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German Pages 496 Year 2019
MICHAEL KÜHNLEIN (Hrsg.)
konservativ?!
Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft
Mit Beiträgen u. a. von:
Bazon Brock, Friedrich Wilhelm Graf, Monika Grütters, Hans Ulrich Gumbrecht, Gregor Gysi, Hans Joas, Josef Joffe, Jürgen Kaube, Winfried Kretschmann, Hermann Lübbe, Jean-Luc Nancy, Iris Radisch, Wolfgang Schäuble, Gesine Schwan, Rita Süssmuth, Uwe Tellkamp, Rainer Maria Kardinal Woelki
Duncker & Humblot · Berlin
MICHAEL KÜHNLEIN (Hrsg.)
konservativ?!
konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft
Herausgegeben von
Michael Kühnlein
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlag: Grundriß über den Churfürstl. Lustgarten zu Schleissheim. Kupferstich, um 1772, von Johann August Corvinus (1683–1738) nach einer Zeichnung von Mathias Diesel (gest. 1758). © akg-images Alle Rechte vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Druckteam, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15750-1 (Print) ISBN 978-3-428-55750-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-85750-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Michael Kühnlein Einleitung: konservativ?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Schäuble Immer wieder ein neues Ja bauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Winfried Kretschmann Das Konservative neu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tilo Schabert Froschschenkel in Toronto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Rainer Maria Kardinal Woelki Der konservativste Satz der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Rita Süssmuth Unterwegs bleiben – Erhaltenswertes bewahren und ausbauen . . . . .
35
Wolf Singer Evolution – konservativ und kreativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Jörn Leonhard Konservativ sein nach dem Ende des Konservatismus . . . . . . . . . . .
45
Birgitta Wolff Ein Denkmal für die 68er – als „Blaue Blume“ der Gemeinsamkeit?
49
Bernd Stegemann Konservative, außer Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Josef Joffe Chamäleon Konservatismus. Der Konservatismus ist weder Programm noch Philosophie, sondern eine Reaktion gegen den Umbruch, die in jeder Epoche eine neue Gestalt annimmt . . . . . . . . . .
59
Sahra Wagenknecht Vollbremsung! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jörg Baberowski Heimat ist dort, wo man ohne Worte verstanden wird . . . . . . . . . . .
69
Hans Ulrich Gumbrecht Konservativ, utopisch, melancholisch: „Nabelschnur zum Kosmos“ .
73
Hans Pleschinski Der Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gregor Gysi Konservativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norbert Frei Bundesrepublikanisches Geschichtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . .
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Robin Alexander Der Konservative heute – fern der Merkel-Jahre . . . . . . . . . . . . . . .
89
Thomas Fischer Das Konservative, das Recht und die hohe See . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Hein Was ist konservativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Monika Grütters Demokratie braucht Konservative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Thomas Middelhoff Konservatismus in einer digitalen Welt – Paradoxon oder Erfolgsfaktor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Inhaltsverzeichnis
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Svenja Flaßpöhler Der Name des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Dirk Ippen Auf der Suche nach unserer verlorenen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Dan Diner Der Konservatismus der Barrikade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Philipp Amthor Konservatismus: Ein Begriff, um den es sich zu kämpfen lohnt . . . . 121 Gesine Schwan Bloß keine Experimente! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Lorenz Jäger Was war nochmal der autoritäre Charakter? Zur Kritik einer familiensoziologischen Fehldeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Hans Joas Links und/oder konservativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Jürgen Kaube Drei Paradoxien des Konservativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dieter Borchmeyer Konservativ sein heißt: auf die Vogelstimmen der Zeit hören . . . . . . 141 Marion Horn Da bin ich konservativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Bassam Tibi Eine Antwort auf die Frage: „Was ist konservativ?“ von einem hybrid sozialisierten Muslim und Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Alexander Grau Konservative Avantgarde. Plädoyer für ein neues Denken . . . . . . . . 155
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Inhaltsverzeichnis
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Verfassungspatriotismus – ein konservatives Politikkonzept par excellence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Peter Graf Kielmansegg Überlebenswichtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Bodo Ramelow Die Ironie des Konservatismus ist seine Wandlung . . . . . . . . . . . . . . 169 Vittorio Hösle Rationalismus und Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Bernd Roeck Bendicòs Balg: Spielarten des Konservativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Paul Kirchhof Die Kunst des Konservativen: Bewahren und Erneuern . . . . . . . . . . 181 Susanne Schröter Universelle Werte und Frauenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Klaus Mertes SJ Konservativ in Zeiten der Disruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Heinrich Detering Konservativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Dorothee Bär Eine Kultur des Scheiterns zulassen und mutig sein . . . . . . . . . . . . . 195 Hartmut Leppin Konservativ avant la lettre: Cato der Ältere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Stephan Weil Konservatismus – Balance aus Tradition und Fortschritt . . . . . . . . . 203
Inhaltsverzeichnis
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Hugo Müller-Vogg Konservative sind Pragmatiker und kennen keine ewigen Wahrheiten 207 Seyran Ates¸ Der liberale und der konservative Mensch: Was ist gut, was ist böse? 211 Cem Özdemir Warum ich mir als Grüner mehr Vernunft in der Politik wünsche . . 215 Friedrich Wilhelm Graf Konservatismus ohne Wertgeschwätz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Claus Offe Konservatismus – subversiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Nicola Beer Nur ein bisschen konservativ. Manchmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Christian Hillgruber Sein lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Thomas Sternberg Konservativ heißt reformfähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Armin Laschet Christlich und europäisch denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Volker Gerhardt Nur wer konservativ ist, kann mit progressiven Ideen überzeugen . . 243 Marie-Luisa Frick Feuer über Innsbruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Eckhart Nickel Wegwarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Hans Maier Die Stunde der Konservativen? Wo man unterscheiden muss . . . . . . 253
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Inhaltsverzeichnis
Bazon Brock Konservatismus heißt: Verpflichtung auf das Neue. Traditionen wirken nicht aus der Vergangenheit. Sondern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Dagmar Schipanski Konservativ ist eine Geisteshaltung für Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . 261 Frank Bösch Merkmale des Konservatismus: Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . 265 Micha Brumlik Klassischer Konservatismus und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . 269 Jens Hacke Konservatismus als ästhetische Essenz und menschliches Grundbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Barbara Zehnpfennig Kephalos ist so ein Langweiler! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Jens Spahn Die lebenskluge Mitte bewahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Notker Wolf OSB Konservativ auf Benediktinisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Bernd Irlenborn Konservatismus nach seinem politischen Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Diana Kinnert Selbstumzäunung in Mitbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Franz Alt Bewahren, was uns bewahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Dietmar Bartsch Konserven heißen Konserven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
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Yehuda Aharon Horovitz Conservative Judaism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Susanne Gaschke Gestern ist morgen! Warum wir die Konservativen brauchen . . . . . . 311 Heinrich Oberreuter Verantwortete Freiheit – Basis des Konservativen . . . . . . . . . . . . . . . 317 Stefan Vesper „Ich weiß, dass er mein Vater ist“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Jürgen Kocka Konservativ ist nicht rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Christoph Türcke Change-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Herlinde Pauer-Studer Kakanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Jürgen Trittin Zerstören oder bewahren – wie links ist konservativ? . . . . . . . . . . . . 337 Henning Ottmann Der Konservatismus ist modern! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Annemarie Pieper Stockkonservativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Michael Seewald Konservatismen als Regime der Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 347 Werner J. Patzelt Vom Elend, als konservativ zu gelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Thomas Oppermann Wieder das ganze Feld bespielen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
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Tine Stein Bewahren oder Erneuern, Gemeinschaft oder Menschheit, Endlichkeit oder Offenheit – wie geht konservativ heute? . . . . . . . . . . . . . . 359 Peter Hoeres Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Aiman A. Mazyek Der Islam – weder konservativ noch liberal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Peter Feldmann Wer an der Spitze des Fortschritts marschiert, muss sich bisweilen ausruhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Petra Pau Ich bin durchaus konservativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Norbert Bolz Der Anknüpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Jean-Luc Nancy Erhalten oder Beharren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Iris Radisch Eine Erinnerung an das, was es nicht mehr gibt . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Gottfried Gabriel Sind Sprichwörter konservativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Ansgar Wucherpfennig SJ Glauben aus der Konservenbüchse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Dieter Schönecker Warum ich trotzdem kein Konservativer bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Jacqueline Straub Tradition als Weitergabe der Flamme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
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Ralf Stegner Sozialdemokratie und Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Rolf Schieder Das Konservative als reflexive Selbstverendlichung . . . . . . . . . . . . . 409 Mike Mohring Konservatismus: Brandmauer gegen politische Allmachtsansprüche . 413 Katharina Schulze Wer bewahren möchte, muss Zukunft mutig gestalten . . . . . . . . . . . 417 Christoph Böhr Konservatismus – wie ich seiner durch den Marxismus gewahr wurde 421 Klaus-M. Kodalle „We are all individuals! – I’m not!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Vera Lengsfeld Utopisten contra Realisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Jean-Pierre Wils Über Rettungswürdiges und Rettungsbedürftiges . . . . . . . . . . . . . . . 439 Hubert Aiwanger Konservativ. Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft . . . . . . 443 Bruder Paulus Terwitte Früchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Simone Lange Unkonservativ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Igor Zeller Vom kühnen Ritter zum Meistersinger – ein Integrationskurs für Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
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Uwe Paulsen Kurze Geschichte einer Kapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Thilo Sarrazin Eher konservativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Wolfgang Stahl Stil und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Uwe Tellkamp Weißbuch. Nachrichten aus dem Verteidigungsministerium . . . . . . . 469 Michael Kühnlein Wie konservativ ist konservativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Hermann Lübbe Konservatismus – eine Liberalitätsgarantie in Modernisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
Einleitung: konservativ?! Von Michael Kühnlein Zu Beginn eine – vielleicht nötige – Klarstellung: Die Idee zu dem vorliegenden Essayband ist nicht aus Sendungsgier, sondern aus Überdruss entstanden – aus Überdruss an den vielen Lagerdebatten, die um den Begriff des Konservativen kreisen und die ihn als semantisch willfähriges Unterscheidungsmerkmal von Freund und Feind in der gesichtslosen Menge der guten Absichten polemisch-einfallslos gebrauchen: Denn je nach politischmoralischer Couleur wird er in den maßgeblichen Arenen der Öffentlichkeit entweder als Brandzeichen für die Ewiggestrigen oder aber als Schutzzeichen jener Heimatgetreuen verwendet, die es sich im „Grand Hotel Abgrund“ (Georg Lukács) bequem gemacht haben. Doch in der politischen Zuschreibung einer vermuteten Gesinnung geht der Begriff des Konservativen nicht auf. Er ist mehr als nur ein Kampfbegriff, er verweist auch auf eine lebensgesättigte Erdung in unseren Biographien. Denn könnte jemand sein Leben überhaupt verstehen, ohne es in seinen besten Intentionen nach nicht auch als konservativ zu begreifen? Man muss hier nicht extra auf Hegels Identitätsdenken zurückgreifen, um anzuerkennen, dass wir das Konservative nicht wie einen abgelegten Hut hinter uns lassen können, wenn wir uns als selbstbewusste, denkende Wesen begreifen. Doch diese narrative Selbstverständlichkeit ist in den polemisch aufgeheizten Migrations- und Integrationsdebatten abhandengekommen. Kaum ein Begriff mobilisiert die Debatten gegenwärtig mehr als der Begriff des Konservativen, weil man hinter ihm primär immer die Reaktion vermutet (deshalb bleibt das progressive Denken immer so schön unverdächtig). Aber einerlei, ob man sich nun mit ihm positioniert oder gegen ihn – er lässt niemanden kalt. Deshalb taucht dieser Essayband auch tief in die leidenschaftlichen Erfahrungswelten von Schriftstellern, Politkern und Wissenschaftlern ein und versammelt ihre persönlichen (und nicht immer konservativen) Geschichten; Geschichten, die sich vielleicht nur abseits von der großen Öffentlichkeit so kunstvoll-diskret erzählen lassen, wie das hier geschieht. Herausgekommen sind literarische Vignetten – mal berührend und witzig, mal polemisch und pointierend, immer aber auch
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lehrreich und klug, welche deutlich machen, dass die Frage nach dem Konservativen nicht die eine gute, sondern viele gute Geschichten verlangt. Alle hier versammelten Essays sind deshalb von politisch-moralischen Identitätsbekundungen weit entfernt. Sie gleichen eher wie einzelne Fenster, durch die man aus unterschiedlichen Lagen und Höhen einen Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Konservativen zu erhaschen versucht. Entsprechend wurden die Autorinnen und Autoren auch nicht mit der Maßgabe eingeladen, eine ,konservative‘ Programmatik zu entwickeln – angesichts der ideengeschichtlichen Wandelbarkeit dieses Begriffs wäre das auch schlichtweg traditionsvergessen gewesen; vielmehr war die Einladung mit dem Angebot verbunden, einmal ,barrierefrei‘ und ohne ideologisches Marschgepäck in freier, spielerischer Assoziation bei den ,konservativen‘ Halte- und Tragekräften der je eigenen Biographie zu verweilen. Insofern handeln die hier versammelten Essays allesamt von Innenansichten im Miniaturformat; es geht um persönliche Stories, um politische und moralische, historische und philosophische Begebenheiten, die sich dem Begriff des Konservativen mal näher, mal ferner verwandt fühlen, immer aber dessen Vielgestaltigkeit zu ihrem Thema machen. Ihre Geschichten entziehen sich einer systematischen Einordnung; sie stehen für sich und doch transportieren sie in ihrer Gesamtheit eine Botschaft, die da lautet, dass der Konservatismus – bei aller Skepsis im Einzelnen – eine unzerstörbare lebensweltliche Basis hat. Zum Schluss dieser kurzen Einleitung bleibt noch der bewegte Dank des Herausgebers: Zuvörderst der Dank an die Beiträgerinnen und Beiträger, die sich mit so viel Esprit, Witz und Hingabe an das ,konservative‘ Abenteuer gemacht und den Sprung ins publizistisch Ungewisse gewagt haben; sodann bin ich dem Verlag Duncker & Humblot persönlich sehr verbunden, dass er alle Ressourcen vorbildlich mobilisiert hat, um diese (nicht nur logistische) Herausforderung gemeinsam mit mir zu bestehen – namentlich danke ich Herrn Dr. Florian Simon (Geschäftsführung), Herrn Dr. Andreas Beck (Programmleitung), Frau Arlett Fuchs (Marketing) und Frau Heike Frank (Herstellung und Druck) für die vertrauensvolle und außergewöhnlich gute Zusammenarbeit. Schließlich möchte ich mich auch bei Frau Ursula Krüger für die Erstellung des Autorenverzeichnisses bedanken. Der Herausgeber im August 2019
Immer wieder ein neues Ja bauen Von Wolfgang Schäuble „Wir müssen in das Nichts hinein wieder ein Ja bauen, Häuser müssen wir bauen in die freie Luft unseres Neins.“ Diese Worte stammen von Wolfgang Borchert. Der Schriftsteller, der nur 26 Jahre alt wurde, schrieb sich den Weltkriegsschrecken von der Seele. Mit zwanzig hatte die Wehrmacht ihn eingezogen, zuvor war er ins Visier der Gestapo geraten. Als Soldat wurde er der „Wehrkraftzersetzung“ bezichtigt: Er hatte zu deutlich Nein gesagt – oder gezeigt, dass er Nein denkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Borchert gegen die innere Leere, den Moralverlust und die Trostlosigkeit an, unter der er – wie viele seiner Generation – nach dem Kriegsende litt. In das Nichts hinein ein Ja bauen. Ein Haus, in dem die Humanitas geschützt ist und in dem Raum ist für Vertrauen und Miteinander, für Bindungen. Wir leben zum Glück in einer Zeit, in der die allermeisten Menschen in unserer Gesellschaft keine unmittelbare Erfahrung mit Krieg und Gewalt haben. Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieses Postulat gewährt uns seit siebzig Jahren Schutz. Das von Borchert gewählte Bild passt dennoch auch in unsere Zeit: Es gilt noch immer, das Menschliche zu bewahren, dem Nichts und dem Nihilismus in seiner Hoffnungslosigkeit etwas entgegenzusetzen – Halt zu geben. Das ist konservativ. Konservativ ist ein schillernder, aber kein geschützter und erst recht kein statischer Begriff. Und, um es deutlich zu sagen, es ist kein Begriff, den Wolfgang Borchert in seinem kurzen Leben für sich reklamiert hätte. Aber seine Zeilen lassen eine Ausdeutung zu – und das ist, wonach der Begriff konservativ immer wieder aufs Neue verlangt. Konservativ heißt für mich reagieren, um zu bewahren. Nicht reaktionär oder bloß rückwärtsgewandt, im Gegenteil: Eine konservative Grund-
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Wolfgang Schäuble
haltung erlaubt Neues, denn sie zwingt nicht dazu, Bewährtes radikal abzulehnen. Der Konservative steht nicht notwendigerweise im Widerspruch zu technologischem Fortschritt oder zu gesellschaftspolitischer Veränderung. Aber er nimmt sich die Freiheit, das Machbare danach zu befragen, ob es sich im normativen Rahmen seiner Zeit bewegt, mit den als wichtig erachteten Werten und Tugenden verträgt und ob eine Innovation in das staatliche Gefüge passt. Dabei kann durchaus herauskommen, dass der Rahmen falsch gesetzt ist – die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit zwei Diktaturen zeigt, wie sensibel gerade auch konservative Menschen reagieren, wenn der staatlichen Autorität die moralische Grundlage verloren geht. Heute ist eine konservative Entscheidung eine, die sich in den bestehenden Ordnungsrahmen des demokratischen Rechtsstaates einfügt. Dieser Rahmen ist veränderlich, steht aber nicht grundsätzlich zur Disposition. Das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zur sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Einigung paart sich im besten Sinne mit christlich-humanistischen, aufgeklärt-liberalen Tugenden. Die Bereitschaft zur Veränderung ohne eine grundstürzende Delegitimierung des Ganzen zeichnet das konservative Element in der offenen Gesellschaft aus: nicht Radikalität, sondern die Fähigkeit, bestehende Interessenunterschiede auszubalancieren. Das setzt viel voraus: gedankliche Offenheit und die Erkenntnis, dass dem Gegenüber die gleiche Freiheit zusteht wie einem selbst; die Einsicht, dass es verschiedene Meinungen und Grundhaltungen braucht, um gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen; und die Erkenntnis, dass der Exklusivitätsanspruch einer einzelnen Denkrichtung, von wie vielen auch immer sie vertreten werden mag, abzulehnen ist. Das zu verinnerlichen und abweichende Meinungen zu tolerieren, hat viel mit Konservativsein zu tun. An die notwendige Offenheit und Toleranz gegenüber dem Anderen muss heute im politischen Alltag und dem bisweilen aus dem Ruder laufenden Meinungsstreit immer wieder erinnert werden. Neu ist das nicht. 1981 nannte der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer die „Bewahrung und Sicherung unserer im Kern liberalen und sozialen Republik gegenüber allen politischen Zumutungen […] antagonistischer und kompromissunfähiger Kräfte […] das konservative Gebot der Stunde“.
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Konservatismus ist von den Zeitumständen abhängig und unterliegt in seiner konkreten Ausprägung selbst dem Wandel. Was progressiv war, kann Jahrzehnte später rückständig oder auch ganz normal erscheinen. Deutlich wird das im Vergleich mit der Weimarer Republik. Wer damals konservativ war, trauerte der Monarchie nach und konnte sich mit der ersten Demokratie auf deutschem Boden nur schwer anfreunden. Die „Vernunftrepublikaner“ sehnten sich insgeheim nach einem „Ersatzkaiser“. Wie sich das äußerte, beschrieb der Berliner Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth. Er stammte aus einer konservativen preußischen Beamtenfamilie, die in innerer Distanz zur Demokratie lebte. Obwohl seine Eltern aus Respekt vor der Obrigkeit zu formaler Loyalität bereit waren, protestierten sie gegen die Weimarer Regierung. Auf sehr diskrete Weise: Sie klebten Briefmarken mit dem Bild von Reichspräsident Friedrich Ebert demonstrativ verkehrt herum auf ihre Post. Heute wird kein Konservativer die historische Rolle des Sozialdemokraten Friedrich Ebert mehr bezweifeln. Und wer zögert, die von ihm mitgeprägte Demokratie als bewahrenswerte Staatsform zu sehen, ist alles andere als ein Konservativer im hier beschriebenen Sinn. Wie zeitbedingt Begriffe zur politischen Verortung sind, zeigt auch der Blick auf das Jahr 1972, als ich zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde: Nach einer Grundgesetzänderung durften zum ersten Mal auch die 18- bis 21-Jährigen ihre Stimme abgeben. Mit Annemarie Renger wählten die Abgeordneten erstmals eine Frau an die Spitze eines bundesrepublikanischen Verfassungsorgans. Beides war damaligen Konservativen hoch suspekt – zu einer Zeit, in der „aufmüpfig“ zum Wort des Jahres gekürt wurde. Selbstverständlich wandelt sich die plurale demokratische Gesellschaft – und kein Akteur weiß im Voraus, was gut für alle ist. Niemand trifft Entscheidungen für immer. Einschätzungen können sich im Laufe der Zeit überleben oder als falsch erweisen. Wir sind fehlbar. Die offene Gesellschaft erlaubt Fehlerkorrekturen – daher ist sie menschlicher als jede andere Ordnung. Wohin Reformunfähigkeit führt, hat die Geschichte der DDR gezeigt. Die Spitze des sozialistischen Staates und der führenden Staatspartei beanspruchte die absolute Wahrheit für sich: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Das war reaktionär, obgleich sich die SED als Vorkämpferin der Arbeiterklasse sah. Spätestens seit Beginn der 1980er Jahre war offenkundig, wie marode die Wirtschaft
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war, ineffektiv und abhängig von Krediten aus dem Westen. Missstände wurden schöngeredet, kritische Stimmen unterdrückt. Am Ende fassten die mit den Zwangsmitteln der Diktatur regierten DDR-Bürger den Mut, aufzustehen und die starrsinnige Führungselite von der Staatsspitze zu verjagen. In der friedlichen Revolution träumten einige von Reformen, andere wollten den Systemwechsel. Auch das Visionäre kann konservativ sein: Viele Protagonisten der friedlichen Revolution hatten in den Jahren der Unterdrückung bürgerliche Traditionen bewahrt. Das zeigt, wie facettenreich es ist, konservativ zu sein. Hinter dem Begriff verbirgt sich Haltung, nicht Ideologie. Heute erscheinen die Grenzen zwischen den politischen Lagern oft fließend und viele Kampfbegriffe gestrig. Doch spüren wir zugleich, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, die Menschen- und Freiheitsrechte in den europäischen Demokratien zu verteidigen und zu bewahren. Wir müssen der Bedrohung durch das neue, mächtige Nichts etwas entgegensetzen: der digital verstärkten Verneinung unserer politischen Errungenschaften, dem sinnentleerten Konsumwahn, der eklatanten Verantwortungslosigkeit gegenüber den sozialen Bedürfnissen der Menschen und der Verletzlichkeit der Natur. Wenn wir trotz des Gegenwindes, den wir deutlich spüren, gemeinsam entschlossen handeln, können wir dem Wandel eine menschenverträgliche Gestalt geben: Halt statt Leere. Ein neues Ja bauen.
Das Konservative neu denken Von Winfried Kretschmann Wir leben in einer Zeit des schnellen Wandels. Klimawandel und Artensterben bedrohen die Grundlagen unserer Existenz. Globalisierung und Digitalisierung pflügen Wirtschaft und Gesellschaft um. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Gleichzeitig beginnt der Zusammenhalt zu bröckeln. Und Populisten und Autokraten bekämpfen unsere liberale Demokratie von innen und von außen. In einer solchen Situation gibt es großen Orientierungsbedarf. Viele Menschen fühlen sich von all diesen Umbrüchen und ihrem rasanten Tempo überfordert. Sie suchen nach Halt und Sicherheit und fragen: „Worauf können wir uns noch verlassen? Und wie können wir den Wandel so gestalten, dass er nicht gegen uns ausschlägt?“ Es verwundert nicht, dass dabei auch über das Konservative nachgedacht wird. Denn wo, wenn nicht im stürmischen Wandel, macht die Frage „Was ist das Bleibende im Wandel, was müssen wir bewahren?“ einen Sinn? (1) Ein Kind des Wandels: Das Konservative ist selbst ein Kind des Wandels, eine Reaktion auf die Veränderungen und Disruptionen, die es bearbeiten will. Es kommt – anders als seine historischen Gegenspieler Liberalismus und Sozialismus – weniger als selbstbewusste These und geschlossenes Gedankengebäude daher. Sein Auftritt ist eher tastend und zweifelnd, mehr eine Antithese zu dem, was andere zuvor auf die Tagesordnung gesetzt haben. Es hat ein großes Gespür für die Kosten des Wandels. Seine Grundhaltung ist der skeptische Einspruch. Das kann man als Schwäche verstehen – oder als Stärke. Es kommt darauf an, welche Antithese aufgestellt, wozu „Nein“ gesagt wird. Und vor allem darauf, welches „Ja“, welcher Vorschlag daraus folgt. Das Nein eines Joseph de Maistre kann nicht mehr unseres sein. Seine Antithese zur Französischen Revolution war vor allem ein Ja zum Ancien Régime, zum alten Absolutismus, den sich der frühe Konservatismus in einem durchaus reaktionären Sinn zurückwünschte. Anders sieht es bei
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Edmund Burke aus, dem zweiten Stammvater des Konservatismus. Er stellte sich nicht gegen den Fortschritt als solchen, sondern gegen bestimmte Formen seiner Durchsetzung – gegen Terror und blutige Revolutionen, die mehr zerstören als erschaffen. Burkes Ja war nicht reaktionär auf ein Gestern gerichtet, sondern auf eine vorsichtige Reformpolitik. Es ging um eine pragmatische Verbindung von Bewahren und Gestalten. Und das ist auch heute noch hoch aktuell. Das Konservative ist nicht leicht zu fassen – auch in der Bundesrepublik nicht. Zwar gilt die Union weithin als Partei, die das „konservative Lager“ repräsentiert. Doch mein Ministerpräsidentenkollege Armin Laschet wies darauf hin, dass das Konservative als Vokabel erst spät ins Unionsprogramm fand und im Unterschied zum Christlichen eigentlich nicht zum Markenkern der Partei gehört. Die Zurückhaltung hat sicher mit den antidemokratischen Traditionen zu tun, die sich nicht zuletzt in der Weimarer Republik mit dem Konservativen verbanden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat man dafür eigens den Sammelbegriff einer „Konservativen Revolution“ geprägt, auch um diese stramm rechten und illiberalen Ideologien wieder salonfähig zu machen. Im Unterschied zu solchen Versuchen verortete die Union ihre Idee des Konservativen fest in der Demokratie. Damit ermöglichte sie einen neuen republikanischen, liberalen und demokratischen Konservatismus. Das ist ein bleibendes Verdienst. Allerdings hat die Union den Begriff nicht nur zivilisiert, sondern teilweise auch zertrümmert. Wenn Franz-Josef Strauß in den 1960er Jahren etwa sagte: „Konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren“, dann meinte er damit auch ein blindes Ja zu einem technischen Fortschritt, der etwa von der Atomkraft als dauerhafter Lösung der Energieprobleme träumte. Die bayerische Musikgruppe Biermösl-Blosn hat ein solches Denken in ihrem Song „Tschüss Bayernland“ auf den Punkt gebracht: „Griaß die Gott, Autobahn! Pfüat die Gott, Auerhahn!“ Auerhahn und Ackerland werden vom Unions-Konservatismus ziemlich umstandslos für Autobahn und Spekulant geopfert. Die reflektierende und abwägende Seite des Konservatismus verliert sich dabei in einen naiven Fortschrittsglauben. Und sein „Ja“, das, wofür er einsteht, verkommt immer mehr zu Folklore, zu „Laptop mit Lederhose“. Genau hier liegt ein wichtiger Grund für die aktuelle Ratlosigkeit der Union im Umgang mit diesem Begriff.
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(2) Schöpfung bewahren: Dabei wäre guter Rat gar nicht so schwer zu finden. Denn längst schon zeichnet sich eine neue Idee des Konservativen ab, die in die Lücken und Versäumnisse der alten einspringt, vor allem auch mit einer Reflexion auf das, was Fortschritt heute bedeuten kann. Denn angesichts der ungeheuren Auswirkungen unserer modernen Technologien auf unsere Lebensgrundlagen haben wir doch allen Grund, in einem guten konservativen Sinne nachdenklich zu sein. Das hat nichts mit Technikfeindlichkeit zu tun. Aber sehr viel mit einer „Dialektik der Aufklärung“, die uns daran erinnert, wie sehr wir uns anstrengen müssen, damit aus unseren technischen Möglichkeiten auch ein wirklich humaner und nachhaltiger Fortschritt wird. Das Konservative bestimmt sich heute wesentlich als folgenethische Reflexion. Hans Jonas hat diese Aufgabe mit einer ökologischen Reformulierung des Kantischen Imperativs gefasst: „Handle so, dass die Wirkungen Deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Ein solcher ökologischer Imperativ gehört zum Kernbestand einer neuen Idee des Konservativen. Heute rückt er die große ökologische Doppelkrise, mit der wir konfrontiert sind, ins Zentrum der Politik. Wir erleben gerade das größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Und der Klimawandel entscheidet über das Schicksal unseres Planeten. Alle Menschen sind betroffen. Gerade kommende Generationen, die noch gar nicht geboren sind. Wenn wir nicht entschieden umsteuern, werden wir geradewegs in eine katastrophische Zukunft taumeln. Die jungen Menschen, die bei „Fridays für Future“ demonstrieren, haben das im Gegensatz zu vielen Erwachsenen sehr gut verstanden. „Conservare“ meint heute zuallererst: Bewahren der Schöpfung. Diese Aufgabe ist gewaltig. Sie sprengt auch die Kategorien, mit denen wir das Politische bisher gedacht haben. Klimaschutz ist weder „Links“ noch „Rechts“, sondern für die „Permanenz echten menschlichen Lebens“ schlechthin unabdingbar. Deshalb steht der neue Begriff des Konservativen – wie übrigens auch schon Erhard Epplers „Wertkonservatismus“ – quer zu den alten politischen Lagerbezeichnungen. Man kann wertkonservativ sein und für den Erhalt der Schöpfung streiten, egal, wo im demokratischen Spektrum man sich verortet. (3) Demokratie und offene Gesellschaft erhalten und gestalten: Das zweite Grundanliegen eines neuen Konservatismus ist der Erhalt der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft. Denn die sind heute bedroht
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wie lange nicht mehr. Populisten und Autokraten nutzen die schnellen Veränderungen unserer Zeit und das daraus resultierende Unbehagen für eine demagogische Politik. Sie bekämpfen die Gewaltenteilung und die freie Presse. Sie treten an mit Slogans wie „Take back control“. Sie drängen zurück ins Nationale und weg von der europäischen Integration. Damit legen sie die Axt an unsere politische Gestaltungskraft und unseren Wohlstand. Ein zeitgemäßer Begriff des Konservativen steht für die liberale Demokratie. Sein „Conservare“ stellt den Schutz und den Erhalt der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie in den Mittelpunkt. Karl Popper und Hannah Arendt haben das Anliegen in einer Kritik am totalitären Denken formuliert. Heute erhalten deren Ansätze eine neue Brisanz. Denn sie zeigen, dass viele von uns nach dem Ende der Blockkonfrontation erneut in einen naiven Fortschrittsglauben verfallen sind. Francis Fukuyamas berühmte These vom „Ende der Geschichte“ ist das bekannteste Beispiel dafür: Das liberale westliche Gesellschaftsmodell habe endgültig gesiegt. In seinem Rahmen werde sich alle weitere Geschichte abspielen. Ich muss gestehen, auch ich habe die Gefahren, die der offenen Gesellschaft drohen, unterschätzt. Etwas mehr konservative Skepsis gegen vermeintliche Fortschrittsautomatismen hätte uns allen gut getan. Denn Freiheit und Demokratie sind nicht wie ein Ding, das man sich in die Tasche stecken kann, um es zu besitzen. Wir müssen sie aktiv bewahren und immer wieder neu erkämpfen. Wir müssen gesellschaftliche Abwehrkräfte gegen Spaltung und Polarisierung stärken und Heimat schaffen in einem weltoffenen Sinn. (4) „Politik des Und“: Konservatismus meint nicht nur Bewahren. Es geht ihm auch um das Gestalten des Neuen. Er weiß, dass Zukunft weder in einer linearen Fortschreibung der Gegenwart noch in einem Fortschrittsautomatismus gründet. Und schon gar nicht im Versuch einer Wiederbelebung des Vergangenen. Deshalb formuliert er eine Zukunftspolitik, die Bewahren und Gestalten miteinander verbindet. Sein „Ja“ geht auf eine vorsichtige Reformpolitik. Hier liegt seine dritte große Aufgabe. Er setzt auf Pragmatismus und Besonnenheit. Und eine „Politik des Und“, die im aristotelischen Prinzip von „Maß und Mitte“ ihren Kompass findet. Dieses Prinzip meint gerade keine halbherzige und unentschiedene Haltung. Und auch nicht das bloß rechnerische Mittel oder gar einen faulen Kompromiss zwischen zwei Positionen. Es geht darum, unterschiedli-
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che Werte und Ansprüche auf kluge und kreative Weise zu verbinden. Etwa Ökonomie und Ökologie. Die „Politik des Und“ weiß, dass eine ökologische Transformation der Industriegesellschaft nicht nur für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen unabdingbar ist, sondern auch unsere Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten und damit unseren Wohlstand im Rahmen einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft sichert. Entsprechendes gilt für das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit und Selbstbestimmung. Aber Sicherheitspolitik darf die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger nicht über Gebühr einschränken. Sonst zerstört sie gerade das, was sie schützen soll. Auch das Verhältnis zwischen Europa und seinen Regionen gilt es klug auszutarieren. Die neue Idee des Konservativen verteidigt Europa als große zivilisatorische Errungenschaft. Sie steht aber auch für starke und selbstbewusste Regionen und den Anspruch, dass das, was vor Ort entschieden werden kann, auch vor Ort entschieden wird – so, wie das Prinzip der Subsidiarität es fordert. Das Ja des neuen Konservatismus meint Erhalten und Gestalten in einer humanen Perspektive. Zum Beispiel auch bei der Digitalisierung. Es gilt, die Chancen, die sich aus der digitalen Revolution ergeben, engagiert zu ergreifen. Deshalb treibe ich als Ministerpräsident die Digitalisierung in Baden-Württemberg entschlossen voran. Aber klar ist auch: Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie muss den Menschen dienen und unser Leben verbessern. Wir dürfen sie nicht als Schicksal betrachten, das uns einfach überkommt, sondern als Gestaltungsaufgabe, die wir mit aller Kraft annehmen müssen. Poppige Slogans wie „Digital first – Bedenken second“ stehen für den alten, blinden Fortschrittsglauben. Stattdessen müssen wir selbstbewusst einen europäischen Weg beschreiten, der unseren Werten und Prinzipien folgt. Denn: Digitalisierung auf Chinesisch meint lückenlose Kontrolle und Konditionierung. Wir wollen aber gerade keine Mischung aus Pawlow und Orwell. Und auch keine Digitalisierung auf Amerikanisch, mit der Übermacht großer IT-Monopole, die die Marktwirtschaft untergraben. Unser Weg in eine humane Digitalisierung und Globalisierung heißt Europa. Joschka Fischer hat recht, wenn er sagt: „Wir werden gehäckselt, wenn wir nicht zusammenstehen!“ (5) Das Konservative von der Zukunft her denken: Die neue Idee des Konservativen denkt sich von der Zukunft her – und nicht von der Vergangenheit. Sie trauert gerade nicht dem Gestern hinterher, sondern
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möchte das Morgen gestalten. Sie steht nicht für eine abgeschlossene politische Ideologie, sondern ist eng verwoben mit anderen, ökologischen, sozialen und liberalen Gedanken. Sie gewährt nicht mehr die „festen“ Gewissheiten der alten Weltbilder, doch versinkt sie auch nicht im Beliebigen. Sie hat eine Leidenschaft für die Sache, hält sich an Prinzipien, an Maß und Mitte, pflegt den kritischen Blick für die Folgen und setzt auf demokratischen Ausgleich und Dialog. Sie ist reflexiv und pragmatisch. Sie hält sich an Prinzipien, die die großen Geister aus Philosophie, Wissenschaft, Religion und Aufklärung der Menschheit als universale Werte und Grundlagen des Zusammenlebens eingeimpft haben. Sie gibt Orientierung und Zuversicht im rasanten Wandel der Zeit. (Der Beitrag geht zurück auf das Buch des Verfassers: Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt am Main [Fischer] 2018).
Froschschenkel in Toronto Von Tilo Schabert Ende August 2018. Im Cluny Bistro in Toronto, genauer: im Distillery District dort, einem Ensemble von siebenundvierzig Gebäuden hauptsächlich aus Backstein, für industrielle Zwecke im 19. Jahrhundert errichtet, und vor wenigen Jahren aufwendig restauriert. In den Gebäuden befinden sich jetzt Theater, Galerien, Boutiquen, Restaurants. Das Cluny zitiert durch seine Ausstattung die Art Deco-Zeit an. Freunde aus Toronto haben uns am letzten Abend unseres Toronto-Besuchs dorthin geführt. Beim Anschauen der Speisekarte sehe ich: Froschschenkel! Was! Seit langer, langer Zeit hatte ich nicht mehr an Froschschenkel gedacht. Und wenn sie in einem Restaurant – eher einem französischen, denn einem deutschen – auf der Speisekarte aufgelistet waren, so muss ich das überlesen, nicht weiter beachtet haben. Doch jetzt werfe ich einen Blick auf die Karte, und was ich sehe, nimmt mich gefangen. Vielleicht sind es die Umstände, die Tage in Toronto und zuvor im Norden von Ontario in dem urkanadischen Städtchen Midland am Huronsee. Nichts Erschütterndes, doch Entfremdungen betörender Art. An diesem Abend noch gesteigert durch die Retro-Szenerie des Distillery District. Vieles, das zu entdecken ist, neugierig macht, für sich einnimmt. Dazu verführend, alles andere aus dem Sinn zu verlieren. Und da nun die Froschschenkel, die sich in die Suggestion dieses Moments einfügen! Durch das, was sie in mir wachrufen. Wie von weitem her jäh gegenwärtig werden die Jugendjahre im Oberschwäbischen, als meine Großmutter gelegentlich Froschschenkel für uns beide zubereitete. Ich schätzte sehr deren feinen Geschmack, so gestehe ich gerne. Sie waren auch etwas Besonderes in einer Zeit, in der es kaum etwas anderes als Sauerkraut, Kartoffeln, Grießbrei und Nudeln zu essen gab. Und das wenige Gemüse und Obst, das der Garten bot. Kein Überfluss, gewiss. Keine industriell aufgezogene Landwirtschaft. Nichts Exotisches von ferne her. Wir lebten nahe und mit der Natur; ihr Leben, allein schon die Jahreszeiten,
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formte das unsere. Und von Fröschen waren viele da, bei den Weihern in der Umgebung. Ich bestellte die Froschschenkel. Der Geschmack wie damals. Nein, auf eine Weise intensiver. Das, was in der Imagination schon wachgerufen worden war, verspürte ich jetzt auf der Zunge. Die Erfahrung jenes Lebenskosmos meiner Jugend. Sie war mir ganz offenbar nicht völlig entglitten, wie anders die Welt auch geworden war. Sie konnte geweckt werden, und was in ihr bewahrt war, kam zurück, an diesem Abend in Toronto. Es wäre verkehrt gewesen, die Froschschenkel nicht zu bestellen, trotz der gängigen Meinung in Deutschland: Man isst keine Froschschenkel. Wieder zuhause, erzählte ich da und dort von meinem Erlebnis. Keine Vorhaltung erfolgte, kein Anpfiff. Unter dem gegebenen Umstand zivilisierter Geselligkeit verbot sich das wohl. Die Reaktionen waren ambivalent, aber es überwog ein gewisses Vergnügen an meiner Geschichte. Sie hatte offenbar etwas Ausgefallenes an sich. Aber da war noch anderes. Die komplexen Reaktionen zeigten mir, dass mein Erlebnis offenbar mehr bedeutete als mir selbst bewusst war. Es fiel bei den Kommentaren das Wort „konservativ“. Wie das? Das nostalgische Zurückdenken an meine eigene Kindheit und meine Großmutter war damit wohl nicht allein gemeint; die Geschichte löste offenbar Wahrnehmungsresonanzen aus, die aus tieferen Schichten des kollektiven Erinnerns kamen. Was konnte es sein, das bei meiner Erzählung vom Froschschenkel-Gericht zusätzlich aufgerührt wurde? Was war es, das die Assoziation „konservativ“ auslösen konnte und in welchem Sinn war diese zu verstehen? Ich musste über meine Geschichte wohl selber noch einmal nachdenken, um herauszufinden, was in ihr oder mit ihr bewahrt, restauriert oder wiederhergestellt wurde. Es lag nahe, an allgemeine Sinnzusammenhänge zu denken, die mit Fröschen zu tun hatten. Oder, genauer, mit der Bedeutung von Fröschen für die Menschen. Viele Frösche gab es früher an den Weihern im Oberschwäbischen. Zu viele konnten es werden, so hatte ich hie und da gehört. Und ich las nun davon, dass es nicht selten regelrechte Froschplagen gab. Dann gingen die Menschen dazu über, die Zahl der Frösche zu verringern, um die Natur im Gleichgewicht zu halten, und zusätzlich nutzten sie die Froschschenkel für die eigene Ernährung. Ich kam, so schien mir, auf die Spur einer älteren Frosch-Ökologie. Vielleicht wurde dort, wo die Froschschenkel im
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Cluny herkamen, dieser Lebenskosmos noch bewahrt, und ich habe ihn mit meiner Lust am Essen bestätigt. Aber war es wirklich allein der Gedanke an jene Frosch-Ökologie, der mit meiner Geschichte wieder lebendig wurde? Die lebhaften Reaktionen der Zuhörer, und ihr Fragen nach der Bedeutung meiner Erzählung waren auch damit nicht ganz zu erklären. Ich verfolgte also die Erinnerungsspur weiter in die Vergangenheit, zurück in die Zeit, in der Frösche nicht nur eine Naturplage und nächtliche Ohrenplage waren, sondern aufgrund ihrer unbezähmbaren Vitalität in der sakralen Kunst das Böse schlechthin verkörperten – wie die Kirchenornamentik mancherorts noch heute bezeugt. Andererseits war es wohl die atavistische Lebenskraft des Frosches, die in zahlreichen mittelalterlichen und späteren Wappen von vornehmen Familien als Tugend beansprucht wird. Das, was René Girard als Pharmakon wiederentdeckt hat, Monster und verehrungswürdiges Wesen, Gift und Heilmittel zugleich, war also der Frosch. Und auch diese reiche, ambivalente Symbolik öffnete sich wiederum in eine weite Vergangenheitsdimension und führte mich schließlich zu jener Froschplage, von der die Bibel berichtet. Dort, im Zweiten Buch Mose, wird erzählt, dass Moses, um den Pharao dazu zu bringen, das in Ägypten gefangene Volk Israel ziehen zu lassen, mithilfe von Aaron eine Froschplage für das Land heraufbeschwört (2 Mose 7, 26 – 8, 11). „Aaron reckte seine Hand aus über die Wasser in Ägypten, und es kamen Frösche herauf, so dass Ägyptenland bedeckt wurde.“ (8, 2). Der Pharao verspricht, dass er das Volk Israel entlasse, wenn Moses seinen Herrn bitte, die Frösche von ihm und seinem Volk zu nehmen. Dies geschieht; überall verenden die Frösche. Allerdings sind weitere Plagen nötig, bis der Pharao die Israeliten wirklich ziehen lässt. Was also haben meine Kollegen und Freunde gemeint, als sie meine Geschichte und meine Freude am Froschschenkelgericht als „konservativ“ bezeichneten? Wohl nicht nur, dass ich eine persönliche Kindheitserinnerung kultiviert habe. Haben sie gefunden, dass ich die neue ökologische Maxime, Frösche seien zu schützen, noch nicht internalisiert habe? Oder dass ich die alte Norm beherzigt habe, durch die Dezimierung der Frösche das Gleichgewicht der Natur zu bewahren? Dass ich gar mit meiner atavistischen Freude am Froschmahl noch viel ältere Aspekte der Amphibiensymbolik in die Gegenwart geholt habe, und durch die Froschvernichtung das Böse zu bekämpfen oder durch das Froschessen mir die urtümliche Kraft der Natur anzueignen glaubte?
Der konservativste Satz der Bibel Von Rainer Maria Kardinal Woelki Man soll sich ja nie selbst „googeln“ – ich habe es für diesen Beitrag dennoch einmal getan. Wenn man bei Google die Begriffe „woelki“ und „konservativ“ eingibt, gelangt man auf mehr als 20.000 Suchtreffer. Ob mich das zu einem Experten macht, weiß ich nicht. Zumal das Begriffspaar „woelki“ und „liberal“ auf die zehnfache Trefferzahl kommt. Aber vielleicht liegt das wiederum daran, dass besorgte Menschen aus dem konservativen Lager mich für „liberal“ halten. Oder umgekehrt. Wenn Sie den Text weiterlesen, verrate ich Ihnen etwas später den konservativsten Satz der Bibel. Das als kleiner „Teaser“, wie man das im Digitalzeitalter so nennt. Stefan Reinecke hat 2018 in der Berliner Tageszeitung – einem eher unkonservativen Blatt – die These aufgestellt, dass gerade die Digitalisierung ein Katalysator des Konservativen sein könne. Der „Rückgriff aufs Traditionelle, Erprobte“ könne „ein Reflex unklarer Zukunftserwartungen“ sein. Das ist ein Zusammenhang, den vermutlich jede(r) schon erlebt hat: Neues, Anderes stellt zunächst einmal eine Bedrohung dar – diesbezüglich sind wir Höhlenmenschen geblieben. Und je mehr Neues auf einen zukommt, umso stärker wird der Impuls, im Gewohnten Halt zu finden. Warum gibt es im US-Bundesstaat Minnesota die Stadt „Cologne“? Weil Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts Auswanderer aus Köln die Stadt gegründet haben, angeführt von Paul Mohrbacher, der 1856 mit seinen Eltern eingereist war. Noch im selben Jahr trafen sich in seinem Haus 19 Familien, um die Heilige Messe zu feiern. Und 1881 wurde dann das amerikanische Köln gegründet. DAS ist für mich konservativ: Hier wird ein Herzenskern zur Bausubstanz, auf der Neues entsteht. Und es ist so menschlich wie zulässig, sich solche Anker zu schaffen. Schwierig wird es immer dann, wenn ich nur noch das Alte sehe und idealisiere, wenn ich das Leben um mich herum auszuschließen versuche.
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Sicherlich haben auch viele unserer heutigen Migrationsprobleme damit zu tun, dass Menschen, die zu uns kommen, überfordert sind und sich ihre eigene, zurückgelassene Welt hier bei uns nachbauen, aber sich dann auch darin verschanzen. Und hier wiederum wird dann das Konservative verlassen. „Der Konservative ist kein Reaktionär“, schrieb Jens Jessen 2010 in der ZEIT. „Schon sein Realismus würde es ihm verbieten, verlorene Zustände wiederherstellen zu wollen.“ Das entspricht auch meiner Auffassung eines gelebten (!) Glaubens: Es gibt Dinge, die nicht mehr in die Zeit gehören – und ich käme nicht auf die Idee, sie restaurieren zu wollen. Und es gibt einen Kern, den ich niemals aufgeben würde. Und der hat mit dem konservativsten Satz der Bibel zu tun. Er steht im Alten Testament, Zweites Buch Mose (Exodus), Kapitel 3, Vers 14: „Ich bin der ,Ich bin da‘.“ Das ist ein Satz mit unglaublicher Wucht und tiefster Ausdruck meines Verständnisses von „konservativ“: Egal, was kommen mag. Egal, wie schwierig oder aussichtslos eine Lage erscheint. Egal, wie verrückt die Welt gerade in den eigenen Augen ticken mag: „Ich bin da.“ Das ist unverbrüchlich. Unabänderlich. „Da passt kein Blatt dazwischen“, wie man in anderen Fällen gerne etwas vorschnell sagt. Und aus diesem Verständnis heraus bin ich sicherlich ein konservativer Mensch. Ich habe einen Kompass, an dem ich mein Dasein ausrichte, das ist Jesus Christus. Ich verstehe längst nicht alles, was er mir manchmal zumutet. Aber ich glaube zutiefst an sein „Ich bin da“ und weiß, dass ich darin geborgen bin. Und wer eine solche Geborgenheit besitzt, der kann sich auch bewegen. Das ist durchaus auch ein Wesensgehalt des Konservativen: Es gilt, die Änderungen um uns herum wahrzunehmen, zu bewerten und gegebenenfalls auch wertzuschätzen. (Gegebenenfalls und keineswegs immer! Der bereits zitierte Jens Jessen schrieb in seinem Essay auch, Konservatismus sei „eine skeptische Haltung. Er misstraut Fortschrittsglauben und Technik vor allem deshalb, weil er in ihnen menschliche Allmachtsfantasien argwöhnt.“) Als Christen sind wir aktiver Bestandteil unserer Umwelt, wir gestalten mit und übernehmen Verantwortung. Denn auch das ist konservativ. Der Evangelist Matthäus erzählt die Geschichte vom begeisterten Jünger Petrus, der sich nach einem besonderen Erlebnis an Jesus wendet und vorschlägt: „Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, lass uns hier drei Hütten bauen.“ Doch Jesus will nicht stehen bleiben, er will
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in die Welt, um noch viele Menschen zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Konservativ heißt nicht, stehen zu bleiben. Winfried Kretschmann, Katholik und Ministerpräsident von BadenWürttemberg, hat 2018 ein Buch geschrieben, über das wahrscheinlich nicht jeder in seiner Partei, den Grünen, richtig glücklich ist: „Worauf wir uns verlassen wollen: Für eine neue Idee des Konservativen“, heißt das Werk. Darin formuliert er einen Satz, den ich gut mitgehen kann: „In der heutigen Situation wird das Bewahren der offenen Gesellschaft neben dem Bewahren unserer natürlichen Lebensgrundlagen zur zweiten übergreifenden Aufgabe des neuen konservativen Ansatzes.“ In unserer Gesellschaft ändert sich in der Tat sehr viel und nur einen Teil davon können wir aktiv mitgestalten. In den USA zum Beispiel läuft seit vielen Jahren – und noch einmal forciert durch den Präsidentschaftswahlkampf 2016 – eine breite gesellschaftliche Debatte über den Verlust der Mittelschicht. Der bürgerliche Mittelstand war in der westlichen Welt, wenn man so möchte, immer auch der Träger von Konservatismus, ein Garant für Stabilität und stetes Wachstum. Ein Volkswirtschaftler in den USA hat einmal eine schöne Definition für die Mittelklasse formuliert: Man sei Bestandteil dieser gesellschaftlichen Schicht, wenn man zwei Kühlschränke besitze: Einen in der Küche, und dessen Vorgängermodell im Keller, für die Vorräte. Ein Beratungsunternehmen hat über viele Jahre hinweg Angestellte aus der US-Mittelschicht befragt. 2017 kam es zu dem alarmierenden Ergebnis, dass 40 Prozent der Befragten angaben, sie würden von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben. Und das in einem Land, das kaum soziale Absicherung und kein ausgereiftes staatliches Rentensystem besitzt. Mit anderen Worten: Hier wird einer Schicht, die einmal das Rückgrat an Stabilität der Gesellschaft gebildet hat, ein gutes Maß an Sicherheit genommen. Und wenn einer Gesellschaft auf Dauer diese innere Mitte abhandenkommt, ist das ähnlich schlimm, als wenn ich als Individuum meine Mitte, meinen Anker verliere. Ein letztes Zitat noch, das mich ebenfalls bewegt. Es stammt von Eugen Gerstenmaier, er war Theologe und CDU-Politiker, Präsident des Bundestages (1954 – 1969) und auch Mitglied des Kreisauer Kreises, einer Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund eines solch bewegten Lebens schrieb Gerstenmaier: „Konservativ sein
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heißt nicht, am Vergangenen zu hängen, sondern aus dem immer Gültigen zu leben.“ In diesem Geiste bin ich gerne und dankbar ein konservativer Mensch.
Unterwegs bleiben – Erhaltenswertes bewahren und ausbauen Von Rita Süssmuth Konservativ ist heute eine eher negativ als positiv besetzte Zuschreibung. Damit sind eher die Gestrigen als die ZukunftsgestalterInnen apostrophiert. Was hat zu diesem Verfall geführt? Für mich bildet die Verknüpfung zwischen Tradition und Zukunftsoffenheit zwei Seiten einer Medaille. Und das heißt für mein eigenes Leben: Auf der Suche sein nach dem Woher und Wohin – oder anders gefragt: Was gilt es zu bewahren, was zu verändern? Proklamierte Grundsätze wie: „Wir machen alles neu, Altes gilt nicht mehr, hat zu verschwinden“, löst bei mir mehr Fragen als Zustimmung aus. Die Evolution wird von der Wissenschaft bejaht, die Religiosität skeptisch relativiert oder als irrationaler Mythos säkularisiert. Zwar sagt unser Grundgesetz in Artikel 4.1: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und des weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Und vorher heißt es in Artikel 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Es gilt die Gleichheit vor dem Gesetz, denn Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Die Artikel 1 – 19, bei denen es um die Grundrechte geht, sind verbindlich, dürfen in ihren Kerngehalt nicht verändert werden. So verschieden die Gesellschaften in ihren kulturellen Werten sind, sie haben mit ihren Regeln und Traditionen Verbindlichkeiten aufgebaut. Diese bilden die Grundlagen des Zusammenlebens und Zusammenhalts. Veränderungen sind in unserem Grundgesetz möglich, wenn sie nicht gegen die Grundrechte verstoßen.
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Dabei handelt es sich um einen Kodex von Werten und Normen von höchster Verbindlichkeit im Zusammenleben von Menschen und im Umgang mit der Umwelt. Es steht die vereinbarte Rechtsnorm gegen Willkür und Gewalt. Das gilt im Grundgesetz in ganz elementarer und herausgehobener Weise in Bezug auf die unantastbare Würde des Menschen, deren Grundlage die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sind. Konservativ ist an diesen Festlegungen das, was jede Gesetzgebung zu beachten hat, worauf sie verpflichtet ist, was nicht zur Verfügung (Disposition) steht. In Gesellschaften, die global und national mit so einschneidenden kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zu tun haben, ist es umso wichtiger, die Veränderungen, die in einzelnen Staaten oder weltweit getroffen werden, mit den ihnen zu Grunde liegenden Werten und Normen nicht preiszugeben, sondern verbindlich einzuhalten (UNO Charta, 1945). Das erfordert mehr denn je strikte Selbstüberprüfung und Begründung bei verfassungskonformen Änderungen. In diesem Sinne hat das Kriterium der Verfassungskonformität einen sehr hohen Stellenwert. Das beinhaltet aber nicht, einmal getroffene Vereinbarungen nicht zu einem späteren Zeitpunkt neu zu interpretieren – was gilt nach wie vor, was hat sich verändert, was fehlt angesichts grundlegender Veränderungen? Beispielhaft möchte ich hier die Gleichberechtigung von Mann und Frau nennen, aber auch die Kinderrechte, die soziale Gerechtigkeit, den Schutz der Geflüchteten und die Menschenrechtsfragen (70 Jahre nicht erfüllte Umsetzung der Genfer Konvention) Selbstüberprüfung und Verfassungskontrolle betrifft den Einzelnen und die Gesellschaft. Für mich ist in diesem Zusammenhang wichtig, sich zunächst einmal selbst zu prüfen: Was bindet mich, womit identifiziere ich mich, was kann ich aus meiner Sicht zum Besseren verändern? Ich selbst verstehe mich zugleich als konservativ und freiheitlich progressiv. Das beruht auf meiner Sozialisation mit den in Kindheit und Jugend zunächst übernommenen Normen und Werten, die sich später dank Erfahrung und kritischer Reflexion durch neu gewonnene Positionen und Werteprioritäten veränderten. Ich bleibe unterwegs mit meiner persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung: fragend, suchend, abwägend, an neuen Problemlösungen arbeitend.
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Mein Schritt in eine Partei, die christlich-demokratische Union, hatte wenig zu tun mit konservativ oder progressiv, sondern primär mit Offenheit für Menschen, mit Veränderungsbereitschaft, mit sozialer Einbindung statt Ausgrenzung, Gerechtigkeit und Vertrauen in Menschen. Das betraf nicht nur die Geschlechterfrage, sondern entscheidend war für mich die Frage, was im sozialen Selbstverständnis, im Umgang mit Andersdenkenden und Anderslebenden, mit Migranten und Geflüchteten zu verändern ist. Mein Kernanliegen ist und bleibt Respekt voreinander, Lernen vonund miteinander, Beteiligung und Zugehörigkeit statt Ausgrenzung. Wir Menschen verfügen nicht über absolute Wahrheiten, aber in unserem Leben geht es um Sinnsuche und Aufgabenverständnis, um Miteinander und eine nicht endende Gesprächsbereitschaft sowie verantwortungsvolles und befreiendes Handeln. Meine Entscheidung für die CDU hat gewiss viel zu tun mit meinem Aufwachsen in einer christlich sozial engagierten Familie. Zur kleinen ,Rebellin‘ bin ich erst durch eigene Entwicklungs- und Überzeugungsarbeit gekommen. Das war nie fehlerfrei, aber dabei habe ich viel gelernt, insbesondere in Krisensituationen. Meine Vorstellungen stießen oft auf Widerstand. Aber aufgeben aus mangelndem Mut – das widersprach mir. Scheitern, auch das Auftreten von Widerständen, setzten bei mir Energien frei, vor allem wenn es sich um existenzielle Fragen handelte, die von der Würde der Person, der Teilhabe oder Ausgrenzung von Menschen handelten. Zutreffend ist, dass meine Entscheidung für diese Partei wesentlich geschuldet war durch das Denken und Handeln der stets hoch engagiert kämpfenden Persönlichkeit Heiner Geißlers. Das schloss seine verletzenden verbalen Angriffe nicht aus. Aber er entschuldigte sich auch, gestand seine Härten auch als Fehlverhalten ein. Er war konservativ als ständiger Aufklärer und bestand auf den humanitären und christlichen Werten, die unsere Stärke ausmachen könnten. Er hatte diesen offenen Blick für überfällige Veränderungen. Sei es in in Fragen der Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung und Gewalt oder strukturellen Veränderungen im Familien- und Arbeitsleben beider Geschlechter. Über lange Zeit war es meine Überzeugung, dass das wissenschaftliche Denken und Handeln nicht mit parteipolitischen Positionen zu verbinden sei. Das erfordert Unabhängigkeit, Freiheit, Sachorientierung, d. h. eine
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fragende, suchende Haltung, ein reflexives selbstkritisches Denken, eine Offenheit für Erkenntnisse und Meinungsvielfalt. Ich hatte zunächst von meinem Vater gelernt: Bedenke stets, wie Sokrates schon sagte, dass der Andere, der Andersdenkende und Überzeugte auch recht haben kann – ein Grundsatz, der mir in der späteren parteipolitischen und parlamentarischen Arbeit besonders wichtig war. Es ist möglich, häufiger als gedacht, dass sich das wissenschaftliche und politische Denken miteinander vereinbaren lassen. Aber jeder muss für sich um die Grenzen wissen und sich dessen bewusst werden. Ich fragte mich oft, wer oder was in und an mir ist konservativ? Ich engagierte mich für längst überfällige Veränderungen, die die von Menschen benötigten positiv überdauernden Wertebezüge implizierten. Aber ich war doch gerade in diese Partei eingetreten, weil ich christliches Denken und Handeln unterstützen wollte. Andererseits war mir bewusst, dass es um grundlegende Veränderungen in den speziellen Ansprüchen einer christ-demokratischen Partei ging. Das betraf den Umgang mit Nicht-Christen, das Geschlechterverhältnis, insbesondere die Rollen von Mann und Frau, die gelebte Werthaltung zu Menschen, die anders sind, sei es in ihren geistigen und politischen Positionen, in ihren thematischen Prioritäten. Ich bin in meinem Denken und Handeln für Offenheit, neue Erkenntnisse, nicht aufhören zu lernen, mich öffnen für neue Blick- und Argumentationsrichtungen. Bildungshunger treibt mich an, das wünsche ich allen Menschen. Dazu gehört eben auch, die eigenen Positionen, Einstellungen und Haltungen kritisch zu hinterfragen, offen zu bleiben für den Austausch mit gegenteiligen Positionen und Haltungen. Konservativ zu sein, beinhaltet die Fähigkeit, die je eigene Vergangenheit nicht auszublenden und das eigene Leben mit seinen Schwächen und Stärken zu verändern. Kulturelles und menschliches Versagen, das auch zu unserer Geschichte gehört und aufgearbeitet werden musste, hat nicht nur einseitig Demütigung und Schwächung, sondern gerade auch Neuorientierung, Stärkung im Einsatz für Menschenwürde und Hilfe für Menschen in Not zur Folge. Die neuen Einseitigkeiten – Nationalismus, Antisemitismus, Diskriminierung bis hin zur individuellen sowie kollektiven hasserfüllten Menschenverachtung – fordern uns heraus. Wir haben in unserem Land aus der Vernichtung humaner Werte im Nationalsozialismus viel gelernt, sind aber, wie sich aktuell erschreckend
Unterwegs bleiben – Erhaltenswertes bewahren und ausbauen
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zeigt, vor Rückfällen nicht geschützt. Nicht alle sind bereit zu lernen, sich zu engagieren für Mensch und Umwelt. Wieder ist die kalte Abwehr gegenüber Fremden, Armen und Ausgegrenzten unterwegs mit all ihren Gefahren; sie bedrohen erneut unsere kulturelle Identität, unser menschenachtendes Selbstverständnis. Gerade Deutschland hat national und global Zeichen gesetzt und setzen müssen für einen Neuanfang, der Rückkehr zu den Werten, die für Europa und die Welt heute wichtiger sind denn je. Unsere Zukunft ist nicht mit wieder erstarktem nationalem Egoismus, nationaler Überheblichkeit, mit Abschottung und Alleingängen, schon gar nicht mit verstärkter Militarisierung erfolgreich zu schaffen, sondern nur durch Abbau der neuen Polarisierungen und Feindseligkeiten sowie erfolgreicher Verhandlungsund Aushandlungsbereitschaft. Wir können mehr leisten als wir gegenwärtig tun. Das betrifft unsere theoretische und praktische Leistungsfähigkeit, unsere Wettbewerbs- und Solidaritätsleistungen und vor allem unsere Rückkehr zur Sorge für den Erhalt des Geschenkten und Geschaffenen mit Zuwachs an sozialer Gerechtigkeit und geringerer gesellschaftlicher Spaltung. Holt den Menschen und die Menschlichkeit in das Zentrum unseres gesellschaftlichen Handelns zurück. – Das ist zugleich eine bewahrende, sprich konservative und zukunftsbezogene Haltung. Was mich ermutigt, ist zum einen ein wichtiger Teil der jüngeren Generation mit ihrer verantwortlichen ökologischen und sozialen Zukunftshaltung, ihren originellen neuen Gestaltungsideen, ihrer Tatkraft trotz Zukunftsängsten. Gewiss gibt es zu viele Ich-Menschen, Gleichgültige und Tagträumer, die sorgendes Handeln den anderen überlassen. Was stärkt, ist das Solidaritätshandeln von jenen, die Menschenleben und die Umwelt retten, Bedrängten und Armen helfen, seien es Einheimische oder Geflüchtete. Das bewerte ich im positiven Sinn als konservativ, bewahrend und aufbrechend.
Evolution – konservativ und kreativ Von Wolf Singer Die Evolution, oder genauer, die biologische Evolution, so wird gesagt, sei konservativ. Gemeint ist damit, dass Bewährtes von Generation zu Generation weitergegeben und bewahrt wird. Falls wir mit der Selbstzuschreibung, die Krone der Schöpfung zu sein, zufrieden sind, sollte das Adjektiv „konservativ“ also mit einer positiven Konnotation versehen sein. Aber die Evolution war zugleich kreativ. Seit geraumer Zeit wissen wir, dass auch der Zufall seine Hand im Spiel hatte. Und was noch schwerer wiegt, dass es die Fehler waren bei dem Versuch, das Bewährte weiterzugeben, die für Vielfalt sorgten. Fehlbarkeit erst stellte das Repertoire zur Verfügung, aus dem sich die Selektion bedienen konnte, um die auszuwählen, die am besten mit den Fährnissen der Welt umgehen konnten. Keines vorausschauenden Plans hatte es bedurft, um die gegenläufigen Prozesse, das Bewahren des Bewährten und dessen fehlerbehaftete Konservierung so miteinander zu verschränken, dass es im Rückblick so aussieht, als handele es sich um einen zielgerichteten Prozess, dessen Ergebnis gewollt war. Im Nachhinein mag man beklagen, dass es für eine Reihe der zu bewältigenden Probleme vermutlich elegantere Lösungen gegeben hätte, wäre von vornherein klar gewesen, was mit diesem gewaltigen Aufwand erreicht werden sollte. Dass uns einiges an den Produkten der Evolution suboptimal erscheint, hat wiederum mit der konservativen Natur des evolutionären Prozesses zu tun. Das jeweils Neue musste in das bereits Vorhandene eingebaut werden, musste auf Erreichtem aufbauen. Verwehrt war der Befreiungsschlag aus den Fesseln des Bestehenden, der radikale Sprung zurück zum Neuanfang. Umso erstaunlicher ist, was diesem ungerichteten, auf fortwährendem Versuchen und Irren beruhendem Prozess gelungen ist: Die Hervorbringung von Systemen, deren Eigenschaften alles in den Schatten stellen, was Ingenieurskunst zu bewerkstelligen in der Lage ist. Technische Systeme mögen zwar durch Nischenbegabungen beeindrucken, aber es fehlt ihnen
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an der Fertigkeit, über die jede Stubenfliege verfügt: ein autonomes Dasein zu organisieren und den Unbillen einer gefährlichen Welt zu trotzen. Sollten wir mit dem Erreichten zufrieden sein oder es gar wertschätzen, so sollten wir auf evolutionäre Strategien setzen. Der Grund für das beträchtliche kreative Potenzial solcher Prozesse ist, dass sie sich selbst organisieren, genauso wie die Systeme, die sie hervorbringen. In beiden Fällen haben wir es mit Interaktionsgeflechten zu tun, die eine extrem komplexe Dynamik aufweisen. Fachleute sprechen von hochdimensionaler, nicht-linearer Dynamik – und diese ist Voraussetzung für Selbstorganisation. Bemerkenswert ist, dass diese sich selbst organisierenden Systeme mit Eigenschaften aufwarten, für die wir keine rechte Intuition entwickeln können, obgleich wir von ihnen allseits umgeben sind und selber dazu zählen. Ihre zukünftigen Zustände können nicht verlässlich prognostiziert werden, selbst wenn alle Ausgangsbedingungen bekannt sind. Entsprechend lässt sich nur mit begrenzter Wahrscheinlichkeit angeben, wie sich Eingriffe in die Systeme auf ihre weitere Entwicklung auswirken werden. In der Regel reagieren solche Systeme widerspenstig auf Versuche, sie zu lenken. Für sich betrachtet wären das keine sonderlich sympathischen und vertrauenswürdigen Eigenschaften, gäbe es da nicht auch noch eine weitere, sehr kostbare Qualität. Systeme, die sich selbst organisieren können, sind resilient gegenüber Störungen, die ihr Gleichgewicht bedrohen. Sie besitzen „selbstheilende“ Mechanismen. Sie entziehen sich dadurch zwar der Kontrolle von außen, aber finden eigenständig Lösungen, um sich zu stabilisieren. Sie sind kreativ. Sie können von sich aus vormals Unverbundenes in Beziehung bringen und unverhofft neue Zustände annehmen. Deshalb ist es unmöglich, solche Systeme am Reißbrett zu entwerfen. Konstrukteure können allenfalls allgemeine Regeln vorgeben, die Selbstorganisation begünstigen, aber dann muss den Systemen die Gelegenheit gegeben werden, sich selbst weiterzuentwickeln. Eine vorausschauende Planung stabiler Endzustände ist nicht möglich. Die bemerkenswerte Tendenz der Evolution, immer komplexere Systeme hervorzubringen, hat vermutlich zwei Gründe. Zum einen ist es der zunächst paradox anmutende Umstand, dass zunehmende Komplexität mit erhöhter Resilienz einhergeht – vorausgesetzt, die Architektur der Systeme begünstigt Selbstorganisation. Zum anderen ist es die konservative Natur evolutionärer Prozesse. Wenn Bewährtes bewahrt und auf dem Vor-
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handenen aufgebaut werden muss, wenn radikales Zurücksetzen und Neuanfang nicht möglich sind, dann kann Neues nur durch Hinzufügen entstehen. Nur durch zusätzliche Strukturen können bereits entwickelte Funktionen miteinander verknüpft und neue Leistungen hervorgebracht werden. Was bedeuten diese Einsichten für unser Handeln? Die Parallelen mit Systemen, die wir seit Beginn der kulturellen Evolution hervorgebracht haben und deren Dynamik wir durch unser Handeln aufrechterhalten, sind unverkennbar. Auch soziale, politische und wirtschaftliche Systeme sind hochvernetzt, weisen eine stark nicht-lineare Dynamik auf und verfügen deshalb über die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Auch diese Systeme wurden, abgesehen von einigen gescheiterten Versuchen, nicht auf dem Reißbrett konzipiert. Ihnen liegt kein Masterplan zu Grunde, sondern sie haben sich nach Prinzipien entwickelt, die den evolutionären nicht unähnlich sind. Deshalb sind sie, trotz aller Mängel, erstaunlich stabil und fehlertolerant. Entsprechend sollten wir behutsam mit ihnen umgehen. Bewährtes bewahren – ein gewisses Maß an Konservatismus – ist vermutlich nicht falsch. Kritisch zu beäugen wäre demnach die weit verbreitete Annahme, die Systeme ließen sich durch dirigistische Maßnahmen dazu bringen, sich auf vorher bestimmbare Endzustände hin zu entwickeln. Meist wird es wegen der Widerspenstigkeit und Kreativität dieser sich selbst organisierenden Systeme anders kommen als vorhergesagt und beabsichtigt. Misstraut werden sollte deshalb streng hierarchischen Strukturen und Verheißungen, durch kluge Pläne oder drastische Eingriffe alles zum Besseren wenden zu können. Überbeanspruchung der selbst-stabilisierenden Kräfte oder gar Zerstörung ihrer Grundlage durch Vernichtung horizontaler Interaktionsgeflechte führt meist zu katastrophalen Systemzusammenbrüchen. Nun können wir nicht umhin, handelnd die Geschicke unserer Lebenswelt zu gestalten. Nach welchen Kriterien aber sollen wir unser Handeln ausrichten, wenn uns verwehrt ist, die langfristigen Konsequenzen unseres Tuns erkennen zu können, wenn wir uns als Komponenten von Systemen begreifen, die wir durch unser Handeln in Bewegung halten, deren Entwicklungstrajektorien aber grundsätzlich unvorhersehbar sind? Fraglos werden wir die Maximen moralischen Handelns bewahren und verteidigen – auch das eine konservative Strategie –, welche die Menschheit im
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Laufe der kulturellen Evolution entdeckt und als Leiden minimierend erkannt hat. Fraglos werden wir auch zu vermeiden suchen, was voraussagbare Systemzusammenbrüche bewirken kann. Klimawandel und Artensterben stehen hier pars pro toto für eine Fülle wissenschaftlich belegter Gefahren. Also bleibt uns nur vorsichtiges Ausprobieren – nach bestem Wissen und Gewissen kleine Änderungen vornehmen, die jeweiligen Konsequenzen wachsam und in kurzen Intervallen überprüfen, Bewährtes bewahren, die Folgen von Irrtümern schnellstmöglich beseitigen und im Übrigen auf die Stabilität selbstorganisierender Systeme vertrauen. Um dieses Vertrauen zu rechtfertigen, müssen aber Systemarchitekturen gefördert und Verhaltenskodizes eingehalten werden, welche Selbstorganisation begünstigen. Durch kollektive Erfahrung erworbene und zum Teil auch wissenschaftlich belegte Kriterien hierfür gibt es. Nicht wenige finden sich in der Verfasstheit moderner Demokratien und in normativen Ordnungen gespiegelt. Verfahren zur Erzeugung von Veränderungen, zur Korrektur von Irrtümern und zur Bewahrung des Bewährten sind durch den Gang zur Urne implementiert. Gut wäre, wenn allen, Gewählten und Wählern, bewusst wäre, dass sie gemeinsam am Ausprobieren sind, an einem Würfelspiel teilnehmen, Irrtum in den Prozess eingeschrieben ist und Bewahren des Bewährten nur dann eine Tugend ist, wenn die Bereitschaft besteht, Irrtümer einzugestehen und Unbewährtes fallen zu lassen.
