen Verbindungsfunktionen zur Umwelt, damit auch ihre Aufgabe als notwendige Ergänzung jeder analytischen Methode übersehen werden. Ohne die zuletzt erwähnten Besonderheiten erscheint die Pawlowsche Lehre als eine Reflexlehre, die sich dann beispielsweise von einer Lehre vom Streß oder einer Lehre von den vegetativen Funktionen nicht wesentlich unterscheidet. J a , mit gewissem Recht konnte nach solchen Mißverständnissen in der Lehre von den bedingten Reflexen der Nachteil gesehen werden, daß man es mit relativ stark wechselnden Funktionen zu tun habe, die daher eine eingehende Forschung nicht recht verlohnen würden, zumal die Untersuchungsmethoden hierzulande praktisch kaum erprobt waren. Unter diesen Umständen war es richtig und förderlich, daß am 15. und 16. 1. 53 in Leipzig die „Große" Pawlow-Tagung mit starker internationaler Beteiligung 330

durchgeführt wurde, bei der die Hauptgesichtspunkte der Gemeinsamen Tagung der beiden Akademien des Jahres 1950 dargestellt und erläutert wurden. Weitere Pawlow-Tagungen in größerem Rahmen folgten in den Jahren 1954 und 55 in Leipzig, die zu zahlreichen klärenden Diskussionen führten. Auch nahm im Jahre 1953 die Staatliche Pawlow-Kommission der DDR ihre Arbeit auf, die eine ganze Reihe interessierter Kliniker und Physiologen zusammenschloß. Wenn man versucht, ein vorläufiges Fazit der seitdem geleisteten Arbeit zu ziehen, so ist zunächst als Positivum zu werten, daß die von der Pawlowschen Schule entwickelte Schlaftherapie sehr bald nach Bekanntwerden in der DDR Anwendung fand. Neben der eigenen Klinik sind die Einrichtungen von R. Baumann in Berlin-Buch, von Kleinsorge in Jena und von Marchand in Ballenstedt zu nennen. Allenthalben mußte zunächst Lehrgeld in Form großer Schlafmittelgaben und daher ungünstiger Nebenerscheinungen gezahlt werden, bis es gelang, auch über die höhere Nerventätigkeit hauptsächlich mit Suggestivmitteln gute Heileffekte zu erzielen. Im ganzen gesehen hat jedoch in der DDR wie auch in der Sowjetunion die Schlaftherapie in den letzten Jahren nicht die Stellung im therapeutischen Inventar der Kliniken gewonnen, wie sie vor sechs bis acht Jahren noch erwartet wurde. Eine Reihe von Einrichtungen führt die Schlaftherapie bis zur Gegenwart durch und hat in der DDR dann gute Erfolge erreicht, wenn eine Verbindung mit den Methoden einer rationalen Psychotherapie gelang (mit Tonbandsuggestionen, autogenem Training, evtl. Hypnose). Diese rationale Psychotherapie, wie sie an der eigenen Klinik entwickelt wurde, basiert ebenfalls auf den Prinzipien der Pawlowschen Lehre. Ferner ist die Psychoprophylaxe des Geburtsschmerzes zu erwähnen, die unter dem Einfluß der Pawlowschen Schule auch in der DDR weite Verbreitung gefunden hat, in erster Linie durch die erfolgreichen Bemühungen von Aresin an der Universitäts-Frauenklinik Leipzig. Ferner sind zu nennen umfangreiche Arbeiten von E. SchmidtKolmer über die Hospitalismus-Gefahren bei Kleinkindern, ernstzunehmende Bestrebungen um eine Milieutherapie im Sinne Pawlows sowie um eine Förderung der Lehre von den Aphasien und den Beziehungen zwischen Sprache und Denken, wie sie von G. Meier und Müller-Hegemann unternommen wurden, Bestrebungen schließlich 331

von Psychologen und Pädagogen, Pawlowsche Gesichtspunkte in die eigene Arbeit aufzunehmen. Eine große Hilfe für diese Bestrebungen war die Herausgabe der Sämtlichen Werke Pawlows in den Jahren 1953/54 unter der Gesamtredaktion von Pickenhain. Abgesehen von ihnen wurden in den letzten Jahren eine kaum noch übersehbare Zahl von Publikationen der Pawlowschen Lehre aus der russischen in die deutsche Sprache übersetzt. Diesen Vorzügen steht aber der ernste Mangel gegenüber, daß die experimentelle Arbeit, der innerhalb der Pawlowschen Lehre eine zentrale Bedeutung zukommt, in der D D R nur zu bescheidenen Erfolgen gelangt ist, wenn man sie nicht etwa mit denen der SU, sondern der ÖSR, Rumäniens und Ungarns vergleicht. Die Publikationen von Autoren der DDR bezogen sich zum großen Teil auf theoretische, zum andern Teil auf klinische Fragestellungen. Das Obengesagte sollte verständlich machen, daß auch die ersteren in der DDR nicht überflüssig waren und nicht sind, um diese Lehre vor erheblichen Verfälschungen zu bewahren und in ihrem wahren Gehalt zu verbreiten. Dennoch wird sich kaum ein Anhänger der Pawlowschen Lehre in der DDR von dem Vorwurf freisprechen können, daß die experimentelle Arbeit von Anbeginn an hätte stärker gefördert werden müssen. Dieser Vorwurf muß besonders gegen das Staatssekretariat für Hochschulwesen erhoben werden, weil es der zentralen Forschungsstätte für diese Aufgaben, der Abteilung für höhere Nerventätigkeit am Physiologischen Institut der Berliner Humboldt-Universität, keine kontinuierliche Hilfe zukommen ließ. Nachdem bis zum Jahre 1956/57 dort mehr als 12 junge ausgewählte Ärzte als wissenschaftliche Mitarbeiter mit einem ganzen Stab an technischem Personal zusammengezogen waren, nachdem dort mehrere hunderttausend D-Mark f ü r Pawlow-Kammern und wertvolle Apparaturen investiert wurden, nachdem auch mehrere sowjetische Gastprofessoren dort tätig waren, ließ man diese Abteilung in einem Ausmaße verfallen, daß z. Z. nur noch zwei Assistenten im Sinne der Pawlowschen Lehre tätig sein können, die aber durch die laufende Arbeit der akademischen Lehre ganz überwiegend in Anspruch genommen sind. In Anbetracht der zentralen wissenschaftlichen und auch ideologischen Bedeutung einer solchen Einrichtung mit experimenteller Aufgabenstellung kann die Entschuldigung nicht gelten, daß eine er332

hebliehe Fluktuation in den letzten drei Jahren dort zu beobachten war. Diese war gleichzeitig auch in vielen anderen Instituten und Kliniken der DDR vorhanden, ohne daß es zu größeren Einschränkungen der Forschungsarbeiten gekommen ist. Diese hätten überwunden werden können, wenn laufend einige befähigte Wissenschaftler dieser Einrichtung zugeführt worden wären. Wenn in den letzten Jahren das Institut für Kortiko-viszerale Pathologie in Berlin-Buch mit noch größeren Investitionsmitteln aufgebaut worden ist, so kann hier nicht von einem Ersatz gesprochen werden, zumal der ökonomische Gesichtspunkt auch in der medizinischen Forschung Geltung beansprucht. Nachdem in den letzten Jahren einige experimentelle Arbeiten auf der Grundlage der Pawlowschen Lehre in der DDE. zum Abschluß gelangt sind, gilt es, an den wenigen arbeitsfähigen Einrichtungen dieser Art — wozu wir nun auch die eigene Klinik rechnen dürfen — in der Folgezeit alles zu tun, um den Abstand gegen die obengenannten Länder zu verringern. Vor 3 x / 2 Jahren wurde ein deutliches Abflauen des Interesses für die Pawlowsche Lehre bei denjenigen Medizinern und anderen Wissenschaftlern merkbar, die sie offenbar als eine staatlich autorisierte Lehre auf den betreffenden Gebieten mißverstanden und sie im großen und ganzen nur deklarativ vertreten hatten. Wahrscheinlich hat die Pawlowsche Lehre durch diesen Klärungsprozeß keine Einbuße erlitten, ja, sie hat im internationalen Maßstab ihren erfolgreichen Weg in der Zwischenzeit fortgesetzt und nicht nur in sozialistischen, sondern auch in anderen Ländern größeren Einfluß auf Physiologen und Kliniker gewonnen. So kam es z. B. in den USA und in Japan zur Bildung von Pawlow-Gesellschaften. Allgemein ist in den letzten Jahren ein berechtigtes Bestreben vorhanden, die synthetische Methode der Pawlowschen Schule weit mehr als bisher mit den neuesten analytischen Forschungsmethoden zu kombinieren. Vor allem hinsichtlich der Elektroenzephalographie hat diese Kombination bereits sehr aufschlußreiche Ergebnisse gezeitigt. In der DDE, ist vor kurzem eine wertvolle zusammenfassende Darstellung „Grundriß der Physiologie der höheren Nerventätigkeit" von Pickenhain erschienen, in der auch dieser Verbindung mit der Elektrophysiologie Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gegenwärtig sind ferner Bemühungen im Gange, die bisher in der Pawlowschen Schule bisweilen 333

großzügig formulierten Auffassungen von den Nervengrundprozessen, z. B. von der Irradiation und Konzentration der kortikalen Prozesse, strenger zu fassen und evtl. einer Revision zu unterziehen. Diese Bereitschaft zur Revision hat sich aber auch gegen gesicherte Prinzipien der Pawlowsehen Lehre bei einigen Autoren gezeigt. Unter dem Einfluß der Schule Penfields, die dem Subkortex eine maßgebliche Bedeutung für die Hirntätigkeit beimißt, wurde auch in der DDR von Anhängern der Pawlowsehen Schule die Meinung publiziert, daß die Formatio reticularis als Integrationsort der Hirntätigkeit zu gelten hat. Nun spricht das riesige Erfahrungsgut der Pawlowsehen Schule übereinstimmend dafür, daß bei Lebewesen mit stark ausgebildetem Kortex nur dieser das Hauptorgan der zeitweiligen Verbindungen und der wesentlichen Integrationen für die Hirntätigkeit sein kann, daß aber der Subkortex an diesen Vorgängen beteiligt ist. Diese Untersuchungsergebnisse finden eine Bestätigung in grundsätzlichen Überlegungen hinsichtlich der Phylogenese und der Morphologie des Zentralnervensystems . Gewiß bedarf die Pawlowsche Lehre gleich allen anderen Wissenschaftsbereichen der Weiterentwicklung und insoweit der Korrektur, als neu gefundene Tatsachen mit den bisherigen Auffassungen in Widerspruch stehen. Indessen müssen diese Tatsachen, genauer diese Ergebnisse experimenteller und sonstiger Untersuchungen in einer Weise kritisch bearbeitet sein, daß sie dem gesicherten Erfahrungsgut der Pawlowsehen Schule an Aussagewert adäquat sind. Einzelergebnisse von elektroenzephalographischen Untersuchungen, wie sie vor kurzem noch Gastaut mitgeteilt hatte, um den angeblichen Schließungsmechanismus im Subkortex zu begründen, erfüllen diese Voraussetzungen jedenfalls nicht. Die Pawlowsche Lehre hat sich auf der Basis einer konsequent materialistischen Theorie mit einem riesigen experimentellen Erfahrungsmaterial fortentwickelt, so daß sie ein in allen wesentlichen Punkten widerspruchsfreies Lehrgebäude darstellt. Mit Recht sprechen wir im Sinne des eingangs Gesagten von ihrer epochalen Bedeutung für die Physiologie und Klinik sowie für wichtige andere Wissenschaftsbereiche. Von dieser Position aus ist es an der Zeit, zu Angriffen gegen die Pawlowsche Lehre Stellung zu nehmen, wie sie vor kurzem in der DDR von Segal in seiner Schrift „Die dialektische Methode in der Biologie", 334

Berlin 1958, formuliert worden sind. Darin finden wir u. a. folgende Stelle (S. 66): „Es bleibt die Erscheinung des bedingten Reflexes selbst bis heute ungeklärt. Mit der Methode der bedingten Reflexe kann man den bedingten Reflex selbst nicht erklären, weil damit nicht auf niedere Formen der Nerventätigkeit zurückgegriffen wird. Zwischen den uns bereits gut bekannten Formen elementarer Nerventätigkeit und den bedingten Reflexen klafft aber eine derart weite Lücke, daß ein direktes Zurückführen der Erscheinungen des bedingten Reflexes auf diese elementaren Formen nicht möglich ist. Eine Erklärung des bedingten Reflexes wird daher erst dann möglich sein, wenn die entsprechenden einfacheren Nervenfunktionen geklärt sein werden." Es ist nicht schwer, die Unhaltbarkeit dieser These Segais zu beweisen. Zwischen-den niederen Formen der Nerventätigkeit und den bedingten Reflexen existiert bekanntlich der unbedingte Reflex. Zwischen den kompliziertesten unbedingten Reflexen und den einfachsten bedingten Reflexen gibt es fließende Übergänge, die offenbar Segal unbekannt geblieben sind. Um nur ein Beispiel anzuführen: Zitowitsch hat bereits im Jahre 1911 gezeigt, daß beim Hund die motorische und sekretorische Nahrungsreaktion auf das Erblicken von Fleisch ein bedingter Reflex ist. Hunde, die nur mit Milchnahrung aufgezogen wurden und nie in ihrem Leben Fleisch gefressen hatten, zeigten auf den Anblick von Fleisch keine Nahrungsreaktion. Wenn die Tiere aber nur ein einziges Mal Fleisch gefressen hatten, waren von da an beim Erblicken von Fleisch die typischen Nahrungsreaktionen vorhanden. Wie Pickenhain mit Recht anführt, handelt es sich bei ihnen um Grenzfälle, die den angeborenen unbedingten Reflexen nahestehen, zumal ein solcher Hund auf den Geruch von Fleisch (im Gegensatz zum Anblick) einen angeborenen unbedingten Nahrungsreflex bietet. Im übrigen braucht hier nur noch wiederholt zu werden, was in jeder Elementardarstellung der Physiologie steht, daß nämlich ein bedingter Reflex generell auf der Grundlage eines unbedingten Reflexes entsteht, wenn ein bedingter Reiz entsprechend häufig mit dem unbedingten Reiz kombiniert wurde. Daraus ergibt sich eine Erklärung, wie sie nach biologischen — freilich nicht nach mathematischen — Maßstäben als ausreichend gelten kann. Der zweite Passus von Segal (S. 225) beinhaltet einige schwierigere Probleme. Er bestreitet darin die Möglichkeit, die Denkfunktionen 335

des menschlichen Gehirns als bedingte Reflexe des 1. und 2. Signalsystems zu interpretieren. Damit könne man nicht das eigentliche Wesen des menschlichen Denkens treffen. — Wir gehen davon aus, daß alle höheren psychischenErscheinungen des Menschen, insbesondere die abstrakten Denkvorgänge, von den Einflüssen der gesellschaftlichen Umwelt hervorgerufen werden, jedoch nur im Gehirn im Verlaufe der höheren Nerventätigkeit zustande kommen können. Segal selbst schreibt an anderer Stelle (S. 47), „daß es keine Stufe irt der Entwicklung des Denkprozesses und seiner gesellschaftlichen Funktionen gibt, die sich außerhalb der Hirnrinde abspielt und die etwas anderes ist als ein physiologischer Prozeß, den wir allerdings in seiner gesamten Komplexität heute noch nicht zu analysieren vermögen". — An dieser Stelle sind wir mit Segal fast einig, müssen ihn aber daran erinnern, daß der Prozeß der höheren Nerventätigkeit sich in engstem Zusammenhang mit außerzerebralen, besonders mit gesellschaftlichen Prozessen abspielt und er nicht nur physiologisch, sondern auch psychologisch zu verstehen ist. Für Pawlow und seine hervorragenden Schüler war und ist der bedingte Reflex ein physiologischer und zugleich psychischer Vorgang. Dafür spricht, daß die physiologisch faßbaren Prozesse der höheren Nerventätigkeit und gleichermaßen die psychischen Prozesse die Funktion der Widerspiegelung und der Gleichgewichtseinstellung des Organismus gegenüber seiner gesellschaftlichen und sonstigen Umwelt mit wichtigen Rückwirkungen auf den Körperhaushalt erfüllen. In beiden Fällen handelt es sich zum großen Teil um eine aktive, um eine vorgreifende Anpassung in bisweilen höchstdifferenzierten Formen. In beiden Fällen besteht eine Abhängigkeit im wesentlichen von den gesellschaftlichen Einflüssen, so daß sie bei deren Ausfall auf niedrigstem Stande verkümmern (s. Kaspar-Hauser-Typen). Um das „Wesen" des Denkens und der übrigen spezifisch menschlichen psychischen Erscheinungen zu erfassen, bedarf es demnach der Berücksichtigung einerseits der ganzen Fülle des gesellschaftlichen Lebens einschließlich der in Jahrtausenden hervorgebrachten Kulturgüter und andererseits der menschlichen höheren Nerventätigkeit, zu der auch die „Denkfunktionen des menschlichen Gehirns" (s. o.) zu rechnen waren. — Der Hinweis erscheint hier noch angebracht, daß die Lehre von der höheren Nerventätigkeit der gesamten Psychologie das Fundament und wesentliche 336

Impulse zu geben, ferner psychische Vorgänge speziell als Hirnfunktionen zu interpretieren vermag, daß aber die Interpretation sämtlicher psychischer Erscheinungen nicht direkt von ihr erwartet werden kann. Welche Argumente führt nun Segal gegen die obige Auffassung an? „Auf einer ähnlichen Ebene (Segal meint damit die Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit mancher Hypothesen. M.-H.) lag der Versuch einer Gruppe von Physiologen der Pawlowschen Schule, die Denkfunktionen des menschlichen Gehirns als bedingte Reflexe des 1. und 2. Signalsystems zu interpretieren. Es ist richtig, daß auch sprachliche Begriffe bedingte Reflexe auslösen können, woraus sich eine gewisse Fähigkeit zur Abstraktion ergibt. Aber bedingte Reflexe entsprechen (dies besagt der Begriff „bedingter Reflex") nur bereits dagewesenen, ja sogar mehrfach dagewesenen Situationen, können also bestenfalls ein stereotypes Verhalten bedingen. Das eigentliche Denken beginnt aber erst dort, wo ein stereotypes Verhalten aufhört. Eine Besonderheit des menschlichen Denkens ist die Fähigkeit zu einer neuartigen Auseinandersetzung mit nie dagewesenen Bedingungen, die Produktion neuartiger, nie gekannter Begriffskombinationen." Beginnen wir, der Reihe nach vorgehend, mit der These Segais, die sich auf die Fähigkeit zur Abstraktion bezieht. Sie ist zumindest unklar, da ein großes experimentelles Erfahrungsgut keinen Zweifel daran läßt, daß auch die höhere Nerventätigkeit der Tiere unabhängig von sprachlichen Einwirkungen die Fähigkeit zu einer einfachen Abstraktion aufweist. Der sprachliche Begriff des Menschen ist selbst eine Bildung des 2. Signalsystems von hoher Abstraktion, ein „Signal der Signale". Wie Kolzowa im Experiment gezeigt hat, gewinnt das Wort verallgemeinernde Bedeutung, wenn man darauf 15 bis 20 und mehr verschiedene bedingte Verbindungen ausarbeitet, so daß dann schon ein Kind von 1 Jahr 7 Monaten beispielsweise das Wort „Buch" als abstrakten Begriff zu verwenden vermag. Richtig müßte der Satz demnach heißen, daß eine gewisse Fähigkeit zur Abstraktion der höheren Nerventätigkeit aller höheren Lebewesen eigen ist und daß der sprachliche Begriff mittels Abstraktionen von höchster Kompliziertheit zustande kommt. Die nächste These Segais von den bedingten Reflexen, die bestenfalls ein stereotypes Verhalten bedingen, ist offenbar das 22

Naturwissenschaft und Philosophie

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Hauptargument. Dazu ist folgendes zu sagen: Ununterbrochen bilden sich im Kortex neue zeitweilige Verbindungen und damit bedingte Reflexe. Im klassischen Experiment wurden sie durch wiederholte Kombination von bestimmten Reizen auf der Grundlage eines unbedingten Reflexes oder eines gefestigten bedingten Reflexes gebildet. Eine wiederholte Kombination ist aber keine „conditio sine qua non", wie oben bereits in einem Fall erwähnt. Die Klinik kennt nicht selten Fälle, daß ein einziges die höhere Nerventätigkeit schockierendes Ereignis zu einem fehlerhaften bedingten, Reflex führt. Darüber hinaus haben wir Grund zur Annahme, daß bei maßgeblicher Beteiligung des 2. Signalsystems schon die einmalige Kombination zweier Reize zur Herstellung eines bedingten Reflexes, einer zeitweiligen Verbindung genügen kann. In psychologischer Sicht werden bestimmte komplizierte Verbindungen dieser Art als Assoziationen bezeichnet. G o e t h e hat in genialer Voraussicht diese Vorgänge folgendermaßen beschrieben: ,,Es ist mit der Gedankenfabrik wie mit einem Webermeisterstück, wo ein Griff tausend Fäden regt, die Schifflein herüber-, hinüberschießen, die Fäden ungesehen fließen, ein Schlag tausend Verbindungen schlägt." — Die Herstellung solcher neuer zeitweiliger Verbindungen liegt dem rezenten Denken zugrunde, gleich ob es schöpferisch oder bisweilen absurd realitätsfern ist. Diese Verbindungen kommen nicht atomistisch, sondern in komplexhaftem, gefestigtem Zusammenhang unter Einbeziehung unbedingter Reflexe zustande. Wir sprechen dann vom „dynamischen Stereotyp", womit wir speziell die im Leben erworbenen Fertigkeiten bezeichnen. Die Stereotypie ist keineswegs nur als negativ (i. S. der Erstarrung), sondern häufig als positiv für die höhere Nerventätigkeit, für das Denken zu verstehen; denn es gibt kein schöpferisches Denken ohne ein umfangreiches festes „Gerüst" von Wissen und Können, ja auch von stereotyp festliegenden Formeln wie dem Abc und dem Einmaleins. Diese Stereotypien weisen, wie der Terminus besagt, einen dynamischen Einschlag auf, z. T. besonders stark ausgeprägt wie etwa das lehrbuchmäßige klinische Wissen, das nur in immer neuen Bezogenheiten auf die Praxis der Diagnostik und Therapie dienlich ist. Das eigentliche Denken beginnt demnach nicht, wo die Stereotypie aufhört, wie von Segal behauptet, sondern eine immense Zahl von Stereotypien stellt die Voraussetzung dafür dar, daß sich neue zeit338

wellige Verbindungen ergeben, die beispielsweise in einer wichtigen Neuentdeckung gipfeln. Die Stereotypie und die Dynamik lassen sich dabei gar nicht voneinander trennen. Schließlich ist die These Segais von der Besonderheit des menschlichen Denkens als Fähigkeit zu einer neuartigen Auseinandersetzung mit nie dagewesenen Bedingungen unhaltbar. Denn der Primitive, der als Sammler oder Jäger lebt, ist völlig außerstande zu Entdeckungen im Bereich der Atomphysik, zu einer modernen Lungenoperation oder dgl., es sei denn, daß man einem Offenbarungsglauben huldigt. Wohl vermag aber ein Primitiver, wenn er sich langjährig dynamische Stereotypien vom Abc bis zu den kompliziertesten physikalischen Gesetzen usw. angeeignet und diese dynamisch in der Praxis anzuwenden gelernt hat, dann auch selbst geniale Entdeckungen zu machen. Freilieh kann man ihn dann nicht mehr als „Primitiven" bezeichnen. Als Besonderheit des menschlichen Denkens ist gemäß den Erfahrungen der Lehre Pawlows festzuhalten, daß auf der Grundlage einer Riesenzahl dynamischer Stereotype eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit relativ unbekannten Bedingungen erfolgen kann, so wie es kein anderes Lebewesen vermag. Obgleich Segal als Zoologe den angeführten Fragestellungen z. T. fernsteht, wäre es ihm nicht schwergefallen, sich in der Literatur der Pawlowschen Lehre über den Sachverhalt zu informieren. Da er ohne sachliche Grundlage die Pawlowsche Lehre angriff, war eine Kritik seiner Thesen notwendig geworden. Aber auch über diesen besonderen Fall hinaus, erscheint ein freimütiger Meinungsaustausch mehr als bisher erforderlich, von dem zu hoffen ist, daß sich auch unsere Philosophen daran beteiligen, zumal die Pawlowsche Schule Untersuchungsergebnisse vorzulegen vermag, die für die philosophische Verallgemeinerung von außergewöhnlicher Bedeutung sein dürften.

REFLEX UND SPONTANEITÄT. EIN PHILOSOPHISCHER ASPEKT DES ZWEITEN SIGNALSYSTEMS Ernest Guensberger

(Bratislava)

Diejenigen Forscher, die den bedingten Reflex als Untersuchungsmittel anerkennen und nicht den philosophischen Folgerungen zustimmen, die sich schon aus der Existenz des bedingten Reflexes ergeben, versuchen sich mit dem oft zitierten Hinweis zu beruhigen, daß jedwede Art von Reflex etwa die höhere Nerventätigkeit, nicht aber die höhere Seelentätigkeit erklären könne. Vor allem, so meint man, sei es ausgeschlossen, aus einer Kopplung zwischen Reiz und Antwort, selbst in der weitest abgewandelten Form, so etwas abzuleiten, wie die Spontaneität, nicht etwa die scheinbare, subjektive Spontaneität, von der viele Naturforscher, ohne die Lehre Pawlows anzuerkennen, wohl wissen, daß es sich um einen bloßen Eindruck handelt, sondern diejenige Spontaneität, die den Tatbestand von neuen Reaktionen widerspiegelt, von Reaktionen, welche bis dahin nicht existierten und daher auch nicht Formen irgendwelcher Reflexe sein können — so scheint es, denn selbst der bedingte Reflex ist ja etwas schon Beobachtetes. Wie sonst sollte er denn bisher bedingt worden sein ? Die Lehre vom zweiten Signalsystem, die hier anknüpft, ist keine Notlösung dieser Frage. Sie versucht durchaus nicht, den Reflexbegrifi im „Ausnahmezustand" des Seelenlebens zu umschiffen. Es tritt bloß schärfer zutage, daß die dialektische Fassung des Reflexbegriffes im Gegensatz zur mechanistischen, schon in den einfachsten Reflexen keine Automatismen erblickt. Die natürliche Variabilität des Reflexes ist nämlich sein Grundattribut, welches sodann den höchsten Reflexen, die durch das zweite Signalsystem verlaufen, im höchsten Maße zukommt. Das gestaffelte Element des Reflexes im 341

zweiten Signalsystem — psychologisch als Begriff in Erscheinung tretend — ist von solcher Funktionsbreite, daß es wohl zu verstehen ist, wenn man in der neuen Reaktion die Anknüpfung an den alten Reflex nicht wiedererkennen kann, Welcher aber jeder Reaktion gleichwohl zugrunde liegt. Sind also diejenigen Reaktionen des menschlichen Organismus, die als neue in Erscheinung treten, auch keineswegs gewöhnliche Wiederholungen schon abgelaufener Vorgänge, so sind sie doch hinwiederum nicht neu im Sinne des Undeterminierbaren. Und darauf kommt es ja an. Es soll nicht unterlassen werden, hinzuzufügen, daß es sich im Vorhergehenden natürlich nur um einen einzigen Aspekt des Problemes der Spontaneität handelt.