Konservativ sein nach dem Ende des Konservatismus Von Jörn Leonhard Friedrich Nietzsche war sich sicher: Alle Begriffe, „in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition“. Definierbar sei nur das, „was keine Geschichte“ habe. Gilt auch für den Konservatismus dieser Satz, mit dem Nietzsche die Konkurrenz vieler unterschiedlicher Definitionen zum Ausgangspunkt für sein Verständnis politisch-sozialer Grundbegriffe seiner Gegenwart machte? Nähert man sich einer Antwort auf diese Frage, dann drängt sich eine historische Betrachtung auf – zumal für den Konservatismus die Selbstbegründung aus der Geschichte, der Rekurs auf organische Entwicklungsprozesse statt apriorischer Neusetzung, selbst so große Begründungsrelevanz besitzt. In seinem großen Werk über Konservatismus: Geschichtlicher Gehalt und Untergang konstatierte Panajotis Kondylis 1986, dass der Konservatismus als historisch belegtes und theoretisch präzisiertes Phänomen in der Gegenwart erledigt sei. Nach dem Auslaufen der beiden bestimmenden Basiskonflikte, des anti-absolutistischen Konservatismus als Widerstand gegen das Vordringen des frühmodernen Staates bei gleichzeitigem Festhalten an der organisch gewachsenen, natürlichen und vorstaatlichen „societas civilis“ sowie des gegenrevolutionären Konservatismus mit dem Versuch, die „societas civilis“ unter den Bedingungen der aus den Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts resultierenden demokratischen Grundforderungen zu reformulieren, sei es danach nur noch um die Auflösung des Konservatismus und die Verteilung seiner Erbschaften gegangen. Einerseits überwand Kondylis mit seinem Zugriff die mit Karl Mannheim verbundene und häufig zitierte Unterscheidung zwischen einem bloßen vormodernen „Traditionalismus“ und einem aus der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Französischen Revolution entstandenen, gleichsam modernen Konservatismus. Andererseits haftet dem Argumentationsgang etwas Dogmatisches an, das den Formwandel des Konservativen auch
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unter sich wandelnden historischen Umständen negiert. Dass der Begriff ein entscheidender Anker im ideologischen Spektrum bis in die Gegenwart geblieben ist und sich die Diskussion um seinen Gehalt vor dem Hintergrund scheinbarer ideologischer Beliebigkeit und sprachlich-semantischer Verflüssigung bei gleichzeitiger Orientierungskrise derzeit so intensiviert, passt jedenfalls schlecht zu Kondylis’ Diktum, dass es heute allenfalls noch darum gehe, überkommene konservative Gemeinplätze mit neuen Inhalten zu füllen. Zumindest im Blick auf diese polemische Einschätzung teilt der Konservatismus das Schicksal des Liberalismus. Nachdem in vielen Gesellschaften Parlamente, Verfassungsstaat und Bürgerrechte als dessen Kernforderungen erfüllt worden sind, bleibt der Begriff, nunmehr von parteipolitischer Bestimmung emanzipiert und gleichsam universalisiert, eine wichtige Bezugsgröße des politischen Diskurses: als Haltungsbegriff, als Modus, wenn auch nicht mehr im Sinne eines dezidierten und trennscharfen politisch-sozialen Programms. Wie man liberal auch nach dem Ende des Liberalismus sein kann, so auch konservativ nach dem Auslaufen des Konservatismus. Dieser Prozess verweist auf die dramatischen Veränderungen im 19. Jahrhundert, als sich die Bedingungen politischer und sozialer Gestaltung fundamental veränderten. Als die Politik aufhörte, das Arkanum von Hof, Kirche oder einer ständisch verfassten Minderheit zu sein, entstanden in den europäischen Gesellschaften neue Foren und Medien, deren Dynamik weit über Verfassungen und Parlamente hinauswies und eine politisch kommunikationsbereite Öffentlichkeit entstehen ließ. Mochte die Revolution von 1848/49 im engeren Sinne scheitern, so dokumentierten die Jahrzehnte danach den Erfolg dieser Partizipations- und Kommunikationsrevolution. Auf die Entstehung politischer Massenmärkte in zunehmend medial integrierten Gesellschaften mussten die politischen Eliten seit den 1850er Jahren reagieren. In Frankreich setzte Louis Napoleon 1851/52 auf eine Mischung aus einem gegen die sozial-egalitäre Revolution gewandten Ordnungsversprechen, einem positiven Revolutionsmythos und einer autoritären Regierungspraxis. In Italien suchte Camillo Cavour als Premierminister des Königreichs Sardinien-Piemont, den Einfluss seiner Heimat als italienische Staatsnation zu erweitern und die radikal-demokratische Bewegung Giuseppe Garibaldis einzudämmen, indem er die Schaffung eines italienischen Nationalstaats durch Plebiszite in den einzelnen Territorien absichern ließ. Otto von Bismarcks Politik schließlich, die
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sich als preußisch-konservativ ausgab, in den Instrumenten aber revolutionierende Züge annahm, bildete die veränderten Kontexte einer Neubestimmung des Konservativen geradezu idealtypisch ab: Neben seinem persönlichen Selbstverständnis als Lehnsmann des preußischen Königs stand die Zerschlagung des Königreichs Hannover und die Depossedierung einer jahrhundertealten Dynastie auf dem Wege zum kleindeutschen Nationalstaat 1867, neben der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1867/71 das Vertrauen auf die negative Integration der deutschen Gesellschaft durch Ausschluss der angeblichen Reichsfeinde, seien es die Katholiken im Kulturkampf oder die Sozialisten. Ohne das Janusgesicht einer Politik, die eben nicht allein auf überkommene soziale und dynastische Bindungen setzte, sondern ebenso auf nationalpolitische Fortschrittlichkeit und Popularitätsstrategien, war eine konservative Bestimmung von Politik und Gesellschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unmöglich geworden. Der Umbruch der politischen Kultur wurde auch in Großbritannien erkennbar, wo sich der konservative Premier Disraeli angesichts einer symbolischen Neuerfindung der Monarchie unter Queen Victoria und einer nicht zuletzt von seinem liberalen Gegenspieler William Gladstone ausgehenden Moralisierung und Personalisierung der Politik darum bemühte, den politischen Radikalismus der außerparlamentarischen Öffentlichkeit mit der zweiten Wahlrechtsreform von 1867 einzudämmen, um ein konservatives Selbstbild zu bewahren. In diesen unterschiedlichen Konstellationen ging es immer wieder darum, das Versprechen politischer Ordnung, sozialer Stabilität und nationaler sowie imperialer Selbstversicherung mit einer zeitgemäßen Anpassung an gewandelte Bedingungen zu verbinden. So entstand zwischen Zielen und übergreifenden Horizonten einerseits sowie Instrumenten und Strategien andererseits eine Spannung, die eine überzeitliche Bestimmung des Konservatismus problematisch erscheinen und gleichzeitig ein situatives Politikmodell entstehen ließ. Im Gegensatz zu den europäischen Staatsmännern des frühen 19. Jahrhunderts, auf die man wie im Falle des österreichischen Staatskanzlers Metternich nach 1815 das Etikett einer am postrevolutionären Status quo orientierten Innenpolitik angewandt hatte, blieb der Generation Napoleons III., Cavours, Bismarcks oder Disraelis die Einsicht, auf eine Epoche krisenhafter Umbrüche flexibel reagieren zu müssen. Das machte sie zu „weißen Revolutionären“, die ideologisch konservative Ziele wie gesellschaftliche Stabilität und Revolutionsprophylaxe mit radikalen, ja selbst wiederum revolu-
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tionierenden Mitteln zu erreichen suchten. In seinem großen Roman Il Gattopardo über den Risorgimento, den verwinkelten Weg zu einem italienischen Nationalstaat, lässt Giuseppe Tomasi di Lampedusa einen seiner Hauptprotagonisten, Tancredi, eine skeptische Bilanz ziehen. Gegenüber seinem Onkel, dem Fürsten Salina, der dem Aufkommen der neuen Zeit skeptisch gegenübersteht und sich selbst zu einer anachronistischen Figur gewandelt sieht, bekennt Tancredi: „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.“ – „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Darin steckt am ehesten eine mögliche Antwort auf das Wesen des Konservativen. Der Konservatismus kann ebenso wenig wie andere politischsoziale Grundbegriffe der Moderne wie der Liberalismus oder der Sozialismus auf einen ein für alle Mal stabilen Bedeutungskanon und Zielhorizont reduziert werden. Die relative Verflüssigung ideologischer Gehalte trifft auch auf ihn zu. Das aber ist gerade kein Zeichen der Schwäche aus Unbestimmtheit oder ein Symptom für historische Überholtheit und politische Anachronisierung. Es bildet vielmehr eine Grunderkenntnis ab: Was Menschen als bewahrenswert definieren, steht zu keinem Zeitpunkt ober- und außerhalb historischer Prozesse. Es ist vielmehr selbst Ausdruck des Gewordenen und also wandelbar. Und selbst wo sich übergeordnete Bewahrungsziele bestimmen ließen und lassen – sei es die „societas civilis“, die Familie oder das aristotelische „Ganze Haus“ als Modelle vorstaatlicher Ordnung, das Vertrauen auf kollektive Vernunft und historisch vermittelte Erfahrung –, konnten und können Entwicklungshorizonte und praktische Instrumente auseinanderfallen, wie das lange 19. Jahrhundert bewies. Vielleicht zeichnet den konservativen Modus der Weltbetrachtung jenseits einer trennscharfen Programmatik des Konservatismus ein ganz besonderes Bewusstsein für genau diese Spannungszustände und ein entsprechendes Sensorium für die vielen Vergangenheiten aus, die in der Gegenwart aufgehoben sind.
Ein Denkmal für die 68er – als „Blaue Blume“ der Gemeinsamkeit? Von Birgitta Wolff Nur zu gerne wird oftmals suggeriert, dass der Komparativ von konservativ „reaktionär“, der Superlativ gar „chronisch unverbesserlich“ bzw. die Steigerungsstufen „verknöchert“ und „versteinert“ lauten. Zwar ist eine solche Fremdzuschreibung nicht ungeschickt, insofern die eigene Position vermeintlich klar umrissen und damit besser ins Auge springt: Denn je (angeblich) konservativer, konventioneller, rückständiger mein Gegenüber, desto progressiver, innovativer, avantgardistischer bin dann ja natürlich ich selbst sowie die von mir vertretene Auffassung. Doch zugleich trägt der pejorative Unterton, der einen Begriff von einer Zustandsbeschreibung in einen politischen Kampfausdruck verwandelt, wesentlich zu einer politischen Polarisierung bei – und eben dieses eindeutige Gegenüberstellen mündet leider allzu oft in einen geistigen Grabenkampf, aus dem ein Ausweg gut und teuer wird: Hie Welf, hie Waibling – oder in Mundart: Hibbdebach und Dribbdebach, die ebsch Seit. Doch wer Politik nicht bloß als reine Durchsetzung der eigenen Überzeugung, als Überwältigen des Anderen, als reines Überstimmen versteht, sondern dem durchaus – und sei es als regulative Idee – ein „Wir“, ein Miteinander, vielleicht auch „nur“ ein Kompromiss vor Augen schwebt, der wird sich auf die Suche nach der „Blauen Blume“ begeben müssen – und zum Lohn in der hoffentlich weiten Welt des eigenen Vorstellungsvermögens auch eine Sprachfigur oder ein Gedankenbild erringen, auf die oder das sich jeder, jede, jedes einigen kann, weil es weit auslegbar ist und somit allseitige Gesichtswahrung glückt. Den zu einer solchen Wanderschaft nötigen Leidensdruck kann eventuell die Erkenntnis (mit-)erzeugen, dass solcherlei Etiketten – wie sie „konservativ“ und „fortschrittlich“ inzwischen im politischen Alltagsscharmützel darstellen – immer und überall relativ sind: Universitäten, im Mittelalter (in der Regel) zur Stärkung der Monarchie gegründet, gelten in
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Deutschland spätestens ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Schulen der Demokratie; die im 19. Jahrhundert für die Demokratie kämpfenden studentischen Verbindungen werden dagegen heutzutage vielerorts als reaktionär betrachtet; und ausgerechnet diejenigen, die eine konservative Haltung an und für sich intellektuell degoutieren, halten mittlerweile am Hergebrachten fest – die „68er“. Dadurch, dass man nach der (mehr oder weniger) erfolgreichen Durchsetzung der jeweils eigenen gesellschaftspolitischen Forderungen fast schon automatisch in den Verwaltungsmodus schaltet, wird jede (dem Selbstverständnis nach) auch noch so progressive Bewegung – als Hüter des selbstgefertigten Grals – schließlich konservativ. Demnach können die 68er des Jahres 2019 als das (paradoxe?) Paradebeispiel für lupenreine Konservative gelten. Es mag widersprüchlich klingen, doch auch und gerade das Konservative aktualisiert sich Jahr um Jahr. Insofern zeugt die Abstempelung von etwas als „konservativ“ eher von einer subjektiven Haltung, dient aber nur bedingt als konstruktives Argument im politischen Diskurs (insofern es sich zwar sehr gut zur Bildung der eigenen Identität eignet, aber eben auch zur Polarisierung beiträgt). Was also könnte ein „akademisches“ Beispiel für einen gemeinsamen Nenner zwischen den so gescholtenen „Konservativen“ und ihren Kritikern sein? Zählt man die Alt-68er aufgrund ihrer aktuellen Haltung zu den Konservativen und bedient sich (sowohl der Konsequenz als auch der politischen Korrektheit willen) des durch die 68er beeinflussten, letztlich also ihres eigenen Sprachgebrauchs (konservativ, verknöchert, versteinert), ergibt dies – nach Adam Riese – versteinerte 68er. Während eine Fossilisation sich jedoch normalerweise in geologischen Zeiträumen vollzieht, konnte man die geistige Erstarrung der 68er praktisch in den letzten Jahrzehnten wie in einem Zeitraffer live erleben. Schon allein aus diesem Grund, also zur didaktischen Verdeutlichung eben dieses Prozesses, müsste man daher die 68er-Generation allen sowohl naturwissenschaftlich als auch politisch Interessierten dauerhaft vor Augen führen, etwa indem man die solchermaßen Petrifizierten auf einen Sockel hievt. Aus Sicht der solchermaßen Geehrten würde allerdings wohl nur ein Argument für ein eigenes Denkmal sprechen: Denn mit ihrem eigenen in Stein gemeißelten Negativbeispiel warnten sie all ihre diversen Ziehkinder auf ewiglich vor den Gefahren des bezirzenden Konservatismus! Und zur Würdigung wiederum eben dieser politischen Opferbereitschaft könnte
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man das Podest ja mit der Inschrift „Zum lebendigen Gedächtnis der 68erPetrifizierung“ zieren. Zur Ehrenrettung der jeglichen Ehrungen natürlich ablehnend gegenüberstehenden 68er wird sicherlich beitragen, dass an unseren (nicht zuletzt durch sie selbst geformten) Universitäten eine geisteswissenschaftliche Denkweise entwickelt wurde, die – so möchte man meinen – allein dazu dient, auf Podeste gestellte Dinge wieder zu stürzen: Die wissenschaftliche Dekonstruktion sämtlicher Vorbilder und Gründungsmythen vollzieht sich fast schon fließbandmäßig, automatisch. Ein objektiver Dritter könnte daher fast den Eindruck gewinnen, als ob unsere vom tausendjährigen Muff befreite Wissenschaftskultur nicht mehr in der Lage oder gar willens sei, etwas zur Identifikation Befähigendes oder Einladendes aufzubauen: Aus Angst vor Großem darf es keine Größe geben, nicht in der Geschichte, nicht im Hier und Jetzt. Beispielhaft zeigt sich dies an den mit schöner Regelmäßigkeit vorgetragenen Versuchen, Karl den Großen als Gründungsvater Europas aufzubauen (etwa in den Festreden des Aachener Karlspreises oder den Predigten des Frankfurter Karlsamts). Allein, es will nicht recht, es soll wohl nicht gelingen. – Also besser doch kein Denkmal und sei es für die 68er? In der Tat würde man bei der Errichtung eines 68er-Denkmals wohl Gefahr laufen, erneut Zeuge eines denkwürdigen Vorgangs zu werden: Wie die konservativ gewordenen Alt-68er ihrem steinernen jüngeren Selbst gegenübertreten und ihre Monumentalisierung bekämpften, um auch nur ja nicht zu Ehren der Republik erhoben zu werden. Während Teile der 68er im 20. Jahrhundert jedoch mit steinernen Argumenten um sich warfen oder miteinander Verbindendes (wie Straßen und Wege) statuarisch sitzend blockierten, würden mittlerweile die ihrem Selbstverständnis nach im Geiste versteinerten, doch ansonsten höchst agilen Alt-68er zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen im 21. Jahrhundert wohl ausschließlich auf die Kraft des Wortes setzen. Dabei mag es durchaus ironisch anmuten, dass die honorig gewordenen 68er ihre rhetorischen Fähigkeiten, mit denen sie auf so staatsmännische Art belehren und bekehren können, nicht zuletzt in und an den Universitäten erworben haben. Denn gerade hier ist die Kunst des verträglichen Argumentierens zu Hause, ist das regelgebundene Streitgespräch seit ehedem impliziter Teil des akademischen Curriculums: Seit der „fröhlichen“ Scholastik wird an den Universitäten das Diskutieren und Dispu-
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tieren gelehrt und gelernt. Wer sich darin übt, mittels verbaler Argumente zu überzeugen, lässt sich zugleich auf den Disput zum Interessenausgleich ein, auf die Diskussion als Mittel der politischen Gestaltung, und immatrikuliert sich damit unweigerlich in die angeblich ach so muffige Tradition der Universität – womit die konservativ gewordenen 68er sich obendrein auch noch einer konservativen Praktik bedienen. Ein (dann der Ironie halber aber bitte steinernes) Denkmal für die 68er – den einen zum Ruhm bzw. als stetige Warnung vor den Folgen konservativen Denkens, den anderen zur Bestätigung ihrer Annahme, dass selbst die 68er letztlich konservativ geworden sind bzw. zur grundsätzlichen Demonstration, dass eben auch in unserer scheinbar deutlich links-liberal geprägten Zeit Großes zu errichten gelingt. Wäre dies nicht ein auf Konsens abzielendes Vorhaben, eine metaphysische Wanderschaft in Richtung gesellschaftlichen Zusammenhalts? Gleichsam eine „Blaue Blume“ des staatlichen Gemeinschaftssinns? Zuschriften erwünscht!
Konservative, außer Dienst Von Bernd Stegemann Arnold Gehlen fasste 1969 in seinem Buch Moral und Hypermoral die konservative Gesinnung in einem bemerkenswerten Satz zusammen: „Der jedermann zugängliche Weg zur Würde sei, sich von den Institutionen konsumieren zu lassen, mit einem Wort: Dienst und Pflicht.“ Schon damals räumte er ein, dass eine solche Aussage wohl nur noch Unverständnis hervorrufen würde. Doch eine bessere Definition konservativer Werte wird in einer bürgerlich spätkapitalistischen Gesellschaft schwer zu finden sein. Der Begriff des „Konservativen“ hat wie alle anderen Wertzuschreibungen nicht zu allen Epochen den gleichen Gehalt. Der Konservatismus eines Monarchisten, der sich gegen die Demokratie stemmt, ist ein anderer als derjenige eines Zeitgenossen, der sich dem Dienst an einer Institution verpflichtet fühlt. Ersteren kann man nur noch milde belächeln, über den zweiten lassen sich einige Überlegungen anstellen. Welche Institutionen sind es wert, ihnen zu dienen? Wo hört das Dienstverhältnis auf und es beginnt die gedankenlose Unterordnung? Wo gilt der lateinische Spruch: „Serva ordinem et ordo servabit te?“ Und wo erdrosselt die Ordnung den einzelnen Menschen? Mit anderen Worten, wo ist Institutionenkritik notwendiger Bestandteil von gesellschaftlicher Entwicklung, und wo ist die Freiheit des Einzelnen gegen den Zugriff der Institutionen zu verteidigen? Diese Fragen gehören jedoch seit vielen Jahrzehnten zum Kernbestand linker Politik. Konservative Stimmen haben sich diesen Mühen der Selbstkritik immer nur ungern unterzogen und scheinen in Zeiten, wo der Fortschritt immer schneller wird und seine Folgen immer unberechenbarer werden, schließlich damit aufgehört zu haben. Stattdessen haben sie sich in die Rolle des mahnenden Rufers begeben und sind von da aus immer weiter an den Rand der öffentlichen Auseinandersetzungen gedrängt worden. Im steten Kampf zwischen individuellen Freiheiten, allgemeiner Gleichheit und der Bewahrung des Bestehenden schienen sie ab-
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wechselnd genervt von der Fülle egoistischer Ansprüche, gehetzt von dem Tempo der Veränderungen und entkräftet von der Komplexität der Widersprüche einer postmodernen Gesellschaft. Die Erosion aller Bindungen, die die Postmoderne auszeichnet und die von ihren Chefdenkern aktiv vorangetrieben wurde, hat nicht nur das linksdogmatische Denken bis zur Ohnmacht dekonstruiert, sie hat vor allem die emotionale und hermeneutische Grundlage konservativer Lebensentwürfe untergraben. In einer Welt, in der es für jedes Ziel einen Zielkonflikt gibt und jeder Anspruch auf gleichberechtigte Gegenmeinungen trifft, wird die Pflichterfüllung schnell zu einer Attitüde, die vor allem als Abwehr ungeliebter Ambivalenzen wirkt. Heute stehen die Konservativen meistens am Rande des Spielfeldes und schauen missgelaunt dabei zu, wie die Virtuosen der Vernetzung und der hypothetischen Wahrheiten keine Grenzen in der Steigerung der Komplexität zu kennen scheinen. So ist z. B. der aktuelle Aufstieg der Grünen vor allem dieser Temposteigerung zu verdanken. Sie stehen für ein erkennbares Thema, das gerade Hochkonjunktur hat, und jonglieren das Chaos der Zielkonflikte, das eine wirksame Umweltpolitik zur Folge hätte, so geschickt, dass niemand Angst vor konkreten Maßnahmen bekommen muss. Ihr propagierter Wert findet allgemeinen Applaus, um die Details sollen sich andere kümmern. Nicht wenige meinen, in dieser Arbeitsteilung den zeitgemäßen Stil einer konservativen Partei zu erkennen, denn die Bewahrung der Natur ist ein elementar konservativer Wert. Doch der Einschätzung, dass aufgrund eines Werte-Bekenntnisses die Grünen eine konservative Partei seien, muss deutlich widersprochen werden. Wenn man Gehlens Diktum ernst nimmt, ist es gerade nicht allein das Bekenntnis zu den Werten, das den Konservativen ausmacht, sondern seine Ausdauer und Detailverliebtheit, auch die schwierigste Aufgabe lösen zu wollen. Oder anders formuliert, dass die Grünen die Details hintenanstellen und sie genau damit erfolgreich sind, zeigt, wie sehr es der Gesellschaft gerade an konservativen Eigenschaften mangelt. Vom aktuellen Randplatz der Konservativen aus scheint sich die Welt immer schneller zu drehen und an konkrete Lösungen ist gar nicht mehr zu denken. Das macht wiederum vielen Menschen dort Angst und ihre Zwischenrufe werden ärgerlicher, wenn sie nicht gar zu einem wütenden Bellen werden. So wird aus einer sich selbst zur Nutzlosigkeit verdammten Haltung eine Quelle von Frustrationen, die schließlich zu
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den toxischen Verfallsformen rechter Gesinnung führt. Wenn man den Konservativen in ihrem Niedergang etwas raten dürfte, dann wäre es, ein wenig dialektisches Denken zu wagen. Ihre gefühlte Ohnmacht und Wut sind Folgen ihres Randplatzes. Diesen haben sie aber nicht durch ein böses Schicksal zugeteilt bekommen, sondern er ist die Folge ihres Kleinmutes. Ihr Dienst an den Institutionen wurde durch drei historische Ereignisse entwertet: In den Kriegen des 20. Jahrhunderts hat sich jedes Dienstverhältnis radikal disqualifiziert. Emblematisch hierfür war die Aussage von Oskar Lafontaine, der Helmut Schmidt für seine Tugenden von Pflichtgefühl, Machbarkeit und Standhaftigkeit attestierte, dass man damit auch „ein KZ leiten könne“. Zum zweiten propagiert die neoliberale Ökonomie einen gesellschaftlichen Umbau, bei dem nicht mehr die Zuverlässigkeit oder die Erfahrung wertgeschätzt werden, sondern der flexible Mensch. Jeder soll sich täglich den neuen Herausforderungen stellen, ohne dabei auf alte Lösungen zurückzugreifen. Die schöpferische Zerstörung gilt als Maß des Fortschritts. Wer auf Bewährtem beharrt, ist bald arbeitslos. Aus dieser Lage resultiert dann drittens der konservative Kleinmut, der die Eigenschwere der Institutionen vor allem zur Abwehr der Zumutungen einer permanenten Veränderung nutzt. Das Dienstverhältnis hat sich damit umgedreht und wird zu genau dem, was die Konservativen bisher an den Linken beklagt haben. Die ängstlichen Konservativen fragen nicht mehr, was sie für die Institution tun können, sondern sie gebrauchen deren Gewicht als Schutzschild für die persönliche Angst vor der Veränderung. Der Konservatismus ist also zwischen die Mühlsteine einer aggressiven Innovation und der Entwertung aller dienenden Lebensverhältnisse geraten. Währenddessen hat der Liberalismus den Rückenwind aller globalen Befreiungsbewegungen genutzt, seien sie politische, kulturelle oder ökonomische Liberalisierungen. Beide Seiten sind inzwischen weit über das Ziel hinausgeschossen. Die Befreiungen des Liberalismus produzieren in Gestalt des Neoliberalismus ökonomische, soziale und klimatische Großkatastrophen in Serie. Und die Konservativen am Spielfeldrand ziehen sich immer weiter in die Rolle des unzufriedenen Nörglers zurück. Und so sitzt heute eine Partei im Bundestag, die von sich selbst behauptet, sie sei das letzte Aufgebot des Konservatismus. Und damit spricht sie tatsächlich eine Wahrheit aus, wenngleich das Bild in einer ganz anderen
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Weise stimmt, als sie es gerne hätte. Denn die AfD ist das getreue Abbild der verzweifelten Lage, in die sich der Konservatismus gebracht hat: Wütende Zwischenrufe von der rechten Seitenlinie. Das Spiel machen hingegen andere, indem sie ihren jeweiligen Herren dienen, seien es die Interessen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer oder der Natur, und in den meisten Fällen dienen sie allein sich selbst. Denn die Vereinigung von Herr und Knecht in einer Person entspricht dem aktuellen Menschenbild im Spätkapitalismus, das den Unternehmer seiner selbst propagiert. In einer konservativeren Zeit hätte man hierin wohl eine narzisstische Störung erkannt, heute ist es der Weg zum Erfolg. Wem hingegen die AfD dient, ist nicht herauszubekommen, da ihre Abgeordneten vor allem ihrer idiosynkratischen Wut folgen. Dass diese dann mit dem altgriechischen Begriff des „thymos“ zu einer wertvollen politischen Kraft geadelt werden soll, täuscht nur unzulänglich über das ideologische Vakuum hinweg. Denn wenn die Wut ihr eigener Inhalt wird, ist sie die gleiche Spielerei wie all die anderen postmodernen Selbstreferenzen, wo etwa der Klang der Stimme zum Inhalt der Rede wird. Man möchte den selbst ernannten Konservativen hier als Pointe zurufen, dass solche Spielarten von Egozentrik doch einst als größter Fehler einer narzisstischen Gesellschaft galten und vor allem den Linken vorgeworfen wurden. Die Pointe besteht also darin, dass die Konservativen vollständig von der Postmoderne vereinnahmt worden sind. Ein bemerkenswertes Paradox, das aufzulösen bisher noch niemandem gelungen ist. Was also aktuell im politischen Spektrum fehlt, ist der Bereich, wo einst die ernsthafte Besonnenheit zu Hause war. Wo sind im öffentlichen Raum die konservativen Stimmen, die auf der Höhe der Komplexität operieren und nicht bei den Ritualen der allgemeinen Empörung mitheulen? Wer die beiden hitzigsten Debatten der letzten Jahre verfolgt hat, die Migrations- und die Umweltkrise, der hat wenig Hoffnung, dass mit den Methoden der populistischen und moralischen Zuspitzung gesellschaftlicher Fortschritt zu erzielen ist. Wenn die eigene politische Meinung nur noch im Modus der absoluten Gültigkeit vorgebracht werden kann und jede Gegenmeinung als böse und menschenfeindlich gebrandmarkt wird, eskaliert der Streit um die Sache immer schneller zu einem Kampf zwischen Feinden. Und wenn nicht wenige meinen, sie könnten die Missstände der Welt dadurch beheben, dass sie zuerst einmal die Worte verbieten, mit denen das Übel benannt werden kann, so verweigern auch diese
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Anhänger einer politisch korrigierten Sprache die Mitarbeit an der Verbesserung der Welt und richten sich stattdessen im Einklang ihrer Community ein. Und wenn jeder Widerspruch im Modus des Moralisierens ausgetragen wird, gerät die öffentliche Kommunikation immer mehr zu einem Theater egozentrischer Pöbler und Besserwisser. Die wenigen Stimmen, die sich hiervon nicht anstecken lassen, könnten von links bis rechts eine Portion Gehlen’scher Leidenschaft für den Dienst gebrauchen, was nichts anderes hieße, als die Probleme ernst zu nehmen und die eigenen Fähigkeiten für die Arbeit an einer Lösung zur Verfügung zu stellen.
Chamäleon Konservatismus Der Konservatismus ist weder Programm noch Philosophie, sondern eine Reaktion gegen den Umbruch, die in jeder Epoche eine neue Gestalt annimmt Von Josef Joffe Den Konservatismus gibt es nicht – und schon gar nicht den „Konservativismus“, der eine deutsche Marotte ist. Denn der Konservatismus ist keine geschlossene Philosophie oder Ideologie wie etwa Sozialismus, Kommunismus oder Liberalismus. Der Konservatismus ist vorweg eine Reaktion auf gewaltsame historische Verwerfungen. Wahrscheinlich darf man die Erfindung des Begriffs dem französischen Denker François-René de Chauteaubriand zuschreiben, der während der Bourbonen-Restauration die Hinterlassenschaft der Revolution von 1789 ff. zerlegen wollte – zurück zu Monarchie, Kirche und Ständestaat. Zwei andere zentrale Vordenker waren de Maistre und de Bonald, Reaktionäre und Autoritäre, bei denen sich der Konservatismus zur Gegen-Aufklärung steigerte. Die Säulen dieses Konservatismus waren Thron und Altar, deren Garant war bei de Maistre der Henker, nachgerade eine metaphysische Gestalt. Am entgegengesetzten Ende des Spektrums, aber ebenfalls als Reaktion gegen die Revolution, artikulierte in Großbritannien Edmund Burke seine Vorstellung vom Konservatismus. Nennen wir diese „Liberal-Konservatismus“, der in der englischen Freiheitstradition wurzelt. Burke wird in der angelsächsischen Welt als Meisterdenker des Konservatismus verehrt. Die Jakobinische Revolution war ihm ein Gräuel. Andererseits verteidigte er leidenschaftlich die Amerikanische Revolution. Sie war ihm das absolute Gegenteil der Französischen. Sie richtete sich nicht gegen König und Adel, Religion und Aufklärung, sondern gegen die Willkür von George III, der den britischen Bürgern in den Kolonien die angestammten Freiheiten zu nehmen versuchte.
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Für Burke verhielt sich die Amerikanische zur Französischen Revolution wie der Himmel zur Hölle. In Frankreich floss Blut in Strömen. In Amerika ging es um Demokratie, im Naturrecht verankerte Bürgerrechte und den liberalen, also begrenzten Staat. In Frankreich säten die Jakobiner Terror und Vernichtung, um den totalen Machtstaat zu errichten. Nicht nur die Aristokratie wurde dezimiert, sondern auch die Kurie. Folglich gingen bei Burke Konservatismus und Freiheit Hand in Hand, während die französischen Reaktionäre rachsüchtige Unterdrücker waren. Nur das Vorzeichen der Repression hatte sich seit dem Terreur umgekehrt. Burkes Konservatismus war im Kern ein liberaler. Doch hat dieser Konservative keine explizite Theorie des Konservatismus verfasst. Die gibt es nicht. Zwischen dem Konservatismus und den anderen Ismen klafft ein mächtiger Unterschied. Grundsätzlich ist der Konservatismus kein festgemauertes Ideologie-Gebäude, das die Welt erklärt und den Weg in eine lichte Zukunft weist. Der Konservatismus ist eine Reaktion, die sich gegen radikale Umwälzungen richtet – je nach Autor, Ort und Epoche. Die beste Definition lieferte vor sechzig Jahren der Tory-Chef Quintin Hogg: „Der Konservatismus ist nicht so sehr eine Philosophie als eine Haltung – eine bleibende, die eine zeitlose Aufgabe in der Entwicklung eines freien Gemeinwesens erfüllt.“ Haltung statt Dogma, Freiheit statt Unterdrückung – das ist die knappste Definition. Hinzufügen darf man eine Vielfalt von Elementen aus dem Baukasten des Konservatismus: Ordnung, Stabilität, Tradition, Fortschrittsskepsis, Religiosität, Autorität, Gemeinschaft, Selbstzucht, Caritas, Patriotismus, Hierarchie, Naturrecht, das kein Herrscher antasten darf. Der klassische Konservatismus ist Reaktion, nicht reaktionär. Er ist nicht grundsätzlich gegen das Neue, plädiert auch nicht für einbetonierte Verhältnisse. Nur liegt die Beweislast bei den Verfechtern des Wandels, etwa so: „Was lange währt, ist gerechtfertigt, weil es offensichtlich menschlichen Bedürfnissen dient. Was gut funktioniert hat, darf nicht aus Lust und Laune demontiert werden. Folglich heischt die Veränderung der Verhältnisse zwingende Begründungen.“ Man könnte den Konservatismus nicht nur als Haltung, sondern auch als anthropologische Konstante betrachten. Beispiele: Wir ziehen das alte Jugendstil-Gebäude dem neuen Beton-Kasten vor, den gewachsenen Wald dem monotonen Maisfeld. In diesem Sinn ist „Grün“ gleich konservativ.
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Wir lieben uralte Märchen und merken nicht, dass die Comics auf Youtube die gleichen Archetypen bedienen. Selbstverständlich war früher nicht alles besser, aber im Vertrauten wurzeln Sicherheit und Berechenbarkeit. Das Kleinkind will immer wieder mit denselben Liedern in den Schlaf gesungen werden, weil im Ritual Geborgenheit steckt. So gesehen, sind wir alle konservativ. Da aber Ort und Epoche die Hauptrolle in der konkreten Ausgestaltung des Konservatismus spielen, gibt es so viele Variationen wie Regime und Zeitläufte. Der Konservatismus ist ein gar flexibles Ding. Edmund Burke verkörpert den liberalen Konservatismus – oder den konservativen Liberalismus. De Maistre repräsentierte die reaktionäre, freiheitsfeindliche Spielart. Metternich, der das Habsburger Staatsvolk mit einem Netz von Spionen überzog, war ein Autoritärer von reinstem Wasser, der die Machtverhältnisse für alle Ewigkeit einfrieren wollte. War auch Bismarck ein Konservativer, der ebenfalls das Jetzt festzurren wollte? Gewiss doch. Aber Henry Kissinger nennt ihn einen „Weißen Revolutionär“. Dieser verstand sehr wohl, dass Reform die beste Bestandssicherung war. Also erfand der „Eiserne Kanzler“ den modernen Wohlfahrtsstaat, der die murrenden Massen ruhigstellen sollte. So mutierte Bismarcks Konservatismus zur ungewollten Fortschrittsideologie. Der Tory-Premier Benjamin Disraeli (1804 – 1888) spielte in Großbritannien eine ähnliche Rolle. Um das royale System zu bewahren, sollte der Staat die ungezügelten Märkte des aufsteigenden Kapitalismus regulieren und die Einkommen, wenn auch bescheiden, von Reich nach Arm umverteilen. Bemerkenswert ist die Bandbreite des Konservatismus: Es gibt Nationalkonservative, die ins Völkische abgleiten, die Nation oder Ethnie geradezu vergöttlichen. Autoritäre Konservative wie Franco und Salazar in Iberien oder Engelberg Dollfuß in Österreich pflegten dagegen nicht den völkischen, sondern den autoritären Nationalismus. Die Freiheit im Sinne von Burke war ihnen ein Gräuel. Sie wollten eine „formierte“, von oben gelenkte Gesellschaft. Dass diese Konservativen auch Faschisten waren, ist richtig. Freilich bekämpften sie sowohl den Kommunismus als auch den deutschen Nationalsozialismus. Was ist denn Konservatismus heute? In Deutschland wird der Konservatismus gern mit „Rechts“ verwechselt, mit der alten NPD und der jungen AfD. Die echten Rechten, die Nazis, waren freilich alles andere als konservativ. Der amerikanische Historiker David Schoenbaum sprach
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zu Recht von der „braunen Revolution“ des Kleinbürgertums. Ihr Programm war der totale Umsturz, die Entmachtung der alten Eliten und die industrielle Modernisierung um jeden Preis. Revolutionärer, also anti-konservativer, geht es nicht. Gibt es eigentlich Konservative im heutigen Deutschland? Ein Konservativer will kaum jemand sein. Doch Bewahrer sind alle Parteien. Sie alle pflegen den Sozialstaat und akzeptieren nur die „soziale“ Marktwirtschaft. Doch jenseits dieser Marksteine fristet der klassische Konservatismus ein bescheidenes Dasein in Deutschland. Gott und Glauben, eine Säule des Konservatismus, verblassen, die Kirchen leeren sich. Nationalismus ist jenseits vom Fußballstadion verpönt, der starke Staat, den Konservative einst zu schätzen wussten, ist im politischen Markt der Bundesrepublik kein Hit. Ordnung und Hierarchie sind es auch nicht, stattdessen regiert das Selbst wie in Selbstbestimmung, -verwirklichung und -optimierung. Jahrtausende alte sexuelle Tabus sind gefallen, Geschlecht ist eine Frage der persönlichen Entscheidung. Mit dem modernen Konservatismus, verkörpert von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, hat der deutsche, der europäische Konservatismus kaum zu tun. Die fochten in ihrer Zeit für Deregulierung und freie Märkte; hinzu kamen Nationalismus, Sendungsbewusstsein und der Einsatz militärischer Gewalt. Diese jüngste Variante des Konservatismus war wie all seine Vorgänger eine Reaktion, und zwar gegen den ausufernden Steuerund Wohlfahrtsstaat. Zugleich aber propagierte dieser Konservatismus den radikalen Werte- und Wirtschaftswandel, also die Entmachtung des Überkommenen. In diesem Sinne gibt es in der Tat keinen Konservatismus in Deutschland. Die AfD schätzt Umverteilung und den Sozialstaat nicht weniger als die etablierten Parteien (mit partieller Ausnahme der FDP). Die CDU gilt als konservativ, ist aber Lichtjahre von Reagan-Thatcher entfernt. Kehren wir zum Anfang und Edmund Burke zurück: zum Konservatismus als Bollwerk der Freiheit, das in der Tradition verankert ist. Nur ist die gegenwärtige westliche Gesellschaft so frei wie noch nie; es gilt das Vorrecht des Individuums gegenüber Staat, Vaterland und Autorität. Unwillkürlich fragt da der Historiker des Konservatismus, ob oder wann die Gegenbewegung, die Reaktion gegen Individualismus und Gemeinschaftsverlust einsetzt, der von immer enger gestrickter Identitätspolitik nicht kompensiert wird.
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Das können wir nicht wissen, weder in Politik noch Kultur. In der politischen Arena fällt lediglich der Verfall der alten Volksparteien sowie der Aufstieg der einstigen Nischenparteien auf, links wie rechts. Kulturell darf man den wachsenden Widerstand gegen einen allzu rasanten Wandel registrieren, der sich in der Sehnsucht nach Natur- und Landschaftsschutz, im Widerwillen gegen Globalisierung und offene Märkte manifestiert. Das ist „konservativ“ im wahrsten Sinne des Wortes. Bloß ist „konservativ“ nicht cool. Gewiss ist nur, dass im Westen die Politik gerade neu erfunden wird und links wie rechts um Deutungshoheit und Vorherrschaft kämpfen. Das Neue, das sich vor unseren Augen formiert, kann logischerweise nicht konservativ sein. Oder doch – weil das schiere Tempo der Verwerfungen, der beschleunigte Umbruch der Lebens- und Produktionsbedingungen den Konservatismus als Reaktion zu neuem Leben erwecken könnte. Der Konservatismus ist ein Chamäleon der Moderne – seit der Französischen Revolution.
Vollbremsung! Von Sahra Wagenknecht Bestehendes bewahren zu wollen gilt allgemein als konservativ. Aber damit fangen die Probleme an. Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann hat einmal gesagt: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“ Das ist eine weise Aussage, die von konservativen Parteien oft nicht begriffen wird. Dagegen spüren vor allem junge Menschen sehr genau, dass wir mit einem Kurs des „Weiter so“ in Katastrophen hineinsteuern. Wenn unser Klima, Artenvielfalt, saubere Luft und sauberes Wasser sowie fruchtbare Böden erhalten bleiben sollen, kann die Politik nicht so weiterwursteln wie bisher. Nötig sind radikale Maßnahmen, die bei den Hauptverursachern der Klimakrise ansetzen: bei den großen Energie-, Chemie- und Automobilkonzernen, aber auch bei den Superreichen, die sich mit ihren Villen, Privatjets und Luxusautos, Swimmingpools und Golfplätzen einen Lebensstil leisten, der für unseren Planeten nicht tragfähig ist. Derzeit verbraucht die Menschheit eineinhalb bis zweimal so viele Ressourcen wie die Natur im gleichen Zeitraum regeneriert. Wenn alle Menschen so lebten wie die Millionäre, bräuchten wir vermutlich 30 oder mehr Planeten, schließlich gehen rund 20 Prozent aller durch Konsum entstehenden CO2-Emissionen auf das reichste Prozent der Weltbevölkerung zurück. Darf man als konservativer Mensch zulassen, dass unser Planet verheizt und zugemüllt wird? Ich finde: Wo ein Zug auf den Abgrund zusteuert, muss die Notbremse gezogen werden. Je länger wir an überkommenen Strukturen der Produktion, des Austausches und der Verteilung festhalten, desto schärfer wird die Notbremsung eines Tages ausfallen müssen. Dabei hängt die Umweltfrage eng mit der Frage von Krieg und Frieden zusammen. Es ist ein Irrsinn, wie viel Geld und fossile Ressourcen von einer Kriegsmaschine verbraucht werden, deren Hauptzweck darin besteht, sich Rohstoffe in fremden Ländern anzueignen. Allein das US-Militär verbraucht auf seinen weltweit 7.000 Militärbasen rund 320.000 Bar-
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rel Öl pro Tag. Obwohl das Pentagon mehr fossile Ressourcen und hochgiftigen Müll produziert als die meisten Staaten dieser Welt, ist es von sämtlichen internationalen Klima- und Umweltabkommen ausgenommen. Wer den Weltfrieden und die Umwelt bewahren will, sollte Geld in Solaranlagen statt in Panzer stecken und dafür sorgen, dass kein weiteres Blut für Öl vergossen wird. Dazu kann aber das westliche Militärbündnis der NATO nicht bleiben wie es ist. Es muss von einem globalen Interventionsbündnis in ein Verteidigungsbündnis zurückverwandelt werden, das ausschließlich im Rahmen des Völkerrechts agiert – oder man muss aus den militärischen Strukturen des Bündnisses austreten. Auch für die Europäische Union gilt, dass sie tiefgreifend verändert werden muss, damit sie bewahrt werden kann. Europa – damit waren einst die großen Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution verbunden: Freiheit, Gleichheit, solidarisches Miteinander. Aber was ist davon geblieben? Wir erleben derzeit, wie eine EU sich selbst zerreißt, weil sie den Begriff der Freiheit mit neoliberaler Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit verwechselt. Die Kluft zwischen oben und unten, zwischen boomenden Zentren und abgehängten Randgebieten wird immer größer, dafür liefern der Brexit, die Sezessionsbemühungen Kataloniens, aber auch der soziale Aufstand der „Gelbwesten“ in Frankreich eindrucksvolle Beispiele. Bei den jüngsten Europawahlen sind rechtspopulistische Parteien u. a. in Großbritannien, Italien und Frankreich zur stärksten politischen Kraft gewählt worden. Das ist schlimm, aber es ist nicht die Ursache, sondern lediglich das Symptom einer tiefen Krise der EU. Der ungebremste Standortwettbewerb, der zu Lohn- und Steuerdumping führt, der Druck zur Liberalisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Dienste, das Sozialund Regulierungsdumping durch Konzerne und Banken – all dies ist mit neoliberalen Verträgen eng verknüpft, die der EU zu Grunde liegen. Die EU bräuchte daher eine neue Verfassung, in der soziale Grundrechte Vorrang haben vor Binnenmarktfreiheiten oder Wettbewerbsregeln. Auch das Euro-Regime müsste reformiert werden, da es zu einer gewaltigen Unwucht im Außenhandel beiträgt. Zwar ist eine unterbewertete Währung für deutsche Exportkonzerne von Vorteil. Doch die Kehrseite der exorbitanten deutschen Außenhandelsüberschüsse sind Schuldenkrisen, Lohn-
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und Rentenkürzungen, Arbeitsplatzvernichtung sowie der Ausverkauf öffentlichen Eigentums in ökonomisch schwächeren Ländern. Die EU kann nur verändert werden, wenn Deutschland sich verändert. Keine Demokratie hält es auf Dauer aus, wenn nur eine Minderheit von wirtschaftlichem Aufschwung profitiert. Genau das ist aber seit Jahren der Fall: Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sind die Realeinkommen der oberen zehn Prozent seit der deutschen Einigung um mindestens 35 Prozent gestiegen. Dagegen haben die unteren 20 Prozent vom Wirtschaftswachstum kaum profitiert, die ärmsten 10 Prozent sind sogar noch ärmer geworden. Ist es mit dem Sozialstaat und der Forderung nach gleichen Lebenschancen vereinbar, wenn Milliardenerben an einem Tag mehr Dividenden einstreichen als andere in ihrem ganzen Leben durch harte Arbeit verdienen? Ist es mit der Demokratie vereinbar, wenn Finanzinvestoren tausende Arbeitsplätze vernichten, um kurzfristig Profite zu realisieren? Ist es mit unseren rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar, wenn Konzerne in unsere Privatsphäre eindringen, mit unseren Daten Geschäfte machen, aber kaum einen Euro an Steuern abführen? Ist es mit der Menschenwürde vereinbar, wenn sich Hedgefonds in Pflegeheime einkaufen, um mit der Pflege hilfsbedürftiger Menschen Reibach zu machen? Zumindest mit der katholischen Soziallehre, die einst konservative Politik bestimmt hat, ist all dies nicht vereinbar. Was ist konservativ? Die Antwort auf diese Frage steht und fällt mit der Zeit. Mein Büro im Bundestag befindet sich im Jakob-Kaiser-Haus – es wurde benannt nach einem Mitbegründer der CDU, einem christlichen Gewerkschafter, der gegen das Nazi-Regime gekämpft hatte und sich später als Brückenbauer zwischen Ost und West verstand. Doch mit seinen Positionen wäre Jakob Kaiser heute bei der Linken besser aufgehoben als bei der Union. In seiner ersten programmatischen Rede als Berliner CDU-Vorsitzender proklamierte er im Februar 1946 einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung.“ Damit meinte er „eine Wirtschaftsordnung, in der die allgemeine Richtung der Produktion und die Grundzüge der Versorgung von der öffentlichen Hand entschieden, in der wirtschaftliche Vormachtstellungen von der Allgemeinheit überwacht und, wenn nötig, besetzt werden“. Als wichtigste Aufgaben der öffentlichen Wirtschaftslenkung wurde „die dauerhafte, billige und gleichmäßige Versorgung des ganzen Volkes mit den vordringlichen Massengütern der Ernährung, der Bekleidung und des Hausrats, die Beschaffung
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gesunder Wohnungen und die Vollbeschäftigung aller Arbeitsfähigen sowie vor allem auch die pflegliche Nutzung des Landes, der Bodenschätze und anderer Rohstoffe“ definiert. Sicher – all dies ist lange her. Doch deshalb muss es nicht verkehrt sein. Ein weiteres Beispiel liefert unser Grundgesetz, in dem die aus den bitteren Erfahrungen mit Krieg und Faschismus gezogenen Lehren ihren Niederschlag gefunden haben. Wären diese Erfahrungen, wären die Positionen eines Jakob Kaiser heute noch maßgeblich für konservative Parteien, so würde ich mich auf Koalitionsverhandlungen mit der Union freuen.
Heimat ist dort, wo man ohne Worte verstanden wird Von Jörg Baberowski „Ich glaube“, schreibt der schwedische Schriftsteller Göran Rosenberg in seinem Roman Ein kurzer Aufenthalt, „kein Ort kann jenen Ort ersetzen, an dem wir zum ersten Mal Worte finden für die Welt und sie mit anderen Menschen teilen und sie uns aneignen.“ Und er fährt fort: „Ich weiß, daß manche meinen, ein solcher Ort ließe sich, gleichgültig, wo und wann, aufs Neue errichten, aber ich glaube das nicht. Ich glaube, daß der Ort, der uns geformt hat, uns weiterformt, auch wenn wir ihn verlassen haben und anderswo heimisch geworden sind. Oder anders, wir können anderswo nur heimisch werden, wenn eine Verbindung mit dem Ort, den Menschen und der Sprache, die uns geformt haben, fortbesteht.“ Rosenbergs Vater hatte das Vernichtungslager Auschwitz überlebt, 1945 kam er nach Schweden. Er gab sich Mühe, er wollte ein anderer sein, aber er wurde die Furien nicht mehr los, die ihn Nacht für Nacht verfolgten. Am Ende ging er ins Wasser. Was der Sohn war, konnte der Vater nicht werden. Er fand keine Sprache für das, was er erlebt hatte und für den Ort, aus dem er gekommen war. Niemand verstand ihn. Selbst in Deutschland, im Land der Täter, hätte er jemand sein können, der verstanden worden wäre. In Schweden, wo niemand eine Vorstellung davon hatte, woher er kam und was er durchlitten hatte, blieb er ein Fremder ohne Sprache. Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache: die Sprache des gesprochenen Wortes, der Klänge, Bilder und Gerüche. Immerzu sind wir dem „verbum interius“, dem inneren Wort auf der Spur, das wir nicht ergründen können, weil wir nicht die Worte finden, die im Stande wären, den eigenen Bezug zur Welt auszudrücken. Es gibt nur das schweigende Einverständnis, das aus der Gewissheit kommt: Auch die anderen wissen, wer wir sind, was wir sehen und hören und woher wir kommen. Heimat heißt, ohne Worte verstanden zu werden und sich in einer Existenz zu wissen, die keiner Rechtfertigung bedarf. Wir wollen nicht nur als Übersetzer
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in der Welt sein, nicht tagein, tagaus erklären, was uns unmittelbar evident erscheint. Man kann nicht leben, ohne verstanden zu haben und verstanden zu werden. Sprache ist ein Gespräch. Wörter, die den anderen nicht erreichen, sind tot. Der Mensch sei frei, aber überall liege er in Ketten, so lautete der Schlachtruf der radikalen Aufklärung, der bis heute nicht verklungen ist. Das Leben soll keine Bedingungen haben, der Geist frei von allen Beschränkungen sein. Seither ist der Gedanke in der Welt, man könne nach Belieben erzwingen, was vom vermeintlich freien Geist als vernünftig erkannt worden ist. Die Erkenntnis des Wahren wächst auf dem Grund bedingungsloser Vernunft. Sie aber kommt erst zu ihrem Recht, wenn der Schleier der Kultur gelüftet worden ist, der die Sicht auf die Welt verstellt. Wer erst einmal bekehrt und einsichtig geworden ist, so glauben die Anwälte der Bedingungslosigkeit, braucht auch keinen Ort mehr, an dem er sich zu Hause fühlt. In ihrer Welt wohnen nur noch Einverstandene, die nach dem Übersetzer nicht mehr verlangen, weil sie alles verstanden haben und alles wissen. Daher kommt auch der Gedanke, der Mensch habe ein immerwährendes Recht auf Revolution und er müsse überwinden, was ihn begrenzt. Der Modus der Moderne ist der Angriff, der Sturz ins Offene, die Rebellion gegen die Tatsachen. Nichts soll bleiben wie es ist, alles in Bewegung sein. Aber solches Denken weiß nicht um die Gebundenheit der Existenz. Auch die Aufklärung steht auf einem Grund, von dem aus sie ihre Grundlosigkeit behauptet. Der Angriff führt uns stets nur zu neuen Ufern, an neue Grenzen und an Abgründe, die wir noch nicht gesehen haben. Wenn man das eingesehen hat, dann wird man auch nicht mehr glauben, die Welt könne von nirgendwo betrachtet und nach Belieben verändert werden. Denn der Mensch ist auch ein Wesen, das in Überlieferungszusammenhängen steht und dessen Existenz einen Ort und eine Geschichte hat. Wir sind in die Welt geworfen, wir haben weder eine Verfügung über unsere Geburt, noch über unser Ende. Wir erleben uns in der Sprache, in der Landschaft, in der Familie, in der Musik und in der Geschichte, die eine namenlos gewordene Autorität über uns ausübt. Der Mensch ist also nicht nur ein Meister, sondern auch ein Ausdruck seiner Umstände, und diese kann er nicht beliebig zurichten. Es gibt keine Freiheit ohne einen Ort, von dem aus man in die Freiheit kommen kann. Frei sei, sagt Hegel, wer den Herrn in sich trage, aber zugleich sein eigener Knecht sei. Die Bedingtheit des Lebens ist keine Beschränkung, sie ermöglicht es
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uns überhaupt erst, jemand zu sein. Ein Mensch, der nur Individuum wäre, könnte sich gar nicht behaupten. Er würde zum Opfer despotischer Gewalt. Heimat gibt es nur, weil das Leben einen Ort hat, an dem es Wurzeln schlägt. Die menschliche Existenz ist lokal, sie konstituiert sich in Raum und Zeit. Jede Herkunft hat ihre eigene Gegenwart, jede Gegenwart ihre eigene Herkunft. Es gibt weder eine Menschheit noch einen Plan, der darüber Auskunft geben könnte, wie die Welt beschaffen sein soll. Selbst die Wahrheit hat eine Geschichte. In Wirklichkeit halten die Ketten, an die jede Existenz geschmiedet ist, das Leben in der Verankerung. Man kann sie ölen, geschmeidiger machen, aber man kann sich ihrer nicht entledigen. Man müsste sich sonst selbst wegwerfen. Alles Leben ist Veränderung. Aber wie viel Veränderung kann man ertragen, ohne sich unwohl zu fühlen? Wie viel Entwurzelung, ohne den Verstand zu verlieren? Den meisten Menschen kommt überhaupt nicht zu Bewusstsein, worin ihre Existenz ruht, solange sie sich im Selbstverständlichen bewegen. Das Leben wird ihnen nicht zur Frage. Erst, wenn es aus den Fugen gerät, erschüttert wird, wenn man keine Sprache mehr findet, um mitzuteilen, wer man selbst und wer die anderen sind, steht etwas auf dem Spiel. Man begreift plötzlich, dass man keine Zukunft hat, wenn man nicht mehr herkünftig leben kann und wenn es niemanden mehr gibt, der von den Ketten weiß, die das Hier und Jetzt mit der Vergangenheit verbinden. Heimat ist dort, wo man ohne Worte verstanden wird. Wer nur noch mit sich allein wäre, verlöre jeden Bezug zur Welt.
Konservativ, utopisch, melancholisch: „Nabelschnur zum Kosmos“ Von Hans Ulrich Gumbrecht Zwei ganz verschiedene, aber doch konvergierende Antworten auf die Frage, wie wir heute das Wort „konservativ“ gebrauchen, sind uns allen vertraut – so sehr vertraut, dass man sie einerseits nicht unerwähnt lassen kann, obwohl andererseits ihr verbleibendes Entwicklungspotenzial aus jeweils spezifischen Gründen durchaus begrenzt ist. „Konservativ“ heißt weiterhin jeder Akt, der bewusst oder vorbewusst als Gegengewicht zur allgemeinen Fortschrittsannahme des historischen Weltbilds eingesetzt wird, wie es sich um 1800 formiert und institutionalisiert hatte (was die Entstehung des geläufigen Begriffs „konservativ“ in eben jener Zeit plausibel macht). „Konservativ“ zeigt aber auch – im deutlicher wörtlichen Sinn – auf alle ökologisch inspirierten Positionen und Verhaltensweisen, weil es ihnen ja ausnahmslos um die Bewahrung eines bedrohten IstStands der Natur geht. Ich möchte zunächst erklären, warum mir eine Rückkehr zu diesen beiden Begriffsgebräuchen nicht mehr ergiebig scheint, so sehr ich an einigen der aus ihnen abgeleiteten Werte und Ziele hänge. Danach versuche ich, einen Begriff des „Konservativen“ zu entwickeln, der ein Gegenprogramm zu jenen politischen Formen abgeben soll, die wir Intellektuelle heute gerne „populistisch“ nennen. Für beinahe obsolet halte ich also den immer noch häufigsten Begriffsgebrauch von „konservativ“, weil er das historische Weltbild und eine Auffassung von der „Zeit“ als unvermeidlichem Agens der Veränderung voraussetzen muss, die – mit nur wenigen Ausnahmen – seit einigen Jahrzehnten nicht mehr unseren Alltag beherrschen, weil sie von einer Zeitlichkeit ersetzt worden sind, der ich den Namen „breite Gegenwart“ gebe. An die Stelle der offenen Zukunft des historischen Weltbilds als einem weiten Horizont von Möglichkeiten zur menschlichen Wahl und Gestaltung ist in der breiten Gegenwart eine Zukunft voll von (wirklichen oder vermeintlichen) Gefahren getreten, die auf uns zuzukommen scheinen. Den Vergan-
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genheitsstatus des historischen Weltbilds, welcher unvermeidlich und immer weiter hinter die jeweilige Gegenwart zurückzufallen und dabei seine Orientierungskraft verlieren sollte, hat eine andere Vergangenheit ersetzt, die als Wissen und Dokumentation (nicht zuletzt aufgrund elektronischer Speichermöglichkeit) die Gegenwart überschwemmt. Und zwischen der blockierten neuen Zukunft und der aggressiven neuen Vergangenheit ist aus der „unwahrnehmbar kurzen“ Gegenwart des historischen Weltbilds (wie sie Charles Baudelaire beschrieben hatte) eine unbewegt breite Gegenwart der Simultaneitäten getreten. In dieser breiten Gegenwart ohne Fortschrittsdynamik kommt Rückgriffen auf die Vergangenheit keine „konservative“ Funktion mehr zu, was die Konturen der traditionellen politischen Polarität zwischen „fortschrittlichen“ und „konservativen“ Positionen verwischt hat. Gebildete Verweise auf „historische Exempel“ wirken nun nur noch preziös und herablassend. Der (andere) Konservatismus der Ökologen ist nur selten tatsächlich von einer Wertschätzung der „Natur an sich“ motiviert. Eher kommt seine Energie aus der – wohl berechtigten – Befürchtung, dass die Präsenz der Menschheit auf dem Planeten „Erde“ zu Schäden und Dysfunktionalitäten seiner Ökosphäre geführt hat, die mittelfristig unser Überleben unwahrscheinlich oder gar unmöglich machen. Dagegen wird in der Regel – politisch durchaus wirksam – das tendenziell auf Ewigkeit gestellte Überleben und mithin das Bewahren der Menschheit als absolut höchster Wert gesetzt, der jegliche Opfer rechtfertigt (und alle Nachgiebigkeit gegenüber ökologischen Normen kriminalisiert). Angesichts unseres evolutionstheoretischen Wissens frage ich mich, wie realistisch es ist, sich „konservativ“ – und das bedeutet ohne Ausnahme: radikal anthropozentrisch – in diesem Sinn zu verhalten. Sollten wir nicht an die Stelle von anthropozentrisch begründeten Öko-Normen mit Absolutheitsanspruch die konkrete Frage stellen, bis wann sich unter den hochzurechnenden ökologischen Veränderungen der Zukunft menschliches Leben und der Aufwand ökologisch korrekten Verhaltens lohnt? Und sollte sich daran nicht die – letztlich ästhetische – Frage anschließen, wie es uns gelingen kann, das Ende der eigenen Gattung in Gelassenheit und mit Würde zu erleben? Unsere neue „breite Gegenwart“ hat nicht nur Folgen für die Art und Weise, wie wir durch den Filter von „Zeit als Form des Bewusstseins“ (diese Formulierung und Definition geht auf Edmund Husserl zurück) die „Welt“ außerhalb des Bewusstseins erleben. Seit dem achtzehnten Jahrhundert hatte der Westen die Momente der kurzen Gegenwart unter der Struk-
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tur eines „Feldes von Kontingenz“ erlebt, als konzentriert auf („intentionale“) Objekte des Bewusstseins, die „kontingent“ erschienen, weil wir sie unter vielfachen Perspektiven interpretieren und in Beziehung zu uns setzen konnten; und zugleich als umgeben (daher „Feld“) von Zonen des Notwendigen und des Unmöglichen, das heißt als umgeben von intentionalen Objekten, die entweder keine Vielfalt von Interpretationen zuließen („Notwendigkeit“) oder keine Assoziation mit dem realen Leben der Menschen („Unmöglichkeit“). Nicht ausschließlich, aber doch wesentlich unter dem Einfluss der elektronischen Technologien ist aus dieser Gegenwart als Feld der Kontingenz ein Universum der Kontingenz geworden, in dem sich das früher Notwendige (oder Schicksalhafte) zunehmend als ein Gegenstand der Wahl präsentiert (zum Beispiel der individuellen Wahl des biologischen Geschlechts) und das früher Unmögliche den Status von Zukunftsprojekten annimmt (zum Beispiel mit der Herbeiführung des zeitlich unbegrenzten biologischen Lebens der Menschen als Forschungsaufgabe für die Medizin). Mit diesem Schmelzen der Pole „Notwendigkeit“ und „Unmöglichkeit“ vollzieht sich ein ungeheurer Zuwachs an menschlicher Freiheit, den wir schätzen – und nicht verspielen – sollten. Zugleich aber überfordert uns die zum Universum der Kontingenz gewordene Gegenwart als eine nicht mehr aussetzende Herausforderung der Urteilskraft durch Überkomplexität. Und diese Überforderung, meine ich, steht als permanente Frustration hinter einer neuen Sehnsucht, das Urteilen und die Argumente mit der Abkürzung eines Festhaltens an elementaren Werten und vermeintlich großen Gestalten zu ersetzen, sie steht hinter jener Sehnsucht, die wir „populistisch“ nennen. Auf eine solche Disposition hat der neue Stil populistischer Politik reagiert, der – aus traditioneller Perspektive gesehen – konservative („rechte“) und fortschrittliche („linke“) Elemente vermischt. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel kann die populistische Politik des gegenwärtigen Präsidenten in Anspruch nehmen, in ihrer gezielten Zuwendung auf verarmte Schichten der ehemaligen Arbeiterklasse „fortschrittlich“ zu gelten, während ihr Spiel mit persönlicher Autorität und deren Resonanz an gewisse „konservative“ Zügen des Faschismus erinnert. Wie könnte eine Alternative zur doppelt populistischen Reaktion auf das Universum von Kontingenz aussehen, eine Alternative, die sich nicht in der „konservativen“ Wiederholung von wirkungslosen Gemein-
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plätzen erschöpft, in der Wiederholung von degenerierten Erinnerungen und Werten aus Traditionen der Aufklärung? Ein solch anderer konservativer Stil, schlage ich vor, sollte auf die individuelle und kollektive Utopie setzen, die Welt an der kosmologisch richtigen Stelle zu bewohnen, statt sie zu interpretieren, zu beherrschen und zu verändern. Dieser Stil ist konservativ, weil er sich vom Traum eines Zustands vor der Kultur (oder an ihrem unmittelbaren Beginn) locken lässt, als wir Menschen wahrscheinlich noch nicht Beobachter, sondern (ungefähr im Sinne Heideggers) Bewohner der materiellen Welt waren; er ist utopisch, weil ihn Wellen von erfüllender Intensität durchziehen und beleben, „als hätten wir unsere Nabelschnur zum Kosmos wiedergefunden“, wie eine Studentin ganz in Ruhe sagte, um den englischen Begriff „Bliss“, das Seminarthema, auszulegen; und melancholisch ist dieser Horizont, weil ganz anders als beim gängig gewordenen Populismus zu ihm die Ahnung gehört, dass innerhalb des Universums von Kontingenz Erfüllung nie über kurze Momente hinaus zu einem permanenten Zustand werden kann. Dass es sich dabei nicht um ein „politisches“ Projekt im Sinn der Durchsetzung oder Einholung gemeinsamer Interessen handelt, versteht sich. Aber die andere konservative Option bleibt auch nicht in individueller Vereinzelung oder gar Einsamkeit stecken. Vielleicht ist sie im Gegenteil sogar auf verschiedene Modalitäten physischer Ko-Präsenz angewiesen: von ekstatischen Augenblicken in Zweierbeziehungen, die dem Ich erlauben, zu verschwinden, über die Situation geteilter Inspiration im Gespräch um einen Seminartisch oder auf dem Spielfeld einer Mannschaft, bis hin zu jenen Momenten, wo die Zuschauer in einem Stadion zu einem mystischen Körper werden ( jenen Momenten, ohne die ich mir – trotz aller Risiken der Gewalt – mein Leben nicht vorstellen möchte). Diese Utopie wird, wenn auch nur peripher, immer wieder zur Realität, statt auf der Distanz einer Illusion zu verharren. Und dafür ist sie auf ästhetische Erfahrung angewiesen. Nicht unbedingt oder primär auf die autonome ästhetische Erfahrung der Opernhäuser und der Galerien, sondern vor allem auf jene Phasen im Alltag, wo wir die Gelassenheit finden, um uns aus der existenziellen Verdünnung der beinahe permanent gewordenen Lebensform einer Verfügung zwischen Bewusstsein und Software im Universum der Kontingenz wieder auf unsere Sinne zu verlassen – die wir allerdings ohne Bewusstsein nicht erleben können.
Der Vater Von Hans Pleschinski Präzise der Diagnose folgend, starb mein Vater vor einigen Jahren an einer seltenen Krankheit. Zuerst schwand die Beinmuskulatur. Dann versagten die Hände ihren Dienst. Schließlich erstickte er. In seinem Wirkungskreis hinterließ mein Vater seine ganz eigenen Spuren. Als wir seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag in großer Runde in einem Gasthaus der Lüneburger Heide feierten, ertönte vor den Fenstern plötzlich laute Musik. Ein Durcheinander von Posaunen, Trompete, Triangel und Trommeln. Ungefähr dreißig ehemalige Lehrlinge, die er im Laufe der Jahre ausgebildet hatte, hatten sich verabredet, sich Instrumente besorgt, geprobt und brachten meinem Vater völlig unerwartet das ehrenvollste Ständchen, das ich je gehört habe. Mein Vater wurde 1921 östlich von Frankfurt an der Oder geboren. Sechs Jahre lang erlitt der junge Mann den Krieg. Im April 1945 durchschwamm er unter Lebensgefahr die Elbe, um der russischen Gefangenschaft zu entgehen. Im niedersächsischen Städtchen Wittingen heiratete er schließlich meine Mutter und übernahm die kleine Schmiede ihrer Eltern. Alteingesessene Schmiedemeister hörte er eines Tages tuscheln: „Den Fremden kriegen wir weg.“ Dem wurde nicht so. In den Nachkriegsjahren absolvierte er drei Meisterprüfungen als Schmied, in Hufbeschlag – das Schwierigste, da es auch veterinär-medizinische Kenntnisse erforderte – und als Bauschlosser. Bereits als Sohn eines Bergarbeiters hatte mein Vater durch morgendliches Glockenläuten Geld dazu verdienen müssen. So machte es ihm wenig aus, auch an Wochenenden zu arbeiten und an Urlaub gar nicht zu denken. Unsere Schmiede blieb als einzige bestehen. Es sprach sich herum, dass mein Vater ein guter Ausbilder sei. Verzweifelte Eltern brachten ihm junge Rabauken und sagten: „Wir werden mit
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unserem Jungen nicht fertig. Können Sie etwas aus ihm machen, Meister? Er braucht auch manchmal ein paar hinter die Ohren.“ Ich glaube nicht, dass er die wilden Burschen schlug, aber er formte aus ihnen auch durch Strafarbeit und Extra-Lohn eine Gemeinschaft, die bei einem Großauftrag sogar nachts zur Arbeit antrat. – Und die sich später zu einer Nachtmusik für ihn versammelte. In der Schmiede wurde hart gewerkt. Ab sieben Uhr früh, sommers wie winters, loderten die Feuer für das Schärfen von Flugscharen. Hufeisen wurden zum Glühen gebracht, von Schweißstäben stoben die Funken. „Wenn du ohne Schutz hineinschaust, wirst du blind.“ Irgendwann ließ ein Presslufthammer die Werkstatt mit dem Wohnhaus erbeben. Den Hufbeschlag erledigte mein Vater allein. Er konnte Tiere nicht leiden sehen und fand auch für eine Fuchsstute die beruhigenden Worte: „So, jetzt brennt’s ein bisschen, Gesa. Aber dann hast du neue Schuhe.“ Eine besondere Note erhielt die Ausbildung bei meinem Vater durch die zunehmende Lähmung meiner Mutter wegen ihres schweren Rheumas. Die Lehrlinge mussten meine Mutter manchmal in den Rollstuhl heben, Rezepte vom Arzt abholen, Einkäufe erledigen. Zur alt-innungsmäßigen Lehrzeit gesellte sich so noch ein Sozialdienst, der jedem guttut. Unsere Putzfrau fand mein Vater nicht ideal. Frau Kruse plauderte, gestützt auf ihren Besen, meistens mit Besuchern und ließ beim Fegen „die Ecken rund sein“. Wir akzeptierten Frau Kruse, da sie notfalls auch sonntags meinen inkontinenten Großvater wusch. „Wenn du einen Groschen verdienst, dann gib nicht zwei aus“, war eine selbstverständliche Devise im Elternhaus. An Festtagen wurden viele Gäste großzügig bewirtet, zu meiner Konfirmation drei Tage lang. Manchmal hörte ich meinen Vater über Steuernachzahlungen stöhnen, und dass er als Unternehmer später einmal wohl weniger Rente bekäme als ein VW-Arbeiter im nahen Wolfsburg. „Außerdem haben sie ihren geregelten Urlaub.“ Doch solche Vorzüge berührten nicht den Stolz, Herr eines eigenen Unternehmens zu sein. „Lohntüte? Nein, das liegt mir nicht.“ Wer sich im Ort, in dem sich alles herumsprach, durch fadenscheinige Leiden, jährliche Kuren, Arbeitslosengeld bei völliger Schaffenskraft ein bequemes Leben organisierte, den grüßte mein Vater zwar, aber konnte ihn nicht ach-
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ten: „Wenn alle faulenzten wie Otto Brahm, ging alles vor die Hunde.“ – Wer wollte widersprechen? Als Regierungen und Gewerkschaften immer minutiöser ins freie Unternehmertum eingriffen, bereitete dies Kopfzerbrechen und erhebliche Kosten. Mein Vater verstand, dass Lehrlinge für modernes Fachwissen häufiger in die Berufsschule sollten, währenddessen natürlich nicht arbeiten konnten. Er sah ein, dass sie durch Lohnerhöhungen am wachsenden Wohlstand teilhaben mussten. „Wird die Belegschaft noch teurer, muss ich einen entlassen.“ Er ärgerte sich, einen neuen Aufenthaltsraum bauen zu müssen, da der bisherige „drei Quadratmeter zu klein“ war. Die soziale Marktwirtschaft zeigte einen Reglementierungswahn. Irgendwann riet mein Vater mir: „Werde am besten nicht selbstständig. Die Gängelung bringt dich um.“ In meinem Heimatort existieren heute fast keine eigenständigen Handwerker und Geschäfte mehr, aus vielerlei Gründen. Angestellte kaufen in Shoppingcentern auf der grünen Wiese ein, das autarke Stadtleben ist erloschen. Die Schützenfeste sind, wie wohl überall, zur laschen Freizeitveranstaltung geworden, während es damals noch schulfrei gab, die Bürger in Formationen unter ihren Fahnen sogar im schwarzen Frack antraten. Das Gemeinwesen ist demokratischer, weltoffener geworden, aber die Vereinzelung genormter Lebensläufe hat zugenommen. Mein Vater war altmodisch, indem er Fleiß und Können mit dem Ertrag ins Verhältnis setzte. Er war konservativ, indem er auf halbwegs pünktliche Mahlzeiten hielt, für Beisetzungen seinen Zylinder aufsetzte und zum Ja-Wort stand, das er seiner alsbald gelähmten Lebensgefährtin gegeben hatte. – Vielleicht wäre er bereits dadurch nennenswert. Doch der Wahrung von Form und Anstand entsprach eine Liberalität im Innern. Ich erlebte sie in zwei Katarakten. Nach der Volksschule stand zur Debatte, ob ich aufs Gymnasium ginge. „Dann wirst du gewiss die Schmiede nicht übernehmen“, sagte er. Er ließ mich durch einen pensionierten Lehrer prüfen, der mir Oberschulfähigkeiten bescheinigte. Mein Vater ließ mich ziehen, schweren Herzens. Jahre später beunruhigte ihn mein Entschluss, „in München Theaterwissenschaften zu studieren“. „Dann sieh zu, wie du später zurecht kommst“, willigte er ein, „jeder hat sein Leben“. Offenbar setzte er in mich ein Grundvertrauen. Und wer will Vertrauen enttäuschen?
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Ob ich es will oder nicht, ich habe einige Wesenszüge meines Vaters verinnerlicht, obwohl ich keinem vielköpfigen Betrieb vorstehe. Ich baue wie er auf einen gerechten Staat, auf eine humane Gesetzgebung, die sich möglichst wenig in das Privatleben des Bürgers einmischt. Ich fühle mich von jenen bedroht, die ein Gemeinwesen egoistisch ausnutzen. Ich setze auf eine entspannte, aber zuverlässige Ordnung. Und ich gerate zunehmend in Rage über Rücksichtslosigkeit, über die grassierende Verrohung in Wort und Tat, über alle Zerstörer von friedlicher Koexistenz. So entschieden bürgerlich wurde ich.
Konservativ Von Gregor Gysi Manchmal wenigstens muss man zu sich und seinen Handlungen wirklich stehen. Auch ich bin konservativ, zumindest einmal im Jahr. Da ist Weihnachten, und das ist durchritualisiert. Ich belasse die Tradition. Sonst jedoch neige ich wenig zum Konservativen, weder in der persönlichen Lebensführung noch in der Politik. Da dort aber bekanntlich auch Konservative ihren Stammplatz haben, kommt man nicht umhin, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das sollte nicht nur das politische Tagesgeschäft betreffen, sondern auch die geistigen Grundlagen. Zu letzteren gibt es mehrere Zugänge, um sich klar zu machen, was konservativ sein soll. Einen sehr philosophischen Zugang kann man in etwa so beschreiben: Konservative lassen sich durch eine spezifische Haltung zur Aufklärung und zu Modernisierungsprozessen charakterisieren. Die liberale Aufklärung setzte auf eine Legitimierung ökonomischer Freiheit, auf den sogenannten Besitzindividualismus. Staatliche Herrschaft war aus ihrer Sicht insoweit legitim, als sie die Befreiung des Individuums, insbesondere seine ökonomische Freiheit, damit seine Rechte, sicherte und stärkte. Sie stellt also das historisch erste Herrschaftsbegrenzungsprogramm dar. Wiederum aus historischen Gründen mussten die Aufklärungsliberalen noch blind für die teilweise desaströsen Folgen kapitalistischer Modernisierung sein. Dazu war die Produktionsweise, deren Freisetzung sie beförderten, noch zu unentwickelt. Konservative Haltungen bildeten sich entlang der Entwertungen, die kulturelle Traditionen erfahren. Staatliche und religiöse Autoritäten werden brüchig und unter Legitimationsdruck gesetzt, da die Aufklärung die Urteilskraft des einzelnen Individuums zum Gerichtshof alles gesellschaftlich Seienden machte. Wiederum gegen die Naivität der Aufklärer bezüglich der kapitalistischen Krisen, jedoch in Wertschätzung der modernen Kultur, hier den Aufklärern also recht nahe, bildet sich ein linkes, sozialistisches Denken aus. Es will das Emanzipationsdenken der Aufklärung gegen den Kapitalismus in Stellung brin-
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gen. Insofern haben Konservative und Linke mehr gemein, als sie wechselseitig zugeben. Sie üben Kritik an einer allzu naiven Haltung zur Modernisierung. Nur wo die Konservativen in kulturellen Traditionen jene Ressource sehen, mit denen eine moderne Gesellschaft stabilisiert werden könnte, sieht die Linke das in einer weitergehenden Emanzipation, die nicht nur das politische System, sondern auch ökonomische Prozesse und bürokratische Macht einer Steuerung unterziehen will. Eine eher religionssoziologische Sichtweise, die durch Max Weber geprägt wurde, sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Reformation als einem Schlüsselereignis der frühen Neuzeit und der Hervorbringung des sozialen Typus des modernen Kapitalisten. Die calvinistische Prädispositionslehre, die im deutschen Protestantismus vor allem durch Melanchton fortgeführt wurde, beförderte zunächst eine bestimmte Art der Lebensführung. Nicht Ausschweifungen und Luxus sollten angestrebte Ziele sein, sondern Werke, also die Orientierung auf Arbeit und kapitalistische Verwertung des Reichtums. Was also befördert wurde, war die Disziplinierung des Menschen. Wenn man diese Sicht einnimmt, wird deutlich, dass eine bestimmte Form der Pflege kultureller Tradition, nämlich die protestantische Auslegung des Christentums, ökonomische Modernisierung eher unterstützte. Hinzu kam eine durch Luther gepredigte Staatstreue, wenn es denn der richtige Staat ist. Beispielsweise war die Republikfeindlichkeit während der Weimarer Republik in protestantischen Kreisen deutlich größer als in katholischen, da der Protestantismus nicht mehr die herrschende Konfession war. Deutlich wird jedenfalls, wie die Beschwörung der Autorität des Heiligen, die Predigt des Untertanengeists und die kapitalistische Modernisierung ineinandergreifen. Es ist von hier aus gesehen dann doch nicht so überraschend, dass Deutschland während der Eurokrise gegenüber dem Süden der EU den Zuchtmeister im Interesse des Neoliberalismus gab. Der Konservative Wolfgang Schäuble konnte diese Rolle gut ausfüllen. Was jedenfalls nicht behauptet werden kann, nicht nach diesen beiden Zugängen, ist, dass Konservative fortschrittsfeindlich seien. Sie haben ökonomischen Fortschritt ausgelöst bzw. stehen diesem nicht prinzipiell im Weg. Und viele Konservative werden mir zustimmen: Angela Merkel ist für eine Konservative ziemlich fortschrittlich. Auch Autoren wie Edmund Burke oder Alexis de Tocqueville, oftmals den Konservativen zugeschlagen, waren doch eher Denker des Fortschritts. Burke kämpfte leidenschaftlich gegen die Sklaverei und Tocqueville hielt den Sieg von Freiheit
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und Gleichheit für unausweichlich. Dennoch wird konservatives Denken oftmals mit der altehrwürdigen Reaktion identifiziert. Aus begrifflichen Gründen ist das falsch, aus historisch-empirischen Gründen jedoch lässt sich zeigen, wie man auf diese These kommen kann. Die Reaktion zeichnet sich dadurch aus, bereits erreichte Emanzipationsfortschritte zur Gänze oder wenigstens teilweise zurückzunehmen. So ist die Rechtsgleichheit ein wichtiger Emanzipationsschritt auf dem Weg zur Rechtsstaatlichkeit gewesen. Der moderne Antisemitismus gewann an Einfluss, als die Emanzipationsbestrebungen der Jüdinnen und Juden zunehmend erfolgreich waren. Das Reaktionäre bestand also nicht einfach nur darin, eine bestimmte Menschengruppe weiterhin unterdrücken zu wollen (was schlimm genug ist), sondern auch darin, das Gut der Rechtsgleichheit zu beschädigen, in der Konsequenz: es abzuschaffen. Was konservativ aussieht und als Fortsetzung eines kulturell überlieferten und eingeübten Antijudaismus erscheint, als eine (schlechte) Tradition also, bekommt eine neue Qualität als Angriff auf erzielte Fortschritte, womit sein reaktionärer Charakter zum Ausdruck kommt. Das meine ich, wenn ich auf Nichtidentität von konservativem und reaktionärem Denken hinweise. Dass das empirisch anders aussehen kann, ist allerdings auch richtig. Zum einen, weil Reaktionäre sich gern tradierter Muster bedienen, um ihre Anliegen zu legitimieren. Aber es liegt auch daran, dass es Konversionen gab und gibt. Was ich oben schon andeutete: Die Weimarer Republik war für jene ein Problem, die Privilegien verloren. Es gab keine Staatskirche mehr, der protestantische Klerus, eben noch staatstreu bis zur Unterwürfigkeit, wurde republikfeindlich. Er unterstützte antirepublikanische Bestrebungen bis hin zum Faschismus. Und eine wichtige präfaschistische Strömung des geistigen Lebens jener Zeit propagierte ihr reaktionäres Programm unter dem Titel einer „konservativen Revolution“. Es gibt eben Anschauungsmaterial, wo Reaktionäre den Konservativen zum Verwechseln ähnlich sehen. Heute nutzen, teilweise in bewusster Anlehnung an diese Zeit, rechte Ideologen ebenfalls das konservative Gewand. Ich muss zum Schluss und damit auch zum Punkt kommen. Konservative und Reaktionäre unterscheiden sich. Es wäre gut, würden Konservative den Mut finden, den Trennungsstrich zwischen ihnen und der Reaktion nicht nur verbal, sondern klarer und deutlicher zu ziehen. Das wäre ein Fortschritt für die Demokratie, auf die wir alle angewiesen sind.
Bundesrepublikanisches Geschichtsbewusstsein Von Norbert Frei Eine direkte Antwort auf die im Titel dieses Buches formulierte Frage verkneife ich mir. Sie würde es nämlich erfordern, ausführlich über jene zu reden, die sich für konservativ halten, tatsächlich aber allzu oft bloß rechts oder reaktionär sind. Viel reizvoller als die Frage, was heute konservativ ist, erschiene es mir, grundsätzlich darüber nachzudenken, was konservativ heute sein könnte. Angesichts der hier erlaubten tausend Worte würde das freilich schnell ein sehr weites Feld: Etwa, wenn man anfinge, über die schöne Tugend des Bewahrens zu reflektieren, die sich, brächte man sie nur mit dem nicht minder schönen Begriff der Schöpfung zusammen, als eine ebenso dringliche wie im besten Sinne konservative Aufgabe erwiese. Doch bin ich weder Biologe noch Klimaforscher, und auch die bereits seit längerem, natürlich nicht von ungefähr, sich entfaltende Umweltgeschichte ist nicht mein Gebiet. Als Zeithistoriker und Kind der „alten“ Bundesrepublik liegt es mir hingegen nahe, an dieser Stelle einen Sachverhalt anzusprechen, der, wenn nicht alle Zeichen trügen, gegenwärtig seines ursprünglich „progressiven“ Entstehungszusammenhangs verlustig geht – und der deshalb einer neuen, womöglich „konservativen“ Rahmung bedarf. Ich meine das Projekt des (selbst-)kritischen Umgangs mit unserer Vergangenheit. Siebzig Jahre nach Gründung der drei Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ kristallisiert sich immer deutlicher heraus, wie sehr die ersten etwa vier Jahrzehnte der Bundesrepublik (im Unterschied zu jenen der DDR, aber auch Österreichs) als eine Phase der politischen Identitätsbildung qua Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Nationalsozialismus zu verstehen sind. So gewiss die nach wie vor staunenswert rasche Stabilisierung der zweiten deutschen Demokratie nicht allein darauf gründete, so gewiss erscheint doch auch, dass die innere Selbstanerkennung und äußere der Bundesrepublik in erheblichem Maße befördert wurden durch die sich
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– selbstredend gegen zähe Widerstände und nur unter Rückschlägen, am Ende aber in nicht aufzuhaltender Weise – entwickelnde gesellschaftliche Bereitschaft zur „Aufarbeitung“ der nationalsozialistischen Vergangenheit. Als Theodor W. Adorno diesen Terminus 1959 in die Debatte einführte, problematisierte er damit nicht zuletzt die Vorstellung eines alsbald abschließbaren Prozesses, wie sie in dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ von Anfang an mitschwang (auch wenn dieser zunächst durchaus ebenfalls kritisch gemeint und deshalb in der Bundesrepublik der Adenauerzeit noch keineswegs mehrheitsfähig gewesen war). Adornos Rede war insofern Indikator eines einsetzenden gesellschaftlichen Wandels: Die Zeit der Vergangenheitspolitik, des Beschweigens der belasteten Biographien und der allzu skrupellosen Reintegration der „Ehemaligen“ ging zu Ende. Die juristische Ahndung von NS-Verbrechen kam, wie seit 1963 vor allem der Frankfurter Auschwitz-Prozess signalisierte, nach Jahren faktischen Stillstands wieder in Gang, Adenauers Staatssekretär Hans Globke wurde zum Inbegriff fragwürdiger personeller Kontinuitäten in Politik und Verwaltung, und die neue Generation der in die Universitäten drängenden Kriegskinder, der späteren „Achtundsechziger“, begann, kritische Fragen zu stellen. Ohne dass es hier nun möglich wäre, die windungsreiche Geschichte des bundesdeutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit im Einzelnen nachzuzeichnen, wird man sagen können, dass diese sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre, namentlich nach Ausstrahlung des amerikanischen Fernseh-Mehrteilers „Holocaust“ (1979), zu einer zunehmend akzeptierten politischen und gesellschaftlichen Aufgabe entwickelte. Die Rede Richard von Weizsäckers zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 1985 gilt gemeinhin als ein Meilenstein auf diesem Weg. Nicht weniger bedeutsam für die Schärfung des historisch-politischen Bewusstseins in der Bundesrepublik erweisen sich im Rückblick aber auch Helmut Kohls diplomatisches Fiasko in Bitburg nur wenige Tage zuvor, der Historikerstreit der Jahre 1986/87 und die Debatte um die sogenannte Wehrmachtsausstellung seit 1995. Wie sehr in diesen Jahren – eher wegen als trotz der vielen Kontroversen – die Bereitschaft der Deutschen wuchs, sich ihrer historischen Verantwortung und der zunehmend globalen Wahrnehmung des Holocausts zu stellen, zeigte nicht zuletzt ein bemerkenswerter Kurswechsel des Kanzlers: Hatten in den frühen 1980er Jahren noch Misstrauen und Sorge um das Ansehen der Bundesrepublik Kohls Haltung zum Bau des Holocaust Memorial Museums in Washington bestimmt, so wandelte er
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sich gegen Ende seiner Amtszeit zum Promotor des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Doch schon eine knappe Dekade zuvor, als die Bonner Demokratie ein halbes Jahr vor dem unverhofften Fall der Mauer im Frühjahr 1989 ihren vierzigsten Geburtstag feierte, fühlten sich die Westdeutschen in ihrer großen Mehrheit „im Westen angekommen“. Zu diesem Selbstgefühl hatte beigetragen, dass es in den zurückliegenden Jahrzehnten gelungen war, die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als ein Merkmal der politischen Kultur der Republik zu etablieren. Nicht von ungefähr hatte Martin Broszat, damals Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, auf dem Höhepunkt des Historikerstreits formuliert: „Wer uns den selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte älteren und jüngeren Datums ausreden will, beraubt uns eines der besten Elemente unserer politischen Gesittung.“ Broszat, Jahrgang 1926, sprach damit nicht für alle, aber für einen Großteil seiner Generation – und sehr viel mehr noch für das Gros der Jüngeren. Die Überzeugung, dass ein kritisch-reflektiertes Verhältnis zur eigenen Geschichte kein Indiz „nationaler Schwäche“ ist, sondern im Gegenteil Ausweis eines starken, weil aufgeklärten Selbstverständnisses, war nie völlig unumstritten. Gegenwärtig aber wird sie in einer Weise angegriffen, wie das in den Jahrzehnten ihrer gesellschaftlichen Erarbeitung kaum je der Fall gewesen ist. Die von der AfD propagierte „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ ist sicherlich der krasseste und moralisch verkommenste Ausdruck dieser Herausforderung. Aber die Ablehnung eines aufgeklärten Geschichtsbewusstseins, die im Unterhalt von Gedenkstätten eine Vergeudung von Steuermitteln und in der Ehrung von Opfern und Verfolgten des NS-Regimes einen „Schuldkult“ am Werke sieht, zieht mittlerweile Kreise. In ihrem „Widerstand“ gegen das „System der Altparteien“ berufen sich rechte Propagandisten auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg, und mit Blick auf die „Weiße Rose“ glaubt man im Zeitalter von „fake news“ behaupten zu können: „Sophie Scholl würde AfD wählen.“ Zugleich mehren sich am digitalen Stammtisch höhnische Apostrophierungen der politischen Repräsentanten unserer Demokratie als „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“, ohne dass auf anderen Kanälen die Entschiedenheit wüchse, solchen Invektiven entgegenzutreten. Wenn Geschichtsbewusstsein eine konservative Tugend ist: Läge hier nicht eine Aufgabe gerade auch für einen modernen Konservatismus? Immerhin
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geht es um die Bewahrung eines in sieben Jahrzehnten gewachsenen Herzstücks der politisch-kulturellen Identität der Bundesrepublik.
Der Konservative heute – fern der Merkel-Jahre Von Robin Alexander Journalist bin ich schon mein ganzes Berufsleben, aber ein konservativer Journalist wurde ich erst an einem Vormittag im Frühjahr 2007 – mit einem Telefonanruf: „Guten Tag, mein Name ist Thomas Schmid, ich möchte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, für die Welt zu arbeiten.“ Ich konnte. Und das lag nicht nur daran, dass ich ein junger Familienvater war und mein damaliger Arbeitgeber kurz vor der Pleite stand. „Ich habe erst Vernunft angenommen und dann ein gutes Angebot, auf diese Reihenfolge lege ich Wert“, war das Bonmot, das ich mir damals für meinen Bekanntenkreis zurechtgelegt hatte. Unnötigerweise, niemand stellte mich unter Renegatenverdacht. Im Gegenteil, meine berufliche Biografie, die mich bis dahin vom Leipziger Kreuzer über die Berliner taz und die deutsche Ausgabe der Vanity Fair geführt hatte, schrieb sich mit dem Eintritt in die Welt-Redaktion quasi natürlich fort. Mit Mariam Lau, Andrea Seibel, Ulli Kulcke traf ich eine Menge Kollegen, die zur reflektierten Fraktion der Linken gehört hatten, unter den Älteren in der Welt waren zumindest die Tonangebenden mehrheitlich Alt-68er. Chefredakteur Schmid, der einst den Begriff „multikulti“ erfunden hatte, war nun der Leitstern dieser Intellektuellen, die dem rot-grünen Milieu der 90er Jahre eher entwachsen waren als das sie mit ihm gebrochen hätten. Keine Konservativen, nirgends. Doch bald würde ich sie kennenlernen. Dachte ich jedenfalls. Wegen meines Studiums in Ostdeutschland hatte ich im politischen Berlin als Experte für die PDS begonnen, nun topfte mich Schmid um: Ich sollte fortan über die CDU berichten. Die Berichterstattung über Angela Merkel war in der deutschen Presse schon damals extrem wohlwollend bis hymnisch, nicht nur Schmid fand die Begeisterung auf die Dauer dröge. Kritische Merkel-Berichterstattung war im Verlag wohl auch als Marktlücke erkannt worden.
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Also legte ich los und widmete mich Tag für Tag der ewigen Kanzlerin – übrigens nach den gleichen Kriterien, mit denen ich vorher Klaus Wowereit oder Gregor Gysi beschrieben hatte. Ich lobte, wie sie Wladimir Putins Russland die Stirn bot, aber ich schilderte auch, wie Merkel innerhalb eines halben Jahres von einer Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke in eine überstürzte Energiewende stolperte, wie die Wehrpflicht ohne Ersatzplan abgeschafft wurde und aus einer Grenzöffnung „als Ausnahme“ ein sechsmonatiger Ausnahmezustand wurde. Vor allem aber schilderte ich, wie die CDU zwar das Kanzleramt bezogen hatte, aber in Berlin trotzdem sozialdemokratische und grüne Politik gemacht wurde: bei der Aufgabe des klassischen Familienmodells, bei Mindestlohn und Abwrackprämie, bei Mietpreisbremsen und Frauenquoten und in hundert Einzelfragen. Auch im Kanzleramt also: Keine Konservative. Wobei die CDU-Kanzlerin, die linke Politik machte, nicht etwa die CDU frustrierte, sondern die Linke. Heute, wo die Person Merkels Wutwellen von rechts auslöst, ist vergessen, dass die Verzweiflung an ihrer Wendigkeit lange vor allem Linke erfasste: Ein sehr zorniger Jürgen Habermas unterstellte ihr damals, sie verfolge ein „opportunistisches Drehbuch einer demoskopiegeleiteten Machtpragmatik, die sich aller normativen Bindungen entledigt hat.“ Mir war die Erklärung aus dem Charakter immer schon zu, ja, konservativ: Wie Geschichte bekanntlich nicht von großen Männern gemacht wird, wird Politik nicht von werteflexiblen Frauen gemacht. Ich schlug daher nach, was Niklas Luhmann wohl zu dieser Kanzlerin gemeint hätte. Tatsächlich schrieb der große Soziologe schon Jahre vor Merkel: „Die Gesellschaft verändert sich so schnell, dass Konservative sich nur noch als Opportunisten halten können, während die Linke in der Bewahrung ihrer immer noch nicht erfüllten Ideale konservativ wird.“ Der Gedanke ist anspruchsvoll, leuchtet aber ein, wenn man ihm am Beispiel der SPD illustriert: Die linke Volkspartei schafft es bis heute nicht, die erfolgreichen Sozialreformen der 90er Jahre in ihre Identität zu integrieren, weil sie damals über den Schatten ihrer Ideale springen musste. Der CDU ist das nicht passiert, sie war immer schon eine modernere Partei als die SPD. Und auch der Anschluss an die Postmoderne gelingt ihr besser: Schwarz-Grün wird die Koalition werden, die das Unbehagen der Industriegesellschaft an sich selbst politisch ausdrückt. Kein Bedarf also für Konservative mehr? Seltsamerweise doch.
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Der Konservative fehlte in den Merkel-Jahren. Auch der Kanzlerin selbst, die erkannt hatte, dass sie ihn eigentlich gebraucht hätte: Keinen, der stark genug gewesen wäre, sie als echter Widersacher zu gefährden, aber doch einen Gegenpol, der die CDU besser im Gleichgewicht gehalten hätte. Allein, den gab es nicht: Roland Koch nahm sich freiwillig, der schon vergessene Stefan Mappus unfreiwillig aus dem Spiel. Wolfgang Bosbach entdeckte die Rolle erst nach seiner eigentlichen Karriere. Nachdem er als Innenpolitiker den Zenit seines Einflusses überschritten hatte, tingelte er als Vorzeige-Christdemokrat durch die Talkshows. Als Bosbach in der Rolle des konservativen Politikers reüssierte, war er noch konservativ, aber eigentlich kein Politiker mehr. Es waren langweilige Jahre: Das politische Berlin war ein Kasperletheater geworden, indem niemand mehr das Krokodil spielen wollte. Da das Publikum aber nach diesem infantilen Grusel verlangt, drängten die Medien die unmöglichsten Protagonisten in diese Rolle: Einen Sommer lang musste Wolfgang Schäuble den Konservativen geben, weil er Griechenland aus Europa werfen wollte (dabei ist Schäuble anders als Merkel ein Herzenseuropäer), einmal Jens Spahn, weil er aussprach, was 90 Prozent der Christdemokraten in den Monaten der offenen Grenzen dachten (dabei ist Spahn sowohl in gesellschafts- als auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht für deutsche Verhältnisse geradezu radikalliberal), davor traf es einmal die Familienministerin Kristina Schröder, der die Einführung des Betreuungsgeldes zugefallen war (dabei ist Schröder der Urtypus der selbstbewussten, beruflich erfolgreichen Frau). Konservativ wird heute vor allem als „nicht-links“ wahrgenommen, erstaunlicherweise nicht nur von Linken. Auch in der rechtspopulistischen und teilweise völkischen AfD wird der Verstoß gegen politische Korrektheit mit konservativem Mut verwechselt. Die neue Rechte wirkt deshalb oft wie die linke Karikatur einer konservativen Partei. Echte Konservative? Auch hier Fehlanzeige. War es das also für das Konservative in Deutschland? Vielleicht nicht. Zu groß ist das Vakuum in der Mitte, wenn die Rechte ins Völkische und die Linke ins Apokalyptische abdriftet: Zwischen Alexander Gauland und Greta Thunberg klafft im Diskurs einfach eine zu große Lücke, um leer zu bleiben. Gefüllt werden könnte sie mit der altmodischen Tugend der Skepsis, eine Denkform, die vermeintlichen Gewissheiten und Ideologien gleichermaßen misstraut. Die nicht fragt, ob die Energiewende Gut oder Böse
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ist, sondern wie sie funktionieren kann. Eine „Haltung zwischen Ressentiment und Ideologie“ hat sie der Historiker Andreas Rödder in seinem klugen Büchlein „konservativ 21.0“ genannt, eine „innere Westorientierung“, die in den Zeiten von Trump und Brexit wichtiger wäre als je zuvor, ja eine „entspannte Menschenfreundlichkeit“. Ich gebe zu, dass klingt nicht wirklich nach einer politischen Haltung, die in Deutschland viele Anhänger finden kann. Aber ich gebe die Suche noch nicht auf.
Das Konservative, das Recht und die hohe See Von Thomas Fischer Die Frage, was „konservativ“ sei, an einen Juristen – noch dazu einen im Rentenalter – zu stellen, mag als risikoarm erscheinen, die Antwort als vorhersehbar. Denn das Konservative ist nach verbreiteter Meinung gerade der Stoff, aus welchem das Recht wie die Juristenbiographien ihrer Natur nach gemacht sind, allenfalls gelegentlich überzuckert mit ein wenig Diamantstaub aus dem Reich der lex ferenda. Eine Illustration des Konservativen könnte sich daher, aus der Perspektive aufs Juristische, vielleicht mit der Stimmungsskizze von der Tagung der Vereinigung der Staatsrechtslehrer begnügen oder mit einer Karikatur ihres Klagens über den Niedergang des Bestehenden, Bewährten und Guten. Denn diese drei sollen stets den Kern des jeweils zu Konservierenden ausmachen, wobei die Begriffe und ihre psychologischen Wirklichkeiten freilich nicht auf derselben Ebene liegen, sondern in wundersamer Weise verwoben sind. Das Bestehende wird ja nicht nur vorgefunden, denn wir sind nicht wie Naturkinder in die Welt geworfen. Es wird sinnhaft konstruiert und in stetem Prozess in rekonstruierte Vergangenheit verwandelt. Daher ist das Bewährte, weit über die Summierung von Funktionsergebnissen hinaus, stets auch die sinnhaft bestätigende Rekonstruktion der Funktion selbst: Politik entsteht aus Politik, und Recht aus Recht. Über all diese Systemkreise legt sich, was heute Lebenswelt genannt wird, mit der Intuition, die das Schlechte ins Kröpfchen und das Gute ins Töpfchen pickt. Ein jeder schwört daher, dass es gelte, gerade das ihm Bewährte zu erhalten, wobei sich die Differenzierung als erfreulicher Anwendungsfall eines höchstpersönlichen Algorithmus herausstellt. Damit freilich ist man entweder im Albernen oder im Ungewissen angekommen. Würde man nun die Juristen, als Meister ihres autopoietischen Universums, daher als die geborenen Konservativen ansehen, wäre wohl einmal
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mehr der Scherz zu früh gemacht. Denn in Wahrheit und daher selbst ohne es zu wissen, zu wollen oder billigend in Kauf zu nehmen, vereint der Jurist, was dem Außenstehenden als Ewigkeitsfrage erscheinen mag, schon im Ansatz seiner Profession in sich selbst. Die oft eher rührend erscheinenden Versuche, das Konservative zugleich als bedenklich wie als wertvoll zu beschreiben, indem es zum „Eigenen“ erhoben und in einen Bewertungszusammenhang mit der Moral und den Zeitläuften gesetzt wird, können ihn nicht verwirren; die unvermeidliche Erörterung, was denn die richtige, die wahre, die gesunde oder gar die jeweils moderne Konservativität sei, bleibt ihm vermeidbar: Er nimmt es, wie es kommt, erklärt das Neue zum Alten und umgekehrt und schafft in der Positivität des Rechts eine sich selbst verzehrende Konservativität, welche er zugleich spiegelt. In der Welt verschieben sich, vereinfacht und bildhaft formuliert, drei Folien der Wirklichkeit gegeneinander: Die des sozialen Lebens, die der Normativität und die des subjektiven Empfindens. Sie zeigen nicht allein unterschiedliche Inhalte, sondern bewegen sich auch mit verschiedener Geschwindigkeit und in jeweils spezielle Richtungen. Das führt bei üblicher lebensweltlicher Betrachtung zu einem stets mehr oder minder verschwommenen Bild; eine optimale Scharfstellung bleibt zufällig. Was auf der Folie individuellen Empfindens als bewahrend wahrgenommen wird, erweist sich in sozialer oder normativer Perspektive nicht selten als belanglos oder verändernd; dasselbe gilt umgekehrt und in anderer Konstellation. Die Verschiebungen erscheinen uns als Beweis gerade für unsere persönliche Hineingeworfenheit in die Welt und als Herz der Schicksalsmaschine. Der Begriff des Konservativen ist also einer, der die Veränderung kennt und reflektiert. Ein Vogel, der sein Nest an dieselbe Stelle baut wie in allen Jahren zuvor, ist nicht konservativ, sondern richtet seine Aufmerksamkeit mit äußerster Konzentration aufs Neue. Das Recht galt über lange geschichtliche Zeiträume als wirklicher Inhalt dessen, was damals nicht „konservativ“ heißen konnte, sondern gegenwärtige Wahrheit war. Einen Teil dieser Macht hat es sich bewahrt: Indem es Erwartungen an Verhalten legitimiert und in Strukturen der Macht integriert, macht es sie veränderungsresistent; dies ist seine Natur. Wo und so lange Herrschaft traditional legitimiert wird, erscheint daher aus heutiger Sicht die Synchronisation der drei genannten Folien eher schlicht. An der Wurzel des Rechts aber saß seit jeher der Wurm der Zeit. Mit der Positivierung des Rechts – der Bürokratisierung der Herrschaftslegitimation – veränderte sich die wechselseitige Betrachtung von Wahrheit und Norma-
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tivität von Grund auf: Wenn weder „alt“ stets „gut“ noch „neu“ stets „schlecht“ bedeutet, wenn das Bewahrende nicht das Sichere ist und Macht nicht als Form des Beständigen gilt, greifen Verwirrung und Unübersichtlichkeit um sich, denn um das Bestehende zu erhalten, muss mit ständig steigender Geschwindigkeit das Neue erzwungen werden: Das ist die Seele des Zinses. Und je unüberschaubarer, unbezwinglicher, gewalttätiger die Herrschaft der alles fortreißenden immerwährenden Gegenwart wird, desto mehr rätseln die Menschen, ob das Glück in der Vergangenheit oder in der Zukunft liege. Indem die positive Gemachtheit des Rechts in sich die Ebene der Legitimation sichtbar problematisiert, normativ-konservative Beständigkeit herstellt und zugleich durch den Akt der politischen Setzung dynamisiert und aufhebt, erlaubt die Rechtswissenschaft einen interessanten und aufschlussreichen Blick auf die Folien der Wirklichkeit und ihre Verschiebungen zueinander. Das ist ein kleiner Perspektiven- oder Überblicksvorteil für die Juristen. Er erlaubt es, die Frage nach dem Wesen des Konservativen aus dem Schleppnetz herauszuhalten, das zwischen der Banalität des immerfort Allzu-Menschlichen und dem Verzweifeln des aufgeklärten Zynismus aufgespannt ist. Selbstverständlich hat das einen Preis. Er besteht darin, die Ankertaue der Begriffe kappen und auf die hohe See hinaus zu müssen, wo schwarze Löcher der Moderne und eiserne Wälle der Ungleichzeitigkeit lauern und die Ungeheuer der Tiefe Zeit und Erinnerung verschlingen. Schiffbrüchigen gaukelt die Angst Inseln der Zuflucht hinter dem Horizont vor: die gute Mode, die alten Meister, ein höfliches Benehmen. Sie sprechen sich Mut zu. Aber heimlich wetzen sie die Messer, um einen unter sich zu opfern. Denn es mag das Konservative aus dem Abgrund heraufbrechen und ist ein weißer Wal.
Was ist konservativ? Von Martin Hein Die Auffassung, Kirchen seien überwiegend „konservativ“, ist weit verbreitet. Deswegen erregt es Aufmerksamkeit, wenn nicht sogar Anstoß, sobald von Kirchenleitungen und Synoden oder von öffentlich auftretenden Christen und Christinnen Töne zu hören sind, die nicht in das präsumtive Schema passen. „Ehe für alle“, Flüchtlingsthematik, Klimawandel, Geschlechtergerechtigkeit: Hier scheint zumindest die evangelische Kirche ( jedenfalls an ihrer Spitze) in das Lager der „Fortschrittlichen“ gewechselt zu sein, ja zur gesellschaftlichen Avantgarde zu gehören. Andererseits ist offenkundig, dass gerade beim Umgang mit den Grenzfragen von Lebensanfang oder Lebensende eher als konservativ zu deutende kirchliche Äußerungen zu hören sind, die den Schutz des menschlichen Lebens höher bewerten als manche (vermeintlichen) Rechte des Individuums auf selbstverantwortete Entscheidungen. Dergleichen Bedenken oder Warnungen sind allerdings eingebunden in ein gesellschaftliches Verständnis von moralischer Verantwortung: Der gesamte Bereich der Fortpflanzungstechnologie und Pränatalmedizin (einschließlich der Abtreibungsproblematik) wie auch die Sterbehilfe-Thematik können nur dann auf ein moralisch und juristisch erträgliches Maß von Ausnahmefällen reduziert werden, wenn ein entsprechender gesellschaftlicher Wandel stattfindet, der sich gerade nicht an überkommenen Vorstellungen von Familie und Sozialität orientiert, sondern – wie etwa beim Adoptionsrecht oder beim Unterhaltsrecht – neue und radikale Wege geht. Was ist hier dann konservativ, was ist progressiv? Dass sich die Kirchen in Deutschland in großer Übereinstimmung und Geschlossenheit deutlich von rechtspopulistischen Tendenzen abgrenzen, ist – historisch gesehen – auch eher neu und erzeugt vor allem dort Irritationen oder stößt auf Ablehnung, wo sich nationalistische Weltbilder mit einer fundamentalistischen Frömmigkeit verbinden. Ist die Haltung der Kirche da progressiv?
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Noch verwirrender wird die Situation, wenn man sieht, dass auch die konfessionellen Zuschreibungen nicht mehr wie früher fraglos funktionieren. Papst Franziskus oder der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, vertreten im Gefolge der katholischen Soziallehre teilweise Positionen, die – etwa in der Flüchtlingsthematik oder der Frage der sozialen Gerechtigkeit – nach klassischem Verständnis eher „links“ sind und in denen eine große ökumenische Einmütigkeit herrscht, um dann wieder – ebenfalls nach klassischem Muster gedacht – in der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Pränataldiagnostik oder der Abtreibung ausgesprochen restriktiv zu argumentieren. In einer durchschnittlich zusammengesetzten evangelischen Landessynode, der nach dem Verständnis evangelischer Kirchenordnungen die höchste Entscheidungskompetenz zukommt, finden sich politisch und frömmigkeitlich unterschiedlich gefärbte Positionen. Es können sich durchaus traditionell „konservative“ Haltungen mit „progressiven“ Denkformen verbinden. So beschloss beispielsweise die Synode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck im Herbst 2011 mit großer Mehrheit die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in einem öffentlichen Gottesdienst und im April 2018 in der Folge der staatlichen Gleichstellung die Möglichkeit eines expliziten Traugottesdienstes für diese Paare – weil der letztlich eher „konservative“ Gedanke des Versprechens lebenslanger Treue auch unter einer „religiösen“ Perspektive höher gewertet wurde als aktuelle Vorstellungen zur Sexualmoral. Was nun also?, fragt man sich. Es gibt für mich zwei Deutungsversuche: einen theologischen und einen soziologischen. Das Evangelium ist insofern „politisch“, als es auf Veränderung unwürdiger Verhältnisse durch Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zielt. Darin aber ist es gerade nicht parteipolitisch! Das Anliegen des Evangeliums wird durch öffentliche Kommunikation, also durch Verkündigung in Wort und Tat, und nicht durch politische Entscheidungsprozesse in die Welt gebracht. Es steht über bzw. jenseits der praktischen Politik. Das darf niemals im Sinne eines Hegemonieanspruchs missverstanden werden, sondern allein so, dass das Evangelium eine Haltung eröffnet, aus der heraus eine politische Position gewonnen und wahrgenommen werden kann. Die Bergpredigt, die Gleichnisse Jesu und die ethischen Passagen in den neutestamentlichen Briefen kommunizieren keine „ewigen Werte“, sondern eine von Gott her denkende Haltung der Barmherzigkeit gegenüber den Menschen, aus der heraus Werte allererst gewonnen werden können. Diese aber müssen der jeweiligen Gesellschaft und der historischen Situa-
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tion angepasst werden! Martin Luther spricht davon, dass Christen „neue Dekaloge“ machen sollen. Wir können keine moralischen Standards von vor zweitausend oder mehr Jahren ungebrochen übernehmen, sondern müssen die biblischen Texte heute auslegen, müssen also Theologie treiben. Ist das nun konservativ, progressiv oder liberal? Das führt zu einem zweiten Deutungsversuch: Es ist offenkundig, dass die traditionellen Einteilungen der politischen Lager in einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr hinreichen. Schon die neuen politischen Mehrheitsverhältnisse, die wir seit einiger Zeit beobachten können, zeigen das: Eine schwarz-grüne oder gar grün-schwarze Landesregierung wäre noch vor wenigen Jahren vollkommen undenkbar gewesen. Die CDU vertritt auf der bundespolitischen Ebene in vielem klassische sozialdemokratische Positionen, während die Sozialdemokratie offensichtlich in eine Art Vakuum fällt, weil es die gesellschaftliche Schicht oder Klasse, die sie einst verkörperte, schlicht nicht mehr gibt. Das einst als progressiv-fortschrittlich, ja teilweise als linksradikal eingeschätzte Denken der Grünen bildet inzwischen für nicht wenige Menschen die gesellschaftliche Mitte ab, weil sich sein „konservativer“ Kern zeigt: nämlich Bewahrung und Schutz von Bestehendem. Liberale Positionen sind demgegenüber, jedenfalls in der aggressiven Gestalt des ökonomischen Liberalismus der letzten zwei Jahrzehnte, an den rechten Rand gerückt. Kurzum: „Konservativ“ beschreibt keine rein politische Haltung mehr, schon gar nicht eine parteipolitische und noch weniger ein geschlossenes Weltbild, das seine Orientierung im Gestern sucht. Gerade als „Konservativer“ kann man sehr „progressiv“ sein: Noch einmal sei auf das oben genannte Beispiel des kirchlichen Umgangs mit der „Ehe für alle“ verwiesen. Die plurale, multikulturelle, global verankerte Gesellschaft braucht neue inklusive politische Konzepte von Transparenz, Toleranz, Partizipation und Kollaboration. Da bin ich „progressiv“: Diesen Prozess müssen wir vorantreiben. Denn nur so kann gesellschaftlicher Zusammenhalt gewährleistet werden. Aber genau darin bin ich zugleich „konservativ“: Eine Gesellschaft muss auch in gemeinsamen Haltungen und Grundentscheidungen, die über das bloße Recht hinausgehen, homogen sein. Die neue Trennlinie sehe ich zunehmend gegenüber gesellschaftlichen Tendenzen hin zu autoritären, als vermeintlich konservativ propagierten Politikmodellen. In einer demokratischen Gesellschaft aber kann „konser-
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vativ“ nur bedeuten: an den Grundwerten der Verfassung orientiert. Genau hier zeigt sich, dass das traditionelle Lagerdenken ausgedient hat und ganz „neue“ Lager entstehen: Wir haben es in der Demokratie mit offensiven Verfassungsfeinden zu tun. Die Öffnung der traditionellen Lager aber ermöglicht es den Kirchen, am politischen Prozess teilzunehmen, ohne sich parteipolitisch verorten zu müssen, und differenzierte Haltungen einnehmen zu können, die noch vor gar nicht langer Zeit als unvereinbar gegolten hätten. Um abschließend zum Anfang zurückzukehren: Wer daher meint, der Rückbezug auf biblische Texte oder auf das Bekenntnis und die Lehre der Kirche sei a priori schon „konservativ“ oder „reaktionär“, sollte sich diese Traditionen vielleicht doch genauer ansehen.
Demokratie braucht Konservative Von Monika Grütters James Bond-Filme greifen darauf zurück, Thomas Manns Buddenbrooks und Richard Wagners Ring des Nibelungen sind davon durchzogen, die verschiedenen Schaffensperioden Pablo Picassos sind davon geprägt, und Zeitspannen wie der Barock, die Romantik oder der Sturm und Drang verdichten sich darin zu Epochen: Die Rede ist vom Leitmotiv – ein klassischer Kulturbegriff, und in der Kunst ein Stilmittel, das einzelne Teile zu einem Ganzen verbindet. Ein Leitmotiv in einer Oper, in einem Film oder Roman sorgt nicht nur für Orientierung und Struktur, verknüpft nicht nur die Vielfalt an Themen, Personen und Motiven; im Leitmotiv verdichtet sich auch, was ein Werk, ein Œuvre oder auch eine Epoche von anderen unterscheidet. Konservativ zu sein heißt für mich zunächst einmal ganz allgemein, Kontinuität im Wandel zu suchen und dabei die Kraft solcher Leitmotive zu nutzen. Gemeinschaften anhand ihrer Leitmotive – etwa anhand gemeinsamer Werte und Traditionen – zu definieren, mag selbstverständlich klingen: Wie sonst ließe sich eine Kirche von einem Unternehmen unterscheiden, ein Fußballverein von einer Theatergruppe oder die SPD von der FDP? Und doch erregt der Versuch, mit dem Begriff der Leitkultur Leitmotive des Zusammenlebens in Deutschland zu beschreiben, immer wieder die Gemüter; und doch geraten die Deutschen – Kurt Tucholsky lässt grüßen – immer wieder außer sich, wenn sie zu sich selbst kommen wollen, wenn es also um die Reflexion grundlegender, historisch gewachsener, schützens- und bewahrenswerter Prinzipien und Gepflogenheiten geht. Ja, in urbanen Milieus gehört es mittlerweile zum guten Ton, die Bewahrung des Eigenen mit Blick auf Globalisierung und Migration gar für obsolet zu erklären. Was ist schützens- und bewahrenswert, und was erwarten wir von allen in Deutschland lebenden Menschen? Solche Debatten zu führen, ist notwendig – allein schon deshalb, weil wir das Bedürfnis nach Selbstvergewis-
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serung ansonsten den Nationalisten überlassen, die mit der Überhöhung des Eigenen und der Abwertung des Anderen Rassismus nähren und Ausgrenzung propagieren. Hinzu kommt, dass gerade dort, wo der scharfe Wind der Globalisierung weht und Bindungen an Stabilität verlieren, die Sehnsucht nach Heimat wächst – das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit, nach geistigen und kulturellen Wurzeln. Konservative engagieren sich deshalb für die Stärkung der Bindungskräfte in unserer Gesellschaft. Konservativ ist eine Politik, die – auch mit Blick auf das christliche Menschenbild – Bindung in Freiheit und Zusammenhalt in Vielfalt fördert. Dazu braucht es einerseits ein Bewusstsein der eigenen Identität, einen Kompass zur Orientierung. Denn nur, wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen, und nur, wer sich begründet abgrenzen kann, ist im Stande, die eigenen (demokratischen) Werte zu verteidigen. Andererseits geht es aber auch darum, das Verbindende über das Trennende stellen zu können. Unter Weltoffenheit verstehen Konservative nicht Selbstvergessenheit oder Beliebigkeit, sondern die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und das Bemühen um Verständigung. Deshalb schließen die Bewahrung des Eigenen und die Aufgeschlossenheit dem Anderen, noch Fremden gegenüber einander nicht aus. Mit dem Ziel, Zusammenhalt in Vielfalt zu ermöglichen, kultivieren Konservative die Bindungen, die eine pluralistische Gesellschaft braucht: Dazu gehört Sicherheit durch verbindliche Regeln; dazu gehört Verantwortung in vielfältigen familiären Lebensformen und in einer starken Zivilgesellschaft; dazu gehört Heimatverbundenheit in der Wertschätzung und Pflege unserer kulturellen Identität; dazu gehören Zusammenhalt und Gemeinsinn – durch bürgerschaftliches Engagement, aber auch durch einen fairen Umgang miteinander. Konservative grenzen sich damit von all jenen ab, die Institutionen wie Ehe, Familie oder Kirche abwerten, die aus falsch verstandener Toleranz Werte und Traditionen preisgeben und Bindungslosigkeit für Freiheit halten. Die Folge einer Bindungslosigkeit und Unverbindlichkeit, in der sich niemand mehr für andere verantwortlich fühlt, ist die Allzuständigkeit des Staates – ein Politikverständnis, das dem Subsidiaritätsgedanken widerspricht und das nicht zufällig häufig mit der reflexhaften Abwehr konservativer Anliegen einhergeht.
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Zusammenhalt in Vielfalt ist möglich, solange es in unserer Gesellschaft eine Schnittmenge gemeinsam geteilter Werte gibt. Man muss diese Schnittmenge nicht Leitkultur nennen; der große Vordenker des politischen Liberalismus, John Rawls, sprach von einem „übergreifenden Konsens“, der Raum lässt für den Pluralismus der Lebensentwürfe und Weltanschauungen. Die mächtigste Bedrohung klassisch-konservativer Werte und Lebenswelten – der Verbindlichkeit familiärer und Paarbeziehungen, der religiösen Spiritualität, der Pflege von Traditionen – sind also nicht alternative Lebensentwürfe, unterschiedliche Weltanschauungen und fremde Traditionen. Es sind vielmehr die globalisierte Wirtschaft und die damit verbundene Ausbreitung der kapitalistischen Verwertungslogik. Die Soziologin Eva Illouz hat in ihren Büchern eindrucksvoll analysiert, wie der Kapitalismus Liebesbeziehungen untergräbt und die Scheu vor Verbindlichkeit fördert. Hinzu kommt: Menschen mit Wurzeln und Bindungen – sei es an Heimat, an Familie, an Religion und Traditionen – sind weniger markt- und konsumkompatibel. Die Erfordernisse der Arbeitswelt – Mobilität, Flexibilität, permanente Verfügbarkeit in Führungspositionen – zehren an zwischenmenschlichen Bindungen; die allgegenwärtige Dominanz des Konsums kappt Wurzeln und lässt identitätsstiftende Traditionen in Vergessenheit geraten, zu beobachten insbesondere in der Weihnachtszeit. Eine konservative, der Pflege gesellschaftlicher Bindungskräfte verpflichtete Politik sollte deshalb Schutzräume definieren, die dem Zugriff der kapitalistischen Logik entzogen sind – etwa mit dem Engagement für familienfreundliche Arbeitszeiten. Im Zeitalter der Digitalisierung sind es nicht zuletzt auch unsere demokratischen Errungenschaften, die zu bewahren Konservative als ihre nobelste Pflicht und Aufgabe betrachten. Denn das Internet ermöglicht mehr Freiheiten, als die Demokratie zuweilen vertragen kann. Namhafte Publizisten wie Jaron Lanier und Andrew Keens kritisieren zu Recht, dass das Netz Institutionen schwächt, die Demokratie aber gerade starke Institutionen braucht; dass im Netz das Recht des Stärkeren und Lauteren gilt, zur Demokratie aber der – Minderheiten schützende – Rechtsstaat gehört; dass im Netz Filterblasen entstehen und die Flut an Informationen unüberschaubar ist, Demokratie aber einen gemeinsamen Informationsund Verständigungsraum braucht. Paradox ist auch, dass wir als User Eingriffe in unsere Freiheitsrechte im digitalen Leben hinnehmen, gegen die wir uns als Bürger der analogen
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Welt empört zur Wehr setzen. Wir lassen beispielsweise zu, dass aus unseren persönlichen Daten ein lückenloses Netz sozialer Kontrolle wächst, und dass es immer weniger Orte und Augenblicke des Lebens gibt, die verlässlich dem Zugriff Fremder und dem Licht der Öffentlichkeit entzogen sind. Im digitalen Leben verzichten wir auf Rechte, die wir in der analogen Welt verteidigen. Die Demokratisierung des Digitalen – die Durchsetzung demokratischer Grundregeln auch im Netz – ist deshalb ein zutiefst konservatives Anliegen im digitalen Zeitalter. Konservativ heißt, die digitale Selbstentmündigung abzulehnen, die vielfach mit der Preisgabe persönlichster Daten verbunden ist – zum Zwecke eines geselligeren, unterhaltsameren, gesünderen, sportlicheren, erfolgreicheren, effizienteren und deshalb angeblich besseren Lebens. Konservativ ist, sich im Netz nicht zum bloßen Konsumenten und User degradieren zu lassen, sondern sich als Bürger zu verstehen – und das heißt: bürgerliche Rechte geltend zu machen und demokratische Grundprinzipien zu verteidigen. Heute, im Jahr 2019, erinnert uns nicht zuletzt auch das 70-jährige Jubiläum unseres Grundgesetzes daran, dass unsere Demokratie kein Besitz ist, sondern eine Errungenschaft, die Verteidiger und Bewahrer braucht – leidenschaftliche Konservative, die sich für den Schutz demokratischer Errungenschaften, ihren Fortbestand in einer sich wandelnden Welt einsetzen. So klar und übersichtlich wie zu vordemokratischen Zeiten, in denen der Konservatismus als politische Gegenbewegung zur Französischen Revolution entstand und das politische Spektrum sich in Bremser und Treiber des gesellschaftlichen Fortschritts unterteilen ließ, ist der Frontverlauf zwischen den politischen Kräften deshalb längst nicht mehr. Deutschland hat über die Jahrzehnte an Bewahrenswertem gewonnen – und ist dies nicht das Beste, was sich über ein Land sagen lässt? Unserem Grundgesetz kann und sollte man deshalb zum 70. Geburtstag vor allem eines wünschen: dass nicht nur Konservative das Bewahrenswerte beherzt verteidigen – dass nicht nur Konservative konservativ sind.
Konservatismus in einer digitalen Welt – Paradoxon oder Erfolgsfaktor? Von Thomas Middelhoff Es war Ende der 90er Jahre, als die CDU einen „Zukunftstag“ veranstaltete, zu dem man unter anderem mich als Referent eingeladen hatte. Ich war damals Strategiechef der Bertelsmann AG und für das entstehende Digitalgeschäft verantwortlich. Bertelsmann hatte gerade in America Online Inc. investiert, und aus den damaligen „Online Services“ entwickelte sich das Internet. Bundeskanzler Kohl begrüßte mich persönlich. Mir wurde ein Platz direkt neben ihm zugewiesen. Das war nicht nur eine große Ehre für mich, sondern auch ein Signal an die versammelten Parteimitglieder zur Bedeutung des Themas. Ausschnitte der Veranstaltung wurden abends, zur besten Sendezeit, in den Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender gezeigt. Ich sprach über die Entwicklungstendenzen der digitalen Welt. Ich erläuterte, welche infrastrukturellen Anforderungen das Internet für eine weitere erfolgreiche Verbreitung stellen würde. Die Forderungen aus Sicht der Wirtschaft, die ich damals vortrug, waren klar und eindeutig: Ein sofortiger Ausbau der breitbandigen Übertragungswege sei erforderlich, um eine erfolgreiche Verbreitung des Internets zu fördern. Schulen müssten dringend mit leistungsfähigen Personal Computern ausgestattet werden, einen besseren Netzanschluss erhalten, und die digitalen Medien seien in die Lehrpläne zu integrieren, damit Deutschland auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben könne. Außerdem müssten durch die Digitalisierung Verwaltungsprozesse in öffentlichen Haushalten effizienter gestaltet werden. Eine schnelle politische Befassung mit der Thematik und eine Umsetzung entsprechend dieser Forderungen wurden von Spitzenpolitikern der CDU zugesagt. Dachte ich damals über den Begriff Konservatismus nach,
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schien er mir zweifelsohne ein Erfolgsfaktor für die schnelle und erfolgreiche Digitalisierung des Landes zu sein. 20 Jahre später kommt man dagegen zu einem ernüchternden Fazit. Die breitbandige Infrastruktur ist bei uns im internationalen Vergleich auch aktuell nur unzureichend ausgebaut. Selbst osteuropäische Länder haben uns beim Netzausbau und dem Einsatz digitaler Prozesse, wie beispielsweise in öffentlichen Verwaltungen, weit hinter sich gelassen, von asiatischen Ländern ganz zu schweigen. Ein chinesischer Unternehmer, der mich besuchte, behauptete – möglicherweise zu Recht –, dass die Netzqualität in der Wüste Gobi deutlich besser sei als im Großraum Köln. Stellen Konservatismus und Digitalisierung heute statt einer Erfolgsformel also eher ein Paradoxon dar? Die politische Gegenwart legt das zumindest nahe: CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier legte Anfang 2019 eine Liste mit den Namen deutscher Unternehmen vor, die vom Staat in ihrer weiteren Entwicklung unterstützt und vor Übernahmen geschützt werden sollen. Diese Liste, die wie ein Überbleibsel der SED-Planwirtschaft anmutet und deren Auswahlkriterien nicht nachvollziehbar sind, führt Unternehmen auf wie Thyssen Krupp, Deutsche Bank und andere, die trotz relativer Umsatzgröße in ihrer Zukunftsfähigkeit deutlich begrenzt sind. Überspitzt könnte man es auch als ein Museum ökonomischer Dinosaurier bezeichnen. Unternehmen aus der digitalen Wirtschaft wie beispielweise Wirecard, das im Bereich digitaler Zahlungssysteme weltweit führend ist und bereits heute eine deutlich höhere Marktkapitalisierung aufweist als die Deutsche Bank, sucht man dagegen vergeblich auf dieser Liste. Offensichtlich sind dem Bundeswirtschaftsministerium neue nationale und internationale Champions im digitalen Bereich nicht bekannt. Auch die gern wiederholte Behauptung aus politischen Reihen, die SAP sei das einzige wirklich erfolgreiche Start-up in Deutschland, offenbart schlicht Unkenntnis, denkt man neben Wirecard an zwischenzeitlich etablierte Konzerne wie Zalando, das auch aus einem Start-up hervorgegangen ist, oder an junge Start-ups wie Weltsparen oder N26, die schon nach nur kurzer Zeit eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Euro erreicht haben. Wie fern sich diese beiden Welten zu sein scheinen, bewies im Frühjahr 2019 auch ein junger YouTuber mit Namen Rezo. Er schaffte es mit einem Video, das den markanten Titel „Zerstörung der CDU“ trägt, den EuropaWahlkampf der Partei derart negativ zu beeinflussen, dass die CDU neben
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der SPD als großer Verlierer aus diesem Wahlkampf hervorgehen „musste“. So jedenfalls die eigene Einschätzung der CDU-Parteistrategen. Unmittelbar nach der verlorenen Wahl forderte Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer angesichts des „Rezo-Videos“ denn auch prompt eine Regulierung des Internets. Dabei ist weniger die mit 1,4 Millionen Abrufen virale Verbreitung des Rezo-Beitrags auf YouTube überraschend, sondern vielmehr die Reaktion der konservativen Volkspartei CDU erschreckend. Mit einem zwölfseitigen Fax an die Parteimitglieder suchte sie Tage später die inhaltliche Auseinandersetzung mit Rezo. Zu diesem Zeitpunkt hatte dessen Beitrag längst die Millionengrenze an Abrufen überschritten. Es scheint, als seien unsere Volksparteien nicht in der Lage, eine sinnvolle Strategie für eine zunehmend digitalisierte Welt zu entwickeln. Es fehlen wirklich umfassende Lösungen für den Ausbau der Infrastruktur, für die zielgerichtete Förderung von Start-ups und für den ausreichenden Einsatz digitaler Medien in der Bildung – und in der Kommunikation mit dem Wähler. Es fehlt aber vor allem das grundlegende Verständnis für die Chancen und Risiken der Digitalisierung in unserem Alltag. Als der 45. Präsident der USA mit seinen Wählern bereits per Twitter kommunizierte, bevorzugte die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland nicht etwa die Kommunikation per WhatsApp, sondern per SMS, eine Technologie, die in hochentwickelten Ländern kaum mehr eingesetzt wird. Es steht deshalb die Frage im Raum, ob gerade jene Parteien, die programmatisch auf einem konservativen Kern beruhen, sich mit der Entwicklung moderner Technologien und deren Verbreitung besonders schwer tun? Steht eine konservative Haltung der Digitalisierung möglicherweise im Wege? Verhindert der Konservatismus eine wettbewerbsfähige Rolle unseres Landes im sogenannten Global Village? Sind Nationen, die eine andere politische Ausrichtung oder Kultur aufweisen, besser auf die Diffusion des Internet vorbereitet, wie beispielsweise die USA, China, Finnland und Estland? Oder haben Länder, die wie Litauen im digitalen Bereich weiterentwickelt sind, ein anderes Verständnis von Konservatismus? Der Begriff Konservatismus geht auf das lateinische conservare zurück und bedeutet in seinem Wortkern so viel wie erhalten oder bewahren. Während im kontinental-europäischen Verständnis des Konservatismus
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dem Staat eine relativ starke Funktion zugewiesen wird, an dem sich konservatives Ordnungsdenken ausrichtet, spielt im angelsächsischen Konservatismus das Individuum eine zentrale, positiv bewertete Rolle. Im angelsächsischen Wirtschaftsmodell spielt der Staat eine eher untergeordnete Rolle. Nach diesem Verständnis des Konservatismus hätte es für den deutschen Staat, der die bedeutendste kontinental-europäische Wirtschaft beheimatet, eigentlich eine vordringliche Aufgabe sein müssen, die erforderliche Infrastruktur zu schaffen, die für eine erfolgreiche Entwicklung der digitalen Wirtschaft notwendig ist. Nichts anderes versteht man unter wirtschaftspolitischer Zukunftssicherung. Dass die konservative deutsche Politik sehr wohl zu massiven technologischen Einschnitten fähig ist, hat sie mit der Energiewende bewiesen. Als Folge des Reaktorunglücks in Fukushima, dessen Ursache ein Tsunami war, wurde der Ausstieg aus der Atomenergie erzwungen, obgleich die Geschichtsschreibung noch von keinem Tsunami in hiesigen Breitengraden berichtet hat. Diese konservativ politisch herbeigeführte Entscheidung hat und wird den deutschen Steuerzahler auch künftig noch jährlich mit Milliardensummen belasten, während in Japan weiter in die Atomenergie investiert wird – trotz des dort tatsächlich weiterhin bestehenden TsunamiRisikos. Die Konsequenzen dieses konservativ-politisch gewollten Abbaus von Technologie sind ebenso eindrucksvoll, wie der konservativ politisch zu verantwortende fehlende Ausbau der digitalen Infrastruktur: Der Industriestandort Deutschland hat heute mit die höchsten Energiekosten, relativ sichere eigene Atomkraftwerke wurden abgeschaltet, während unsichere Atommeiler unmittelbar jenseits der deutschen Grenze weiter betrieben werden. Die deutsche Wirtschaft musste darüber hinaus ein zentrales Technologiefeld, auf dem sie weltweit wettbewerbsfähig und führend tätig war, räumen. Dieser Ausstieg aus der Atomenergie widerspricht im Kern eigentlich den Prinzipien konservativer Politik. Und er entspricht auch nicht dem bürgerlichen Gedanken des Bewahrens. Wenn es einen nationalen Konsens für den Ausstieg aus der Atomenergie gegeben hat, so zumindest wurde es von den konservativen Entscheidungsträgern kommuniziert, wäre die Herbeiführung eines solchen Konsenses über den Nutzen der Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft und den adäquaten Ausbau der notwendigen Infrastruktur ebenso
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eine zentrale Aufgabe des Staates gewesen. Der gegenwärtige Status quo ist allerdings ein Armutszeugnis. Ist die konservative Politik also besser im Abbau von Technologien mit der Abrissbirne als in deren zukunftsfähiger Entwicklung? Oder verschläft Berlin die Bedeutung der Digital Economy für die Zukunft unseres Landes? Vielleicht gibt die Selbsteinschätzung Aufschluss über die gegenwärtige Gemütslage konservativer Politik. Sie schwankt zwischen Selbstüberschätzung und Naivität: Da wird gern die Forderung erhoben, in einem vergleichsweise kleinen Sprachraum wie dem deutschen könnten auch Global Player wie Google, Apple oder Amazon entwickelt werden. Dabei liegen die Stärken der hiesigen Wirtschaft woanders: Spezialisierte digitale Lösungen für mittelständische Anwendungen sind das, was deutsche Entwickler weltweit leisten und durchsetzen können und was mittelständische Unternehmer, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, zum weltweiten Erfolg führen können. In dem Kontext zeigt auch der Ruf nach einer Regulierung des Internets, dass es bis heute nicht wirklich verstanden wurde. Man muss hier ohnehin die Frage stellen dürfen, wie eine konservative Partei, die bei der Europawahl 2019 von rund vierzig Prozent der mindestens 70-Jährigen gewählt wurde, Schwerpunkte im Bereich der Zukunftstechnologie wie der Digitalisierung setzen kann. Mit einer solchen Wählerstruktur muss die Sicherung der Renten logischerweise bedeutsamer sein. Die letzten zwanzig Jahren haben es eindrucksvoll verdeutlicht: Der Konservatismus hat die Entwicklung der technischen Infrastruktur als Grundlage einer digitalen Gesellschaft und Wirtschaft nicht ausreichend vorangetrieben. Die flächendeckende schnelle Anwendung digitaler Prozesse ist noch immer nicht Realität. Das Internet wird in Deutschland von konservativen Kräften zudem durch eine bewahrende Haltung noch immer oft als feindlich eingestuft, die gesellschaftlichen Risiken werden überbewertet und der individuelle Nutzen kleingeredet. Ob die Defizite von fast zwanzig Jahren Versäumnis durch einen Wechsel in der CDU-Parteiführung schnell abgebaut werden können, erscheint zweifelhaft. Erst wenn es gelingt, konservativ programmatisch die Pflicht des Staates herauszuarbeiten, eine moderne digitale Infrastruktur zu schaffen, lassen sich die vermeintlichen Gegensätze des Bewahrens im konservativen Verständnis und der Notwendigkeit des verändernden Gestaltens in der digitalen Welt vereinen.
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Es bleibt zu hoffen, dass der Konservatismus in Deutschland hierfür kurzfristig die notwendige Bereitschaft entwickelt.