ZUR FRAGE D E R D I A L E K T I S C H E N

AUFFASSUNG

DER ENTWICKLUNG UND

ALLGEMEINE

KRITERIEN DES

EINIGE

ENTWICKLUNGSPROZESSES

Jan Kamaryt

(Prag)

Der Gedanke der Entwicklung der Materie ist nicht nur ein Grundprinzip der Dialektik, sondern gleichzeitig auch ein wichtiges materialistisches Prinzip, denn es ermöglicht, die Vielfältigkeit und zweckmäßige Anpassung der Dinge an ihre Umgebung und auch an sieh selbst natürlich zu erklären, ohne ein übernatürliches Prinzip einzuführen. Die teleologische, zweckmäßige „Erklärung" der Vielfältigkeit der Dinge war lange Zeit besonders deshalb geläufig, weil die Materie sehr lange nur als Substanz, als passives, amorphes Substrat des gesamten Geschehens aufgefaßt wurde. Die Aktivität, zweckmäßige Verteilung, Struktur, Entwicklung der Materie, mußten dann zu etwas außerhalb der Materie Befindlichem gehören. Der dialektische Materialismus versteht unter Materie die objektive Realität in ihrer Gesamtheit, einschließlich der Bewegung, Entwicklung und des gesamten Reichtums an Eigenschafben und Qualitäten, die ihr stets angehören. Ein amorpher, unterschiedsloser und qualitätsloser Zustand der Materie würde ihren zeitlichen Beginn, ihre Entstehung voraussetzen, von denen ihre qualitative Entwicklung ausginge, was jedoch der Logik und auch der Wissenschaft widerspricht. Der Gedanke der natürlichen Evolution der Materie wird bisher von vielen bedeutenden Wissenschaftlern und Philosophen abgelehnt. „Der Evolutionsgedanke ist eine Fiktion, eine ganz naturphilosophische Spekulation. . . . Keine Evolution ist aus den grundlegenden Tatsachen der Genetik, der Paläobiologie und Paläoklimatologie, der Biophysik und Biochemie herauszulesen", behauptet der bedeutende 343

schwedische Biologe Heribert Nilsson in seinem umfangreichen Buch „Synthetische Artbildung". 1 Von den Positionen der „streng" wissenschaftlichen Objektivität aus gesehen, wird der Gedanke der Evolution als letzter Rest des Anthropomorjphismus und der Teleologie in der modernen Wissenschaft betrachtet. Diese Auffassung wurde seinerzeit prägnant von dem später als fortschrittlich bekannten englischen Biologen J . B. S. Haidane formuliert. N. H. Nilsson kam schließlich zu der Schlußfolgerung, daß, genauso wie der Renaissance-Mensch von der mittelalterlichen Vorstellung abging, daß der Mittelpunkt der Welt die Erde, und auf dieser der Mensch ist, so wird sich angeblich die moderne Wissenschaft von dem Gedanken der Evolution als des letzten Restes der alten anthropozentrischen Auffassung der Welt befreien. Der Mensch hat sich also unberechtigt in den Mittelpunkt der Welt und auf den Gipfel des gesamten Geschehens gestellt. Zu entscheiden, was entwicklungsmäßig „höher" und „niedriger" ist, ist nur die Frage einer subjektiven, voreingenommenen, menschlichen Einschätzung. 2 Dies ist nur insofern richtig, als jede Einschätzung und Erkenntnis menschlich, subjektiv ist. Unrichtig ist jedoch die agnostische Schlußfolgerung, daß die menschliche, subjektive Erkenntnis die objektiven Entwicklungsbeziehungen, Stufen, Gesetze, die objektiven Kriterien des Entwicklungsprozesses nicht feststellen kann. Es ist erforderlich vorauszusetzen, daß, falls auch einige andere Lebewesen, oder den Menschen ähnliche Wesen von anderen Planeten, die Eigenschaft besäßen, die Gesetze der objektiven Realität zu erkennen, sie genauso mit derselben Notwendigkeit wie der Mensch zu denselben objektiven Gesetzen und Entwicklungskriterien der uns bisher zugänglichen Welt kommen würden. 1

2

H. Nilsson, Synthetische Artbildung I—II, Grundlinien einer exakten Biologie, Lund 1953, S. 1060 und 1062. "I have been using such words as 'progress', 'advance', and 'degeneration', as I think one must in such a discussion, but I am well aware that such terminology represents rather a tendency of man to pat himself on the back than any clear scientific thinking . . ." J. B. 8. Haidane, The Causes of Evolution, London 1932, S. 153. N. H. Nilsson, Der Entwicklungsgedanke und die moderne Biologie, Leipzig 1941.

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Die klassische Mechanik unterschied nicht die Vergangenheit von der Zukunft. Sämtliche Erscheinungen, Prozesse usw. waren im wesentlichen reversibel. Die Welt erschien den mechanischen Materialisten als irgendein „Lagerraum" ohne Entwicklung, in dem es möglich ist, entsprechend den Gesetzen der klassischen Mechanik, die Dinge beliebig umzustellen. Der erste bedeutendere Schritt zur Irreversibilität der Zeit und der Entwicklung wurde auf dem Gebiet der klassischen Thermodynamik getan. Danach hat die Vergangenheit und die Zukunft zwar „dieselbe Energie", sie unterscheiden sich jedoch voneinander durch die Größe der „Entropie". Allerdings war dieser Schritt vorwärts, wenn man seine Folgen betrachtet, ein Schritt zurück. Auf dem Gebiet der Thermodynamik entstand die bekannte Theorie vom ,, Wärmetod des Weltalls" die in ihrem Wesen ganz antievolutionistisch ist. Besonders von den Philosophen wird der Begriff Entropie oft mit mystischen Vorstellungen umsponnen. Es muß betont werden, daß es sich um einen rein mathematischen, quantitativen Begriff handelt, dem in der Wirklichkeit nichts mit den Sinnen unmittelbar Wahrnehmbares entspricht. Er hat nicht denselben anschaulichen Sinn, wie z. B. die Begriffe Temperatur, Druck, Volumen, Wärmemenge u. ä. Sofern in der Thermodynamik z. B. von einem adiabatischen Zustand des Körpers die Rede ist — das heißt von einem solchen, bei dem es weder zu einem Austausch der Teile, noch zu einem Austausch der Energie mit der Umwelt kommt — handelt es sich um eine Abstraktion, die dem „idealen Gas" und der „idealen Flüssigkeit" analog ist. Denselben Charakter hat auch der Begriff der Entropie in der klassischen Thermodynamik. Für die klassische Thermodynamik hatte das Prinzip der Entropie den Charakter einer absoluten Behauptung, die keine Ausnahme zuläßt. Den ersten ernsteren, wenn auch noch widersprüchlichen und kompromißhaften Einwand macht L. Boltzmann mit seiner Fluktuationshypothese. Ihre Beschränktheit beruhte jedoch darauf, daß sie nicht ganz „den Wärmetod des Weltalls" ausschloß, sondern ihn im Gegenteil in ihren Voraussetzungen enthielt. Zufällige Fluktuationen gehen auf Grund des allgemeinen „Wärmetodes des Weltalls" vor sich. Das Gesetz der Entropie stellt besonders in Boltzmanns statistischer Formulierung eines der am besten verifizierten physika345

lischen Gesetze dar. Dies gilt jedoch, wie bei allen Gesetzen, nur für jenes Gebiet der Erscheinungen, aus welchem es abgeleitet wurde, was jedoch die Theorie des „Wärmetodes des Weltalls" nicht respektiert. In den 30er Jahren unseres Jahrhunderts entstand die allgemeinere Thermodynamik der irreversiblen Prozesse und der offenen Systeme (Onsager, Prigogine, Denbigh, De Groot u. a.), welche bei weitem die Grenzen der klassischen Thermodynamik überschreitet.3 In den offenen Systemen, d. h. in den Systemen mit einem freien Austausch von Teilchen und Energie mit der Umwelt, kann die Änderung der Entropieproduktion positiv und auch negativ sein. In geschlossenen Systemen ist die Änderung der Entropieproduktion positiv und das Gleichgewicht ist durch die maximale Entropie charakterisiert. Das offene System unterscheidet sich hiermit markant von dem geschlossenen System, wie aus der Gleichung dS=deS+dtS ersichtlich ist, wobei dS die Gesamtänderung der Entropie des Systems, deS die aus der Umwelt in das System hereingeführte Entropie und d{S die im System entstehende Entropie bedeutet. dfS ist in Übereinstimmung mit dem II. Hauptsatz der Thermodynamik stets positiv, jedoch kann de S sowohl positiv als auch negativ sein. Das hängt von der Menge der freien Energie der Umwelt ab, die in das System hereingeführt wird.4 Für diese Gleichgewichtszustände der offenen Systeme werden die Begriffe Fließgleichgewicht (Steady State), bzw. dynamisches Gleichgewicht, angewandt. Obwohl einige bedeutende ältere Physiologen (C. Bernhard® : Gedanke der Stabilität des inneren Milieus des Orga3

4

6

L. Onsager, Phys. Rev., 1931, ZI, 405; 38, 2263; I. Prigogine, Étude Thermodynamiques des Phénomènes Irreversibles, Liège 1947; K.O. Denbigh, The Thermodynamics of the Steady State, London—New York 1951; S.U. de Groot, Thermodynamics of Irreversible Processes, New York 1951. Vgl. 1. Prigogine, J. M. Wiame, Biologie et thermodynamique des phénomènes irreversibles, Experimentia, 2, 1946, 451—453: „Ces systèmes évoluent en général vers des états stationaires correspondant à une production minimum d'entropie, compatible avec les conditions imposées au système." (S. 452). C. Bernard, Introduction à l'étude de la médicine experimentale, 1926.

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nismus als Bedingung seiner „Freiheit", W. B. Cannon6: Begriff der physiologischen Homeostase) auf diesen Typ der Gleichgewichte schon längst hingewiesen haben, brachten erst die letzten Jahre in dieser Richtung eine Entwicklung der theoretischen und technischen Physik und Chemie und der theoretischen Biologie. In der modernen Biologie ist seit längerer Zeit L. von Bertalanffy 7 ein Vorkämpfer dieser Auffassung, der als erster die Spezifität der Thermodynamik und Kinetik der offenen biologischen Systeme betonte und sich um die Formulierung einiger allgemeiner biologischer Gesetzmäßigkeiten bemühte, die einen dialektischen Charakter haben und die zu einer Stütze im Kampfe gegen den modernen NeovitalismuS werden können. Die Thermodynamik des irreversiblen Prozesses hat dieselbe Bedeutung für das Begreifen der Kinetik der organischen Energie, wie Wöhlers Entdeckung des synthetischen Harnstoffes am Anfang des 19. Jahrhunderts für die Umwandlungen organischer Stoffe. 8 Sie erklärt auf natürliche Weise die biologische Tatsache, daß die Organismen im Verlauf des größten Zeitabschnittes ihres Lebens eine insgesamt gleiche Stufe ihrer Organisierung, Komplexität, beibehalten, sowie die Tatsache, daß sie diese im Laufe der individuellen Entwicklung und auch der Stammesentwicklung, vergrößern können. Die Neovitalisten und Holisten gingen fehl, indem sie den Zwiespalt zwischen der * W. B. Cannon, Organisation for Physiological Homeostasis, Physiol. Rev., 9, 1929, 397, The Wisdom of the Body, London 1932. 7 L. von Bertalanffy, Theoretische Biologie, 1932, 1942, 1951, Das biologische Weltbild, Bern 1949, Biophysik des Fließgleichgewichts, Braunschweig 1953. 8 So hoch schätzt der bekannte englische Biophysiker J. D. Bemal in seinem Buch „Science in History", London 1954, S. 632, die Bedeutung dieses neuen Zweiges der Thermodynamik für die zeitgenössische Biologie ein. Dieselbe hohe Einschätzung und praktische und theoretische Applikation erzielte die Thermodynamik der irreversiblen Prozesse in den letzten Jahren auch in der UdSSR. A. I. Oparin, der Schöpfer der anerkannten Theorie der Entstehung des Lebens auf der Erde, widmet ihr in der neuen erweiterten Ausgabe seines bekannten Buches „Die Entstehung des Lebens auf der Erde", Moskau 1957, fast das ganze VII. Kapitel. In der Biochemie wird diese Theorie von A. O. Pasynshij apliziert: „Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik in der Biologie", Biochimija, 1953, 18, 644—653, „Die Theorie der offenen Systeme und ihre Bedeutung für die Biochemie", Usp. sowr. biol., 1957, 43, 263—279. 347

organischen und anorganischen Welt betonten. Eine höhere Stufe der Organisation und biologischen Evolution ist weder durch irgendeine besondere vitale Kraft, noch durch Sehnsucht nach Harmonie, Vollkommenheit und Totalität gegeben. Heute ist es klar, daß dies durch bedeutend einfachere Tatsachen gegeben ist, unter anderem dadurch, daß lebende Organismen kein geschlossenes, sondern ein offenes System darstellen. Wie dialektisch ist die Thermodynamik seit Engels' Zeiten geworden! Man kann heute mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, und das wurde bereits gegen die Theorie des Wärmetodes des Weltalls angeführt (und es gibt noch viele andere Einwände, besonders auf dem Gebiet der planetarenKosmogonie, z. B. der allgemein anerkannte Bethes' Zyklus, die Hypothesen von Ambarzumjan, Fessenkow, Kuiper und andere), daß die gesamte energetische Bilanz des Weltalls ohne Überhang ausgeglichen ist. Deshalb wird gegenwärtig berechtigt von einer Reihe von Wissenschaftlern 9 das Gesetz der „Erhaltung der Entropie" vorausgesetzt, welches sich auf diese Weise mit den übrigen Gesetzen der Erhaltung der Materie, Energie, des Impulses verbindet, die sowohl für die klassische als auch für die moderne Physik Geltung haben. Diese allgemeinsten Gesetze der Erhaltung und Umwandlung sind jedoch, wie schon F. Engels im Falle des Gesetzes der Erhaltung und Umwandlung der Energie darauf hinwies, nicht nur im quantitativen, sondern auch im qualitativen Sinne zu verstehen, d. h. im Sinne der Erhaltung der Umwandlungs'fähigkeit. Ausgehend von den Grundprinzipien des dialektischen Materialismus, dem Prinzip des materialistischen Monismus, dem Prinzip des allgemeinen und gegenseitigen Zusammenhanges aller Dinge und Erscheinungen, der durch die Bewegung und Entwicklung der Materie vermittelt wird, sowie ausgehend von den Ergebnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaft, gelangen wir zu der Annahme, daß es am angebrachtesten ist, jedes Ding, jeden Teil des Weltalls, als ein offenes System zu betrachten, d. h. daß zu jedem Ding eine bestimmte Um8

Siehe zit. Arbeiten der belgischen thermodynamischen Schule:

I. Prigogine,

S. R. de Oroot. In allgemeinerer philosophischer Interpretation s. J. Segal, Die dialektische Methode in der Biologie, Berlin 1958, S. 123. Entgegengesetzter Meinung ist R. Haase, Der zweite H a u p t s a t z der Thermodynamik und die Strukturbildung in der Natur, Die Naturwiss., 1 9 5 7 , 1 5 , 409—415.

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weit gehört, in der es seine Eigenschaften und Qualitäten zum Ausdruck bringen kann, wobei seine Geschlossenheit, Isolierung nur relativ ist. Sämtliche Erscheinungen und Gegenstände der wissenschaftlichen Analyse erfüllen diese Bedingung. Es hat jedoch keinen Sinn zu fragen, ob das Weltall als Ganzes eine „Umwelt" hat. Eine solche Frage ist methodologisch der Bemühung analog, die letzte Substanz, die Ursache der Welt zu finden, und gehört deshalb in das Arsenal der Metaphysik. Die einzelnen Natur- und Gesellschaftswissenschaften bringen nicht gleichbedeutende Erkenntnisse über die Entwicklung der Welt. Manche Fachgebiete der Physik, z . B . die klassische Mechanik und die Quantenmechanik, die Thermodynamik u. a. und die physikalischen und chemischen Wissenschaften im allgemeinen, untersuchen verhältnismäßig stabile und zeitlich unabhängige Systeme und Strukturen. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung aus den Ergebnissen der sogenannten historischen Wissenschaften, wie z. B. Astronomie, Kosmogonie, Geologie, Biologie und Gesellschaftswissenschaften, besonders ersichtlich. Heute ist es nicht notwendig, die Existenz der Entwicklung als solche besonders zu begründen. Sie ist reichlich durch konkrete Wissenschaften nachgewiesen und wir gehen von ihr als von einer Tatsache aus. Bei den heutigen Streitfragen geht es nicht so sehr um die Anerkennung der Entwicklung selbst, sondern mehr um ihre Gesamtauffassung und insbesondere um die Lösung der Frage der gegenseitigen Beziehung der verschiedenen „Entwicklungsschichten", des entwicklungsmäßig ^Höheren" und „Niedrigeren", d. h. um die Lösung der Fragen der objektiven Entwicklungskriterien. Zur Frage der philosophischen Gesamtauffassung der Entwicklung vor dem dialektischen Materialismus stellt ohne Zweifel Hegels Philosophie mit ihrer Konzeption der Dialektik den größten Beitrag dar. Hegel sieht den Entwicklungsprozeß vor allem vom Standpunkt der Selbstentwicklung der Dinge und der Ergebnisse, zu denen sie führte. Hegels Verdienst liegt nicht nur in der Formulierung der Hauptgesetze der Dialektik als Entwicklungsgesetze der Welt. Ebenso wichtig und wertvoll sind Hegels Hinweise darauf, daß wir das entwicklungsmäßig ^Höhere" nie dadurch erläutern, daß wir uns auf die „Dunkelheit" der Vergangenheit konzentrieren. 349

Jede entwicklungsmäßig höhere Stufe wirft ein neues Licht auf die vorhergehende Geschichte. Marx trat mit dieser Entwictlungskonzeption ganz bewußt an die Geschichte heran. Die „Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist". 1 0 Die dialektische Auffassung der Entwicklung unterscheidet sich von dem metaphysischen Evolutionismus nicht nur in der Frage der Diskontinuität, des dialektischen Sprunges, sondern auch in der Frage der Einheit des ontologischen und gnoseologischen ,,Anfang szustandes" und in der Auffassung der Einheit des Entwicklungsprozesses. Das dialektische Herangehen bedeutet nicht einfach irgendeinen „Beginn" des Entwicklungsprozesses direkt zu suchen, sondern indirekt vermittels der höchstentwickelten Stufe, in der bereits deutlich alle wesentlichen Beziehungen verkettet, vermittelt sind, wo eine Differentiation der Struktur existiert, die in den niedrigeren Stufen nur in der Tendenz ersichtlich ist. Der vulgäre Evolutionismus Spencerschen und Lamarckschen Typs anerkennt hingegen nicht die relative Autonomie in der Entwicklung, die Selbstentwicklung aus dem Inneren der Dinge, die Totalität des Entwicklungsprozesses vom Standpunkt der Ergebnisse, zu denen sie führte, und versteht die Entwicklung nur als allmähliche und oft passive Anpassung, Adaptation des materiellen Systems an dessen Umwelt. Das Kriterium der Adaptation charakterisiert jedoch nicht genügend besonders die steigenden Tendenzen in der Entwicklung und den Zusammenhang der entfernteren Entwicklungsetappen. Es hat oft antievolutionistische Folgen. Zum Beispiel sind eine Reihe entwicklungsmäßig niedrigerer Organismen ebensogut, wenn nicht besser an die Umwelt adaptiert, als höherentwickelte Typen. 11 10 11

K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1951, S. 262. Viele neue dialektische Hinweise auf die Frage der biologischen Adaptation gibt in der letzten Zeit L. v. Bertalanffy, zusammengefaßt in seiner übersichtlichen Studie: Modern Concepts on Biological Adaptation, in: The Historical Development of Physiological Thought, edit. by Brooks Ch. McC., P. F. Cranefield, The Hafner Publishing Company, New York 1959 S. 2 6 5 - 2 8 6 .

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Im Einklang mit dem derzeitigen Stand der Wissenschaft kann im Gegenteil als Grundkriterium der biologischen Evolution das Anwachsen der biologischen Unabhängigkeit des Organismus als Ganzes von der Umwelt betrachtet werden und die Art und Weise, wie die Organismen darauf rückwirkend aktiv wirken, wie groß der Feedback mit der Umwelt ist, würde der Kybernetiker sagen. Entwicklungsmäßig höher ist dann der Organismus, der von der gegebenen Umwelt relativ unabhängig ist. Dies macht sich durch eine Reihe homöostatischer Mechanismen bemerkbar, durch die genetische, biochemische und physiologische Homöostase. Es werden relativ selbständige Subsysteme geformt, es entstehen ein größerer Reichtum, Vielfältigkeit, Regulation bei der Informationsannahme aus der Umwelt und eine größere Plastizität im Feed-back an die Umwelt. Der englische Physiologe und Kybernetiker W. G. Walter 1 2 beschreibt in seinem Buch „The Living Brain" ein einfaches, aus zwei Elementen (A, B) zusammengesetztes System. Er berücksichtigt vom Standpunkt ihrer Aktivität einige der einfachsten Beziehungsstufen: 1. 2. 3. 4.

weder A noch B sind aktiv (das Verhalten = 0) A ist aktiv, B nicht (das Verhalten = a) B ist aktiv, A nicht (das Verhalten = b) A und B sind beide aktiv, jedoch voneinander unabhängig (das Verhalten = a und b gemischt) 5. A beeinflußt B (das Verhalten b ist A untergeordnet) 6. B beeinflußt A (das Verhalten a ist B untergeordnet) 7. A und B beeinflussen sich gegenseitig (das Verhalten alterniert zwischen a und b) Den inneren Zustand eines solchen Systems kann man wie folgt symbolisch ausdrücken: 0, A, B, A + B, A -> B, A

B, A

B

in den Verhaltenstypen: o, a,b,a-f-

b, bjf A/, a//-B/,o6 ab ab . ..

Auf Grund dieses außerordentlich einfachen Systems konstruierte WaltereineMasehine, die er „machinaspekulatrix" benannte. DieseMa12

Walter W. Orey, The Living Brain, London 1953, 1957, S. 77 und folgende.

351

schine, ähnlich wie eine Reihe anderer komplizierterer kybernetischer Modelle des Lebens, ist bereits imstande, sich analog dem einfachsten Lebewesen zu verhalten. Sie zeigt eine gewisse positive und negative Reaktion auf gewisse „Reize", „untersucht" ihre Umwelt, entscheidet über zweckmäßige und unzweckmäßige Reaktionen, nähert sich den optimalen äußeren Bedingungen und kann einen Zustand eines gewissen inneren Gleichgewichtes, der Homöostase erreichen. Zusammenfassend kann gesagt werden: vom Standpunkt der Organisation, Struktur des Systems können wir als entwicklungsmäßig höher diejenigen Systeme betrachten, die eine reichliche Anzahl von Beziehungen zwischen den Elementen oder Bestandteilen der Systeme besitzen. 13 Der Entwicklungsprozeß ist nicht nur irgendeine einseitige quantitative Komplikation, Differentiation, sondern eher eine Komplizierung der Beziehungen in der Organisation und Struktur, die ohne einen entgegengesetzten Prozeß der quantitativen Vereinfachung, ohne innere Integration des Systems, undenkbar ist. Das entwicklungsmäßig kompliziertere, komplexe System hängt nicht von der Anzahl der Elemente ab, sondern vom Reichtum und von der Qualität seiner inneren Struktur und von der Struktur, in die es eingebaut wird. Dies ermöglicht eine größere Beherrschbarkeit, Regulation, Ausnutzung der Energie, und mit der lebendigen Natur beginnend, auch die Bemühung zur Erhaltung und Reproduktion der Systeme als ein Ganzes. Negative Kriterien werden auch in komplexen Systemen beibehalten. Ohne Negation sind jedwede Produktion, jedweder Fortschritt usw. undenkbar. Bei Verlust oder Beschädigung eines organischen Teiles wird das entwicklungsmäßig höhere System mehr gestört als im gleichen oder ähnlichen Fall ein entwicklungsmäßig niedrigeres System. Ein weiteres Kriterium des entwicklungsmäßig Komplizierteren kann neben der Komplexität bereits die angeführte Tatsache der Entstehung neuer Eigenschaften, Beziehungen, Elemente sein. In ihrem Komplex stellen sie die Spezifität der gegebenen Erscheinung 13

Vgl. ebenda: "It meant asking whether the elaboration of cerebral functions may possibly derive not so much from the number of its units, as from the richness of their interconnection."

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dar, ihre neue Qualität, Gesetzmäßigkeit. Diese beinhaltet, beherrscht und leitet die entwicklungsmäßig niedrigeren Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten. Dieses Moment der Entwicklung, das die Entstehung neuer Qualitäten, der Irreversibilität und der Reversibilität betrifft, ist — wie bereits einleitend gesagt wurde — besonders wichtig. Bisher ist es Gegenstand großer Auseinandersetzungen, denn es betrifft die Dynamik, während die Kategorien der Komplexität, der Struktur und Organisation das relative Ruhemoment in der Entwicklung betreffen. Das Prinzip des Historismus, der Unwiederholbarkeit, der Irreversibilität des Entwicklungsprozesses ist völlig durch die Wissenschaften, insbesondere die historischen, begründet. Genauso wie die Bewegung absolut ist, ist die Entwicklung absolut irreversibel, die Reversibilität, Wiederholbarkeit, Rhythmus, Spiralität, Zyklizität, sind relativ. In diesem Sinne gilt in vollem Ausmaß der Ausspruch von Marx, daß die einzige Wissenschaft die Geschichte ist. Dies bedeutet jedoch nicht die Ablehnung der relativen Reversibilität. Im Gegenteil. Bei entwicklungsmäßig höheren Systemen machen sich die relative Wiederholbarkeit, Zyklizität, Rhythmus und Spiralität in der Entwicklung viel mehr geltend als in den entwicklungsmäßig niedrigeren Systemen. Die Diskontinuität der Entwicklung schließt nicht ihre Kontinuität, die Entstehung von Entwicklungsreihen und -linien, die Übernahme von allem Entwicklungsfähigen aus den vorhergehenden Stufen aus.14 In der Philosophie, auch in der marxistischen, wurde die Entwicklung am häufigsten als Bewegung vom Niedrigeren zum Höheren, vom Einfacheren zum Komplizierteren definiert. Es ist wahr, daß man in allgemein ster Hinsicht als Grundkriterium der Entwicklung die Beziehung der Einfachheit und Kompliziertheit nehmen kann. Das entwicklungsmäßig Höhere ist dann komplizierter als das entwicklungsmäßig Niedrigere. Jedoch in einer solchen abstrakten Form — sofern nicht 14

Der wichtigen Frage der Dialektik des reversiblen und irreversiblen Prozesses widmet J. Segal in dem zit. Buch das ganze 9. Kapitel: „Die qualitative Form der Bewegung. Reversible und irreversible Prozesse". Siehe auch die Studie von B. M. Kedrow: „Über eine besondere Art der Wiederholung im Entwicklungsprozeß", Wissenschaftliche Hochschulvorträge, Philosophische Wissenschaften, 1959, Nr. 1, 49—61.

23 Naturwissenschaft und Philosophie

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weiter erläutert ist, worin die größere oder geringere Kompliziertheit beruht — besagt uns diese tautologische Definition über das Wesen der Entwicklung nichts Neues. I m Gegenteil, ihre dogmatische Anwendung führte des öfteren, auch in der marxistischen Philosophie, zu Widersprüchen, Fehlern und Mißverständnissen, insbesondere zur unrichtigen, undialektischen Vorstellung irgendeines absoluten Fortschrittes in der Entwicklung.16 Es ist klar, daß die Einführung gewisser, einseitiger, innerlich widersprüchlicher oder zu universaler Maßstäbe der Einfachheit oder der Kompliziertheit des Naturgeschehens, in der derzeitigen Wissenschaft bisher oft undenkbar und unzulässig ist. Bei der Einschätzung dieser Fragen kommt es oft zur Verwechslung des gnoseologischen Standpunktes, d. h. auf welche Weise wir z. B. inneratomare Bewegungen erkennen können, wie uns die Mikroweit zugänglich ist, mit dem ontologischen Standpunkt, d. h., wie diese Bewegungen z. B. mit Rücksicht auf die mechanische Bewegung der Makrokörper tatsächlich sind. Falls der Zutritt zur Erkenntnis der Mikroweit komplizierter ist, bedeutet dies noch nicht, daß selbst die erkannten Prozesse objektiv komplizierter als die Prozesse der Makroweit sind. Ausgehend von den Grundprinzipien der modernen Naturwissenschaft, insbesondere der modernen Biologie, können wir dennoch einige allgemeine Entwicklungskriterien zusammenfassen. Das entwicklungsmäßig Höhere, Kompliziertere ist 1. „freier", von seiner Umwelt relativ unabhängiger. Dabei existieren jedoch objektiv in der Natur keine absolut autonomen, geschlossenen, isolierten Systeme. Diese größere „Freiheit" wird in der Regel durch größere „Unfreiheit", Stabilität, durch einen höheren Grad der Organisation der inneren Struktur der sich entwickelnden Systeme erreicht. Dieses Merkmal der Entwicklung ist am besten ersichtlich von der höchsten Entwicklungsstufe aus, die auf unserer Erde erreicht wurde, der gesellschaftlichen Bewegung und Entwicklung. Entwicklungsmäßig höher ist diejenige Gesellschaftsstufe, die eine größere relative Unabhängigkeit sowohl von der Natur als auch von sich selbst erreichte, sich von dieser objektiv mehr abgrenzte, um sich dagegen in der 16

Siehe z. B. D. M. Trosehin, „Die Dialektik der Entwicklung in der Mitschurinschen Biologie", Moskau 1949.