Der Name des Vaters Von Svenja Flaßpöhler Im progressiven Sinne konservativ sein? Ja, natürlich ist das möglich. Tatsächlich tappen gerade die, die sich mit aller Macht von Traditionen zu lösen versuchen, nicht selten in die Regressionsfalle. Progressiv konservativ sein, das heißt: erkennen, welche Bräuche gerade im Dienste des Fortschritts bewahrenswert sind. Genauer: Traditionen, die auf einen ersten Blick überholt zu sein scheinen, können in einer neuen Zeit einen neuen Sinn gewinnen. Hier ein Beispiel aus meinem, unserem Leben. Die Geschichte beginnt vor zwölf Jahren, ich bin damals mit unserem ersten Kind, unserer Tochter, schwanger. Das Mädchen wächst in meinem Bauch, ich spüre seine Tritte, die immense Verantwortung: Mein Körper ist auch der Körper unseres Kindes. Kurz vor der Geburt dann das erste Gespräch mit meinem Mann (der damals noch mein Lebensgefährte war) über den Nachnamen, den unser Kind tragen soll. Denn wir beide sind sicher, selbst wenn wir heiraten sollten (was wir ein gutes Jahr später auch taten), würden wir jeweils unseren Namen behalten. Und so stellt sich für uns eine Frage, die die längste Zeit der Menschheitsgeschichte überhaupt keine Frage war (die Möglichkeit, verschiedene Nachnamen zu führen, besteht erst seit 1994): Welches wird der Familienname – meiner oder der des Vaters? Mein erster Impuls damals war klar und stark: Natürlich bekommt unser Kind – und alle, die ihm noch folgen sollen – meinen Nachnamen. Immerhin trage ich die Kinder in mir, bringe sie zur Welt, stille sie, bin mit ihnen aufs Engste verbunden! Schluss mit dem Namen des Vaters, dieser patriarchalen Geste, mit der Männer jahrhundertelang ihre Macht sichern und symbolisieren wollten, obwohl sie sich kaum je zu Hause blicken ließen: Unsere Kinder heißen Flaßpöhler. Nun ist es nicht so, dass ich diesen Entschluss gegen meinen Mann durchsetzen musste. Im Gegenteil, ich rannte offene Türen ein. So wie ich war auch er der Ansicht: Seine Verbindung zu den Kindern braucht keine billige Symbolik. Er verbindet sich mit
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ihnen emotional. Durch die Zeit, die er mit ihnen verbringt. Durch seine Liebe und Hingabe. Und so kam es, dass Mama und Tochter denselben Nachnamen trugen und mein Mann einen anderen. Aber als unsere Tochter ein knappes Jahr alt war, beschlichen mich erste Zweifel. Es kam mir so vor, als hätte man die eine Seite einer Waage zu schwer beladen, so dass die andere in der Luft hing. Die schwer beladene Seite: Das war ich. Die in der Luft: mein Mann. Was war geschehen? Wir waren – zumindest aus meiner Sicht – einem Irrtum aufgesessen. Denn: Auch wenn der Vater sich emotional voll ins Zeug legt und genauso viel Zeit mit den Kindern verbringt wie die Mutter (was in unserem Fall auch zutraf ), zieht er im Vergleich zu dieser doch den Kürzeren. Er ist und bleibt auf der leiblich-emotionalen Ebene eine defizitäre Mutter. Männer können nicht schwanger werden, sie tragen nicht neun Monate lang ein Kind im Bauch, sie gebären es nicht, sie stillen es nicht. Woraus natürlich auch folgt, dass Vaterschaft schon immer bezweifelbar war, anders als die Mutterschaft: „Mater semper certa est“, wie ein altes Rechtssprichwort besagt. Diese Unwucht zeigte sich in unserer Familie ganz konkret: So liebevoll mein Mann mit unserer Tochter auch umging – instinktiv suchte sie, wenn sie die Wahl hatte und wir beide in greifbarer Nähe waren, mich. Meinen Körper. Wenn sie nachts wach wurde: Sie rief nach mir. Wenn sie bei uns ins Bett gekrochen kam: Sie drückte sich fest, ganz fest an mich heran. Warum also, fragte ich mich nach einem Jahr des Mutterseins, habe ich mir eigentlich zusätzlich zur leiblichen Verbindung auch noch die symbolische unter den Nagel gerissen? Was hat mich da geritten? War das wirklich der Wunsch nach Emanzipation? Nein, musste ich später eingestehen. Vielmehr verwechselte ich Feminismus mit Allmacht. Aus der biologischen Tatsache, dass Frauen Kinder gebären können, folgt eben gerade nicht das unbedingte moralische Recht auf die Namensweitergabe. Das Gegenteil ist der Fall. Denn wie sollte der Vater die Doppelmacht aus leiblicher und symbolischer Verbindung aufwiegen? Wie sich als potenter Dritter ins Spiel bringen? Der mütterliche Wunsch, den eigenen Namen weiterzugeben, ist bei Lichte betrachtet weniger ein Verlangen nach Gerechtigkeit respektive Entschädigung (ich hatte die Schmerzen der Geburt, jetzt will ich auch gefälligst meinen Namen vererben!) als vielmehr ein Verlangen nach Macht. Um es überspitzt zu formulieren: Der Mann wird zu einer Art austausch-
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barem Wurmfortsatz degradiert. Wenn man ihn abschneidet, bleibt der Mutter-Kind-Organismus unbeschadet bestehen. Das Fatale an dieser Dynamik: Je mehr ein Vater in dem Wunsch und dem Willen, ein fürsorglicher, unabkömmlicher Vater zu sein, um das mächtige Mutter-Kind-Gestirn kreist, desto gefährdeter ist er, als Satellit kläglich an der Peripherie zu verglühen. Nun soll damit nicht gesagt werden, dass das Gegengewicht zur mütterlichen Potenz auf männlicher Seite einzig und allein im Namen ruht. Doch sollte seine symbolische Kraft auch nicht unterschätzt werden. Der Name ist mehr als Schall und Rauch. Er zeigt Verbindung an, stiftet Identität, tradiert Geschichte. Das ist eine ganze Menge, und so ist es nicht überraschend, dass Männer bisweilen auch ganz froh darüber sind, sich diesen Schuh nicht anziehen zu müssen: Die Mutter will ihren Namen vererben? Bitte schön. Nun gehört mein Mann gewiss nicht zu dieser Art von Vätern, die sich gerne schnell wieder aus der Affäre ziehen. Und ich stimme mit ihm auch darin überein, dass die Reform des Namensrechts selbstredend unverbrüchlicher Ausdruck rechtlicher Gleichberechtigung ist. Und ja, auch das ist richtig: Natürlich ist mir ein anwesender Vater lieber als ein abwesender. Überhaupt keine Frage. Zumal ich nur unter dieser Voraussetzung überhaupt meiner Arbeit nachgehen kann. Aber: Warum um alles in der Welt sollte gerade ein anwesender, fürsorglicher Vater nicht in den Genuss kommen, seinen Namen weiterzugeben? Und warum sollte es unfeministisch sein, wenn eine Frau auf ein Recht, das ihr zusteht, aufgrund einer tiefen Einsicht verzichtet? Um diese kleine Geschichte zu beenden: Ich habe mich durchgesetzt. Wir haben den Familiennamen nachträglich standesamtlich ändern lassen, nun heißen beide Kinder wie ihr Vater. Der einzige Wermutstropfen: Mein Mann trägt diese Entscheidung nur widerwillig mit. Was ich als Gabe, als Geschenk an ihn verstanden wissen wollte, nimmt er als Affront auf: Glaubst du etwa, ich brauche diesen symbolischen Support? Machst du mich mit solch einer wohlfeilen Geste nicht erst recht klein? Ganz so einfach lassen sich die gewaltigen Umschichtungen und Transformationen, die das Geschlechterverhältnis in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat, offensichtlich nicht neu ordnen. Was bewahrenswert ist und was nicht, wird Gegenstand von Auseinandersetzungen bleiben. Aber gerade darin, dass wir diesen Kampf zulassen und ihn klug zu führen
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wissen, besteht die Voraussetzung dafür, dass wir Traditionen weder um ihrer selbst willen bewahren, noch sie reflexhaft entsorgen. Fortschritt wird aus der Dialektik geboren. Der Dialektik der Positionen. Und der Dialektik von alt und neu.
Auf der Suche nach unserer verlorenen Zeit Von Dirk Ippen In unseren Kindertagen nach dem Krieg gab es viele Helfer mit Berufen, die es heute schon lange nicht mehr gibt. Der Kohlenhändler schüttete die begehrten Briketts so vor das Kellerloch, dass wir Kinder sie per Hand einräumen konnten. Kühlschränke gab es nicht. Aber Brauereiarbeiter mit Leder auf den Schultern brachten große, schwere Eisstangen ins Haus. Die kamen im Keller in einen Schrank und kühlten bis zur nächsten Eisanlieferung. Nie vergesse ich den Flötenton des Lumpensammlers, wenn er mit seinem Pferdewägelchen langsam durch die Straßen fuhr: „Lumpen, Eisen, Knochen und Papier – ausgehau’ne Zähne sammeln.“ Mit diesem Liedchen begleiteten wir ihn. Zähne wurden zu unserer Zeit nicht mehr eingesammelt, aber vor Kurzem bin ich über den Begriff „Waterloo-Zähne“ gestolpert. Nach dieser verlustreichsten Schlacht des 19. Jahrhunderts haben Leichenfledderer die Zähne der Gefallenen eingesammelt, um sie als Zahnersatz zu verkaufen. Natürliche Zähne sind lange ein begehrter Rohstoff geblieben. Von Zeit zu Zeit stellte ein Scherenschleifer seinen Karren vor die Haustüren. Der nahe Stadtpark wurde von Parkwärtern bewacht, mit Respekt einflößendem Schäferhund versteht sich. Wir Kinder standen auf Kriegsfuß mit ihm, denn sie hatten wohl vor allem die Aufgabe, tobende Kinderbanden wie uns am Betreten des Rasens zu hindern. Der liebste aber von allen Helfern ist mir bis heute der Laternen-Anzünder geblieben. Jeden Abend in der beginnenden Dämmerung kam er mit dem Fahrrad zu der Gaslaterne auf unserer Straße. Mit dem Haken einer langen Stange entflammte er das warme, milde Licht der Laterne, bis es in der Morgendämmerung wieder ausgelöscht wurde. Die Sympathie, die wir Kinder für den Laternen-Anzünder hatten, fanden wir bestätigt in dem reizenden kleinen Büchlein Der kleine Prinz von
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Antoine de Saint-Exupéry. Das wurde damals viel gelesen. Auf seiner Suche nach einem Freund, den der kleine Prinz bei seiner Wanderung von Planet zu Planet nicht finden kann unter den Königen, den Eitlen, den Geschäftsleuten und den Säufern, hätte er einzig den Laternen-Anzünder gerne erwählt. Er allein tut eine bescheidene, sinnvolle Arbeit und dabei denkt er nur an andere, nicht an sich selbst. Die Tragödie des Laternen-Anzünders aber ist, dass sein Planet sich von Jahr zu Jahr schneller und schneller dreht. Schließlich muss der LaternenAnzünder im Minutentakt seine Lampe anzünden und gleich wieder löschen. Die ihm zugewiesene Arbeit war nur sinnvoll, als Tag und Nacht noch ihre normale Länge hatten. Je älter wir werden, umso mehr teilen wir alle das Schicksal dieses Laternen-Anzünders. Für uns dreht sich die Erde heute einfach viel schneller als in unseren Kindertagen, in denen sich Tage, Monate und Jahre scheinbar endlos hinzogen. Wie lang war die Zeit von Weihnachten bis Ostern, wo es Schulzeugnisse gab, und wie unendlich lange lagen die Jahre vor uns, die jetzt rückblickend wie im Fluge vergangen sind.
Der Konservatismus der Barrikade Von Dan Diner Das Zeitalter der digitalen Revolution und der künstlichen Intelligenz lässt nicht nur die der Modernen hervorgegangenen Begriffswelten mutieren. In Folge der sich abspielenden Verwandlungen scheinen mehr noch anthropologisch als gewiss vorausgesetzte, den vertrauten Gefühls-, Denk- und Sozialwelten entsprungener Episteme sich in einem Zustand der Auflösung zu befinden. Dies gilt nicht nur für die allseits sichtbare Einebnung bislang geltender Trennung der Sphären des Intimen, des Privaten und des Öffentlichen oder der Unterscheidungen von Modi der Kommunikation wie die zwischen Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Bildlichkeit; auch die intellektuelle Generierung des Abstrakten, seine durch Kognition hervorgerufene metaphorische Bebilderung mittels lebensweltlich geschöpfter Sinn- und Zeichenwelten scheint im Kern getroffen. Ersetzt wird sie von einer maschinell gezeugten, sprich algorithmisch regulierten Empirie. Das durch Begriff und Kategorie erschaffene Abstrakte wird durch eine zunehmend sich durchsetzende Herrschaft des Konkreten abgelöst. Die komplexe, gemeinhin den Sinnen entzogene, den Weg der Abstraktion gehende Verwandlung – so etwa die erkenntnistheoretisch angeleitete Verwandlung von Mikro in Makro – findet sich durch die Quantifizierung schier endlos sich ergießender Datenströme von Big Data ersetzt. Das epistemische Arkanum der Black-Box ist längst Licht durchflutet. Risiko, Wagnis, Zufall und Zweifel finden sich durch digitale Lenkung zunehmend reduziert. Alles wird kalkulierbar, voraussehbar, regulierbar. Mit der maschinell ausgelösten Tendenz der Annullierung des Abstrakten finden sich auch klassische Begriffe politischer Ordnung im Kern getroffen. Die Repräsentation, die (abstrakte) Vermittlung des Volkswillens also, wird durch die Unmittelbarkeit der elektronischen Kommunikation zersetzt; die parlamentarische Vertretung eines abstrakten, durch Mehrheitsverhältnisse hervorgebrachten und durch die Maßgaben der Verfas-
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Dan Diner
sung regulierten, mithin ein neues Ganzes erzeugenden Volkswillens wird durch den immediaten partikularen Anspruch auf Erfüllung des Willens vieler Einzelner unterminiert. Die klassischen Mediatoren der politischen Willensbildung, die traditionellen Parteien – vornehmlich dem Vereinswesen und damit dem institutionell vertrauten Humus des 19. Jahrhunderts erwachsen – schmelzen ab. Sie treten nicht mehr auf als fraktionelle Agenturen organisierter Interessen und sinnstiftender Weltanschauungen, sondern als zunehmend unverbindliche, um Spezialinteressen gruppierte, von Mal zu Mal neu sich formierende Wahlbündnisse. Der um sich greifende Verlust der alle miteinander verbindenden Sphäre des Abstrakten und ihrer institutionellen Agenturen der Öffentlichkeit und Allgemeinheit versetzt Resonanzböden verantwortungslosen Unwillens in Schwingungen. Die althergebrachten Gefäße der Generierung politischer Willensbildung und Vermittlung zerspringen. Wie nachhaltig, wie bewahrend ist angesichts einer in die Richtung einer anthropologischen Krisenkonstellation weisenden Transformation die Geltung einer dem 19. Jahrhundert erwachsenen politischen Begriffswelt? Wie stark sind vormals gültig gewesene, vornehmlich der bürgerlichen Revolutionszeit des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert geschuldete Sprach- und Zeichenwelten des Politischen – etwa die binär ausgelegte fraktionelle Unterscheidung des durch anerkannte Regularien zum Allgemeinen sich verdichtenden Willens zwischen „Links“ und „Rechts“? Wie weit reichen noch jene teleologisch aufgeladenen, auf den Suffix „Ismus“ endenden ideologischen Zuweisungen wie Sozialismus, Liberalismus oder Konservatismus? Derart weltanschaulich gerichtete Substantivierungen sind allesamt der Moderne erwachsen. Dies gilt selbstredend für den Status quo der bürgerlichen Gesellschaft, für die Wahrung eines im Zeichen formaler Freiheit und Gleichheit stehenden Liberalismus; für den mit Vorstellungen der sozialen Beschleunigung in Verbindung gebrachten Sozialismus; und nicht zuletzt auch für den Konservatismus, eines auf Bewahrung gerichteten, paradoxerweise selbst der Moderne entsprungenen und sich damit von bloßer Tradition wie Traditionserhaltung im Sinne vormoderner Lebenswelten unterscheidenden politischen Verständnisses. Als konservativ galt die Bindung an die Transzendenz und damit an die Institution des sich christlich verstehenden Staates als Anker im Sturm einer von der bürgerlichen
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Gesellschaft ausgelösten Veränderung. Der Konservatismus war von einem katechontischen, einem aufhaltenden Charakter. Er stemmt sich gegen den Wandel. Heute mag „konservativ“ sich in einem geringeren Maße als Ausdruck eines politischen Bekenntnisses erweisen als eine von außen her erfolgte Qualifizierung. Dies mag für Tendenzen gelten, die paradoxerweise in der Vergangenheit, in der Welt des 19. Jahrhundert, als Ausbund des politischen Progressismus galten und die zur Welterklärung die Semantiken des Sozialen ebenso sehr bedienten wie sie zur Erfüllung ökonomischer Bestrebungen die Arbeitsorganisation des Fabriksystems entsprechend kollektiv organisierten. Heute erscheinen sie als abgelebt. Einem derart inständigen Bewahren jener Denk- und Lebensformen käme das Attribut des Konservativen zu. Konservativ wäre die anhaltende Sehnsucht nach einem Fortwähren der Begriffswelten sozialer Kämpfe. Das, was in einer vergehenden Welt als „fortschrittlich“ und als die Zeit beschleunigend galt, erweist sich in der Gegenwart als beharrend. Das gilt auch für die ikonischen Zeichen jener Vergangenheit: Heute mutiert die Barrikade zu einem konservativen Symbol.
Konservatismus: Ein Begriff, um den es sich zu kämpfen lohnt Von Philipp Amthor Das Ringen um den Begriff des Konservatismus ist aktuell – vor allem bedingt durch neueste Entwicklungen der Parteienlandschaft – zwar wieder vermehrt Gegenstand politischer Debatten, aber das Konservativsein selbst bleibt gleichwohl eine Eigenschaft, derer sich viele Politiker häufig nicht allzu offensiv rühmen wollen. Anstatt für „konservative“ Politik zu werben, verweisen etliche Politiker lieber auf eine „bürgerliche“ oder „werteorientierte“ Politik und reservieren den Begriff des Konservativseins eher für interne Debatten am Stammtisch als für breite öffentliche Diskussionen. Ein wenig verwunderlicher Befund, wenn man bedenkt, dass sich eine signifikante Mehrheit von Wählern selbst wohl durchaus als „bürgerlich“ oder als „werteorientiert“, aber wohl nicht durchgehend als „konservativ“ bezeichnen würde. Dies schon allein deshalb nicht, weil der Begriff des Konservativen derzeit ja schon im Allgemeinen durchaus negativ belegt erscheint – zu wenig modern, zu wenig offen, zu wenig innovativ, zu verstaubt. Kurz und gut: Das Konservativsein erscheint prima facie als „marketingtechnischer Totalausfall“. Sollte man demnach eventuell all denjenigen, die eine konservative Politik betreiben wollen, die Empfehlung geben, dies zu tun, ohne es so zu bezeichnen? Oder sollte man den Begriff des Konservativen wegen vermeintlich mangelnder Attraktivität und wegen vermeintlich fehlender Massenkompatibilität am besten gleich in die Mottenkiste verbannen? Nein! Dies schon erstens nicht, weil mit jeder Frontbegradigung durch ein Aufgeben von Begriffen immer auch ein Aufgeben von Inhalten verbunden ist. Und zweitens und schon ganz grundsätzlich nicht, weil am Anfang von Politik niemals nur Erwägungen von Marketing und vermeintlicher Massenkompatibilität, sondern immer inhaltliche Erwägungen und Überzeugungen stehen sollten. Dabei ist der Konservatismus ein so unersetzlicher Kompass, dass er nicht in die Mottenkiste, sondern direkt in das
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Zentrum politischer Debatten gehört. Der Konservatismus ist ein Begriff, um den es sich zu kämpfen lohnt. (1) Haltung und Zurückhaltung: Der Konservatismus als Kompass taugt weit weniger als Quelle eines konkreten tagespolitischen Programms, sondern vielmehr als Quelle einer grundlegenden politischen Haltung – als Grundeinstellung, die Handeln und Denken eines Politikers prägt. Diese Prägung dürfte im Regelfall in gleich zweifacher Hinsicht vor allem von Zurückhaltung getragen sein: Ein Konservativer ist wohl erstens gemeinhin zurückhaltend gegenüber allzu großer Polemik und gegenüber populistischer Zankerei und dürfte stattdessen wohl eher auf diskursive Selbstdisziplin und auf persönliche Manieren setzen, woraus die praktische Erkenntnis abzuleiten ist, dass diejenigen, die am lautesten und schrillsten schreien, dass sie Konservative seien, es in vielen Fällen gar nicht sind. Und zweitens dürfte sich ein Konservativer im Regelfall vor allem zurückhaltend gegenüber vorschnellen Veränderungen zeigen – skeptisch im besten Sinne also, was anstatt eines unbesonnenen Übernehmens bestechend einfacher Positionen immer eher in einem kritischen Hinterfragen dieser Position münden sollte. Kurzum: Ein Konservativer diskutiert mit Anstand, und er weiß, dass das vorhandene Gute häufig besser ist als das vermeintlich Bessere. Ein Konservativer weiß, dass nicht das Bestehende seinen Fortbestand rechtfertigen muss, sondern dass stattdessen das vermeintlich Neue seine Vorzugswürdigkeit gegenüber dem Bestehenden erweisen muss. Daraus folgt – anders als dies mancher Kritiker unterstellen mag – aber keineswegs Fortschritts- oder gar Zukunftsfeindlichkeit. Ganz im Gegenteil: Ein Konservativer strebt nicht per se nach dem Konservieren des Gegenwärtigen, sondern immer auch nach einer Verbesserung und Weiterentwicklung des Bestehenden. Eine solche Veränderung will ein Konservativer aber nicht um ihrer selbst willen, sondern stattdessen allenfalls als bedachte, schonende und reflektierte Anpassung an gewandelte Umstände. Ein Konservativer blickt also nicht vergangenheitsgefangen zurück, aber auch nicht planungslos-euphorisch voraus. Stattdessen schaut er stets positiv-skeptisch, aber immer auch zukunftsoffen und ganz direkt in die aktuelle Lebensrealität – eine klare Haltung mit Zurückhaltung. (2) Vorstellung von Mensch und Staat: Obschon der Konservatismus im skizzierten Verständnis weniger politisches Programm denn eher politische Haltung ist, ist er weder voraussetzungs- noch inhaltslos. Ganz im Gegen-
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teil: Der Konservatismus fußt auf einer ganz grundlegenden Erkenntnis, die gleichzeitig Voraussetzung und Handlungsauftrag ist. Nämlich auf der Erkenntnis, dass der Mensch niemals allwissend in ein luftleeres Ideologie-Laboratorium, sondern immer unvollkommen in eine schon bestehende und gewachsene Ordnung hineingeboren wird – ein zentraler Gedanke des christlichen Menschenbildes. Aus dieser Grundannahme folgen zwei zentrale Schlussfolgerungen für eine konservative Vorstellung von Mensch und Staat, auf denen sich ein konsistentes politisches Programm errichten lässt: Erstens ist der Mensch durch seine natürliche Unvollkommenheit zwar darin begrenzt, dass ihm ein unzweifelhafter Blick in die Zukunft verwehrt ist, was Skepsis gegenüber dem Ungewissen jederzeit angeraten erscheinen lässt, aber gleichzeitig ist er trotz dessen durch seine individuelle Würde bis zu dieser Grenze seiner Unvollkommenheit auch zu grenzenloser individueller Freiheit in Verantwortung für sich und seinen Nächsten berufen. Aus dieser untrennbaren Einheit von Freiheit und Verantwortung folgt zweitens wiederum, dass der Mensch nie nur Individuum, sondern immer auch verantwortlicher Teil einer Gemeinschaft ist, was im Hinblick auf den Staat bedeutet, dass ein Konservativer diesen als gemeinwohlverpflichteter Bürger wertschätzend anerkennt und sich seiner (Rechts-)Ordnung unterwirft, ihn notwendigenfalls aber auch subsidiär gegenüber dem selbstverantwortlichen Individuum und der Familie hintanstellt, solange deren Freiheit nicht die Freiheit der Anderen beschränkt. Konservative Politiker respektieren und schützen demnach konsequent ihren Staat und arbeiten daran, ihn zum Wohle der Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Dabei ist ihr Bezugspunkt allerdings nicht irgendeine Ideologie, sondern der Mensch in seiner unveräußerlichen Würde. (3) Realität statt Ideologie: Man mag die skizzierte politische Haltung und die entfalteten politischen Vorstellungen vom Menschen und vom Staat durchaus als „bürgerlich“ oder als „werteorientiert“ bezeichnen können. Für mich sind diese Positionen aber im besten und im originären Sinne „konservativ“. Für mich sind diese Positionen solche Positionen, für die es sich jederzeit zu kämpfen lohnt. Für mich sind diese Positionen kein „marketingtechnischer Totalausfall“, sondern schlicht die Grundlage einer gelingenden und gewinnenden Zukunft unseres Staates, die jederzeit auch jedem allzu hip-modernistisch-beliebigen Zeitgeist selbstbewusst
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entgegengehalten werden kann und entgegengehalten werden sollten – für die Menschen und die ihnen anvertraute Realität und gegen Wunschvorstellungen und Ideologie!
Bloß keine Experimente! Von Gesine Schwan Vom Wortsinn her verbinde ich mit dem Wort „konservativ“ eine politische, oft kulturell unterlegte Haltung, die neuen Entwicklungen gegenüber skeptisch oder abwartend gegenübersteht. Veränderungen prüft sie genau hin auf ihren Wert bzw. ihren Vorteil, bevor sie eingeführt werden. Konservative sind mit der Welt, in der sie leben, prinzipiell einverstanden, glauben jedenfalls nicht daran, dass man sie grundlegend ändern kann. Ihr Menschenbild traut den Menschen keine systematische Entwicklung zum Besseren zu, sondern folgt tendenziell der Idee von Thomas Hobbes, dass Menschen von Natur aus einander „Wölfe“, also Gegner bzw. Konkurrenten sind, bei denen untereinander daher eher Vorsicht, ja Misstrauen vorherrscht. Das ist für sie eine anthropologische Konstante. Politische Forderungen nach Fortschritt stehen deshalb unter dem Verdacht, geschichtsphilosophischen Illusionen nachzuhängen oder gewachsene gedeihliche Lebensformen zu bedrohen. Die aus dem liberalen wie dem linken politischen Spektrum propagierten Ideen der individuellen Emanzipation, der Befreiung aus nicht selbstbestimmten Verhältnissen führen demnach dazu, die Gesellschaft zu atomisieren und die Werte des Zusammenhalts, der Gemeinschaft zu unterminieren. Ein dafür typisches Feld ist die Rollenverteilung in der Familie, die von vielen Konservativen als von Gott gegeben angesehen wird: Die Frauen haben die Aufgabe, Kinder und Haushalt zu versorgen, die Männer dagegen, draußen in der Welt den Unterhalt zu verdienen. Jahrzehnte lang haben Konservative sich daher im 20. Jahrhundert gegen die Emanzipation der Frauen gerichtet und deren Kampf dafür verantwortlich gemacht, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft nachlässt, weil sie sich nicht mehr zureichend um die Familien kümmern. Freilich haben die gravierenden Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft dieser Vorstellung den ideellen wie den materiellen Boden entzogen – viele Mütter müssen einfach zum Lebensunterhalt be-
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ruflich beitragen –, so dass diese Rollenverteilung sich als nicht überlebensfähig erwiesen hat. „Nachwehen“ dessen zeigen sich immer wieder dann, wenn Konservative den Kampf gegen Abtreibung vehement auf die Agenda setzen, um politische Unterstützung zu gewinnen. Hier gibt es auch Zusammenhänge zwischen Konservatismus und patriarchalischen Gesellschaftsvorstellungen. Da gesellschaftlicher Wandel, ob willentlich angestrebt oder einfach geschehend, Konservativen spontan als bedrohlich erscheint, zählt Stabilität für sie zu den wichtigsten politischen Zielen. Konrad Adenauers Wahlkampfparole in den fünfziger Jahren: „Keine Experimente“ ist ein der Sache nach sich immer wiederholender Prototyp konservativer Wahlmobilisierung. Auch Sicherheit gehört zu den bevorzugten Zielen von konservativer Politik, aber auch von persönlicher Lebensgestaltung. Als deren Garant werden traditionell dafür zuständige Institutionen wie Polizei und Militär angesehen. Sie sollen potenzielle Ordnungsbrecher oder Gewalttäter abschrecken. Abschreckung zählt deshalb auch zum Kernbestand konservativer politischer Strategien. Entsprechend dem Menschenbild des Thomas Hobbes, der von einer naturgegebenen menschlichen Aggressivität ausgeht, setzen sie nicht vorrangig auf Verständigung oder auf gesellschaftliche Reformen, etwa zu Gunsten von Sicherheit durch gerechte soziale Verhältnisse. Stattdessen baut konservative Politik auf Drohpotenzial, das es deshalb immer zu bewahren gilt, um Menschen davon abzuhalten, Böses oder Unerwünschtes zu tun, aus Angst vor den Konsequenzen. Somit ist auch Angst eine zentrale unverzichtbare Motivation dafür, das Richtige zu tun, die negativen Antriebe von Menschen zu bändigen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und auch Leistung – wie immer sie definiert wird – zu erbringen. Die zeitgenössische Version dieser Motivationslehre findet sich in der Kultur des Wettbewerbs, der aus einem Prinzip des wirtschaftlichen Marktes zu einem allgemeinen Gesellschaftsprinzip ausgeweitet worden ist. In diesem Sinne hat in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts der damalige BDI-Vorsitzende Olaf Henkel gefordert, dass Deutschland sich von einer Wettbewerbswirtschaft zu einer Wettbewerbsgesellschaft weiterentwickeln müsse, um die in der Globalisierung erforderlichen Leistungen zu erbringen. Nur wenn man wie beim Sport überall im täglichen Leben – in der Bildung, in der Kultur, in der Wissenschaft, in der Medizin etc. – Bester werden will, weil man sonst befürchten muss,
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zurückzubleiben und verloren zu gehen, überwindet man die eigene Trägheit und strengt sich an. Gut fühlt man sich nur, wenn man besser ist als die anderen. Kooperation oder gemeinsame Ziele haben in dieser Motivationslehre keine mobilisierende Kraft für individuelle Anstrengungen. Allerdings steht das Motiv des Wettbewerbs insofern dem konservativen Denken auch entgegen, als es auf eine individuelle Motivation und auf gesellschaftliche Mobilität durch Leistung zielt, was Ordnungsvorstellungen von Konservativen eher fernsteht. Deren Gesellschaftsbild ist prinzipiell statisch, allenfalls akzeptiert es eine „organische“, nicht politisch gesteuerte Veränderung. Freilich hat die Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungen in der Moderne diese normativ auf Stabilität ausgerichtete Statik tendenziell dementiert, weshalb Konservatismus zunehmend in der Gefahr steht, ins rückwärtsgewandte Reaktionäre abzugleiten. Deshalb wird es immer schwieriger, konservative Politik, die sich vom Reaktionären unterscheidet und deshalb bei „aufgeklärten“ Konservativen immer vorsichtige, aber als notwendig erachtete Reformen einschließt, heute inhaltlich zu bestimmen, jedenfalls sofern man Konservatismus schlüssig „idealtypisch“ begreift, wie dies in den hier vorgetragenen Überlegungen geschieht. Die Aufnahme von Reformen in aufgeklärt konservative Politik ebenso wie die Affinität vieler gegenwärtiger Konservativer zu Wettbewerb als zentraler Motivationskategorie verweist auf Brücken zwischen dem Konservatismus und anderen Gesellschafts- und Politikentwürfen – z. B. hier des Liberalismus – sowie den ihnen zu Grunde liegenden Menschenbildern. Häufig ist Konservatismus als Haltung oder als Psychostruktur von Menschen daher abgeschwächt auch Element von anderen sozialen, politischen und philosophisch-anthropologischen Positionen. So enthält etwa das Ziel sozialdemokratischer Politik, in der modernen individualistischen Gesellschaft die Dimensionen von Solidarität, Kooperation und Gemeinschaft zu pflegen, konservative Züge. In diesem Sinne verbindet linke Politik das konservative Element des Bewahrens mit dem visionären der langfristigen Weiterentwicklung von historischen Gemeinschaftserfahrungen, die jeweils zeitgemäß, also z. B. Aufklärung und individuelle Freiheit als historische „Errungenschaften“ bewahrend, gestaltet werden muss. Eine reflektierte Linke wird auch angesichts von radikalen Veränderungen, die ins Totalitäre entgleist sind, bedachtsam sein gegenüber radikalen Forderungen nach Veränderung, die das Element persönli-
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cher Freiheit bedrohen könnten. Eine solche genaue Abwägung will unverzichtbare Ergebnisse der Geschichte erhalten, wehrt aber nicht generell Reformen ab, die das Leben der Menschen im Sinne ihrer gleichen Freiheit systemisch verbessern können, materiell und kulturell. Die neuen weltweiten Herausforderungen des Klimaschutzes oder der Migration lösen Antworten aus, die politisch konträr sind, aber sich beide auf konservative Ziele des Bewahrens berufen. So steht engagierte Klimapolitik häufig unter dem religiös konnotierten Motto des „Bewahrens der Schöpfung“. Es geht ihr darum, die globale Natur mit ihrer Artenvielfalt zu erhalten. Auf der anderen Seite kämpft die politische Rechte vielfach rabiat gegen die Klimaschutzpolitik auch im Namen konservativer Ziele: der Bewahrung tradierter Lebensräume, Bräuche oder Wirtschaftsstrukturen und des Erhalts der Arbeitsplätze. „Konservativ“ ist in diesem Sinn ein rein formaler Begriff, der noch nicht sagt, was erhalten werden soll. Konkret verbindet sich diese Haltung mit unterschiedlichen Zielen, in unterschiedlicher Stärke und auch variabel im Zeitverlauf etwa der individuellen oder kollektiven Biographien. Manche Menschen werden im Alter konservativer, weil ihre Lebenserfahrung sie vorsichtiger gemacht hat. Manche werden auch mit dem Bestehenden ungeduldiger, weil sie unter dessen Widerstand gelitten haben. Das kann dem sozialen Zusammenhalt so lange dienen, wie unterschiedliche Positionen sich miteinander verständigen können und wollen.
Was war nochmal der autoritäre Charakter? Zur Kritik einer familiensoziologischen Fehldeutung Von Lorenz Jäger Für Joe Paul Kroll
Zu den Regelmäßigkeiten der politischen Debatte gehört ein selten bemerkter Zug, der sich zudem asymmetrisch verteilt: Übersteigt die Wählerzahl einer Partei rechts von der Mitte, einer dezidiert „konservativen“ oder gar „reaktionären“ Gruppierung, die Erwartungen der professionellen Beobachter, dann werden sozialpsychologische Erklärungen bemüht. Asymmetrisch ist dieser Kunstgriff insofern, als er meines Wissens nach nicht im Fall von „linken“ Wahlerfolgen Verwendung findet: Da bleibt man bei der Suche nach Motiven im Bereich politischer oder ökonomischer Zweckrationalität, der die Wähler gefolgt seien. Dem „rechten“ Wähler wird dagegen eine Persönlichkeitsdeformation unterstellt: der „autoritäre Charakter“. Nach der Wahl Donald Trumps konnte man eine neue Konjunktur dieser Gedanken beobachten: „,Wir gieren nach Übervätern‘. Warum ist der autoritäre Charakter wieder im Aufschwung? Der Psychoanalytiker und Schriftsteller Jürg Acklin sucht nach Antworten“, hieß es etwa in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. März 2017. Wie entstand diese Gedankenfigur? Als Max Horkheimer 1930 Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wurde, verkündete er eine Akzentverschiebung gegenüber dem älteren „ökonomischen“ Marxismus: Leitfaden der Forschung solle die Frage „nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil“ sein. Wir sind Zeugen der Geburt des „Kulturmarxismus“. Eine sozialistische Revolution habe nicht stattgefunden, so das Institut, weil die Men-
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schen autoritätshörig seien. Sie verspürten, wie es Horkheimer formulierte, eine „Lust am Gehorsam und an der Unterwerfung“, die masochistische Aspekte aufweise. Dieser Charakterzug werde von der bürgerlichen Familie hervorgebracht; die Ehrfurcht gegenüber dem Patriarchen übertrage sich auf staatliche und gesellschaftliche Autoritäten. Folglich beginnt man nach 1930 mit einer empirisch-soziologischen Erhebung, um einen „autoritären Charakter“ dingfest zu machen und ihn vom „revolutionären Charakter“ zu unterscheiden. Es fand eine Umfrage unter Arbeitern und Angestellten statt, in der man versuchte, über unverfängliche Fragen nach Details der Lebensführung oder des Geschmacks gesellschaftliche Haltungen zu ermitteln. Die nur teilweise veröffentlichten Ergebnisse sind hochinteressant. Zunächst einmal überrascht es, dass ausschließlich Männer befragt wurden. Es mag sein, dass das Autoritäre dadurch mit einer gewissen patriarchalischen Überakzentuierung erscheinen musste, die mütterliche Leistung einer Moderierung der familiären Interaktion blieb ausgeblendet. Ebenso überrascht es, dass offenbar nur Protestanten oder Glaubenslose befragt wurden. Bei diesen war aber auch die Idee der Autorität eher preußischprotestantisch und das heißt bürokratisch und militärisch eingefärbt; Luther, Friedrich der Große und Bismarck sind die hauptsächlich genannten Bezugsfiguren, wenn nach „großen Männern“ gefragt wird. Bei den „Revolutionären“ bekennt sich nur einer als evangelisch, bei den „Autoritären“ drei von fünf als evangelisch, zwei als Christen ohne konfessionelle Präzisierung. Man muss einen Kunstfehler der Erhebung darin sehen, dass von vornherein nur protestantische oder glaubenslose Männer befragt wurden, bei denen es leicht sein mag, dass ihre Antworten etwas Scharfes und Schartiges annahmen. Nun einige Befunde mit alternativen Deutungsmöglichkeiten. Eine Frage betraf die Bilder, die in der Wohnung hängen. Von den fünf dokumentierten „Autoritären“ antwortet der erste: Vergrößerte Fotos meiner Schwiegereltern, Schlafzimmerbild „Mutterglück“, „Abschied und Wiedersehen“, selbst angefertigte Brandmalerarbeiten. Der zweite: Zwei von Vater und Mutter, zwei Kriegsbilder, zwei von meiner Dienstzeit. Der dritte: Nur wenige Bilder. Der vierte: Bilder aus Hamburg, die Eltern, Kinder und das Schiff, auf dem ich gedient habe. Der fünfte: Ein großes Stillleben: Rosen in einer Vase, einige kleine Bilder, eine Fotografie von meiner Frau als fünfjähriges Kind und Geweihe.
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Die „Revolutionäre“ haben einen deutlich anderen Geschmack – der erste gibt an: Lenin, Liebknecht, Luxemburg, ein Kupferstich Friederike (hier mag es sich um die Schwester der damals immer noch ungemein beliebten Königin Luise handeln), eine Wassernixe. Der zweite: fünf Familienbilder, eine Zeichnung. Der dritte: Öldrucke von Landschaften. Der vierte: Heinrich Vogeler (Worpswede), Kollwitz-Bild. Lenin. Der fünfte: Lenin, Jugendbild vom Vater. Natürlich ist das Risiko groß, sich bei so kleinen Stichproben zu verschätzen. Dies vorausgesetzt, kann man aber ein Resultat deutlich sehen. Bei den Revolutionären sind es nur zwei, die familiale Sujets angeben, bei den Autoritären sind es vier. Der „revolutionäre“ Charakter hofft eher auf ferne Loyalitäten, auf „Gesellschaft“, und er erwartet sich alles von der Politik. Der „Autoritäre“ pflegt die nahen Bindungen, die „Gemeinschaft“. Ich nehme einen zweiten Komplex hinzu: Spielen eines Musikinstruments. Unter den fünf „Autoritären“ gibt der erste an: Frau spielt Klavier. Der zweite hat die identische Antwort. Beim dritten spielt kein Familienmitglied ein Instrument, bei dem vierten ist es wiederum die Ehefrau, die Klavier spielt, der fünfte gibt an, sein Sohn spiele Geige. Bei den „revolutionären Charakteren“ ist es nur einer von fünf, der angibt, dass seine Frau Laute spiele. Die Musik bringt ins Familienleben eine bestimmte Atmosphäre, für die offenbar jene empfänglicher sind, die hier die „Autoritären“ heißen, und gleich muss man hinzufügen, dass der Unterschied nichts mit der sozialen Schichtung zu tun hatte, also etwa das Bildungsbürgertum von den Arbeitern unterscheidet, denn bewusst wählte man die Befragten aus ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Ungemein deutlich ist der Unterschied bei Geselligkeitsformen und Spielen. Die „Autoritären“ spielen quasi alles und offenbar häufig: Schach, Dame, Skat, sie angeln oder sind im Kriegerverein. Bei den Revolutionären ist es buchstäblich nur einer, der positiv antwortet, und der sagt: „Karten, um Geld“. Also sehen wir plötzlich die vermeintlich Autoritären als Menschen, deren Nahumgebung von den vielfältigsten Interaktionen strukturiert ist; an der „revolutionären“ Charakterstruktur fällt dagegen das Kahlere und Abstrakte auf; hier stehen erdachte Lösungen höher als konkrete Menschen. Fast überflüssig anzumerken, dass die beiden Gruppen dann auch beim Thema Abtreibung entgegengesetzt denken.
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Wir können versuchsweise eine andere Deutung des Materials riskieren und vermuten, dass der „Autoritäre“ darum autoritär ist, weil er diese Nahbeziehungen als etwas Schützenswertes erkennt. Das Institut für Sozialforschung hatte aber damals gar keinen Begriff der Familie, der es erlaubt hätte, das Material anders als „kritisch“ zu deuten. Und so wird die Kausalität umgedreht: Die Autoritären wollen die Familie in Wahrheit nur deshalb schützen, um ihre rückschrittlichen Staats- und Gesellschaftsideen möglichst tief zu verankern. Der „autoritäre Charakter“, dessen Ursprung „die Familie“ sei, ist ein moderner Mythos, hervorgegangen aus einer Fehldeutung. Aber man kann kaum bestreiten, dass die Saat dieser Begriffspolitik aufgegangen ist.
Links und/oder konservativ? Von Hans Joas Mein ganzes Leben seit dem Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren habe ich mich für einen politisch links stehenden Menschen gehalten, und eigentlich ist das immer noch der Fall. Aber immer häufiger erlebe ich, dass meine Meinungsäußerungen von Mitmenschen, die sich selbst für links halten, als konservativ bezeichnet werden. Oft spüre ich auch, dass ich mit anderen Zeitgenossen, die sich als konservativ bezeichnen, bestens harmoniere. Eine solche Spannung zwischen Selbst- und Fremdbild zwingt zum Nachdenken. Bin ich, wie es eine zu Sprichwörtern geronnene Lebensweisheit besagt, schlicht mit zunehmendem Alter konservativer geworden, ohne mir dies bisher richtig einzugestehen? Oder haben andere den Sinn des Links-Seins heute so verschoben und monopolisiert, dass ältere Linke wie ich sich damit nicht mehr identifizieren und einverstanden erklären können? In welchem Maße geht es hier um mein zufälliges Ich oder um eine echte historische Verschiebung? Ganz neu ist mir die angedeutete Erfahrung einer Diskrepanz von Selbstbild und fremder Zuschreibung nicht. Als ich im Frühjahr 1971 nach Berlin an die Freie Universität wechselte, als linker Student der Soziologie und Geschichte mit einem zutiefst katholischen Hintergrund, hörte ich einmal, nach einem längeren Diskussionsbeitrag von mir, wie jemand sagte, hier habe der Prototyp eines bayerischen Jesuiten gesprochen. Es war mehr als mein starker Dialekt-Akzent, der mich da verriet. Der zitierte Satz war noch recht wohlwollend. Weniger harmlos war es, dass Kollegen, als ich zu lehren begann, ihren Studenten von der Teilnahme an meinen Kursen abrieten – mit der Begründung, ich sei ein reaktionärer CSUMann, den die Professoren aus Verzweiflung über die linke Studentenschaft eigens aus Bayern importiert hätten. Als mir das zu Ohren kam, war ich ehrlich verblüfft, da die übergroße Nähe meiner Kirche zur CSU gerade eines meiner Motive gebildet hatte, Bayern zu verlassen. Links zu sein, das lernte ich, und tolerant oder geistig aufgeschlossen –
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das können zwei sehr unterschiedliche Dinge sein. Von der politischen Einstellung lässt sich nicht auf die persönlichen Qualitäten schließen. Nach den Wirren der 1970er Jahre fand ich, stark durch lange Aufenthalte in den USA und Skandinavien geprägt, für Jahrzehnte eine stabile politische Identität als Sozialdemokrat. Die Tatsache, dass in dieser Partei weiterhin und besonders in Berlin viele meinten, das Christentum sei endlich zu überwinden, musste dabei ertragen werden. Es gab ja schließlich Hans-Jochen Vogel und später dann Wolfgang Thierse, um nur zwei bewunderte katholische „Genossen“ zu nennen. Aber dann ist etwas ins Rutschen gekommen. Ganz klar wurde mir das erst in den migrationspolitischen Debatten seit 2015. Links sein hatte für mich immer geheißen, die Interessen der Unterschichten wahrzunehmen und bei allen politischen Lösungen zu bedenken, was diese für die Schlechtergestellten bedeuten. In der katholischen Kirche spricht man in diesem Sinn von der „Option für die Armen“. Für mich heißt das die leidenschaftliche Bejahung des Wohlfahrtsstaates und seine Verteidigung, ohne dabei freilich die Augen vor möglichen Konstruktionsfehlern in seiner konkreten Gestaltung zu verschließen. Es hieß, für Bildungsgerechtigkeit einzutreten. Zentral war auch eine friedensorientierte Außenpolitik, die Bereitschaft zur Entspannung auch gegenüber politischen Ordnungen, welche den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen. Es hieß, den engeren Zusammenschluss der europäischen Staaten zu bejahen, ohne aber Europa zum Wert an sich zu erklären oder zur Lösung aller Probleme zu stilisieren – ebenso wenig wie den Nationalstaat. Es hieß, für die Menschenrechte einzutreten, aber skeptisch zu sein gegenüber aller Verkleidung politischer Interessen in menschenrechtlichem Pathos, sei es innenpolitisch, sei es außenpolitisch. Natürlich betrifft die Option für die Armen oder die Orientierung auf die Interessen der Unterschichten nicht nur die eigenen Landsleute. Aber der Universalismus der Menschenrechte setzt auch die Verpflichtungen im Nahfeld nicht einfach außer Kraft. „Teleskopische Philanthropie“, wie Charles Dickens das nannte, muss misstrauisch machen. Im linken politischen Lager und auch in den Kirchen in Deutschland habe ich die Bemühung, eine vernünftige Balance zwischen partikularen und universellen Verpflichtungen zu finden, oft nicht wahrnehmen können. Es wirkt wie ein Tabubruch, wenn jemand heute daran erinnert, dass der Wohlfahrtsstaat auf eine begrenzte Zahl von Menschen hin angelegt ist und die Kon-
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trolle der staatlichen Grenzen erfordert. Nirgendwo ist so wie in Deutschland der Antinationalismus zur Ideologie geworden, meist von fragwürdigen historischen Behauptungen begleitet, denen zufolge alle Kriege und Gewalttaten des 20. Jahrhunderts in ihm ihre Ursache gehabt hätten. Die Begeisterung über den eigenen Antinationalismus ist gegenwärtig hierzulande so groß, dass bald alle anderen Länder wegen Autoritarismus und Nationalismus abgelehnt werden: Russland und die Türkei ohnehin, Ungarn und Polen, Österreich und Italien, die USA und Großbritannien. Unter der Parole der Toleranz wird der Kreis der zu Tolerierenden innenund außenpolitisch immer enger gezogen. Was ich hier beschreibe, hat neben der politischen auch eine kulturelle Seite. Die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit galt dem Zugang zu Bildungsgütern und Leistungschancen – bei höchstem Respekt vor klassischen Werken und exzellenten Hervorbringungen. Die politische Philosophie kennt schon lange das Spannungsverhältnis von Exzellenz und Demokratie. Man kann über große Leistungen nicht per Abstimmung entscheiden, wenn die Sachkunde fehlt. Man kann die Standards senken, um allen ein Gefühl des Erfolges zu geben, oder im Gegensatz dazu auf den Respekt vor Maßstäben hin erziehen, welche einer Sache inhärent sind. Die alte Linke war, den Arbeitserfahrungen etwa von Facharbeitern wie von Handwerkern entsprechend, vom Arbeitsstolz geprägt; die neue, akademische Linke, hält oft die Infragestellung von Kanon und Leistungsdruck für eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Die Sprache der Werbung und die der Bewerbungen ist in den USA schon lange und zunehmend auch in Deutschland von dem Anspruch durchsetzt „to make the world a better place“. Ich habe selbstverständlich nichts gegen Verbesserungen, die in vielen Feldern dringend nötig sind, aber es ist mir unheimlich, wenn Menschen glauben, die gute Absicht sei hier für das Werk zu nehmen. Jeder Änderungsversuch hat neben den beabsichtigten viele unbeabsichtigte Wirkungen, und ohne Erfahrung und Sachkenntnis sind diese schlecht vorauszusehen. Das Gute gegen verschlechternde Tendenzen zu erhalten ist ebenso wichtig wie die Überwindung des Schlechten. Entscheidend ist die Urteilskraft, herauszufinden, was das eine ist und was das andere. Ist das alles nun links oder konservativ oder vielleicht beides zugleich? Ich habe derzeit keine schlüssige Antwort auf diese Frage.
Drei Paradoxien des Konservativen Von Jürgen Kaube Konservative Einstellungen werden denjenigen zugeschrieben, die gerne an ausgewählt Hergebrachtem festhalten würden und bei privaten oder politischen Entscheidungen der Vergangenheit ein besonderes Gewicht geben. Konservativ wäre demnach, wer sich gegenüber der von Wirtschaft, Technik, Gesetzgebung sowie den Massenmedien bestimmten Veränderungsgeschwindigkeit der modernen Gesellschaft reserviert verhält. Solche Reserven können verschieden motiviert sein: durch eine Präferenz für das Vertraute gegenüber dem Wandel, für den langsamen gegenüber dem schnellen Wandel und für das Kontinuum gegenüber der Zäsur. Es liegt auf der Hand, dass in eine solche Präferenz eingeht, wie komfortabel jemand die Gegenwart erlebt, die als maßgeblich gegen eine Zukunft verteidigt wird, die sie zur unmaßgeblichen Vergangenheit zu machen droht. Das berühmte Wort Lord Salisburys, es gehe darum, den Wandel so lange zu verzögern, bis er ungefährlich geworden sei, ist ein Beleg dafür. Denn die politische Frage liegt nahe: ungefährlich für wen? Es gibt aber noch andere Motive, gegenüber dem Wandel reserviert zu bleiben. Viel Gutes ist verschwunden, viel Gutes droht zu verschwinden, von Tierarten über Dialekte und Landschaften, dem Berufsstolz vieler und den Umgangsformen mancher. Weil auch viel Schlechtes verschwunden und viel Gutes hinzugekommen ist, nennen manche es Fortschritt. Diese Bezeichnung wiederum setzt voraus, dass sich eine Kosten- und Gewinnrechnung des sozialen Wandels aufstellen lässt. Wenn jedoch in unserer Gesellschaft – man denke nur an das 20. Jahrhundert – das Gute und das Schlechte (vom Bösen ganz zu schweigen) zunehmen, fehlt die für eine konservative oder progressive Einstellung notwendige Vergleichbarkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit. Hierin liegt eine erste Paradoxie der Konservativen, die sie mit ihren Antagonisten teilen. Das, was als prinzipielle Einstellung ausgegeben
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wird, kann politisch gar nicht durchgehalten werden. Die Frage, welche Zustände bewahrt oder verändert werden sollten, lässt sich sinnvollerweise nicht mit „Am besten die meisten“ beantworten. Bekannte Formeln wie „Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren“ oder „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“ bringen diese paradoxe Lage zwar zum Ausdruck, ohne allerdings die geringste Information für konkrete Fragen zu enthalten. Dasselbe gilt für eine Beschreibung konservativer Politik als freiheitsorientiert, maßvoll, Abstraktionen abhold und von einer Präferenz für die Gesellschaft vor dem Staat getragen. Nicht nur wäre es schwer zu sagen, was diesen Konservatismus vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts unterscheiden sollte; ein Einwand, den am schärfsten Panajotis Kondylis formuliert hat. Freiheit ist ja gerade ein Begriff, der dazu dient, aus Tradition herauszutreten. Vielmehr noch erscheint der Versuch, in Umkehrung der älteren Hierarchie von Staat und Gesellschaft nun die letztere zum Träger der Vernünftigkeit eines maßhaltenden Wandels zu erklären, angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit waghalsig. Hinzu kommt, dass schon in die Vergangenheit, der wir anhängen mögen, etwa weil sie unsere Kindheit oder Jugend war, lauter gute und schlechte Verluste früherer Vergangenheiten eingegangen sind. Die Vergangenheit selbst ist keinesfalls ein Produkt von Traditionserhalt, auch wenn manches Bier seit 1516 so gebraut wird. Das zweite Paradox des Konservatismus liegt mithin darin, dass er nicht selten an etwas als vertraut festhalten möchte, das seinerseits unvertraut war, als es entstand. Die Kontinuitäten sind Fiktionen. Nehmen wir nur das vielbeschworene „christliche Menschenbild“, das, liest man die Evangelien und Briefe sowie die ihren Sinn erschließende Literatur, schwerlich einen Halt in Fragen der Energieversorgung, der Organspende oder der Rentenpolitik bietet. Deutlich wird die darin liegende Schwierigkeit auch, wenn infolge der schnellen Abfolge ästhetischer Stile jetzt schon die Bauten des Brutalismus aus den fünfziger Jahren unter Denkmalschutz gestellt werden, also konserviert wird, woran sich keinerlei Nostalgie bindet und was selbst Ausdruck einer erheblichen Zerstörung von Vertrautem war. „Das Geschäft der Progressiven“, spottet Chesterton, „ist es, einen Fehler nach dem anderen zu machen. Das Geschäft der Konservativen ist es, uns daran zu hindern, Fehler zu korrigieren.“
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Ein drittes Paradox des Konservatismus lässt sich ebenfalls am Denkmalschutz illustrieren. Das Alte zu bewahren, ist nicht nur keine alte Einstellung, sondern eine moderne. Es hat auch typisch moderne Folgen. Das Denkmal, das Museum und die Schlossruine sind, genauso wie vielerorts der Erhalt von Natur, von alten Innenstädten oder Formen der Landwirtschaft, innigst dem Tourismus verbunden. Der Tourismus wiederum kann seine erfreulichen und seine zerstörerischen Folgen nicht bilanzieren. Deshalb kommt es zu Situationen, in denen völlig unklar ist, was es für einen Ort hieße, in der Gegenwart seine Geschichte zu übernehmen: durch Restauration von Schauplätzen, die Vermehrung von Parkplätzen, die Subventionierung von Arbeitsplätzen, die Beförderung einer beruflichen Monokultur oder die Hinnahme der Tatsache, dass die Einwohner der Destinationen dort die Mieten nicht mehr bezahlen können und die Schullehrer auf Sylt morgens mit dem Zug anreisen? „Haltungen“ und politische Dachformeln helfen hier offenkundig nicht weiter. Bleibt dann überhaupt eine sinnvolle Begriffsverwendung für „konservativ“ jenseits des Bereichs privater Präferenzen? Vielleicht diese: Die moderne Gesellschaft macht seit längerem Erfahrungen mit planvollen Versuchen, sich zu verbessern. Reform, Beratung und Therapie, um nur drei Schlagworte zu nennen, bilden hier einen Komplex von erheblicher Wirkungskraft. Viele Reformen allerdings weisen einen zyklischen Charakter auf, weil sie einen Wert zu verwirklichen suchen, aber mit den Nebenfolgen dieser Verwirklichung nicht leben können. Man verkürzt beispielsweise die Schul- und Hochschulzeit, um die Jugend schneller in die Berufe zu bringen, stellt aber (überrascht?) fest, dass sie demzufolge weniger berufsreif ist und außerdem nach dem Abitur erst einmal ein soziales Jahr gemacht oder in Neuseeland gejobbt hat, was den Zeitgewinn aufzehrt, woraufhin die Schulzeit wieder verlängert wird, was die Nerven der Lehrer angreift, die sich soeben auf die verkürzte eingestellt hatten. Solche Reformverläufe sind auch in Organisationen (Stichwort: Kerngeschäft/Synergie) nicht untypisch. Könnte darum konservativ nicht eine Sensibilisierung für (a) die Spannung zwischen Werten und Gegenwerten (im Schulbeispiel: Tempo und Können) sein und (b) für Fragen der Machbarkeit, die damit zusammenhängen? Wäre, mit anderen Worten, nicht ein Konservatismus aus konkreter Reformerfahrung heraus denkbar, der daran erinnern würde, was alles schon einmal nicht funktionierte, nur finanziert aber nie zum Erfolg gebracht, oder nur versprochen aber nie eingehalten wurde, weil es auch gar
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nicht einzuhalten war? Seine fast unfreiwillige und stets relative Anhänglichkeit an das, was ist, käme nicht aus Gefühlen oder Werthaltungen, sondern aus der Erfahrung mit den unbedachten Nebenfolgen der besten Absichten, es zu ändern.
Konservativ sein heißt: auf die Vogelstimmen der Zeit hören Von Dieter Borchmeyer Wenn jemand mich bitten würde, mit einem einzigen Begriff meine Grundeinstellung zu Religion, Staat, Recht, Kunst und Leben zu bezeichnen, würde ich mich zunächst wehren, denn ich möchte mich nicht gern auf den ,Begriff‘ gebracht sehen, kein abgezirkeltes Bild von mir unter die Leute bringen, mich nicht meiner Offenheit beraubt sehen, indem ich mich selber in einen geschlossenen ideologischen Raum einsperre. Wenn der lästige Jemand aber insistierte, doch mit einem Wort zu ,bezeichnen‘, was ich bin, denn irgendetwas müsse ich doch sein, würde ich, um nicht ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, einräumen: „Nun gut: konservativ.“ Das Wort ,konservativ‘ hat, anders als etwa in England, in Deutschland keinen guten Klang. Man hält hierzulande den Konservativen gern für einen Apologeten des Status quo, wenn nicht für einen Reaktionär, jedenfalls für jemanden, der seine überkommenen und überständigen Wertvorstellungen in eine andersartige Gegenwart und Zukunft schleppen, sich gegen diese im Grunde abschließen möchte. Nun bin ich historisch gebildet genug, um zu wissen, dass dieses Zerrbild des Konservativen nicht zutrifft, dass der recht verstandene und sich recht verstehende Konservative gerade nicht ständig rückwärts blickt, sondern dass es zu seinem Wesen gehört, auf die sich immer wieder verändernden Zeichen der Zeit zu hören, zu horchen, was sie künden, und ihnen zu gehorchen, was nicht heißt, blind den Wechselwinden des Zeitgeists zu folgen. Was aber hat das mit Konservatismus zu tun? Wenn ich mich selbst als Konservativen sehe, geschieht das im Rückblick (tatsächlich) auf meine geistige Heimat-Zeit um 1800, zu welcher sich in Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution – aber durchaus nicht in eindimensionalem Gegensatz zu ihr – die Grundzüge des modernen Konservatismus ausbildeten. Ich denke hier zumal an Goethe und an einen meiner Lieb-
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lingsdenker: den gewaltigen Parlamentsredner Edmund Burke und seine Reflections on the Revolution in France (1790), den klassischen Traktat des Konservatismus der Achsenzeit um 1800, der nicht zuletzt durch die ebenso klassische Übersetzung von Friedrich von Gentz (1793/94) bedeutenden Einfluss auf Spätaufklärung und Romantik sowie auf die preußische Reformbewegung gewonnen hat. Der ,konservative‘ Burke war übrigens kein Tory, sondern ein Whig, der für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung eingetreten war und stets – so etwa in seinem Engagement für die irischen Katholiken – für die Freiheit des Einzelnen votierte. Ein Liberalkonservativer, in dem die preußischen Reformer zu Recht einen Paten ihrer Bewegung sahen. Burkes Haupteinwand gegen die Französische Revolution sind ihre abstrakt-theoretischen ideologischen Prämissen. Gegen sie erhebt er im Namen der spezifisch englischen Tradition der empirischen Philosophie und praktischen Politik mit der ganzen Gewalt seiner parlamentarischen Beredsamkeit Protest. Damit steht er in gut aristotelischer Tradition, auch wenn er sich nie auf Aristoteles selber beruft. Diesem zufolge kann die ethisch-politische Praxis nicht ,Anwendung‘ einer vorgängig entworfenen Theorie sein. Das praktische Wissen, das Aristoteles als Klugheit (phrónesis) bestimmt, bezieht sich nach dem sechsten Buch seiner Nikomachischen Ethik auf das Einzelne, das erst durch Erfahrung gegeben wird; seine Leistung besteht darin, in der konkreten Situation, der veränderlichen partikulären Lage das Rechte zu treffen. Demgegenüber ist das metaphysische, das theoretische Wissen (epistéme), dessen Modell die Mathematik bildet, ein solches vom Allgemeinen, immer und notwendig so Seienden. Dieses Wissen kann aber im Bereich politischen Handelns nicht maßgebend sein. Auch für Burke ist die Klugheit die oberste aller politischen Tugenden, die sich auf die in beständiger Wandlung begriffene Lage der Dinge richtet; sie ist mithin eine Tugend der Zeitanpassung. Da „das Wesen der Klugheit und Anpassung an die Umstände“ eins sind, so schreibt er, so „müssen wir alle dem erhabenen Gesetz der Veränderung gehorchen. Es ist das mächtigste Gesetz der Natur und vielleicht das eigenste Mittel ihrer Erhaltung.“ Das bedeutet: recht verstandene konservative Politik ist per se Reformpolitik. Ein Konservativer, der starr am Bestehenden festhält, dieses gewissermaßen verewigt, verfehlt nicht weniger die Eigenart politischen Handelns wie derjenige, der auf abstrakten Prinzipien beharrend, Politik mit Metaphysik verwechselt. Der amerikanische Historiker Klaus Epstein hat in seinem klassischen Buch Genesis of German Conservatism (1966) eine Typologie des Konservatismus ent-
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wickelt, als dessen wichtigste Spielart er den „Reformkonservatismus“ definiert, den er dem Status-quo-Konservatismus wie dem reaktionären Denken entgegensetzt. Solcher Reformkonservatismus ist auch die Grundtendenz von Goethes staatsmännischem Werken seit 1776 gewesen: die Tendenz, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen, dieses aus jenem abzuleiten – ,Veränderung‘, die das ,Herkommen‘ nicht untergräbt. In einem Gespräch mit Eckermann über die Französische Revolution und ihre Folgen am 4. Januar 1824 bekennt Goethe in diesem Sinne: „Weil ich […] die Revolution haßte, so nannte man mich einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte.“ Als Anhänger des Status quo will Goethe durchaus nicht gelten, denn „die Zeit […] ist in ewigem Fortschreiten begriffen, und die menschlichen Dinge haben alle funfzig Jahre eine andere Gestalt, so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen ist“. Ein klassisches Bekenntnis zum Reformkonservatismus! Goethe war ein Erfahrungsdenker, der aller Theorie, sofern sie der Praxis vorausliegt, besonders auf dem Gebiet der Politik, Naturwissenschaft und Kunst, misstraute. Zumal die Politik für ihn reine Erfahrungswissenschaft ist. Mit dieser Überzeugung steht auch er ganz in aristotelischer Tradition. Die Ansicht, „die Theorie müsse immer der Praxis vorangehen“, hat er 1829 in einem Gespräch „mit Nachdruck“ abgelehnt und ihr die Überzeugung entgegengesetzt, „daß sie immer mit der Praxis zusammengehe. Denn es ist den Menschen unmöglich, körperlose Seelen zu schaffen“. Jede Theorie bedarf nach Goethe also der Basis der Erfahrung. Ist diese Basis nicht breit genug, so stellen sich die hybriden Übereilungen und Vereinfachungen oder die graue Einförmigkeit der Abstraktion ein, welche Goethe schon die Begriffe: ,Theorie‘, ,Theoretiker‘, ,theoretisieren‘ so oft verdächtig machen. „Theorien“, so lesen wir in seinen Maximen und Reflexionen, „sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihre Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht wohl auch, daß es nur ein Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe?“ Von solchen ,Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes‘, eines ideologischen ,Parteigeists‘ und dem ,Behelf‘ seiner Schlagwörter wird die Politik bis heute leider immer wieder dominiert. Sich gegen ihre Übermacht zu wehren, ist die stets aktuelle Aufgabe des Konservativen. Dieser weigert sich, aus dem
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Fenster eines geschlossenen Gehäuses vorgefasster ideologischer Meinungen in die politische und kulturelle Landschaft zu blicken, sondern er bewegt sich frei in ihr, wartet darauf, dass sich seinem Auge immer wieder neue Perspektiven eröffnen, und lauscht auf das, was ihm die Vogelstimmen der Zeit erzählen und als Forderung des Tages in sein stets offenes Ohr tönen lassen.
Da bin ich konservativ Von Marion Horn Wir alle sind in mindestens einer Hinsicht konservativ. Um nicht irre zu werden. Ein harmloses Beispiel ist der Restaurantbesuch. Wenn dieses neue, exotische Gericht auf der Wochenkarte mir zu abenteuerlich erscheint, bestelle ich das Übliche. Warum? Es hat sich bewährt. Ich weiß, damit fahre ich gut. Da bin ich konservativ. Natu¨ rlich gibt es große Themen, zu denen wir uns irgendwie positionieren mu¨ ssen. Gentests vor der Geburt? Roboter im Altenheim? Abschaffung des Bargelds? Zu all diesen großen Fragen gibt es eine Einstellung, die als typisch konservativ gilt. Und meistens ist es die Variante, die von ihren Gegnern als mutlos bekrittelt wird. Konservative selbst wu¨ rden ihre Ansichten wohl eher als vorsichtig beschreiben. Ich denke, das ist ihr gutes Recht. Konservative Herangehensweisen ziehen sich durchs ganze Leben, durch alle politischen Lager, auch durchs linke: „Da bin ich konservativ“ – wohl jeder hat seine Meinung zu einem bestimmten Thema schon einmal so beschrieben. Konservativ sein ist hier zunächst eine Begru¨ndung. Das machen wir halt so. Es ist die moderne Version des hilflosen, altbackenen Spruchs, dies oder jenes gehöre sich nicht. Dass das häufig keine gute Begru¨ ndung ist, ist auch denjenigen klar, die sie benutzen. Und ihren Gegnern sowieso. „Da bin ich konservativ“ ist deshalb auch eine Entschuldigung. Wir bitten um Nachsicht dafu¨ r, kein besseres Argument zu haben. Wir zeigen damit aber auch Trotz, bei dieser Meinung zu bleiben. Es muss ja nicht alles durchargumentiert, gedreht und gewendet werden. „Da bin ich konservativ“ heißt auch: Basta. Schluss. Gegner treibt das zur Weißglut. Wo jeder Zustand eine Rechtfertigung braucht, um so zu sein, wie er ist, zählt das Bauchgefu¨ hl nichts. Die politische Linke macht es sich zur Aufgabe, nicht nur den Staat, sondern auch die Gesellschaft so umzubauen, dass sie eine bessere fu¨ r alle werde. Dabei
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lassen sie keinen Stein auf dem anderen, und wenn sie dabei zu ungestu¨m vorgehen, werden unweigerlich Menschen u¨ berfordert und verletzt. Denn die Gesellschaft, sie ist auch träge. Oft ist ihre Geschwindigkeit so schnell wie ihre langsamsten Mitglieder. Dieses Gefu¨ hl verdichtet sich im Konservatismus. Bei aller Kritik an der Du¨ rftigkeit vieler konservativer Einstellungen darf aber nicht vergessen werden: Bauchgefu¨ hl ist ein wichtiger Begleiter in unserem Leben. Es hilft uns, in kniffligen Situationen eine Entscheidung zu treffen, mit der wir hinterher gut leben können. Gehen wir mit einer falschen Entscheidung baden, fu¨ hlen wir hinterher meist, dass wir dabei ohnehin Bauchschmerzen hatten. Uns trifft also höchstens die Schuld, nicht auf unser Gefu¨ hl gehört zu haben. Weil das aber genauso zu uns gehört wie der Kopf, hatte mindestens ein Teil von uns recht. Wir können uns also mit gutem Gewissen den Mund abputzen, aufstehen und weitermachen. Der Wert der ersten Intuition ist aber mehr als ein Selbstschutzmechanismus. Oft entpuppen sich die ersten Gedanken als die besten. Sie speisen sich direkt aus unseren Erfahrungen und unserem Wissen. Deshalb brauchen wir Zehntelsekunden, um ein Urteil u¨ ber einen Menschen zu fällen. Forscher aus Princeton haben bewiesen, dass unsere Meinung u¨ ber neue Bekanntschaften nach einem dreißigminu¨ tigen Gespräch in der Regel dieselbe bleibt wie zu dem Zeitpunkt, als noch kein Wort gewechselt wurde. Die Farbe des neuen Autos steht fu¨ r uns ebenso häufig fest wie das nächste Urlaubsziel.Wir greifen dabei blitzschnell auf Erfahrungen zuru¨ ck, die wir als ganz persönlichesWissen in uns abgelegt haben. Umso schwerer fällt es, solche Entschlu¨sse noch umzuwerfen. Warm mit etwas zu werden, wofu¨ r man nicht gleich gebrannt hat. Uns wird mulmig zumute. Eine Sache konservativ sehen baut Stress ab. Sicherheit in gewissen Dingen gibt Halt und einen festen Boden unter den Fu¨ ßen. Gemein ausgedru¨ ckt ist das die Definition zum Fundamentalismus. Ich verstehe das andersherum: Mit Sand unter den Fu¨ ßen kann niemand zum Sprung nach vorn ansetzen. Im Gegenteil: Dafu¨ r braucht jeder erst einen sicheren Stand. Deshalb ist mit dem Konservatismus auch der Begriff der Heimat eng verbunden. Selbst Globetrotter beschreiben Heimat in ähnlichen Begriffen. Zu Hause sind wir dort, wo wir uns nicht erklären mu¨ ssen. Hier wird nicht alles ausdiskutiert. Hier werden keine Fragen gestellt, auf die es keine
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befriedigende Antwort gibt und die uns verunsichern, statt uns zu helfen, uns u¨ ber etwas klar zu werden. Auch ich ärgere mich u¨ ber Bremser. Bin ich einmal von der Richtigkeit einer Maßnahme u¨ berzeugt, dann fällt es mir schwer zu verstehen, warum sich Menschen wie störrische Esel dagegenstemmen. Dabei nu¨ tzt es immer zu versuchen, durch die Augen der anderen auf die Welt zu sehen. Auch wenn das bedeutet, sich mit ihnen die Augen zuzuhalten, weil sie etwas einfach nicht sehen wollen. Nur so können wir eine Idee entwickeln, wie wir sie dazu bewegen, die Hände aus dem Gesicht zu nehmen, sodass wir gemeinsam auf die Welt blicken und uns hoffentlich beide bewegen. Vorsicht wird einem heute als Angst vorgehalten. „Besorgter Bu¨ rger“ zu sein ist zu einem sarkastischen Vorwurf geworden. Es ist heute ein Makel, nicht mit Optimismus in die Zukunft zu sehen. Dabei haben Wissenschaftler das Wort „disruptiv“ eingefu¨hrt fu¨ r einige der Entwicklungen, die uns erwarten (oder auch nicht – so genau weiß das eben niemand). Das klingt zunächst vornehm. Übersetzt beschreibt „Disruption“ aber, dass etwas zerschlagen oder zerrissen wird. Das klingt viel brutaler als das klassische Wort „Umbruch“, mit dem große Veränderungen fru¨ her bezeichnet wurden. Heute steht der Konservatismus vor seiner wohl größten Herausforderung. Denn die Zeiten ändern sich so schnell wie noch nie zuvor. Ein technischer Meilenstein jagt den nächsten, und in der Sicherheitspolitik, der Medizin und der medialen Öffentlichkeit fällt eine Grenze nach der anderen. Haben wir da noch Zeit fu¨ r Skrupel? Fu¨ r Bauchschmerzen? Große Nationen wie China nehmen sich diese Zeit nicht. Was machbar ist, wird gemacht. Der Konservatismus kann hier leicht eine Bremse sein, die wir uns nicht leisten können. Denn so zweifelhaft eine Entwicklung auch scheint, allein können wir sie als Europäer, noch weniger als Deutsche, nicht aufhalten. Wie viel werden wir mitmachen mu¨ ssen, auch wenn wir das gar nicht wollen? Gerade hier kann der Konservatismus seine neue Bestimmung finden. Wer wen heiraten darf, was subventioniert wird und Ähnliches wird die Konservativen nicht mehr beschäftigen. In der Zukunft geht es ums Menschsein, um nichts weniger. Hier brauchen wir das konservative Bauchgefu¨ hl, damit wir in eine Zukunft gehen, in der wir uns wohlfu¨ hlen. Dafu¨ r mu¨ ssen wir auch werben im Gespräch mit den Ungeduldigen, die manche Erfindungen auf die Gesellschaft los-
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lassen, ohne sich zu fragen, ob Menschen sich in der schönen, neuen Welt u¨ berhaupt noch zu Hause fu¨ hlen. Denn auch das gehört zum Menschsein dazu.