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Erkenntnis und in der praktischen Kontrolle und in der Vollkommenheit der Ausnutzung der Gesetze ihr mehr anzunähern. Dieses Kriterium hat auch eine grundlegende Bedeutung für die Auswertung der biologischen Evolution. Es wird im allgemeinen von der zeitgenössischen modernen Evolutionstheorie, vom zeitgenössischen Darwinismus als eines der bedeutendsten akzeptiert. 2. Das entwicklungsmäßig Höhere, Kompliziertere hat eine komplexere innere Struktur bzw. Organisation. Auf Grund dieser komplizierten Organisation entstehen beim entwicklungsmäßig Höheren neue, nur für dieses charakteristische Gesetzmäßigkeiten, die die Gesetzmäßigkeit der niedrigeren Stufe organisch in sich einschließen, diese beherrschen und leiten. 3. Das entwicklungsmäßig Höhere, Kompliziertere hat neue Eigenschaften, Beziehungen, Qualitäten. Die Entwicklung ist absolut irreversibel. Die Reversibilität, der Rhythmus, die Zyklizität, die Spiralität, sind relativ. Sie sind ein Ausdruck der Kontinuität der Entwicklungsreihen, der Übernahme und Aufbewahrung von allem, was aus den vorhergehenden entwicklungsmäßig niedrigeren Stufen entwicklungsfähig ist.

I N D I V I D U U M UND

KOLONIE

Günther Sterba und Konrad Senglaub (Leipzig) Die Begriffe Ganzheit und Teil umfassen eine Problematik, die in der Biologie der vergangenen hundert Jahre eine bedeutsame Rolle gespielt hat und z. T. auch heute noch spielt. Das „Ganzheitsproblem" in der Biologie gab wegen seiner umfassenderen Bedeutung zu verschiedenen philosophischen Interpretationen und Verallgemeinerungen Anlaß. Durch die Entdeckung der Zelle als eines Grundbausteins lebender Körper und auf Grund der gewaltigen Erfolge der zergliedernden, analysierenden Erforschung des Organismus während des vergangenen Jahrhunderts bildete sich eine Denkrichtung heraus, die alle Eigenheiten des Organismus (Ganzheit) aus den Eigenheiten seiner isoliert gesehenen Teile zu erklären suchte. Die „holistische" Betrachtungsweise, die als Gegenströmung entstand, betont dagegen die qualitativen Besonderheiten der Ganzheit, die nicht als bloße Summe der Teile erscheint. Während die zuerst charakterisierte Richtung stark mechanizistische Züge trägt, nahm der Holismus an, daß die Ganzheit durch ein ideelles Prinzip repräsentiert sei, wodurch der Idealismus philosophische Grundlage dieser Auffassung wird. Beide Auffassungen sind einseitig. Explantationsversuche haben Klarheit darüber geschaffen, daß sich Zelle und Gewebe im natürlichen Verband, d. h. im Organismus anders verhalten als in der Kultur (Isolation). Ein wesentliches Kennzeichen einer jeden Körperzelle besteht in den mannigfaltigen stofflichen Wechselbeziehungen, die sie zu anderen Zellen unterhält. Die organismische Ganzheit besteht nicht aus dem Mosaik isolierter Teile, sondern die innigen Beziehungen der Teile zueinander und die zentrale Steuerung 357

dieser Wechselbeziehungen machen die besondere Qualität der Ganzheit aus. In diesem Zusammenhang gewinnt die Erscheinung der ,,Kolonie bildung" in der Biologie allgemeineres Interesse, weil hier über Stufungen hinweg, höhere Ganzheitsformen (Individualitäten) durch Zusammenschluß mehrerer — ursprünglich selbständiger — Teile (Individuen) entstehen. Ganzheitliche Systeme (Individuen) werden als Teile zu einer qualitativ neuen Ganzheit (Kolonie) integriert. Spezifik und Verlauf dieses Vorgangs sollen im folgenden betrachtet werden. Die Zoologie bezeichnet als Individuum eine organische, selbständig lebensfähige Einheit und unterscheidet zwei konstruktive Ordnungen von Individuen: 1. Monogenergide Protozoen, d. h. solche Einzeller, die sich aus einem Grundelement der lebenden Materie, einer Zelleinheit—Zellkern und Zellplasma — aufbauen, und 2. polyenergide Protozoen und Metazoen. In beiden letztgenannten Fällen handelt es sich um die Vereinigung mehrerer Zelleinheiten, wobei die Zellwände entweder fehlen (polyenergide Protozoen) oder aber vorhanden sind (Metazoen). Eine Sonderstellung nehmen bei dieser Definition und bei Verwendung dieses Einteilungsprinzipes die Viren, Bacteriophagen und z. T. die symbiontisch lebenden Organismen ein. Die Problematik der Individualität dieser Organismengruppen soll jedoch, da sie schon mehrfach behandelt wurde, hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein, sondern vielmehr der wesentlich seltener analysierten Wandlung der Individualität bei der Koloniebildung Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aber auch hier ist es sinnvoll, von vornherein auf die Berücksichtigung der Einzeller-Kolonien zu verzichten, da die Anwendung des klassischen Begriffs „Kolonie" in dieser Tiergruppe u. E. nur bedingt berechtigt ist. Im allgemeinen stellt der Zoologe rtiit dem Terminus „Kolonie" eine bestimmte konstruktive Einheit dem Einzelindividuum gegenüber, ohne sich über die grundsätzlichen Eigenschaften dieser neuen konstruktiven Einheit im ganzen Umfang Rechenschaft zu geben. Indessen sagt der Terminus Kolonie, daß es sich hierbei um eine Inte358

gration von Einzelindividuen zu einem Individuum höherer Ordnung handelt. Diese Integration ist in den verschiedensten verwandschaftlich unabhängigen Tiergruppen der mehrzelligen Tiere eine Erscheinung mit allgemein gültiger Gesetzmäßigkeit. Mit Beklemischew (1952) unterscheiden wir folgende Stufen kolonialer Integration 1 : 1. A b s c h w ä c h u n g d e r I n d i v i d u a l i t ä t d e r Individuen:

einzelnen

Die einfachsten Lebensformen, auf die der Begriff Kolonie Anwendung findet, sind solche, wo Einzeltiere, ohne miteinander organisch verbunden zu sein, durch ein gemeinsames Gehäuse zusammengehalten werden. Solche Kolonien findet man z. B. bei Synascidien oder bei den Hemichordaten. Es sei hier darauf hingewiesen, daß hinsichtlich der Lebensgemeinschaften der Austern oder Seepocken, wo die einzelnen Individuen oft so dicht aneinander sitzen, daß sie sich gegenseitig berühren, ja vielfach sogar aufeinander oder aneinander haften, die Anwendung des Begriffs Kolonie zu Unrecht erfolgt. Hier handelt es sich lediglich um Lebensgemeinschaften. Die nächste Stufe der Kolonialität ist durch eine organische Verbindung der Einzelindividuen ausgezeichnet. Diese Verwachsung kann primär nur durch die äußere Körperschicht gegeben sein, sich aber bei höheren Formen auf alle Keimblätter des Körpers erstrecken. Solche Kolonien sind vor allem bei den Coelenteraten anzutreffen. Während in den bisher genannten Fällen die Einzelindividuen keine deutliche morphologische Beeinträchtigung gegenüber solitären Formen zeigen, ist der nächste Schritt der Kolonialität durch die Vereinfachung und Spezialisierung der Einzelindividuen zu Arbeitsgruppen charakterisiert. Schließlich kann es unter dem koordinierenden Einfluß der Kolonie zur vollkommenen Einschmelzung der Einzelindividuen kommen. 1

Vgl. N. W. Beklemischew, Vergleichende Anatomie der Wirbellosen, Moskau 1952 (russisch). Deutsche aut. Ausgabe, Berlin 1958.

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Dies berechtigt andererseits dazu, diese Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Individualität der Kolonie zu betrachten. 2. S t e i g e r u n g d e r K o l o n i a l i t ä t : Während in den einfachsten Fällen — Zusammenhalt der Einzelindividuen durch ein Gehäuse — eine Individualität der Kolonie praktisch noch nicht besteht, beobachtet man in den angeführten folgenden Fällen eine sukzessive Zunahme der Individualität der Kolonie. Angefangen mit der Sicherung der gegenseitigen Verbindung durch das äußere Keimblatt werden immer mehr, vor allem physiologisch dominierende Abschnitte zu kolonialen Einrichtungen. Schließlich kommt es zur Unterdrückung der Wachstumsgesetze der Einzelindividuen und eigene koloniale Wachstumsformen werden entwickelt. Diese Höherdifferenzierung kann so weit gehen, daß alle für den solitären Organismus charakteristischen Lebenserscheinungen von der Kolonie als neuer konstruktiver Einheit übernommen werden. In diesem Zusammenhang sei als Beispiel die Cristatellakolonie erwähnt, bei der nicht nur der Betriebsstoffwechsel, sondern auch die Heizleitung, die Bewegung, die Gesetzmäßigkeit des Wachstums zu kolonialen Einrichtungen geworden sind. Die Einschränkung der Einzelindividuen geht hier soweit, daß diese vom konstruktiven und funktionellen Standpunkt betrachtet nur noch Teile des Ganzen sind, deren physiologische Hauptaufgabe darin besteht, die Nahrung zu ergreifen und teilweise zu verdauen. Diese durch Verschmelzung, Unterordnung und Differenzierung von Einzelindividuen entstandene neue Lebenseinheit Kolonie kann durch weitere Integration Entwicklungsformen erreichen, die den solitären Organismen der gleichen Tiergruppe fehlen, so z. B. die Ausbildung von solchen Organen, die nur von wesentlich höher organisierten Individuen anderer Tiergruppen bekannt sind. Zum Beispiel entwickeln die Siphonophoren, eine Ordnung der Coelenteraten, zum Teil Atmungsorgane und Verdauungsdrüsen, wie sie nur in wesentlich höher organisierten Tier Stämmen auftreten. Die koloniale Struktur ermöglicht so die Erlangung einer Differenzierungshöhe, die über diejenige verwandter, solitärer Formen hinausgeht. 360

Die geschlechtliche Fortpflanzung der Kolonien ist im einfachsten Falle eine Fortpflanzung der Einzelindividuen. Aber auch hier wird mit steigender Kolonialität erreicht, daß die Fortpflanzung auf bestimmte Individuengruppen konzentriert wird, die schließlich mehr den Charakter von Fortpflanzungsorganen erreichen. Obwohl diese Integration der geschlechtlichen Fortpflanzung sehr zur Steigerung der Einheitlichkeit des Systems beiträgt, verhindert sie nicht, daß die geschlechtliche Fortpflanzung stets über die befruchtete Eizelle zunächst zu einem Einzelindividuum führt, aus dem erst durch ungeschlechtliche Fortpflanzung erneut eine Kolonie entstehen kann. Eine Einschränkung dieses Kreislaufs macht sich zwar so bemerkbar, daß der Abschnitt Einzelindividuum zeitlich immer mehr zugunsten des Abschnitts Kolonie zurückgedrängt wird, kann aber auf diesem Wege zu keiner prinzipiellen neuen Art der Vermehrung führen. Es ist eine der interessantesten Feststellungen im Rahmen dieser Fragestellung, daß gerade die höchst integrierten Kolonien eine neue Art der Fortpflanzung erreichen. Besonders bei den Siphonophoren-Kolonien beobachtet man, daß innerhalb der Kolonien Organgruppen gebildet werden, die sich als Tochterkolonien loslösen können und zu selbständiger Entwicklung befähigt sind. Damit ist aber für diese konstruktive Einheit fast die oberste Grenze prinzipieller Entwicklungsmöglichkeit erschöpft. Wie ein Einzelindividuum ungeschlechtlich nur wieder ein Einzelindividuum erzeugen kann und seine geschlechtliche Fortpflanzung über die Eizelle gehen muß, so können wir annehmen, daß das Individuum nächsthöherer Ordnung, die Kolonie, in der Erzeugung von Tochterkolonien die obere Grenze seiner konstruktiven Grunddifferenzierung findet. Dies schließt nicht aus, daß die Zahl der Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb dieser Grenzen praktisch unbegrenzt ist. Aus der Biologie ist allerdings kein Beispiel bekannt, wo die Kolonie sich anschickt, einen Grad noch höherer Ordnung zu erreichen. Es ist im Rahmen dieser Betrachtungen wesentlich, nochmals betonend hervorzuheben, daß die Höherentwicklung im Tierreich auf zwei Wegen erfolgt: einmal durch Differenzierung des Individuums, d. h. Bildung und Ausgestaltung von Organen und Organsystemen in Abhängigkeit von der belebten und unbelebten Umwelt. Die Entwicklungsschritte sind hier in der Regel klein und erscheinen aus der 361

Perspektive großer Zeiträume fast kontinuierlich. Die zweite Möglichkeit ist durch die Vereinigung mehrerer Individuen — d. h. Erhöhung der Ausgangs- quantität — gegeben. Differenzierung und Spezialisierung dieser Individuengruppe zu einem Individuum höherer Ordnung gibt die Möglichkeit, hier sprungweise Organisationsformen zu erreichen, die für die solitären Formen der betreffenden Tiergruppen gar nicht, oder höchstens über große Umwege in langen Zeiträumen erreichbar sind.

ÜBER REVERSIBILITÄT U N D I R R E V E R S I B I L I T Ä T VON P R O Z E S S E N Gerd Pawelzig

(Berlin)

Sowohl im schriftlich vorgelegten Beitrag von J . Kamaryt als auch in J . Segais Buch „Die dialektische Methode in der Biologie" (Berlin 1958) wird die Frage nach der Reversibilität und Irreversibilität von Naturprozessen gestellt, vornehmlich in biologischer Sicht. Damit wird ein äußerst wichtiges Problem aufgeworfen, und zwar nicht nur für das Verständnis biologischer Erscheinungen, sondern auch von Entwicklungs- und Veränderungsprozessen schlechthin. Dieses Problem greift unmittelbar in unsere Weltanschauung ein, als der Lehre von der Entwicklung in ihrer umfassendsten, inhaltsreichsten und tiefsten Form (Lenin). Schließlich fußt auf dem wissenschaftlich gefaßten Entwicklungsbegriff der Optimismus unserer Weltanschauung: Das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden. Kamaryt hat vollkommen recht, wenn er die These aufstellt, daß die Entwicklung völlig irreversibel ist. Segal geht vom qualitativen Umschlag aus und kommt zu der Feststellung, daß nicht jeder qualitative Umschlag irreversibel ist, sondern daß erst eine Aufeinanderfolge von zwei und mehr qualitativen Umschlägen den Charakter der Irreversibilität annehme.1 Hier wird zwar sehr stark das dialektische Moment des Übergangs der Reversibilität in die Irreversibilität, der fließenden Grenzen zwischen den Begriffen gesehen, aber diese Betrachtung ist trotzdem nicht frei von einer gewissen Einseitigkeit, da Segal weder die Größe, den Grad des qualitativen Umschlags berücksichtigt, noch eine Unterscheidung zwischen Veränderungs- und Entwicklungsprozessen vornimmt. 1

J. Segal, Die dialektische Methode in der Biologie, Berlin 1958, S. 162—175.

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Natürlich ist keine absolute Trennung zwischen Veränderungsund Entwicklungsprozessen möglich, aber ihre Unterscheidung hilft uns, die Wechselbeziehungen zwischen Veränderung und Entwicklung besser aufzudecken. Es gibt qualitative Umschläge, die, für sich genommen, überhaupt nicht den Charakter eines Entwicklungsprozesses besitzen, obwohl sie in bestimmter Weise an Entwicklungsprozessen als untergeordnete Prozesse mitwirken und für diese notwendig sind. Nehmen wir das altbekannte Beispiel der Veränderung der Aggregatzustände des Wassers. Wir können das Wasser aus einem Aggregatzustand in jeden anderen überführen, hin und zurück. Der Prozeß ist völlig reversibel. Aber in der Natur geht dieser Prozeß nicht isoliert von allen anderen vor sich. Dieser Veränderungsprozeß des Wassers spielt in seiner ständigen Wiederholung als untergeordneter Prozeß bei geologischen Entwicklungsprozessen eine bedeutende Rolle. Auch Lebensprozesse finden nicht ohne ständige Umwandlung der Aggregatzustände des Wassers statt. Hier handelt es sich also um Entwicklungsprozesse, die als untergeordnete Prozesse reine Veränderungsprozesse in sich einschließen. Wir haben es mit einem ständigen gegenseitigen Durchdringen von Veränderungs- und Entwicklungsprozessen zu tun, wobei wir zwar reversible Prozesse aufhalten und umgekehrt ablaufen lassen können, aber bei irreversiblen Prozessen auf die Dauer nichts ausrichten können, ohne die sich entwikkelnde Erscheinung überhaupt zu beseitigen oder zu zerstören. Jeder Entwicklungsprozeß setzt sich also im Ergebnis einer ganzen Summe von Veränderungsprozessen gleicher oder niederer Ordnung durch. Ein weiteres Kriterium der Entwicklungsprozesse wäre, daß sie einen Anfangs- und Endpunkt haben, die wir mit Entstehen und Vergehen bezeichnen können. Einer Entwicklung sind demnach nur endliche Systeme unterworfen. Es entwickelt sich alles im Universum, aber nicht das Universum. Hiermit haben wir eine klare Abgrenzung gegen teleologische Deutungsversuche, die aus der gerichteten Entwicklung endlicher Systeme auf die gerichtete Entwicklung des unendlichen Universums schließen, wodurch dann ein außerweltlicher Lenker notwendig wird. 364

Die klarere Unterscheidung von Veränderung und Entwicklung hilft uns auch bei der richtigen Deutung einer anderen Erscheinung, die zu idealistischen Schlüssen geführt hat. Auch heute noch werden, z. B. von Aloys Wenzl, die von Hans Driesch Ende des vorigen Jahrhunderts durchgeführten Seeigeleierversuche als „experimenteller Beweis" für den Neovitalismus herangezogen.2 Die Versuche selbst sind reproduzierbar und ergeben die von Driesch beschriebenen Resultate. Damit wird jedoch noch lange nicht die von Driesch vorgeschlagene Deutung dieser Ergebnisse im Sinne des Neovitalismus zwingend. Zunächst darf man aus den bei Seeigeln beobachteten Erscheinungen allein keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ableiten. Man muß die völlig anders gearteten Erscheinungen bei anderen Tierstämmen in Betracht ziehen. Wir unterscheiden zwei Klassen von Eiern nach ihrer Reaktion auf die künstliche Trennung nach den ersten Furchungsteilungen. Drieschs Versuchsobjekt — das Seeigelei — gehört zu den Regulationseiern. Bei den Mosaikeiern jedoch (ich verwende hier den älteren Ausdruck, weil die neuere Bezeichnung,,determinative Eier" zu der Vorstellung führen könnte, die Regulationseier seien nicht determiniert) erfolgt schon im Ei oder bei der ersten Furchungsteilung eine genaue Bestimmung der Aufgaben jeder Zelle bzw. jedes Zellbezirks. Diese genaue Festlegung der Funktionen erfolgt bei den Regulationseiern erst später, im 16-, 32- oder 64-Zellenstadium. Die im Anschluß an Driesch durchgeführten Untersuchungen ergaben, daß auch schon im 16- und 32-Zellenstadium eine gewisse Festlegung bestimmter Zellgruppen entsprechend ihrer Stellung an einer Achse vom anomalen zum vegetativen Pol nachweisbar ist. Obwohl diese Untersuchungen in jedem entwicklungsphysiologischen Lehrbuch beschrieben werden, nehmen neovitalistische Autoren davon keine Notiz. 3 Vergleichen wir hier die unterschiedliche Reaktion von Mosaikund Regulationseiern auf die Trennung im 16- oder 32-zelligem Stadium, so werden wir in bezug auf Zellenanzahl und entwicklungsmäßige Festlegung nur feststellen: Zellenanzahl und entwicklungs2

3

A. Wenzl, Die philosophischen Grenzfragen der modernen Naturwissenschaft, Stuttgart 1954, S. 80. Vgl. z. B. H. Muschalek, Biologischer Katechismus, Berlin 1954, S. 20—21.

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mäßige Festlegung gehen bei verschiedenen Gattungen, Familien und Ordnungen nicht parallel vor sich, sondern sind artspezifisch gekoppelt. Die rein morphologische Einteilung von Stadien nach der Zellenanzahl bzw. nach der äußeren Gestalt (Blastula, Gastrula) kann für entwicklungsphysiologische Aussagen nicht befriedigen. Die Unterscheidung von Wachstum und Entwicklung in dem Sinne, wie sie Lyssenko für die Pflanzen eingeführt hat 4 , hat auch für entwicklungsphysiologische Vorgänge im Tierreich eine beträchtliche Bedeutung, wenn man keine schematische Übertragung vornimmt. Die entwicklungsmäßige Festlegung der Aufgaben einzelner Zellen und Zellgruppen erfolgt Schritt für Schritt, ist nach neueren entwicklungsphysiologischen Untersuchungen stofflich bedingt, nicht eindeutig morphologischen Merkmalen parallel zugeordnet, und bedarf keiner Entelechie. Wir werden derartige Erscheinungen richtiger deuten können, je genauer wir die Gesetze und Kategorien unserer Weltanschauung im einzelnen untersuchen und je exakter wir ihren wechselseitigen Zusammenhang beherrschen. Nur dadurch werden wir in die Lage versetzt, Schwierigkeiten der Deutung experimenteller Untersuchungen immer besser zu überwinden. 4

T. D. Lyssenko, Agrobiologie, Berlin 1951, S. 63-64.

D I E D I A L E K T I S C H E L O G I K UND NATURWISSENSCHAFT B. M. Kedrow

DIE

(Moskau)

Die Logik ist die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, das zur Wahrheit führt. Aber die Wahrheit selbst wird verschieden verstanden: Die formale Logik betrachtet sie als Ruhe, als ein fertiges, abgeschlossenes Wissen, als etwas Gregebenes. Das Hauptaugenmerk richtet sie auf die Klärung der Struktur des Wissens, auf seine „anatomische Zergliederung". Die dialektische Logik, als Bestandteil der materialistischen Dialektik, dagegen betrachtet die Wahrheit als einen Prozeß, als historisch entstehendes und sich entwickelndes Wissen, das in seiner Entwicklung folgerichtig bestimmte Stufen durchläuft. Die Wahrheit, als Prozeß verstanden, setzt voraus: erstens eine unausgesetzte Veränderung und Entwicklung des Forschungsobjektes selbst, das infolge seiner Veränderlichkeit nicht in unveränderlichen Kategorien widergespiegelt werden kann, und zweitens die ständige Veränderung (Vertiefung und Erweiterung) unseres Wissens von diesem Objekt, was seinen direkten Ausdruck in der Veränderlichkeit (im „Fließen") aller Begriffe, mit denen die Wissenschaft operiert, findet. In Übereinstimmung damit kann man die formale Logik als die Logik des fixierten (man kann sagen „zum Stillstand gekommenen") Wissens definieren, die dialektische Logik aber als die Logik des sich entwickelnden Wissens, das in seiner Entwicklung die Entwicklung der Außenwelt — der Natur und der Gesellschaft — widerspiegelt. Lenin hat oft betont, daß die Logik, als Dialektik verstanden, die Verallgemeinerung der Geschichte des Denkens und auch der Geschichte der gesamten Welt ist. Ich muß deshalb Material aus der Geschichte der Naturwissenschaft heranziehen. Die formale Logik 24

Naturwissenschaft und Philosophie

36»

stellt ihrem Charakter entsprechend nur die verschiedenen Formen und Methoden des Denkens nebeneinander und folgt dabei dem Prinzip der Koordinierung; sie betrachtet sie aber nicht als folgerichtige Stufen des sich entwickelnden Wissens. Die dialektische Logik wurde von Engels ausgearbeitet, der zeigte, wie der allgemeine Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis bei der Entdeckung von Naturgesetzen beschaffen ist. Dieser Weg führt von der Feststellung einzelner Fakten über ihre Gruppierung entsprechend ihrer besonderen Natur zur Aufdeckung des ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Gesetzes. So ist die Geschichte der Entdeckung nicht nur des Gesetzes der Erhaltung und Umwandlung der Energie (von dem Engels schrieb), sondern auch des periodischen Gesetzes der chemischen Elemente (dem die Gruppierung der Elemente nach natürlichen Gruppen vorausging, und auf die die Herstellung ihrer wechselseitigen Verbindungen folgte). Und so ist auch die Logik der Erfindung der heutigen Gasmaske: Die Entwicklung des Erfindergedankens verlief hier von den ursprünglichen Verfahren des Auffangens einzelner Gase (Hyposulfit gegen Chlor usw.) über Gasmasken, die eine Reihe besonderer Stoffe enthalten, die auf das chemische Auffangen chemisch verschiedener Gase berechnet sind, zur Universalgasmaske Selinskis, die auf der allgemeinen (physikalischen) Eigenschaft aller Gase und Dämpfe überhaupt, der Adsorbierung durch Holzkohle basiert. Entsprechend dem Gesagten treten die Urteile des Einzelnen (E), des Besonderen (B) und des Allgemeinen (A) als logisch verallgemeinerter Ausdruck des Entwicklungsprozesses des wissenschaftlichen Denkens auf, als sein „Aufsteigen" vom Einzelnen über das Besondere zum Allgemeinen: E—B—A. Zugleich offenbart sich in dieser Bewegung die Logik wissenschaftlicher Entdeckungen und wissenschaftlich-technischer Erfindungen, die völlig unserer Aufmerksamkeit entgeht, wenn man sich nur auf die Verfahrensweisen der formalen Logik beschränkt und die einer Bearbeitung nur mit Hilfe der Dialektik zugänglich ist, die die Logik und Methodologie des wissenschaftlichen Schaffens darstellt. Die folgerichtige Reihe E—B—A drückt die innere Notwendigkeit des Erkenntnisprozesses aus, wenn sie in ihrer abstrakten, „reinen" Form vertreten ist, befreit von zufälligen Abweichungen, von den unvermeidlichen Zick-Zack-Bewegungen und dem Vorauseilen des Denkens. 370

Der reale Prozeß der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens verläuft natürlich bedeutend komplizierter und mannigfaltiger; er paßt nicht in den Rahmen der angeführten Formel E—B—A, die nicht alle Feinheiten und Nuancen der wirklichen Bewegung des lebendigen menschlichen Gedankens widerspiegelt. I n einzelnen historischen Abschnitten seiner Entwicklung kann sich eine andere Reihenfolge bei der Bewegung von einer Kategorie zur anderen oder von einer Form des Urteils zur anderen ergeben. So kann z. B. das Allgemeine (A) in der Form der allgemeinen Theorie oder Leitidee die konkrete Untersuchung auf die Entdeckung neuer Einzelerscheinungen (E) und ihrer besonderen Eigenschaften und Gruppenbezeichnungen (B) hinlenken und damit der Untersuchung des Einzelnen und Besonderen vorausgehen. Dabei können sich induktive Übergänge, die die Bewegung des Denkens auf dem Wege zur Entdeckung des Gesetzes begleiten, mit den ihnen entgegengesetzten deduktiven Übergängen verbinden. Letztere erfolgen auf Grund eines Gesetzes, dessen Entdeckung bevorsteht oder das schon entdeckt ist, bei theoretischer Voraussage einzelner Dinge und Erscheinungen und ihrer Gruppenmerkmale und Beziehungen. So sagte z. B. Mendelejew auf Grund des periodischen Gesetzes (A) voraus, daß innerhalb der bereits bekannten Gruppen (B) neue, noch nicht entdeckte Elemente (E) existieren; mehr noch, er wies darauf hin, mit Hilfe welcher besonderer Methoden (Spektralmethoden) einige der von ihm vorausgesagten Elemente (z. B. Ekaaluminium, das spätere Gallium) entdeckt werden können. All diese Fälle werden von der Formel A—B—E erfaßt. Genauso sagte Ramsay auf Grund des periodischen Gesetzes (A) nach der Entdeckung der ersten Edelgase — Helium und Argon, also (E) — die Existenz einer ganzen Gruppe (B) derartiger Gase voraus, was man durch die Formel E—A—B ausdrücken kann. Möglich ist auch eine solche Entwicklung des Denkens, bei der nach der Entstehung der allgemeinen Idee (A) zunächst nur einzelne Erscheinungen (E) entdeckt werden, die diese Idee bestätigen, und die dann erst auf Grund ihrer besonderen Merkmale in eine besondere Klasse (B) eingruppiert werden; so wurde die Idee der Umwandlung der Elemente zunächst am Beispiel des Zerfalls eines Elements (des Radiums) und dann an einer ganzen Serie der schwersten Elemente, 24«

371

die am Ende des periodischen Systems stehen und die sogenannte „natürliche" Radioaktivität besitzen, bestätigt. Folglich kann man hier die Entwicklung des Denkens durch die Formel A—E—B ausdrücken. Daß dies keine leeren Schemata sind, fern von der realen historischen Wirklichkeit, sondern die logische Widerspiegelung und Verallgemeinerung dieser Wirklichkeit, will ich an einem Beispiel zeigen: In der Geschichte der Chemie gibt es eine Version, nach der angeblich Dalton die chemische Atomistik auf folgende Weise geschaffen habe: Erst habe er die chemische Zusammensetzung einzelner Stoffe (E) untersucht, die aus zwei beliebigen Elementen bestehen, die sich in verschiedenen Proportionen verbinden; dann habe er empirisch mit Hilfe des Materials solcher Stoffe eine besondere Regel (B) entdeckt, die lautet, daß sich die Elemente in durch ganze Zahlen teilbaren Proportionen verbinden; danach habe er dieser Regel mit Hilfe allgemeiner atomistischer Vorstellungen (A) eine theoretische Erklärung gegeben. Folglich ist die Geschichte der Schaffung der chemischen Atomistik hier durch die Formel E—B—A vertreten. Indessen verhielt sich die Sache in Wirklichkeit ganz anders. Dalton (1803) zog zunächst aus der allgemeinen atomistischen Idee (A) die besondere Schlußfolgerung (B), daß sich die Elemente in durch ganze Zahlen teilbaren Verhältnissen verbinden müssen, und dann (1804) überprüfte er diese Vermutung experimentell an einzelnen Stoffen (E), an Methan und Äthylen. Lange vor Dalton begann Lomonossow (1741) den gleichen Erkenntnisweg zu beschreiten. Er konnte aber seine theoretische Untersuchung nicht bis zur experimentellen Entdeckung stöchiometrischer Regeln führen, weil es damals noch keine entwickelte Quantitätsanalyse gab, ohne die eine derartige Entdeckung unmöglich war. Folglich kann der konkrete Entwicklungsgang des wissenschaftlichen Denkens von Dalton und Lomonossow durch die Formel A—B—E dargestellt werden, wenn er auch in seiner Endgestalt, seiner abstrakten, logisch „gereinigten" Form der folgerichtigen Denkentwicklung entspricht, wie sie durch die Formel E — B — A ausgedrückt ist. Diese zweite Formel ist die der Bestätigung der Atomhypothese im Bewußtsein der Chemiker, die in der umgekehrten Reihenfolge ver372

lief wie ihre Aufstellung und Formulierung (dem die erste Formel entspricht). So gestattet die dialektische Logik die komplizierten Wechselbeziehungen, die sich zwischen der Theorie und der Praxis sowie zwischen den verschiedenen Formen und Stufen des wissenschaftlichen Denkens im Laufe seiner historischen Entwicklung herausbilden, aufzudecken und zu verfolgen. Die Theorie erweist sich nicht nur als eine Verallgemeinerung, Summierung und Erklärung der Ergebnisse der Praxis, indem sie ihr folgt, sondern auch als Kompaß, der den Weg für die experimentelle Forschung zeigt und geht damit der Praxis voraus. Das Gesagte betrifft auch andere Verfahrensweisen und Kategorien des Denkens, insbesondere das Verhältnis der Methoden analytischer und synthetischer Forschung und in Verbindung damit das Verhältnis der Kategorien Wesen und Erscheinung. Erscheinung und Wesen kann man formal betrachten als äußerlich gegenübergestellte gegensätzliche Seiten der Wirklichkeit. Aber von der historisch- erkenntnistheoretischen Seite aus, folglich vom Standpunkt der dialektischen Logik, sind das verschiedene Stufen der wissenschaftlichen Erkenntnis, Bewegungen des menschlichen Gedankens in die Tiefe der untersuchten Dinge und Prozesse der Natur. Die Wirklichkeit entsteht vor uns in der Form einer beinahe unendlichen Reihe von Wesenheiten, die wie Treppenstufen in die Tiefe der Materie führen und aufeinanderfolgende Übergänge von weniger tiefen zum immer tieferen Wesen darstellen. Jede Stufe hat dabei ihre besonderen Äußerungen in Form einer bestimmten Art von Erscheinungen. In Übereinstimmung damit kann man den allgemeinen Erkenntnisgang in seiner historischen Perspektive in der Form einer folgerichtigen Reihe relativ vollendeter und ineinander übergehender Kreise oder Zyklen darstellen: Von den Erscheinungen zur Aufdeckung ihres Wesens (sozusagen 1. Ordnung), dann zu komplizierten Erscheinungen und von diesen Erscheinungen weiter zur Aufdeckung ihres Wesens (2. Ordnung) usw. ohne Ende. Als Beispiel kann uns die Geschichte der Lehre vom Stoff und seinem diskontinuierlichen, atomistischen Aufbau dienen. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vertiefte die Naturwissenschaft ihre Kenntnisse

373

von physikalischen (hauptsächlich molekularen) Erscheinungen zum Wesen 1. Ordnung, d. h. in die Erklärung physikalischer Erscheinungen mit Hilfe theoretischer Vorstellungen über die Bewegung der Moleküle. Gleichzeitig ging die Vertiefung vom Studium chemischer Erscheinungen zum Wesen 2. Ordnung hin, d. h. zur Erklärung dieser Erscheinungen, mit Hilfe der Vorstellungen über die Wechselwirkung der Atome. Die Vertiefung in das Wesen beider Ordnungen vollzog sich gleichzeitig, weil die Moleküle, wie bekannt, aus Atomen gebildet sind. So entstand die neue Atomistik, die die komplizierte Diskontinuität der Materie, das heißt, den stufenweisen Aufbau ihrer diskreten Gebilde entsprechend dem gestuften Wesen der verschiedenen Erscheinungen der anorganischen Natur anerkannte. Auf höherer Grundlage begann das weitere Eindringen in das Innere der Materie, in das Wesen der chemischen Elemente selbst, das heißt, in das Wesen 3. Ordnung, durch die Entdeckung des periodischen Gesetzes (1869) und weiter durch die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Radioaktivität, des Elektrons (1895—1897) usw. Als Wesen vieler subatomarer physikalischer Erscheinungen, wie auch des periodischen Gesetzes selbst (folglich als Wesen 3. Ordnung) erwies sich die Bewegung der Elektronen in der Atomhülle, deren spezielle Bewegungsgesetze dann nach der Schaffung der Quantenmechanik entdeckt wurden (1924—1928). Gleichzeitig begann damit das Eindringen in ein noch tieferes Wesen, in das Wesen der kernphysikalischen Erscheinungen, das sich in nuklearen Bewegungen und inneratomaren Umwandlungen äußert. In der Gegenwart tritt in Verbindung mit den ersten Untersuchungen, die in das Innere der „Elementar"-Teilchen eindringen, das Problem der Aufklärung ihrer inneren Natur und sogar Struktur, d. h. der Aufdeckung eines immer tieferen Wesens der physikalischen Erscheinungen auf. Das Wesen der dialektischen Logik selbst besteht gerade darin, daß sie die entsprechenden Kategorien als Stufen der Erkenntnis betrachtet und die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ihres Erscheinens im Entwicklungsprozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis aufdeckt. Mit dem allgemeinen Verlauf der Erkenntnis, die von der Erscheinung auf das Wesen gerichtet ist, ist die Ablösung und Wechselwirkung ver374

schiedener Verfahrensweisen der wissenschaftlichen Forschung, insbesondere der Analyse und Synthese verbunden. Analyse und Synthese können formal als zwei exakt voneinander getrennte und äußerlich einander entgegengesetzte Verfahrensweisen der Untersuchung betrachtet werden; die Zerlegung des Ganzen in Teile (Analyse) und die Wiederherstellung des Ganzen aus seinen Teilen (Synthese). Damit ist die Charakteristik beider Verfahrensweisen vom „strukturellen" Gesichtspunkt gegeben. Aber vom historischen oder dialektischen Gesichtspunkt werden beide Verfahrensweisen als Widerspiegelung bestimmter Stufen der Erkenntnis der Natur betrachtet, die sich einander folgerichtig abwechseln. Die Stufen sind im allgemeinen folgende: 1. Die ursprünglich chaotische Vorstellung vom Gegenstand der Erkenntnis als ungegliedertem Ganzen (seine unmittelbare Anschauung) ; 2. Analyse; 3. Die Synthese, d. h. die gedankliche Wiederherstellung des studierten Gegenstandes in seiner anfänglichen Ganzheit. Mit diesem Moment ist der gegebene Erkenntniszyklus relativ (!) vollendet, und es beginnt der folgende Zyklus, der dieselben grundlegenden Stufen (unmittelbare Anschauung, Analyse, Synthese) durchläuft usw. Eine solche Betrachtungsweise gibt die methodologische Grundlage für das Verständnis der Periodisierung der Geschichte der gesamter Naturwissenschaft und der mit ihr verbundenen materialistischen Philosophie, aber auch der Geschichte der einzelnen Wissenschaften, der einzelnen Lehren, der Theorien und Begriffe (z. B. der Lehre von der Energie, der Lehre vom Stoff u. a.). Die ganze chemische und physikalische Lehre vom Stoff bewegte und bewegt sich im Rahmen von drei Kategorien: Eigenschaft, Zusammensetzung, Struktur. Sie bringen die Folge der Erkenntnis des Stoffes auf jeder Stufe des Studiums seiner Erscheinung und des Eindringens in sein Wesen immer tieferer Ordnung zum Ausdruck. Die Eigenschaften entsprechen hauptsächlich der ersten Stufe der unmittelbaren Bekanntschaft mit dem gegebenen Stoff, die Zusammensetzung — dem Resultat der Analyse des Stoffes, die Struktur — der theoretischen Vorstellung vom Stoff in seiner inneren Ganzheit und dem wechselseitigen Zusammenhang seiner strukturellen Teile (seiner gedanklichen „Wiederherstellung"). 375

Folglich entspricht der Übergang von der Beobachtung der Eigenschaften des Stoffes (in der Natur oder im Laboratorium) durch das Feststellen seiner Zusammensetzung zur Aufdeckung seiner Struktur der allgemeinen Bewegung der Erkenntnis von der unmittelbaren Anschauung über die Analyse zur Synthese, die sich auf vorhergehende Analyse stützt. Im Verlaufe der Entwicklung der Erkenntnis ist bei der Erreichung ihrer entsprechenden Stufen die Entstehung einer besonderen Art von Problemen möglich, (und wird auch tatsächlich beobachtet), wenn die vorangegangene Stufe, die in Form der empirischen Untersuchung und Beobachtung durchlaufen wurde, ihre theoretische Interpretation durch die Verbindung ihrer Ergebnisse mit der folgenden höheren Stufe der Erkenntnis des Stoffes erhält. Weiter wird unter diesem Gesichtspunkt kurz die Geschichte der Lehre vom Stoff analysiert (siehe Tabelle 1). Die ganze Lehre vom chemischen Stoff bewegte sich vom Altertum bis zum Anfang des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts in dem erwähnten Rahmen: Anfangs wurde das Stadium des Stoffes nur durch seine Eigenschaften (E) beschränkt (Punkt 1 in Tabelle 1), die den vier Elementen des Aristoteles und später den drei Elementen der Alchimisten zugrunde lagen. Schon die Alchimisten bemühten sich, die Eigenschaften der Körper mit der in ihnen angenommenen Zusammensetzung zu verbinden, wobei sie den Eigenschaften substantiellen Charakter zuschrieben. So entstand das Problem „Eigenschaft-Zusammensetzung" (die Erklärung der Eigenschafben ausgehend von der Zusammensetzung [Z] des Stoffes) E—Z (Punkt 2). Es konnte nur gelöst werden, und wurde in der Tat nur gelöst mit der Erreichung des analytischen Stadiums in der Entwicklung der Chemie (XVIII. Jh.): Die Sauerstofftheorie, die auf der Grundlage der empirischen Entdeckung des Sauerstoffs (1774) entstanden war, verband die Eigenschaft der Säurehaltigkeit mit dem Vorhandensein von Sauerstoff in der Zusammensetzung oxydierter Stoffe. Als die empirischen Regeln der chemischen Zusammensetzung der Stoffe entdeckt waren, erhielten sie ihre theoretische Erklärung in der chemischen Atomistik (1803). So entstand das Problem „Zusammensetzung-Struktur" (die Erklärung der Zusammensetzung und ihrer Regeln ausgehend von der 376

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Formeln des erreichten Wissens ( E = Eigenschaft Z = Zusammensetzung S = Struktur) E - Z \ / S E - Z (S) E

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Tabelle 2: Zur Frage des Eindringens in das Wesen

lichkeit des Elektrons und von der Unendlichkeit der Materie im Innern. Die Bewegung der Erkenntnis ins Innere der „Elementar"-Teilchen kann man sich analog zu ihrer früheren Bewegung ins Innere der Atome, folglich ins Innere der chemischen Elemente so vorstellen, daß zuerst der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen den Eigenschafben selbst aufgedeckt wird (analog dazu, wie von Mendelejew das periodische Gesetz entdeckt wurde). Dann folgt die Aufdeckung der Seiten dieser Teilchen, die der Zusammensetzung und der Struktur bei komplizierteren und entwickelteren Formen der Materie entsprechen. Auf dieser Linie liegen die Versuche Heisenbergs, eine „Grundgleichung der Materie" zu finden, die alle „Elementar"Teilchen verbindet (1957). Natürlich sind das vorläufig alles sehr kühne Behauptungen, genau wie die Versuche des Autors dieses Vortrags, dafür eine Art 381

Periodisches System der „Elementar"-Teilchen auszuarbeiten (1946). Auf jeden Fall ist man auf dieser Stufe des Eindringens in die Struktur der Materie, in ihr physikalisches Wesen, noch nicht über die Untersuchung der Eigenschaften der Teilchen und ihrer Verbindungen hinausgegangen. Schematisch kann man sich die Erkenntnisstufe der verschiedenen uns bekannten diskreten Arten des Stoffes vorstellen, wenn man die vier ersten Punkte in der Tabelle 2 vergleicht: für die Moleküle und Atome ist der Zyklus relativ geschlossen (Punkt 1 und 2); für die Kerne ist der Zyklus schon entfaltet, aber noch nicht beendet (Punkt 3); für die „Elementar"-Teilchen befindet sich der Zyklus gerade erst am Anfang seiner Entfaltung (Punkt 4). In quantitativer Hinsicht kann man sich den Prozeß der Vertiefung in die Materie als Erreichung immer kleinerer räumlicher Ausmaße vorstellen, die wir bei der Untersuchung der gegebenen Form des Stoffes erhalten: im Falle der Moleküle und Atome wird das eine Größe ca. 10—8 cm und größer sein; im Falle der Kerne und „Elementar "-Teilchen—etwa 10—13 cm, d. h. eine 100000 mal kleinere. In der letzten Zeit gelang es den Physikern, in dieser Richtung noch einen Schritt vorwärts zu tun, indem sie eine Größe ca. 10~ 14 cm erreichten. Jetzt werden schon Hypothesen über die Möglichkeit der Existenz bestimmter physikalischer Beziehungen im Inneren der „Elementar"-Teilchen von ca. 10—15, 10—16 cm sogar bis 10—17 cm aufgestellt. Ich komme zu den Schlußfolgerungen, die sich aus meiner Abhandlung ergeben: 1. Je tiefer das Eindringen in die Materie ist, das eine gegebene Stufe darstellt, um so später wird sie erreicht und um so weiter ist sie von der relativen Vollendung des entsprechenden Zyklus der Erkenntnis entfernt; das erklärt sich dadurch, daß der neue Entwicklungszyklus der Erkenntnis eher beginnt, als der vorhergehende Zyklus abgeschlossen wird. Die Entdeckung der Zusammensetzung und insbesondere der Struktur setzt doch bei einem komplizierteren Objekt voraus, daß die Erforschung der Eigenschaften seiner Bestandteile und strukturellen Elemente, d. h. der Eigenschaften der in ihm enthaltenen einfacheren Objekte, schon begonnen hat. 2. Aus allen Stufen der Untersuchung des Stoffes zeigt sich ein und dieselbe allgemeine Tendenz, die von den Eigenschafben zur Zusammensetzung, zur Struktur und von der Struktur wieder zu den 382

Eigenschaften verläuft, aber schon nicht zu den unmittelbar wahrnehmbaren, sondern zu ihrer theoretischen Erklärung auf einer höheren Grundlage. 3. Wir können mit Hilfe der betrachteten Leitsätze und Beziehungen den schon durchlaufenen Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht nur resümieren und verallgemeinern, sondern, indem wir uns auf eine solche Verallgemeinerung stützen, vorwärtsschauen, den allgemeinen Charakter und die Richtung der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens auf einem gegebenen Gebiet der Untersuchung voraussehen: Wenn der dargelegte Verlauf der einzelnen Stufen bei der Untersuchung des Stoffes allgemeinen und folglich gesetzmäßigen Charakter trägt, so folgt daraus, daß das Problem der Struktur nicht nur für die Atomkerne herangereift ist, sondern bald auch für die „Elementar"-Teilchen auf der Tagesordnung steht, obgleich noch bis vor kurzer Zeit (und sogar bis heute) die Möglichkeit des Vorhandenseins einer inneren Struktur bei ihnen angezweifelt wurde, und die Teilchen selbst als materielle Punkte angesehen wurden. 4. Die Bewegung der Erkenntnis von einer Stufe zur anderen vollzieht sich so, daß alle vorhergehenden Stufen gleichsam das Fundament darstellen, auf dem alles folgende Wissen aufgebaut wird, d. h. die gesamte moderne Wissenschaft. Um ein Bild zu gebrauchen: die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis vollzieht sich auf dieselbe Weise, wie ein Haus gebaut wird (ein Stockwerk nach dem anderen), nicht aber so, wie ein Zug fährt (wobei eine Station auf die andere folgt und die vorhergehende völlig ablöst). 5. Die oben dargelegte marxistische dialektische Logik ist der Hegelschen direkt entgegengesetzt, wie Marx, Engels und Lenin unterstreichen: bei Hegel ist die Rede von der Logik der sich dialektisch entwickelnden absoluten Idee, die der Demiurg (Schöpfer) der gesamten Wirklichkeit ist. In der marxistischen Philosophie ist die Logik der sich entwickelnden Erkenntnis nur die Widerspiegelung der Logik der Entwicklung der materiellen Welt — der Natur und Gesellschaft. Betrachten wir jetzt noch einmal die Tabelle 2. Wenn wir die etwas naive Frage stellen: Was muß denn der menschliche Verstand noch alles durchlaufen auf dem Wege ins Innere der Materie ?, so kann man 383

mit den Worten Lenins (wie das auch Prof. Blochinzew auf der Moskauer Beratung der Philosophen und Naturwissenschaftler tat) sagen: die Unendlichkeit. In diese Antwort muß man sich hineindenken: die Unendlichkeit! Das bedeutet, daß sich nicht 5- oder lOmal, sondern unendlich viele Male der Zyklus der Bewegung unserer Erkenntnis von der Erscheinung zum Wesen und vom Wesen zum tieferen Wesen und zum immer tieferen Wesen wiederholt, wobei die räumlichen Größen, die die Menschheit auf dem unendlichen Wege der sich immer schneller entwickelnden Wissenschaft erreichen wird, unendlich klein werden. Aber das bedeutet nicht, daß sich der vorhergehende Zyklus der Entwicklung jedes Mal wiederholen wird; das wäre die „schlechte" Unendlichkeit, wie Engels zu sagen pflegte. Nein, jeder Schritt vorwärts wird ein qualitativ anderer sein, er wird verbunden sein mit bestimmten neuen, uns jetzt unbekannten Arten der Materie und Formen ihrer Bewegung, und dann können solche Begriffe, wie der Begriff von der „Zusammensetzuug" oder von der „Struktur" des Stoffes qualitativ anders sein, prinzipiell andere Bedeutung gewinnen. Aber unendlich ist und bleibt der Prozeß der Bewegung von der Erscheinung zum Wesen und zwar zum immer tieferen. Gerade dieser Prozeß wird in den Leninschen Leitsätzen charakterisiert, daß das Elektron ebenso unerschöpflich ist wie auch das Atom und daß die Materie in ihrer Tiefe unendlich ist. Jetzt kann man oft hören (und wir hörten es auch hier auf dieser Beratung), daß die Quantenmechanik das Kausalitätsprinzip einschränke, daß die quantenmechanischen Erscheinungen nur teilweise determiniert seien oder sogar völlig akausal seien usw. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem wir gerade den ersten Schritt vom Gebiet der Größen und Körper eines Grades (der Makrokörper der klassischen Physik) hinweg getan haben, indem wir in das qualitativ neue Gebiet der Mikroprozesse, die die Quantenmechanik erforscht, eindrangen. Aber es ist doch verständlich, daß wir mit dem Übergang zu jeder qualitativ verschiedenen, komplizierteren — und wenn man sich so ausdrücken darf — tiefer liegenden Form der Materie unausbleiblich auch auf die ihr entsprechende kompliziertere, qualitativ verschiedene Form der Kausalzusammenhänge, mit anderen Worten — auf einen neuen,frühernicht bekannten Typ des Determinismus, stoßen müssen. 384

Wir müssen dies beachten und unsere Söhne und Enkel an Hand der Erfahrung der heutigen Generation der Wissenschaftler lehren, sich vernünftig zu der Wandlung der Formen des Determinismus zu verhalten und nicht in Panik darüber zu verfallen, daß der früher gekannte Typ des Determinismus sich als beschränkt, nicht universell erwies (was auch zu erwarten war). Wenn man das nicht tun würde, dann würden sich unsere Kinder und Enkel genau wie jetzt einige von uns an den Kopf fassen, weil die Wissenschaft vom quantenmechanischen und kernphysikalischen Typ der gesetzmäßigen Verbindungen (und das ist eben der Determinismus) übergeht zur Untersuchung eines vom Standpunkt des „gesunden Menschenverstandes" noch seltsameren und unbegreiflicheren Typs gesetzmäßiger Verbindungen von Erscheinungen, folglich zu einem neuen Typ des Determinismus. Und man muß berücksichtigen, daß sich das noch unendliche Male vollziehen wird, so daß man sich sowieso unvermeidlich an diese Ablösung der Begriffe über konkrete Typen der Kausalität der Gesetzmäßigkeit, des Determinismus gewöhnen muß. Aber wir gehen bedeutend vernünftiger vor, wenn wir uns schon jetzt auf diese Perspektive vorbereiten und, nachdem wir nur den ersten Schritt getan hatten, aufhören zu erklären, daß sich schon während dieses ersten Schrittes das Prinzip des Determinismus zerstört hätte, daß wir in das Gebiet der indeterminierten oder halbindeterminierten Erscheinungen eingetreten seien. Wir müssen etwas für die Zukunft, die nächsten Schritte ins Innere der Materie übrig lassen. Sie sind schon sehr nahe, und es kann sein, daß es sie schon morgen zu machen gilt. Wenn wir schon heute den Determinismus zerstören und alle mikrokosmischen Erscheinungen in den Indeterminismus verwandeln, wie soll dann morgen oder übermorgen ein Typ des Determinismus durch andere Typs abgelöst werden? Es ist schon einmal etwas Ähnliches vorgekommen: Jahrhundertelang haben die Gelehrten geglaubt, daß die Materie aus Atomen besteht, daß die Atome die letzten Teilchen der Materie sind und daß deshalb alles, was jenseits ihrer Grenzen festgestellt werden kann, als immateriell erscheinen müßte. Als es sich erwies, daß das Atom teilbar ist, daß es (seine Hülle) aus Elektronen besteht und daß das Atom keineswegs das letzte Teilchen ist, wurden die Elektronen zuerst als immateriell erklärt. Damals hieß es: „Die Materie ist verschwunden, die Materie wird durch die .Elektrizität' er25

Naturwissenschaft und Philosophie

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setzt." I n Wirklichkeit ist die Materie aber natürlich Materie geblieben; der Mensch ist nur von der Kenntnis des einen Typs ihrer diskreten Teilchen (der Atome) zur Entdeckung eines anderen, bis dahin nicht bekannten Typs (der Elektronen) gelangt. Genauso verhält es sich hier: Der Determinismus bleibt Determinismus, und es geht lediglich darum, daß der Mensch von der Kenntnis eines Typs (des mechanischen Determinismus der Makroprozesse) zur Entdeckung eines neuen, früher unbekannten Typs gelangt ist (des quantenmechanischen Determinismus der Mikroprozesse). Die dialektische Logik gibt eben die Antwort auf derartige Fragen, denn sie ist — und ich wiederhole das noch einmal — die Logik des sich entwickelnden Wissens; sie entdeckt nicht nur die allgemeinen Gesetze der sich bewegenden unendlich fortschreitenden Erkenntnis, sondern sie erarbeitet auch den entsprechenden logischen Apparat. Ich habe nur einen geringen Teil der Fragen berührt, die mit der marxistischen dialektischen Logik verbunden sind. Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, zu versuchen, sie als Logik des sich entwickelnden Wissens zu charakterisieren. Ich könnte auch viele andere Fragen nennen, die eine große prinzipielle — erkenntnistheoretische und methodologische — Bedeutung für die heutige Naturwissenschaft und ihre Geschichte haben. Ich möchte nur einige von ihnen aufzählen. 1. Die Frage der Aufdeckung des Inhalts naturwissenschaftlicher Begriffe durch Auffindung ihrer wesentlichen, sie bestimmenden Merkmale (das, was man im Gegensatz zur formalen Definition als wissenschaftliche Definition bezeichnet). Eine große Bedeutung haben hier Definitionen eines besonderen Typs: durch die Korrelation, durch den Gegensatz, durch das Gesetz u. a.; 2. die Frage der Aufdeckung des Umfangs naturwissenschaftlicher Begriffe und ihrer auf dieser logischen Operation basierenden Klassifizierung, darunter auch der Klassifizierung der heutigen Naturwissenschaften; im Gegensatz zu den formalen Klassifizierungen, die es verbieten, die Gebiete des Übergangs von einem Einteilungsglied zum anderen und mehr noch die Gebiete ihrer wechselseitigen Durchdringung zu berücksichtigen und zu untersuchen, konzentriert die dialektische Logik ihr Hauptaugenmerk eben auf diese Wissensgebiete; 386

3. die Frage des Verhältnisses zwischen Umfang und Inhalt des sich entwickelnden Wissens; diese Beziehung erweist sich, wie die Geschichte der Erkenntnis zeigt, als direkte und nicht als reziproke, wie es die formale Logik für den Fall des fixierten Wissens festlegt; dieses direkte Verhältnis ist dadurch bedingt, daß sich die wissenschaftliche Erkenntnis gleichzeitig in die Breite (d. h. ihrem Umfang nach) und in die Tiefe (d. h. ihrem Inhalt nach) entwickelt; 4. die Frage der Kategorien der marxistischen Dialektik als einer logischen Verallgemeinerung der realen Geschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis und als einer Widerspiegelung einzelner ihrer Stufen (z. B. die Aufeinanderfolge der Kategorien Qualität, Quantität, Maß und andere); damit im Zusammenhang die Frage eines Systems der Kategorien der einzelnen Naturwissenschaften und der Naturwissenschaft als Ganzem; 5. die Frage der Bewegung der Erkenntnis vom Konkreten zum Abstrakten und besonders vom Abstrakten zum Konkreten (die Methode des „Aufsteigens") und im Zusammenhang damit die Frage des Ausgangspunktes (der „Zelle") jeder Wissenschaft in ihrer genetischen und strukturellen Auffassung. 6. Besonders wichtig ist die Frage der marxistischen dialektischen Logik als einer Logik des dialektischen Widerspruchs, der jeden Eklektizismus, mit seiner bloßen Aneinanderreihung, jede „Ergänzung", jede Versöhnung der Gegensätze, überwindet. Besondere Aufmerksamkeit muß die dialektische Logik der logischen Analyse neuer, ungewöhnlicher und unerwartet auftretender Probleme und Fragen widmen, wie z. B. dem Problem der Symmetrie der Prozesse. Die Arbeiten der chinesischen Gelehrten J a n g und Li, die das Paritätsprinzip der Geraden berühren; die Arbeiten einiger sowjetischer Wissenschaftler, die die Frage der Zeitsymmetrie stellen, das alte, aber seit den Zeiten Clausius' noch nicht völlig gelöste Problem des Anwachsens der Entropie, werfen das allgemeine Problem der Symmetrie der Weltprozesse auf und fordern seine Analyse eben von der logischen begrifflichen Seite her. Man muß sagen, daß dieses Problem die Theorie der Dialektik selbst betrifft: Wenn wir, die Philosophen, bisher die Lehre der Entwicklung und ihrer allgemeinsten Gesetze ausarbeiteten, achteten wir hauptsächlich und bisweilen sogar ausschließlich nur auf den aufsteigenden Ast der Entwicklung 25»

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und berührten wenig den anderen, bis zu einem gewissen Grade symmetrischen, aber sich nicht mit ihm deckenden absteigenden Ast der Entwicklung. An der weiteren Ausarbeitung der marxistischen dialektischen Logik als subjektive Dialektik (wie es manchmal bei Engels heißt), sind sowohl die Philosophen als auch die Naturwissenschaftler interessiert. Und die Ausarbeitung derartiger Fragen steht ja auch eben im Zentrum dieser unserer Beratung. Indem wir die dialektische Logik als Bestandteil der materialistischen Dialektik ausarbeiten, arbeiten wir die Methodologie der modernen Naturwissenschaft aus; damit werden wir das schöpferische Bündnis zwischen Philosophen und Naturwissenschaftlern weiter festigen, wozu unsere großen Lehrmeister Marx, Engels und Lenin aufgerufen haben.