Eine Antwort auf die Frage: „Was ist konservativ?“ von einem hybrid sozialisierten Muslim und Migranten Von Bassam Tibi Mir gefiel im Einladungsschreiben mit einer Skizze zu dem vorliegenden Essay-Band der Schlusssatz: „Es geht um Ihre persönliche Story.“ Ich nehme dies wortwörtlich, weil ich als ein 75-jähriger Philosoph, Sozialwissenschaftler und Begründer der Islamologie parallel zu diesem Beitrag im fortgeschrittenen Stadium an meiner Autobiografie, also meiner Story, schreibe. Mein Vorbild bei der Beantwortung der Frage: „Was ist konservativ?“ ist dabei der Aufsatz meines Frankfurter Lehrers Theodor W. Adorno mit dem Titel: „Auf die Frage, was ist Deutsch?“ Adorno liebte Deutschland, sonst wäre er nach dem deutschen Mord an sechs Millionen Juden als Jude nicht in dieses Land zurückgekehrt, aber er – wie ich – verabscheute vieles, was als „Deutsch“ galt. Analog dazu steht mein Verhältnis nicht nur zu Deutschland – als ein im syrischen Damaskus geborener und dort islamisch sozialisierter Mensch –, sondern auch zum Konservatismus. In Damaskus war ich beides: Politisch als Panarabist, der säkular orientiert ist, ein Revolutionär und zugleich religiöskulturell ein Konservativer. In den 1960er Jahren wurde ich in Frankfurt/M. zum Marxisten, der auch deshalb Adorno verehrte, weil dieser das kritische Denken mit der konservativen Bewahrung des Respekts für gute Traditionen verband. Heute, mit 75 Jahren, verstehe ich meine Frankfurter Lehrer besser als je zuvor: 1968 haben sie „linke Parolen“, die alles Konservative abschaffen wollten, eine Absage erteilt. Ich erinnere mich an Horkheimer im Philosophie-Seminar (gemeinsam mit Karl-Heinz Haag), als er verächtlich meine damals naive Verteidigung des „Fortschritts“ gegen Tradiertes mit diesen Worten abwies: „Ist es ein Fortschritt, dass es heute keine Hauslehrer wie Kant mehr gibt? Und ist es ein Fortschritt, dass junge Leute sich heute unter der Sonne grillen, statt zu lesen, und lärmende Musik hören statt
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Beethoven?“ Heute denke ich wie Horkheimer damals. Er hat Recht, und seine Worte von 1965 klingen in meinen Ohren wie Zustimmung. Ich schreibe diesen Essay als ein Westasiate (meine Heimat Syrien liegt in West-Asien und nicht, eurozentrisch formuliert, im Nahen Osten), der in seiner „persönlichen Story“ drei Sozialisationsmuster in drei Zivilisationen in den vergangenen 75 Jahren durchlebte: (1) arabisch-islamisch; (2) west-europäisch und schließlich (3) nord-amerikanisch. Denn in den Jahren 1982 – 2010 führte ich ein Doppelleben: Zusätzlich zu meiner Professur in Göttingen war ich in diesen Jahren Visiting Professor in Harvard, Princeton und Berkeley zum Schluss; von 2004 – 2010 war ich zudem A.D. White Professor in an der Cornell University sowie Senior Fellow in Yale. Im Geiste meiner damaligen Frankfurter Lehrer Adorno und Horkheimer bin ich heute in dem Sinne konservativ, dass ich den linksgrünen Nihilismus der kulturrelativistischen Postmoderne zu Gunsten der Aufbewahrung guter Traditionen abweise, zugleich aber jede reaktionäre Gesinnung verabscheue. Das ist kein Widerspruch. Zur Veranschaulichung greife ich auf Adorno zurück. In seinem Aufsatz über Tabus des Lehrerberufs verteidigt Adorno die gute alte Tradition des „gut-lateinischen Lernens“ und stellt sie höher als den Ersatz hierfür, nämlich „dass sie (durch) törichte Klassenreisen nach Rom“ ausgetauscht wird. Adorno fügt in scharfen Worten hinzu: „Ich geniere mich nicht, mich als Reaktionär zu bekennen.“ Selbst Mitbegründer der „Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte“ (gegründet 1982 in Limmasol, Zypern – also im Exil), zu denen ich selbst gehöre, stellen die Tradition der Meinungsfreiheit höher als die heutige Verteidigung des Kopftuchs im Namen der Religionsfreiheit. Wenn dies konservativ ist, dann bin ich ein „Konservativer“ und „geniere mich nicht“. Im Einladungsschreiben zu diesem Essay-Band wird eine Verwirrung im Denken (z. B. den „Meinungsschwindel des Postfaktischen“) als „unübersichtliche“ Lage im Sinne einer Feststellung eingeräumt. Selbst in meinen linken Frankfurter Jahren – sozusagen als ein muslimischer Marxist und ständiger Autor in der linken Zeitschrift Das Argument – habe ich mir die Polarisierung der Schwarz-Weiß-Malerei „links versus rechts“ nie zu eigen gemacht und stattdessen Pluralismus als politische Vielfalt bevor-
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zugt. Nicht alles, was als „konservativ“ gilt, ist „reaktionär und rechts“, und nicht alles, was sich selbstherrlich als „links“ zelebriert, ist ein Fortschritt. Mein Denken wird von drei Büchern in drei von mir als Araber beherrschten Fremdsprachen geleitet, Horkheimers Eclipse of Reason, Lukacz’ Die Zerstörung der Vernunft und Finkielkrauts La Defait de la Pensée. Die Anklage gegen die Feinde der „Vernunft“ und der „Open Society“ (im Sinne Kants und Poppers) richtet sich nicht nur gegen die Irrationalitäten von „rechts“, sondern auch diese von „links“. Hannah Arendt hat offengelegt, dass der Zeitgeist nicht nur von einem rechten, sondern auch von einem linken Totalitarismus kommt. Ist es „konservativ“, mit John Stuart Mill aus dem 19. Jahrhundert und seinem Buch On Liberty die Meinungsfreiheit ohne PC-Selbstzensur gegen „dominierende Meinungen“ zu verteidigen? Ist es „konservativ“, Max Webers Idee der „Berechenbarkeit“ gegen die sogenannte Vielfalt (Diversity) – also auch gegen vormoderne Kulturen – zu verteidigen? Ein an einer britischen Universität lehrender Islamist nennt Descartes’ Denken „epistemologisch-europäischer Imperialismus“. Gegen ihn verteidige ich – selbst Muslim – den Cartesianismus. Ich bin Syrer und denke konservativ in Bezug auf das gute Europa, das Horkheimer „als Insel der Freiheit im Ozean der Gewaltherrschaft“ nennt. Der zitierte Muslim ist ein Pakistani, der sich von linken Europäern bei seiner Abschaffung des Cartesianismus als „Ideologie des weißen Mannes“ feiern lässt. In meinem Buch Europa ohne Identität (Max Horkheimer als meinem Lehrer gewidmet) verteidige ich Europa gegen diese „Third Worldism/tiers – mondisme“. Was hat das mit dem Thema dieses Essay-Bandes zu tun? In dem sehr ausführlichen Artikel „Conservatism“ im Oxford Companion Politics steht, dass der Konservatismus „situational or reactive“ sei. Hier ist der europäische und von Horkheimer und seinem „Schüler Tibi“ vertretene Konservatismus als Reaktion gegen die Dritte-Welt-Romantik als ein neuer „ismus“ gemeint. Im zitierten Artikel von Oxford wird zwar eingeräumt, der Ausdruck „konservativ“ „covers very diverse political terrain“, doch alle seine Spielarten beziehen sich auf diese folgenden drei Haltungen: (1) Resistance to Utopian thinking, auch zum „Wunschdenken“; (2) Respect for traditions; (3) Defence of institutions (z. B. die Familie) and liberal framework.
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Auf allen drei Ebenen respektiere ich sowohl europäische als auch manche islamische Traditionen, tue dies jedoch in Anbetracht meiner „Seinslage“ (ein Begriff aus Karl Mannheims Wissenssoziologie) als Migrant in einer kulturell-hybriden Mischung von Inklusion und Exklusion. Ich betrete mit diesen Aussagen ein in Deutschland vermintes Gelände. Adorno, welcher das deutsche Ächten von unbequemen Gedanken bedauert und feststellt, dass dieses „jede Abweichung gereizt ahndet“, kommt zu der Koklusion, dass dieses zu dem hässlichen Gesicht dieses Landes gehört. Adorno gibt mir Mut, Widerstand gegen den „Zwang einer inneren Zensur“ zu bilden, welche nicht nur das Denken kontrolliert, sondern dieses sogar abschafft. In Treue zum Vermächtnis von Adorno, Horkheimer, J.S. Mill, Karl Popper und Hannah Arendt spreche ich in meinem Buch Islamische Zuwanderung und ihre Folgen unzensiert aus, was ich in einer Mischung aus „konservativ“ und „liberal“ als „mindset“ in Bezug auf die islamische Zuwanderung nach Europa vertrete. Wie Europa in der Vielfalt gleichermaßen „Insel der Freiheit“ und „Geburtsort des Faschismus“ ist, ist die islamische Weltanschauung ebenso vielfältig. Es hat im Islam Ansätze zur Aufklärung, Humanismus und Rationalismus gegeben (vgl. dazu Ernst Bloch, Avicenna und die Aristotelische Linke, 1963). Aber heute ist diese Tradition im Islam Geschichte. Die Gegenwart ist von einem islamischen Scharia-Totalitarismus gekennzeichnet (vgl. mein Buch: Der neue Totalitarismus). Ich trete für eine Integration zugewanderter Muslime auf der Grundlage eines europäisierten Islam ein, vertrete jedoch gleichzeitig konservativ europäische Werte gegen islamische Werte; in meiner Ablehnung der Geltung der Scharia betreibe ich also eine Exklusion. Deswegen bin ich als Mitautor des Buches Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland (2019) gegen die Zulassung der Scharia im Namen der Religionsfreiheit. Es ist kein Widerspruch, zugleich einer der zehn Muslime zu sein, die in einer Deklaration revolutionär für einen säkularen Islam eintreten (veröffentlicht in: Die Zeit vom 22. November 2018); in diesem Sinne verbinde ich nämlich den Einsatz für einen revolutionären Wandel (z. B. die Europäisierung des Islams) mit der konservativen Haltung, sowohl europäische als auch bestimmte islamische Traditionen und Werte zu bewahren. Mein kulturell-hybrides Denken passt nicht in das mono-kulturelle Kartell des deutschen linksgrünen Narrativs. Denn was mich am meisten an diesem deutschen Narrativ stört, ist, dass sein Nihilismus in den Worten von Adorno im zitierten Aufsatz in einem „Pathos des Absoluten“ als moralisierende
Eine Antwort auf die Frage: „Was ist konservativ?“
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Überhöhung und Belehrung vorgetragen wird. Wenn dies „links“ sein soll, dann bin ich lieber ein Liberaler und weltoffener Konservativer. Im vorangegangenem Absatz habe ich meine im heutigen Alter wohl reife Position umrissen, also meine „life story“ betreffend die Frage beantwortet, wo ich stehe. Ich möchte dabei klar stellen, dass mein hybrides Denken nicht in das oben als monokulturell bezeichnete Narrativ hinein passt, das in Deutschland dominiert. Während dieses Denkprozesses dachte ich laut und halte dies schriftlich fest: Wenn dieses Narrativ links ist, dann möchte ich als Altlinker heute kein Linker mehr sein, lieber „ein liberaler und weltoffener Konservativer“ sein. In der 2019 erweiterten Neuausgabe meines Buches „Basler unbequeme Gedanken“ beklage ich mich darüber, dass man heute in Deutschland nicht mehr die Freiheit zu haben scheint, laut auszusprechen, was man denkt. In der Kontroverse über den Schriftsteller Uwe Tellkamp forderte ein Berliner Journalist im Berliner Tagesspiegel online, das Grundrecht in das Grundgesetz festzuschreiben, nicht links sein zu müssen. Ich folge meinem britischen Kollegen Anthony Giddens von der London School of Economics , der in seinem Buch „Beyond Left and Right“ eine Forderung stellt, die im Buchtitel enthalten ist. In diesem Sinne vertrete ich unbequeme und vorausschauende Gedanken, die außerhalb der links-rechts-Polarisierung stehen. Ich bin deshalb von der Jury des deutschen Vordenker Forums zum Vordenker des Jahres 2019 gewählt worden. Ich denke sachlich und rational und lehne es ab, dass mein Denken in eine linke oder rechte Schublade gezwängt wird. Das ist heute nicht mehr normal. In einem NZZ-Artikel der Rubrik „Meinung & Debatte“ steht folgendes Urteil, dessen Gültigkeit ich auf der Basis meiner Erfahrung leider bestätigen muss: „Die Irrationalität grassiert in allen Schichten. Man findet sie bei Linken und Rechten, bei Akademikern und Arbeitern, bei Frauen und Männern.“ ( NZZ vom 1. Juni 2019, Seite 17). Ich habe mich mit dieser Begriffsverwirrung in meinem in der Basler Zeitung erschienenen Artikel „Zerfall der politischen Kultur in Deutschland“ (enthalten als Anhang 1 der Neuausgabe meines Buches 2019 Basler unbequeme Gedanken) befasst und den Umstand beklagt, dass in irrationalen „politischen Debatten“ die Begriffe ihren Inhalt verlieren und lediglich zu Steinen werden, mit denen man die Gegner bewirft, die anders denken. Diese Tatsache gilt auch für den Begriff „konservativ“: Konservative werden als Rechte verfemt bzw. rechtsradikal und nicht selten als Nazis eingeordnet. Mein Mitstreiter Alain Finkielkraut, der jüdisch-französische
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Philosoph, den ich oben zitiere, nennt diese Begriffsverwirrung im Titel seines Buches „Niederlage des Denkens“. Ich möchte diesen Artikel mit folgendem Bekenntnis abschließen: Ich verbinde sachlich-rationales Denken mit dem politischen Willen, bestehende Institutionen eines demokratischen Gemeinwesens zu bewahren und gute Traditionen, wie etwa Zivilität und Debating Culture zu pflegen. Ich wehre mich gegen den totalitären Zeitgeist und den Trend zur Selbstzensur. Wenn die Ablehnung von Selbstzerstörung und Nihilismus konservativ sein soll, dann bekenne ich mich zu dieser Bestimmung.
Konservative Avantgarde. Plädoyer für ein neues Denken Von Alexander Grau Niemand muss reformfreudiger sein als der Konservative. Das gehört zu seiner Tragik. Während die politische Linke sich seit zweihundert Jahren an dieselben alten Gewissheiten klammert, mussten Konservative ihr Weltbild permanent ändern. Was vorgestern noch als unveräußerliche Gewissheit konservativen Denkens galt, war schon gestern fragwürdig und gilt heute selbst unter bekennenden Konservativen als Anachronismus. Das bedeutet zugleich, dass niemand so leidensfähig sein muss wie der Konservative. In eine Welt hineingeboren, in der Flexibilität und Spontanität zu höchsten Tugenden avanciert sind, beharrt er auf Beständigkeit und Kontinuität. Deshalb auch gelten Konservative als die notorischen Verlierer der Geschichte. Verlierer sein ist aber überhaupt nicht sexy. Allenfalls haftet dem Konservativen in seinem permanenten Bemühen, die Zeit anzuhalten, etwas Clowneskes an. Zudem gilt er als griesgrämiger Spielverderber, als Spaßbremse, als ängstlich und engstirnig. Oder als bieder. Und auch das sind keine Attribute, mit denen man in einer hedonistischen Wohlstandsgesellschaft reüssieren kann, in der Spaß haben zur Leitwährung geworden ist und die Simulation von Abenteuerlust und Offenheit zum kulturellen Kapital gehört. Vor allem aber umweht den Konservativen der Schwefelgeruch des Antidemokraten und Liberalismusverächters. Der Konservative gilt, zumal in Deutschland, als politisch verdächtig und steht dementsprechend unter argwöhnischer Dauerobservation der Liberalen und Weltoffenen. Mehr noch: Die klassischen Werte des Konservatismus, mithin die Orientierung am Tradierten, Beständigen und Überlieferten, sind auch jenseits der Politik, also im gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Alltag zu Unwerten avanciert. Die neuen Ideale westlicher Gesellschaften lauten Innovationsfähigkeit und Kreativität. Der Innovative und Kreative ist das Idol ganzer Branchen und Milieus geworden. Vom kleinstädtischen
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Provinztheater über die Internetklitsche im großstädtischen Szeneviertel bis in die Vorstandsetage irgendeines Konzerns: Überall möchte man kreativ und innovativ sein. Innovativität und Kreativität sind die Götzen unserer Zeit. Man kann es auch anders formulieren: Nie, auch im 19. Jahrhundert nicht, waren westliche Gesellschaften modernitätsgläubiger als heutzutage. Die klassische Fortschrittskritik, so hat man den Eindruck, hat ausgedient. Man streitet nicht mehr über den Sinn oder den Wert des Fortschritts, sondern allenfalls darüber, was fortschrittlich ist. Sogar die alternative Linke, der letzte Hort der Fortschrittsskepsis Ende des 20. Jahrhunderts, sonnt sich inzwischen in ihrer eigenen Modernität. Wo man – etwa im Milieu der Grün-Alternativen – früher die Ideologie des Fortschritts selbst in Frage stellte, feiert man sich inzwischen als Garant wahrer Fortschrittlichkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen, von der Homo-Ehe bis zur E-Mobilität. Angesichts dieses auf Fortschritt und Veränderung programmierten Zeitgeistes vertraut der Konservative sich selbst nicht mehr und mutiert zum Opportunisten. Mit seinem Konservativsein hadernd, beginnt der spätmoderne Konservative moderate linke Positionen zu adoptieren. Der Konservative hat nun keine eigenständige inhaltliche Position mehr, er gefällt sich darin, genau das zu wollen, was die Linken wollen, nur eben ein paar Jahre später. Nichts aber ist erbärmlicher und überflüssiger als der Verfahrenskonservative, der vor dem Zeitgeist kapituliert und sich zitternd eine kleine Gnadenfrist erfleht. Das ist kein Konservatismus, das ist Spießertum. Das strukturelle Defizit des Konservatismus liegt erkennbar in seiner parasitären ideologischen Existenz. Eine politische Ideologie, deren wesentliche Motivation und Legitimation darin besteht, das zu verhindern, was andere wollen, wird früher oder später in Schönheit sterben. Das werden auch jene Ansätze nicht verhindern können, die den Konservatismus auf eine Art gediegene Bürgerlichkeit reduzieren wollen. Wer Konservatismus treuherzig auf eine Handvoll Werte wie Familie, Patriotismus und Christentum reduziert – oder gar auf ihre Schwundformen von Patchwork, Verfassungspatriotismus und christlichen Werten –, hat sich im Grunde mit der Kulturhoheit der Linken abgefunden und wird daher zwangsläufig verlieren.
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Ein zukunftsfähiger Konservatismus muss vielmehr lernen, sich selbst nicht länger in der Sprache des weltanschaulichen Gegners zu denken. Das bedeutet: Ein politischer Konservatismus, der gestalterische Kraft entwickeln möchte, muss eine eigenständige politische Sprache sprechen, mit einem eigenen politischen Vokabular und eigenen, starken Bildern des gesellschaftlichen Raumes. Das bedeutet vor allem, dass der Konservatismus sich nicht länger als Verhinderer oder Verzögerer linker Gesellschaftsexperimente sehen darf. Wer immer nur verhindern will, was andere wollen, dem wird nicht einmal das gelingen. Der Konservatismus muss dem linken Gesellschaftsideal eine eigene Erzählung entgegensetzen. Und da eine eigene Erzählung immer von der Zukunft handeln wird, muss der Konservative lernen, nicht immer nur von der Vergangenheit oder dem angeblich Ewigen zu sprechen, sondern vom Zukünftigen. Denn das Vergangene ist vergangen und wird allenfalls als Farce wieder auferstehen. Und das Ewige gibt es nicht, auch die heiligsten Heiligtümer der Konservativen sind vergängliche soziale Konstruktionen. Um das einzusehen, muss der Konservative seinen intellektuellen Frieden mit dem Konstruktivismus machen. Der Konstruktivismus ist keine linke Position, sondern eine notwendige Konsequenz nüchterner, rationaler Bestandsaufnahme. Ein Konservatismus, der sich ans Ewige klammert, wird mit eben diesem untergehen. Politisch gesprochen geht es somit darum, linke Konstruktionen konservative Konstruktionen entgegenzusetzen. Es geht darum, zu zeigen, dass die überlieferten, traditionellen sozialen Konstruktionen wertvoller, reicher und menschlicher sind als die sozialen Konstruktionen linker Gesellschaftsingenieure. Ein Konservatismus, der seinen Namen verdient, pocht in diesem Zusammenhang auf die Trennung von öffentlich und privat. Das Private darf nicht das Öffentliche terrorisieren und das Öffentlich nicht auf das Private übergreifen. Nicht jede private Idiosynkrasie ist ein öffentliches Anliegen, nicht jedes öffentliche Interesse rechtfertigt die Intervention in das Private. Vielmehr unterminiert die Vermischung von privat und öffentlich traditionelle Formationen der Gesellschaft, die dem Menschen Halt, Sinn und Orientierung geben. Entsprechend hat der Staat aus konservativer Perspektive Freiheitsräume des Einzelnen gegen ideologische, technische und ökonomische Übergriffe zu verteidigen. Indem er ,zeitgemäß‘ nicht
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länger als ,modern‘ oder ,fortschrittlich‘ definiert, schützt der Konservatismus die Freiheit des Individuums vor angeblichen technischen Notwendigkeiten oder gesellschaftlichen Alternativlosigkeiten. Mehr noch: Befreit von dem unguten Verdacht, lediglich Herrschaftsideologie alter Eliten zu sein, kann der Konservatismus in der Spätmoderne das subversive und anarchistische Potenzial entfalten, das in ihm steckt. Das bedeutet auch, dass der Konservatismus nicht nur ein alltagspolitisches Angebot ist, sondern vor allem auch ein ästhetisches Konzept, das Intensität, Orientierung und Sinn stiftet. Der Konservatismus als politische Idee darf sich nicht länger dafür hergeben, das Fragmentierungswerk der Linken abzufedern und erträglich zu machen. Konservative müssen lernen, eine ganz neue, ganz andere, positive Geschichte zu erzählen von einer Gesellschaft, in der Menschen ihre Kraft und ihr Stärke aus ihren Traditionen, Überlieferungen und ihrer Herkunft gewinnen und nicht länger austauschbare, mobile PatchworkExistenzen eines globalisierten Arbeits- und Konsummarktes sind. Um das leisten zu können, muss der Konservatismus das Etikett „konservativ“ ablegen, da mit ihm keine positive Vision verbunden ist, sondern lediglich die Kompensation des linken Fortschrittsmantras. Es geht darum, dem linken Narrativen ein Gegennarrativ entgegenzusetzen und der Gegenentwurf zu einem linken Gesellschaftsbild ist semantisch gesehen ein rechtes Gesellschaftsbild. Das Hauptproblem jeder politischen Strömung rechts von der Mitte ist jedoch, dass das Attribut „rechts“ latent kontaminiert ist. Da sich in der Tat hinter diesem Begriff mitunter antiaufklärerische Positionen versammeln, die Errungenschaften der Aufklärung jedoch nicht verhandelbar sind und ein ernstzunehmender Konservatismus seine Kraft daraus bezieht, deren Ideale von Freiheit und Individualismus gegen die autoritären und nivellierenden Tendenzen der Spätmoderne zu verteidigen, ist ein zeitgemäßer Konservatismus notwendigerweise ein Alternativangebot zum herrschenden Linksliberalismus – also ein Rechtsliberalismus. Man könnte auch von Avantgarde-Konservatismus sprechen.
Verfassungspatriotismus – ein konservatives Politikkonzept par excellence Von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Was ist konservativ? Ja, man möchte es gerne wissen. Man würde gerne erfahren, womit zu rechnen ist, wenn eine um ihren Charakter als Volkspartei besorgte Partei den Empfehlungen ihrer Ratgeber folgt und sich daran macht, ihr „konservatives Profil“ zu schärfen. Auf diese Frage eine triftige und gehaltvolle Antwort zu geben, ist nicht einfach. Ihre Beantwortung ist allein schon deshalb schwer, weil der Begriff des Konservatismus, dank der ihm eigentümlichen Anschmiegsamkeit, im Laufe seiner Geschichte mit nahezu allen politischen Strömungen Symbiosen einzugehen in der Lage war und dadurch seine semantische Prägnanz und politische Relevanz weitgehend verloren hat. Kaum eine Ecke im Gestrüpp der gängigen politischen Ideologien, in der sich nicht auch Varianten politischer Handlungen, Haltungen und Überzeugungen finden ließen, die, unter welchen Gesichtspunkten und Umständen auch immer, als konservativ zu bezeichnen wären und als solche benannt worden sind. Und so kommt es, dass ziemlich umstandslos vom National-, vom Liberal- und natürlich auch vom Sozialkonservatismus geredet werden kann. Man spricht vom religiösen, vom skeptischen, vom realistischen, vom gemäßigten, vom echten und vom falschen Konservatismus ebenso, wie man den Wert- oder Strukturkonservatismus oder den Konservatismus der Junker, Bauern, Beamten, der gesellschaftlichen Mitte, der gesellschaftlichen Eliten und den der Arbeiterschaft kennt. Und es gibt noch etliche Konservatismen mehr. Man denke etwa an den klassischen oder Altkonservatismus, den Neokonservatismus und ja, es gibt, als „contradictio in adjecto“, sogar den revolutionären Konservatismus. In dieser verwirrenden Vielfalt der Begriffe erscheint das Konservative als Akzidenz, als bloß Beiläufiges zur jeweiligen politischen Bewegung, ohne dass auch nur ansatzweise deutlich würde, worin ein Beitrag des kon-
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servativen Moments zur politischen, theoretischen oder praktischen, Tauglichkeit der jeweiligen Ideologie bestehen könnte. Seit Edmund Burke, der vor allem wegen seiner Kritik an der Französischen Revolution als geistiger Urheber des Konservatismus in Anspruch genommen wird, lassen sich allerdings einige miteinander verwobene Topoi benennen, die zu den zentralen und unentbehrlichen Konstanten eines konservativen Politikverständnisses gezählt werden könnten. Danach lehnt der Konservatismus die aufklärerischen, auf Vernunft basierenden liberalen Theorien vom Gesellschaftsvertrag (Thomas Hobbes, John Locke) ab. Der Ursprung des Staates liege vielmehr hinter einem „heiligen Schleier“ (Edmund Burke). „Der Mensch ist“, so sagt Adam Müller, der Burkes Schriften ins Deutsche übertragen hat, „außerhalb des Staates nicht zu denken“. Er, der Staat, „ruhet ganz in sich; unabhängig von menschlicher Willkür und Erfindung, kommt er unmittelbar und zugleich eben daher, woher der Mensch kommt: aus der Natur, aus Gott.“ „Statt jenes flüchtigen Konglomerats, das sich […] aus der Lehre vom Vertrag ergibt, ist der Staat ein Gedanke Gottes“ (Leopold von Ranke). Seine hierarchische Ordnung und Struktur entstehen urwüchsig in organischen Prozessen, sie sind natur- und gottgegeben, woraus sie auch ihre Legitimität beziehen. Alle Versuche, wie etwa im Verfassungsstaat, Grundsätze und Grundstrukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens a priori festzulegen, werden, davon ist man überzeugt, an der objektiven Realität und an der menschlichen Natur scheitern (Edmund Burke). Die Säkularisierung, die das Bild der göttlichen Weltordnung durch die Vorstellung einer vom Menschen gestalt- und veränderbaren Gesellschaftsordnung zu ersetzen sucht, zerstöre die christliche Werteordnung. Sie sei mit der Abkehr von den gewachsenen Institutionen und Autoritäten, einschließlich Staat, Kirche und Familie, verbunden und führte mit Notwendigkeit zum Zerfall der gemeinschaftsstiftenden sittlichen, religiösen und tradierten Bindungen. Wie ist aber nun aus einem so gefassten Konservatismus, der erkennbar die Verhältnisse im Übergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert reflektiert, heutzutage mehr als nur ein Arsenal konsequenzloser Schlagworte zu destillieren? Selbst der allseits anerkannte „spiritus rector“ des zeitgenössischen Konservatismus, der 2011 verstorbene österreichische Philosoph Gerd-Klaus Kaltenbrunner, ist mit seiner intellektuell anspruchsvollen
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Suche nach Hinweisen auf die bleibende politisch-praktische „Relevanz eines – auch über sich selbst – aufgeklärten Konservatismus“ seinen eigenen Ansprüchen nicht, allenfalls nur marginal gerecht geworden. Um den Konservatismus von dem naheliegenden Vorwurf freizusprechen, nichts weiter als Apologie bestehender Besitzstände zu sein, müsse er in einer Art „kritischen Theorie“ auf den „transzendentalsoziologischen“ Begriff gebracht werden. So sehr er auch in seinem jeweiligen sozialapologetischen Gehalt, in seiner Funktion als Rechtfertigungsideologie, als bloßer Verneiner jeglichen Fortschritts, als retardierendes Moment im Prozess der Geschichte erscheinen mag, so sehr ist er befähigt, mittels seiner transzendentalsoziologischen Struktur alle gruppen- und klassenmäßigen Ideologien zu überwölben. So lässt sich Konservatismus als die „Einsicht in die Bedingungen intakter Institutionen und nichtkatastrophischen sozialen Wandels fassen“, wobei das, was jeweils institutionalisiert und umgewandelt wird, von der konkreten historischen Situation vorgegeben ist. Eine solche „kritische Theorie“, eine Theorie also, die die Identifizierung und analytische Durchdringung der Bedingungen der Möglichkeit stabiler und erfolgreicher, sozialverträglicher Strukturen zum Gegenstand hat, böte, wenn sie denn gelänge, „auch einen Maßstab, um verbindlich zwischen echtem und falschem, schöpferischem und sterilem Konservatismus zu unterscheiden“. Wie schon angedeutet, bleibt aber auch eine solche „Theorie“ „überraschend zaghaft“ (Andreas Wollbold). Sie tut sich erkennbar schwer, bedeutsame Aspekte oder Elemente des Konservatismus zu extrahieren, die ihn für die heutige politische Praxis greifbar und nutzbar machen könnten. Was verbleibt, ist ein Konservatismus als „Mahner, Korrektiv und Avantgarde des Bewahrens“, der den eigentlichen Strom der Geschichte zwar begleitet, aber nicht prägt. In einem gewissen Widerspruch zu diesem insgesamt eher bescheidenen, wenn nicht gar resignativen Urteil über die aktuelle politische Relevanz des Konservatismus steht allerdings der bemerkenswerte Umstand, dass Kaltenbrunner doch zwei Felder aktueller Politik hervorhebt, die seiner Meinung nach dringend der Aufmerksamkeit und Bearbeitung der konservativen Politik bedürfen. So setzt er sich nachdrücklich dafür ein, die Ökologie, die „Bewahrung der Schöpfung“, zu einem bevorzugten Feld konservativer Politik zu machen.
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Was neben diesem Plädoyer für die Ökologie mehr überrascht, ist allerdings sein deutliches Insistieren darauf, dass derzeit eine der vordringlichsten Aufgaben des Konservatismus darin bestehe, die im Zuge der Aufklärung meist aus revolutionären Prozessen hervorgegangenen emanzipatorischen Freiheits- und Autonomiegewinne zu verteidigen und fortzuentwickeln. Anders als ausgewiesene Kritiker des Konservatismus (Martin Greiffenhagen) unterstellen, bedeutet Konservatismus deshalb heute „nicht mehr Kampf gegen die emanzipatorischen Konsequenzen der Aufklärung, sondern vielmehr Erhaltung und Sicherung des erreichten Maßes an Emanzipation, der Errungenschaften der großen westlichen Revolutionen: der Menschenrechte, der Gewissensfreiheit, des Rechtsstaates usw.“ Das deckt sich voll und ganz mit der Meinung des konservativen Schweizer Philosophen Arnold Künzli, derzufolge Fortschritt, unabhängig davon, ob er einem evolutionären oder revolutionären Prozess entstammt, immer „auch ein konservatives Element enthält: dasjenige an äußerer und innerer Freiheit, was im Verlaufe der Geschichte bereits erkämpft worden ist, soll bewahrt, auf ihm soll aufgebaut werden.“ Das zu Bewahrende des heutigen Konservatismus ist somit auch und gerade der Widerstand. Hier vor allem der Widerstand gegen rückgreifende Anachronismen und neue Formen von Entmündigung und Dehumanisierung. Das schreit förmlich nach einer Politik, in deren Zentrum der Erhalt und die Pflege, notfalls auch die behutsame Fortentwicklung unserer freiheitlichen demokratischen Grund- und Werteordnung steht. Das verlangt nach einer Politik zur Beförderung und Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, deren konservativ adäquate Ausdrucksform ein auf die Verfassung bezogener Patriotismus, ein Verfassungspatriotismus ist. Der aber stößt weitgehend auf strikte Ablehnung, überraschenderweise vor allem bei denjenigen Protagonisten „konservativer“ Politik, die am lautesten nach einer konservativen Schärfung ihres Profils verlangen. Für sie ist Verfassungspatriotismus eine „Kopfgeburt“. Er sei „nicht in der Lage, die Herzen der Menschen zu erwärmen, Loyalität zu erzeugen und Patriotismus generieren zu können.“ (Wolfgang Schäuble). „Verfassungspatriotismus ist ein emotional armes, rationales Konstrukt, das offenbar mit gefühlsbetontem Engagement wenig verbindet“ (Karl-Rudolf Korte), ein „ätherisches Gebilde“ (Hermann Lübbe), eine „dünnblütige, wenn auch wohlmeinende Professorenfiktion“ (Hans-Peter Schwarz) oder schließlich
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eine „dünne Abstraktion“, die nicht erklären kann, „warum ein Volk in guten und schlechten Tagen zusammenhalten soll“ ( Josef Isensee). Substanzielle, rationalen Diskursen zugängliche, über bloße Äußerungen subjektiver Meinung und Befindlichkeit hinausreichende Einwände gegen den Verfassungspatriotismus werden nicht vorgebracht und können offensichtlich auch nicht vorgebracht werden. Statt das Grundgesetz mit seinem Wertegehalt zur Referenznorm des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Zusammenlebens zu erheben, insistieren die Kritiker des Verfassungspatriotismus darauf, dass allein die Unterordnung der Menschen unter eine „Leitkultur“, hier eine „deutsche Leitkultur“ (Friedrich Merz) oder eine „europäisch-deutsche Leitkultur“ (Berliner Manifest) in der Lage sei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. Antworten auf die Frage, aus welchen über den Normengehalt der Verfassung hinausreichenden Elementen die propagierte „deutsche Leitkultur“ denn bestehen könnte, bleiben die Kritiker des Verfassungspatriotismus verdruckst schuldig. Wer aber den Verfassungspatriotismus als konservatives Politikkonzept mit derart hilflosen Einlassungen, also ohne jede substanzielle Begründung ablehnt, wird sich des Verdachts kaum erwehren können, seine eigentliche, wahre Meinung absichtsvoll zu verschleiern. Seine Meinung nämlich, dass zum Deutschsein mehr und noch anderes gehöre, als „nur“ rechtstreuer Staatsbürger zu sein; der versucht womöglich zu verschleiern oder mag nicht offenbaren, dass er unbedingt die Anschlussfähigkeit seiner Staatsidee an die überkommene Vorstellung von der ethnisch-homogenen Volksgemeinschaft sicherstellen will; dann wird er aber auch kaum dem Verdacht entkommen, gewollt oder ungewollt, Wasser auf die Mühlen derjenigen Kräfte zu leiten, die heute in Deutschland, in Europa und darüber hinaus im völkisch-ethnischen Nationalismus die Staatsform der Zukunft sehen. Er macht sich schuldig.
Überlebenswichtig Von Peter Graf Kielmansegg „Heimatlos“ – so hat Ulrich Greiner seine 2017 erschienenen Bekenntnisse eines Konservativen überschrieben. Warum ist ein Konservativer im frühen 21. Jahrhundert heimatlos? Er ist es im Allgemeinen, weil die Welt, in der wir leben, sich inzwischen so rasend schnell, ohne jeden Ruhepunkt verändert, dass der, dessen Sinn vor allem auf das Bewahren gerichtet ist, in ihr nicht mehr heimisch werden kann. Er ist es in Deutschland aber auch im Besonderen, weil er sich unter den apriorischen Verdacht gestellt findet, er habe seinen Frieden mit den Werten des demokratischen Verfassungsstaates noch immer nicht gemacht. Er sei noch nicht wirklich angekommen in der Welt des Grundgesetzes. Das Verdikt richtet sich „gegen rechts“. Und es hat hierzulande natürlich seine historischen Gründe. Aber das Urteil über den Konservatismus wird in diesem Verdikt in der Regel gleich mitgesprochen. Dabei stellt sich die konservative Frage, was unter allem Vorgefundenen bewahrenswert sei, dringlicher als je zuvor. Gewiss, Wandel ist immer. Und deshalb ist auch die Frage nach dem Bewahrenswerten immer legitim. Aber die Moderne hat mit ihren drei seit mehr als zwei Jahrhunderten unaufhaltsam fortschreitenden großen Revolutionen, der Wissensrevolution, der emanzipatorischen Revolution und der industriellen Revolution einen Prozess des Wandels in Gang gesetzt, der in der vormodernen Weltgeschichte nicht seinesgleichen hat. Dieser Prozess stellt die Welt in ihrer Totalität zur Disposition des Menschen. Und das heißt: Er stellt auch den Menschen selbst zur Disposition des Menschen. Wenn es so ist, ist die Frage, was wert sei, bewahrt zu werden, dringlicher geworden, als sie es je war. Aber hat das die Menschheit inzwischen nicht begriffen? Hat die ökologische Krise des Planeten sie nicht wachgerüttelt? Verstehen sich angesichts dieser Krise nicht immer mehr Menschen als Bewahrer, „Bewahrer
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der Schöpfung“, wie es die christlichen Kirchen formulieren, als Konservative also? Ja, es ist richtig, wir haben begonnen zu begreifen, dass das Projekt der Moderne einen Preis kostet. Und dass wir die Frage nicht länger beiseiteschieben können, welchen Preis für dieses Projekt zu zahlen wir nicht bereit sind. Aber unser Begreifen ist auf eine merkwürdige Weise verkürzt, halbiert. Die Bedrohung der Welt um uns her, die Zerstörung der Natur nehmen wir wahr. Dass im Projekt der Moderne auch eine zerstörerische Dynamik am Werk ist, die sich gegen uns selbst richtet, übersehen wir hingegen beharrlich. Man kann es eine verhängnisvolle Paradoxie nennen, dass die politischen Kräfte, die der Umweltzerstörung mit besonderer Entschlossenheit den Kampf angesagt haben, oft auch die sind, die von jener anderen Dimension der Zerstörungsdynamik der Moderne nichts wissen wollen. Als ob die Bewahrung dessen, was für das Mensch-Sein konstitutiv ist, nicht genauso dringlich wäre wie die Bewahrung der Natur um uns her. Aber ist die Moderne nicht in all ihren Versprechungen auf den Menschen verpflichtet? Ist nicht ihre Quintessenz die Arbeit an der Verbesserung der Bedingungen der Möglichkeit vernünftiger Selbstbestimmung? Der Konservative sagt dazu: „Ja, aber …“ Es geht ihm nicht um die Verwerfung der Moderne, sein Thema ist ihre Ambivalenz. Er artikuliert Zweifel. Überfordert die wachsende Geschwindigkeit und die immer elementarere Tiefe der menschengemachten ununterbrochenen Weltveränderung den vermeintlichen Herren dieser Dynamik nicht auf Dauer? Spezifischer: Wird der Mensch mit der Macht, zum Schöpfer seiner selbst zu werden, die die Wissensrevolution ihm in die Hand legt, verantwortlich umgehen können? Wird in einer Kultur, die den Zweifel zum Prinzip erhoben hat, die Vernunft, die letzte Instanz, die noch Geltung zu stiften vermag, auf sich allein gestellt, jene Verbindlichkeiten verlässlich begründen können, ohne die der Mensch orientierungslos bleibt? Wie verträgt sich das dem Individualitätsprinzip der Moderne eingeschriebene kulturelle Paradigma der Fixierung des Ichs auf sich selbst mit der Notwendigkeit, Normen und Verhaltensdispositionen zu bewahren, immer wieder zu erneuern, die ein verlässliches Miteinander möglich machen? Ist der in der Gleichheitsdogmatik der Moderne wurzelnde Universalismus, der alles verwirft, was zwischen Mensch und Menschheit steht, alle Besonderheit von Gruppen, alles Beharren auf dem Eigenen, jede Eigentümlichkeit, die Grenzen zieht, menschengemäß?
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Diese Fragen mögen sehr abstrakt klingen. Aber jede von ihnen, und viele andere mehr, ließen sich mühelos sofort in ein Alltagsthema der Politik übersetzen. Dass sie gestellt und gehört werden, ist überlebenswichtig. Konservatismus im 21. Jahrhundert ist, wenn man ihn so versteht, nichts anderes als der Versuch, die Moderne vor sich selbst zu retten.
Die Ironie des Konservatismus ist seine Wandlung Von Bodo Ramelow Konservativ sein – im alltäglichen Gebrauch bedeutet das so viel wie wertbeständig zu sein, letztlich den Status quo zu verteidigen. Im politischen Kontext unserer Zeit setzt man das oft mit christdemokratischer Politik gleich und hakt es bisweilen auch gerne unter dem Begriff „bürgerliche Politik“ einfach ab. Ein näherer Blick lohnt sich aber in meinen Augen allemal. Immerhin scheint der Konservatismus nicht nur bei deutschen Konservativen unterschiedlicher Auslegung zu unterliegen, sondern wird auch innerhalb Europas tatsächlich sehr differenziert betrachtet. In Großbritannien wird darunter sicher etwas gänzlich anderes verstanden als in den USA oder in Ungarn. Je nach Land, Geschichte und Kultur verändert auch der Konservatismus seine Facetten. Welche Bewegung ihm gegenüber steht, muss dabei ebenso immer durch die Linse der örtlichen Gegebenheiten gesehen werden. Scheinbar kann man den Zugang zu dieser Weltanschauung – so wir den Konservatismus maßgeblich als politische Ideologie sehen wollen – nur mit Verweis auf einen bestimmten historischen Fixpunkt verstehen. In Deutschland ist dieser Fixpunkt sicherlich die Entstehung der jungen Bundesrepublik unter christlich konservativen Bundeskanzlern wie Konrad Adenauer oder Ludwig Ehrhard. Bei ihnen kann man den ideellen deutschen Konservativen bis heute einordnen und erkennt, dass das Bekenntnis zur Marktwirtschaft für seine Anhänger wohl ebenso dazu gehört wie die Unterstützung der christlichen Kirche oder ein gelebter Verfassungspatriotismus, der als eine demokratische Errungenschaft erfahren wird und nie ohne die ohnmächtige Erfahrung auch vieler Konservativer aus der Zeit des autoritären, ja mörderischen Faschismus gesehen werden darf. Dem will ich auch gar nicht wiedersprechen. Ich möchte nur auf einen Umstand hinweisen, der den Konservatismus vielleicht erst im Kontext eu-
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ropäischer Geschichte wirklich verständlich macht. Nach den langen Jahren des brutalen Massensterbens im Ersten Weltkrieg etablierte sich in Deutschland ein Zirkel von Intellektuellen, die sich der Idee der sogenannten „konservativen Revolution“ verschrieben hatte. Unter diesem bewusst gewählten Oxymoron verbargen sich die Ideen von Denkern wie Ernst Jünger, Oswald Spengler, Hugo von Hofmannsthal oder vieler weiterer, die auf unterschiedliche Arten – mal in Romanen, wie in Ernst Jüngers In Stahlgewittern, in Lyrik, wie bei Stefan George oder in den politischen Schriften von Edgar Julius Jung – ihre Ideenwelt offenbarten. Ihnen gemein war eine mehr oder weniger entwickelte Ideologie, die sich als explizit antidemokratisch, antiparlamentarisch, antiemanzipatorisch, antimodern, antisemitisch und natürlich als autoritär, nationalistisch, völkisch und rassistisch darstellte. Heute werden ihre Ideen auf unheimliche Weise wieder durch die sogenannten „Identitären“ aufgegriffen. Die Denkschule der konservativen Revolution steht diesen „hippen Konservativen“ dankbar zur Verfügung, denn viele der ursprünglichen Mitglieder wurden am Ende Opfer der Nazis, die sich selbst generell als revolutionäre faschistische Partei sahen und somit den Konflikt mit der alten Ordnung suchten. Konservative waren ihnen ein Dorn im Auge. Als Beispiel dafür sei der Konflikt zwischen den österreichischen Dollfuß-Faschisten und den Nationalsozialisten genannt, deren Konflikt sich entlang der Frage bewegte, wie Konservative im noch jungen 20. Jahrhundert Politik zu machen gedachten und wie die Nazis die elementaren Fragen ihrer Zeit beantwortet sehen wollten. Wozu aber dieser Exkurs? Ich möchte damit verdeutlichen, dass Konservatismus nicht einfach Konservatismus ist. Wie im Sozialismus und im Liberalismus (den anderen beiden großen Denkschulen des 19. Jahrhunderts) gibt es auch in ihm Ideenschulen, Strömungen und Fraktionen. Konservativ sein heißt, seinen eigenen zu bewahrenden Fixpunkt zu definieren, sonst ist der Begriff hohl und niemand weiß, wofür er eigentlich steht. Ohne Zweifel ist es sehr ironisch, dass der Konservative – also der, der die Werte der Alten, die guten Sitten und die Moral, die uns mit unsichtbarem Band miteinander verbinden, hochzuhalten gedenkt – erstmal festlegen muss, was diese Werte aktuell sind. Nicht umsonst behaupten heute Rechtsnationale wie sie u. a. auch in der AfD anzutreffen sind, die wahren Konservativen zu sein; natürlich niemals ohne heftigen Widerspruch aus CDU und CSU zu ernten. Letztere sehen ihren Fixpunkt im
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Ursprung der Bundesrepublik zur „Stunde Null“ nach 1945; die anderen wohl eher im Nationalchauvinismus der konservativen Revolution. Und ein glühender jesuitischer Ultramontanist des 19. Jahrhunderts hätte mit den Positionen aller beider wohl überhaupt gar nichts anfangen können: Wo ist der Kaiser und sein Heiliges Römisches Reich? Und warum erwähnt niemand den Papst und dass es der Heilige Stuhl sein muss, der am Ende über die Geschicke der Menschen zu bestimmen habe? Und was hätte wohl ein konservativer Kämpfer gegen Napoleon gesagt, wenn ihm ein moderner Konservativer erklärte, dass es seinen „konservativen Werten“ entspräche, die stetige Freundschaft mit dem französischen Volk zu suchen? Und muss es uns daher nicht auch befremdlich scheinen, dass die Konservativen dieser Tage mit Feuer und Flamme für Dinge einstehen, die ihren Vorfahren oftmals unter Einsatz von Leib und Leben abgerungen worden waren? Das allgemeine und gleiche Wahlrecht? Die Rechte von Frauen? Die Abschaffung des Ständestaates, ja der Leibeigenschaft? Die sozialen Rechte? Die Rechte von Gewerkschaften zur freien Assoziierung? Der soziale Wohlfahrtsstaat? Der Schutz von religiösen und sexuellen Minderheiten? Es ist schon eine merkwürdige Tatsache, dass sich kaum eine Ideologie inhaltlich so sehr gewandelt zu haben scheint wie der Konservatismus, der doch angetreten ist, das Gute, Alte und Wahre zu beschützen. 200 Jahre später ist er kaum wiederzuerkennen. Auf der anderen Seite des ideologischen Koordinatensystems steht – für mich natürlich prägend – der Sozialismus. Die Ideen seines Übervaters lesen sich auch heute, 150 Jahre später, noch spannend. 1848 formulieren Karl Marx (zu diesem Zeitpunkt kaum 30 Jahre alt) und Friedrich Engels, ihr Kommunistisches Manifest. Darin fordern sie, dass „an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation treten möge, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sei“. Diese Aussage würden die meisten, die sich heute als links oder progressiv sehen, zwar unterschreiben, aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diejenigen, die mit dem Manifest der Kommunisten in der einen Hand, in der anderen Hand viel zu oft den harten Knüppel des autoritären Staatssozialismus hielten. Das Ergebnis waren Gulag, Stasi, Eiserner Vorhang und zahllose Leben, die, dort wo sie nicht passend waren, passend gemacht
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worden sind. Von freier Entwicklung war in den ehemals realsozialistischen Ländern leidlich wenig zu spüren. Dass es auch heute noch Linke gibt, die diese Entwicklungen bis aufs Blut bereit sind zu verteidigen, stimmt mich traurig und nachdenklich. Denn was heißt das denn für den alten Marx, der schon vier Jahre vor dem „Manifest“ in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ seinen eigenen kategorischen Imperativ formulierte, dass alle Verhältnisse umzuwerfen seien, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist? Das sind die Werte, auf die ich mich persönlich gerne – ganz konservativ – rückbesinne. Gleichzeitig steht deswegen den Linken des 21. Jahrhunderts das Konservativsein schon doppelt nicht gut zu Gesicht. Die Geschichte warnt uns Linke nicht nur vor dem neuen und alten Konservatismus der Nationalisten, der Rassisten und Chauvinisten. Sie warnt eben auch vor dem eigenen Konservatismus. Nur wenn wir das nicht vergessen, wird Progressivität erst wirklich möglich.
Rationalismus und Konservatismus Von Vittorio Hösle Wieso hat ein Philosoph, dessen Grundkonzeption durch und durch rationalistisch ist, Sympathien für den Konservatismus? Versteht es sich nicht von selbst, dass jemand, der auf die Vernunft setzt, die Welt nach deren Forderungen umgestalten soll? Es ist ja sicher kein Zufall, dass die Geschichtsphilosophie des Fortschritts erst im 18. Jahrhundert entsteht, also im Zeitalter der die Vernunft zum Leitideal erhebenden Aufklärung. Allerdings ist der Ausdruck „Geschichtsphilosophie des Fortschritts“ ambivalent. Man kann darunter zwei Positionen verstehen, die voneinander massiv abweichen. Man kann erstens, wie Kant in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, die Auffassung hegen, man habe aufgrund des kategorischen Imperativs eine Pflicht, an einer Besserung des menschlichen Schicksals mitzuwirken, und dürfe hoffen, die Natur treibe die Menschheit in Richtung eines solchen Fortschrittes dank der Entwicklung republikanischer staatsrechtlicher Institutionen und der Überwindung der Geißel des Krieges durch den Welthandel, der weltweit auch die absolute Armut abschaffen werde. Dieser Konzeption habe ich mich stets verpflichtet gefühlt, und ich lehne daher jeden Konservatismus ab, der sich gegen dieses moralische Prinzip und das angeführte konkrete politische Programm wendet. Dem Konservatismus kann aber der Rationalist dahingehend beipflichten, dass bei den moralisch berechtigten Veränderungen darauf zu achten ist, dass nicht unkontrollierbare Prozesse freigesetzt werden, die mehr Gutes zerstören als sie aufzubauen vermögen. Der enthemmte Imperativ der Veränderung hat die Gräuel der Französischen und später der Sowjetischen Revolution erst möglich gemacht, und es ist das Entsetzen vor ihnen, das um 1800 erstmals den Begriff des Konservatismus hervorgebracht hat. Vorher waren die Menschen konservativ, aber sie kamen gar nicht auf den Gedanken, daraus eine Theorie zu machen, weil nichts ihren unreflektierten Konservatismus bedrohte. Das legitime Anliegen des Konservatismus wird allerdings verspielt, wenn
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er zur Reformverweigerung wird, die selbst viel eher zur Revolution animiert als vernünftige Reformen. Man kann zweitens, wie dies der Marxismus in seiner Geschichte zunehmend getan hat, die These vertreten, nicht deswegen, weil etwas gut sei, solle man sich dafür einsetzen und hoffen, ein allgemeiner Fortschritt werde in dieser Richtung stattfinden, sondern vielmehr definiere erst das sich im Fortschrittsprozess der Geschichte unweigerlich Durchsetzende, was gut sei. Der Rest gehöre „auf den Müllhaufen der Geschichte“. Gegen diese zweite Fortschrittstheorie muss ein Rationalist nicht etwa Einwände, sondern einen tiefsitzenden Widerwillen haben. Denn erstens weiß man gar nicht, was sich durchsetzen wird; und zweitens ist die Vernunft keineswegs immer auf Seiten der siegreichen Bataillone. Wenn man aus rationalen Gründen etwas ablehnt, bleibt es schlecht, selbst wenn es geschichtlich triumphieren sollte. Und auch wer die Kantische Hoffnung teilt, dass ein moralischer Endzweck der langfristigen Entwicklung der Natur und der Menschheit zu Grunde liegt, ist wohl beraten, von periodischen Verfallsepochen auszugehen. Wer den konkreten Verdacht hegt, in einer solchen zu leben, stellt sich bei vielen gegenwärtigen Entwicklungstendenzen, selbst mittelfristig siegreichen, unweigerlich die Frage, ob sie den Verfall weiter beschleunigen. Neigt er zu einer positiven Antwort, wird er sich gegen das Weiterschreiten in diese Richtung wenden und dann anderen „konservativ“, vielleicht sogar „reaktionär“ erscheinen. Ich gestehe, dass mir die Innovationshysterie der Gegenwart mit der immer schnelleren Halbwertszeit intellektueller Moden keine Beschleunigung des intellektuellen Fortschritts, sondern des Chaos zu erbringen und ein deutliches Verfallssymptom zu sein scheint. Gerade wenn man wirkliche Paradigmenwechsel wie denjenigen etwa zur speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie in ihrem intellektuellen Glanz zu würdigen weiß, löst das marktschreierische Vorlegen meist nicht durchdachter, oft sogar inkonsistenter geisteswissenschaftlicher Theorien, die in der Mehrzahl der Fälle nicht einmal neu sind, als „neue Paradigmen“ je nach Stimmung Lachen oder Ekel aus; und Bücher, deren Titel mit „Jenseits von …“ beginnt, klappe ich gar nicht mehr auf. Denn eine Theorie muss sich primär auf eigene Verdienste gründen, nicht auf die „Überwindung“ von bisher aus guten Gründen Geltendem. Denn so wenig etwas deswegen wahr oder gut ist, weil man es bisher immer für wahr oder gut gehalten hat, so wenig wird etwas wahr oder gut, weil ein starkes Bedürfnis nach entsprechender Veränderung in der
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Luft liegt. Menschen sind fehlbar – doch das gilt für die der Gegenwart und der Zukunft nicht minder als für die der Vergangenheit. Zudem hat sich diese in einem eingeschränkten Sinne des Wortes, anders als die Zukunft, schon bewährt. Es müssen stets sachliche Argumente sein, die uns davon überzeugen, dass etwas falsch oder richtig ist – nicht die größere Autorität der Gegenwart. Ganz im Gegenteil, wo zwingende Argumente nicht vorliegen, besteht eine Präsumtion zu Gunsten der Vergangenheit, wenn etwa eine Theorie von Denkern entwickelt wurden, die lange Zeit als bedeutend anerkannt wurden. Nochmals: Diese Einschätzung mag sich als falsch herausstellen, aber die der gegenwärtigen Meinungsmacher ebenfalls. Will man statt zu argumentieren bloß Stimmen zählen, dürfen die Toten nicht ignoriert werden, und selbst wenn aufgrund des Bevölkerungswachstums eine heutige Generation zahlenmäßig fünf frühere aufwiegt, wird ihr Gewicht nicht größer, weil die Anpassung an die Zeitgenossen den sachlichen Wert der Übereinstimmung senkt. Übereinstimmung über die Generationen hinweg zählt, zumindest wenn es sich nicht mehr um traditionalistische Gesellschaften handelt, mehr als diejenige innerhalb einer einzigen Generation. Das ist einer der Gründe, warum ich in meiner Disziplin, der Philosophie, Klassikern eine so große Rolle zuspreche. Es geht dabei keineswegs um ein bloßes Eigenrecht der historischen neben der systematischen Forschung. Nein, ich lese etwa Leibniz, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich von ihm zu philosophischen Sachfragen wesentlich mehr lernen kann als von Zeitgenossen, auch wenn er zugegebenermaßen einige Detailargumente noch nicht kannte, die man heute in philosophischen Proseminaren lernt. Aber er wusste viel besser als die meisten heutigen Philosophiestudenten und -professoren, wohin im Ganzen der Philosophie derartige Argumente gehören. Und ich lese lieber Dichtung und Wahrheit und Kindheit, Knabenjahre, Jünglingsjahre als die meisten zeitgenössischen Autobiographien, weil mich Goethes und Tolstois Persönlichkeiten mehr faszinieren und ich es für unwahrscheinlich halte, dass ich unter Zeitgenossen jemandem von diesem Format begegnen kann. Wenn Konservatismus als der Wunsch verstanden wird, das Gute und das Schöne zu bewahren, und zwar nicht, weil es alt, sondern weil es gut und schön ist, dann sollte jeder Rationalist konservativ sein. Die schönen europäischen Altstädte sollen nicht hässlichen Stahlbauten weichen, und die Fülle an überwältigend komplexen Lebensformen, die die biologische Evolution hervorgebracht hat, soll nicht weiter reduziert werden. Das sind
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durchaus konservative Ziele. Aber ihre Realisierung ist nur möglich, wenn vieles am gegenwärtigen Verhalten geändert wird, und manche der Änderungen sollen durchaus auch von vorindustriellen Werten und Tugenden lernen. Ein rationaler Ökologe ist daher sowohl konservativ als auch fortschrittlich und reaktionär – und das zeigt, dass der Begriff „Konservatismus“ kein fundierender Begriff ist. Das Fundament liefert stets die Vernunft, die zu entscheiden hat, was bewahrt und was verändert gehört. Einen intelligenten Konservativen freut es, dass der abendländische Rationalismus dies schon seit Platon gewusst hat. Dass der Begriff des Konservatismus nur etwa 200 Jahre alt ist, ist ihm auf der anderen Seite ein Anzeichen dafür, dass eine explizite Verteidigung der Tradition als Geltungsgrund nicht zu den ältesten und besten Traditionen des Abendlandes gehört.
Bendicòs Balg: Spielarten des Konservativen Von Bernd Roeck Die Szene in Giuseppe Tomasi de Lampedusas Roman Il Gattopardo spielt am Morgen des 13. Mai 1860. Don Fabrizio, Fürst von Salina, ist in seinem Stadtpalast zu Palermo mit der Morgentoilette beschäftigt, müht sich um sorgfältige Rasur. Im Spiegel bemerkt er seinen Neffen Tancredi Falconeri, der gekommen ist, um sich zu verabschieden. Gerade war Garibaldi auf Sizilien gelandet; Tancredi, obwohl von altem, wenngleich verarmtem Adel, wird sich zu dessen Rothemden gesellen. „Große Dinge bahnen sich an“, sagt er. „Da will ich nicht zu Hause bleiben.“ Bestürzt entgegnet Don Fabrizio: Ein Falconeri müsse es mit dem König halten! Er dürfe sich nicht zusammentun mit jenen Leuten, die Mafiosi seien und Gauner. Doch der Neffe lässt sich nicht beirren. „Wenn wir nicht dabei sind, errichten dir jene die Republik. Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, muß sich alles ändern. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Er umarmt den Onkel „ein wenig bewegt“ und bricht auf zum Zug der Tausend. Dem bourbonischen Regime werden nur noch ein paar Monate beschieden sein. „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi“, einer der berühmtesten Sätze der italienischen Literaturgeschichte, bezeichnet eine der Möglichkeiten, konservativ zu sein. Tancredi arrangiert sich mit den Verhältnissen, die Bürger, Beamte und Geschäftemacher nach oben tragen werden. Gegen alle Standesehre heiratet er die schöne Tochter des Bürgermeisters von Donnafugata, dem Sommersitz der Salina, und mit ihr ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Ein ruhiges Dasein als Landlord ist ihm auch im neuen Italien, dem er als Senator dienen wird, sicher. Er ist ein sizilianischer Bruder des Pastors Lorenzen in Fontanes „Stechlin“: „Lieber mit dem Alten, soweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muß […].“ Don Fabrizio indes lebt sein Leben stoisch weiter, gegen die Zeit. Rosenkränze beginnen und beschließen den Tag, der mit Jagd und zeremo-
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niellen Mahlzeiten dahingeht und von Festen und gelegentlichen Besuchen bei Mätressen durchbrochen wird. Anders als sein Neffe lehnt der Fürst es ab, sich von Cavours Staat vereinnahmen zu lassen. Dabei weiß er, daß das alte Sizilien und dessen herrschende Klasse dem Untergang geweiht sind. Er betrachtet sein Land aus der Distanz, von der Höhe seines Palastes aus. Im Morgenlicht erscheinen alle Dinge, verwandelt durch eine starke Sonne, schwerelos. Das Meer zeigt sich als Fleck aus reiner Farbe, Palermo mit seinem Dreck und seinem Elend liegt im Dunst. Die historische Realität Siziliens, wie sie große Masse der Menschen damals erlebte und erlitt, verliert sich in der Schönheit des Panoramas. Der Historiker Klaus Epstein unterschied in seinem Klassiker The Genesis of German Conservativism drei Formen konservativen Verhaltens: Verteidiger des Status quo und Reaktionäre – der Fürst von Salina trägt Züge des einen wie des anderen Typs –, schließlich Reformkonservative. Das 20. Jahrhundert brachte eine weitere Variante hervor: den „revolutionären Konservativen“. Ihn repräsentieren antidemokratische Schwadroneure wie Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger oder jüngst Steve Bannon, zornige Fromme wie Khomeini, schließlich die Massenmörder Mussolini und Hitler. Sie wollen nicht bewahren, sondern umstürzen; den Parlamentarismus zerstören, Ketzer ausmerzen, alte Eliten entmachten oder eliminieren. Ihr Erfolg hat zur Voraussetzung, dass sie intolerant sind und skrupellos. Die mächtigsten Bollwerke gegen ihre Attacken sind Institutionen und das Recht, das sie schützen. Was in den gegenwärtigen politischen Szenerien Deutschlands, Polens, Italien, der USA und anderer Länder begegnet, sind demgegenüber wenigstens vorerst bloße „konservative Impulse“. So nennt der britische Soziologe Peter Marris und mit ihm dessen deutscher Kollege Peter Waldmann eine „quasi-anthropologische Grunddisposition“, nämlich die „teils bewußte, teils mehr intuitive Verankerung des Denkens, Fühlens und Handelns in traditionellen Bahnen und Mustern“ – reflexartige Reaktionen auf beschleunigten Wandel, der als Verlust erfahren wird. Globalisierung und die Zweite Medienrevolution lösen uralte Verhaltensweisen aus. Der konservative Impuls drängt zur Adaption hergebrachter Identitäten, legt Fluchten in die Religion nahe und fordert Widerstand gegen modische Begriffe von politischer Korrektheit. Der Königsweg in die Zukunft soll in die Vergangenheit führen, als die Menschen fromm waren, die Familien intakt und die Nation kräftig, groß und nicht von Fremden verunreinigt.