EINIGE PHILOSOPHISCHE PROBLEME KYBERNETIK

DER

Läszlö Kalmar (Szeged) Zunächst möchte ich die Gelegenheit benutzen, den Anwesenden den Gruß der ungarischen marxistischen Wissenschaftler zur 550Jahr-Feier Ihrer Universität zu überbringen. Meine Ausführungen betreffen philosophische Fragen der Kybernetik, und zwar werde ich nicht als Philosoph sprechen, sondern als Mathematiker. Ich beschäftige mich mit mathematischer Logik und interessiere mich für die Anwendung der mathematischen Logik in der Kybernetik. Von Philosophie dagegen verstehe ich sehr wenig, und es kann passieren, daß es so klingt, als wenn ein Philosoph über Mathematik redet. Aber ich meine, wir müssen die Sprache voneinander lernen, um einander helfen zu können, die Philosophen die Sprache der Mathematik und die Mathematiker die Sprache der Philosophie. Es muß einmal ein Anfang gemacht werden, auch auf die Gefahr hin, daß wir nach Worten ringen und ins Stottern kommen. Bekanntlich ist die Kybernetik von dogmatischen, pseudo-marxistischen Kreisen anfangs ungünstig aufgenommen worden, und dies hat die Entwicklung dieser jungen Wissenschaft in der Sowjetunion und auch in den volksdemokratischen Ländern gebremst. Es mußte erst klargestellt werden, daß nicht die Kybernetik als solche, sondern die idealistischen und mechanisch-materialistischen Deutungen ihrer Ergebnisse, in erster Linie aber das Zurückbleiben dieser Wissenschaft in den Ländern des sozialistischen Lagers den Kräften des Imperialismus dient. Daher ergab sich als vordringliche Aufgabe der sozialistischen Länder, diesen Rückstand durch tatkräftige kybernetische Forschungen aufzuholen. Die ballistische interkontinentale Rakete, die Sputniks und die Luniks, die interplanetare Raumstation sind 389

glänzende Beweise dafür, daß aus dem Rückstand auf diesem Gebiet bereits ein beträchtlicher Vorsprung der Sowjetunion geworden ist. Bestand auf der einen Seite die Notwendigkeit nach einem technisch-konkreten kybernetischen Forschungsprogramm, so besteht auf der anderen Seite die ständige Aufgabe, die durch kybernetische Untersuchungen aufgeworfenen philosophischen Fragen durch schöpferische Anwendung der marxistischen Philosophie einzuschätzen. Sonst besteht ja sowohl für den Fachkybernetiker — wobei es noch eine Frage ist, ob es solche überhaupt gibt — wie auch für den Laien die Gefahr, zwischen der Scylla einer kritiklosen Übernahme westlicher bürgerlicher Anschauungen und der Charybdis einer dogmatischen Auffassung bezüglich prinzipieller Fragen der Kybernetik hin- und hergetrieben zu werden. Ich selber bin, wie ich schon sagte, kein Philosoph, und ich erhebe daher selbstverständlich keinen Anspruch darauf, daß die folgenden Gedanken zu einigen philosophischen Fragen der Kybernetik als authentische marxistische Lösungen betrachtet werden. Vielmehr will ich meine diesbezüglichen Gedanken den Fachleuten der marxistisch-leninistischen Philosophie zur Diskussion vorlegen. Meiner Meinung nach sollte man zunächst den Gegenstand der Kybernetik genau definieren. In der Literatur liegen schon einige Definitionen vor, aber sie zeigen gewisse Verschiedenheiten. Nach Wiener 1 ist die Kybernetik als Theorie der Steuerung und Kommunikation sowohl in der Maschine als auch im Tier aufzufassen. Im Grunde genommen unverändert wird diese Definition von Soboljew, Kitow und Ljapunow 2 übernommen. Dagegen betont Kolman 3 einerseits die Verschiedenartigkeit der durch die Kybernetik zu erforschenden Vorgänge, zugleich aber auch die Möglichkeit einer einheitlichen Interpretation derselben und zwar auf Grund der Ähnlichkeit ihrer quantitativen Beziehungen. Daher betrachtet er die Kybernetik als eine mathematische Theorie der Information und Steuerung von Vorgängen, die die verschiedenartigsten materiellen Grundlagen besitzen 1 2

3

N. Wiener, Cybernetics, New York 1948, S. 19. 8. L. Soboljew, A. I. Kitow, A. A. Ljapunow, Grundzüge der Kybernetik, Woprossi filosofii, 1955/4, S. 136-148, insbes. S. 136. E. Kolman, Was ist Kybernetik, Woprossi filosofii, 1955/4, S. 148-159, insbes. S. 149.

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können. Kolmogorow4 geht in der Richtung der Mathematisierung der Kybernetik noch etwas weiter. Er analysiert den Begriff der Steuerung und den damit nahe verwandten Begriff der Regelung und kommt dazu, die Kybernetik sozusagen mit der Informationstheorie zu identifizieren. Er definiert nämlich Kybernetik als die Wissenschaft, welche sich mit den Aufnahme-, Speicherungs-, Umformungsund Benutzungsarten von Informationen in Maschinen, in lebendigen Organismen sowie deren Komplexen beschäftigt. Ich berufe mich ferner auf eine Definition von Tarj&n5, wonach die Kybernetik eine komplexe Wissenschaft ist, welche durch exakte Methoden der Naturwissenschaften: durch mathematische Analyse, durch Modellexperimente, durch Messung usw. die Prinzipien des Funktionierens komplizierter Systeme untersucht und dabei die konkreten materiellen Verwirklichungsformen dieser Systeme abstrahiert. Übrigens haben sich Soboljew und Ljapunow6 im vorigen Jahr auf dem Moskauer Symposium über philosophische Fragen der Naturwissenschaften wieder mit diesen Fragen beschäftigt und einige Definitionen für den Gegenstand der Kybernetik angeführt. Sie haben auf die Verschiedenheiten dieser Definitionen aufmerksam gemacht, aber zugleich auch darüber gesprochen, daß alle diese Definitionen selbstverständlich unvermeidbar einseitig sind, weil der Gegenstand der Kybernetik verschiedene Seiten hat und jede Definition nur eine Seite widerspiegeln kann. Meiner Meinung nach widerspiegelt eben die Definition von Kolman und noch mehr die von Kolmogorow nur die mathematische Seite der Kybernetik. Ich schlage Ihnen folgende Definition des Gegenstandes der Kybernetik zur Diskussion vor: Kybernetik beschäftigt sich erstens mit allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Organisation von materiellen Systemen und der Informationsverarbeitung innerhalb dieser Systeme, insbesondere 4

A. N. Kolmogorow, Kybernetik, Große Sowjetenzyklopädie, 51 (1958), S. 149-151, insbes. S. 149. 5 R. Tarjän, A kibernetika fö problemdi (Hauptprobleme der Kybernetik, ungarisch), Magyar Tudomäny, 1956/1-3, S. 43-62, insbes. S. 43. ' S. L. Soboljew und A. A. Ljapunow, Die Kybernetik und die Naturwissenschaften, Materialien der Allunionskonferenz über philosophische Fragen der Naturwissenschaften, Moskau 1957.NAls Studienmaterial herausgegeben vom Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen 1957.

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zu Steuerungs- und Regelungszwecken, welche unabhängig von den spezifischen Bewegungsformen der Materie zur Geltung kommen. Das kann man vielleicht als die Fragestellung der theoretischen Kybernetik bezeichnen. Kybernetik beschäftigt sich zweitens — und das ist schon das Gebiet der praktischen, angewandten Kybernetik — auf Grund dieser Gesetzmäßigkeiten auch mit den Möglichkeiten, höhere Bewegungsformen der Materie durch niedere bezüglich gegebener, umgrenzter Funktionen derselben nachzuahmen und versucht auch die Grenzen dieser Möglichkeiten zu bestimmen. Nun diskutiert man auch die Frage, ob die Kybernetik überhaupt eine Wissenschaft ist oder nur eine wissenschaftliche Forschungsrichtung. Eine ähnliche Frage ist anfangs für jede neue Grenzwissenschaft aufgetaucht und ist in diesem Sinne eine historische Frage. Zum Beispiel war Biochemie anfangs eine Forschungsrichtung, in der Biologen und Chemiker gemeinsame Arbeit leisteten. Jetzt betrachtet man jedoch Biochemie mit Recht als eine selbständige Wissenschaft. So wird es, meine ich, auch der Kybernetik ergehen. Sie wird dann als selbständige Wissenschaft betrachtet werden, wenn durch gemeinsame Forschung von Technikern, Physikern, Chemikern, Biologen, Mathematikern, Gesellschaftswissenschaftlern, Ökonomen, Psychologen u. a. genügend Material erarbeitet worden ist, das Verallgemeinerungen zuläßt. Nach meiner Meinung ist es Geschmacksache, ob man der Kybernetik schon heute den Rang einer selbständigen Wissenschaft zuschreibt auf Grund der bisherigen Ergebnisse. Ich halte dies nicht für eine prinzipielle Frage. Aus der von mir vorgeschlagenen Definition des Gegenstandes der Kybernetik ergeben sich selbstverständlich neue Fragen. Gibt es außerhalb der spezifischen Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Bewegungsformen der Materie noch allgemeine Gesetzmäßigkeiten, welche unabhängig davon gelten, um welche Bewegungsformen es sich handelt ? Nach meiner Meinung ist aus dieser philosophischen Frage heute schon eine Frage der Fachwissenschaften geworden. Schon Kolman wies in seiner Arbeit in den „Woprossi filosofii" 7 darauf hin, daß diese Frage bereits durch die Schwingungstheorie bejahend beantwortet ist, weil doch die quantitativen Gesetzmäßigkeiten der ' E. Kolman, ebenda, 1955/4, S. 149.

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Schwingungen in vielen Bereichen gelten. Diese Gesetze sind nämlich unabhängig davon gültig, ob es sich um mechanische Schwingungen oder um Lichtschwingungen oder andere schwingungsartige physikalische Bewegungen handelt. Sie gelten sogar für höhere Bewegungsformen, die ebenfalls Schwingungen aufweisen, z. B. für physiologisches Zittern, für Schwankungen der Preise oder des Diskontsatzes als Erscheinungen des Pendeins zwischen Krisen und Prosperität in der bürgerlichen Gesellschaft usw. Karl Marx z. B. schrieb in einem Brief an Engels8, daß man vielleicht auch diese letztere Art von Schwingungen mathematisch untersuchen könne, und ich halte das für möglich. Die kybernetische Forschung hat bisher schon gewisse weitere solche allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt, und sie ist damit in dieser Hinsicht schon viel weiter gegangen als die Schwingungstheorie. Aber ich kann hier nicht sehr tief auf diese Gesetzmäßigkeiten eingehen, da sie ja meistens ziemlich verwickelt sind. Seneca verkannte nämlich die Natur des Gesetzes, indem er forderte: „Legem brevem esse opportet". Selbstverständlich wäre es sehr angenehm, wenn die Gesetze, wenigstens die Gesetze der Jurisprudenz, wirklich kurz wären. Aber sie sind es nicht. Dabei hängt es von der Sprache ab, ob ein Gesetz kurz formuliert werden kann. Man könnte z. B. die Formel (a h) • (es — b) — a? — 62 auch folgendermaßen ausdrücken: eine Summe von zwei Zahlen läßt sich mit der Differenz derselben Zahlen auch derart multiplizieren, daß man beide Zahlen quadriert und die Quadrate voneinander subtrahiert, — wie dies oft in Lehrbüchern formuliert wird. Wollte man jedoch die Gesetze der Atomphysik, etwa die Schrödinger- Gleichung, ohne mathematische Symbolik in der deutschen Sprache ausdrücken — prinzipiell wäre das ja möglich —, dann würde man mehrere Bände benötigen. Die kybernetischen Gesetzmäßigkeiten sind auch nicht in kurzer Form ohne Gebrauch einer speziellen Fachsprache auszusprechen, dennoch werde ich über einige sprechen. Zum Beispiel geben die Gesetzmäßigkeiten der Informationstheorie u. a. an, welche Menge an Informationen durch eine gegebene Anzahl 8

Brief von Marx an Engels vom 31. Mai 1873 in: Marx—Engels, „ D a s K a p i t a l " , Berlin 1954, (Brief Nr. 143).

Briefe über

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von festgelegten Zeichen ausgedrückt werden kann. In der Straßenbahn mancher Städte werden z. B., zum Unterschied von Leipzig, die Fahrscheine gelocht ; durch die Art der Lochung werden Informationen übermittelt. Der Schaffner nämlich gibt durch Lochung eine Information, wann man eingestiegen ist und welche Straßenbahn-Nummer man in welcher Richtung benutzt hat. Dies sind Informationen sowohl für den Kontrolleur als auch für den anderen Schaffner, wenn man umgestiegen ist. Es läßt sich nun ganz einfach die Minimalanzahl der Lochungen oder anderen Zeichen mit zwei verschiedenen Möglichkeiten (Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Zeichens) berechnen, die dazu nötig sind, um eine gewisse Informationsmenge auszudrücken, nachdem ein Maß für die Menge der Informationen definiert worden ist. Dabei ist die berechnete Zahl unabhängig davon, ob die Übermittlung der Informationen mechanisch, z. B. durch Lochungen geschieht, oder etwa durch Nervenreiz-Impulse, was der Fall ist, sobald diese Informationen weitergeleitet werden in das Gehirn des zweiten Schaffners. Allgemein gelten für die Informationsleitung im menschlichen Gehirn dieselben Gesetze der Informationstheorie wie für physikalische Informationsleitung, z. B. durch Morsezeichen im Telegraphenapparat. Neben quantitativen Gesetzen gilt ähnliches auch für gewisse qualitative Gesetze. Es scheint z. B., daß man komplizierte Systeme — gemeint sind nicht nur lebendige Organismen, sondern auch Regelautomaten — nur so einrichten kann, daß sie ein zentrales Steuerungsorgan, sozusagen ein „zentrales Nervensystem" besitzen und daß die Informationen von gewissen Eingängen, welche den Sinnesorganen entsprechen, zu diesem zentralen Teil laufen, wo sie verarbeitet werden, um dann als Steuerungsbefehle von ihm zu den Ausführungsorganen zu gehen. Das scheint eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zu sein, und es ist daher vielleicht richtig zu behaupten, daß es nicht nur mathematische, nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Gesetzmäßigkeiten der Kybernetik gibt. Es taucht nun die Frage auf, ob durch die Behauptung von der Existenz solcher „bewegungsformindifferenter" Gesetzmäßigkeiten nicht etwa die Grenzen zwischen den verschiedenen Bewegungsformen verwischt werden. Ich bin nicht dieser Meinung. Der dialektische Materialismus hat diese Grenzen nie als starre Grenzen betrachtet, 394

die verschiedenen Bewegungsformen der Materie gehen ja unter Umständen ineinander über. In den bewegungsformindifferenten Gesetzmäßigkeiten äußert sich wiederum die materielle Einheit der Welt, ebenso wie z. B. darin, daß gewisse Naturgesetze für verschiedene, sowohl mechanische als auch andere physikalische Bewegungsarten die gleiche mathematische Form besitzen, worauf schon Lenin 9 hingewiesen hat. Natürlich kommen bei jeder Bewegungsform der Materie in erster Linie die spezifischen Bewegungsgesetze zur Geltung, jedoch im gewissen Sinne darüber hinaus auch die allgemeinen kybernetischen Gesetze. Dabei wird die Art, wie die letzteren zur Geltung kommen, selbstverständlich wesentlich von den spezifischen Bewegungsgesetzen beeinflußt, ja sogar bestimmt. Es gibt z. B. gewisse allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Optimalisation, d. h. der optimalen Organisation von Systemen. Denken wir an einen Ingenieur, der eine komplizierte Maschine für einen vorgegebenen Verwendungszweck möglichst günstig entwickeln will. Die Gesetze der Optimalisation gelten davon unabhängig, ob man die-optimale Lösung durch das technische Denken gewinnt, oder ob sie sich in der Natur im lebendigen Organismus durchsetzt, oder ob es sich um optimale Lösungen bei Fragen der Gesellschaftsordnung handelt. Man muß sich aber ganz klar darüber sein, daß die optimalen Lösungen in den genannten Fällen auf gänzlich anderen Wegen zustande kommen. Im Falle der Maschine soll der Techniker die optimale Lösung durch bewußte Orientierung auf sein Ziel konstruktiv gewinnen; für den lebendigen Organismus kommt die optimale Lösung durch die Phylogenese zustande, da nämlich die vom Optimalen weit abweichenden Fälle im Kampf ums Dasein aussterben ; und in der Gesellschaft setzt sich die optimale Lösung selbstverständlich nur im Klassenkampf durch. Hierin ist auch die Gesetzmäßigkeit enthalten, daß die Tendenz zur Optimalisierung nur in der biologischen Bewegungsform spontan ist, wobei es sich selbstverständlich nicht um teleologische Prinzipien handelt. Beim Beispiel der Maschine soll die sich in einem höheren Zustande der Organisation befindende Materie, nämlich das Gehirn des Ingenieurs helfen, die optimale Lösung im Rahmen der niederen Bewegungsformen durchzusetzen. " W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952, S. 279.

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Ein anderes bemerkenswertes Beispiel für eine kybernetische Gesetzmäßigkeit, die für verschiedene Bewegungsformen in verschiedener Weise zur Geltung kommt, findet sich schon bei Wiener.10 Es handelt sich um gewisse Fehler im Rückmeldungsapparat des Systems, wodurch statt richtiges Funktionieren eine Oszillation zustande kommt. Denken wir etwa an die automatische Steuerung eines Schiffes. Jede Abweichung der Fahrtrichtung von der Zielrichtung wird als „Fehlerzeichen" ins zentrale Steuerungsorgan rückgemeldet, wobei das „Fehlerzeichen" in ein Steuerungszeichen umgewandelt wird, welches eine Verminderung der genannten Abweichung hervorbringt ^sogenannte negative Rückkopplung). Reagiert nun der Rückmeldungsapparat allzu empfindlich auf die Richtungsabweichung, so verursacht die Trägheit des Schiffes eine noch größere Abweichung in die andere Richtung, was wiederum als ein allzu großes Fehlerzeichen rückgemeldet wird usw., so daß das Schiff statt Rücklenkung in die Zielrichtung in Zickzack-Form von dem zu steuernden Kurs dauernd abweicht. Etwas ähnliches findet sich bei gewissen Krankheiten des Rückmeldungsapparates im Nervensystem, die — selbstverständlich in wesentlich anderer Weise — ein Tremor hervorrufen. Ein weiteres interessantes Beispiel gewinnt man aus einer Betrachtung von Neumann.11 Es handelt sich um die Frage der Verminderung der Fehlermöglichkeiten in Automaten (etwa in einer elektronischen Rechenmaschine), die dadurch zustande kommen, daß die einzelnen Komponenten zuweilen falsch funktionieren, z. B. einen Stromimpuls aufheben, statt weiterzuleiten oder umgekehrt. Einer der Vorschläge zur Erhöhung der Zuverlässigkeit des Gesamtapparates trotz Unzuverlässigkeit der Einzelkomponenten, die Neumann betrachtet, besteht darin, daß statt einer Komponente stets einer ganzen Reihe von ähnlichen Komponenten die Entscheidung anvertraut wird, ob der Impuls weiter zuleiten ist oder nicht. Leitet ihn die Mehrheit dieser Komponenten weiter, so wird nachträglich auch auf den Drähten je ein Impuls hinzugeführt, auf welchen die zur Minderheit gehörigen Komponenten es versäumt haben, den ursprünglichen Impuls weiter10 11

N. Wiener, ebenda, S. 113 ff. J. von Neumann, Probabilistic Logics and the Synthesis of Reliable Organums from Unreliable Components, Automata Studies, Princeton, N. J. 1956, S. 43-98.

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zuleiten; im entgegengesetzten Falle werden aber auch die durch die zur Minderheit gehörigen Komponenten weitergeleiteten Impulse aufgehoben. Dabei wird die Tatsache benutzt, daß bei einer großen Reihe von Komponenten die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Mehrheit fehlerhaft funktioniert, verschwindend klein ausfällt. Nun funktioniert unser Nervensystem ebenfalls überraschend zuverlässig, obwohl die richtige Reaktion ihrer Komponenten, der einzelnen Neuronen (Nervenzellen) auf äußere oder von anderen Neuronen erfahrene Reize oft ausbleibt, oder umgekehrt, eine Halluzination derselben ohne solche Reize, etwa aus Stoffwechselgründen erfolgt. Höchstwahrscheinlich ist die Zuverlässigkeit des Nervensystems als Ganzes dadurch bedingt, daß ein Reiz von den Sinnesorganen zum Gehirn nicht durch eine einzelne Nervenfaser, sondern^ durch ein Bündel solcher Fasern hingeleitet wird, und irgendwie stets nur die Funktionsweise der Mehrheit dieser Fasern im Gehirn zur Geltung kommt. Wie diese „Abstimmung" der zum Nervenbündel gehörigen Neuronen vor sich geht, wissen wir noch nicht; jedenfalls anders, als im Automaten die „Abstimmung der Komponenten". Und noch anders geht die Abstimmung in einem menschlichen Kollektiv vor sich, die auf Grund des Prinzips des demokratischen Zentralismus arbeitet; jedenfalls ist die Zuverlässigkeit ihrer Beschlüsse, trotz der Möglichkeit des Irrtums ihrer Einzelglieder, viel höher, als wenn das Fassen des Beschlusses einem Menschen anvertraut wird. Hier sieht man wiederum eine kybernetische Gesetzmäßigkeit (der Erhöhung der Zuverlässigkeit eines Systems durch „Multiplexierung" und „Abstimmung"), die sich bei verschiedenen Bewegungsformen in verschiedener Weise durchsetzt. In Zusammenhang mit der obigen Formulierung des Gegenstandes der angewandten Kybernetik taucht die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, Bewegungsformen der höher organisierten Materie durch solche niedriger organisierter nachzuahmen. Ich bin dieser Ansicht, und das ist durch die kybernetische Forschung bestätigt worden und zwar bei folgender Präzisierung. Die Nachahmung ist funktionell, sie bezieht sich nämlich nur auf gegebene umgrenzte Funktionen der sich in der höheren Form bewegenden Materie und jedenfalls nur näherungsweise. Dabei ist die Möglichkeit einer sukzessiven besseren Annäherung natürlich nicht ausgeschlossen. Zum Beispiel wird die 397

Funktion der Muskeln des Menschen und der seiner Haustiere schon längst durch Maschinen nachgeahmt, es gibt ja längst Kraftmaschinen, welche statt der Menschen, der Pferde usw. Kraft ausüben. Die kybernetische Forschung hat gezeigt, daß es möglich ist, auch viel kompliziertere Funktionen der lebenden Materie, z. B. unbedingte oder bedingte Reflexe (Wiener, Grey Walter) 12 , Fortpflanzungsfähigkeit (Neumann) 13 , Selbsterhaltungsinstinkt (Antonin Svoboda) 14 usw. durch automatische Apparate nachzuahmen. Neumann z. B. hat bewiesen, daß es möglich ist, eine Maschine zu konstruieren, die serienmäßig Maschinen erzeugt, die gleich der ursprünglichen Maschine sind. Rechenautomaten, logische Maschinen, Übersetzungsmaschinen usw. können recht komplizierte Funktionen des denkenden menschlichen Gehirns nachahmen. Man hat auch Maschinen konstruiert, die Schach oder andere Spiele spielen können, die es „lernen", sich in einem Labyrinth zurechtzufinden oder in anderer Weise die Lernfähigkeit des Gehirns nachahmen. Dabei taucht die Frage auf: kann man also behaupten, daß Maschinen denken können, wie man im Westen oft gesagt hat. Ich bin nicht dieser Meinung. Man kann das ebensowenig, wie man sagen kann, daß die Maschinen leben. Übrigens hat kein bürgerlicher Kybernetiker behauptet, daß Maschinen leben, es sei denn in utopischen Schriften. Das hat seine Ursache darin, daß es wesentlich weniger im Interesse der idealistischen Philosophie liegt, die Grenze zwischen Leben und niedrigen Bewegungsformen der Materie zu verwischen, sondern daß es ihr mehr darauf ankommt, die Grenze zwischen Denken und Dasein zu verwischen. Es ist wohl kein Zufall, daß die marxistische Definition sowohl des Lebens als auch des Denkens sich explizite auf die Art der Materie, nämlich Eiweißkörper bzw. menschliches Gehirn be12

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N. Wiener, The Human Use of Human Beings, London 1954, S. 165-167; deutsch: Mensch und Menschmaschine, Berlin 1958, S. 160—163; W.Qrey Walter, Possible Features of Brain Function and Their Imitation, Report on Proceedings, Symposium on Information Theory, London 1950. Vgl. seinen Vortrag „The General and Logical Theory of Automata" auf Hixon Symposium on Cerebral Mechanisms in Behaviour, Pasadena (Calif.) 1948. A. Svoboda, Un modèle d'instinct de conservation, erscheint in Proceedings of the 2 n d International Congress of Cybernetics, Namur 1958.

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ruft, welche allein die Fälligkeit zum Leben bzw. zum Denken aufweist. Man kann den „Beweis" dafür, daß die Maschinen denken, nur auf Grund einer zu diesem ganz speziellen Zweck ausgebrüteten willkürlichen Definition führen. Hierhin gehört die Definition von Turing. 15 Er definiert nämlich nicht, was Denken ist, sondern nur, unter welchen Umständen man behaupten kann, daß eine Maschine denke. Er sagt nämlich, man darf behaupten, daß eine Maschine denkt, wenn man ihr Fragen stellen kann, und zwar beliebige Fragen, und sie antwortet so, daß man, wenn man nicht hinschaut, nicht weiß, ob die Antwort von einer Maschine oder von einem Menschen kommt. Solche Scheindefinitionen haben nur den Zweck, daß man, nachdem die technischen Begleitumstände realisiert sein werden, auf Grund dieser Definition behaupten kann, daß die Maschinen denken. Hieran schließt sich gleich die nächste Frage an. Wird man nie imstande sein, denkende Materie, d. h. menschliches Gehirn künstlich zu erzeugen ? Die Beantwortung dieser Frage müssen wir der Zukunft überlassen, zur Zeit sind wir ja selbst von einer künstlichen Erzeugung lebendiger Materie weit entfernt. Prinzipiell aber kann man die Möglichkeit nicht ausschließen, daß, nachdem die Materie sich bis zu der hohen Stufe der Organisation des menschlichen Gehirns entwickelt hat, das schöpferische menschliche Gehirn vielleicht selbst weniger entwickelte Materie in ihrer Entwicklung bis zur gleichen Höhe helfen kann. Gewisse Fragen der Entwicklung der Gesellschaft liegen ähnlich. Durch die Existenz der sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion können Volksstämme, die noch unter feudalen Verhältnissen oder sogar in einer Sklavenhaltergesellschaft leben, unmittelbar, unter Überspringung von Zwischenstadien, zur sozialistischen Gesellschaftsordnung gelangen, freilich nicht spontan, sondern nur durch die Hilfe der Sowjetunion. Wenn man aber künstlich lebendige und sogar denkende Materie erzeugt haben wird, wird man sie nicht eine Maschine nennen, da der Begriff Maschine jedenfalls an niedere Bewegungsformen der Materie gebunden ist. 16

A. M. Turing, Computing Machinery and InteOigence, Mind, 59 (1950), No. 236, oder Methodos, 6 (1954), S. 195-223.

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Das leitet uns auf die nächste Frage. Hat man also anthropomorphe Ausdrücke wie Gedächtnis, Lernen usw. bei Maschinen unbedingt zu vermeiden ? Ich meine nicht. Schließlich sind auch die Fachausdrücke der Mechanik wie Kraft, Arbeit ihrem Ursprung nach ebenfalls anthropomorph. Man kann nicht alle metaphorischen Ausdrücke aus der Sprache ausmerzen, man muß nur wissen, daß es sich um Metaphern handelt. Wir wenden uns nun einer sehr wichtigen Frage zu. Ist der Nachahmung der Funktion des denkenden Gehirns durch Maschinen eine angebbare Grenze gesetzt, da es doch unmöglich ist, denkende Maschinen herzustellen ? Es wäre ein logischer Fehler, auf diese Frage eine positive Antwort zu geben auf Grund des dialektischen Charakters des denkenden Gehirns, dessen Funktion durch eine starre Maschine offenbar nur bis zu einer Grenze nachgeahmt werden kann. Man hat vielmehr auch den Begriff einer Maschine dialektisch aufzufassen, da nicht nur das Gehirn, sondern auch die Technik einer Entwicklung unterworfen ist. Man denke sich nun eine feste Maschine gegeben. Da sie nicht denken kann, unterscheidet sich ihre Funktion von der des denkenden Gehirns. Es wäre glatter Agnostizismus, wenn man behaupten wollte, daß man diese Unterschiede nie erfassen kann. Im Gegenteil, beim Studium der gegebenen Maschine wird man wenigstens einen Teilunterschied ihrer Funktionen von der Funktion des denkenden Gehirns feststellen können. Es ist aber wohl möglich, daß die Maschine, sobald dieser Unterschied erkannt wurde, sich so vervollkommnen läßt, daß der erkannte funktionelle Unterschied verschwindet. Die vervollkommnete Maschine wird jedoch wieder funktionelle Unterschiede vom denkenden Gehirn aufweisen usw. 16 Es gibt selbstverständlich weitere verschiedenartige Probleme im Zusammenhang mit der Kybernetik. Zum Beispiel wird im Westen, in 16

Der Gedanke, daß es wohl möglich ist, daß der Unterschied zwischen der Funktion des denkenden Gehirns einerseits und der künftigen Maschinen andererseits, sich in der unendlichen progressiven Entwicklung unseres Denkvermögens auflöst, wurde mir von dem jungen ungarischen Forscher der Philosophie Sdndor Sz6kely mitgeteilt. Eine ähnliche, jedoch anders formulierte These wurde laut einer mündlichen Mitteilung des sowjetischen mathematischen Logikers P. S. Nowikow von ihm in einem kybernetischen Seminar auf der Moskauer Universität ausgesprochen.

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der bürgerlichen Gesellschaft, oft die Frage diskutiert, ob die kybernetischen Maschinen gefahrlich für die Menschen seien. Selbstverständlich kann man automatische Vernichtungswaffen herstellen, und diese sind natürlich gefährlich für die Menschheit. Also muß man gegen die Verwendung der Kybernetik zu solchen Zwecken kämpfen. Man hat auch die Frage aufgeworfen, ob durch die Kybernetik Arbeitslosigkeit unter der Intelligenz hervorgerufen wird. Gewiß wird unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft die Ausbeuterklasse die Kybernetik auch dazu verwenden, eine arbeitslose Reserve in der Intelligenz zu bilden. In der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist das ganz anders. Wenn es uns gelingt, (in erster Linie mechanische, automatische) Denkarbeit durch Maschinen ausführen zu lassen, dann brauchen wir weniger zu arbeiten, und diese Reserve wird in der sozialistischen Gesellschaftsordnung dazu benutzt werden, die Arbeitszeit zu verkürzen. Wir wissen schon im voraus, wie wir diese Zeit sinnvoll verwenden können. Während es im Augenblick noch so ist, daß man sein ganzes Leben von dem zehrt, was man als junger Mensch gelernt hat, wird man in der sozialistischen Gesellschaft stets neu lernen, um mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Technik Schritt halten zu können. Das führt auf pädagogische Fragen, und zwar in dem Sinne, daß man nicht nur einen gründlichen polytechnischen Unterricht erteilen, sondern auch die Menschen davon überzeugen muß, daß es gut ist, stets von neuem etwas zu lernen. Ich fasse zusammen. Die Kybernetik hat gewisse philosophische Fragen aufgeworfen; man muß diese Fragen lösen, und man muß sie selbstverständlich lösen auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Philosophie und unter Berücksichtigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Auf dieser Grundlage kann man sie auch lösen.

DER BEGRIFF DER MATERIE UND DIE MODERNE PHYSIK Miloslav Kral,

(Prag)

Ich möchte hier nur einige kurze Bemerkungen machen, die den Begriff der Materie, den wichtigsten Begriff der materialistischen Philosophie, im Zusammenhang mit den Errungenschaften der modernen Physik betreffen. In unserer marxistischen Philosophie begegnen wir auch heute noch Überresten mechanisch-materialistischer Auffassungen von der Materie. Bekanntlich kommen der Materie im mechanischen Materialismus, dessen wissenschaftliche Grundlage hauptsächlich die klassische Mechanik ist, zwei bedeutende Merkmale zu: einmal soll sie aus Teilchen bestehen und zum andern Masse besitzen. Dies ist mit der allgemeinen mechanistischen Weltauffassung verbunden, nach der außer den ewig unveränderlichen Atomen im leeren Raum nichts anderes objektiv existiert. Der Materie nur einige Einzelmerkmale zuzuerkennen, birgt aber die Gefahr in sich, daß im Verlauf der weiteren Erkenntnis solche objektiven Strukturen entdeckt werden, die sich in einen zu eng gefaßten Materiebegriff unmöglich einordnen lassen. Diese Behauptung wird durch die jüngste Vergangenheit bestätigt. Noch in der Zeit der unbegrenzten Herrschaft der klassischen Physik zeigt sich, daß man die Lichterscheinungen nicht mit dem mechanizistischen Modell erklären kann, daß man sie sich nicht als einen Fluß sehr kleiner, kugelförmiger Teilchen, die eine bestimmte Masse besitzen, vorstellen kann. Im mechanizistischen Sinn heißt das: sie sind keine Materie. Diese Tatsache führte zur Teilung der physikalischen Welt in zwei miteinander nicht zu vereinbarende Gebiete, nämlich in das Gebiet, das durch den Korpuskularcharakter und die Masse charakterisiert wird und in das Gebiet der „immateriellen" Strahlungen bzw. des Lichts, für das die 26»

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Welleneigenschaften charakteristisch sind. Überreste der oben angeführten Teilung können wir noch in einer ganzen Reihe Veröffentlichungen bürgerlicher Physiker und Philosophen finden, die absichtlich oder unabsichtlich keinen anderen Materiebegriff als den mechanisch-materialistischen anerkennen. Die moderne Physik vollendete die Zerschlagung der mechanistischmaterialistischen Auffassung von der Materie. Wie sich herausstellte, existiert objektiv nichts, was den klassischen Teilchen mit Masse genau entsprechen würde. Auf der Grundlage des Korpuskel-WelleDualismus zeigte sich, daß die von der klassischen Physik scharf abgegrenzten Teile der objektiven Welt — Materie (im mechanizistischen Sinn) und Strahlung — gemeinsame Eigenschaften haben. Die mechanizistische Materie gleicht dem Licht durch ihre Welleneigenschaften, und das Licht gleicht der mechanizistischen Materie durch seinen Korpuskularcharakter und seine Masse. Als letzten Endes die Möglichkeit der Umwandlung der objektiven Strukturen, die heute mit „Stoff" bezeichnet werden und früher mit „Materie" im mechanizistischen Sinne, in Strahlung und umgekehrt der Strahlung in Stoff bekannt wurde, wurde auch die letzte Grundlage beseitigt, in der objektiven Welt der Physik Materie und Nichtmaterie zu unterscheiden. Damit bewies die moderne Physik eine für die Philosophie äußerst wichtige These: Die gesamte objektive Realität hat übereinstimmende allgemeine Eigenschaften, sie enthält keine immateriellen Erscheinungen oder Substanzen. Dabei muß noch ein wichtiger Fakt unterstrichen werden. Schon seit Plato und Aristoteles besteht eine falsche Auffassung des gegenseitigen Zusammenhangs von Materie und Bewegung. Wenn wir die gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Ursachen außer acht lassen, so kann man sagen, daß Plato und in noch ausgeprägterer Form Aristoteles die Materie nur mit passiven Eigenschaften bedachten; denn beide entfernten aus ihr vor allem die Bewegung und erkannten die Bewegung als eine wesentliche Eigenschaft der geistigen Substanz — Gottes — an. Dieser Begriff der Materie als eines passiven Substrats, das nur in der Lage ist, Bewegung zu erhalten, mit dem aber die Bewegung nicht untrennbar verbunden ist, spielte in der 404

mittelalterlichen Philosophie eine entscheidende Rolle und hatte auch keinen geringen Einfluß auf die klassische Mechanik. Hier führte das zu einer ganzen Reihe von Widersprüchen, z. B. in der Frage immaterieller Kräfte, die im leeren Raum zwischen den materiellen Körpern 'wirken. Die ersten Schritte zur Durchbrechung dieser religiösen Traditionen, der Traditionen Piatos und Aristoteles, vollführte bereits die elektromagnetische Theorie, aber die entscheidende Bedeutung für ihre wissenschaftliche Widerlegung kommt der Relativitätstheorie zu. Denken wir nur daran, daß nach dieser Theorie die Bewegung eine untrennbare Eigenschaft der Materie wird. Wenn wir anerkennen, daß die Masse eines der bedeutendsten Merkmale der Materie und die Energie eine quantitative Charakteristik der Bewegung sind, so folgt aus dem Gesetz des gegenseitigen Zusammenhangs von Masse und Energie, daß alle Erörterungen über die passive Materie und die von ihr getrennte Bewegung unbegründet sind. Auch dieses Resultat zeugt von der Einheit der objektiven Realität in dem Sinne, daß es keine wissenschaftliche Begründung für ihre Teilung in passive materielle und aktive immaterielle Teile (oder Substanzen) gibt. Der Leninsche Materiebegriff, als objektive Realität, die unabhängig von unserem Bewußtsein existiert, d. h. die erkenntnistheoretische Definition der Materie, steht in voller Übereinstimmung mit den Resultaten der modernen Physik. Der dialektische Materialismus setzt die Materie nicht mit einer ihrer objektiv existierenden Formen gleich und ordnet der Materie nicht nur einige Eigenschaften zu, die von dieser oder jener Wissenschaft entdeckt wurden. Solch ein Begriff der Materie erwies sich in der Geschichte immer als unzulänglich. Wir denken in diesem Zusammenhang an die mechanisch-materialistische Darstellung der Ruhmasse als wesentliche Eigenschaft der Materie, die den Ausschluß der Lichterscheinungen aus dem Bereich der Materie zur Folge hatte. Als später der „Massendefekt" und die Verwandlung von Stoff in Strahlung entdeckt wurde, erklärten viele bekannte Physiker diese Erscheinungen als Verschwinden der Materie, als Verwandlung von Materie in Energie usw. Der dialektische Materialismus ist weit davon entfernt, der Welt irgendwelche a priori-Eigenschafben zuzuschreiben, festzulegen, wie 405

die Welt immer und in allen ihren Teilen aussehen soll. Das liegt darin begründet, daß der dialektische Materialismus nur die Leninsche erkenntnistheoretische Definition der Materie anerkennt. Der Widerspruch von Materiellem und Immateriellem darf in der objektiven Realität nicht gesucht werden; das bewies die Wissenschaft selbst, vor allem die Physik. Der Widerspruch zwischen Materiellem und Immateriellem dient zur Gegenüberstellung der objektiven Welt, deren Existenz von der Existenz des Menschen nicht abhängt und der Widerspiegelungen der Menschen von dieser Welt. Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität als Ganzes in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit, wie sie außerhalb unseres Bewußtseins existiert. Sie schließt nicht nur alle relativen Substanzen, sondern auch die objektiven Eigenschaften und Beziehungen ein. Damit ist die Kategorie Materie der weiteste und gleichzeitig inhaltsreichste Begriff. Das heißt aber keinesfalls, daß es nicht einige Merkmale der Materie (z. B. Daseinsformen) gibt, die viel wichtiger als andere Einzelmerkmale sind. Es tauchten Einwände auf, als ob der dialektische Materialismus in diesem Sinne den Begriff der Materie zu weit fasse; denn es sei überflüssig zwei Termini „Materie" und „objektive Realität" für ein und dasselbe zu gebrauchen. Diese Auffassungen sind völlig haltlos. Sie führen nur zu Unklarheiten und Verwirrungen. Auf jeden Fall lassen sie die Geschichte und den tatsächlichen Zustand der Philosophie außer acht. Denn sogar der objektive Idealismus erkennt die Existenz einer objektiven Realität an, aber er versteht sie entweder dualistisch — als passive Materie und aktiven Geist — oder monistisch, als sich entwickelnde Idee, absoluten Geist usw. Um sich von diesen Spekulationen abzugrenzen, unterstreicht der dialektische Materialismus, indem er die objektive Realität als Materie bezeichnet, daß es in der objektiven Welt keine solchen selbständigen geistigen Prinzipien gibt, die analog zum menschlich Psychischen geschaffen und dann aus ihm übertragen wurden, daß die objektive Welt, die Materie, die Eigenschaften besitzt, die faktisch die einzelnen Wissenschaften in ihr erforschen. Die Materie, die objektive Realität, bestand schon vor der Entstehung des menschlich Psychischen. Das letztere ist ein Produkt der Entwicklung der Materie, die Eigenschaft einer ihrer hochorganisierten Formen. Diese Eigenschaft hat keine selbständige, 406

von der Materie unabhängige Existenz. Aber gerade um diese Charakteristik der objektiven Realität zu unterstreichen, entstand in der Geschichte der Philosophie der Begriff der Materie. Abschließend kann man sagen, daß sich der Leninsche Materiebegrifi in völliger Übereinstimmung mit der modernen Physik befindet. Alle Versuche, ihn zu „widerlegen", sind vom Standpunkt der Wissenschaft aus gesehen unbegründet.

DIALEKTISCHER MATERIALISMUS UND KONSTRUKTIONSWISSENSCHAFT Friedrich

Hansen

(Ilmenau)

Einleitend möchte ich die Ausgangsposition für die nachstehend vorgetragenen Gedanken darlegen. Ich trete hier eigentlich als Außenseiter auf, da ich weder Philosoph noch Naturwissenschafbier bin. Eine Konstruktionswissenschaft — soweit diesem Begriff überhaupt schon Daseinsberechtigung zukommt — wird kaum zu den Naturwissenschaften gerechnet werden können. Es scheinen also hinreichend Vorbedingungen vorzuliegen, das von mir gewählte Thema als abseitig vom Themenkomplex „Philosophie und Naturwissenschafben" zu bezeichnen. Trotzdem fühle ich mich verpflichtet, die Frage nach den notwendigen Grundlagen einer Konstruktionswissenschafb gerade hier aufzuwerfen, weil dabei ohne die Mithilfe der Philosophie nicht recht vorwärtszukommen ist, weil diese Mithilfe direkt notwendig erscheint. In Ingenieurkreisen ist in den letzten Jahrzehnten ein neuer Begriff unter dem leider nicht sehr treffenden Wort Konstruktionssystematik aufgetaucht. Es steht die Frage, ob der mit diesem Wort umrissene Komplex ein brauchbarer Ansatz für die Grundlagen einer Konstruktionswissenschaft sein kann. Dieser Komplex Konstruktionssystematik befaßt sich mit einer systematischen Zusammenfassung und Ordnung aller zweckmäßigen Verhaltensweisen im Verlauf der schöpferischen Geistestätigkeit des Ingenieurs. Diese als ein technisches Entwickeln zu bezeichnende Tätigkeit hat zur Aufgabe „die schöpferische Vorausbestimmung eines noch nicht existierenden technischen Gebildes oder Verfahrens". Einer Konstruktionswissenschaft, die also einer solchen für das Wohl der Menschen so wichtigen Vorausbestimmung dienen soll, 409

kommt unter den Einzelwissenschaften ein ganz besonderer Charakter zu. Jede wissenschaftliche Betätigung ist an die Tätigkeiten einer Beschreibung von beobachteten Sachverhalten, einer Analyse dieser Beobachtungen und einer Synthese geknüpft, die die Verwendung von bei der Analyse ermittelten Einzelfaktoren und von Ergebnissen aus Experimenten voraussetzt. Diese drei Tätigkeitsbestandteile sind immer wieder, wenn auch in sehr unterschiedlichem. Maße, anzutreffen. Der verschiedene Anteil, also auch die Bedeutung solcher Bestandteile, kann ganzen Teilwissenschaften ein besonderes Gepräge erteilen. Die forschenden oder auch aufbereitenden Wissenschaften arbeiten beobachtend und schlußfolgernd, greifen aber oft wenig aktiv in irgendein Geschehen zukunftsbestimmend ein. Dies geschieht erst in einer schöpferischen Wissenschaft, die einen vorwiegend aktiven Charakter aufweist. Mit einer solchen aktiven Einzelwissenschaft haben wir es hier zu tun. Welche fundamentalen Faktoren müssen nun in einem solchen Komplex enthalten sein? Welche Rolle wird der dialektische Materialismus dabei spielen ? Was kann die Philosophie zur Lösung dieser Problematik einer schöpferischen Vorausbestimmung beitragen? Ich kann nur einige wenige Punkte berühren, um die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was zur Intensivierung der schöpferischen Ingenieurarbeit unbedingt einer klärenden Untersuchung bedarf. Engels bezeichnet die Dialektik als die für die heutige Naturwissenschaft wichtigste Denkform, weil sie allein die Erklärungsmethode für die in der Natur vorkommenden Entwicklungsprozesse bietet. Ist sie nun auch für eine Konstruktionswissenschaft die wichtigste Denkform, die eine Entwicklung nicht nur erklären und verständlich machen soll, sondern deren vornehmliche Aufgabe eine bewußt gelenkte Entwicklung ist ? Für den Ingenieur ist es feststehend, daß er das Kausalitätsprinzip zu beachten hat und daß er der formalen Logik — als statisches Element — zu folgen hat. Er ist sich aber weniger oder gar nicht im klaren, daß er mit der formalen Logik nicht auskommt. Ständig taucht bei ihm die Frage auf, ob mehrere betrachtete Sachverhalte notwendigerweise oder aber nur zufällig zusammen bestehen. Er kann auf die dialektische Logik — als dynamisches Element — nicht verzichten. Wenn wir die Dialektik als zweckmäßige Methode anerkennen, müssen ihre Grundsätze zur Aus410

Wirkung kommen und bewußt nutzbringend verwertet werden. Man hat dieses innerhalb der Richtlinien und Regeln, welche die Konstruktionssystematik aufgestellt hat, zum Ausdruck zu bringen versucht. Dabei handelt es sich um eine Arbeit, die zwar in ihren Anfängen steht, aber doch auf einem solchen Stand angelangt ist, daß sie nunmehr dringend der Untermauerung durch Erkenntnistheorie und Dialektik bedarf. Die Konstruktionssystematik hat an den Anfang jeder Aufgabenlösung die Frage nach dem Grundprinzip der jeweiligen Aufgabe gestellt. Das Grundprinzip — ein für die schöpferische Ingenieurarbeit ganz spezifischer Begriff — kann definiert werden als Kern der Aufgabe, als das der Aufgabe zugrunde liegende Wesentliche, als eine Verbindung des Wesentlichen der Aufgabenstellung mit den Grundmerkmalen des zu schaffenden Gebildes oder Verfahrens. Es wird gleichzeitig als ein Abstraktum aufgefaßt, und es wird behauptet, daß das Grundprinzip sämtliche möglichen Lösungen einer Aufgabe in sich enthält. Ehe das Wesen einer Sache nicht gefunden ist, ist es auch nicht möglich, alle Erscheinungsformen dieses Wesens aufzuzeigen. Eine solche Möglichkeit muß aber geboten werden, damit auch die optimale Lösung sich im Komplex der Erscheinungsformen befindet. Die Wissenschaften haben in ihrem forschenden Teil die Aufgabe, die Erscheinungsformen eines Dinges oder eines Vorganges, die sie ja zunächst allein nur erkennen können, zu vergleichen und in ihren Zusammenhängen zu untersuchen und dadurch das eigentliche Wesen der Erscheinungsformen aufzudecken. Es kann also das Wesen einer Sache nur über die sich materialistisch darbietende Erscheinungsform ergründet werden. Ähnlich ist es mit dem Grundprinzip. Dieses ist durch einen rein geistigen Vorgang, durch eine „Idee", nicht mit Sicherheit aufzufinden. Es ist im allgemeinen nur aufzufinden über die Vorstellung von wirklich vorhandenen oder materiell vorstellbaren Lösungen. Wir haben es nun in der Konstruktionswissenschaft nicht nur mit einem forschenden, also aufbereitenden Teil einer Wissenschaft zu tun, sondern mit einem schöpferischen, vorwiegend aktiven Teil einer Wissenschaft. Es muß also der umgekehrte Weg wie bei der reinen Forschung beschritten werden. Daß dieser sehr viel schwieriger 411

ist, liegt auf der Hand und ist wohl auch, der Grund dafür, daß bis heute noch so wenig Ansätze in dieser Richtung vorhanden sind. Wir haben jede Aufgabenlösung als eine dialektische Einheit von Grundprinzip und Erscheinungsform erkannt, d. h. von einer Einheit, die diesen Unterschied in sich enthält. Wir würden sicherlich den schöpferischen Vorgang nicht analysieren und damit auch schließlich nicht beherrschen können, wenn wir uns über diese Zusammenhänge nicht klar wären. Wenn sich bei der Bearbeitung ein Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinung ergibt, dann müßte das einen Kampf innerhalb dieser dialektischen Einheit hervorrufen. Als Folge solcher Überlegungen hat die Konstruktionssystematik eine erste Hauptrichtlinie aufgestellt: „Bestimme das Grundprinzip der Aufgabe, denn in diesem Wesenskern der Aufgabe sind alle möglichen und damit auch die optimalen Lösungen enthalten." Die objektive, stets vorhandene Kausalität aller Erscheinungen ist eine Naturgegebenheit, der Rechnung zu tragen ist. Jedes Ding, jeder Begriff, jeder Gedanke ist nach Form, Inhalt und Wirkung durch seine Elemente bedingt. Besonders die Funktion eines jeden Dinges ist das Resultat seiner strukturellen und seiner energetischen Eigenschaften. Diese wiederum sind bedingt durch die Art ihrer gegenseitigen Kombination. Zunächst haben Wissenschaften kausale Zusammenhänge zu erforschen und unsere Erkenntnis in immer umfassenderer Weise zu vertiefen. Eine aktive oder angewandte Wissenschaft aber — also auch die Konstruktionswissenschaffc — hat die kausalen Zusammenhänge zu verwerten. Sie hat bewußt kausale Wirkungen hervorzurufen, indem sie bekannte Dinge zu Ursachen für die daraus folgenden Wirkungen macht. Mehrere solche bekannten Dinge — künstlich als Ursachen benutzt — bilden dann einen Ursachenkomplex, den es vom Konstrukteur zweckmäßig zu schaffen oder zu finden gilt, damit bei der Auslösung der statischen und dynamischen Eigenschaften dieser Ursachen eine gewünschte kausale Wirkung eintritt. Letzten Endes besteht dieser Ursachenkomplex aus Aufbauelementen für ein technisches Erzeugnis, also aus Bauelementen beliebiger physikalischer Gestalt. Die Wirkung dieses Ursachenkomplexes ist dann die Funktion des technischen Gebildes. 412

Intuitiv arbeiten ist etwa gleichbedeutend mit dem Verfolgen einer Idee oder einer Sache, die einem Menschen „zufällig" eingefallen ist. In Wahrheit handelt es sich dabei aber nicht um einen absoluten Zufall, sondern um das Ergebnis einer Kombination von im Gehirn gespeicherten, früher einmal gemachten Beobachtungen. Damit ist diese Kombination ursächlich bedingt und zu einer — allerdings zufälligen — möglichen Notwendigkeit geworden. Diese zufallige Notwendigkeit ist nur eine einzige Erscheinungsform aller notwendig möglichen Erscheinungsformen. Notwendig möglich sind aber alle Kombinationen aller denkbaren Ursachen. Wenn nun die Zurverfügungstellung der Ursachen von bedingter Zufälligkeit — die bei der Intuition stets eine Rolle spielt — befreit wird, d. h. wenn man nicht nur die zufallig möglichen, sondern alle notwendig möglichen Ursachen zur Verfügung stellt, dann lassen sich auch nicht nur zufallige Kombinationen, sondern dann lassen sich alle notwendig möglichen Kombinationen durchführen. Wenn also die Konstruktionssystematik über das intuitive Erfinden hinausgehen kann, dann eben deshalb, weil sie vermöge ihrer wissenschaftlichen Grundlage mit Hilfe der bedingten Zufälligkeiten — das sind die bekannten oder leicht vorstellbaren Lösungen — die Notwendigkeiten, d. h. die grundlegenden gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen Aufbauelementen und gewünschter Wirkung, aufdeckt. Solche Überlegungen und Gedanken sind in der zweiten Hauptrichtlinie der Konstruktionssystematik enthalten: „Kombiniere die möglichen Aufbauelemente zweckmäßig, denn alle Lösungen sind solche Kombinationen". In dieser zweiten und auch der ersten Hauptrichtlinie gemeinsam kommt das dialektische Prinzip des Zusammenhangs zum Ausdruck. Der Ingenieur steht einer weiteren Naturgegebenheit gegenüber. Zwischen jedem Vorausdenken und seiner stofflichen Verwirklichung steht der Fehler in philosophischem Sinne. Das wirkliche Geschehen ist fehlerfrei, d. h. kausal und objektiv real. Das Denken ist fehlerbehaftet, d. h. abweichend von einer vorhandenen oder zukünftigen Wirklichkeit. Zwischen dem Geschehen und seiner gedanklichen Vorstellung bleibt auch bei schärfster Durchdringung der Probleme eine mehr oder weniger große Abweichung bestehen, mit der wir uns ständig auseinanderzusetzen haben. 413

Von obigem Fehlerbegriff deutlich zu unterscheiden ist der Fehler im technischen Sinne, der eine Abweichung der Wirklichkeit gegenüber einem Wunsch beinhaltet, gleichgültig, welche Fehlerursachen vorliegen. Von diesem Standpunkt aus ist also das wirkliche Geschehen oder die stoffliche Verwirklichung eines Gedankens fehlerbehaftet. Man erkennt übrigens an diesem Beispiel, daß zum gegenseitigen Verständnis zwischen Philosophie und Technik nicht nur eine gründliche Auseinandersetzung nötig ist, sondern daß auch die weitgehend selbständig entwickelten Fachsprachen dieser beiden Sparten einer Revision bedürfen, wenn die heute noch bestehende Trennungswand zwischen ihnen fallen soll. Es ergibt sich eine dritte Hauptrichtlinie der Konstruktionssystematik: „Bestimme die in jedem Lösungsansatz enthaltenen Mängel und suche sie oder ihre Auswirkungen zu verringern." Hierbei kommt das Prinzip des Widerspruches und das Prinzip der Entwicklung zum Ausdruck. Jede Lösung, auch die schlechthin als richtig bezeichnete, trägt den dialektischen Widerspruch in sich, daß sie einerseits gut und andererseits schlecht ist. Fast stets werden sich beide Eigenschaften beweisen lassen, und stets beeinflussen sie sich bei jeder Abwandlung gegenseitig, womit zugleich ihr dialektischer Charakter bewiesen ist. Damit ist aber auch gleichzeitig gesagt, daß diese widersprüchlichen Eigenschaften nur im Zusammenhang mit allen Gegebenheiten der jeweiligen Aufgabe beurteilt werden können. Wie überall, so ist es auch bei der schöpferischen Ingenieurarbeit ein klares Ziel, etwas Gutes zu schaffen. Doch ist die Frage, ob man etwas Gutes erreicht hat, weniger leicht zu beantworten als die Frage, welche schlechten Eigenschaften noch erkennbar sind oder was an einer Lösung noch nicht befriedigt. Schwer ist die Antwort auf die Frage nach dem absolut Guten im jeweils vorliegenden Problem. Relativ leicht aber ist zu beurteilen, ob Mängel vorhanden sind, ob sie unbedeutend oder schwerwiegend sind. Eindeutig steht die Forderung nach Konstruktionen, die durch eine hohe Summe positiver Eigenschaften bestimmt sind, d. h. also die Forderung nach guten oder — mit einem besseren Wort — nach optimalen Konstruktionen. Der Weg dahin führt aber nach obiger Überlegung über die Feststellung, die Kritik und die Behebung von Unzulänglichkeiten. Der Wille zum Guten allein genügt nicht. Das 414