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In vielen Demokratien ziehen terrible simplificateurs Gewinn daraus. Einige von ihnen mögen aufrechte Konservative von begrenzter Intelligenz sein, andere gewissenlose Zyniker des Machtspiels, die kein Wort von dem glauben, was sie dröhnend verkünden. Sie propagieren einfache Lösungen, während ihre Gegner noch an der Analyse komplexer Problemlagen tüfteln. Gegen Rationalismus und Abstraktion stellen sie „gesunden Menschenverstand“. Lassen sich mit der Hetze gegen Flüchtlinge oder Minarette Stimmen gewinnen, hetzen sie gegen Flüchtlinge und Minarette. Versprechen Leugnung des Klimawandels oder Relativierung seiner Folgen Zuwächse, wird eben der Klimawandel in Frage gestellt. Schuld an einer dumpf gefühlten Malaise sollen im Übrigen wie von jeher „die Anderen“ sein. Migranten und Muslime, Liberale und Linke haben Hexen in der Rolle der Sündenböcke abgelöst. Den Juden, klassischen „Schuldigen“ schon im Mittelalter, scheint der unheilvolle Part erneut zuzuwachsen, und zwar nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch im Westen. Beunruhigend ist, dass sich hier mit den altvertrauten Parolen Stimmen gewinnen lassen – und dass in Zeiten florierender Wirtschaft. Konservatismus ist indes weder prinzipiell schlecht noch grundsätzlich gut. Immer ist zu fragen, was eigentlich „konserviert“ werden soll: Ungerechte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse? Die Macht alter Männer, der Einfluss einer intransigenten Priesterkaste? Oder reden wir von dem, was Erhard Eppler „Wertkonservativismus“ nannte – die Umwelt schützen, die Erderwärmung stoppen? Vor allem auf ökologischem Feld sieht sich progressive Politik tatsächlich stets auf im Wortsinn konservative Ziele verwiesen. Davon, ob es ihr gelingt, sie zu erreichen, hängt die Zukunft des Planeten ab. Reformkonservatismus kann daneben auf die Herstellung von mehr Gerechtigkeit zielen, wie auch immer man den Begriff mit Inhalt füllen mag. Seine Agenda ist, halbwegs komfortable Gesellschaftsordnungen und einigermaßen ordentliche politische Systeme zu bewahren. Ein Slogan der Sozialdemokraten Willy Brandts brachte 1972 eine solche Strategie auf den Punkt: „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.“ Gelingt eine wirkliche „konservative Revolution“ – wie 1922 in Rom, 1933 in Berlin oder 1979 in Teheran –, sind die Folgen katastrophal. Das „Narrenspiel der Hoffnung“, das Jacob Burckhardt während Frühphasen von Umstürzen beobachtet, währt nicht lange. Den Protagonisten bleibt nackter Machterhalt als einziges, nun mit Unterdrückung und Terror verfolgtes Ziel. Sie tun das weniger deshalb, weil sie „rechts“ wären, sondern
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weil überhaupt Ideologien oder absolut gesetzte religiöse Doktrinen ihr Handeln leiten. Bald geht es nicht mehr nur um den gewöhnlich eher schlichten Inhalt ihrer Köpfe, sondern um die Köpfe selbst. Hohle Botschaften bemänteln nur noch Angst. Dem mit ihnen verglichen harmlosen Don Fabrizio mag man Respekt nicht versagen. Unbeirrt weiterzumachen, während umher alles in Trümmer fällt, hat ja etwas Heroisches. Doch geht die Geschichte über Konservative seines Schlages hinweg. Was bleibt, sind Erinnerungen. Im Palast der Salina hält Bendicò, der Hund des Fürsten, die Stellung, nun einbalsamiert als mottenzerfressene Reliquie eines längst verwehten aristokratischen Sommers. Stets hatte er sich treu und ergeben gezeigt. Er forderte nicht, er kritisierte nicht und erregte keine Furcht. Er glich dem idealen Untertan. Ein wenig – so sein Schöpfer Tomasi de Lampedusa – ähnelte Bendicò den gleichgültigen Sternen über Palermo, die Don Fabrizio vom Observatorium seines Palastes aus zu beobachten pflegte. Aber selbst der Balg endet kläglich. Die letzten Sätze des „Gattopardo“ erzählen, wie Concetta, des Fürsten älteste Tochter, den Kadaver entsorgen läßt; inzwischen schreibt man Mai 1910. „Während das Gerippe weggetragen wurde, fixierten sie die Glasaugen mit dem demütigen Vorwurf von Dingen, die man wegschmeißt, die man loswerden will. Wenige Minuten später wurde das, was von Bendicò geblieben war, in eine Ecke des Hofes geworfen, den der Müllmann jeden Tag besuchte. Während des Flugs vom Fenster herab verwandelte sich seine Form für einen Moment. In der Luft, so sah es aus, tanzte ein Vierbeiner mit langen Schnurrhaaren; die rechte Vorderpfote schien zum Fluch erhoben. Dann fand alles Frieden in einem Häuflein fahlen Staubes.“
Die Kunst des Konservativen: Bewahren und Erneuern Von Paul Kirchhof Nach einer öffentlichen Diskussion, in der es um gediegene Staatsfinanzen ging, fragte mich ein Diskussionsteilnehmer mit leicht kritischem Unterton, ob mein Denken nicht recht konservativ sei. Ich antwortete ihm, ich sei Verfassungsrechtler, bemühe mich deshalb, das Anliegen der Staatsverfassung zu unterstützen, politische Erfahrungen, bewährte Institutionen und erprobte Werte verbindlich an die nächste Generation weiterzugeben. In diesem normativen Nachhaltigkeitskonzept ist angelegt, dass gefestigte Regeln eines friedlichen und demokratischen Zusammenlebens verteidigt werden. Aber diese Verstetigung des Rechts braucht auch eine beharrliche Rechtserneuerung. Das deutsche Grundgesetz stützt seinen Geltungs- und Bestandsanspruch insbesondere auf den Gesetzgebungsauftrag und die Freiheit der Bürger. Wenn das Parlament stetig neue und bessere – so ist das Ideal der Demokratie – Gesetze erlässt, kann sich die Verfassungsordnung zeitgerecht entwickeln. Nimmt ein Bürger seine Freiheit wahr, darf er sich heute anders als gestern verhalten und entscheiden, immer wieder auf das Neue, das Bessere, auch das Unkonventionelle sinnen. Diese Sicherheit im Bewährten und Erneuerung zum Besseren ist konservativ. Unser Grundgesetz entzieht bestimmte Grundregeln des Rechts der politischen Gestaltung. Dieses geschieht in zwei Stufen. Eine Verfassungsänderung ist durch besondere Mehrheitserfordernisse erschwert; sie bedarf der Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Bestimmte Leitgedanken der Verfassung sind jeder Verfassungsänderung entzogen. Dies gilt für die Garantie der Würde des Menschen, für die grundrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsgarantien, für die Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaatlichkeit und Republik. Niemand soll sich auf die Verfassung berufen können, wenn er diese Kerninhalte des Verfassungsrechts nicht als tabu anerkennt. Damit kann die
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Verfassung sich nicht gegen eine Revolution schützen, wohl aber ihre Identität bestimmen, ohne die der Geltungsanspruch des Grundgesetzes erlischt. Das Konservative anerkennt somit, dass die Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens wachsen und sich in verschiedenen Erprobungsphasen bewähren müssen. Eine Verfassung hat Antwortcharakter: Wer den Krieg erlebt hat, fordert Frieden. Wer gehungert hat, erwartet sozialstaatliche Existenzsicherung. Wer unterdrückt worden ist, kämpft für Freiheit. Wer gedemütigt worden ist, verlangt nach Gleichheit. Demokratische Gesetzgebung sieht im Gesetzgeber nicht die höchste Autorität, die jedes Thema regeln und politisch nach Mehrheit gestalten darf. Vielmehr ist jede Staatsgewalt in traditionellen Rechten gebunden. Das galt schon für die Herrschaft von Papst und Kaiser, von Königen, Fürsten und Stadtoberen. Das gilt auch für eine Demokratie, die alle Staatsgewalt verfassungsrechtlich binden und in dieser Gebundenheit parlamentarisch und freiheitlich fortschreiben will. Konservativ denkt deshalb der Mensch mit Geschichtsbewusstsein. Er kennt die Verletzlichkeit des Menschen, kämpft gegen Willkür und hofft, in festen Institutionen und Verfahren, in gesicherten Werten und Maßstäben die Menschen vor Unrecht und Unglück bewahren zu können. Wenn der Rechtsstaat Faust und Fehde verabschiedet, Krieg und Terror unterbinden und Konflikte allein in sprachlicher Auseinandersetzung lösen will, wird dieses Friedensprinzip als unantastbar gedacht. Das Demokratieprinzip will alle Staatsgewalt auf Dauer von der Zustimmung des Staatsvolkes abhängig machen. Der Staat soll vom Staatsvolk so abhängig sein, wie der Handschuh von der Hand, der allein Beweglichkeit gewinnt, wenn die Hand in den Handschuh hineinfährt und diesen dadurch bewegt. Das Prinzip der Gewaltenteilung folgt der Einsicht, dass selbst ein intellektuell disziplinierter Philosophenkönig durch Macht und die Unterwerfungsbereitschaft der Untertanen verführt und korrumpiert werden könnte, die Staatsgewalt deshalb untergliedert und aufgeteilt werden muss. Diese Gewaltenbalance dient einer Kultur des Maßes. Die weitere bundesstaatliche Untergliederung der Staatsgewalt sucht in den politischen Einheiten von Bund, Ländern und Gemeinden Bürgernähe zu gewährleisten, regionale Eigenheiten zu bewahren, politische Experimente in einem überschaubaren Wirkungskreis zuzulassen. Eine Verfassungsge-
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richtsbarkeit hat den besonderen Auftrag, Staat und Gesellschaft immer wieder neu in ihren rechtlichen Fundamenten zusammen zu halten. Die Kunst des Konservativen, das Bewahren und Erneuern jeweils zeitgerecht und rechtzeitig im Einklang zu halten, fordert den Menschen, der als Abgeordneter nach dem besseren Recht strebt, als Freiheitsberechtigter sein Leben und sein Lebensumfeld prüfend in Frage stellt. In diesen Erneuerungsaufträgen braucht er Maßstäbe, die das Recht nicht vorgibt. Der Bürger muss aus sich heraus diese Maßstäbe bilden. Der ehrbare Kaufmann, der anständige Bürger, die Erklärungen nach bestem Wissen und Gewissen leben diese innere Bindung. Ein erfolgreicher, angesehener Unternehmer sagte mir jüngst, er tue alles, was das Gesetz nicht verbiete. Eine solche Wahrnehmung der Freiheit beansprucht, im Rahmen der Gesetze maßstabslos, beliebig, letztlich ohne Verantwortlichkeit zu handeln. Das ist für die kleinen Entscheidungen des Alltags richtig, wenn jemand morgens die Zeitung liest oder ins Internet schaut und abends ein Glas Bier oder ein Glas Wein trinkt. Doch alle Freiheitsentscheidungen, die auch andere Menschen betreffen, müssen in freiheitlicher Verantwortung, aus einem Freiheitsethos heraus getroffen werden. Der Arzt behandelt seinen Patienten in der Zuwendung, die schon Hippokrates für die Ärzte formuliert hat. Der Handwerker erbringt die Leistung, die neben dem Vertragsanspruch einem Qualitätsanspruch genügt. Der Lehrer folgt seinem Erziehungsethos. Der Richter sucht täglich der Gerechtigkeit ein wenig näher zu kommen. Die Beachtung des verbindlichen Rechts, damit die Vermeidung der rechtlichen Sanktionen für Unrecht, entspricht einer elementaren, aber einfachen Forderung des Konservativen. Das Konservative erwartet zudem, dass der Mensch weitere, eigene Maßstäbe von Ethos und Moral entwickelt, die in der Herkunft der Rechtsgemeinschaft wurzeln und ihr entsprechend die Zukunft gestalten. Konservativ ist derjenige, der das Recht achtet und die Wahrnehmung seiner Freiheit vor seinem Gewissen verantwortet. Ich hatte jüngst einen Vortrag zur Bedeutung des Jüngsten Gerichts für das Recht. In der Diskussion wurde gefragt, ob diese Form, dem Menschen seine Verantwortlichkeit bewusst zu machen, noch mit heutigem Denken vereinbar sei. Das große Gemälde Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, viele Darstellungen des Jüngsten Gerichts in den Gerichtssälen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, auch die Gestaltung der Ein-
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gangsportale von Kathedralen fordern gerade von Trägern staatlicher Macht, sich ihrer unausweichlichen Verantwortlichkeit bewusst zu sein, stets so zu urteilen, dass sie vor einem höheren Gericht bestehen können. Diese Verantwortlichkeit ist urmenschlich, mag sie übermenschlich oder freiheitsimmanent begründet werden. Sie vermeidet Willkür, ein Handeln, das allein im Willen des Handelnden seine Rechtfertigung sucht. Sie richtet den Blick auf das Wesentliche, unterscheidet dieses vom Belanglosen, auch vom Flüchtigen, von Verächtlichkeit und Geringschätzung. Bestimmt diese Verantwortlichkeit das Leben eines Menschen, gewinnt er Gelassenheit. Der Konservative sieht den Menschen weniger in Gruppen von Anbietern und Nachfragern, Produzenten und Konsumenten, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, spricht ihn in Freiheit persönlich an und mäßigt die Globalsteuerung. Er beobachtet das Individualverhalten, weniger das Schwarmverhalten. Gerade weil er Begegnung und Dialog pflegt, ist er offen auch für Erlebnisse leichten Sinnes, den Genuss in Unbekümmertheit, die Geselligkeit mit Musik und Tanz und sportlicher Begeisterung. Der Konservative steht nicht gegen Geselligkeit, sondern gegen Vergesellschaftung, nicht gegen gemeinschaftliche, sondern gegen kollektivierte Freiheit, nicht gegen den europa- und weltoffenen Staat, sondern gegen dessen Auflösung in der Wolke einer ungreifbaren Internationalität. Er steht für das allgemeine Gesetz, gegen einen unreflektierten Zeitgeist; für die gerichtlich durchsetzbaren individuellen Rechte, nicht für deren Gebundenheit in Standes- und Verbandsstrukturen. Familie, freie Gesellschaft und Verfassungsstaatlichkeit stellt er nicht in die Beliebigkeit eines ungebundenen Diskurses. Der Konservative weiß, woher wir – die Rechtsgemeinschaft vor seiner Haustür – kommen, wer wir sind, worauf wir hoffen. Dieses Nachhaltigkeitskonzept fordert einen bedachten, einen schonenden Übergang vom Gestrigen zum Neuen.
Universelle Werte und Frauenrechte Von Susanne Schröter Als konservativ gilt heute eine Haltung, die noch Ende des 20. Jahrhunderts als originär links bezeichnet worden wäre. Ihr Fundament sind universelle Werte und daraus folgende Rechtsansprüche des Individuums. Die grundsätzliche Rechtsgleichheit aller Menschen wurde erstmals 1948 in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ festgeschrieben und seitdem durch eine Vielzahl von Zusatzprotokollen ergänzt. Eines dieser Protokolle ist die „Konvention zur Eliminierung aller Formen von Diskriminierung von Frauen“. Sie wurde 1979 von der UN-Generalversammlung verabschiedet und ist seit 1981 in Kraft. Fast alle Staaten haben sie mittlerweile unterzeichnet. Sowohl die Menschenrechte als auch speziell die Freiheitsrechte von Frauen sind das Produkt gesellschaftlicher Kämpfe. Sie richteten sich gegen herrschende illiberale und patriarchalische Ordnungen und waren, obgleich sie etliche Vorläufer in der Geschichte hatten, letztendlich eine vollkommen neue Entwicklung. Die Frauenrechtsbewegung, die ich in diesem Essay besonders in den Blick nehme, ging zurück auf die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, die die französische Revolutionärin Olympe de Gouges 1791 der brüderlichen Gleichheitsagenda ihrer männlichen Mitstreiter entgegenhielt, und auf die Schriften liberaler Autorinnen und Autoren wie Mary Wollstonecraft, John Stuart und Harriet Taylor Mill, Louise Otto und Hedwig Dohm, um nur einige zu nennen. Ihre Ideen wurden global aufgegriffen und spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begeisterten sich auch gebildete Frauen und Männer orientalischer Gesellschaften für die Idee der Gleichheit der Geschlechter. Mirza Fath Ali Akhundzadeh und Bibi Khanum Astarabadi im Iran, Qasim Amin und Huda Shaarawi in Ägypten sowie Raden Ajeng Kartini im damaligen Niederländisch-Indien forderten Demokratie, Bildung und gleiche Rechte für Frauen und Mädchen.
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Die Frauenrechtsbewegung setzte ihre Forderungen in einigen Ländern eher durch als in anderen und es gab Rückschläge, die häufig auf Interventionen religiöser Akteure zurückgingen. Im Iran beispielsweise wurde Frauen nach der siegreichen Islamischen Revolution im Jahr 1979 alle Rechte entzogen und die absolute Herrschaft der Väter und Ehemänner wiederhergestellt. Die Islamische Republik, die einst von Ayatollah Khomeini ausgerufen wurde, hat der UN-Agenda bis auf den heutigen Tag nicht zugestimmt. Auch die Organisation islamischer Konferenzen, deren Einzelmitglieder mehrheitlich sowohl die Menschenrechts- als auch die Frauenrechtsagenda unterschrieben, stiegen 1990 mit der „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ kollektiv wieder aus und verwiesen auf die übergeordnete normative Bindung an die Scharia. Trotz solcher Einsprüche nahm die Anerkennung der Freiheitsrechte von Frauen auf der Ebene internationaler Organisationen einen positiven Verlauf, weil Aktivistinnen aus nahezu allen Ländern der Welt sie vorantrieben. Sie kamen auf mehreren internationalen Konferenzen zusammen und schrieben gemeinsam den Text für die spätere Agenda. Die Frauenrechtskonvention ist daher, das muss betont werden, kein Protokoll westlicher Staaten, das der Welt aufoktroyiert wurde, sondern war von Anbeginn an ein globales Projekt. Zurzeit werden die universelle Gleichheitsagenda und auch die Frauenrechtsagenda von völkisch-rechten, ethno-nationalen, linken und islamistischen Akteuren herausgefordert. Sie alle vereint ein Bezug auf identitäre Konstruktionen des Eigenen, aus der exklusive Normen abgeleitet und gegen andere in Stellung gebracht werden. Während dies bei völkischen, ethno-nationalen und islamistischen Gruppierungen wenig überraschend ist, verdient die Entwicklung innerhalb der Linken besondere Aufmerksamkeit, da es sich um eine reaktionäre Kehrtwende handelt. Verantwortlich sind Ansätze der postkolonialen Theorie, aber auch des intersektionalen Feminismus bzw. der Gendertheorie, die die Bedeutung eines Arguments zu Gunsten einer identitären Sprecherposition eliminieren. Es nicht mehr entscheidend, was gesagt oder wie eine Meinung begründet wird, sondern es zählt allein, wer spricht. Ich möchte diese Entwicklung, die zu einem kruden Obskurantismus geführt hat, kurz skizzieren. Einer der Ausgangsorte ist die postkoloniale Theorie, eine von Intellektuellen aus den ehemaligen Kolonien getragene literarische Strömung, die gegen den Überlegenheitsanspruch der Kolonisatoren gerichtet war und sich mit der Antirassismus-Bewegung schwarzer
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Aktivisten in den USA traf. Als sich in den 1970er Jahren die sogenannte zweite Frauenbewegung konstituierte, führten die Einsprüche aus den postkolonialen und antirassistischen Gruppen zu einer Spaltung zwischen Universalistinnen und Partikularistinnen. Während die einen ein als global angenommenes Patriarchat mit der Idee einer „global sisterhood“ zu bekämpfen suchten, differenzierten Frauen, die sich als „schwarz“ oder „of color“ bezeichneten, zwischen ihnen und den „weißen“ Frauen. Letztere sahen sie auf Seiten ihrer Unterdrücker. Diese Position war durchaus verständlich, denn allzu oft wurden in der Vergangenheit scheinbar emanzipative Rhetoriken gegen aufbegehrende Kolonialgesellschaften in Stellung gebracht. Ein Beispiel ist Lord Cromer, der um die Wende zum 20. Jahrhundert in England gegen die Suffragetten mobil machte und gleichzeitig als Generalkonsul in Ägypten die dortige Gesellschaft als frauenfeindlich abwertete. Allerdings mündete die berechtigte Kritik schnell in einer Umkehr der Zuschreibungen. Einige der postkolonialen Feministinnen glorifizierten die präkolonialen Gesellschaften zu Orten gelebter Gendergleichheit und verstiegen sich zu der These, erst der Kolonialismus habe das Patriarchat in die indigenen Paradiese gebracht. Auf ähnliche Abwege geriet auch die Kritik, die aus der Ethnologie an simplifizierenden Unterdrückungsszenarien geäußert wurde. Aus dem Versuch, Kategorien wie „Herrschaft“, „Macht“ oder „Unterdrückung“ empirisch dingfest zu machen und die Debatte durch Komplexität zu bereichern, wurde eine vereinfachte Agency-Theorie, die jeder nur denkbaren Handlung von Frauen per se „Macht“ zuschrieb und schlussendlich nicht mehr in der Lage war, normative und faktische Ungleichheit wahrzunehmen. Ja, sogar Gewalt gegen Frauen wurde diskursiv ummantelt und damit unsichtbar gemacht. Als fatal sollte sich die Einführung eines Subjektivitätsparadigmas erweisen, das äußere Attribute von Sprechenden zum Zugangskriterium einer Teilnahme an der Debatte machte. In Deutschland hatte die Soziologin Maria Mies bereits 1978 in einem Aufsatz die eigene weibliche Erfahrung von Unterdrückung als methodische Bedingung für die gerade entstehende Frauenforschung bezeichnet. Wer keine entsprechenden persönlichen Ereignisse erzählen konnte oder gar das „falsche“ Geschlecht besaß, war von vorneherein aus der Diskursgemeinschaft ausgeschlossen.
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Damals war dies eine im wahrsten Sinne des Wortes marginale Position, die im sozialwissenschaftlichen Mainstream keine Bedeutung hatte. Heute ist das anders. Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht oder Religion legitimieren oder delegitimieren Sprecherpositionen, und im Zerrbild des „alten weißen Mannes“ finden wir die Denunziation all desjenigen, das zum Schweigen gebracht werden soll. Eine Blüte des intersektionalen Feminismus ist die Fokussierung auf den sogenannten „antimuslimischen Rassismus“, dem ein Konzept des Rassismus ohne Rassen zu Grunde liegt. Rassistisch gilt dabei jegliche Kritik an patriarchalischen Gepflogenheiten, sofern sie nichtwestlich sind und insbesondere dann, wenn sie muslimisch gerahmt werden. Der Gipfel dieses Denkens ist die Adelung der Ganzkörperverschleierung als Zeichen eines gleichermaßen antikolonialen wie antisexistischen Widerstands durch Judith Butler. Vertreterinnen dieser an Universitäten sehr populären Richtung geißeln Islamismuskritik regelmäßig als „rassistisch“ und bezeichneten Alice Schwarzer jüngst als „alten weißen Mann“. Wenn wir uns vor Augen führen, was sich zur Zeit auf so manchem USCampus ereignet, können wir erahnen, wohin die Reise gehen soll. Dort lässt sich eine Multiplizierung selbst ernannter identitärer Opfergruppen beobachten, die „safe spaces“ für sich reklamieren, gegen „Mikroaggressionen“ mobil machen und eigene partikulare Weltauffassungen als einzig moralisch akzeptable durchsetzen möchte. Antidiskriminierungsbeauftragte sichern die eigenen Echokammern ab, und sowohl die Meinungsals auch die Wissenschaftsfreiheit müssen einem neuen moralischen Totalitarismus weichen. Konservativ heißt für mich angesichts dieser Zustände eine Rückbesinnung auf universelle Werte und individuelle Freiheitsrechte, unabhängig von Hautfarbe, Alter, Geschlecht, Religion oder anderen sekundären Zuschreibungen.
Konservativ in Zeiten der Disruption Von Klaus Mertes SJ Was ist konservativ? Ich beginne mit einem Gegenbegriff. „Disruptive Innovation“. Das Wort kommt aus der Technologiebranche. Etablierte Technologien und Produkte werden durch neue Angebote vom Markt verdrängt. Seit Donald Trumps Wahlsieg 2016 wird der Begriff auch für den Bereich des Politischen benutzt. „Disruptive Innovatoren“ wie Steve Bannon machen Disruption zum Programm: Es geht um die Verdrängung des politischen Establishments, um die Dekonstruktion des „Verwaltungsstaates“ und um die nationalistische Abgrenzung gegenüber multilateralen Ordnungen und Verpflichtungen. Marxistisch inspirierte Verelendungstheoretiker begrüßen ihrerseits die neuen Disruptionen, weil sie die sozialen Konflikte verschärfen und zur ganz großen Disruption führen, auf die sie wiederum hoffen, die endgültige Überwindung des Kapitalismus. Disruptive Innovatoren nutzen technologische Innovationen für ihre Zwecke, allen voran das Internet. „Move fast and break things“ verkündete Facebook als Devise für Software-Entwickler. „Disrupt“ ist der Titel der jährlich stattfindenden Konferenz des Online-Nachrichtenprotals TechCrunch. Die aktuelle Pointe ist: Im Internet treffen sich Revolutionäre der Digitalisierung mit Reaktionären des neuen Populismus, denen es über die neuen Medien gelingt, bisher unerreichbare Bevölkerungsschichten zu politisieren. Die Konservativen kommen bei beiden nicht wirklich mit. Für die Logik der Disruption ist der Faktor Tempo entscheidend. Konservativ-bremsend wirken dagegen alle Versuche der Politik, das Tempo der Entwicklung so zu drosseln, dass gesamtgesellschaftliche Diskussions- und Abwägungsprozesse möglich bleiben, dass soziale Errungenschaften nicht über Bord gehen und kulturelle Folgen wenigstens in Ansätzen abschätzbar bleiben. Die Wirtschaft reagiert auf solche Bedenken verständnislos: „Digital first, Bedenken second.“ Von der Angst getrieben, den Anschluss an die Entwicklung zu verpassen und vom Markt verdrängt zu werden, sol-
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len die neuen Technologien auch staatlich gefördert werden – und zwar vorgängig zu einer Prüfung der sozialen und kulturellen Folgen. Der Bildungssektor wird ebenfalls auf die disruptiven Umbrüche eingestellt. Die Wirtschaft drängt zusammen mit ihrem bildungspolitischen Lautsprecher OECD auf die Digitalisierung der Schulen, auf die angeblich völlig neuen Lernmöglichkeiten, die mit ihr einhergehen, sowie auf die adäquate Vorbereitung der Jugend auf weitere Disruptionen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft. Unter diesen Umständen verstehe ich zunächst als „konservativ“ eine widerständige Haltung. Sie unterwirft sich nicht dem kategorischen Indikativ Futur: „Das wird so kommen – es kommt nur darauf an, ob wir mithalten oder den Anschluss verpassen.“ Als Konservativer glaube ich an den Sinn von Folgeabschätzungen und Verträglichkeitserwägungen, an die Bedeutung von Prozessen, in denen Menschen geduldig mitgenommen werden. Manchmal sind klare Positionierungen oder auch schnelle Entscheidungen notwendig. Aber in fast allen Veränderungsprozessen gibt es zugleich immer auch etwas gewachsenes Gutes, das zu bewahren ist. Das spricht nicht gegen Veränderung. Für eine verlässliche Veränderungsbereitschaft von Konservativen spricht die Einsicht, dass das Gute nicht bewahrt werden kann, wenn man sich nicht auf Veränderungen einlässt. Andererseits liegt Konservativen auch daran, den Sinn dafür zu bewahren, dass etwas verloren geht, wenn sich Disruptoren bloß auf die Normativität der faktischen Entwicklungen beziehen. Konservativ zu sein bedeutet deswegen auch immer, Verantwortung für die notwendigen Veränderungsentscheidungen zu übernehmen, statt die Verantwortung bloß an anonyme Größen zu delegieren. Es gibt in jedem Veränderungs- und Erneuerungsprozess unvermeidliche Brüche. Konservativ sein bedeutet nicht bloß, abwägend und vorsichtig vorzugehen und Brüche um jeden Preis zu vermeiden. Konservative sind auch daran erkennbar, dass es Preise gibt, die zu zahlen sie nicht bereit sind – auch um den Preis von Brüchen. Disruptive Innovatoren hingegen erheben Disruption zum Prinzip ihres Handelns. Das Prinzip ist allerdings inhaltsleer, es ist nichtssagend, sinnfrei. Inhaltliche Gestaltungsansprüche gegenüber den rasenden Entwicklungen einer jeden Zeit werden zu Gunsten der Anpassung aufgegeben. Für Konservative hingegen sind heute (früher von ihnen selbst zum Teil bekämpfte) fundamentale Werte – „Nächstenliebe“, „Menschenwürde“, „Gerechtigkeit“, „Freiheit, Gleichheit, Brü-
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derlichkeit“, „Rationalität“ – Prinzipien ihres Handelns. Was diese inhaltlich bedeuten, muss immer wieder neu im Diskurs erarbeitet werden. Konservative sind Anhänger des Diskurses, weil sie die Vernunft nicht bloß für ein Epiphänomen von Machtinteressen halten. Erhalt und Erneuerung sind für Konservative keine Gegensätze. Das gilt auch für die inhaltliche Bestimmung von „Werten“ im gesellschaftlichen und politischen Alltag. Ohne ständige praktische Aneignung schrumpfen Werte zu wohlklingenden Begriffshülsen zusammen, die bei Festreden in Anspruch genommen werden, aber nichts besagen. Um das jüngste, für mich positive Gegenbeispiel aufzugreifen: Es war die Vorsitzende einer eher konservativen Partei, Angela Merkel, die in der dramatischen Zuspitzung der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 mit ihrer Entscheidung, die Grenze nicht zu schließen, einen Bruch riskierte und so dem traditionellen Begriff der „Nächstenliebe“ wieder eine politische Bedeutung zurückgab. Kein Konservativer hat ein Problem damit, wenn um diese Entscheidung inhaltlich gestritten wird, auch nachträglich. Aber um eine konkrete Entscheidung in der Verhältnisbestimmung zwischen Flüchtlingskrise, Grenzschutz, Integrationskapazitäten und Nächstenliebe kommt kein Konservativer herum. Die Disruptoren hingegen entziehen sich dem Diskurs, weil sie nicht den Diskurs, sondern den Bruch wollen. Es war der eher als konservativ geltende Papst Johannes XXIII, der das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) einberief, das große Reformkonzil der katholischen Kirche. Es riskierte Brüche mit der Tradition – Anerkennung der Religionsfreiheit, Anerkennung der historisch-kritischen Exegese, Wiedereinführung der Landessprache in die Liturgie, und so weiter. Aber er und das Konzil taten dies in klassisch konservativer Manier, nämlich mit Rückgriff auf die Tradition. Tradition gibt es ja immer nur als gedeutete Tradition. Das Reformkonzil führte auch zu Brüchen in der Institution selbst bis hin zu Abspaltung der Traditionalisten. Innerkirchlich führte dann die Rezeption des Konzils zu einer Auseinandersetzung zwischen einer angeblichen „Hermeneutik der Kontinuität“ und einer angeblichen „Hermeneutik der Diskontinuität“ zwischen Tradition und Konzil – „angeblich“ deswegen, weil diese Unterscheidung vor allem von denen postuliert wurde, die Brüche und Diskontinuitäten, die im Konzil tatsächlich steckten und ihm folgten, kritisch sahen. Im Zeitalter der Disruption finden nun diese beiden (behaupteten) Hermeneutiken im Typus der reaktionären Disrup-
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toren neu zusammen. Katholische Laien wie Steve Bannon auf der einen Seite und Kardinäle wie Raymond Burke auf der anderen Seite stehen exemplarisch für diesen Schulterschluss. Katholische Disruptoren verbinden das Reaktionäre mit dem Revolutionären – auch in einer neuen Form von Intellektualität, die Anschluss findet an die populistische Rechte, zurzeit mehr als an die populistische Linke. Konservative Katholiken hingegen werden sich den Disruptoren nicht anschließen können und wollen, gerade weil sie konservativ sind. Zu ihnen zähle ich mich.
Konservativ? Von Heinrich Detering Da ich mich zum christlichen Glauben bekenne und obendrein, zwanglos und aus freien Stücken, der katholischen Kirche angehöre, sei ich konservativ, höre ich. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Wenn es das ist, was im alltäglichen Diskurs von Tagesschau, Spiegel Online oder New York Times gemeinhin so genannt wird, wenn es also (beispielsweise) heißt, an der Wirklichkeit der Klimakatastrophe zu zweifeln, das Artensterben als unvermeidlich und Armut nur als einen Anlass für charity zu betrachten, an die uneinschränkbare Überlegenheit eines Finanzsystems zu glauben, das nicht nur nach einem Wort meines Papstes, sondern auch nach meiner Erfahrung tötet, Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen als Freiheitsberaubung zu empfinden, die Liebe unter Frauen oder unter Männern für verwerflich und ihre Eheschließung zu einem Angriff auf die Familie zu erklären, das Phantasma nationaler Identitäten für Wahrheit, den Koran für Teufelswerk, Atheisten für Menschenfeinde und Protestanten für irregeleitet zu halten, wenn konservativ sein also heißt, dieses dem öffentlichen Diskurs zufolge konservative Tafelsilber zu putzen, also diesen und anderen Götzendienst abzuleisten: dann weiß ich nicht, was um alles in der Welt ich damit zu tun haben soll, weil ich dann nicht weiß, was der Glaube damit zu tun haben soll, zu dem ich mich bekenne. Der Witz ist: Ich weiß es wirklich nicht und sehe mit Verwunderung, dass alle Welt es selbstverständlich vorauszusetzen scheint. Der Mann, der die Armen seliggepriesen, den Barmherzigen und Friedfertigen die Zukunft versprochen, die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel als role models beschrieben und dem Schlagenden die andere Wange hinzuhalten empfohlen hat, der im Gleichnis vom Weinberg die wirtschaftliche Unvernunft als Vorbild gelobt und den family values die Feindesliebe entgegengestellt hat, der zum Leben auferstanden ist als ein Geschlagener, ein ans Kreuz Geschlagener: Was hat er zu schaffen mit der Parteilinie, dem Nationalkult, dem Sozialprestige, der Homo-, Islamound allen anderen Phobien? Es komme im menschlichen Leben darauf an,
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so besagt es der solche unmöglichen Ausdrücke ungeniert gebrauchende Anfang des katholischen Katechismus, Gott zu erkennen und zu lieben. Das ist ein erstaunlich schutzloser und erstaunlich starker Satz, und es scheint mir ein Leben wert zu sein, sich und andere zu fragen, was in ihm die Worte „Leben“ und „erkennen“, „Gott“ und „lieben“ bedeuten und ob sie nicht am Ende auf ein- und dasselbe hinauslaufen. Wenn dies zu glauben konservativ sein sollte, dann bin ich es. Sonst nicht.
Eine Kultur des Scheiterns zulassen und mutig sein Von Dorothee Bär Der Sprung vom Konkreten im politischen Tagesgeschäft zu abstrakten Fragen wie „Was ist konservativ?“ war für mich im ersten Moment zugegebenermaßen nicht einfach. Ich sitze für eine konservative Partei seit Jahren im Deutschen Bundestag, bin stellvertretende Vorsitzende dieser Partei und hatte mich immer als „konservativ“ bezeichnet. Aber wie kann man diese Weltanschauung, die ich als so wichtig für meinen Lebensweg und richtig für den Weg unseres Landes erachte, am besten definieren? Denke ich immer nur so, wie es die Traditionen wollen, mit denen ich aufgewachsen bin? Doch dann kam mir ein Zitat in den Sinn, das ich für sehr wichtig halte: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“ (Thomas Morus). Obwohl der Konservatismus von vielen als etwas Rückständiges angesehen wird, finde ich diese Ansicht falsch. Er ist ein Blick in die Zukunft – aber eben von einer bestimmten Perspektive aus. Konservativ ist die Verbindung zwischen dem Vergangenen und dem, was ist und was kommen mag. Durch Vergangenes haben wir Erfahrungen gesammelt. Wir haben vieles ausprobiert und waren erfolgreich. Wir haben aber auch ausprobiert und sind gescheitert. Daraus haben wir gelernt. Wir sind gewachsen als Menschen, Gesellschaften und Staaten. Haben unser Wissen weitergegeben an nachfolgende Generationen, damit sie unsere Fehler nicht wiederholen. Heruntergebrochen auf einen Satz sagte schon die Bibel: „Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“ (1. Thessalonicher 5,21) Konservatives Denken bedeutet, eine Schatzkarte zu lesen und sich dabei nicht blind auf alle möglichen Pfade zu begeben, sondern die Brille der Erfahrung dabei aufzusetzen. Es bedeutet, gesammelten Proviant mit auf die Reise zu nehmen, der in Notsituationen hilfreich sein kann und Grundvoraussetzung dafür, ein vielleicht noch unbe-
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kanntes Ziel zu erreichen und die Richtung zu halten, von der man glaubt, dass sie die richtige ist. Konservativ sein bedeutet, Gutes zu behalten und Schlechtes zu verbessern oder zu ersetzen – oder eben auch liegen zu lassen und weiter zu gehen. Konservativ sein bedeutet Realismus, ohne auf ein Orientierung schaffendes Wertegerüst und Ideale zu verzichten. So erklärt sich auch, warum die konservative Denkweise, obwohl oft totgesagt, immer überlebt hat. Sie ist eine Denkweise, die sich aus der Erfahrung eines jeden Menschen speist. Sie basiert auf der Erfahrung des Aufwachsens. Denn unsere Kindheit, eigentlich unser ganzes Leben, spiegelt die Entwicklung unserer ganzen Zivilisation. Ähnlich geht es auch die Wissenschaft an, in der eine These, die belegt werden kann, so lange Bestand hat, bis sie widerlegt wurde. Ein Wissenschaftler prüft alles und behält das Gute. Das ist wichtig, denn so entwickeln wir uns als Individuen und auch als Zivilisation. Und Entwicklung bedeutet dabei, sich Neuem nicht zu verschließen. Ganz besonders beschäftigt mich im Moment die Zukunft der Digitalpolitik, weil sie die Gesellschaft in der vollen Breite und ausnahmslos betrifft. Und auch hier kann es helfen, sich an den Konservatismus zu erinnern: Man kann durchaus völlig neue Werkzeuge haben. Sie bringen aber nichts, wenn man nicht weiß, was man damit schaffen möchte. Als die Eisenbahn erfunden wurde, war das eine Revolution. Die Gleise zu verlegen wäre aber nutzlos gewesen, wenn man die Wege nicht erdacht hätte: Wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Für Konservative bedeutet Fortschritt Evolution, nicht reine Revolution ohne Maß und Ziel. Es gilt, die analoge Welt von gestern mit der digitalen Welt von morgen zusammenzubringen. Wir dürfen nicht alles, was wir erreicht haben, was wir über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut haben, vernachlässigen oder als überholt betrachten. Wir müssen uns vielmehr überlegen, was wir „mitnehmen“ wollen, wie viel davon und in welcher Form. Konservatives Denken, wie ich es verstehe, kann mit dem Phänomen des Wandels übrigens gut fertig werden. Denn es gibt dabei einen Vorteil: Es schafft Verwurzelung. Ein Baum kann dann besonders gut wachsen, wenn er tief verankert ist und er ein breites und stabiles Wurzelwerk hat. Dieses Wurzelwerk sind unsere Werte, die sich durch Regen und Un-
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wetter nicht entreißen lassen, sondern den nötigen Halt bieten und uns versorgen. Ein wichtiger Wurzelstrang ist dabei sicher der Begriff von „Heimat“. Denn Heimat ist für mich nicht ein Begriff, der gerade „in“ ist. Für mich war er nie „out“. Heimat ist beständig. Das verlässliche Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit, das doch wandelbar und nicht per se rein geographisch festgelegt ist. Heimat, das sind Traditionen und das sind Werte. Das ist ein gewisser Zungenschlag, und vor allem sind es die Menschen, mit denen ich gerne zusammen bin. Um diese Umgebung zu wissen, sich auf dieses Wurzelwerk verlassen zu können, ist das beste Mittel gegen die Angst und den Zweifel. Die Angst vor dem Misserfolg ist bei vielen Menschen in diesem Land groß und der Mut, etwas Neues und Andersartiges zu wagen, fehlt oftmals. Aber es ist dringend notwendig, bahnbrechende Innovationen entwickeln zu können, die oftmals grundlosen Bedenken abzulegen und Neues anzugehen. Selbst wenn wir scheitern, sollten wir daraus lernen und gestärkt weitermachen. Jeden Tag sind wir mit Bedenkenträgern konfrontiert. Es liegt an uns, dieses Denken mit uns geschehen zu lassen oder uns in den Weg zu stellen. Wir dürfen nicht stehen bleiben und müssen immer nach vorne schauen. Auch ein starker Baum verliert einmal einen Ast im Sturm, lässt regelmäßig Blätter und verliert seine Pracht. Aber nach jedem Winter kommt auch wieder ein Frühling, wenn man nicht einknickt und sich auf seine Stärke verlässt. Übersetzt heißt dies: Scheitern ist keine Schande, man kann nicht immer blühen. Wir werden noch viele Veränderungen erleben und vermutlich werden viele dieser Veränderungen immer schneller geschehen und umfassender als bisher gewohnt. Wichtig aber ist dabei, zur richtigen Zeit zu wissen, was zu tun ist, ohne überstürzt zu handeln. Mit Augenmaß Veränderungen zu forcieren, anstatt alles über den Haufen zu werfen. Vielleicht heißt konservativ, genau dann, wenn solche Veränderungen anstehen, das Gute und Richtige zu erkennen, weil man sich auf Erfahrungen stützen kann, die eben aus Vergangenem kommen. Sie sind die Leitlinien für unsere Entscheidungen. Für uns hier in Europa ist seit der Antike das christliche Menschenbild prägend. Es stellt den Wert und die Würde jedes Individuums in den Mittelpunkt allen Handelns.
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Vielleicht heißt konservativ sein aber auch, sich gar keine Gedanken darüber zu machen, was „konservativ“ eigentlich bedeutet. Denn es ist sicher mehr, als etwas, das sich in eine Schublade stecken lässt.
Konservativ avant la lettre: Cato der Ältere Von Hartmut Leppin Conservativus ist ein lateinisches Wort und doch kein römisches. Im klassischen Latein kommt es nicht vor, der altehrwürdige Thesaurus Linguae Latinae (Schatz der lateinischen Sprache) nennt jedenfalls als erste Belege zwei Passagen aus der lateinischen Übertragung der Topica des Aristoteles durch Boethius, der im 6. Jahrhundert wirkte. Er übersetzte damit das ebenfalls seltene Wort phylaktikós, und es ging um Formenlehre, nicht um Politik und Gesellschaft. Dennoch verbindet man mit dem alten Rom weithin eine konservative Haltung. Inbegriff des Konservativen ist aber, das meint nicht nur Wikipedia, Marcus Porcius Cato der Ältere, der im 2. Jahrhundert vor Christus lebte. Das Magazin Cato gilt passenderweise als Adresse für konservative Intellektuelle, wobei die Grenzen zur sogenannten Neuen Rechten fließend zu sein scheinen. Das Magazin bezieht sich allerdings auf den jüngeren Cato, einem Zeitgenossen Caesars und Nachkommen des älteren. Er machte den Namen seines Urgroßvaters zum Programm und profilierte sich als konsequenter Gegner von Neuerungen, der sich für den Suizid entschied, als er gegen den Diktator nichts mehr auszurichten vermochte. Prinzipientreue, Traditionsbewusstsein und Stolz auf die älteren Generationen machen in seinem Fall das Konservative aus. Der ältere Cato scheint solche Eigenschaften in ganz besonderer Weise verkörpert zu haben und steht doch für grundlegende Wandlungsprozesse. 234 in Tusculum nahe Rom geboren, inszenierte er sich als einen ganz normalen, ja derben Mann, der unter harten Bedingungen Feldarbeit geleistet habe. In der Tat war er ein homo novus, ein newcomer, der Quaestor, Ädil und Prätor wurde, 195 gar Konsul; das Amt des Zensors 184 krönte seine Karriere. In dieser Funktion war er unter anderem dafür zuständig, zu prüfen, welche Senatsmitglieder ihrer Funktion gewachsen waren. Für seine
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vorbildhafte Strenge ehrte man ihn mit einer Statue. Das bedeutete einen ungewöhnlichen sozialen Aufstieg. Cato wirkte in einer Zeit, da Rom, die periphere italische Stadt, zur Vormacht des Mittelmeerraums wurde. Es hatte Karthago geschlagen, das nach seiner zweiten Niederlage im Jahr 201 nicht mehr als eine Regionalmacht war. 152, bereits im fortgeschrittenen Alter, unternahm Cato eine Gesandtschaftsreise in die Stadt, die ihn trotz seiner Niederlagen mit ihrem Reichtum beeindruckte und beängstigte. Für Cato war die Konsequenz spätestens jetzt klar: Karthago musste weg. Beharrlich äußerte er sein: „Ceterum censeo, Carthaginen essen delendam“ („Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass Karthago zerstört werden muss“), so behaupteten es jedenfalls spätere Generationen. Und das mahnt zur Vorsicht. Denn gerade dadurch, dass der ältere Cato zum Inbegriff des Konservativen wurde, lagerten sich Vorstellungen vom konservativen Römertum an ihn an. Marke und Gehalt sind schwer zu scheiden. 146, drei Jahre nach Catos Tod, machten die Römer die alte Rivalin dem Erdboden gleich. Damit kam ein grundlegender Wandel der Machtverhältnisse im westlichen Mittelmeerraum zu seinem symbolischen Ende, den der Konservative vorangetrieben hatte. Der östliche Mittelmeerraum veränderte sich in dieser Zeit ebenfalls grundlegend. Denn ihn dominierte jetzt Rom. Mit der Beute aus dem Osten gelangte neuer Luxus in die Stadt, und viele ließen sich von der feinen Kultur der unterlegenen Griechen beeindrucken. Sprösslinge vornehmster Familien schritten in griechischer Kleidung einher, Gesandte Roms wählten die griechische Sprache – um wegen ihrer Fehler verspottet zu werden, von den Griechen und nicht minder von Cato. Denn im Kampf gegen griechischen Einfluss profilierte er sich als Bewahrer der Tradition. Sein Konservatismus war offenbar nicht bezogen auf die äußere Politik, sondern auf ihre Folgen im Inneren, auf die Sprache und den Habitus, auf die Verwurzelung in der Region. Er warnte seinen Sohn vor der griechischen Bildung, er tadelte die Anhänger eines griechischen Lebensstils, er räsonierte sogar darüber, dass Griechen die Brunnen vergiften wollten. Als Athener Philosophen eine Gesandtschaft nach Rom übernahmen und Vorträge für und wider die Gerechtigkeit hielten, sorgte er dafür, dass sie bald wieder verschwanden. Doch das ist erneut eine Information, welche der späteren Überlieferung entstammt. Spanungsvoll ist jedenfalls die Rolle Catos. Er verwahrte sich gegen die neumodische Rhetorik, die man in Griechenland lehrte, und war doch ein
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glanzvoller, wirkungsmächtiger Redner. Cato gebrauchte eine Rhetorik, die sich nicht rhetorisch gab. „Bleibe bei der Sache, dann werden die Wörter schon folgen“ (rem tene, verba sequentur), ist ein Spruch, der sein Ideal der kunstlosen Raffinesse kennzeichnet. Seine Rhetorik der Ablehnung verband sich mit raffinierter Nutzung der neuen Möglichkeiten. Ambivalenzen allenthalben: Cato agitierte gegen den Luxus, achtete aber peinlich auf seine Einkünfte. Nachdem er als Konsul 195 den spanischen Feldzug siegreich abgeschlossen hatte, belohnte der Senat ihn mit einem Triumph und er sich selbst mit Einnahmen aus den Eisen- und Silberminen Iberiens. Cato kritisierte Karthago scharf, doch von der karthagischen Landwirtschaftstechnik wusste er zu lernen und schrieb sogar über die Agrikultur. Er, der eine übermäßige Intellektualisierung der Gesellschaft tadelte, trat mithin als Autor hervor und erwies sich auch darin als ein Neuerer, denn die lateinische Sprache, deren er sich befleißigte, war bis dahin kaum als Literatursprache genutzt worden. Ein weiteres Werk verfasste er, wohl unter dem Titel Origines, über die Ursprünge italischer Städte, und zollte mit dieser Neuerung den Traditionen seiner Heimat Tribut. Wie wenige hat der konservative Cato, wenn man ihn denn konservativ nennen will, dazu beigetragen, das alte Rom, ja die Mittelmeerwelt zu verändern. Als Gegenfigur erscheinen die Scipionen, ein Geschlecht überaus erfolgreicher Feldherren, die natürlich auch hohe Ämter bekleideten, modern, angesehen, luxusaffin, offen gegenüber der griechischen Kultur, scheinbar übermächtig. Aber schließlich wurden Angehörige der Familie in Prozessen wegen Unterschlagung verurteilt. Durch ihr arrogantes Auftreten sollen sie ihre Position selbst geschwächt haben. Cato orchestrierte das Ganze, so hört man. Er selbst soll nicht weniger als 44 Mal angeklagt, doch nie verurteilt worden sein. Cato ist der Prototyp des Konservativen, der weiß, dass sich alles ändern muss, damit alles so bleiben kann, wie es ist, und er wusste ganz genau, dass er so reden musste, als wolle er nichts ändern. Ein solcher Konservatismus verändert die Welt, die zu bewahren er sich anschickt.
Konservatismus – Balance aus Tradition und Fortschritt Von Stephan Weil Schaue ich aus dem Fenster meines Büros hinüber zum Niedersächsischen Landesmuseum, blicke ich auf einen Ort, der im Sommer 2019 eine bemerkenswerte Sonderausstellung zeigt: „Saxons – Eine neue Geschichte der alten Sachsen“. Hier wird nicht bloß ein Stück antike Regionalgeschichte in Vitrinen gestellt; hier wird mit einem Landesmythos aufgeräumt. Dass es zwischen Harz und Nordsee eine kontinuierliche Stammesgeschichte von den alten Sachsen um Herzog Widukind gäbe, ist eine Legende – auch wenn sie im Lied der Niedersachsen bis heute kräftig besungen wird. Zu viele Kulturen prägten (glücklicherweise) unsere Gegend, wie die Ausstellung buchstäblich vor Augen führt. Durch die Sammlung wird Altgeschichte korrigiert und zugleich konserviert. Ich meine, es ist kein schlechter Ort, um einmal innezuhalten und der Frage nachzuspüren, was es heute überhaupt bedeuten könnte, konservativ zu sein. Ruhig genug dafür ist es im Landesmuseum allemal. Bereits das ist in der beschleunigten Gesellschaft, in der wir leben, ja ein (konservativer?) Wert für sich: Zeit zu haben, sich Zeit zu nehmen. Nachzudenken, ohne gedrängt zu werden und grundsätzlichere Gedanken zu einem als schwierig geltenden Begriff zu formulieren. Denn anders als der Liberalismus und der Sozialismus – seine großen weltanschaulichen Konterparts – verfügt der Konservatismus über weniger Fixpunkte. Das Wertepaar Freiheit und Gleichheit markierten (und markieren) ihre wichtigsten Bezugsgrößen zur Vermessung der eigenen Position. Der Konservatismus hat so etwas nicht. Er ist insofern unbestimmter, eher eine Haltung als ein politisches Programm – wandelbar und anpassungsfähig. Im Kern zweifelt der Konservative daran, dass die Menschen den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind. Skepsis prägt seine Sicht, sorgenvoll begleitet er die Prozesse der Moderne – seien sie politisch, seien sie gesellschaftlich. Das Neue, nicht das Bestehende, ist von Natur aus begründungsbedürftig.
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Bewahren hat den Vorrang vorm Erneuern. Reaktionär ist der Konservative dabei keineswegs. Er weiß, dass sich die Dinge ändern, an einen gestrigen Idealzustand klammert er sich nicht; nur betont er dabei, dass alle Modernisierungen einen Preis kosten. Er möchte, schreibt Peter Graf Kielmansegg, „die Moderne vor sich selbst retten“. Wie kann der Mensch Mensch sein und bleiben in einer von ihm veränderten Welt? So lautet die vielleicht wichtigste Frage des Konservativen. Wer will ernsthaft bestreiten, dass es sich dabei gerade in Zeiten rapiden Wandels um eine bedeutende handelt. Einst war es scheinbar einfach gewesen: Der Konservative war ein heimatverliebter Grantler, ein vorgestriger Schwarzmaler, im Zweifel deutschtümelnd. Seine Weltsicht glaubte man zu kennen: die Bildung verhunzt, die Jugend verkorkst, die Familie bedroht, der Glaube verloren, die Armee geschwächt wie nie. Anfang des 21. Jahrhunderts sollte man dergleichen Zerrbilder längst ad acta gelegt haben. Die Debatte sollte weiter sein, als sie es ist. Das gilt allen voran für die politische Öffentlichkeit selbst. Schein-Debatten wie wir sie 2018/2019 erlebt haben, sind wenig hilfreich. Wer allen Ernstes mal eben so eine „Konservative Revolution“ fordert, zeigt mit der hohlen Bezugnahme auf Weimarer Rechtsintellektuelle, die einen bedeutenden Anteil an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie hatten, einzig und allein seine eigene gedankliche Substanzlosigkeit. Die ohne Not zur Schau gestellte Einfallslosigkeit ist umso ärgerlicher, weil sie im Ergebnis Gruppierungen Vorschub leistet, die ohnehin schon gegen die abgehobene „Politiker-Kaste“ wettern, die in Hauptstadtzirkeln weltfremde Fragen am Bürger vorbei diskutieren. Gerade jenen Parteien und Bewegungen aber ließe sich auch aus konservativen Überlegungen politisch entgegentreten, schließlich sind sie es, die eine Reihe emanzipatorischer Erfolge beispielsweise in der Gleichstellungspolitik rückgängig machen wollen. Die Sicherung von bereits errungener gesellschaftspolitischer Liberalisierung ist heute ein konservatives Projekt. Auch in der Europapolitik – und wir hatten 2019 erst die Wahl eines neuen Parlaments – gilt es, sich für bewährte Konstanten starkzumachen und sie weiter auszubauen: zu nennen wären beispielsweise die deutsch-französische Freundschaft sowie gute Beziehungen zu Osteuropa. Vor allem aber angesichts der immensen gegenwärtigen Herausforderungen braucht es dringend eine Debatte darüber, wie groß die Anteile
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dessen ausfallen, was politisch und gesellschaftlich für schützenswert, für bewahrungswürdig erachtet wird und in welchen Bereichen sie liegen sollen. Findet diese Aussprache nicht statt, passiert der Wandel über unsere Köpfe hinweg. Abschottung wird uns dabei ebenso wenig helfen wie Laisser-faire. Ich plädiere daher für eine Balance von Tradition und Fortschritt, die optimistisch, aber nicht naiv Antworten auf wesentliche Gegenwartsfragen liefert. Nehmen wir – erstens – das Beispiel von Ökologie und Ökonomie. Sie stehen aus meiner Sicht nicht im Gegensatz zueinander, sondern können, ja: müssen zusammen gedacht werden. Die Pflicht zum Klimaschutz hat höchste Bedeutung. Der Nachwelt einen lebenswerten Raum zu hinterlassen, ist eine Selbstverständlichkeit, die leider viel zu lange hintangestellt wurde. Um dieses Ziel zu erreichen, werden sich Produktionsweisen weiter umfassend ändern, ohne dass dabei Arbeit entwertet werden darf. Die traditionelle (auch soziale) Bedeutung von Arbeit bildet keinen Gegensatz zu einer ökologisch ausgerichteten Wirtschaft. Was unsere Gesellschaft in Zeiten von höchster Mobilität und Zuwanderungsbewegungen zusammenhält, ist – zweitens – eine ganz wesentliche Zukunftsfrage. Zuzug ist eine Normalität in offenen Gesellschaften, die bereichert, aber auch herausfordert. Konflikte gehören zum Zusammenleben. Viele, aber nicht jede Streitigkeit im Miteinander lässt sich durch feste Regeln klären. Für Ton, Takt, Klang, Brauch, Feingefühl und Entgegenkommen gibt es etwa Ungeschriebenes, das sich über die Zeit entwickelt und gepflegt wird. Erst in der Summe entstehen und verändern sich Regeln und Normen des Zusammenlebens, die Gemeinschaft ermöglichen, den Menschen Sicherheit und Geltung stiften. Bewahrung und Wandel gehen also bei dem, was demokratischen Zusammenhalt ausmacht, Hand in Hand. Drittes Beispiel: Kommunikation und Technik. Im Frühjahr 2019 erschien eine Studie, der zufolge nur noch 32 Prozent der Deutschen an den Fortschritt glauben. So viel Skepsis gab es seit mehr als 50 Jahren nicht. Die Menschen verstünden nicht, so die Forscher, was Digitalisierung, Robotik, Künstliche Intelligenz, synthetische Biologie etc. mit ihren Lebenswirklichkeiten zu tun hat. Daher sind sie ihnen verdächtig. Allein der Erklärungsbedarf ist bereits beträchtlich. Darüber hinaus müssen wir uns rasch darüber verständigen, wie wir verantwortlich mit den durch Digita-
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lisierung angetriebenen epochalen Schüben in Wissenschaft, Technik und Kommunikation umgehen. Wo liegt das zu Bewahrende? Ich meine, eingreifen müssen wir auf der einen Seite, sobald der Mensch zur Disposition steht. Menschen machen Roboter, aber Roboter keine Menschen. Auf der anderen Seite ist Schutz immer dann geboten, wenn unsere demokratische Handlungskraft angegangen wird. Dass Internetkonzerne mit ihrem Wissen Wahlen beeinflussen und unsere Informationslandschaft auf Knopfdruck zu verstellen in der Lage sind, alarmiert. Wir müssen uns um Regelungen bemühen, bevor andere Fakten schaffen. 1850 rief der Augenarzt Georg Philipp Holscher im Hannoverischen Magazin zur Gründung eines naturhistorischen Museums auf, dem Vorläufer des späteren Landesmuseums Hannover. Er schrieb: „Die Zeit, in der wir leben, fordert, dass die der Menschheit gewonnenen Schätze an Kenntnissen […] Gemeingut des ganzen Volkes werden und durch alle Schichten dringen.“ Der Satz bleibt auch nach fast 170 Jahren richtig. Nur dürfen diese „Schätze an Kenntnissen“ sich nicht gegen die „Menschheit“ selbst richten. Das ist die neue Aufgabe eines modernen Konservatismus.
Konservative sind Pragmatiker und kennen keine ewigen Wahrheiten Von Hugo Müller-Vogg Aus links-grüner Sicht ist konservativ kein schmückendes Etikett: Wer angeblich längst vergangenen Zeiten nachtrauert, aus Mangel an Phantasie an Traditionen festhält, nicht an eine Multikulti-Idylle glaubt, die Jungen nicht versteht und Schwierigkeiten mit emanzipierten Frauen, gleichgeschlechtlicher Liebe oder Minderheiten hat, der gilt gemeinhin als konservativ. Wobei die Parteien links der Mitte konservativ gern im Sinne von national-konservativ auslegen. Vom National-Konservativen bis zum Nazi ist es dann nicht mehr weit. Die Achtundsechziger und ihre in den Medien stark vertretenen Nachkommen haben da ganze Arbeit geleistet. Freilich gibt es kein verbindliches „Konservatives Manifest“. Denn der Konservative kennt keine ewigen Wahrheiten, keine in Stein gemeißelten ideologischen Glaubenssätze. Der Konservative ist ein Pragmatiker. Er will an dem festhalten, was er für gut und richtig hält. Aber er weiß, dass die Welt sich laufend ändert. Wenn er Veränderungen für notwendig erachtet, dann kämpft er dafür. Doch bekämpft er die vermeintlich fortschrittliche Einstellung, wonach Veränderungen ein Wert an sich wären. Da halten sich Konservative lieber an die Maxime: If it ain’t broken, don’t fix it. Der Konservative schätzt Verlässlichkeit und Klarheit. Deshalb ist er ein Anhänger des Rechtspositivismus. Gesetze kann man, ja muss man aus seiner Sicht bisweilen novellieren. Aber solange sie gelten, sind sie zu respektieren. Der seit den 1968er Jahren im linken Spektrum weit verbreiteten Devise: „legal – illegal – scheißegal“ setzt der Konservative das „Kartoffeltheorem“ seiner Mutter entgegen: Jetzt sind die Kartoffeln auf dem Tisch; jetzt werden sie auch gegessen. Deshalb hat der Staat einen besonderen Stellenwert. Die staatlichen Instanzen – Legislative, Exekutive, Judikative – setzen Regeln und haben bei der Befolgung von Gesetzen Vorbild zu sein. Der Konservative ist alar-
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miert, wenn der Staat – wie beim Thema illegaler Zuwanderung – rechtsstaatliche Prinzipien nicht beachtet. Ein Staat, der sich selbst nicht an Recht und Gesetz hält, macht sich auch zum Gespött; er dankt faktisch ab. Konservative hoffen nicht auf den neuen Menschen, wollen niemanden umerziehen. Sie glauben nicht wie Sozialisten, dass der Mensch stets nach dem Wahren, Guten und Schönen strebe, wenn man ihn nur lasse und ihn finanziell entsprechend ausstatte. Der Konservative kennt seinen „alten Adam“, weiß, dass der Mensch fehlbar ist. Auch deshalb ist ein starker Staat eine Voraussetzung für ein geordnetes Miteinander. Der pragmatische Konservative vertraut – anders als ein Ideologe – empirischen Erfahrungen. Beispiele aus aller Welt zeigen, dass die Verbindung von Freiheit und Wohlstand am ehesten gelingt, wenn wirtschaftliche Entscheidungen weitgehend dem Marktmechanismus unterliegen und nicht staatlichen Planvorgaben. Folglich tritt der Konservative ganz nüchtern für mehr Markt und weniger Staat ein. Da ungezügelter Wettbewerb sehr unerfreuliche Folgen haben kann, muss der Staat Leitplanken einziehen, die den Beteiligten Grenzen setzen. Je freier der Wettbewerb, umso wichtiger ist der Staat in seiner Rolle als strenger Schiedsrichter. Doch versteht sich von selbst, dass der Schiedsrichter nicht mitspielen darf. Kein Konservativer leugnet, dass wirtschaftlicher Wettbewerb zu sozialen Verwerfungen führen kann. Ebenso wenig, dass manche Menschen aus unterschiedlichen Gründen nicht wettbewerbsfähig sind. Hier kommt Vater Staat ins Spiel. Er muss für sozialen Ausgleich sorgen, muss denen helfen, die zum Beispiel zu alt oder zu krank sind, um für sich selbst zu sorgen. Doch ist der Staat nur „helper of last resort“, er entlässt den Einzelnen nicht aus seiner Verantwortung. Die staatliche Rund-um-sorglos-Vollkasko-Absicherung, wie sie vielen Linken vorschwebt, ist aus konservativer Sicht nicht nur nicht finanzierbar. Viel schlimmer: Sie unterminiert die Eigeninitiative der Menschen, degradiert die Bürger zu Sozialstaatsuntertanen. Generell hat das Leistungsprinzip Vorrang vor staatlicher Betreuung. Es muss deshalb auch an Schulen und Hochschulen gelten. Wer mehr leistet, wer mehr kann und tut, dem soll, nein, dem muss es besser gehen als anderen. Dem Leistungsprinzip beim Erzielen von Einkommen entspricht der Grundsatz des „Sich-Leisten-Könnens“ beim Ausgeben. Deshalb treten Konservative für solide Staatsfinanzen ein. Dass sie sich, wenn sie re-
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gieren, nicht immer an dieses Prinzip halten, steht auf einem anderen Blatt. Wer Leistung bejaht, akzeptiert Unterschiede und neigt folglich nicht zum Neid, der bei vielen Linken Teil ihrer DNA ist. Konservative plädieren bei sozialen Leistungen für eine Bedürfnisprüfung, damit der Fleißige nicht zum Dummen wird. Die Formel „Fördern und Fordern“ stammt zwar von Gerhard Schröder, bringt aber das konservative Sozialstaatsverständnis auf den Punkt. Konservatismus und Toleranz sind keine Gegensätze. Doch haben Konservative ein pragmatisches Verständnis von Toleranz. Ethnische, religiöse, sexuelle oder andere Minderheiten verdienen Respekt. Doch kennt die Rücksicht auf sie Grenzen. Das Prinzip „Leben und leben lassen“ kann nicht dazu führen, dass die Mehrheit mit Rücksicht auf Minderheiten ihren Lebensstil grundlegend ändert oder Handlungen tolerieren muss, die in anderen Kulturen wurzeln, unseren Wertvorstellungen jedoch zuwiderlaufen. Konservative bekennen sich zu ihrer Nation und ihrer Geschichte, stehen zu den Leistungen früherer Generationen und leugnen nicht von Deutschen begangene Verbrechen. Sie lehnen einen Hurra-Patriotismus, der sich über andere Völker erhebt, ab; sie sind Verfassungspatrioten. Konservative sind überzeugte Europäer, weil sie wissen, dass nur ein geeintes Europa sich gegenüber den Weltmächten behaupten kann. Das Ja zu Europa ist ein Ja zu einem Europa der Vaterländer, nicht zu einem europäischen Einheitsstaat. Aus konservativer Sicht ist das Grundgesetz die beste deutsche Verfassung aller Zeiten. Die vom ihm verbriefte freiheitlich-demokratische Grundordnung, von den Achtundsechzigern als „FDGO“ verspottet, ist die Basis unserer freien Gesellschaft. Die parlamentarische Demokratie ziehen Konservative einer plebiszitären „Volksherrschaft“ auf Bundesebene vor. Das Wissen gewählter Volksvertreter schätzen sie höher als „Schwarmintelligenz“. Freiheit kann sich nur entfalten, wenn der Staat die Menschen nicht gängelt. Eine freie Gesellschaft muss zugleich gegen Übermachtansprüche von Parteien und Interessengruppen verteidigt werden. Freiheit und Wahlfreiheit sind für den Konservativen zwei Seiten derselben Medaille. Der Staat hat sich in die Lebensgestaltung der Menschen und die Art ihres Zusammenlebens nicht einzumischen. Aber er hat darauf zu achten, dass Ver-
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fassungsgebote wie beispielsweise der besondere Schutz von Ehe und Familie nicht ausgehöhlt werden. Wer keine ewigen Wahrheiten verteidigt, bejaht offene Debatten, lehnt Sprach- und Denkverbote ab. Erlaubt ist, was sich im verfassungsgemäßen Rahmen bewegt, nicht, was von selbst ernannten Gesinnungs- und Sprachpolizisten als politisch-korrekt oder gendergerecht zugelassen wird. Freund-Feind-Denken ist aus konservativer Sicht unvereinbar mit einer pluralistischen Gesellschaft; der politische Wettbewerb kennt Härte, aber keinen Hass. Konflikte müssen sein. Aber am Ende stehen Kompromisse und Koalitionen – wenn möglich, sogar ein Konsens. (PS: Der Konservative hält am generischen Maskulinum fest und verzichtet auf gendergerechte Wortspielereien.)
Der liberale und der konservative Mensch: Was ist gut, was ist böse? Von Seyran Ates¸ Der Mensch ist Mensch, und er wird gut geboren. Doch ab dem ersten eigenen Atemzug auf diesem wunderbaren Planeten tritt der Mensch in eine Welt ein, in der er sich behaupten und positionieren muss. Er kommt nicht drum herum, sich immer wieder zu entscheiden. Die Summe der Entscheidungen, die wir in unserem Leben immer wieder treffen müssen, macht etwas mit uns. Die Summe all dieser Entscheidungen machen etwas aus uns. Nicht nur politisch, sondern auch im Familienund Freundeskreis finden wir uns, aufgrund all dieser Entscheidungen, in einer bestimmten Ecke wieder. Einer Ecke, die als liberal, offen, modern, zukunftsorientiert, progressiv oder als konservativ, traditionell, rückwärtsgewandt, unmodern, verschlossen und abgeschottet bezeichnet wird. Sind diese Ecken aber tatsächlich so unversöhnlich konträr, wie es scheint, und so schwarz-weiß, dass der Mensch auf den anderen und den Andersdenkenden mit Skepsis und Verhöhnung, mitunter gar Abwertung schauen muss? Sind die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen nicht vielmehr auf beiden Seiten eigentlich weltweit absolut identisch? Die Antwort lautet, selbstverständlich sind sie es. Denn der Mensch fühlt überall auf der Welt gleich. Überall auf der Welt haben Menschen dieselben Grundbedürfnisse, Gedanken und Empfindungen zu anderen Menschen. Aus diesem Grunde gilt, ohne Wenn und Aber, dass die Menschenrechte universell sind. Weil der Mensch ein Mensch ist, jeder einzelne Mensch überall auf der Welt. Ohne Ausnahme. Aber, die Tatsache, dass nicht jeder Mensch auf dieser Erde an die universellen Menschenrechte glaubt, nicht in jedem Land alle Menschen gleiche Rechte haben und gleich behandelt werden, spaltet unsere Erde, packt uns in Schubladen und Ecken. Sehr viele Menschen sind der Ansicht, dass Menschen nicht gleichberechtigt sind und schon gar nicht denselben Wert, dieselbe Würde als
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Mensch besitzen. Dabei geht es nicht nur um die zwei Hauptgruppen dieser Erde: Frauen und Männer. Sondern um viele, viele Nuancen und Unterschiede, die uns Menschen ausmachen, uns zu Individuen machen. Unter anderem weil nicht alle Menschen an die universellen Menschenrechte glauben, finden wir uns wohl oder übel in einer der erwähnten Ecken wieder. So sehr wir uns auch wünschen, dass es diese Ecken und Schubladen nicht geben sollte; so sehr wir uns auch wünschen, dass wir uns alle endlich auf dieser runden Erde zusammenfinden. Auf dieser Erde, die keine Ecken besitzt und uns daher Vorbild sein sollte, um am runden Tisch Platz zu nehmen. Anstatt uns immer wieder abzugrenzen, Menschen in Gut und Böse aufzuteilen. Vor allem aber aufzuhören, böse zu sein und Hass zu verbreiten. Anstatt an die Liebe als an den Hass zu glauben, streben vor allem Männer, aber auch Frauen, Vertreter und Vertreterinnen des Patriarchats, nach Macht. Das Patriarchat ist das Urgestein des Konservatismus, einer Lebensweise, die Männer aufwertet und Frauen abwertet, Homo-Trans-Intersexphobie verbreitet, Religionen und Weltanschauungen ausschließlich zum Machterhalt einsetzt und sich darin gefällt, sich über andere immer wieder zu erheben. Die sogenannten Liberalen sind aber auch nicht sehr viel besser. Denn auch bei ihnen herrscht vor allem das Patriarchat. Es ist eines der größten Übel der Menschheit. Die erste Assoziation mit dem Wörtchen konservativ mag bei den meisten Menschen die sein, dass es sich um eine politische und innere Einstellung handelt, die sich gegen die Moderne und das Liberale richtet. Mag sein, dass mit konservativ alles bezeichnet wird, was sich progressiven Entwicklungen in den Weg stellt. Ja, Konservatismus (lateinisch: conservare) bedeutet, „erhalten“ und „bewahren“, also konservieren im Sinne von etwas in der Tradition lassen, so wie man es kennt, von den Ahnen bis heute und für die Zukunft. Das gilt für den Käsekuchen, das Bier, ebenso wie für den Heiratsantrag oder den Weihnachtsbaum. Dinge, die sich in den Köpfen und im Leben der Menschen als Tradition und Ritual irgendwie bewährt haben. Und der Mensch denkt sich, „so ist es gut, so soll es bleiben“. Doch zurück zum Begriff Patriarchat. Schaut man genau hin, wird – wie bereits erwähnt – nicht zu leugnen sein, dass in der Ecke der sogenannten Liberalen das Patriarchat ebenso stark ist wie in der Ecke der sogenannten Konservativen. Demzufolge sind die Debatten über konservativ und
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liberal nicht eher Scheingefechte, die uns davon ablenken sollen, dass das Patriarchat auf beiden Seiten im Hintergrund seinen Erhalt sichert, während vordergründig die Auseinandersetzungen um den Konservatismus und Liberalismus geführt werden? In Deutschland waren es nachweislich nicht die Linken oder Liberalen, die eine Frau zur ersten Bundeskanzlerin gemacht haben. Was man als sehr fortschrittlich bezeichnen dürfte. Ganz unabhängig davon, wie man zu Frau Merkel steht. Eine Bundespräsidentin haben wir immer noch nicht durchsetzen können. Die Konservativen waren es aber auch nicht, die die Ehe für alle durchgesetzt haben. Mit einem gewissen Abstand betrachtet, verlieren die Ecken und Zuschreibungen somit im Hinblick auf klare politische Profile an Konturen. Bei genauer und differenzierter Betrachtung ist nicht zu leugnen, dass sich der Konservatismus von heute sehr von dem vor 100 Jahren unterscheidet. Verglichen mit den Gründungsvätern und Anfängen der CDU/CSU ist die als konservativ geltende Partei nahezu revolutionär und Karl-Liebknecht, Clara Zetkin sowie Rosa Luxemburg hätten vielleicht mehr Mühe, sich von der CDU als von der heutigen sogenannten Linken abzugrenzen. In China werden z. B. Menschen, die politisch weit links stehen, als konservativ bezeichnet, während linke Positionen im sogenannten Westen als liberal und progressiv betrachtet werden. Wenn wir also davon ausgehen, dass konservativ erhalten und bewahren bedeutet, dann muss es sich wohl eher um eine enggefasste Zeit im Hier und Jetzt handeln, unter genauer Betrachtung dessen, was erhalten bleiben soll. Dies beweisen auch die Entwicklungen in den sogenannten konservativen Parteien und die technischen Entwicklungen in den Ländern, in denen sie regieren. Konservative sind nicht gegen moderne Technik und Entwicklung. Wenn überhaupt, beziehen sich die Wertvorstellungen meist auf die Geschlechterrollen und Lebensmodelle. Also das Verhältnis Mensch zu Mensch. So betrachtet erhalten und bewahren die Linken und Liberalen doch auch ihre Wertvorstellungen und Überzeugungen, ohne technischen Fortschritt aufzuhalten. Auch sie entsprechen dabei schon lange nicht mehr ihren eigenen Gründungsvätern, Vorbildern und Ikonen. Karl Marx dreht sich sicher schwindelerregend oft im Grabe um, wenn er sieht, was die sogenannten Linken so machen. Lassen wir sie alle in Frieden ruhen.
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Worum es eigentlich geht, ist doch das Patriarchat, mit dessen internationaler Zerstörung man sich mehr beschäftigen sollte. Denn unabhängig davon, ob konservativ oder liberal – glaubwürdig in Sachen universeller Menschenrechte erscheinen doch nur diejenigen, die sich nicht mit dem Schauspiel der sogenannten Konservativen und Liberalen aus den Machtzentralen dieser Erde aufhalten lassen, sondern ins Detail gehen, wo sich bekanntlich des Pudels Kern befindet. Die Zuordnungen in konservativ (böse) und links/liberal (gut) sind mehr als billig. Das Gute und das Böse steckt und schummert in jedem Menschen. Olympe de Gouges (1748 – 1793) Leben und Tod ist ein Beleg dafür, dass unser größter Feind das Patriarchat ist. Sie wurde nicht von Konservativen oder Monarchen durch die Guillotine hingerichtet. Sie wurde nicht von Konservativen getötet, die die Ungleichbehandlung der Frauen weiterhin konservieren und aufbewahren wollten. Sondern von den mächtigen Männern der so sehr geschätzten und geliebten Französischen Revolution, die Europa so viel Fortschritt gebracht hat. Warum? Olympe de Gouges musste sterben, weil sie volle Gleichberechtigung für die Frauen gefordert hat: „Frauen, wacht auf! Was auch immer die Hürden sein werden, die man euch entgegenstellt, es liegt in eurer Macht, sie zu überwinden. Ihr müßt es nur wollen.“
Warum ich mir als Grüner mehr Vernunft in der Politik wünsche Von Cem Özdemir Der politische Raum wird immer stärker von Stimmungen, von Bauchgefühlen und Empfindungen bestimmt. Unsere Zeit ist geprägt von immer aggressiveren Debatten und Auseinandersetzungen in der digitalen Welt von Facebook, Twitter, YouTube & Co. Das zunehmende Kreisen um die Definition des eigenen Ich, der eigenen Identität und damit die Abgrenzung von „den Anderen“ führt zu einem immer raueren Ton. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: „Wir haben es, auf allen Seiten, immer stärker mit Äußerungen zu tun, wer man sei.“ Ich habe gelernt, die maßlosen Beleidigungen, Androhungen von Gewalt gegen mich, denen ich als Politiker tagtäglich im Netz ausgesetzt bin, zu ignorieren. Das Feindbild von AfD, Pegida & Co. zu sein, damit kann ich aber gut leben. Denn es bestätigt meine Gewissheit, dass ich sehr weit entfernt von ihrem rassistischen, sexistischen und homophoben Gedankengut stehe. Es verwundert mich allerdings, dass gerade Politikerinnen und Politiker, die angetreten sind, das „Abendland zu retten“, alles daran setzen, christlich-konservativ geprägte Regeln des respektvollen Miteinanders zu pulverisieren. So sehr ich mich über die grünen Höhenflüge in den aktuellen Umfragen freue, so besorgt beobachte ich, wie die Umfragewerte für die AfD nach oben klettern. Die Polarisierung, die wir weltweit in so vielen Gesellschaften beobachten, ist auch bei uns angekommen. Viele Menschen geben uns Grünen ihre Stimme, weil sie nicht möchten, dass ihr Land auseinander gerissen wird von Rechtsextremen und ihren verlängerten Armen im Europaparlament, im Bundestag, in den Länderparlamenten, in den Gemeinderäten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so steht es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Das ist für uns Grüne die Leitschnur unserer Politik, sei es nun die sozial-ökologische Modernisierung der Wirt-
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schaft oder eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik. Wir treten ein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die das Fundament der Bundesrepublik ist und die uns das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft ermöglicht. Wenn man das Wort „konservativ“ beim Wortlaut nimmt, dann hat grüne Politik also durchaus etwas Bewahrendes. Wir treten ein für den Erhalt unserer offenen Gesellschaft, unserer Demokratie, unserer Freiheitsrechte. Wir möchten, dass Europa weiterhin zusammenarbeitet und zusammenwächst. Wir setzen uns dafür ein, unseren Planeten vielfältig und lebenswert zu erhalten. Christlich geprägte Konservative nennen es Bewahrung der Schöpfung, wir nennen es Umweltschutz und Kampf gegen die Klimakrise. Durch diese Brille betrachtet, erscheint es dann auch weniger verwunderlich, dass das politisch konservative Lager Wählerinnen und Wähler an uns Grüne verloren hat. Die Welt ist im stetigen Wandel begriffen. Veränderungen prägen unsere Welt. Veränderungen können auch Angst machen. Jede und jeder von uns kennt das ungute Gefühl, wenn wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Angst lähmt und manchmal stehen wir da wie ein Kaninchen vor der Schlange. Der Wunsch kommt auf, es möge doch alles so bleiben wie es war. Aufgabe der Politik ist es, diese Lähmung aufzulösen, nicht die Schlange zu füttern. Gute Politik macht Mut und gestaltet diesen Wandel, der unausweichlich stattfindet. Gute Politik vermittelt, dass wir die Gesellschaft dabei zusammenführen können und nicht spalten. Als Grüner möchte ich eine Politik, die vorwärts denkt, die Veränderungen anschiebt, die Rahmenbedingungen setzt, damit der Wandel, den wir tagtäglich erfahren, die Würde des Menschen und die Bedürfnisse der Natur achtet und schützt. Das ist der radikale Unterschied zwischen uns Grünen und den „klassischen“ Konservativen: Wir wollen weder das Rad der Geschichte zurückdrehen noch uns auf einem Status quo ausruhen. Wir wollen keinen Stillstand, wir wollen Wandel. Denn, so paradox das klingen mag: Wer bewahren will, braucht Wandel. Wenn wir die menschengemachte Erderwärmung aufhalten wollen, dann brauchen wir eine radikale Kurskorrektur. Das erfordert Mut. Nehmen wir das Beispiel Mobilität – der Verkehrssektor hat einen Anteil von zwanzig Prozent an den CO2-Emissionen in diesem Land. Die Emissionen im Verkehr sind seit 1990 aber nicht gefallen, sondern stagnieren. Das Pariser Klimaabkommen ist also nur einzuhalten, wenn wir unsere Mobilität auf neue Beine
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beziehungsweise Räder stellen. Ohne eine Verkehrswende hin zum emissionsfreien Fahren wird uns die Klimakrise überrollen. Es ist also eine Frage der Vernunft, sich für diese Schritte zu entscheiden. Die Veränderungen, die diese Schritte bedeuten, werden nicht leicht sein und manchen Menschen auch Angst machen. Diese Ängste müssen wir zulassen und ernst nehmen. Ich halte es daher für eine zentrale Aufgabe von Politik und gerade grüner Politik, das Gespräch zu suchen mit den Menschen und vor allem zuzuhören. Das Zuhören, das Finden von Kompromissen erfordert Empathie. Der kluge Hans-Georg Gadamer hat es folgendermaßen formuliert: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der Andere Recht haben könnte.“ Spätestens nach der britischen Brexit-Entscheidung und der Wahl von Trump in den USA müssen gerade wir „Kosmopoliten” ganz im Gadamer’schen Sinne darauf achten, auch andere Lebenswelten und Identitäten zu verstehen. Als Grüner sage ich bewusst: Dazu gehören auch konservative Einstellungen, auch Menschen, die an Traditionen hängen. Die rote Linie ist jedoch dann klar überschritten, wenn das Gegenüber die Menschenwürde in Frage stellt oder Rassismus zeigt. Kompromiss ist die Essenz der Politik. Alleine deshalb kann niemand eine Polarisierung wollen, der oder die daran interessiert ist, unser Land konstruktiv voranzubringen. Populismus ist dafür die falsche Währung. Jede Partei muss für sich um Werte, Ziele und Ansprüche an sich selbst ringen – und dann auf einer gemeinsamen Basis das Erreichen von praktisch umsetzbaren Kompromissen in den Blick nehmen. Streit in der Sache ist dabei notwendige Bedingung. Gute Debatten, fair geführt, führen zu besseren Entscheidungen. Vernünftig ist auch ein starker Bezug im politischen Diskurs auf Fakten und Evidenzen: Eine konsequente Orientierung am wissenschaftlichen Stand des Wissens in allen Politikbereichen ist notwendig. Eine evidenzbasierte Politik braucht keine Tabus. Es gibt keine endgültigen Ergebnisse. Wissenschaftliche Erkenntnis ist notwendigerweise nie abgeschlossen. Die rasante und radikale Entwicklung gerade in Fragen der Bioethik, künstlicher Intelligenz oder digitaler Selbstbestimmung können wir nur mit unserer Gesellschaft zusammenbringen, wenn sich die Menschen darauf verlassen können, dass wir auf Grundlage von wissenschaftlichen Fakten argumentieren. Wir müssen die Herausforderungen angehen – Nicht-Handeln, Lamentieren oder Zurück-in-die Vergangenheit-Schauen lösen keine Proble-
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me. Wir müssen uns bewusst machen, dass der Wandel unserer Gesellschaft viele Menschen fordert und manche überfordert. Aber es hilft nicht, gesellschaftliche Realitäten wie die Einwanderungsgesellschaft, in der wir in Deutschland leben, weiterhin zu ignorieren oder zu negieren. Mit unserem Grundgesetz haben wir eine exzellente Richtschnur auch für das Unbekannte, das Zukünftige. Wir können optimistisch sein, dass unsere frei verfasste Gesellschaft die Stärke und Resilienz hat, zu bestehen und sich weiter zu entwickeln.
Konservatismus ohne Wertgeschwätz Von Friedrich Wilhelm Graf Ein Konservativer bin ich nur partiell. Seit meinen Tagen als Gymnasiast in der westfälischen Provinz verstehe ich mich als dezidiert linksliberal, was aber nicht bedeutet, dass ich Anhänger oder Mitglied der FDP, einer nur zum Teil liberal denkenden und handelnden Partei, bin. Mit situativ pragmatischen politischen Wahlentscheidungen war und bin ich ein Wechselwähler mit innerdeutschem Migrationshintergrund, der seit seiner Ankunft in München 1971 nur an einem Dogma festhielt: niemals eine Partei zu wählen, in der aus welchen Gründen auch immer Religiöses und Politisches entdifferenziert wird und politische Konflikte allzu schnell mit Glaubenspathos kommentiert und ausgetragen werden. Zwar ist es nicht möglich, Politik und Religion zu trennen. Aber man kann und muss zwischen Staat und Kirchen (bzw. überhaupt Glaubensgemeinschaften) institutionell differenzieren und sollte sich um des Eigensinns des Religiösen willen bemühen, der politischen Funktionalisierung religiöser Symbolsprache Widerstand entgegenzusetzen. Damit ist ein Problem vieler Konservativer bezeichnet: Sie haben nicht verstanden, dass ein vom Staat angeordnetes Kreuz im Finanzamt nur der religiösen Entwertung und Entleerung dieses christlichen Zentralsymbols Vorschub leistet. Mit konservativer politischer Theorie habe ich mich beschäftigt, seitdem ich Mitte der 1970er Jahre in einem faszinierenden Hauptseminar Thomas Nipperdeys über „Die Anfänge des europäischen Konservatismus“ Texte Edmund Burkes, Louis Gabriel Ambroise de Bonalds, Joseph Marie de Maistres, Friedrich Julius Stahls und einiger Rechtshegelianer wie Karl Rosenkranz, Carl Ludwig Michelet und Eduard Gans las sowie selbst ein langes Referat über Hegels Berliner Rechtsphilosophie hielt. Oft faszinierten mich solche frühen konservativen Intellektuellen und Zeitdiagnostiker wegen der analytischen Prägnanz, mit der sie Folgeprobleme eines in mehr oder minder radikaler Kritik des Bestehenden sich erschöpfendem, die Notwendigkeit von Konstruktion verbindlicher Regeln des
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Zusammenlebens relativierendem oder gar negierendem Aufklärungspathos auf den Begriff zu bringen versuchten. Später lernte ich durch Karl Mannheim den Unterschied zwischen bloßem Traditionalismus und Konservatismus kennen und begann zu begreifen, wie sehr konservatives Insistieren auf der Ordnungskraft von Institutionen als ein genuin modernes Phänomen zu deuten ist, d. h. als eine politische Theorie, die durch permanente Auseinandersetzung mit zumindest potenziell destruktiven Konzeptionen radikal individualistisch entworfener Freiheit der elementaren Tatsache gerecht zu werden versucht, dass jeder und auch jede freie Einzelne(r) schon seit Beginn seines bzw. ihres Lebens unausweichlich auf Sozialität, das Zusammenleben mit ihn oder sie fördernden anderen Menschen angewiesen ist. „No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main“ ( John Donne); das leuchtete mir ein, nüchtern pragmatisch schon deshalb, weil ich ja in eine Familie hineingeboren worden war und ohne die Unterstützung meiner Eltern nicht das aus mir geworden wäre, was aus welchen kontingenten Gründen auch immer nun einmal aus mir geworden ist: ein deutscher protestantischer Theologenintellektueller aus der ersten Generation geborener Bundesdeutscher, der als Ironiker durchs Leben zu gehen versucht, in elementarer Widersprüchlichkeit eigene Ambivalenz anzuerkennen gelernt hat und gegen das weit verbreitete Pathos der Eindeutigkeit Ambiguitätstoleranz schätzt. Genau dies markiert eine bleibende Differenz gegenüber vielen Konservativen: Sie setzen oft auf eine eindeutige Welt ohne Polyvalenz und dissonanter Vielstimmigkeit. Aber der Mensch ist nun einmal aus „krummem Holz geschnitzt“ (Immanuel Kant). Konservative haben ein Moralproblem. Sie missverstehen sich jedenfalls selbst, wenn sie in allen möglichen Fragen der Ordnung des idealiter friedlichen Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft auf gemeinschaftliche, gar bindende „Werte“ setzen. In der inzwischen inflationären „Werte“-Rhetorik, derer sich Vertreter aller politischer Lager bedienen, wird gern Moral eingeklagt oder das Ethische beschworen. Aber Moral ist keineswegs klar und eindeutig, sondern höchst ambivalent und insoweit gefährlich, als sie von Konservativen gern zur HyperMoral gesteigert wird – auch wenn ein kluger Konservativer wie Arnold Gehlen genau dies kritisierte und zu verhindern suchte.
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Zudem kann Moral leicht zur Waffe gegen Andersdenkende und Anderslebende gemacht werden. Wer auf moralische Kommunikation setzt, bringt sich darüber hinaus in die schwierige, riskante Situation, an den selbst proklamierten Normen gemessen zu werden. Je höher Konservative die moralische Messlatte legen, desto größer ist jedenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst an ihr scheitern. An Traditionen weiser Skepsis sich orientierende Konservative, von denen es in der modernen europäischen Geistesgeschichte nicht allzu viele gibt, tun folglich gut daran, ihre – legitimen! – Eigeninteressen und Absichten welcher Art auch immer nicht in moralischer Sprache zu verbrämen, sondern in nüchterner Gelassenheit als partikulare Interessen offen zu benennen. In einer kapitalistischen Gesellschaft, die von Marktfreiheit, friedlichem Wettbewerb und auch aggressiver Konkurrenz geprägt ist, sollten sich Konservative selbstkritisch darüber Rechenschaft ablegen, inwieweit ihre nun gut zweihundert Jahre alten Traditionen eines mehr oder minder romantisch organizistischen Gemeinschaftsdenkens sowie eine oft überbordende Rhetorik von bonum commune und Gemeinwohl überhaupt noch Orientierungskraft zu entfalten vermögen und mehr als bloße Ideologie sind. Von Immanuel Kant, dem globalen Theoriehelden aller Liberalen, sollten auch Konservative eine freiheitsdienliche Grundunterscheidung lernen: die Differenz von Legalität und Moralität. Um des friedlichen Zusammenlebens der vielen verschieden Denkenden, Glaubenden und Lebenden willen bedarf es rechtlicher Regeln, die jedem bzw. jeder einzelnen den Gebrauch seiner bzw. ihrer Freiheit ermöglichen. Es bedarf dazu aber keiner gemeinschaftlichen Idee des Guten, und dies gilt auch unabhängig davon, dass diese unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung der Gesellschaft in relativ autonome Kultursphären oder Subsysteme sowie angesichts des gegebenen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus nur eine Illusion ist. Die von vielen Konservativen betriebene Beschwörung von „Werten“ entdifferenziert Recht und Moral, mit der gesellschaftspolitisch kontraproduktiven Folge, dass nicht etwa die Integration der Gesellschaft gestärkt wird, sondern die vielen Interessengegensätze, die es in einer von gesellschaftlicher Differenzierung, sozialer Ungleichheit und hoher weltanschaulicher und lebenspraktischer Vielfalt geprägten Gesellschaft unausweichlich gibt, im Modus von immer neuen Kulturkämpfen ausgetragen werden müssen.
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Wenn Konservativen, wie sie so oft selbst behaupten, das staatliche Recht und dessen Institutionen wirklich „heilig“ sind, sollten sie es dennoch nicht sakralisieren und mit hohen moralischen Erwartungen überfrachten, die nur enttäuscht werden können. Gewiss bedürfen die Institutionen des freiheitlichen Rechtsstaates der Bereitschaft der Bürger zum Rechtsgehorsam, also einer Bürgertugend. Aber man kann diese ebenso wenig erzwingen wie guten Geschmack, Höflichkeit, Respekt vor Andersdenkenden und überhaupt Anstand. Vorbildlich sind Konservative gerade dann, wenn sie solche Tugenden leben, aber darauf verzichten, sie anderen mit moralischem Pathos vorschreiben zu wollen.
Konservatismus – subversiv? Von Claus Offe Mit dem Konservatismus ist es wie mit der Pornographie: Er ist sehr schwer schlüssig zu definieren, aber man erkennt sofort, wenn man Konservatives vor sich hat. Nicht einmal die Konservativen selbst und ihre Theoretiker sind sich immer einig über das, worauf sie hinaus wollen. Das liegt daran, dass es so viele Spielarten des Konservatismus gibt: liberalen, christlichen, romantischen, rechten, nationalen, politischen, technokratischen, wirtschaftspolitischen, demokratischen, anti-demokratischen, bürgerlichen, anti-bürgerlichen, ländlichen, städtischen – sogar einen „revolutionären“ Konservatismus (unseligen Angedenkens an die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts), den ein unbedarfter CSU-Politiker kürzlich wieder empfehlend ins Gespräch gebracht hat. Wie bei anderen -ismen gelingt es auch beim Konservatismus nur dann, ein einendes Band zu weben und wenigstens den Anschein programmatischer Klarheit zu erwecken, wenn man sich durch die Gegnerschaft zu etwas Nicht-Konservativem definiert. Konservative sind auf das Bild eines Feindes angewiesen, der die Zerstörung und Entwertung von etwas im Schilde führt, das aus konservativer Sicht zu bewahren und zu verteidigen ist. Aber der Vorrat an in Betracht kommenden Feinden ist heute beschränkt. In der Bundesrepublik zielen politische Konservative immer noch vorzugsweise auf die 68er-Generation und die „Fundamentalliberalisierung“ von Kultur, Gesellschaft und Politik, die sie und die von ihr inspirierten sozialen Bewegungen zwar nicht durchweg angestrebt, aber doch zum guten Teil bewirkt haben. Es gibt außer dem politischen auch einen ganz unpolitischen Konservatismus der Vorlieben bei Bekleidungsstil, Musikgeschmack und Küchenrezepte; er hat wohl in der DDR ausgeprägter überlebt als im Westen mit seiner Konsumkultur, schon aus Mangel an Gelegenheit und dank eines Saure-Trauben-Effekts. Die größten Schwierigkeiten bereitet heutigen Konservativen aber die Tatsache, dass sie sich laufend in einen „performativen Selbstwiderspruch“
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verwickeln. Will sagen: Mit der Geste des pfleglichen Bewahrens von bewährten Traditionen, Tugenden und eigenwertigen Handlungsweisen setzen sie, wo sie die Chance dazu sehen und die Mittel aufbringen können, durch beherzte Interventionen durchaus Neues in die Welt; sie exekutieren z. B. das (dann freilich klanglos gescheiterte) Projekt einer „geistig-moralischen Wende“ (Kohl in den 80er Jahren) oder dekretieren eine „Leitkultur“, getreu der Lampedusa-Logik: „Damit alles beim guten Alten bleiben kann, muss erst einmal alles umgekrempelt werden“ – das Paradox einer veranstalteten und inszenierten Ursprünglichkeit. In der Praxis kommt dann allerdings in der Regel nicht das „gute Alte“ heraus, sondern die Konditionierung des Publikums auf willenlose Fügsamkeit gegenüber der „Sachgesetzlichkeit“ (H. Schelsky) eines „schlechten Neuen“, nämlich einer ebenso ziel- wie schrankenlosen kapitalistischen Modernisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. In ihrem Dienste sind „konservative“ Tugenden wie Disziplin, Bescheidenheit, die Wahrnehmung individueller Verantwortung und der Respekt für betriebliche, staatliche und pädagogische Autoritäten ja durchaus erwünschte Dispositionen. Die Sprechblasen dazu sind diese: „Die Leitung wird sich schon etwas dabei gedacht haben“ oder: „Das ist eben so – da kann man nichts machen“. Als erklärte Veranstalter einer „Wende“ haben Konservative notorische Schwierigkeiten, sich gegen die „Neue Rechte“ mit ihrer völkischen, autoritären und geschichtsrevisionistischen Programmatik abzugrenzen und zu behaupten. Aber es gibt auch einen Konservatismus, der sich gegen alltagskulturelle Modernisierungs- und Konsumzwänge zur Wehr setzt. Der Unwille, den die verspielten Türmchen und Erkerchen postmoderner Architektur bei manchen Leuten auslösen, hat durchaus konservative Motive; sie würden lieber an der Bauhaus-Ästhetik festhalten. Dasselbe gilt von offenbar zunehmenden Aversionen, die sich gegen die verheerenden Folgen jener Philosophie der „autogerechten Stadt“ wenden, wie sie seit den 60er Jahren zu Beton geworden ist. Jeder soll jederzeit störungsfrei von jedem Raumpunkt an jeden anderen gelangen können – die Dystopie einer automobilen „Freiheit“. Die Verflüssigung von Zeit- und Raumstrukturen lässt durchaus konservative Normen betreffend die Frage, was „man“ wo und wann tut und nicht tut, austrocknen. Der PKW ist ein Inbegriff dieser Logik: eine Maschine, die dafür geeignet ist, sagen wir 22 Stunden am Tag vier Personen
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zu befördern. Tatsächlich werden etwa 1,2 Personen für 50 Minuten bewegt – der Rest ist Rost und „ruhender Verkehr“ (es sei denn, man steht im Stau). (So viel nur zu der Lehre vom uneinholbaren Effizienzvorsprung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.) Gegen solche Erfahrungen, aus denen heute die Automobil-Aversion vieler junger Leute resultiert, dürfte auf die Dauer keine Propaganda mehr helfen, die die „Freude am Fahren“ anpreist. Raum und Zeit werden abstrakt und unbestimmt; nahezu alles kann immer und überall geschehen, so auch in jenen Gaststätten, die sonntags von 9 bis 17 Uhr „Früh“stück anbieten. Die modernistische Modularisierung der Welt schlägt sich z. B. nieder in der Benennung von Räumlichkeiten, in denen ich tätig war: sie hießen „Aufbau- und Verfügungszentrum“, „Mehrzweckhalle“, und „Multifunktionsraum“. Wenn man ein „innovatives“ Rasiergerät kauft und drei Jahre später die passenden Klingen nicht mehr am Markt zu finden sind, erklärt ein hochnäsiger Filialleiter: „Die Entwicklung geht eben weiter!“ (Subtext: Sie sind ja sowas von gestern!); Bürodrucker haben (n=3 in meinem Haushalt) die rätselhafte Eigenschaft, wenige Wochen nach Ablauf der Garantiezeit von selbst funktionsunfähig zu werden. Auch hier geht ja die Entwicklung „weiter“, wenn auch oft ohne erkennbaren Zugewinn an Gebrauchswert und mit dem Nebeneffekt, dem Nutzer u. U. zeitraubende Lernanstrengungen für die Bedienung abzufordern. Getrieben wird diese Dynamik durch Sozialtechnologien, die kontinuierlich dafür zu sorgen bestimmt sind, dass wants in needs transformiert werden, also Konsumartikel, die man „gerne hätte“ (und sei es nur, weil andere sie bereits haben) in Dinge, für deren Erwerb man gern auch Überstunden macht oder sich verschuldet, weil man sie „unbedingt braucht“. Die Leute, denen (wie mir) solche Entwicklungen und Erfahrungen einer glattmodernisierten Lebenswelt auf die Nerven und gegen den Strich gehen, würden sich wohl meist nicht als „konservativ“ bezeichnen; dennoch sind sie es in dem Sinne, dass sie etwas Gefährdetes bewahren und wahrgenommenen Exzessen einer so beschaffenen Welt durch ihr Meinen und Handeln entgegentreten. Natürlich kostet es, sofern sie damit Erfolg haben, Arbeitsplätze. Und wer deren Verlust bereit ist, in Kauf zu nehmen, und sich etwa den Gedanken macht, dass schließlich ein (Grund-)einkommen auch anders erlangt werden könnte als durch Erwerbstätigkeit, oder dass frei verfügbare Zeit genauso „wertvoll“ sein kann wie die monetäre Vergütung für marktbewertete Arbeitsleistungen, der stellt sich außerhalb
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des Sinnhorizonts und der Gesprächsbereitschaft nicht nur von politischen Konservativen, sondern auch von ihren modernisierungsbesessenen sozialdemokratischen Konkurrenten. So sehen wir, dass es neben all den anderen Spielarten auch noch die Variante des „subversiven Konservatismus“ gibt. Er plädiert für die Bewahrung und Verteidigung dessen, was wir schon einmal hatten oder doch als gesicherten Bestand zu haben schienen – sei es ein stabiles Klima oder die biologische Artenvielfalt; oder sei es die kompromisslos anerkannte Geltung von Menschenrechten oder das Vertrauen auf die Geltungskraft einer so altmodischen Formel wie der konservativen vom „Wohlstand für alle“.
Nur ein bisschen konservativ. Manchmal Von Nicola Beer Heimat. Natur. Werte. Landschaft. Bodenständigkeit. Tradition. Traditionen. Beständigkeit. Treue. Glaube. Familie. Freunde. Der Stammtisch. Konservativ sein heißt: am Bewährten festhalten. Das Bewährte hoch zu halten. Sich an ihm festzuhalten. Es ist ein Lebenskompass. Ein Korsett. Nicht immer einengend. Kein Panzer, aber doch ein Gerüst. Eine Selbstverständlichkeit des Lebens. Mehr noch, eine Lebensidee. Ihr kann man folgen und wichtiger noch, diese Lebensidee kann man weitergeben. Weitergeben wie die Familientradition – von Generation zu Generation. Der Konservative ist bei sich zu Hause, weil er weiß, was sein zu Hause ist. Und weil er wünscht, weiter zu geben, was er von seinen Vätern (und Müttern – nur, ist diese Erwähnung noch konservativ?) ererbt hat. Der Konservative bewahrt sein Erbe, oft das gesellschaftliche Erbe, in der Gegenwart. Er konserviert eben. Der Liberale sieht das nicht nur kritisch. Er hat Verständnis für die Konservativen, aber kein Verständnis für eine konservative Gesellschaft – weder von rechts noch von links. Ja, auch links lauern Fundgruben wahrhaft konservativen Potenzials, genauer: traditionellen Reflexen verhaftet, nicht nur auf Gewerkschaften beschränkt. Der Liberale aber will Aufbruch. Er will Tempo. Er will Veränderung. Er will den gesellschaftlichen Status quo verändern. Er will, dass jeder seines Glückes Schmied ist, nicht weil er abstammt, sondern weil er leistet. Vorwärts drängt. Sich und die Welt erfindet. Neugierig und aufgeschlossen, neugierig auf alles und jeden. Der Liberale sieht sein gesellschaftliches Vorbild im Individuum, im Einzelnen, der sich und die Gegenwart neu erfindet. Dem das Neue, die Veränderung, die Bewegung, die Weite, die Lust am Bessermachen ein Zuhause bietet. Der mit seinem Pfund wuchert, wie die Evangelisten es beschrieben. In Verantwortung für sich, seine Nächsten und die Gesellschaft.
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Der Konservative weiß. Er ist sich und seiner Rolle sicher. Sein Selbstverständnis stammt aus seinem Selbstbild, das von der Tradition geprägt ist. Der Liberale zweifelt. Sein Selbstbild beginnt mit dem klassischen „dubio“. Sein Selbstverständnis ist das „cartesische“ Ich. Sein Lebensmotto: „Cogito ergo sum“. Ich denke, also bin ich. Nichts Selbstverständliches ist ihm gewiss. Nichts Sicheres ist ihm heilig. Und Heiliges a priori in seiner Absolutheit suspekt. Der Konservative sucht die Gewissheit im Selbstverständlichen. Der Liberale zweifelt an der Gewissheit. In jeder Gesellschaft wird diese Dichotomie offensichtlich. Zum einen die Gewissheiten, die Heilserwartungen, zum anderen Poppers Idee einer „offenen Gesellschaft“. Offen heißt: offen für alle. Offen für Aufstieg. Offen für Lebensentwürfe. Offen für Unterschiede. Offen für Religionen und Atheismus. Offen für Bildung und Wissenschaft und für Technik. Für Tüftler und Erfinder, für Dichter und Denker. Offen vor allem für den Selbstzweifel, für die wissenschaftliche Methode von „trial and error“, für Versuch und Irrtum. Die offene Gesellschaft verharrt nicht, sie sucht immer neue Wahrheiten. Nie eine Wahrheit. Nie eine Gewissheit. Damit unterscheidet sich das liberale Weltbild vom linken, vom konservativen, vom grünen Weltbild. Sie alle wissen, was für die Menschen gut ist – wir nicht. Deswegen sind sie konservativ – und wir liberal. Wenn es denn so einfach wäre. Denn natürlich bin ich eine Herzensund Kopfliberale. Und ich bin keine Konservative. Wenn – ja wenn nicht auch ich es selbstverständlich fände, meine Heimat zu lieben. Meine Familie. In die Kirche zu gehen. Zu glauben. An ein Mysterium, an Gott – den ich nicht der Falsifikation unterwerfen kann. An dem ich nicht zweifle, bei dem „trial and error“ nicht gilt. Bei dem ich mich nicht cartesianisch im Denken vergewissere, sondern mit tiefer Herzensliebe glaube. Und seine Unmittelbarkeit im Gottesdienst, im Gebet, im Gesang empfinde und erfahre. Da bin ich konservativ – wie auch bei manchen, bei immer mehr Traditionen, die ich heute wärmer empfinde als früher. Ich will sie bewahren. Ich will konservativ sein. Und doch ist mein Lebensprinzip nicht konservativ. Da heißt es raus, raus ins Leben, raus in die Fremde, raus ins Abenteuer, raus in die Entdeckung, raus ins Wagnis. Und die Rückkehr von der Expedition Leben? Sie ist ein Zurück nach Hause. In den Garten. Zu den Vögeln, die am Morgen tschirpen. Zu Blumen und Bäumen. Zum Mann und zu den Kindern. Und sonntags in die Kirche, in den Gottesdienst. Zum Vertrauten, wo
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ich meine Kraft wieder auftanken kann. Und das mich erdet. Meine innere Lebensmitte sichert. Ja ich bin eine Liberale. Ich stehe ein für eine offene Gesellschaft. Und für eine offene Welt. Ich will eine Gesellschaft, die sich verpflichtet auf gemeinsame Grundüberzeugungen, aber nicht auf Kirche und Staat. Ich möchte, dass wir miteinander und nicht nebeneinander leben. Ich halte Parallelgesellschaften für existenzbedrohend, und das frühere scheinbar reibungslose niederländische „Polder Modell“ für anfällig. Aber ich verstehe, wenn Menschen, die flüchten mussten, die auswandern wollten, zu Hause an ihrem früheren Leben festhalten wollen. An Traditionen. An religiösen Überzeugungen. Am altbekannten Essen. An der Sprache. An den Liedern. Aber – und da ich bin fordernd liberal – außerhalb der eigenen vier Wände gelten Rahmen und Regeln der offenen Gesellschaft, die nur offen bleiben kann, wenn sich alle zu ihr bekennen – Konservative und Sozialisten, Traditionalisten und Modernisten. Es gibt den schönen Satz des erzkonservativen früheren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, die Konservativen seien an der Spitze des Fortschritts. Natürlich gibt es fortschrittliche Konservative. Aber das Schöne am Konservativen ist, er nährt sich aus der Vergangenheit. Doch das reicht nicht. Wir Liberale nehmen die Konservativen wie sie sind. Wir haben auch konservative Züge in uns, die wir nicht leugnen. Aber: Wir stehen an der Spitze des Fortschritts. Wir lieben das Tempo der Veränderung. Wir lieben die Sprünge. Den gesellschaftlichen Aufstieg von unten nach oben. Das Neue, das Unbekannte. Die Reformation im umfassenden Sinn. Das Bessere, zum Wohl möglichst vieler. Das reizt. Das reizt mich. Und deswegen bin ich nicht konservativ. Nur ein bisschen. Manchmal.
Sein lassen Von Christian Hillgruber Was mich immer wieder wach macht hier draußen hier brandet das Leben der Tiere […] hier brandet das Leben gegen mein Leben unser Leben der Konstruktion des Wollens des Schaffenwollens des Müssens der chaotischen Übersicht der Ordnung die jede Ordnung zerstört hier brandet das Leben gegen unser Leben des Zugriffs auf alles was ist sein lassen es sein lassen Sein lassen.
Ich weiß nicht, ob Arnold Leifert, der 2012 verstorbene Lyriker aus Much im Bergischen Land, von dem dieses hier nur auszugsweise wiedergegebene Gedicht stammt, sich selbst als konservativ bezeichnet hätte. Aber in diesem Gedicht, insbesondere in seinen letzten drei Zeilen, drückt sich verdichtet eine Haltung aus, die für mich im besten Sinne konservativ ist.
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„sein lassen“ – das ist vielleicht die kürzeste Formel, auf die eine Einstellung gebracht werden kann, mit der wir uns, um Hermann Lübbe zu zitieren, „in ein vernünftiges Verhältnis zur unverfügbaren Kontingenz unseres Lebens und seiner unverfügbaren Bedingungen setzen“. Dies alles will nämlich, wie Lübbe anfügt, „immerhin akzeptiert sein“. Konservativ zu sein heißt, sein Da-, So- und Nichtanderssein, aber auch das aller anderen Menschen anzunehmen. Das macht gelassen, ja überhaupt erst fähig, sich selbst als Mensch in all seiner Unzulänglichkeit zu erkennen und anzuerkennen und sich – so mit sich selbst versöhnt – dem Mitmenschen zuzuwenden. Mit einer so bewältigten „Erfahrung von Bedingungen unseres Lebens, die wegarbeiten oder in der entscheidenden Hinsicht auch nur ändern zu wollen ein ersichtlich widersinniges Unterfangen wäre“, lässt sich erst wirklich leben, lässt sich „sein“. Konservative sind daher alles andere als Misanthropen, sondern Menschenfreunde. Aber sie überfordern sich selbst und andere dabei auch nicht. Sie lieben nicht einfach alle Menschen (wie Erich Mielke), und auch auf die Idee, dass alle Menschen schon im Hier und Jetzt Brüder (und Schwestern) werden, kämen sie nicht. Konservative wollen auch jedem das Seine (zukommen) lassen, aber nicht gleich machen, was nicht gleich ist. Sie legen Wert auf Unterscheidung und schätzen gewachsene Vielheit und Vielfalt, die nicht dem Fetisch uniformer Gleichheit geopfert werden darf. „es sein lassen“ – Als Konservativer lässt man Leben zu, man belässt es so, wie es ist. Man nimmt Abstand von einem Weltverbesserertum, das die Menschen partout verändern will, statt sie so zu nehmen, wie sie nun einmal sind, weil mit solchen ebenso vermessenen wie untauglichen Großversuchen an Menschen nur Unheil gestiftet worden ist und gestiftet werden kann. Was man nicht ändern kann, sollte man auch gar nicht erst zu ändern versuchen. Das zu erkennen und danach zu handeln, ist alles andere als trivial. Konservative halten es für abwegig, ja gefährlich, Utopien in Wirklichkeit verwandeln zu wollen. Eine konservative Grundhaltung macht resistent gegen die Hybris der Machbarkeit. Wer konservativ ist, weiß aber auch, dass alles in Bewegung ist, alles fließt und nichts bleibt, wie es ist, dass man, wie schon Herodot wusste, nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. „Es sein lassen“ bedeutet daher zugleich, die Dinge sich organisch entwickeln zu lassen, ihren Gang nicht zu beschleunigen, aber auch nicht künstlich aufzuhalten ver-
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suchen, was nicht aufzuhalten ist. Denn das Ansinnen, festhalten zu wollen, was sich bereits in Auslösung befindet, ist zum Scheitern verurteilt. Noch viel weniger Sinn hat es, etwas Vergangenes wiederbeleben zu wollen. Konservative wissen das; das unterscheidet sie von Reaktionären, die insoweit einer Illusion erliegen, ganz abgesehen davon, dass sie meist eine Fehlvorstellung von dem haben, was sie zu restaurieren beabsichtigen. Konservative sind frei von naiver Fortschrittsgläubigkeit, sie bleiben gegenüber vollmundigen Verheißungen einer besseren Zukunft skeptisch, aber sie verweigern sich nicht notwendigen Veränderungen. Konservative wollen aber von der Vernünftigkeit einer Reform überzeugt werden. In konservativer Perspektive spricht eine Vermutung für die Vernünftigkeit bestehender Institutionen und Regeln. Wer reformieren will, trägt daher aus konservativer Sicht die Begründungspflicht und Argumentationslast für die Widerlegung dieser Vermutung. Vor- und Nachteile des Bestehenden wie des mit einer Reform angestrebten Zustands gilt es abzuwägen. Wenn die propagierte Änderung nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lage zu verbessern vermag, bleibt für den Konservativen die für den status quo als Resultante der im Lauf der Geschichte aufgespeicherten Vernunft sprechende Vermutung gültig. Sein Credo ist das einer behutsamen Fortentwicklung, nicht das einer grundstürzenden Innovation, die in wild entschlossener, aber törichter, weil durch historische Erfahrung unbelehrter Bilderstürmerei und arroganter Selbstüberschätzung alles anders als bisher machen will. „Sein lassen“ – knapper und subtiler kann man Gott nicht einführen und zu Mensch und Natur in Beziehung setzen. Wer konservativ ist, ahnt zumindest, dass letztlich alles von Gott und seiner Gnade abhängt. Das Wissen um diese schlechthinnige Abhängigkeit schützt vor der Selbstverherrlichung des Menschen, der meint, alles sein zu können, was er nur sein will. Aber es führt nicht zu einem lethargischen Fatalismus, sondern macht, scheinbar paradox, erst wirklich frei. Gott das Seine zu lassen, bedeutet frei davon zu sein, sich ständig selbst produzieren zu müssen. Aus Gottvertrauen erwächst die Zuversicht, die hilft, das Leben zu meistern: „Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf Ihn allezeit, der wird Ihn wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott dem Allerhöchsten traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“ So heißt es in einem auch heute noch tröstlichen Kirchenlied, das im dreißigjährigen Krieg gedichtet und vertont wurde.
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Wenn sich mein Leben wie alles Leben nicht mir selbst, sondern dem göttlichen Schöpfer verdankt, dann macht dies demütig, bereit und willens, die anvertraute Schöpfung zu bewahren und unempfänglich für die großen Ermächtigungsformeln, die uns, um noch einmal Lübbe zu zitieren, glauben machen wollen, „die Totalität unserer Lebensbedingungen ließe sich in Hervorbringungen unseres Handelns transformieren“. Wir können uns nicht übernehmen, und wir sollten es besser auch gar nicht versuchen. Technisch vermittelte Naturbeherrschung setzt Anerkennung dessen voraus, was, statt manipuliert, respektiert sein will. Eine konservative Haltung schützt vor der Grenzüberschreitung, die, wie es in dem zitierten Gedicht heißt, im beliebigen „Zugriff auf alles, was ist“ liegt und eine neue Ordnung von Menschenhand konstruieren und erzwingen will und dabei doch „jede Ordnung zerstört“. sein lassen es sein lassen Sein lassen
Ja, solch dreifaches, gelebtes Sein-lassen kann man guten Gewissens als konservativ bezeichnen; man könnte es aber auch schlicht eine erfahrungsgesättigte, kluge Lebenspraxis nennen.
Konservativ heißt reformfähig Von Thomas Sternberg In dem Roman Il Gattopardo des Sizilianers Giuseppe Tomasi di Lampedusa aus dem Jahr 1958 findet sich als Motto des jugendlichen Helden Tancredi folgender Schlüsselsatz: „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi. – Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Die ganze Ambivalenz des Konservativen ist mit diesem Paradox auf den Punkt gebracht. Der Erhalt des Alten unter neuen Bedingungen verlangt grundlegende Veränderungen; die Konservierung des Vergangenen sperrt sich der Zeit und verändert sie so. „Konservativ“ ist ein Containerwort, in das man alles und jedes hineindeuten kann, Positives wie Negatives, Identifikation und Abgrenzung. Es gehört zu den schwierigen Begriffen, zu viel gebraucht und im alltäglichen medialen Geschwätz abgenutzt. Ist der Konservative derjenige, der zu oft Krawatte trägt, die Wohnung mit Stilmöbeln einrichtet und eine Welt zu konservieren sucht, die zumeist erst wenige Jahrzehnte zurückliegt? Hat er es, unfähig, sich mit dem Neuen zu befassen, vor allem mit dem Alten und Rückständigen zu tun? Blicken wir auf das Wort: Wikipedia belehrt uns: „Das Adjektiv gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Standardwortschatz, traditionsverbunden, am Alten, Herkömmlichen festhaltend, dann besonders an überkommenen gesellschaftlichen Zuständen hängend, auch den Fortschritt hemmend. Entlehnung (aus den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts) aus englisch/neuenglisch conservative – erhaltend, bewahrend.“ Es geht zurück auf das lateinische conservatum, was wiederum vom Verb co¯n-servare abgeleitet ist. Es bedeutet „bewahren, (unversehrt) erhalten, instand halten, retten, bewachen, behüten, aufrechterhalten, beibehalten“. In der Medizin ist die Bedeutung des Wortes verschoben, indem es dort eine Praxis beschreibt, die ohne operative Eingriffe einer schonenden Heilung den Vorzug gibt. Und in Physik und Ingenieurwesen meint konservativ die sicheren Punkte, die festen Bezugsgrößen und gesicherten Wege.
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In der Alltagssprache ist damit vor allem das Festhalten am Althergebrachten gemeint. Meint konservativ die Einstellung, das Bestehende so zu bejahen, dass es Veränderungen und Wandel immer vorgezogen wird? Wenn das gemeint ist, dann war die Bevölkerung Deutschlands wohl nie so konservativ wie heute. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach aus dem April 2019 brachte Thomas Petersen in der FAZ so auf den Punkt: „Den Deutschen ist der Fortschritt unheimlich.“ Seit 1967 stellt dieses Institut die Frage: „Glauben Sie an den Fortschritt, ich meine, dass die Welt einer immer besseren Zukunft entgegengeht, oder glauben Sie das nicht?“ Zunächst waren es 56 Prozent, die die Frage bejahten, 1972 sagten sogar 60 Prozent ja, 19 Prozent nein. Heute sind es nur 32 Prozent der Deutschen, die an den Fortschritt zum Besseren glauben, 40 Prozent sind skeptisch (FAZ vom 18. 4. 2019, Nr. 92, S. 10). Das entspringt sicher auch einer verbreiteten Skepsis über die Möglichkeiten technischer Innovationen. Es zeigt aber auch, dass offenbar viele Menschen mit ihrer Situation so zufrieden sind, dass sie jede Veränderung als Bedrohung ihrer Lage empfinden. Hinzu kommt eine gewachsene, berechtigte Sorge über den Zustand der Natur. Im Parteienspektrum der Politik spiegeln diese Bedenken am ehesten die Grünen. So gesehen war Deutschland nie so konservativ wie heute. Der Fortschrittsoptimismus einer Zeit, in der man auf die Besserung der eigenen Lage hoffte, um zumindest den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, er scheint lange vorbei zu sein. Der heutige Konservatismus hat kaum etwas mit einem nostalgischen Blick zurück zu tun. Eher überwiegt die Skepsis in den Erwartungen. Rückblick, das muss eben nicht immer mit dem Konservativen zu tun haben, wie man es landläufig versteht. Die Historiker sind auffallend häufig vertreten unter Persönlichkeiten, die Modernisierungs- und Veränderungsprozesse in Gang setzten. Der Grund ist einfach: Wer sich mit Geschichte befasst, erkennt die Veränderungen und die Wandelbarkeit von Prozessen, Institutionen und Regeln. Aus dem Wissen um den Wandel entspringt die Fähigkeit zur Relativierung der Gegenwart. In der jüngeren Kirchengeschichte ist Johannes XXIII., Papst von 1958 bis 1963, ein gutes Beispiel dafür. Er wirkte vor seiner Berufung zum Bischof und Nuntius als Professor für Kirchengeschichte im Priesterseminar in Bergamo. Schon seine Namenswahl war historisch brisant, verhalf er
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doch der umstrittenen Zählung der Träger dieses Namens zur Entscheidung, indem er die Absetzungen des Konzils von Konstanz 1415 anerkannte. Als Historiker kannte er andere Epochen der Kirchengeschichte und konnte ein „aggiornamento – Verheutigung“ in Ökumene, Liturgie, Theologie und Pastoral in Angriff nehmen. Schon drei Monate nach seinem Dienstantritt als Bischof von Rom und Papst kündigte er die Einberufung eines Zweiten Vatikanischen Konzils an, das am 11. Oktober 1962 eröffnet wurde. Kirchenhistoriker waren für Verlauf und Ergebnisse dieses Konzils von höchster Wichtigkeit. Besonders diejenigen, die sich mit den ersten Jahrhunderten des Christentums befassten, boten die Argumente für einen Wandel, der aus früheren Verhältnissen seine Begründung für die Erneuerung bezog. „Zurück zu den Quellen“, das war die Losung für eine Fülle von Reformen. Das Traditionsargument wurde zur Legitimation von Veränderungen, um jahrhundertealte Verkrustungen aufzubrechen. Selbst die Erklärung zur Religionsfreiheit über den toleranten Umgang mit anderen Religionen konnte mit Argumenten aus der frühen Kirchengeschichte belegt und damit ohne Traditionsbruch formuliert werden. Geschichtliche Prozesse zu erforschen, heißt Alternativen zur Gegenwart zu kennen und aus dem Wissen um den Wandel den Mut zu Reformen zu finden. Das Wichtige vom nur Zeitbedingten, das Periphere vom dauerhaft Bedeutsamen zu unterscheiden, das verlangt den kritischen Blick auf das Hergebrachte. Konservativ ist insofern nicht eine Haltung des Bewahrens um jeden Preis, sondern des Muts zur Veränderung. Die Kenntnis der Traditionen schult die Fähigkeit zur Unterscheidung. So gelingt Aufklärung durch Tradition. Konservativ in diesem Sinne ist das Erhalten des Erhaltenswerten, der Mut zur Trennung vom bloß Temporären und die Einsicht in Notwendigkeiten vor dem Hintergrund, wenn nicht vergleichbarer, so doch paralleler Prozesse. Das zu behüten, was sich als überlebenswichtig erwiesen hat, und um die Kriterien zu wissen, das Eine vom Anderen zu unterscheiden, das ist konservativ im besten Sinne, auch wenn das nicht in die Kategorisierungen einer politischen Farbenlehre einzupassen ist. Zu den politischen Richtungsstreitigkeiten mit dem flauen, vernutzten Begriff schließlich noch ein Hinweis, den der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, gelegentlich gab: im Kürzel CDU kommt das C nicht von „conservative“!
Christlich und europäisch denken Von Armin Laschet Nähert man sich dem Begriff „konservativ“ etymologisch, sprich von seiner Herkunft her, landet man beim lateinischen Verb conservare. Das bedeutet so viel wie „aufbewahren“ oder „retten“. Etwas zu konservieren liefert aber auch stets eine qualitative Bewertung mit. Denn nur das Überzeugende verdient es auch, „bewahrt“ oder „gerettet“ zu werden. Den Nukleus des Konservatismus bildet somit der Gedanke, Bewährtes vor Veränderungen und Angriffen auf seine Substanz zu schützen. Wenn ich diesen Gedanken nun auf die Politik übertrage, formt sich Konservatismus für mich in erster Linie zu einer Haltung und Einstellung, die im Wesentlichen davon geprägt ist, Erfahrungen wertzuschätzen, Funktionierendes zu belassen und Fortschritt stets mit Augenmaß zu betreiben. Der konservative Politiker begegnet Veränderungen durchaus mit einer kritischen Offenheit. Denn auch er wird Bewährtes durch Neues ersetzen, wenn sich das Neue als besser, zielführender oder effizienter herausstellt. Fortschritt ist somit im Verständnis einer konservativen Politik die permanente Weiterentwicklung des Status quo, nicht ideologisch, nicht nur um der Veränderungen selbst willen, sondern immer im Einklang mit dem zu Bewahrenden – Evolution statt Revolution. Von den Lebenswirklichkeiten der Menschen entkoppelte elitäre Fortschrittsdebatten oder Utopien sind dem Konservativen daher genauso fremd wie Alarmismus oder Sofortismus. Dies erklärt auch, warum sich Konservative mit ihrem Sendungsbewusstsein zurückhalten, aber bei Debatten, die an ihren Grundüberzeugungen rütteln, besonders empfindlich reagieren. Doch genau an diesem Punkt fächert der Konservatismus auf – und zwar über das gesamte politische Spektrum verteilt. Festmachen lässt sich dies insbesondere am Grad der Offenheit für Neues. So finden sich beispielsweise konservative Beharrungskräfte in allen gesellschaftlichen Milieus und politischen Parteien. Das Festklammern an Strukturen, oft-
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mals gepaart mit einer Verklärung der Vergangenheit, kann notwendige Reformen verhindern und ökonomische, ökologische und soziale Transformationsprozesse verlangsamen. Und so können ein verschleppter Strukturwandel und eine die Realitäten ausblendende politische Nostalgie gravierende Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt ganzer Regionen haben. Ein solcher Strukturkonservatismus führt daher genauso in die Sackgasse wie ein blinder Fortschrittsglaube. Anders verhält es sich mit dem Konservatismus, der darauf abzielt, Werte und nicht Strukturen über die Zeit zu bewahren. Es ist diese Form des Konservatismus, die den christdemokratischen Parteien Europas zu eigen ist. Die Christdemokratie hat liberale, christlich-soziale und konservative Wurzeln. Eine isolierte Betrachtung des ausschließlich konservativen Gedankens ist daher stets in diesem Kontext zu verstehen. Im Zentrum des für Christdemokraten besonders wichtigen Wertekanons steht das christliche Menschenbild. Dies ist der Markenkern. Der Mensch in seiner Einzigartigkeit ist Geschöpf Gottes, und er ist zugleich Individuum und Gemeinschaftswesen. Die Freiheit der individuellen Entfaltung steht immer in Bezug zum Mitmenschen und einer sozialen Eingebundenheit in die Gemeinschaft (Personalität). Ähnlich verhält es sich mit der christlichen Nächstenliebe, die jeden einzelnen dazu aufruft, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen und sich um Schwächere zu kümmern (Solidarität). Ein zentraler Aspekt des christlichen Menschenbildes ist auch die Stärkung der jeweils möglichst kleinsten Einheit in ihrer Selbstbestimmtheit (Subsidiarität). Neben der Bewahrung des föderalen Gedankens und der Verhinderung ökonomischer wie politischer Machtkonzentrationen begründet sie so auch die Bedeutung der Familien als Keimzellen der Gesellschaft. In der politischen Programmatik äußert sich dies in dem Ansatz, Familien dauerhaft in ihrer Eigenständigkeit durch Ehegatten- oder Familiensplitting, durch eine hohe Qualität der Betreuungsplätze sowie durch finanzielle Leistungen wie Kinder- und Elterngeld zu unterstützen. Aus diesem am Menschen orientierten Leitbild kristallisiert sich eine konservative Politik, die von einem schichten- bzw. milieuübergreifenden, inklusiven Charakter und generationenübergreifender Gerechtigkeit geprägt ist und dafür einsteht, dass unsere Kinder und Kindeskinder ein selbstbestimmtes Leben in Frieden und Freiheit, in wirtschaftlicher Pro-
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sperität und in einer intakten Umwelt führen können. Der Nachhaltigkeitsgedanke in der untrennbaren Verbindung aus Ökonomie, Ökologie und Sozialem gehört zur DNA eines jeden Christdemokraten, der wertefundiert zur Bewahrung Gottes Schöpfung und aus Verantwortung für die nächste Generation handelt. Aus diesem Gedanken leitet sich ein im Kern optimistisches Zukunftsbild ab, das von einer das Leben bejahenden Haltung geprägt ist. Die Bewahrung und die Liebe zur Heimat, die sich unter anderem in der Pflege des Brauchtums und durch die Bewahrung von Traditionen äußert, schafft den Kitt, der unsere Gesellschaft in einer globalisierten und digitalisierten Welt zusammenhält. Und daher sind die Antworten auf die im Wesentlichen durch Konservative aufgeworfenen Fragen – woher man kommt, was die Gesellschaft, in der man lebt, ausmacht, was ihre Werte und Normen sind und worauf man stolz ist – notwendige Voraussetzungen, um die durch Disruptionen und Transformationen bedingten Herausforderungen für Deutschland und Europa selbstbewusst mitgestalten zu können. Andernfalls würde man in der Rolle eines orientierungslosen Beobachters verharren. Denn erst in dem Wissen über die eigene Identität und Geschichte und einen damit einhergehenden gemeinwohlorientierten Patriotismus entsteht die Grundlage, um nationalstaatliche Kompetenzen voller Überzeugung auf die europäische Ebene übertragen zu können. Und daher ist es auch nicht verwunderlich, dass es Christdemokraten wie Konrad Adenauer, Robert Schuman oder Alcide de Gasperi waren, die Europa geformt und den europäischen Gedanken initiiert haben. Waren sie konservativ? Sie haben sich nicht so genannt, und in der Programmatik der Gründungsphase der CDU kommt das Wort „konservativ“ nicht vor. Konrad Adenauer wollte bewusst nicht an die Tradition der „Konservativen“ der Weimarer Republik anknüpfen. Erst 1978 kam der Begriff durch Heiner Geißler in das Grundsatzprogramm der CDU im Sinne des Wertkonservatismus. Konservativ sein heißt heute europäisch denken, Nationalismus, Ausgrenzung und eine Spaltung der Gesellschaft verhindern. Konservativ sein heißt: Werte bewahren, die wichtig sind auch in modernen Zeiten. „Prüft alles und behaltet das Gute“, heißt es im Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher (1Thess 5,21). So verstehe ich den Begriff des Konservativen.
Nur wer konservativ ist, kann mit progressiven Ideen überzeugen Von Volker Gerhardt Alles Lebendige ist konservativ, solange es lebt. Doch wenn es im Fall einer Krise oder einer Chance nicht in der Lage ist, sich auf Ungewohntes einzustellen, kann es nicht überleben. Also hat es immer auch progressiv zu sein. Der Vergleich mit dem Leben ist hilfreich, aber er sagt nicht genug, weil ihm die Ausrichtung auf vorgestellte Ziele fehlt. Die finden sich erst in bewusst vollzogenen menschlichen Handlungen und werden von Menschen, die davon in der Regel etwas erwarten, auf das bezogen, was sie „Politik“, „Technik“, „Kultur“ oder „Geschichte“ nennen. Hier scheint es möglich, zwischen „Fortschritt“ und „Rückschritt“ zu unterscheiden. Aber die Unterscheidung ist auf wenig mehr als auf Empfindung und Gefühl derer gegründet, die hier urteilen. Wer kennt schon den definitiven Vorzug einer Neuerung oder das Ziel der Geschichte? Wer kann sagen, dass man es besser direkt anstrebt, auf Umwegen angeht oder das Kommende einfach abwartet? Und wer weiß schon, ob das Ziel jemals erreichbar ist? Erst recht kann niemand sagen, was das eines Tages Erreichte den Menschen bedeutet. Nehmen wir das Feuer, dessen Gebrauch den Menschen wohl den größten, je von ihnen erzielten „Fortschritt“ gebracht hat. Wer in der Annäherung an die lodernde oder nur noch glimmende Glut nicht in der Lage war, sein Leben zu schützen, bekam es augenblicklich zu spüren. Wer es aber verstand – in Wertschätzung seines Lebens – behutsam mit den Flammen umzugehen, der überlebte und konnte sich völlig neue Formen seines Daseins erschließen. Doch wie schätzt der Mensch heute das Erreichte ein, wenn er an die Feuersbrünste oder die Zerstörungskraft der Feuerwaffen denkt oder das
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Selbstvernichtungspotenzial der durch den Einsatz des Feuers allererst ermöglichten Zivilisation? Der Wert der Gegenwart steht immer in Frage; eindeutig ist hier nichts. Und mit Blick auf die Zukunft kann es niemals mehr als Mutmaßungen geben. Wer hier mit Gewissheiten zu überzeugen sucht, dem ist nicht zu trauen. Wer aber, aus welchen Gründen auch immer, auf sie baut, wird mehr oder weniger rasch zu den Enttäuschten gehören, die beteuern, dass sie nicht gewusst haben, dass es kommen werde. Und so, wie es gekommen ist, hat es niemand gewollt. Auch die besten historischen Prognosen können scheitern, und alle, die der Geschichte eine bestimmte Richtung geben wollten, sind blamiert. Wie kann man hier überhaupt zu festen Absichten und zu gemeinsamen Handlungen kommen? Nur, indem man betont, was zum menschlichen Selbstverständnis gehört und was im Interesse der Menschen nicht aufgegeben werden darf! Denn das ist es, was den Menschen als Menschen ausmacht. Dazu braucht man einen Konservatismus des menschlichen Selbstbegriffs und die Progressivität des Vertrauens auf die menschlichen Kräfte überhaupt. Die Dialektik liegt hier schon im Ausgangspunkt: Auf individueller Freiheit und personaler Würde zu bestehen, ist eine Haltung, die Menschen seit mehr als zweitausend Jahren zu zeigen in der Lage sind. Sie waren schon damals konservativ im besten Sinn des Wortes. Sobald sie aber auf Freiheit und Würde bestanden und beides auch gegen Widerstände behaupteten, wurden sie progressiv! Sokrates und Cicero sind hier die ersten Exempel. Wem immer es gelingt, gegenüber der Macht der Staaten und der Kirchen, gegen die Zwänge der Wirtschaft und der Technik oder gegen die Trends in Meinungen und Moden am Konservatismus der althergebrachten Humanität festzuhalten, der wird sich als progressiv verstehen müssen.
Feuer über Innsbruck Von Marie-Luisa Frick Eine erste Gelegenheit, meinen Assoziationen zum Begriff „konservativ“ nachzuspüren, wozu mich Michael Kühnlein auf einer Tagung eingeladen hatte, bot sich mir unmittelbar danach auf dem Rückflug nach Innsbruck. Es ist immer eine gute Idee, dachte ich, an einem Buch mitzuwirken, das man selbst gerne lesen würde, doch was kann ich in redlicher Weise dazu sagen? Wie halte ich es selbst mit dem fraglichen Begriff ? Verwende ich ihn einheitlich? Abwertend? Verwende ich ihn überhaupt, macht er Sinn? Was bezeichnet er eigentlich? Typische Fragen, die sich in Philosophenhirnen auftun, wenn sie sich anstellen, trübe Wasser zu klären, in denen Sprache und Welt, Idee und Praxis, Sein und Sollen in ihrem jeweiligen Verhältnis selbst zum Problem werden. Ich wollte diese Fragen in kommenden Tagen auf die Schultern nehmen und sehen, wie sie sich unter alltäglichen Eindrücken, geistigen Ein- und Ausfällen, weiterentwickeln. So lange musste ich nicht warten. Vom Fensterplatz aus erspähte ich anfangs vereinzelte und schließlich sich auf Bergflanken und Gipfelgraten verdichtende Feuerzeichen, einmal in Form eines Herzens, dann eines Kreuzes. Schnell kombiniert: Wir sind bereits im Tiroler Luftraum, denn dies sind die „Herz-Jesu“-Feuer. Seit 1796 werden sie jährlich in Gesamttirol am 29. Juni entzündet, seit das Land Tirol sich in Kriegsgefahr, wie es in den Geschichtsbüchern heißt, dem „heiligsten Herzen Jesu“ anvertraute. Wer Traditionen über zweihundert Jahre lebt, bewahrt damit etwas, er ist dem Wortlaut nach „konservativ“. Aber macht einen Menschen das Konservativ-Sein in einer spezifischen Hinsicht schon zu einem Konservativen, das heißt zu einem Typus Menschen, der sich grundsätzlich durch diese Beschreibung erfassen und in seinem Handeln und Denken erklären lässt? Und würden sich die Hüter der Feuer unter mir selbst als „konservativ“ bezeichnen? Was denkt etwa eine „progressive“ Großstädterin, wenn man ihr diesen Brauch auseinandersetzt? ,Wie Religion doch verblöde‘,
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oder: ,Um Himmels willen, die unsinnige Luftverschmutzung!‘ Und waren es nicht die Franzosen damals, gegen die zu kämpfen die Tiroler im Begriffe waren, also gegen die Armeen der Aufklärung und des Fortschritts? Vielleicht fehlt mir ja die Distanz, gestand ich ein, als das Flugzeug in das Inntal einbog und die Pracht der Feuermuster auf der Nordkette ihren Höhepunkt erreichte, zusammen mit einem, naja, erhebenden Gefühl in mir. Im inneren Dialog, den ich über die Landung hinaus fortführte, einigte ich mich schließlich, froh darüber zu sein, dass der damalige feudalkatholische Mief nicht bewahrt wurde. Schon beim Eintreffen in meiner Wohnung und dem ersten Schluck Bier auf dem Balkon, von welchem aus sich die Bergfeuer weiter gut bestaunen ließen, kamen mir Zweifel an diesem Zwischenfazit. Ist der Wunsch, seine Unabhängigkeit gegenüber fremden Mächten zu bewahren, denn so abwegig? Und war denn nicht die Französische Revolution in ihrem zehnjährigen Verlauf selbst Beispiel dafür, dass die bewahrenden Haltungen so eigentümliche Sorge um die tatsächliche Überlegenheit des Neuen manchmal Weisheit in sich tragen? Dass Fortschritt nicht an sich erstrebenswert, sondern nur anhand konkret ausgewiesener Endzwecke ebenso wie anhand der zu ihrer Verfolgung eingesetzten Mittel bewertet werden kann? Dass Freiheit, wie es Edmund Burke in der Urschrift des politischen Konservatismus, seinen Reflections on the Revolution in France (1790) ausdrückt, erst dann gefeiert werden kann, wenn wir wissen, was die Menschen, die sie beanspruchen, damit anstellen? Mit großer Verve als erste auf Burke repliziert hat Mary Wollstonecraft. Die damals noch weitgehend unbekannte Vordenkerin der Gleichberechtigung von Mann und Frau hielt Burkes Ansichten für mutlos, für eine billige Apologie einer unhaltbaren Ordnung. Als Wollstonecraft ins revolutionäre Paris reiste, hatte sie Gelegenheit, Burkes konservative Sorge im vollen Farbspektrum selbst erfahrener Gewissheiten zu besehen. Ihre Abscheu gegenüber dem Terror, ihre Flucht aus Frankreich nach über zwei Jahren und das Schicksal vieler Freunde ließen Wollstonecraft zum Schluss kommen: Die Menschen in Frankreich seien nicht reif, sich selbst zu regieren. Es ist dieser Ur-Gegensatz zwischen euphorischen Zukunftsvisionen und optimistischen Menschenbildern auf der einen und einer vorsichtigen Annäherung an das „Bessere“ bei nüchterner Einschätzung menschlicher
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Möglichkeiten auf der anderen Seite, welcher seit der Kontroverse um die Nachahmenswürdigkeit der Französischen Revolution politische Debatten bis heute durchzieht. Es ist nicht der Gegensatz von konservativ und progressiv im Allerweltssinne, denn in der einen oder anderen Hinsicht und unter Zugrundelegung verschiedenartiger Strebensziele sind wir alle Bewahrenwollende und Voranschreitende: Die eine bewahrt ihre Bräuche, der andere schützt seine Umwelt, die eine Familie bewahrt ihren Glauben, die andre ihren Nicht-Glauben, und alle bewahren wir Erinnerungen und Geheimnisse und setzen dennoch neue Schritte, mehr oder weniger enthusiastisch, auf den Pfaden eines Lebens, das nur durch die Fähigkeit zu Neubeginnen, so erklärt es Hannah Arendt, und damit gerade nicht durch eine Verabsolutierung der Autorität des Bisherigen ein wahres menschliches Leben, ein freies Leben ist. Burke ist kein Epigone des politischen Konservatismus, weil er sein Land in dessen damaliger Verfassungsordnung erhalten wollte, sondern weil er das Königreich Großbritannien vor dem „Zeitgeist“, dem republikanischen Weg, bewahren wollte. Politischer Konservatismus ist re-aktionär, egal, welchen Inhalts, weil er etwas bewahrt im Wissen um und in Ablehnung jener Alternativen, die Menschen, die sich fortschrittlich oder modern nennen, anempfehlen oder durchzusetzen sich bemühen. Er ist in dieser Sicht ein Haltungskonservatismus: Haltungskonservative streben danach, etwas zu bewahren, das andere überwinden, abschaffen, aufheben möchten. Sie nehmen Haltung ein, denn sie spüren Gegenwind. Ihr Konservatismus ist weder Folklore noch Gewohnheit, er ist antagonistisch. Nicht überraschend für moderne Gesellschaften, die auch Koexistenz verschiedener Kulturen und Religionen ermöglichen, können wir heute eine Vielzahl von Haltungskonservatismen ausmachen, auch sich widerstreitende: Menschen, die unter Druck gesetzte Errungenschaften der 68er-Bewegung erhalten wollen über jene, die das sich entchristlichende Abendland schützen möchten bis zu jenen, die ihre traditionelle Religion vor westlichen Einflüssen zu bewahren trachten. Einige der größten politischen Konflikte westlicher Gesellschaften sind mit der Pluralisierung haltungskonservativer Lager verständlich. Das lässt zugleich befürchten, sollten die Bedürfnisse zu bewahren unter anwachsendem „progressiven“ Druck der jeweiligen Gegenseiten dringlicher werden, dass diese Konflikte sich radikalisieren. Wenn das, was man vor den anderen zu bewahren
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strebt, zu stark mit sich selbst identifiziert wird, werden die (vermeintlichen) Angriffe auf das zu Bewahrende stets eine existenzielle Dimension erlangen. Viele Beispiele aktueller politischer Gewalt fallen in dieses Schema. Haltungskonservatismen sind weder gut noch schlecht, es sei denn, man unterlegt bereits parteiliche Prämissen. Durch welche Gründe sie jeweils an Berechtigung verlieren und zu bloßer Sturheit werden oder gar in Dummheit übergehen, ist keine bloße Sachfrage, sondern immanent politisch. Darüber demokratisch zu streiten, bleibt uns nicht erspart. Die Einsicht, dass es berechtigte konservative Sorge ebenso geben kann wie berechtigten progressiven Tatendrang, sollte jedenfalls motivieren, diese Debatten ernsthaft und möglichst ohne abwertenden Jargon zu führen, der nur im Fortschrittlichen die Tugend verortet. Das Neue ist nicht notwendigerweise dem Alten überlegen, was bewahrt werden will, muss sich bewähren. Das heißt aber auch, es muss (eingehegte) Möglichkeiten der Bewährung geben – selbst für unerhörtes Neues. Methodisch ist damit das Risiko, der Sprung ins Wagnis, dem reflektierten Beharren auf Bewährten immer schon eingeschrieben. Was würden dazu wohl die alten Tiroler sagen …? Lächelnd schließe ich die Balkontüre.