Erreichen des Guten ist von dem Ausschluß oder der Minimalgestaltung des Schlechten abhängig. Die Forderung an den Konstrukteur „Schaffe das Bestmögliche" allein würde die Auswertung der Dialektik nicht ermöglichen. Diese ist nur möglich, wenn die Gegenforderung „Vermeide das Nachteilige" voll untersucht und ausgenutzt wird. Das Maß des Vermeidens ist verschieden; es bestimmt aber stets das Maß des übrigbleibenden Vorteilhaften. Nur in solchen Betrachtungen kann das an sich unerfüllbare Streben nach der absolut guten Lösung in seiner Näherung zumZiele führen. Im Verfolg dieses Weges kann aus dem Widerspruch heraus die ständige Höherentwicklung erreicht werden. Es wäre noch die Frage nach der bewußten Ausnutzung des Prinzips des Umschlages quantitativer Veränderungen in qualitative Veränderungen zu untersuchen. Bei der schöpferischen Ingenieurarbeit ist es so, daß durch eine Reihe weitgehend' formaler Regeln aus der unendlichen Vielfalt des Fachwissens eine geordnete Auswahl getroffen werden kann, daß geordnete gedankliche Kombinationen durchgeführt werden können. Hierdurch tritt eine Anhäufung von vielleicht brauchbaren Lösungselementen oder auch Aufbauelementen für das Auffinden des gesuchten technischen Gebildes auf. Eine derartige Anhäufung kann nur bei kleinstem Aufgabenumfang mit Hilfe einfacher Kombinatorik verarbeitet werden. Es ist bisher nicht möglich gewesen, nach einfachen logischen Gesetzen die Auflösung der in den verschiedenen Kombinationen auftretenden Widersprüche auf höherer Ebene zu erreichen. Die Beobachtung hat aber gezeigt, daß durch die Anhäufung von Lösungselementen sprunghaft Verknüpfungsmöglichkeiten zutage treten, die sich im Unterbewußtsein oder sonstwie in der Gehirntätigkeit vollziehen. Diese müssen festgehalten und weiterhin mit den Mitteln des kausalen Denkens untersucht werden, um in weiterer systematischer Kleinarbeit zu einer fortgeschrittenen Lösung geführt zu werden, einer Lösung, die ohne diese sprunghafte qualitative Änderung nicht gefunden worden wäre. An dieser Stelle der angeführten Teilabschnitte der Ingenieurarbeit wird sich vorwiegend der Kampf der Anschauungen austoben, die auf der einen Seite die Logik und auf der anderen Seite die Intuition in den Vordergrund stellen wollen. Die Konstruktionssystematik hat eine systematische Zusammenfassung und Ordnung der zweckmäßigen Verhaltensweisen im Ablauf 415

der schöpferischen Geistestätigkeit des Ingenieurs aufzustellen versucht. Ein solches System, das die absolute Wahrheit birgt, kann nur in einem unendlichen Prozeß erreicht werden. Es kann sich also zunächst nur um einen Ansatz für ein objektiv richtiges System handeln. Versuche nach einem solchen Zusammenhang, der also die Grundlagen einer Konstruktionswissenschaft enthalten müßte, sind im Laufe der letzten 100 Jahre immer wieder gemacht worden. Sie sind in den Anfängen oder in Einzelheiten steckengeblieben. Nun ist aber die Vielzahl der geistig-schöpferischen Vorgänge, die seitdem in steil ansteigender Kurve durch die Konstrukteure realisiert wurden, so groß geworden, daß es kaum verwunderlich sein dürfte, wenn ein Entwicklungssprung zu einer qualitativ neuen Einsicht eingetreten ist. Aus der Quantität der Einzelvorgänge wäre also sprunghaft die Erkenntnis der grundsätzlich wesentlichen Vorgänge bei der schöpferischen Ingenieurarbeit entstanden. Daß aber in verschiedenen Ländern ähnliche Vorgänge zu beobachten sind, dürfte nur eine Bestätigung dafür sein, daß wir zur Zeit in diesem Stadium stehen. In der Periode eines solchen Entwicklungssprunges sind selbstverständlich die Widersprüche besonders augenfällig, sind aber umgekehrt die Möglichkeiten zur Überwindung der Widersprüche auch in besonderem Maße gegeben. Solche zur Zeit bestehenden dialektischen Widersprüche sind: Die Konstruktionssystematik erlaubt eine gründlichere und vollständigere Aufgabenbearbeitung. — Die Konstruktionssystematik beansprucht an einigen Stellen mehr Zeit, als zur Verfügung gestellt wird. Die Konstruktionssystematik dämmt den absolut freien Gedankenflug ein. — Die Konstruktionssystematik liefert neue Lösungselemente und befruchtet den freien Gedankenflug. Die Kombinatorik der Konstruktionssystematik liefert alle möglichen Lösungen. — Verfügbare Zeit und Vernunft verbieten die Bearbeitung aller Lösungen. Diese Widersprüche tauchen bei der systematischen schöpferischen Ingenieurarbeit immer wieder auf. Die Konstruktionssystematik liefert jedoch in ihren Teilrichtlinien die Möglichkeit zur Behebung dieser Widersprüche, so daß bei ihrer Anwendung letzten Endes nur Lö416

sungen auf reeller Basis und nur den Bedürfnissen der Gesellschaft dienende Lösungen zum Abschluß gebracht •werden. Als Abschluß dieser wenigen Streiflichter kann wohl folgendes festgestellt werden. Die Ingenieure müssen sich darüber im klaren sein, daß sie ihre Arbeit nicht intensivieren können, ohne die Grundsätze der Dialektik zu beachten und sie ihrer Arbeit dienstbar zu machen. Geschehen kann dies aber nicht ohne die aktive Mithilfe der Kollegen der philosophischen Fakultät. Es dürfte für die Philosophie (neben der Klärung ihrer eigensten Probleme) mit zur vornehmsten und wichtigsten Aufgabe gehören, ihre Erkenntnisse dem Aufbau einer für den Fortschritt der Technik und damit für das Wohl der Menschen so wichtigen Konstruktionswissenschaft zur Verfügung zu stellen. An dem Willen dazu dürfte es wohl keineswegs fehlen. Es kann aber auch nicht abgeleugnet werden, daß die Bemühungen um die Befruchtung der schöpferischen Ingenieurarbeit von dieser Seite noch sehr gering sind. Solche Bemühungen müssen von beiden Seiten kommen, und als Ingenieur möchte ich dem Wunsche Ausdruck geben, daß es mit Hilfe der philosophischen Disziplin gelingen möge, die umfassenden Erkenntnisse des dialektischen Materialismus in die Arbeit des Ingenieurs einfließen lassen zu können. Dazu werden aber nicht allgemeine Darlegungen des philosophischen Wissensgebietes mit Anwendungsbeispielen auf gesellschaftliche Erscheinungsformen oder auf physikalische Erkenntnisprozesse helfen, sondern dazu wird wirksam nur helfen das Aufzeigen der direkten Beziehungen zur vorausdenkenden und damit die Entwicklung ständig aktiv und bewußt beeinflussenden Ingenieurarbeit. Erst wenn das gelingt, werden die Ingenieure die dialektische Disziplin als einen wichtigen und wahrscheinlich unabdingbaren Einflußfaktor ihrer täglichen Arbeit anerkennen. Auf dem Wege dahin könnte vielleicht eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Philosophen und Ingenieuren Wertvolles leisten, wie Ähnliches bereits auf den Gebieten der Physik, der Biologie und der Medizin als zweckmäßig erkannt wurde. Schon viele Ingenieure sind davon überzeugt, daß Beziehungen zwischen den Grundsätzen des dialektischen Materialismus und der Konstruktionswissenschaft bestehen. Sie haben sich Gedanken darüber gemacht, welcher Art diese Beziehungen sind. Sie sind sich aber bewußt, daß in ihren Schlüssen Unzulänglichkeiten und vielleicht auch Fehler enthalten sind. Es wird des27

Naturwissenschaft und Philosophie

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halb notwendig sein, daß Philosophen sich mit diesen von Ingenieuren vermuteten Zusammenhängen befassen. Es kann sich aus weiterhin noch entstehenden Erkenntnissen unter Umständen für die Philosophen die Pflicht ergeben, diese Zusammenhänge noch intensiver herauszuschälen. Für manchen der Philosophie Fernstehenden stellen sich doch die dialektischen Grundsätze so dar, als ob sie nur der Erklärung einer natürlichen Entwicklung dienen könnten, und er stellt die Frage, welche Anweisungen die Dialektik für einen bewußten Eingriff in eine technische Entwicklung gibt und wie die dialektischen Grundsätze auf dem Gebiet der technisch-konstruktiven Entwicklung praktisch ausgewertet werden können. Die Antwort wird nur in gemeinschaftlicher Arbeit allgemein verständlich und allgemein anwendbar gegeben werden können.

ÜBER DIE

ZUSAMMENARBEIT

ZWISCHEN NATURWISSENSCHAFTLERN MARXISTISCHEN Wolf gang Krah

UND

PHILOSOPHEN (Dresden)

Einerseits hat man sicher ein Recht, die Philosophie als eine ganz und gar theoretische Wissenschaft zu bezeichnen. Der Philosoph arbeitet weder mit materiellen Geräten wie Teleskopen oder Retorten, noch hat er es mit stofflichem Material, Pflanzen oder Kulturgütern oder auch nur mit konkreten Ereignissen zu tun, welche es etwa zu sammeln und zu klassifizieren gelten könnte. Darum auch wohl betrifft die Wechselwirkung der Philosophie mit den Einzelwissenschaften immer deren theoretische Gebiete oder erfolgt doch über das Medium der Theorie. Dennoch muß man andererseits sagen, daß die Philosophie auch eine direkt praktische Seite hat, nämlich die Vermittlung des philosophischen Gedankengutes an den Verbraucher. Natürlich gibt es auch Theorien über die Wirkung der philosophischen Theorien auf den Menschen. Aber diese Theorien sind nun im Gegensatz zu den philosophischen Theorien direkt an der Praxis nachprüfbar, sowie die Theorien vom Verbrauch irgendeines Produktes durch die Menschen. Ich gebe zu, das gerade von mir genannte Problem ist kein philosophisches mehr, aber der Philosoph hat mit ihm zwangsläufig zu tun, sogar vorrangig, solange es in seiner Wissenschaft noch keine Arbeitsteilung in Produktions- und Werbe- bzw. Absatzabteilung gibt. Einstweilen muß sich der Philosoph noch selbst um die Wirkung seiner Werke kümmern und wenn sie nicht befriedigt, um Maßnahmen bemüht sein, die dem abhelfen. Um das Verhältnis zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen gedeihlich zu gestalten, erscheint es mir notwendig, es möglichst genau zu bestimmen. Es muß bestimmt werden, was der Philo27*

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soph dem Naturwissenschafbier, und was der Naturwissenschaftler dem Philosophen zu geben beabsichtigt. Dann erst kann man darüber diskutieren, ob diese gegenseitigen Gaben möglich, notwendig und fruchtbar sein werden. Es gibt Wissenschaften, die erfreulicherweise den Naturwissenschaftlern recht klar sagen können, was sie ihm zu geben beabsichtigen, und was sie von ihm zu empfangen wünschen. Ich denke an die Ökonomie und an die Wissenschaft von der Politik. Demgegenüber haben wir Philosophen zwar auch allerhand Programmpunkte für die Kommunikation mit den Naturwissenschaftlern aufgestellt, aber wenn die Sache konkret werden soll, dann zeigt sie doch allzuoft eine gewisse unerfreuliche Nebelhaftigkeit. Ein Beispiel: Der Philosoph Georg Klaus hat ausdrücklich erklärt, die Philosophie habe den Naturwissenschaftlern nicht nur eine allgemeine Lebenshaltung zu geben, sondern auch zu einzelnen naturwissenschaftlichen konkreten Fragen Stellung zu nehmen. Sie habe bestimmte Hypothesen aus philosophischen Gründen unbedingt, andere bedingt abzulehnen, wieder andere als förderungswert zu empfehlen usw. Die Philosophie spiele also auch die Rolle eines Hilfsinstrumentes bei der Gewinnung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Ich habe den Eindruck, daß der Klaussche Standpunkt von fast allen unseren Philosophen geteilt wird. Darum sehe ich es als sinnvoll an, sich zu überlegen, welche Voraussetzungen dafür nötig sind, daß die Philosophie auch diese Aufgabe neben ihren anderen Aufgaben erfüllen kann. Eine meines Erachtens sehr einleuchtende Voraussetzung dafür ist, daß die philosophischen Begriffe so ausgearbeitet sind, daß sie sich auf naturwissenschaftliche Begriffe bzw. Aussagen möglichst eindeutig anwenden lassen, so daß man etwa sagen kann: diese naturwissenschaftliche These erfüllt den und den philosophischen Tatbestand oder erfüllt ihn nicht. Die Betrachtung der philosophischen Diskussionen naturwissenschaftlicher Themen in den letzten Jahren zeigt, wie viel an dieser Forderung noch zu verwirklichen ist. Sehr oft waren die Philosophen sich selbst nicht einig, wie bestimmte physikalische Hypothesen philosophisch zu etikettieren seien. Vielfach war das bedingt durch die Schwierigkeiten des Gegenstandes, es ging um sehr diffizile Dinge, und so war es gar nicht verwunderlich, daß das von mir genannte Programm nicht realisiert 420

wurde. Man sollte ea aber dennoch immer als Leitstern vor Augen haben, denn ich wüßte nicht, wie man das Wechselverhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft ohne klare Begriffskorrelation meistern will. Meine Ausführungen wären unnütze Nörgelei, bezögen sie sich auf die diffizilen Diskussionen, die über philosophische Fragen höherer Sphären der Naturwissenschaften geführt werden. Bei ihnen sind Unklarheiten und unterschiedliche philosophische Interpretationen unvermeidlich. Die Berechtigung zu meinen Darlegungen schöpfe ich vielmehr aus Gesprächen mit Naturwissenschaftlern über die philosophische Darstellung recht einfacher naturwissenschaftlicher Tatbestände. Dabei ergaben sich überraschende Schwierigkeiten, die mich veranlassen, unsere Philosophen aufzufordern, einige fundamentale Begriffe der Philosophie für die Naturwissenschaftler etwas mehr auszuarbeiten. Ich stehe überdies mit dieser Forderung nicht allein. Auch Professor Segal hat sie in der Einleitung zu seinem Buch „Die dialektische Methode in der Biologie" erhoben. Wenn für die Naturwissenschaftler keine Anleitung zum Verständnis philosophischer Begriffe an Hand von Beispielen aus ihrem Fach gegeben wird, dann werden sie in den meisten Fällen mit diesen Begriffen nichts oder nicht genügend anfangen können. Ihre Beziehung zur Philosophie wird weitgehend passiv sein, so wie zwischen darbietendem Künstler und Konzert- oder Ausstellungsbesucher. Man hat diesen Zustand mit dem Ausdruck der Unzufriedenheit, aber meines Erachtens sehr richtig, „Philosophie als Feierabendgestaltung" genannt. Der größte Teil unserer Naturwissenschaftler nimmt das von den Philosophen Gebotene als irgend etwas unverbindlich zur Diskussion Gestelltes auf, oder, wenn es hoch kommt, als Anregung für das Privatleben, also so, wie es auch Nicht-Naturwissenschaftler aufnehmen oder aufnehmen könnten. Das aber genügt, wie Ihnen bekannt sein dürfte, nach maßgeblicher Ansicht ganz und gar nicht. Die Naturwissenschaftler sollen vielmehr eine konkrete Verbindung zwischen der gebotenen Philosophie und ihrer Berufsarbeit herstellen. Als Illustration der von mir genannten Schwierigkeiten bringe ich zwei Beispiele: 421

Kräften der Physik entsprechen Vektoren der Mathematik. Daher kann man bei Kraftproblemen, indem man die Kräfte nach ganz einfachen Regeln als Vektoren auffaßt, vorteilhaft von der VektorRechnung Gebrauch machen. Nimmt man aber jetzt das hierzu entsprechende Problem des Zusammenhanges zwischen Philosophie und Physik, dann steht man vor der Aufgabe, statt des VektorBegriffes den philosophischen Begriff des dialektischen Widerspruches für die anstehenden Kraftprobleme nutzbar zu machen. Und das ist eben für die Naturwissenschaftler schwer, weil sie keine ausreichende Anleitung bekommen. Eine Schwierigkeit besteht z. B. in folgendem: Bezeichnet man das Zusammenwirken von Kräften als dialektischen Widerspruch und nimmt man mehr als zwei, etwa drei Kräfte an, so fragt man sich doch unwillkürlich, was ist nun der eigentliche, der reale Widerspruch ? Das Gegeneinander von Kraft 1 und Resultante der Kräfte 2 und 3 oder von Kraft 2 und Resultante von 1 und 3, oder von Kraft 3 und Resultante von 1 und 2 ? Es geht nicht darum, daß auf diese Frage wenige oder viele Philosophen mit überlegenem Lächeln eine Antwort parat haben, sondern darum, daß diese Antwort den Naturwissenschaftlern leicht zugänglich sein müßte. Sie müßte z. B. in den gängigen Lehrbüchern stehen. Aber dort findet man sie nicht. Das ist sehr bedauerlich, denn das genannte Beispiel repräsentiert einen sehr zahlreichen Typ Zweites Beispiel einer sehr verständlichen Schwierigkeit bei der Anwendung philosophischer Begriffe bzw. Erkenntnisse auf ein konkretes Fachproblem: Dieses Beispiel habe ich schon zweimal in Gesprächen, einmal mit einem Physiker, einmal mit einem PhysikoChemiker präsentiert bekommen. Komprimiert man ein reales Gas bei einer Temperatur, die kleiner ist als die kritische Temperatur, so erfolgt bei einem bestimmten Druck Verflüssigung. Es liegt also ein Beispiel für das Gesetz vom qualitativen Umschlag vor. Wenn aber dasselbe Gas bei überkritischer Temperatur komprimiert wird, kommt keine Verflüssigung zustande, wie hoch der Druck auch ansteigen mag. Wie ist das mit dem dritten Grundzug zu vereinbaren ? Das Gesetz vom qualitativen Umschlag muß nicht unbedingt schon bei der Betrachtung von nur zwei Eigenschaften manifest werden. Um beim Beispiel zu bleiben: bei der Betrachtung von Aggregat422

zustand und Druck. Man muß weitere Eigenschaften, hier zumindest Temperatur — unter Umständen noch weitere — mit einbeziehen. Dann kommt man natürlich nicht mehr mit einer Darstellung des qualitativen Umschlags in einer Ebene aus, sondern man muß zu einem Zu standsraum von so vielen Dimensionen übergehen, sagen wir n, wie Eigenschafben zu berücksichtigen sind. Die zu untersuchende Qualität, z. B. ein bestimmter Aggregatzustand, ist dann an ein bestimmtes auch n-dimensionales Gebiet in diesem Zustandsraum gebunden. Der qualitative Umschlag erfolgt dann, wenn der Zustand des in Rede stehenden Objektes jenes Zustandsgebiet verläßt, was unter Umständen durch Veränderung einer Eigenschaft allein, etwa des Druckes, nicht erreichbar zu sein braucht. Natürlich gibt es in diesem allgemeinen Falle nicht nur einen Umschlagspww&í, sondern eine mindestens zweidimensionale Umschlagsoberfläche. Auch Schwierigkeiten dieses Typs sind massenhaft verbreitet, und man hätte sich mit ihnen schon längst befassen müssen. Ohne die Schwierigkeiten in der sozusagen elementaren Sphäre des Wechselverhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Philosophie überwunden zu haben, kann man sich auf die Dauer nicht erfolgreich in den höheren Sphären desselben bewegen. Die Ausarbeitung von Anleitungen für die Einzelwissenschafbier durch die Philosophen, das ist also das eine Anliegen, das ich hier vorbringe, und mit dem ich — siehe Segal — offenbar nicht ganz allein stehe. Das zweite Anliegen, wahrscheinlich mit dem ersten mehr gekoppelt als ich einstweilen übersehe: Es würde die Einzelwissenschafbler sicher sehr für die Philosophie einnehmen, wenn man möglichst viele, auf jeden Fall mehr als bisher, Ähnlichkeiten, Analogien struktureller und methodischer Art zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie detailliert aufzeigte. Denn es ist doch klar, daß ein Mensch für ein anderes Fach höchstwahrscheinlich Interesse zeigen wird, wenn man ihm darlegt, daß es dort in bestimmten Punkten so ähnlich zugeht, wie in seinem eigenen Fach. Die Aufdekkung solcher Ähnlichkeiten ist doch etwas für beide Seiten sehr Reizvolles, was zur Zusammenarbeit förmlich herausfordert. Auch dafür gestatte ich mir, ein Beispiel aus eigener Praxis zu geben: Sie wissen, daß die Einheitlichkeit unserer Philosophie herauszustellen, eine ideologisch wichtige Angelegenheit ist, weil sie von unse423

ren Gegnern bestritten wird. Seit einigen Monaten bemühe ich mich, diese Einheitlichkeit und Geschlossenheit in einem Sektor unserer Philosophie, nämlich an den dialektischen Grundzügen, möglichst zwingend zu beweisen. Ich lege die von mir angewandte Methode hier nicht näher dar, denn sie würde wohl nur wenige interessieren. Ich möchte nur sagen, daß sie die von den Grundzügen verwendeten Begriffe Zusammenhang, dialektischer Widerspruch, qualitativer Umschlag usw. als ein System von eben diesen Begriffen mit Beziehungen zwischen ihnen auffaßt. Ich will nun beweisen, daß dieses System in bestimmter Hinsicht isomorph mit dem Begriffssystem ist, das zur Darstellung reeller Funktionen beschränkter Schwankung benutzt werden muß, das also aus den Begriffen Funktion, Stetigkeit, Monotonie, Vorzeichenwechsel usw. besteht. Da die Beziehungen letzterer Begriffe untereinander leicht aufzufinden sind, kann man wegen jener Isomorphie der beiden Systeme, dieselben Beziehungen zwischen den entsprechenden philosophischen Begriffen ansetzen, und damit hat man schon das gewünschte Resultat. Aber nicht davon soll hier die Rede sein; hier ist es mir vielmehr wichtig, erfreut mitteilen zu können, daß eine größere Anzahl Mathematiker unserer Technischen Hochschule Dresden, als sie von meiner Absicht erfuhren, von sich aus für sie Interesse zeigten, mit mir Verbindung aufnahmen, mich zu einer Diskussion über den ganzen Fragenkomplex einluden und die Diskussion auch durchführten. Dabei hatte ich mich ganz und gar nicht um diesen massenhaften, sozusagen kollektiven Kontakt mit ihnen beworben, sondern nur mit zweien zusammengearbeitet. Dieses so überraschende und freudige Erlebnis hat in mir die Meinung aufkommen lassen, daß es eines der besten Mittel zur Gewinnung der Naturwissenschaftler für die Philosophie wäre, wenn die Philosophen recht viele originelle Gedanken über Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Wissenschaft und den anderen Wissenschaften produzieren würden. Das Symposium hat dazu schon erfreuliche Einzelbeispiele geliefert. Mögen sie in Zukunft noch häufiger werden; denn sonst sähe ich keine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen zu jenem befriedigenden Stand zu bringen, der mit vollem Recht immer neu gefordert wird. 424

E N G E L S U N D DAS W I S S E N S C H A F T L I C H E GESETZ (Ein kritischer Überblick; Galvano della Volpe (Rom) (Deutach von Nicoiao

Merker)

Wir betrachten in dieser Darstellung das Gesetz von der Entwicklung der Arten (Darwin) und die dadurch bei Engels hervorgerufene typische Denkmethode. I n dieser Hinsicht ist es lehrreich, zunächst zwei Momente festzuhalten, nämlich einmal, wie wichtig dieses Gesetz in erster Linie für Engels ist, als er sich gegen die Verherrlichung der Induktion, gegen die „Induktionsesel" wendet, kurz für jenen Engels, welcher mit Recht gegen Empirismus und Positivismus Stellung nimmt, 1 ; und zum anderen, daß Engels im besonderen ausführt, es sei unmöglich, die Entwicklung der Arten ausschließlich durch Induktion zu beweisen, da die Begriffe der Art, Gattung und Klasse gerade durch die Theorie der Entwicklung flüssig gemacht werden. Und zwar geschieht dies durch eine Theorie, die mittels der Hypothese der „Vererbung" auf der Deduktion einer Art aus der anderen faßt, woraus jedoch folgt, daß somit die Arten, Gattungen und Klassen Relationshegriffe oder dialektische Begriffe oder aber für eine reine Induktion unverwendbare Begriffe geworden sind. 2 Es ist aber ebenso lehrreich festzustellen, daß jenes Gesetz für Engels auch von einem anderen problematischen und methodischen Aspekt aus Interesse hat, und zwar vom Gesichtspunkt des Zufalligen oder Induktiven. Engels anerkennt hier, daß es gerade die unendlichen zufälligen Verschieden1 2

Siehe Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 217, 2 4 1 - 2 4 3 . Man muß festhalten, schreibt Engels, daß „die Begriffe, womit die Induktion hantiert: Art, Gattung, Klasse, durch die Entwicklungstheorie flüssig gemacht und damit relativ geworden", daß „mit relativen Begriffen aber nicht zu induzieren" ist (ebenda, S. 242).

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Naturwissenschaft und Philosophie

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heiten der Individuen innerhalb einer Art waren, welche, bis zur Durchbrechung des Charakters der einzelnen Art gesteigert, Darwin zwangen, den alten metaphysisch-st&Tten und unveränderlichen Artbegriff in Frage zu stellen. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß das Zufällige die herkömmliche Auffassung der Notwendigkeit beseitigt 3 und eine Notwendigkeit neuer Art fordert: nämlich die Notwendigkeit, welche der Hypothese innewohnt. Und schließlich ist noch die folgende doppelte Schlußfolgerung Engels' festzuhalten: daß in der Theorie Darwins die praktische Verwirklichung und Erfüllung der Hegeischen Forderung einer wesentlichen Verbindung von Notwendigkeit und Zufälligkeit enthalten ist, und zugleich, daß Deduktion und Induktion eng miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig vervollständigen.4 Diese umfassende Schlußfolgerung Engels' ist nun aber insbesondere deshalb bedeutungsvoll, weil sie uns zwei Momente bestätigen kann. Nämlich erstens, daß in der wissenschaftlichen Erkenntnis (und in der wissenschaftlichen Erkenntnis deshalb, weil diese in höchstem Grade mit dem determinierten Denken gleichbedeutend ist) sich jenes Prinzip in hervorragender Weise offenbart, welches besagt, daß die Erfüllung der Forderung der Vernunfteinheit oder Notwendigkeit bedingt ist durch die Erfüllung der Forderung der Verschiedenheit oder Zufälligkeit, und ebenso umgekehrt. Und zweitens wird durch jene Schlußfolgerung gleichfalls bestätigt, daß dieser Vorgang ein dialektischer Vorgang ist, dessen Elemente tatsächlich RelationsbegriSe bzw. dialektische oder zusammenfassende oder kurz gesagt, überhaupt Begriffe sind. Sie sind dies, weil sie sich in funktio3

4

„Es sind" — führt Engels aus — „gerade die unendlichen zufälligen Verschiedenheiten der Individuen innerhalb der einzelnen Arten, Verschiedenheiten, die sich bis zur Durchbrechung des Artcharakters steigern . . ., die ihn zwingen, die bisherige metaphysische Starrheit und Unveränderlichkeit in Frage zu stellen . . . Die Zufälligheit wirft die Notwendigkeit, wie sie bisher aufgefaßt, über den Haufen". In den Randbemerkungen zum Manuskript finden wir dies folgendermaßen und mit Nachdruck wiederholt: „Das inzwischen angehäufte Material von Zufälligkeiten hat die alte Vorstellung der Notwendigkeit erdrückt und durchbrochen" (ebenda, S. 234—235. Hervorhebungen von mir, G. d. V.). Ebenda, S. 236-237, 240-242.

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naler Verbindung mit der materiellen Unterschiedlichkeit befinden, •welche sich durch jene zufälligen Verschiedenheiten der natürlichen Individuen darstellt, denen -wir die Durchbrechung der starren (weil metaphysischen) Einheit der Arten in ihrer herkömmlichen aristotelisch-rationalistischen Auffassung verdanken. Anders ausgedrückt» •wird m. E. bestätigt, daß unter der Forderung eines wahrhaft dialektischen Denkens, d. h. unter der Forderung nach nicht-starren Kategorien und Relationsbegriffen, nicht, wie Hegel meinte, eine metaphysische Selbstforderung des in sich als wesenhaftes Selbstbewußtsein eingeschränkten Denkens, sondern im Gegenteil, die wissenschaftliche Forderung einer gegenseitigen Funktionalität von Denken und Materie oder Natur zu verstehen ist. Engels schreibt: „Beispiel der Notwendigkeit des dialektischen Denkens und der nicht fixen Kategorien und Verhältnisse in der Natur: das Fallgesetz, das schon bei mehreren Minuten Fallzeit unrichtig wird, weil der Erdhalbmesser dann nicht mehr ohne Fehler = oo gesetzt werden kann und die Attraktion der Erde zunimmt, statt sich gleich zu bleiben, wie Galileis Fallgesetz voraussetzt. Trotzdem wird dies Gesetz noch fortwährend gelehrt, die Reserven aber weggelassen"5. Die Ausführung von Engels ist eindeutig, impliziert aber unserer Ansicht nach folgendes: 1. Die Nicht-Starrheit oder dialektische Wesenheit des Denkens bringt entweder eine strenge Ausschließung jeglicher Hypostase mit sich, und die dialektische Wesenheit bedeutet somit eine Funktionalität des Denkens, wodurch dem Begriff (oder der Kategorie) sein normaler Wert als Prädikat eines vom Begriff verschiedenen Subjekts zurückgegeben wird; oder aber der Rückfall in die Hypostase ist unvermeidlich, was aber soviel heißt, daß man in das verselbständigte Prädikat zurückfallt und dann jedoch nicht mehr weiß, was mit der antimetaphysischen und antidogmatischen Forderung der Nicht-Starrheit oder dialektischen Wesenheit des Denkens gemeint ist. 2. Nicht-starre Kategorien sind folglich jene Kategorien, welche die Zusammensetzung der erkenntnistheoretischen Begriffe bedingen (und in dem Maße, in dem sie diese Zusammensetzung bedingen), wobei zu beachten ist, daß unter jenen Begriffen die in allen Zeiten von den Metaphysikern und Anhängern der Hypo6

Ebenda, S. 292.

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stasen so gering geschätzten gemein-empirischen oder wissenschaftlichen Begriffe (Hypothesen) zu verstehen sind. Diese Kategorien sind nicht-starre Kategorien, eben weil sie in der Ausübung ihrer Funktion (als Einheits- oder Prädikatsnormen) miteinander verbunden, d. h. dialektisch sind (oder, wie üblicherweise gesagt wird, ineinander übergehen können); aber folglich — als reine Kategorien — von uns nicht mehr als Erkenntnisserte angesehen werden, oder etwa als „Gesetze der Dialektik" (worauf z. B. das Engeische und Hegeische „Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt" Anspruch erhebt), denn als erkenntnistheoretischen Wert bezeichnen wir hingegen ein Zusammengesetztes, welches aus der gegenseitigen Funktionalität von Prädikat und Subjekt resultiert (wobei nochmals zu beachten ist, daß, wenn das Subjekt nicht auch seinerseits funktional wäre, es sich selbst verneinen und jedenfalls wieder in eine Subjektswesenheit oder Hypostase zurückfallen würde, z. B. im Sinne des „Dinges an sich" bei Kant). Das so gefundene Zusammengesetzte jedoch, welches aus der gegenseitigen Funktionalität resultiert, die sich als ein Ineinanderübergehen von Deduktion und Induktion zeigt, ist der empirische, wahrhaft konkrete Begriff, oder aber das Erfahrungsurteil oder Urteil überhaupt als einziger Erkenntniswert; und folglich finden wir z. B. weder eine „reine Qualität" oder Ähnliches, sondern den „hölzernen Stamm" (als Relationsbegriff des Baumes), usf., noch eine abstrakte Gleichung wie „reine Quantität = reine Qualität und umgekehrt", sondern ein bestimmtes physikalisches Gesetz, welches z. B. die Bewegung in der Mechanik betrifft. 3. Die Frage nach einem nicht-starren Denken geht aber, obiges festgesetzt, in das Problem des wissenschaftlichen Gesetzes oder der Notwendigkeit der Tatsache über. Im Gesetz offenbart sich nämlich in typisch hervortretender Art und Weise a) ein Denken, welches ein dialektisches, relationsfähiges oder wahrhaftes Denken, somit aber ein funktionales, mit den Dingen verwachsenes und folglich eine vollständige Wahrheit in sich tragendes Denken ist. Dabei ergibt dies den einzigen Sinn, in welchem der Begriff Wahrheit keine dogmatische Bedeutung in sich birgt; und b) erhellt als Folge davon, daß die Notwendigkeit des Inhaltes eines so gegliederten Denkens — dem ja nicht die parmenideisch-metaphysische Starrheit der Hypostasen, sondern im Gegenteil die Bestimmtheit zukommt, welche ihm durch das materiell Unter428

schiedliche (als die spezifische Bedingung der Nicht-Widersprüchlichkeit des Denkens als solchem) zugrunde liegt — die kontingente Notwendigkeit des wissenschaftlichen Gesetzes überhaupt ist. Ein solches Gesetz ist folglich korrigierbar, wie auch aus dem Beispiel bei Engels ersichtlich ist, oder besser gesagt, es ist der Vervollkommnung fähig, jedoch ist es dies seiner Struktur nach und somit innerhalb der Kontinuität des wissenschaftlichen oder wirklichen Denkens. Daraus erhellt aber auch, daß die wahrhafte Dynamik der Dialektik, die wahrhafte Dialektik als historische Dialektik, ausschließlich im Setzen und fortwährenden Vervollkommnen des Gesetzes besteht, welches sich als ein in höchstem Grade zeitlicher oder historischer (und somit ständig offener) Vorgang darstellt. Denn jegliche andere „Dynamik", wenn sie auch den oben erörterten „Gesetzen der Dialektik" zugeschrieben würde, erweist sich als eine mystifizierte Bewegung des abstrakten Denkens (vgl. K. Marx, Kritik des Hegeischen Staatsrechts), d. h. erweist sich als eine mystifizierte Dialektik. 6 • Engels, der auf die drei „Gesetze der Dialektik" Bezug nimmt (nämlich „Das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Negation der Negation; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze"), hebt jedoch hervor, daß „alle drei von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt" worden sind, der Fehler aber darin liegt, „daß diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden"; und daraus dann schließlich „die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion (entsteht): Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Oedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist" (ebenda, S. 53—54). Und man vergleiche ferner S. 216 („Dies bei Hegel selbst mystisch, weil die Kategorien als präexistierend, und die Dialektik der realen Welt als ihr bloßer Abglanz erscheint"), S. 266 („Hegels kunststücklich gemachte dialektische Übergänge"), S. 239 („Was also bei Hegel als eine Entwicklung der Denkform des Urteils als solchen erscheint, tritt uns hier entgegen als Entwicklung unserer auf empirischer Grundlage beruhenden theoretischen Kenntnisse von der Natur der Bewegung überhaupt"), S. 253 („Die ewigen Naturgesetze, verwandeln sich auch immer mehr in historische"), S. 245 („Aber die Tätigkeit des Menschen macht die Probe auf die Kausalität. Wenn wir mit (einem) Brennspiegel die Sonnenstrahlen ebenso in einem Fokus konzentrieren und wirksam machen wie die des gewöhnlichen Feuers, so be429

weisen wir dadurch, daß die Wärme von der Sonne kommt"), S. 223 („Erst wenn Natur- und Geschichtswissenschaft die Dialektik in sich aufgenommen, wird all der philosophische Kram — außer der reinen Lehre vom Denken — überflüssig, verschwindet in der positiven Wissenschaft"). Man vergegenwärtige schließlich, was Engels im Londoner Brief vom 12. März 1895 an C. Schmidt schreibt: „Die Vorwürfe, die Sie dem Wertgesetz machen, treffen alle Begriffe, vom Standpunkt der Wirklichkeit aus betrachtet. Die Identität von Denken und Sein, um mich hegelsch auszudrücken, deckt sich überall mit ihrem Beispiel von Kreis und Polygon. Oder die beiden, der BegriS einer Sache und ihre Wirklichkeit, laufen nebeneinander wie zwei Asymptoten, sich stets einander nähernd und doch nie zusammentreffend. Dieser Unterschied beider ist eben der Unterschied, der es macht, daß der Begriff nicht ohne weiteres, unmittelbar, schon die Realität und die Realität nicht unmittelbar ihr eigener Begriff ist. Deswegen, daß ein Begriff die wesentliche Natur des Begriffs hat, daß er also nicht ohne weiteres prima facie sich mit der Realität deckt, aus der er erst abstrahiert werden mußte, deswegen ist er immer noch mehr als eine Fiktion, es sei denn, Sie erklären alle Denkresultate für Fiktionen, weil die Wirklichkeit ihnen nur auf einem großen Umweg, und auch dann nur asymptotisch annähernd, entspricht" (Hervorgehoben von mir, G. d. V.). Zu dieser Problematik vgl. meine Logica come scienza positiva, Messina-Firenze 1956; vgl. auch meine Übersetzung mit Anmerkungen der Marxschen Kritik des Hegeischen Staatsrechts (Marx—Engels, Werke, Berlin 1957, I, S. 203 ff.) bei Edizioni Rinascita, Roma 1950.

SCHLUSSWORT AUF DEM INTERNATIONALEN SYMPOSIUM Josef Schleifstein

(Leipzig)

Verehrte Gäste, liebe Kollegen! Ich glaube, wir können am Ende dieser Tagung sagen, daß die Diskussion der philosophischen Probleme der Naturwissenschaften, •wie unsere Tagung beweist, sowohl unter den Naturwissenschaftlern als auch unter den Philosophen einem echten Bedürfnis entspricht, daß in diesem Sinne unsere Tagung vollauf gerechtfertigt ist. Dieses echte Bedürfnis fand nicht nur darin seinen Ausdruck, daß Sie alle unserer Einladung gefolgt sind, sondern darüber hinaus in der regen Diskussion, die von beiden Seiten, von Naturwissenschaftlern wie von den Philosophen bestritten worden ist. Es konnten einige Diskussionsredner, selbst solche, die ihre Beiträge eingereicht hatten, nicht mehr zu Wort kommen, infolge der Zeitknappheit. Wir müssen dafür um Entschuldigung bitten, aber es wird ein Sammelband über diese Tagung erscheinen und wir hoffen, darin auch solche Beiträge aufnehmen zu können, die auf der Tagung selbst nicht mehr verlesen werden konnten. Es kann nicht die Aufgabe dieser Schlußbemerkungen sein, den Versuch zu unternehmen, etwa eine Zusammenfassung und kritische Wertung der auf der Tagung diskutierten Fragenkomplexe zu geben. Dazu würde ein Übermensch gehören, den es nicht gibt, der erstens die Kenntnis aller hier diskutierten Gebiete besäße und zweitens sich auch noch in der Lage sähe, dazu ein kritisches Urteil zu fällen. Das ist selbstverständlich unmöglich. Die Probleme, die wir hier diskutiert haben, sind so umfassend und so bedeutend, daß eine Lösung, so glaube ich, von keinem von uns auf Anhieb erwartet worden ist. Was wir aber zweifellos erreicht 431

haben — ich spreche hier vor allem für die Wissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, selbstverständlich nicht für die übrigen hier vertretenen Länder — was wir erreicht haben, das war zumindest ein Beginn der Diskussion dieser Probleme. In diesem Sinne haben wir zweifellos einen Ausgangspunkt für eine kommende fruchtbare Arbeit gewonnen, das ist die Überzeugung der Veranstalter und daß wir der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, gerecht geworden sind. Es sind zum ersten Male in größerer Zahl Naturwissenschaftler und Philosophen — unter Beteiligung führender Wissenschaftler des Auslandes — bei uns zusammengetroffen, um in sachlicher, und ich glaube berechtigterweise sagen zu dürfen, kameradschaftlicher Art über wichtige philosophische und theoretische Probleme der modernen Physik, der modernen Biologie und anderer Gebiete der Naturwissenschaften zu diskutieren. Das allein scheint uns schon von großer Bedeutung zu sein und hätte genügt, unsere Veranstaltung zu rechtfertigen. Ich glaube aber, daß unser Symposium darüber hinaus noch andere Ergebnisse gezeitigt hat. Darunter scheint es mir besonders wichtig, daß hier ältere und jüngere Naturwissenschaftler, ältere und jüngere Philosophen aufgetreten sind, die mit Verständnis der anderen Seite, wenn man einmal so sagen soll, also mit Verständnis für die Philosophie des dialektischen Materialismus, beziehungsweise mit ernstzunehmenden Sachkenntnissen auf den entsprechenden Gebieten der Naturwissenschaften diskutiert haben und damit auch gezeigt haben, daß die Voraussetzungen bei uns heranwachsen, die eine Zusammenarbeit zwischen beiden erst wirklich fruchtbar gestalten können. Ein weiteres wichtiges Ergebnis war es, daß nicht wenige Naturwissenschaftler aufgetreten sind, die den dialektischen Materialismus bejaht oder Sympathie mit ihm bekundet haben. Daß dies möglich war, dazu haben nicht nur die Diskussionen an den einzelnen Universitäten und Hochschulen und in den marxistischen Kolloquien beigetragen, sondern ganz besonders auch die größere Verbreitung einer Reihe wichtiger Arbeiten sowjetischer Philosophen und Naturwissenschaftler, ich denke vor allem an die Materiahen der Moskauer Konferenz des vergangenen Jahres, an die Arbeiten solcher bedeutender Naturwissenschaftler, wie Fock, Alexandrow, Iwanenko, Oparin 432

u. a., und solcher bekannter marxistischer Philosophen wie Omeljanowski, unseres Gastes Kedrow und anderer. Die Tagung hat gezeigt, daß immer mehr Naturwissenschaftler in unserer Republik sich davon überzeugen, daß der dialektische Materialismus nicht irgendeine Philosophie ist, sondern daß er eine wissenschaftliche Philosophie ist, daß er durch seinen ganzen Geist, seine Entstehung und Entwicklung, durch seine gesamten wissenschaftlichen Grundlagen und seine kritische Methode, aufs engste verknüpft ist mit allen anderen Wissenschaften, nicht nur mit den Gesellschaftswissenschaften, sondern ebenso mit den Naturwissenschaften. Immer mehr Naturwissenschaftler sehen, daß die marxistische Philosophie die Naturwissenschaften nicht bevormunden und beherrschen will, sondern daß sie zur Naturwissenschaft kommt, zugleich als Nehmender und — sie ist selbstbewußt genug, das zu behaupten — als Gebender, nämlich als Basis, als allgemeine theoretischmethodische Grundlage, die imstande ist, dem Naturwissenschaftler in der eigenen theoretischen Arbeit wesentlich zu helfen. Ich glaube, daß auch in diesem Sinne unsere Tagung ein echter Erfolg gewesen ist. Andererseits ist auf unserem Symposium sichtbar geworden, daß unter den marxistischen Philosophen in der Deutschen Demokratischen Republik, besonders erfreulich unter unseren jüngeren Philosophen, die früher vorhandene Vernachlässigung eines gründlichen, ernsten Studiums der Naturwissenschaften und der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung allmählich überwunden wird und daß wir dadurch für die Zukunft bedeutende Fortschritte erwarten können. Man kann also sagen, daß unsere kameradschaftliche Aussprache, der kameradschaftliche Geist dieser Debatten sich ergaben, weil beide Seiten bereit sind, wie das in der Wissenschaft auch sein muß, voneinander zu lernen. Das bedeutet natürlich nicht, die Veranstalter wären der Meinung, unser Symposium habe alle Erwartungen erfüllt oder gar alle Probleme der Zusammenarbeit zwischen Philosophen und Naturwissenschaftlern gelöst. Wir wissen, daß es sich hier, wie ich schon sagte, um einen Ausgangspunkt handelt, oder um mit unserem Freund Professor Macke zu sprechen, um eine erste Gipfelkonferenz, um nicht mehr, ich darf aber wohl auch sagen, um nicht weniger. Dieser Anfang, der fruchtbar war und einiges für die Zukunft verspricht, erfordert und verpflichtet moralisch zu einer Fortsetzung,

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Fortführung auf höherer Ebene, zu einer vielseitigen, systematischen und ganz besonders dauernden gemeinsamen Arbeit von Philosophen und Naturwissenschaftlern über die Probleme, die hier diskutiert worden sind. Nicht nur der beiderseitige Gewinn und die positiven Seiten unseres Symposiums, sondern die ihm, wie jeden Anfang unvermeidlich anhaftenden Mängel weisen uns in diese Richtung einer systematischen und ständigen Zusammenarbeit mit klar umrissenen Aufgaben, mit einer fest bestimmten Thematik hin. Zweifellos war die Themenstellung dieser Veranstaltung noch zu allgemein, zu umfassend. Manche der Philosophen waren den Naturwissenschaftlern noch nicht so verständlich, wie sie es eigentlich sein müßten und einige Naturwissenschaftler sprachen noch zu sehr über spezielle Einzelthemen ihres Faches als über theoretisch-methodologische, philosophische Probleme ihrer Wissenschaft. Aber ich betone noch einmal, daß darin nur der bisherige Mangel auf beiden Seiten zum Ausdruck kommt, daß Vorzüge und Mängel uns auf dasselbe verweisen, auf die Notwendigkeit, unsere Zusammenarbeit auszubauen und ihr einen bestimmten Inhalt und feste Formen zu geben, sie zu entwickeln, zum Nutzen beider Teile in dieser — um mit dem von unserem Freund Kedrow zitierten Wort Pawlows zu reden — „in dieser Ehe von Liebenden". Die sozialistische Gemeinschaftsarbeit, die sich bei uns in allen Sphären des Lebens so stürmisch und mit so bedeutsamen Resultaten entwickelt, und die einen der markantesten und zugleich beglückendsten Züge unserer neuen Gesellschaftsordnung verkörpert, diese sozialistische Gemeinschaftsarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen wird uns in die Lage versetzen, das zeigt diese Tagung, gemeinsam die Wissenschaft voranzubringen, und das ist ja unser aller Bemühen und Ziel. Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu der Frage, welche Wege in Zukunft beschritten werden könnten, um diese Zusammenarbeit zu fördern. Ich glaube, daß unter unseren Bedingungen die Bildung von Arbeitsgemeinschaften an den Universitäten und Hochschulen auf einzelnen Gebieten philosophischer Fragen der Naturwissenschaften, z. B. der Physik, der Biologie, der Physiologie und Psychologie, der Medizin, besonders erfolgversprechend ist. Diese Arbeitsgemeinschaften könnten im Republikmaßstab in einen Erfahrungs- und Gedankenaustausch treten und darüber hinaus, wie wir hoffen, das sei als 434

Wunsch an unsere Gäste aus der Sowjetunion und den Volksdemokratien ausgesprochen — darüber hinaus mit den Wissenschaftlern aus den befreundeten Ländern Materialien, Ergebnisse austauschen usf. Ein zweiter Weg, diese Zusammenarbeit zu festigen, müßte in der Richtung beschritten werden, die Trennung zu überwinden, die auf dem Gebiete der Literatur besteht und die dazu führt, daß die Naturwissenschaftler die philosophische Zeitschrift nicht zu Gesicht bekommen und die Philosophen nur selten die Zeitschriften, die sich mit den theoretischen Problemen der Naturwissenschaften befassen. Diese Lage zu ändern, gemeinsame Veröffentlichungen, Diskussionen, Ergebnisse von Arbeitsgemeinschaften in gesonderten Materialien, Sonderheften der Zeitschriften zu publizieren, sie untereinander auszutauschen, einen festen Kreis von Interessenten an allen Universitäten und Hochschulen zu schaffen, die damit regelmäßig versorgt werden, das ist eine wichtige Aufgabe. Ein weiteres Problem, das sich ergibt, ist die stärkere Veröffentlichung populärwissenschaftlicher Arbeiten von Naturwissenschaftlern und Philosophen. Ich glaube, wir sind, obwohl das auf der Tagung selbst keine Rolle gespielt hat, uns alle darin einig, daß die hier diskutierten Probleme in den großen weltanschaulichen Auseinandersetzungen unserer Zeit einen außerordentlich bedeutsamen Platz einnehmen. Durch dutzende und hunderte Kanäle dringen sie in das geistige Leben ein, werden sie popularisiert und, ich glaube, hier sind sich Naturwissenschaftler und materialistische Philosophen von vornherein einig, wir müssen in einer gemeinsamen Front gegen die Verfälschung der modernen Naturwissenschaften und ihrer Ergebnisse durch wissenschaftsfeindliche Dunkelmänner aller Schattierungen kämpfen. Diese Aufgabe ist eine nicht zu unterschätzende gemeinsame Aufgabe, wenn wir an das denken, was uns gesagt wurde, über den Versuch der thomistischen Philosophie und anderer philosophischer Richtungen in Westdeutschland, die ganz eindeutig zum Ziele haben, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften zu verfälschen. Ein wichtiges Problem ist die Ausbildung eines Nachwuchses, der gewisse Lücken (ich bitte die ältere Generation, zu der ich mich in diesem Falle selbst rechne, um Verzeihung), unvermeidliche Lücken in der Ausbildung der älteren Generation schließt. Das bedeutet vor 435

allem eine gründliche naturwissenschaftliche Ausbildung eines naturwissenschaftlich interessierten Kreises junger Philosophen und eine ebenso gründliche philosophische Ausbildung eines philosophisch interessierten Kreises von theoretischen Naturwissenschaftlern. Wir sind erfreut, mitteilen zu können, daß hier unser Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen einen bedeutsamen Schritt getan hat, ganz in unserem Sinne, wofür wir ihm herzlich danken. In Berlin werden an der Humboldt-Universität eine Reihe junger Naturwissenschaftler und Philosophen in einer speziellen Aspirantur eine Ausbildung erfahren, die, davon bin ich fest überzeugt, in einigen Jahren unserer gemeinsamen Arbeit neue Kräfte zuführen wird. Wir glauben, daß alle Vorbedingungen für eine solche höhere Form der Zusammenarbeit jetzt gegeben sind, und wir appellieren vor allem an unsere jüngeren Naturwissenschaftler und Philosophen, sich auf diesem weiten und interessanten Felde ihre Sporen zu verdienen. Über die Thematik dieser künftigen Arbeit ließe sich sehr viel sagen. Ich will mich darauf beschränken, nachdem Prof. Kedrow ein ganzesProgramm entwickelt hat, wenigstens was den Anteil der Philosophen an dieser Arbeit betrifft, nur wenige Bemerkungen zu machen. Eine wichtige Voraussetzung für weitere Fortschritte in nächster Zeit werden einige klärende Begriffsdiskussionen zwischen den marxistischen Philosophen und den Naturwissenschaftlern sein. Was die marxistische Philosophie unter Determinismus und Indeterminismus, versteht und was teilweise von Physikern darunter verstanden wird, das muß man klären. Dann, glaube ich, wird eine Einigung zwischen marxistischen Philosophen und den Naturwissenschaftlern, die ja, beide auf wissenschaftlichen Grundlagen ihre Forschungen durchführen, nicht allzu schwer sein, und dasselbe gilt für eine ganze Reihe anderer Gebiete. Ich glaube vor allem, daß es in einer Reihe von Grenzgebieten dringend einer Zusammenarbeit von Philosophen und Naturwissenschaftlern bedarf. Ich denke hier z. B. an Probleme, wie sie von unserem Freund Prof. Müller-Hegemann aufgeworfen worden sind, und die uns zeigten, wie wichtig eine Zusammenarbeit nicht nur von Physiologen und Psychologen, sondern auch mit Erkenntnistheoretikern ist. Dasselbe ließe sich für viele andere Gebiete nachweisen. Gestatten Sie, daß ich abschließend allen Teilnehmern und allen, die durch Beiträge zum Erfolge unserer Tagung beigetragen haben, 436

herzlich danke. Unser besonderer Dank gilt unseren Gästen aus der Sowjetunion und aus den Volksdemokratien, die durch ihre Beiträge unser Symposium wesentlich bereichert haben. Wir danken Prof. Kedrow, Prof. Fatalijew und den Vertretern aus der CSR, aus den Volksrepubliken Polen, Ungarn und Bulgarien für ihre Teilnahme und hoffen, daß diese Zusammenarbeit sich weiter entwickeln möge. Gestatten Sie, daß ich schließe mit einem ganz im Sinne des Wortes von Pawlow gehaltenen Satz unseres alten deutschen materialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach. Vor mehr als 100 Jahren schrieb Feuerbach: „Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden. Diese auf gegenseitiges Bedürfnis, auf innere Notwendigkeit gegründete Verbindung wird dauerhafter, glücklicher und fruchtbarer als die bisherige Mesalliance zwischen der Philosophie und der Theologie." Auf der Grundlage der wissenschaftlichen materialistischen Philosophie, die von Marx, Engels und Lenin geschaffen wurde und in unserem sozialistischen Staat, in dem die Arbeit, der Friede und die Wissenschaft herrschen, wird dieses Bündnis, davon sind wir überzeugt, viel zur Blüte der Wissenschaft beitragen und gute Früchte zeitigen.

JOHN TOLAND

Briefe an Serena Über den Aberglauben — Über Materie und Bewegung Herausgegeben und eingeleitet von ERWIN Übersetzt von OÜ NT ER

PRACHT

WICH1IANN

Philosophische Studientexte 1959. L X V I I I , 190 Seiten - 8« - Ganzleinen DM 12,40

Die Bewegung ist eine wesentliche Eigenschaft der Materie und beide sind nicht voneinander zu trennen. Das beweist John Toland, gestützt auf die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Er baut auf den englischen mechanischen Materialismus des 17. Jahrhunderts sowie auf den pantheistischen Traditionen auf. Die Tolandschen Gedankengänge über Materie und Bewegung vermögen durchaus auch die aktuellen Auseinandersetzungen um dieses zentrale philosophische Problem zu befruchten. Ebenso sind auch die übrigen Teile der Schrift, in denen es um den Ursprung des Aberglaubens, den Unsterblichkeitsglauben und den Götzendienst geht, von mehr als nur historischem Interesse. Die Schrift macht den Leser so mit einem bedeutenden Repräsentanten bürgerlicher Religionskritik bekannt, mit dem Verfechter eines materialistischen Weltbildes, das sich durch wesentliche dialektische Elemente auszeichnet.

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In Vorbereitung GERHARD

DUNKEN

Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Vergangenheit und Gegenwart 2. erweiterte Auflage - Etwa 224 Seiten - 11 Abbildungen - 8° - Ganzleinen etwa DM 14,50"

„Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Vergangenheit und Gegenwart" bietet in ihrer zweiten erweiterten, reich bebilderten Auflage jedem an der Geschichte und den Aufgaben der Akademie Interessierten die Möglichkeit, sich schnell über die wichtigsten Abschnitte der historischen Entwicklung der Akademie zu informieren und einen Einblick in die Aufgabenstellung der einzelnen Akademie-Institute zu verschaffen. Die Akademiegeschichte ist in zwei Kapiteln (1700—1945 und 1946—1959) dargestellt, wobei insbesondere die neue Akademie in der sozialistischen Gesellschaftsordnung ausführlicher behandelt wird. Das dritte Kapitel enthält die Forschungsthematik aller Institute und Einrichtungen, in der sich der hohe Stand der Wissenschaft und Forschung und die großzügige Förderung durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik sehr eindrucksvoll äußert. Dieses Kapitel, bereits als „Wegweiser durch die Forschungseinrichtungen und Institute der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin" gesondert veröffentlicht, ist bis zum Leibniztag 1960 durch einen Nachtrag ergänzt. Mehrere Register tragen dazu bei, diese Kurzgeschichte der Akademie zu einem wertvollen Nachschlagewerk zu machen.

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Monatsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von Günther Rienäcker Monatlich ein Heft mit einem Umfang von 64 Seiten im Format 16,7 X 24 cm Bezugspreis je Heft DM 4,— Durch die Angüederung naturwissenschaftlicher, technischer und medizinischer Institute seit 1946 und durch die wesentliche Erweiterung der bereits vorher bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen ist der Forschungsbereich der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin außerordentlich groß geworden. Der Herausgeber hat sich daher in dieser Zeitschrift die Aufgabe gestellt, durch die Veröffentlichung von kurzen Originalarbeiten und von Kurzberichten über neue Forschungsergebnisse, wissenschaftliche Vorträge und Verhandlungen im Plenum, in den Klassen und in den Sektionen sowie in den Forschungsstätten der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin einen möglichst lebendigen Querschnitt der wissenschaftlichen Arbeit auf allen von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin geförderten Fachgebieten zu geben. Die Monatsberichte wenden sich an alle wissenschaftlich tätigen und interessierten Leser, denen es darum zu tun ist, über die schon vorhandenen Einzelschriften der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und deren Jahrbuch hinaus einen Einblick nicht nur in das eigene Fachgebiet zu gewinnen, sondern ebenso in die so vielseitige und umfassende Tätigkeit der Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin im ganzen. Bestellungen durch eine Buchhandlung erbeten

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