Wegwarte Von Eckhart Nickel Das Duden-Lexikon, Nachschlagewerk des Bibliographischen Instituts in Mannheim, verzeichnet in seiner Taschenbuch-Ausgabe aus meinem Geburtsjahr 1966 unter dem Stichwort „Konservatismus“ folgende Erläuterung: (lat.), (polit.) Anschauung, die am Hergebrachten festhält; Beharrlichkeit. Der Eintrag steht, obgleich lediglich durch alphabetische Abfolge bedingt, sehr beziehungsreich zwischen „Konsequenz“ und „Konservator“. Also zwischen Folgerichtigkeit und einem Beruf, dessen Aufgabe darin besteht, sich fürsorglich und bewahrend um Kulturgüter der Vergangenheit zu kümmern: mit der Erhaltung der Kunstwerke betrauter Beamter in der Denkmalpflege oder im Museum. Wobei hier das Konservative beides befördert, aber auch beides bedarf: Die Folgerichtigkeit hat zur Grundlage, dass es eine Abfolge gibt, ein Ereignis, das Folgen zeitigt und somit nicht nur aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinwächst, sondern auch in die Zukunft ragt. Ein mit der Erhaltung von Kunstwerken betrauter Beamter wiederum sorgt von Staats wegen dafür, Bewahrenswertes aus der Vergangenheit in der Gegenwart am Leben zu erhalten und für die Zukunft zu retten. Darin ist aber auch die Crux des Konservativen angezeigt: Die Frage danach, wer denn nun zu bestimmen habe, und was wert ist, überliefert zu werden. Und eine Art Anachronismus, der im störrischen Wortfeld der „Beharrlichkeit“ enthalten ist: ein Kampf mit der und gegen die Zeit. Denn es geht einerseits um das berühmte Diktum aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Gattopardo, das heute im Angesicht der drohenden Zerstörung der Natur eine zuvor nicht gekannte Präzision und Anschaulichkeit gewonnen hat, aber auch das Paradox des Bewahrens an sich zum Ausdruck bringt: „Wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß sich alles verändert.“ Die Grundannahme des Vorsokratikers Heraklit über das Wesen der Welt, alles sei im Fluss („panta rhei“), bringt es mit sich, anzunehmen, dass es möglich sein muss, Erhaltenswertes diesem Wandel zu entreißen und so für seine eigene Mit- und Nachwelt zu retten.
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Das mögen auf den ersten Blick so unwesentlich scheinende Dinge sein wie ein anderes Stichwort aus jenem Duden-Lexikon unter dem Buchstaben K: der Kurswagen. Welcher junge Mensch von heute weiß noch, dass es sich dabei um einen Eisenbahnwagen handelte, der auf seiner Reise ganz unterschiedlichen Zügen angehängt wurde, um sein Ziel für die Passagiere im Abteil bequem ohne Umsteigen zu erreichen? Er ist aber ebenfalls ein gutes Bild für das Konservative an sich, weil er, um seinem Ziel treu zu bleiben, ganz unterschiedliche Richtungen und Zugläufe annehmen muss, damit er unbeirrt irgendwann da ankommen kann, wo er hin will. Andererseits stellt sich in jedem einzelnen Leben erneut die Aufgabe, herauszufinden, was bewahrt werden sollte. Klassisches Instrument der Erkenntnis hierfür ist und bleibt Erziehung. Das Elternhaus vermittelt als erstes moralisches Weltbild eine Vorstellung davon, wie man sich verhalten sollte, was genau man zu tun und zu lassen habe und warum. Der Katalog beispielhafter Tugenden, der dabei in den ersten Lebensjahren entsteht, entwirft idealiter eine Art gedankliches Gerüst, an dem entlang wir uns bewegen und entwickeln können. Was der Philosoph Odo Marquard unter dem Leitsatz „Zukunft braucht Herkunft“ zusammenfasste, kann so nicht nur vordergründig als privates Bekenntnis zur Familiengeschichte gelesen werden. Es meint auch das Bewusstsein der Kultur, der man entstammt, in unserem Fall die des Abendlandes, und ihrer geistigen Wiege in der griechischen und römischen Antike, den durch sie überlieferten ästhetischen und philosophischen Erkenntnissen, Maximen und Lebensweisheiten. Das Wahre, Schöne und Gute, frei nach Platon zum Beispiel, wie es als Trias und Leitgestirn an der Frankfurter Alten Oper zu lesen ist, die im Dreikaiserjahr 1888 zeitgleich mit dem Gymnasium eingeweiht wurde, dem ich meine humanistische Bildung zu verdanken habe, aber nicht nur. Zu meinem 14. Geburtstag schenkte mir der Vater einen schmalen grünen Band von Fritz Wehrli namens Hauptrichtungen des griechischen Denkens, der bis heute als Kerntext meiner Bibliothek erhalten geblieben ist wie auch die Ausgabe vom Zarathustra, die er mir übereignete. „Zukunft braucht Herkunft“ entwirft in Gedanken aber auch eine Teleologie: die Existenz als Spaziergang auf einem überwachsenen Pfad, den jeder Mensch für sich neu zu gehen hat; ein Gang, der Leitlinien und Zeichen braucht, die ihm die Richtung weisen wie jene unterschätzte blaue Blume (der Romantik?) am Rand, die Wegwarte heißt und im Jahr 2020 den Titel Heilpflanze des Jahres tragen darf. Dass die Gemeine oder Gewöhnliche Wegwarte, wie bereits Paracelsus wusste, der Verdauung zur Seite steht und
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dabei reinigend auf die Haut einwirkt, macht sie schon fast zur symbolischen Begleiterin der Existenz. Sie, die sich beim Dichter Georg Trakl im Wind fröstelnd als Verfallsbotin neigt, hilft uns förmlich, mit dem Leben zurechtzukommen (es zu verdauen), und funktioniert noch dazu als natürliches Straßenschild, dem man als Wegweiser folgen kann. Weil jede Existenz die Stufen aus Giovanni Segantinis Triptychon „Werden-Sein-Vergehen“ durchläuft, ist uns der Dreischritt der Geschichte in umgekehrter Reihenfolge eingeschrieben. Was wird, ist normalerweise die Zukunft, und was vergeht, gehört zur Vergangenheit. Nur das, was ist, bleibt immer Gegenwart. Nur durch sie, die Gegenwart, den Augenblick, den wir zum Verweilen einladen, weil er so schön ist, erfahren wir, was es heißt, beharrlich das Hergebrachte festzuhalten in unseren Anschauungen. So gesehen ist das Konservative letztendlich eine ästhetische Praxis, die sich das Wertvolle aneignet, um es zu bewahren und, als erzieherischen Akt, zu bestimmen, zu benennen und weiterzugeben. Ein Konservatorium der guten Geister sozusagen. Dass es sich dabei um die vornehmste Form der Arbeit handelt, besagt eben jener Spruch Goethes, was man von den Vätern ererbe, müsse man erwerben, um es zu besitzen. Und er dachte dabei gewiss nicht an eine Uhr von Patek Philippe, die einem bekanntlich nie selbst gehört, sondern die man nur für die nächste Generation aufbewahrt. Schon in seiner frühen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ skizziert Friedrich Nietzsche eine Vorstufe seines später im Zarathustra verhandelten Übermenschen: den sogenannten unzeitgemäßen Menschen. Ein Genius, der, wie Lou Andreas-Salomé es zusammenfasste, „allein fähig, von der Gegenwart aus die Vergangenheit als Ganzes zu deuten und damit auch die Zukunft, als fernstes Ganzes, bis in alle Ewigkeit in ihrem Ziel und Sinn zu bestimmen.“ Sein Ziel: „durch die Vergangenheit, der Gegenwart überlegen, die Zukunft bauen“ als Stellvertreter einer neuen Kultur. Das klingt dann doch ganz vielversprechend konservativ.
Die Stunde der Konservativen? Wo man unterscheiden muss Von Hans Maier In allen Dingen konservativ – so verhält sich wohl niemand auf dieser Welt. Auch Dauerprogressivität, unerschütterliches Verliebtsein ins stetig Neue kommt nur selten vor – und wäre wohl auch schwer erträglich. Das Bewährte wirft man nicht leichthin über Bord, es muss nicht alles ständig von vorn beginnen, freuen wir uns ruhig, dass das Rad schon erfunden ist. Freilich: Auch überzeugte Konservative müssen bereit sein, sich vom Nicht-Bewährten, vom Unnützen und Verkehrten zu trennen, wenn es nötig ist – und vor allem sollten sie unterscheiden lernen zwischen dem, was befreiend, und dem, was bedrückend konservativ ist. Bedrückend Konservatives – gibt es so etwas? Und ob es das gibt! Ich nenne nur drei solcher Überlieferungen, die sich speziell in Deutschland ausgebreitet haben: den Gedanken obrigkeitsstaatlicher Betreuung des Bürgers; das Konzept der „defensiven Modernisierung“ der Gesellschaft und die weitverbreitete Auffassung, in der internationalen Politik müsse Freiheit gelegentlich (und nicht so selten!) den Erfordernissen der Ordnung geopfert werden. Kein Zweifel, dass im Betreuungs- und Überwachungsstaat der DDR auch ein Stück deutscher obrigkeitsstaatlicher Tradition fortlebte: jener Geist der behütenden Vorsicht, der Angst vor den Emotionen des „großen Lümmels Volk“, der Hegung der Untertanen im Pferch der Sicherungen und Gebote. „Ich liebe euch doch alle“ – dieser Ausruf des Chef-Überwachers Mielke ist mit Recht zum geflügelten Wort geworden; er kennzeichnet eine ganze Epoche. Verbreitet war lange auch die Illusion, man könne ein Land wirtschaftlich und sozial entwickeln ohne freiheitliche politische Strukturen. „Defensive Modernisierung“ hat Hans-Ulrich Wehler dieses System genannt, das einen Großteil der Regenten mit dem nach Emanzipation strebenden Bürgertum verband. Es war eine bequeme Arbeitsteilung: den einen die Poli-
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tik, den anderen die Wirtschaft; den einen die Kommandohöhen von Militär, Diplomatie, Administration, den anderen die new frontier von Gesellschaft, Ökonomie, Kultur. So kam es symbolisch zu einem Berliner Reichstag, der von der Obrigkeit herablassend „Dem deutschen Volke“ gewidmet wurde. Und auf dem weiten Platz vor dem Reichstag stehen – bis heute! – allein Uniformierte (Moltke, Bismarck, Roon) und nicht ein einziger Parlamentarier; ein offenkundiger Skandal! Am längsten wirkten konservativ-obrigkeitliche Traditionen in der Außenpolitik nach. Ich habe noch die Redensarten in Erinnerung, mit denen eine ganze Anzahl deutscher Politiker, Publizisten, Autoren (nicht alle) 1988/89 die aufständischen Polen abmahnten – und sich im „Verstehen“ der gegen-agierenden Sowjetrussen übten. Glücklicherweise haben sich die kleinen Leute auf der Danziger Werft von den staatsmännischen Zurufen aus dem Westen nicht beeindrucken lassen. Europa verdankt die neu errungene Freiheit dem polnischen Aufbegehren – und keineswegs altkonservativen Staatsräsonlehrern à la Egon Bahr. Was wäre demgegenüber ein aufgeklärter, ein befreiender Konservatismus? Nun, ein solcher hat unsere Obrigkeitstraditionen beiseitegelegt und versucht, an unsere Freiheitsstraditionen anzuknüpfen. Er hat der nationalistischen Abgrenzung nach draußen ebenso abgeschworen wie der zentralistischen Verachtung föderaler Selbstständigkeit im Inneren. Konservative sind dabei, in älteren Phasen unserer Geschichte Freiheitselemente zu entdecken: den gemeinen Mann und seine Geschichte, das Bürgertum der Städte, ja eine spezifisch deutsche Tradition des Naturrechts und der Freiheits- und Menschenrechte. Sie schätzen die Kunst selbstsicherer Bescheidenheit. Und sie bemühen sich um eine Sprache, die behutsam auf die Nachbarn zugeht, sie zu verstehen sucht und um sie wirbt. Neue konservative Positionen und Optionen decken sich selten mit Parteigrenzen. Dass man die Unionsparteien heute vielfach „konservativ“ nennt, während man die SPD dem Gegenspektrum zurechnet, ist ein zwar üblicher, aber dennoch schiefer Sprachgebrauch. Nach dem Krieg war die CDU/CSU mit ihren Optionen für Marktwirtschaft, Westintegration, europäische Einigung eine höchst moderne Partei. Die SPD verharrte bis zum Godesberger Programm auf „konservativen“ Positionen: Nationalstaat, Planwirtschaft, weitgehende Ablehnung der europäischen Integration. Seither geht der Wettstreit um „konservative“ wie um „progressive“ Positionen quer durch das ganze Parteienfeld. Konservative Ideen sind auch
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in andere Parteien eingesickert. So ist der ökologische Konservatismus der Grünen die jüngste Spielart der vielgesichtigen konservativen Tradition. Eine bewahrende, erhaltende Absicht liegt allem Konservatismus zugrunde. Aber was man erhalten will, wie man es erhalten will, ob gegen die Zeit oder mit ihr, ob in starrer Verteidigung oder beweglicher Anpassung – das macht die Unterschiede der verschiedenen Strömungen und Schulen aus. So müssen sich Konservative – und gerade sie! – bemühen, redlich Bilanz zu machen, Altes und Neues im Licht der Erfahrungen zu prüfen und immer wieder die Spreu vom Weizen zu trennen.
Konservatismus heißt: Verpflichtung auf das Neue. Traditionen wirken nicht aus der Vergangenheit. Sondern? Von Bazon Brock Die Moderne ist kein Epochen-, sondern ein Strukturbegriff. Deswegen ist die Auseinandersetzung um den Anspruch auf Modernität in unserer Region mehr als 2500 Jahre alt. Sprichwörtlich ist die querelle des anciens et des modernes, der Streit der Neuerer mit den Traditionalisten, aus dem Frankreich des 17. Jahrhunderts. Damals wurden die Katholiken, die sich nicht den Jesuiten unterwerfen wollten, unter dem Eindruck der unabweisbaren Neuigkeit lutherischer Gnadenlehre genötigt, sich auf einen Mann 1200 Jahre vor Luther zu berufen. Unter dem Druck der lutherischen neuen Gnadenlehre wandten sich die katholischen Geister so weit in ihre eigene Geschichte zurück, bis sie in der Lehre von Augustin einen Aspekt der vermeintlich neuen Gnadenlehre entdeckten, der es ihnen ermöglichte, gegen Luther katholischen Kurs zu halten. Besonders im 20. Jahrhundert wurde unter der Führung des kapitalistischen Entwicklungspostulats jeder Mensch in jeder Branche auf das Neue verpflichtet. „Neophilie“ oder „Neuheitensucht“ kennzeichnete das Wesen von Modernität. Aber wenn etwas wirklich neu ist, kann es noch keine Bestimmung haben, sonst wäre es ja nicht neu. Neuheit ist also ein leeres Passepartout, eine Begriffsschablone, die durch den Gebrauch des Neuen erst gefüllt werden muss. Schon unsere Haushunde, geschweige denn wir, zeigen die grundsätzlichen Einstellungen gegenüber den Zumutungen des unbekannt Neuen. Zunächst wird versucht, es zu zerstören, und wenn das nicht gelingt, es zu leugnen. Der Ikonoklasmus und die Verleugnung dominierten z. B. die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es bedurfte entfalteter Intelligenz, um einen produktiven Umgang mit dem Neuen jenseits von Zerstörung und Leugnung zu etablieren. Von der Unbekanntheit des Neuen, über das man ja nichts sagen kann, weil es unbestimmt neu ist, lässt man sich auf das
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hinleiten, was man sehr gut kennt, nämlich das Alte, das Traditionelle, mit dem man so vertraut ist, dass man es schon gar nicht mehr wahrnimmt oder in Rechnung stellt. Unter dem Druck des Neuen verändert sich wunderbarerweise Blick auf das Alte. Die Funktion der Verpflichtung auf das Neue, Avantgardismus, erfüllt sich darin, neue Traditionen aufzubauen, heißt dem Bekannten und Tradierten Bedeutung abzugewinnen, durch die Vertrautheit gar nicht mehr wahrgenommen worden war.
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Unter dem Druck des Neuen, das nichts als neu ist, verwandeln sich die Traditionen in leistungsfähige Aussagen zu der Gegenwart, in der das Neue hervorgebracht worden war. Die Funktion der Avantgarden ist also, dass bis zum Überdruss abgestandene Traditionelle durch einen völlig neuen Blick auf sie mit Bedeutung aufzuladen, wodurch die Traditionen zur Wirkmacht in der Gegenwart werden. Damit wird Vergangenheit zur Repräsentation und Einflussgröße dessen, was nicht vergeht. Denn verginge es, so hätten wir ja keine Vergangenheit. Durch den Druck des Neuen wird das Vergangene unter den jeweils neuen Konstellationen wirkmächtig, anstatt in den Orkus des ein für allemal Vergangenen, Erledigten, Überwundenen zu verschwinden. Genau dieses Verfahren zur Aktualisierung des Gewesenen, aber nie Vergangenen als Kraft der Gegenwart kennzeichnet den Konservatismus. Daraus erklärt sich, dass die Neuerungspflicht gerade in konservativen Kreisen von Wirtschaft und Gesellschaft so selbstverständlich akzeptiert wird. Der Konservatismus ist also ein Verfahren, die Blindheit und Unbestimmtheit des Abweichungspathos, der Neuigkeitssucht, im Aufbau jeweils neuer Traditionen fruchtbar werden zu lassen. Andere Haltungen, nämlich das Neue in die Zukunft wirken zu lassen und zu deren Bestimmung zu nutzen, sind bekanntlich gescheitert, weil es für die Zukunft eben keine Bestimmungsgrößen gibt, die unter dem Druck des Neuen grundlegend verändert würden. Gäbe es das, würden gerade die programmatischen Neuerer den Blick auf die Zukunft unbestimmt werden lassen und alle bisherigen Zukunftsannahmen sabotieren. Das aber kann ja nicht im Sinne der Neuerer liegen, also bleibt es dabei, dass der Konservatismus der einzig methodisch ausgewiesene Weg ist, vom unbestimmt Neuen positiv Gebrauch zu machen – Ikonoklasmus/Zerstörung oder Leugnung sind eben nicht produktiv. Herrn Schumpeters kindisch dialektische Volte aus dem Dilemma in die „schöpferische Zerstö-
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rung“ wäre, wenn man sie ernst nähme, nichts anderes als der schöpferische Wandel der Traditionen, Korrektur der geläufigen Verfahren, Verlassen der gewohnten Wege. Die herkömmlich übliche beliebige Neuschöpfung der Vergangenheit durch Fälschung der Historie, wie etwa im Stalinismus üblich gewesen, war eben keineswegs schöpferisch, sondern bloß zerstörerisch. Ähnlich kindisch rechtfertigen sich heute Repräsentanten des spekulativen Kapitals; die Zerstörung historisch gewachsener Stadtkerne kann man nicht als schöpferisch propagandistisch rechtfertigen, weil mit der Zerstörung der Bauten und Plätze vor allem das gesellschaftliche Gefüge und der kulturelle Zusammenhalt der Bürger zerschlagen werden. Und wie Böckenförde gezeigt hat, leben der säkulare Staat und seine Gesellschaft von Voraussetzungen in der Kultur der Bewohner, und diese Kultur kann man nicht beliebig programmieren. Alle diese Formen sind zwar irgendwann historisch von Menschen hervorgebracht worden und könnten auch ganz anders ausgesehen haben; sie sind kontingent, d. h. bloß geschichtlich gewachsen, und man kann sie doch nicht ändern. Deshalb bleibt es beim Konservatismus als effektivster Möglichkeit, von der „Neophilie“, von der „Neuerungssucht“, von den Zufallsmutationen guten Gebrauch zu machen, indem man erkennt: Das wahrhaft Neue, das tatsächlich Avantgardistische erfüllt die Aufgabe, das kontingent Geschichtliche stets als aktuelle Produktivkraft zu gewinnen. Den schlagenden Beweis für die Kraft des Avantgardismus als Fähigkeit, die geschichtlichen Kräfte zu aktualisieren, liefert die „moderne Kunst“ des 20. Jahrhunderts. Die skandalösen Neuheiten der Dresdner Brücke-Maler 1905 entgingen dem Volkszorn, dem radikalen Ikonoklasmus erst, als 1908 im Prado in Madrid unter dem Druck der neuen Malerei der Expressionisten das Werk El Grecos mit neuen Augen gesehen wurde. Seit dessen Todesjahr 1614 war das Interesse an ihm vollständig erloschen; ab 1908 wurde El Greco als geradezu unmittelbarer Vorläufer, ja Zeitgenosse der Expressionisten gefeiert. Auch die verständliche, aber falsche Auffassung, El Greco sei ein Visionär gewesen, der vorweggenommen habe, was Anfang des 20. Jahrhunderts die junge Malergeneration begeisterte, ist natürlich Unfug. Erst im Blick der Expressionisten nach rückwärts gewann El Grecos Malerei neue Interessantheit.
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In dieser Perspektive stiftete etwa Picasso eine völlig neue Sicht auf afrikanische Ritualobjekte oder die Handschrift des spanischen FacundasMeisters. Vom Werk Giacomettis her wurde eine neue Kultur zwischen Kreta und Mykene erkennbar, nämlich die der Kykladen. Der Wiener Radikalmodernist Adolf Loos schuf im Alleingang den architektonischen Topos der „nackten weißen Wand“, wie man ihn mit Loos bereits bei Brunelleschi und Palladio formuliert sah, ohne dass das jemandem vor Loos aufgefallen wäre. Zahllos sind die neuen Vergegenwärtigungen historischer Bestände durch den Avantgardismus des 20. Jahrhunderts. Er schuf so viele aktuelle, neue Vergangenheiten, dass die Zahl der Museen und Ausstellungshäuser gegenüber 1900 verzehnfacht werden musste. Die Avantgardekunst hat seit 1900 die Geschichte der Kunst und die der kultischen Artefakte ganz erheblich erweitert und das vermeintlich Veraltete, Zurückgebliebene und Überwundene zu wahrhaft neuer, großer Bedeutung gebracht.
Konservativ ist eine Geisteshaltung für Zukunft Von Dagmar Schipanski In der DDR brauchte ich mir keine Gedanken über Konservatismus zu machen. Da ich Mitglied der evangelischen Kirche war, hatte ich die falsche Weltanschauung. Ich war nicht auf dem Weg des Sozialismus, der in der Ideologie der SED der einzige Weg in eine gute Zukunft für die Menschen war. Ich war mit altem, überholtem Gedankengut dem Glauben an Gott behaftet, und so wurde ich als konservativ, als unbelehrbar, eingeschätzt. Ich stand nicht auf der Seite der Sieger der Geschichte. Ich hielt etwas für bewahrenswert, das andere als Opium für das Volk verachteten. Mit der friedlichen Revolution 1989 erkämpften wir Bürger der ehemaligen DDR die freiheitlich demokratische Ordnung für unser Land, im vereinten Deutschland, in dem ich heute mit Freude lebe. Diese Ordnung beruht auf dem europäischen Wertekanon, der individuelle Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenwürde, Toleranz, das Gleichwertigkeitsprinzip der Menschen und Solidarität als Charakteristika hat. Diese Werte gehen auf das jüdisch-christliche Menschenbild zurück und wurden in der Zeit der Aufklärung als säkulare Prinzipien neu formuliert. Ich will die Freiheit der Gedanken, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Redefreiheit in einer pluralistischen Gesellschaft, die ewige, absolute Wahrheiten nicht kennt, bewahren. Für mich sind diese Wertvorstellungen konservativ und wertvoll, weil viele Menschen in unserer Gesellschaft diese Orientierung für ihr Leben verloren haben. Sie hetzen von Event zu Event, von der Love-Parade zum Rock-Konzert, vom Straßenfest zur Kinopremiere, von der Disco zur Party, sie springen im Netz von Nachricht zu Nachricht, sie beschimpfen sich gegenseitig. Am meisten Aufmerksamkeit erhält, wer gegen Regeln verstößt oder eines der noch vorhandenen Tabus verletzt. Man spricht von einer „Inflation am Wertehimmel“. Alles scheint möglich zu sein, und alles scheint gleiche Gültigkeit beanspruchen zu können. Wenn aber alles möglich ist, ist alles beliebig und nichts mehr selbstverständlich. Und wenn alles gleich gültig ist, ist alles gleichgültig. Dann verwundert es nicht mehr, wenn deutsche
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Jugendliche nicht mehr den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur kennen. Hier müsste ein Aufschrei durch unser Land gehen, aber es ist seltsam still in der Mitte. Linke und Rechte positionieren sich, wobei sich Rechte als konservativ bezeichnen. Diese Bezeichnung ist irreführend, denn konservativ bedeutet Bewahrung unserer europäischen Werte und nicht Gewaltanwendung, Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit und Hassreden, das ist reaktionär. Konservativ bedeutet für mich, ständig zu überdenken, was „bewahrenswert“ ist. Was muss weiterentwickelt werden, was sollte erforscht werden, welche Zusammenhänge sind noch nicht erkannt, welche Erkenntnisse können unser Zusammenleben besser gestalten? Konservativ bedeutet, Probleme aufzuzeigen, aber zugleich an deren Lösung zu arbeiten. So betrachte ich aus konservativer Sicht den Ausstieg aus der Endlagerforschung für Atommüll als Unterlassungssünde gegenüber kommenden Generationen. Man sollte Skepsis nicht zur Ideologie verkommen lassen. So wünsche ich mir aus konservativer Sicht derzeit das Voranbringen der künstlichen Intelligenz, um das Leben global zu verändern. Ich wünsche mir die Lösung der Frage der Energieversorgung ohne ideologische Scheuklappen, das gleiche gilt für Elektromobilität, Ressourcenknappheit, Bewahrung der Umwelt, aber auch für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ich bin der Auffassung, dass wir unsere konservativen Wertevorstellungen nur dann verifizieren können, wenn wir an der Spitze der Forschung stehen. Dann haben wir die Möglichkeit, unsere ethischen Anforderungen global in die Nutzung der wissenschaftlichen Ergebnisse einzubringen. Das ist eine dringende Aufforderung an unsere Wissenschaftler und unsere Gesellschaft. Chancen und Risiken sollten abgewogen werden, um dann Anwendungen für den gesellschaftlichen Fortschritt zu entwickeln. Zum Abschluss möchte ich als Mutter von drei Kindern, die ihr ganzes Leben sowohl als Forscherin auf dem Gebiet der Festkörperelektronik als auch seit 1999 als Politikerin berufstätig war, auf die Bedeutung der Familie aus meiner konservativen Sicht hinweisen. Im Grundgesetz ist der besondere Schutz von Ehe und Familie verankert, das unterstütze ich als Mutter und Politikerin mit ganzer Kraft. Die Familie bildet einen verlässlichen Rahmen, in dem Kinder geboren werden und aufwachsen können. Kinder sind keine Belastung, die an der Selbstverwirklichung hindern. Nein, sie sind Teil unserer Selbstverwirklichung,
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sie sind Bereicherung und Herausforderung für uns. In der Familie kommen Menschen zu allererst mit Wertorientierung in Berührung. Hier erfahren sie zuerst Zuneigung, Liebe, Freiheit und Vertrauen. Die Familie gibt Halt und vermittelt Orientierung. Von Generation zu Generation werden in der Familie die Werte einer Gesellschaft auf ganz natürliche Weise erzeugt. Keine andere Lebensform kann diesen Raum der Erfahrung so unmittelbar eröffnen. Familie ist der Ort, an dem die für die Gesellschaft unerlässliche Verknüpfung von Rechten und Pflichten in den Grundwerten stattfindet. Ehe und Familie bleiben das Zukunftsmodell unserer freiheitlichen Gesellschaft. Das wird bestätigt, wenn junge Menschen bei Umfragen regelmäßig angeben, Ehe und Familie im Lebensplan hohe Priorität einzuräumen. In der Umsetzung treten allerdings offensichtlich Schwierigkeiten auf. Diese Schwierigkeiten liegen nicht nur in individuellem Fehlverhalten begründet. Vielmehr sind gesetzliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, soziale Erwartungen und Strukturen der modernen Gesellschaft mitverantwortlich. Ehe und Familie stehen mit ihren Existenzvoraussetzungen und Wertgrundlagen heute immer öfter im Konflikt mit dominierenden gesellschaftlichen Spielregeln und Wertungen. Deshalb habe ich als konservative Politikerin der Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ich bin für ganztägige Kita-Betreuung und Ganztagsschule. Ich stehe aber auch dafür ein, dass die Verantwortung für die Kindererziehung von beiden Ehepartnern wahrgenommen wird. Eine ausgewogene Bilanz für Familie und Beruf für Vater und Mutter ist eine Forderung für die Zukunft, um den konservativen Wert der Familie zu erhalten und neu zu gestalten. In diesem Sinne heißt für mich Konservativ nach wie vor: „Prüfet alles und bewahret das Gute.“
Merkmale des Konservatismus: Eine Annäherung Von Frank Bösch Im Jahr 2014 wurden rund 100 konservative Personen des öffentlichen Lebens und einige Experten für einen Sammelband gefragt, was sie mit dem Begriff „konservativ“ verbinden. Bezeichnenderweise verzichteten die Herausgeber des Buches auf eine bündelnde Einleitung, vielleicht auch, weil die Antworten meist ebenso vage wie disparat blieben. Viele der als konservativ bezeichneten Autorinnen und Autoren verweisen etwa auf das Bibelzitat Thessalonicher 5,21: „Prüfet aber alles und behaltet das Gute.“ Freilich erklärt dies nicht, was warum als „gut“ bewertet und was behalten wird. Es zeigt aber, dass Konservative religiöse Schriften als Referenzpunkt wählen und sich als kritische Bewahrer inszenieren. Dagegen betont die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten, dass Traditionen gezielt erfunden und eingeführt werden. Wer Konservatismus analysiert, wird gerade dieses „invention of tradition“ (Eric Hobsbawm / Terence Ranger) betrachten müssen und wie dies dann zum konservativen Erbe transformiert wird. Entsprechend ist es nicht hinreichend, den Begriff „konservativ“ nur mit „traditionell“ und „bewahrend“ zu übersetzen. Zudem geht es Konservativen um spezifische Traditionen – und etwa nicht um das Bewahren der DDR-Vergangenheit, starker Gewerkschaften oder hoher Steuerquoten. Eine inhaltliche Präzisierung fällt deshalb schwer, weil der Konservatismus bewusst von theoretischen und programmatischen Selbstverortungen absah und absieht. Vielmehr sind gerade die Abneigung gegenüber planenden Programmatiken und Debatten sowie die Betonung der pragmatischen Entscheidungen von Individuen auf Basis von scheinbar überzeitlichen Werten Merkmale des Konservatismus. Konservative betonen, unpolitisch zu sein und bezeichnen die Linke als ideologisch. Diese Politik des scheinbar Unpolitischen ist freilich selbst Teil einer Ideologie, auch wenn diese etwa auf traditionelle Werte verweist.
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Zudem ist der Begriff „konservativ“ stets relational zu verstehen, also als Abgrenzung zu anderen Strömungen wie dem Liberalismus und Sozialismus. Auch die konkreten Positionen von Konservativen wechseln somit rasant und sind abhängig von der Einordnung zu ihrem ideologischen Gegenüber. Waren Konservative etwa bis in die 1960er Jahre gegen die Gleichstellung von Frauen, so akzeptieren sie heute gleiche Rechte, akzentuieren aber weiterhin die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Deshalb bedarf es einer Definition, die über Epochenschwellen hinweg sowohl für Konservative des 19. Jahrhunderts wie für die Gegenwart gilt. Erschwerend kommt schließlich hinzu, dass Definitionen oft auf nationaler Ebene oder zumindest im westlichen Kulturkreis gesucht werden. Vielfach referieren sie entsprechend auf christliche Werte. In einer global vernetzten Welt ist Derartiges unbefriedigend. Denn konservativ können auch Menschen im islamischen Raum oder buddhistisch geprägten Teil Ostasiens sein, und deren Parteien werden zumindest in der Fremdwahrnehmung oft als solche tituliert. Konservativ zu sein, ist zudem vor allem in Deutschland nach 1945 nur noch selten eine Selbstzuschreibung. Selbst der rechte Flügel der Christdemokraten benutzte den Begriff kaum, ganz im Unterschied zu den britischen Tories. Konservatismus ist damit zunehmend eine Fremdzuschreibung geworden, die oft polemisch abwertend gemeint ist. Auch dies erschwert Definitionen. Dennoch ein Vorschlag zur Eingrenzung: Sowohl aus Diskursen von konservativ bezeichneten Menschen als auch aus den Außenbeschreibungen lassen sich zeitlich und regional übergreifende Merkmale ermitteln. Dabei kann man drei weltanschauliche Elemente ausmachen, die regionalund epochenübergreifend als „konservativ“ bezeichnete Werthaltungen charakterisieren. Dazu zählt erstens ihre Hochschätzung religiös begründeter Werte und Bräuche. Dabei ist nicht der Glaube entscheidend, sondern dass unter Bezug auf religiöse Traditionen oder den Glauben Handlungsmaximen für den Staat und die Gesellschaft abgeleitet werden – vom „christlichen Abendland“ bis hin zu direkten Verweisen auf die Bibel oder den Koran. Diese fehlende Trennung zwischen individuellem Glauben an transzendente Annahmen und wissenschaftlichen Erkenntnissen oder säkularen Staatsvorstellungen verbindet evangelikale Konservative in den USA mit islamischen Fundamentalisten. In den zunehmend säkularen Regionen Europas verliert der Glaube an Bedeutung. Entscheidend ist jedoch, dass viele Konservative sich auf das Erbe der Religion bei der poli-
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tischen Gestaltung der Welt berufen – selbst wenn sie selbst nicht mehr die Kirchen besuchen. Ein zweites Merkmal von Konservativen ist ihre starke Verbundenheit mit der engeren und weiteren Lebenswelt, aus der sie eine Überlegenheit der eigenen sozialen Gruppe ableiten; sei es die Identifikation mit der eigenen Nation oder Region und der Glaube an deren Überlegenheit, sei es der Glaube an die Überlegenheit von bestimmten Abstammungen, Rassen oder Berufsgruppen. Entsprechend stehen Konservative Gleichheitspostulaten und einem grenzenlosen Internationalismus skeptischer gegenüber, erst recht offenen Grenzen. In bestimmten historischen Phasen konnte dies mit einem offenen Rassismus einhergehen (wie etwa dem Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), in anderen nur mit der kritischen Betonung von kultureller Differenz. Drittens bevorzugen Konservative als Gesellschaftsentwurf eine eher elitär geführte Gemeinschaft und grenzen sich von einer umfassenden gesellschaftlichen Demokratisierung mit weitreichenden Freiheiten, Gleichheit und Mitbestimmungsmöglichkeiten ab. Dies heißt nicht, dass Konservative stets anti-demokratisch sind. Aber das Ausmaß der angestrebten Partizipation und Gleichheit auch innerhalb der eigenen Bevölkerung unterscheidet sich deutlich vom Liberalismus und Sozialismus, ebenso die Bereitschaft, offene Kontroversen und programmatische Debatten zu führen. Stattdessen dominiert eine Sehnsucht nach Einheit und Harmonie. Die konkrete Ausfüllung dieser drei Merkmale variierte in den letzten Jahrhunderten. Diese Definition ermöglicht es aber dennoch, konservative Gruppen in unterschiedlichen Ländern und Epochen präziser zu beschreiben und zu vergleichen. Konservatismus als Lebenswelt: Konservative leben von einer Abgrenzung von der radikalen Linken. Lange war der Anti-Kommunismus ein entscheidendes Bindeglied, dann die angebliche Dominanz der Neuen Linken, vulgo: der „68er“. Neuerdings hat die Abgrenzung vom Islam dies ergänzt, obgleich viele gläubige Muslime fast alle Werte der westlichen Konservativen teilen – sei es zur Stellung von Frauen und Familie, zur Sexualität oder bei der Betonung des Glaubens. Aber während die Linke den Internationalismus preist, stehen Konservative in nationaler und vor allem interkultureller Konkurrenz. Allerdings greift es viel zu kurz, Konservatismus vor allem ideologisch zu fassen. Genau wie bei der Linken oder im grün-alternativen Milieu ist
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der Konservatismus vor allem auch mit einem bestimmten Lebensstil verbunden. Konservatismus ist, mit Bourdieu gesprochen, durch gar nicht so feine Unterschiede im Geschmack gekennzeichnet, was sich im Alltag abgrenzend zeigt. Kleidung, Wohnungsgestaltung und die Form des Auftretens formen ein konservatives Milieu, das sich mitunter in distinkten Stadtteilen niederschlägt, ebenso wie bestimmte Hobbies oder Orte, die bevorzugt aufgesucht werden. Wertvorstellungen zeigen sich vielleicht am deutlichsten in bestimmten gelebten Praktiken, die abgrenzen sollen: Von der Frisur bis hin zu Möbeln, die Ordnung und Tradition akzentuieren, bei Hobbys, die Stärke und soziale Distinktion ausstrahlen (vom Schützenverein bis zum Reitsport) oder bei bevorzugten Berufsfeldern, die stärker statusorientiert sind oder traditionelle Rollen betonen. Die Sozialwissenschaft ging lange von der Auflösung bestimmter Milieus aus. Derzeit scheinen sich politisch-kulturelle Gruppen jedoch wieder neu lebensweltlich zu formieren.
Klassischer Konservatismus und Antisemitismus Von Micha Brumlik Der erste bedeutende Premierminister der britischen Konservativen, Benjamin Disraeli, späterer Earl of Beaconsfield, war jüdischer Herkunft. 1804 als Sohn einer sephardisch-jüdischen Familie geboren, wurde er im Alter von dreizehn Jahren anglikanisch getauft. Nach einer wendungsreichen politischen Karriere 1874 zum Premier gewählt, wurde Disraeli gleichwohl immer wieder ob seiner Herkunft antisemitisch angegriffen, obwohl er doch selbst von der Überlegenheit der weißen Rasse überzeugt war. Wie also stand es um das Verhältnis der britischen Konservativen zum Antisemitismus, vor allem aber: Welche Haltung nahm ihr geistiger Begründer, Edmund Burke (1729 – 1797), dessen Buch Betrachtungen über die Französische Revolution (1790) als ein Klassiker der konservativen Gegenrevolution gilt, gegenüber Juden und Judentum ein? Üblicherweise gilt Burke nicht als Antisemit, indes: Erst kürzlich wollte der in Chicago lehrende und forschende Historiker David Nirenberg in seinem 2018 erschienenen Buch Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens nachweisen, dass wesentliche Strömungen „westlichen“ Denkens schon im Ansatz judenfeindlich gewesen sind – eben auch der moderne, mit Edmund Burke einsetzende Konservatismus. Bekanntlich wollte Burke (in dieser und nur in dieser Hinsicht ein Vorläufer Hannah Arendts) zeigen, dass Menschenrechte, sofern sie weniger als die Rechte eines Bürgers eines realen Staates sind, ihren Namen nicht verdienen. Auf jeden Fall war Edmund Burke einer der schärfsten zeitgenössischen Kritiker der Französischen Revolution. „Wir müssen deshalb fragen“, so Nirenberg, „warum verstand – oder zumindest, warum kritisierte – Burke die Revolution in solchen jüdischen Begriffen?“ Tatsächlich hatte Edmund Burke die Prediger der Französischen Revolution als „schmutzige Geldmakler“ (im Original: „Jew brokers“) beschrieben, die – im Unterschied zu früheren Revolutionsführern,
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allesamt „Männer von großen politischen und großen militärischen Talenten“ – nun miteinander darüber „weitteiferten, wer das Elend und den Verfall, worin sie ihr Vaterland durch verderblich Ratschläge gestürzt hatten, mit falscher Münze und nichtswürdigen Papieren am besten würde heilen können“. Nirenbergs Kritik, die Burke des Antisemitismus zeiht, verwundert deshalb, weil dieser Autor in seiner quellengesättigten „anderen Geschichte des westlichen Denkens“ ansonsten darauf besteht, strikt zwischen „Antijudaismus“ und modernem Rassen-Antisemitismus zu unterscheiden. Aber wie dem auch sei: Sucht man nach belastbaren Zitaten bei Burke, wird man – bis auf die eben zitierte Stelle in den Betrachtungen – nicht übermäßig fündig; allerdings heißt es in einem Brief Burkes an ein Mitglied der Nationalversammlung über die Juden, dass zwar überwiegend in London angesehene und respektable Persönlichkeiten anzutreffen seien, aber nichtsdestotrotz die große Mehrheit des jüdischen Volks aus Einbrechern, Hehlern und Fälschern bestehe – mehr, „als man bequem hängen könnte“. Einige Zeitgenossen meinten gar, dass hier Burke in seinen Überlegungen eine bewusste Verschmelzung von Familie, Land, Leute, Loyalität und Religion vornehme, die schlussendlich die Frage aufwerfe, ob Juden überhaupt loyale Untertanen werden können. Tatsächlich kritisierte Burke an anderer Stelle die Misshandlung von Juden während der Amerikanischen Revolution – indes: Ein näherer Blick auf Burkes Betrachtungen hilft, die vermeintliche Widersprüchlichkeit ( jedenfalls zum Teil) aufzulösen. So erwähnt Burke im ersten Kapitel seines epochemachenden Buchs, dass am 4. November des Jahres 1793 „Doktor Price, ein ausgezeichneter nonkonformistischer Geistlicher in einem Versammlungshaus der Dissenters in der Old Jewry vor seinem Club oder seiner Gemeinde eine höchst merkwürdige, buntscheckige Rede“ hielt. Tatsächlich fand – immerhin im Bethause der Old Jewry, wohl einer Synagoge – an diesem 4. November eine Gedächtnisfeier statt, in der der Revolution von 1688 gedacht wurde, jener Revolution, die der Herrschaft der Stuarts ein Ende und dem Hause Oranien den Weg bereitete. Allerdings war das Bethaus der Old Jewry keine Synagoge, sondern ein Andachtsraum der presbyterianischen Kirche. Tatsächlich wurden die Juden 1290 des Landes verwiesen und erst wieder mit Cromwells Revolution im Jahre 1656 zugelassen. Damit ist jedenfalls geklärt, dass es sich
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1793 nicht um eine Versammlung von Juden, die mit der Französischen Revolution sympathisierten, handelte. Tatsächlich bestand die jüdische Bevölkerung Londons in jener Zeit vor allem aus sogenannten Marranos, aus in hispanischen Ländern verfolgten Scheinchristen, die die neue Liberalität des englischen Staates dankbar aufnahmen. So heißt es in der Jewish Virtual Library: „The congregation was continually reinforced by fresh Marrano refugees from Spain and Portugal. After the accession of William of Orange (1689), there was a considerable influx of Spanish and Portuguese Jews from Holland. The majority of the communal magnates at this time were brokers, importers, and wholesale merchants, with a sprinkling of physicians. In the course of the reorganization of the Royal Exchange in 1697, it was arranged to admit 12 Jews – the so-called ,Jew brokers‘ who remained a feature of the City of London until the beginning of the 19th century. To secure the favor of the lord mayor, a purse containing 50 guineas was presented to him each year on a valuable piece of plate by the elders of the congregation.“ Juden spielten also als Händler und Ärzte eine herausragende Rolle und wurden schnell zum Inbegriff der Londoner Börse. Darauf bezieht sich die antisemitisch wirkende Passage Burkes über die Führer früherer (wohl englischer) Revolutionen, die eben nicht wie Juden gewesen seien; wobei man sich fragt, wen – genauer: welche französischen Revolutionäre – Burke im Sinn gehabt haben mag, als er schrieb, dass frühere Revolutionsführer nicht wie Juden gewesen seien, die miteinander zusammensteckten, um sich durch betrügerische Machenschaften und Geldtransfers selbst zu bereichern. Abgesehen davon zeigt sich aber an Burkes Ambivalenz in der Judenfrage, dass schon der klassische englische Konservatismus ein Vorläufer dessen war, was später in der Balfour Deklaration des Jahres 1917 zum Ausdruck kam: ein im besten Sinne menschenfreundlicher Philosemitismus, der schließlich – mutatis mutandis – im Zionismus seinen Ausdruck fand. Wie sagte doch Burke in einer parlamentarischen Debatte? „If Britons were so injured, Britons have armies and laws to fly to for the protection and justice. But the Jews have no such power and no such friend to depend upon. Humanity then must become their protector.“ Das ist deshalb erstaunlich, weil doch Edmund Burke, dem viel später Hannah Arendt voller Überzeugung zustimmte, ein massiver Kritiker der Menschenrechte war. Wenn also nach Burke allein die Menschlichkeit der
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Beschützer und Freund der Juden sein konnte, so zeigt sich darin die Überzeugung, dass sich Menschlichkeit alleine im Nationalstaat manifestiert. Das mag eine Konstante konservativen Denkens sein: – auch, bei allen Widersprüchen und Inkonsistenzen, in unserer Gegenwart.
Konservatismus als ästhetische Essenz und menschliches Grundbedürfnis Von Jens Hacke Die Frage danach, was konservativ ist, wird zu jeder Zeit wieder neu gestellt, und die Antworten variieren beträchtlich. Das hängt damit zusammen, dass im Zentrum konservativer Ideologie eine Leerstelle bleibt. Während der Liberale sich auf die Freiheit beruft und der Sozialist die Gleichheit zum Ziel der Politik erhebt, ist das Wertegerüst des Konservativen variabel. Religion, Institutionen, Hierarchie, Ordnung, Tradition oder Heimat galten lange als Orientierungsbegriffe für ein konservatives Denken. Aber unser Verständnis von Konservatismus scheint sich schleichend gewandelt zu haben. Während bis vor einiger Zeit (im Anschluss an die Rechts-Links-Debatten der alten Post-68er-Bundesrepublik) „konservativ“ ein überwiegend pejorativ gebrauchter Begriff war, dem die historische Verantwortung für den Nationalsozialismus, Antiliberalismus und Demokratieferne gebührte, ist der heutige Wortgebrauch weitgehend entideologisiert. Auch Grüne wie Winfried Kretschmann nehmen natürlicherweise für sich in Anspruch, konservativ zu sein und greifen damit auf positive Gehalte des Konservatismus zurück. Konservatismus darf man also inzwischen mit bestimmten demokratietauglichen Tugenden verbinden: Skepsis, Common Sense, eine gewisse Vorsicht, Maßhalten. Konservativ zu denken, heißt dann, anthropologische Grundbedürfnisse nach Halt und Geborgenheit in einer Welt des beschleunigten Fortschritts anzuerkennen sowie gleichzeitig in behutsamer Weise die ökologischen Lebensgrundlagen des Menschen zu wahren und zu achten. Zum politischen Mainstream gehört mittlerweile ein verfassungspatriotischer Normalkonservatismus, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung schützt. All dies zeigt, dass der Konservatismusbegriff vor allem relational zu verstehen ist: Man muss angeben, was man konservieren möchte, und dies positiv begründen.
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Die alte Unterscheidung zwischen struktur- und wertkonservativ gewinnt damit neue Brisanz, wie die sichtbare und wichtige ökologische Dimension des Konservatismusbegriffs anzeigt. Um wirklich wertkonservativ zu handeln, müssen wir uns aus strukturellen Zwängen der Konsumgesellschaft befreien und verdeutlichen, dass ein komplexer Freiheitsbegriff und der Anspruch des „guten Lebens“ ein radikales Umdenken verlangt. Ich möchte aber diesen politischen Streit um den Konservatismusbegriff einmal beiseitelassen, um auf eine nachhaltige ästhetische Komponente aufmerksam zu machen. Während dem Reaktionär und Altkonservativen immer vorgeworfen wurde, sich nach einem goldenen Zeitalter zurückzusehnen und gewissermaßen auf verlorenem Posten zu stehen, läuft der Vergeblichkeitsvorbehalt mit Blick auf Kunst, Literatur oder Musik ins Leere. Ihr Antrieb kann darin liegen, vergangene Welten auf eigene und intensive Weise zu vergegenwärtigen, Untergangenes wieder in Erinnerung zu rufen und die eigene Herkunft sehnsuchtsvoll zu beschwören, ohne dass damit eine politische Botschaft verbunden sein muss. Große Literatur, die ja zumeist in Vergangenheiten ihre Themen sucht, legt es ja darauf an, durch ästhetische Mittel „verlorene Zeit“ erlebbar zu machen. So hat Vladimir Nabokov in Erinnerung sprich die Memorialanstrengung zum Programm erhoben und derart sensualisiert, dass nicht nur die Sehnsucht nach der glücklichen Kindheit, sondern auch die Trauer um das vergangene vorrevolutionäre Russland durch jede Zeile schimmert, ohne dass dies mit einer politischen Aussage verknüpft ist. Das Ringen um Vergegenwärtigungstechniken des Vergangenen hat von Proust bis Joyce unbestreitbar die großen innovativen Romane der klassischen Moderne hervorgebracht. Gerade die Vergeblichkeit der tatsächlichen Wiederbelebung und die Trauer um Unwiederbringliches werden hier zum Motor der literarischen Innovation. Besonders markant war diese Verlebendigung historischer Welten in den großen Ideenromanen der 1920/30er Jahre, die das untergegangene Habsburger Reich wiedererweckten und in seinen Aporien und Möglichkeitsräumen ausloteten, ohne sich auf politische Optionen festzulegen. Joseph Roths Radetzkymarsch und Kapuzinergruft, Herman Brochs Schlafwandler-Trilogie sowie Robert Musils Mann ohne Eigenschaften zählen dazu und liefern Selbstvergewisserungsanstrengungen im Rahmen beschleunigter Fortschrittserfahrung.
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Traditionssuche, historische Gegenwelten, vergangene Zukünfte, aber auch die Konfrontation mit dem Elend, den Härten und Ungerechtigkeiten abgelebter Epochen schärfen den Sinn für die Pluralität des Geschichtlichen. Die Kenntnis der Historie ermöglicht insofern erst die selbstbewusste Kreation von etwas Neuem, das immer aus Variationen des Angeeigneten oder reflektierter Absetzung von der eigenen Herkunft besteht. Der Künstler kann (und muss vielleicht) gleichzeitig Archivar und Innovator sein. Kaum jemand hat aus dieser Spannungslage so viel Kapital geschlagen wie der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2016: „Take good care of your memories/for you cannot relive them“, wusste bereits der 26jährige Bob Dylan, dessen Rolle als Reformator der Popmusik häufig allein seinem entschlossenen Avantgardismus zugeschrieben worden ist. Aber Dylan selbst hat immer deutlich gemacht, dass der Imaginationsraum seiner Lyrik und Musik vor allem aus den Quellen der Vergangenheit schöpft, ja zu einem guten Teil die Anverwandlung und mitunter auch direkte Übernahme literarischer und musikalischer Vorbilder beinhaltet. Die Folk-Tradition stattete ihn mit einem Fundus an Songs und Melodien aus, die er sich durch nimmermüde Arbeit aneignete; Blues, Country und die Popmusik der 1940/50er Jahre versorgten ihn mit einem musikalischen Repertoire; die Bibel, die antike Dichtung, William „Willy the Shake“ Shakespeare oder Dante und ein eklektizistisch erschlossenes Universum moderner Lyrik lieferten ihm das unerschöpfliche poetische Reservoir, das er für eigene Kreationen plünderte. Für Bob Dylan war die Hinwendung zur Vergangenheit stets ein sicheres Mittel, Orientierungskrisen zu überwinden und schließlich gestärkt mit neuen Werken aufzuwarten. Als 18 – 19jähriger fand er in Woody Guthrie das Vorbild fürs eigene folkbasierte Songwriting; nachdem er Rock und Folk unter dem Eindruck der Beat-Dichter fusioniert hatte und zum Superstar geworden war, regenerierte er sich mit seiner Band im legendären Woodstock-Basement von Big Pink, um die Mythen der Americana-Musik auszuloten. Sein kreatives Comeback als grantelnder Deuter einer apokalyptischen Gegenwart am Ende der 1990er Jahre leitete er mit zwei Cover-Alben obskurer Blues- und Folksongs über Outlaws und Verlierer ein. Der Mittsechziger inszenierte sich im Stile der Nachkriegszeit als Radiomoderator, der in hundert einstündigen Episoden seiner „Theme Time Radio Hour“ das glorreiche Amerika seiner Kindheit wieder auferstehen ließ. Dylans Memoirenband Chronicles, aber auch seine fünf Alben mit Liedern, die Frank Sinatra berühmt gemacht hat, illustrieren diese Be-
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schwörung der Vergangenheit ebenso wie seine Never Ending Tour, die seit nunmehr 31 Jahren nimmermüder Konzertaktivität auf die Spontaneität des Augenblicks setzt – sich dabei freilich auf die mit ihm alternden und dadurch immer wandelbaren Songs seines Œuvres setzt. Mittlerweile feiert ihn sein treues Publikum als Inkarnation des Authentischen und Hüter verloren geglaubter Tradition – und sehnt sich mit ihm in die eigene Jugend zurück. Der allgemein menschliche Wunsch, Vergangenes festzuhalten und in frühere Welten einzutauchen, deutet auf das Universalisierungspotenzial einer konservativen Haltung hin, die sich auch in normalen Alltagspraxen äußert. Wir neigen dazu, beklagte Entfremdungsphänomene zu kompensieren, um uns sinnliche Erlebnisse in normalen Tätigkeiten zu verschaffen. Mit den iPad kommt es zur Renaissance von Füllfederhalter und Notizbuch, mit den E-Bikes werden Vintage-Fahrräder wieder schick; das Musik-Streaming befördert die Wiederentdeckung der Vinyl-Schallplatte, die Urbanisierung wird von neuer Landlust begleitet. In diesen zufällig angeführten Phänomenen zeigt sich die Präsenz eines konservativen Bedürfnisses, das weit über politische Orientierungen hinausreicht und jedem Einzelnen die Freiheit überlässt, sich in bestimmten Lebensbereichen konservativ zu verhalten. Wie es aussieht, können wir gar nicht ohne Konservatismus existieren.
Kephalos ist so ein Langweiler! Von Barbara Zehnpfennig Schon sehr früh wusste ich, dass ich niemals eine bürgerliche Existenz führen wollte. Dieses kleine Leben: Familie gründen, ein Haus bauen, der Zaun um den eigenen Garten, die frühzeitige Vorsorge für die Rente – all das war der Inbegriff des Schreckens. Das Leben sollte schon größer angelegt sein; statt ängstlicher Bewahrung des eigenen Besitzes sollte es etwas viel Kühneres sein. Nachdem sich der erste Berufswunsch, nämlich Vampir zu werden, mangels entsprechenden Wachstums der Eckzähne als nicht realisierbar erwiesen hatte, faszinierte mich die Vorstellung, als Freiheitskämpfer mit der Knarre in der Hand durch den bolivianischen Busch zu robben. Dass man mit der Knarre dann wohl Menschen töten müsste, floss allerdings nicht in die Überlegung ein. Schließlich war es das Abenteuer „Wissenschaft“, das sich als die adäquate Lebensform erwies. Das Abenteuer bestand dabei nicht darin, als Philosoph keinen Job zu bekommen, sondern sich in ungeahnte geistige Welten begeben zu können, vom Studierzimmer aus fernste geistige Kontinente durchmessen und Schätze finden zu können, die das ganze Leben aus den Angeln heben würden. Letzteres geschah tatsächlich. Es war schmerzlich und erhebend, furchterregend und großartig, frühere Gewissheiten über Bord zu werfen und noch einmal ganz neu anzufangen, ohne vorher sicher sein zu können, einmal das rettende Ufer zu erreichen. Das bürgerliche, um das „conservare“ kreisende Leben war nun umso unverständlicher. Wie konnte man sich damit zufriedengeben, da die Welt doch so viel Größeres bereithielt! Doch das Verstehen wuchs durch die Begegnung mit Kephalos. In der Figur des Kephalos hat Platon auf geniale Weise und mit wenigen Strichen die gesamte bürgerliche Existenz charakterisiert – ihr Selbstverständnis, ihr Wertesystem, ihre innere Brüchigkeit. Kephalos, jener mit sich selbst zufriedene alte Kaufmann, der im ersten Buch der Politeia den Reigen der sokratischen Gesprächspartner eröffnet, steht für das konservative Bürger-
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tum schlechthin. Er hat sich in seinem Leben wohlig eingerichtet, denn er ist der Überzeugung, mit seiner Position des „Maßhaltens“ richtig und anständig gelebt zu haben. Selbstzweifel sind ihm fremd. Am Ende seines Lebens blickt er vielmehr mit großem Gefallen auf das Erreichte und Getane zurück und hegt auch im Hinblick auf ein mögliches Jüngstes Gericht keinerlei Befürchtungen. Was hat seine Existenz so gut sein lassen, dass er mit Wohlgefallen auf sie zurücksieht? Anders als seine Altersgenossen klagt er nicht über die Beschwernisse des Älterwerdens, sondern sieht im Älterwerden eine Befreiung von körperlichem Getriebensein. Er präsentiert sich als Herr seiner Lebensumstände, nicht als deren Knecht. Doch die Nachfrage des Sokrates zeigt: Ohne seinen Reichtum würde Kephalos nicht so souverän auf das Alter reagieren. Nicht nur die Einstellung, sondern auch die materiellen Bedingungen spielen offenbar eine wichtige Rolle. Aber auch sie, erläutert Kephalos, müssen mit der richtigen Einstellung betrachtet werden: Für ihn besteht der vernünftige Umgang mit dem Reichtum darin, Erhaltenes zurückzuerstatten, Göttern und Menschen wiederzugeben, was er von ihnen empfangen hat. Das Bewahrende dieses Ansatzes liegt auf der Hand: Kephalos ist um Ausgleich, um ein Gleichgewichtssystem bemüht. Er gibt, was er bekommen hat. Oder gibt er, um zu bekommen? Das Berechnende des Kaufmanns wird allzu schnell offenbar: In allem, was Kephalos wohlanständig vorlebt, das Maßhalten im Besitz, die Verlässlichkeit als Vertragspartner, die getreue Erfüllung religiöser Pflichten, geschieht nur um der eigenen Person willen. Sein Leben ist Ergebnis eines Kosten-Nutzen-Kalküls. Er will Ruhe und Ordnung unter seinesgleichen, unter denen, die zurückgeben können. Und auch mit den Göttern will er seinen Frieden – man weiß ja nie, sicher ist sicher. Wie es mit seiner Liebe zum Geistigen bestellt ist, nachdem er die Überlegenheit der Einstellung gegenüber den materiellen Umständen so betont hatte, erweist sich ebenfalls ganz rasch. Sokrates weist ihn darauf hin, dass man mit einem bloß mechanischen Zurückgeben des Empfangenen unter Umständen auch Schaden anrichten kann, wenn man beispielsweise einem Rasenden die geliehene Waffe zurückgibt. Prompt sucht Kephalos das Weite. Er ist nicht willens, seinen Standpunkt zu verteidigen, er meidet den Kampf, und sei es bloß den der Rede. Das rundet das Bild ab. Konservatives Besitzbürgertum ist nicht kämpferisch.
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In Kephalos bündelt sich also alles, was man, wie mir immer schien, verachten kann. Eine kleinliche Selbstsorge, ein berechnender Umgang mit dem anderen, das Kreisen um den Besitz, ein geistiges Ideal bzw. Bildungsideal, das hochgehalten wird, aber letztlich unverbindlich bleibt, ein Ruhe- und Ordnungsbedürfnis, das mit mangelndem Kampfeswillen einhergeht. Noch nicht einmal für die eigene Lebensform ist dieses Dasein zum kämpferischen Einsatz bereit. Dies Leben präsentiert sich also als saturiert, langweilig, selbstbezüglich. So weit, so gut. Dass das aber vielleicht doch noch nicht alles ist, wurde mir erst später bewusst – als ich die Verwüstungen wahrnahm, die eine Gesellschaftsordnung hervorrufen kann, welche sich die Vernichtung des Bürgertums auf die Fahnen geschrieben hat. Das war das Programm der beiden totalitären Systeme, des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Gelungen ist es nur dem Kommunismus, vielleicht, weil er länger dafür Zeit hatte. Das Bürgertum ist langweilig und bremst alles aus, das stimmt. Aber es ist damit eben auch ein Garant der Mitte, ein Gegengewicht gegen einen radikalen gesellschaftlichen Umbau, gegen ideologische Radikalisierung. Das Bürgertum hat mit seinem Begriff von Anstand, Manieren und dem, was an Verhaltensweisen zulässig ist, auch im direkt zwischenmenschlichen Bereich etwas Mäßigendes. Es hält zumindest einen Rest an Respekt hoch, den man sich wechselseitig entgegenbringen sollte. Selbst wenn das Motiv dahinter nicht besonders beeindruckend ist, wenn es nur das eigene Ordnungsbedürfnis ist, das damit befriedigt werden soll, ist es doch viel schlimmer, wenn all das fehlt, was einen zivilisierten Umgang miteinander ausmacht. Die gewollte Proletarisierung in den kommunistischen Systemen hat Menschen ohne Maß und Ziel, ohne Verhaltensorientierung und ohne Bindung hervorgebracht. Die einzige Orientierung, die sich dann noch ohne allzu große Mühe finden lässt, ist die am Materiellen. In puncto Materialismus wird das Bürgertum damit weit übertroffen. Der bürgerliche Konservatismus mit seinem Sekuritätsdenken, seinem Festhalten-Wollen am Status quo, hat immer dann seine Berechtigung, wenn der Status quo besser ist als das, wodurch man ihn ersetzen will. Und das ist eigentlich meistens der Fall. Als persönliches Lebensideal ist mir das des Bürgers nach wie vor suspekt. Doch als gesellschaftliche Wirk-
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lichkeit weiß ich es inzwischen zu schätzen. Wenn es wie bei den totalitären Systemen um Experimente am lebenden Menschen geht, dann ist das „Keine Experimente!“ allemal vorzuziehen.
Die lebenskluge Mitte bewahren Von Jens Spahn Es ist verlockend, eine komplexe Sache mit einem einzigen Wort zu beschreiben. Doch meistens trifft es das nicht. Wir sollten auch das Label „konservativ“ als das sehen, was es ist: eine drastische Verkürzung. Kein Mensch, keine Partei, keine Einstellung ist nur konservativ. Höchstens auch. Ich bin Christdemokrat. Als solcher denke ich freiheitlich und sozial, ökonomisch und ökologisch, europäisch und national. Ich will manches bewahren und manches verändern. Ich komme aus einer kleinen Stadt im Münsterland, bin Katholik und vor 24 Jahren in die Junge Union eingetreten. Heute bin ich der einzige Sozialminister der Union und mit meinem Mann verheiratet. Land, katholisch, CDU: Meine Geschichte wollen einige sicher gern mit dem Label „konservativ“ versehen. Ich hingegen nehme sie vor allem als einen Beleg dafür, was für ein modernes, freies und lebenswertes Land Deutschland in den letzten zwanzig, dreißig Jahren geworden ist. An dieser Entwicklung hatten Menschen und Parteien ihren Anteil, die sich selbst nie konservativ nennen würden. Aber sie hatten ihn bei weitem nicht allein. Ländliche, katholisch geprägte und von der Union regierte Regionen haben diesen Wandel mitgestaltet. Oft, ohne eine große Sache daraus zu machen. Ganz selbstverständlich, aus einer Position der lebensklugen Mitte heraus. Zwar finden es manche immer noch schick, so zu tun, als seien diese Bürger irgendwie rückwärtsgewandt, gegen Freiheit und Gleichberechtigung, Homosexuelle und Einwanderer. Aber das ist Unsinn. Die Schriftstellerin Thea Dorn hat es kürzlich treffend so formuliert: „Klüger wäre es, Bürger mit eher traditionellen Wertvorstellungen nicht als Geisterfahrer zu deklarieren, sondern davon auszugehen, dass auch sie Richtung Zukunft fahren, dabei allerdings für ein Tempolimit plädieren.“
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Die große Mehrheit der Deutschen schätzt und lebt Freiheit, Modernität und Offenheit. Sie weiß zugleich, dass die Wertschätzung von Familie und Heimat dem nicht entgegensteht – genauso wenig wie der Sinn für gesellschaftliche Regeln und Zusammenhalt. Im Gegenteil. Diese lebenskluge Mitte ist der wahre Garant dafür, dass Deutschland heute so frei, modern und lebenswert ist. Doch wird das auch in zehn, zwanzig Jahren noch so sein? Denn die lebenskluge Mitte wird heute immer öfter attackiert. Es sind wieder Ideologien auf dem Vormarsch, die den Bürgern genau vorschreiben wollen, was gut und richtig ist. Machtphantasien kehren zurück, zum Beispiel die Idee von Enteignungen. Es soll Essens-, Fortbewegungs- und ganze moralisch-korrekte Lebenspläne geben. Es ist der Beginn eines in der Geschichte schon oft gescheiterten Versuchs, einen vermeintlich besseren Menschen zu schaffen. Ich halte das für gefährlich. „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt es nicht“, hat Konrad Adenauer gesagt. Das ist für mich Kern von christlich-demokratischer Überzeugung. Denn Freiheit endet da, wo der Staat für das Glück der Bürger sorgen soll. Es geht ihn nichts an, was seine Bürger denken oder wie sie ihr Leben gestalten. Seine Aufgabe ist, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass darin ein freies Leben möglich ist. Damit jeder nach seiner Fasson selig werde – unter klaren Spielregeln und mit Achtung und Respekt voreinander. Natürlich kann und sollte man von selbstbestimmten Bürgern erwarten, Verantwortung zu übernehmen – in der Nachbarschaft, in den Kommunen, in den Parlamenten. Aber ich werde skeptisch, wenn jemand, der mehrfach pro Jahr fliegt und seinen Kamin genießt, Mitbürgern vorwirft, einen Diesel zu fahren oder Fleisch im Supermarkt zu kaufen. Ein politisierter Moralwettbewerb wird zu gesellschaftlichen Spaltungen führen. Denn niemand kann den mit Verve vorgetragenen Moralvorstellungen vollumfänglich gerecht werden. Auch die Vortragenden nicht. Das wird zwangsläufig eine Geschichte des Scheiterns sein. In den letzten Jahren sind die öffentlichen Debatten unerbittlicher geworden. Es gibt nicht nur Widerspruch, den muss in einer demokratischen Gesellschaft jeder ertragen; sondern es gibt auch die persönliche Herabsetzung anderer, die Forderung nach einem Äußerungsverbot oder gezielte Denunziationen beim Arbeitgeber. Derlei Angriffe kommen nicht mehr
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nur von Extremisten. Sie nehmen in einem Milieu zu, das sich eigentlich als besonders fortschrittlich und tolerant versteht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat es so beschrieben: „Wir erleben eine Dauerempörung, eine sozial-moralische Rage, mit der Gruppen einander die Existenz streitig machen.“ Das ist kein Randphänomen. Wer Twitter verfolgt, kann jeden Tag sehen, wie schauerlich ein Teil der gesellschaftspolitischen Elite dieses Landes miteinander umgeht. Es ist das Resultat einer übereifrigen, politisierten Moral: Wer meine vermeintlich hohen Ansprüche verletzt, dem schulde ich keine Zurückhaltung mehr – einen ernsthaften Austausch schon gar nicht. Dabei ist die offene und faire Debatte der Sauerstoff der Demokratie. Dazu gehört, dem anderen nicht reflexhaft Bösartigkeit zu unterstellen, sondern zunächst davon auszugehen, dass er oder sie nicht jede Grundlage von Humanität und Ethik untergraben will; auch mal in Betracht zu ziehen, dass mein Gegenüber Recht haben könnte. Wer das nicht tut, dem geht schnell ganz der Kompass verloren. Nehmen wir das Beispiel, wie abfällig heute einige von „alten weißen Männern“ reden. Oft Menschen, die sonst durchaus dafür eintreten, dass niemand aufgrund von Hautfarbe oder Geschlecht diskriminiert werden soll. Aber für „alte weiße Männer“ zählt das nicht. Dabei muss gelten: Eine Abwertung, die auf der Hautfarbe basiert, ist falsch, egal, wen es trifft. Und was wäre das für eine Gesellschaft, in der „alt“ zu einem Schimpfwort wird? Was wir brauchen ist ein gesellschaftliches Wir-Gefühl, das solche Kategorien überwindet. Gerade weil unsere Gesellschaft vielfältiger wird. Wie sollen Solidarität und Integration sonst funktionieren? Wir reden in Deutschland zu viel darüber, was uns trennt und zu wenig darüber, was uns als Bürger alle eint. Ein moderner Patriotismus grenzt nicht aus, sondern lädt zum Mitmachen ein. Wir können gemeinsam stolz auf unsere freiheitlichen Werte, unseren Wohlstand, unsere Traditionen und die vielen erfolgreichen Einwanderungsgeschichten sein. Dazu gehört, dass wir unsere Werte entschieden verteidigen. Es darf kein Entgegenkommen aus einer falsch verstandenen Toleranz herausgeben. Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Rechte von Schwulen und Lesben, die Trennung von Religion und Staat, die Wertschätzung von Bildung, Leistung und Solidarität: Wir müssen für unsere Werte immer eintreten, egal, ob sie ein linker, rechter oder religiöser Extremist in
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Frage stellt. Ein politischer, reaktionär-frauenfeindlicher Islam ist mit der freiheitlichen Gesellschaft nicht vereinbar. Sozialismus und Beglückungsphantasien sind es nicht, genauso wenig wie aggressiver Nationalismus und Stammbaumanalysen. Die lebenskluge Mitte ist das Bollwerk dagegen. Sie weiß, dass Regeln nicht nur dann gelten können, wenn es passt. Dass Leistung belohnt werden muss, und Solidarität durch sie überhaupt erst möglich wird. Dass Wohlstand und Nachhaltigkeit nur gemeinsam funktionieren. Dass Humanität und Konsequenz zusammengehören. Sie weiß: Unser Nationalstaat ist nicht historisch überholt. Unsere Institutionen verdienen es, geachtet und unterstützt zu werden. Das europäische Projekt ist ein Glücksfall für uns. Sie pflegt ihre Kultur und ist gleichzeitig offen für Neues. Diese lebenskluge Mitte gilt es zu bewahren. Da nehme ich eine Verkürzung gerne in Kauf. Denn im Sinne des lateinischen Ursprungs „conservare“ bin ich in diesem Fall tatsächlich ganz konservativ.
Konservativ auf Benediktinisch Von Notker Wolf OSB Ein Mitbruder meines Klosters sagte mir einmal etwas aufgebracht: „Dieses Kloster ist auch nicht mehr das, in das ich einmal eingetreten bin!“ „Seien Sie froh, sonst wäre es ein Friedhof,“ war meine lakonische Antwort. Wenn eine Institution als „konservativ“ bezeichnet werden kann, dann sind es wir Benediktiner. Wir leben seit gut 1400 Jahren nach derselben Regel Benedikts von Nursia und das heute weltweit. Dabei sind wir gar keine zentral geleitete Institution, auch wenn wir als „Benediktinerorden“ bezeichnet werden, sondern einfach klösterliche Gemeinschaften, die nach derselben Regel leben, in einer großen geschichtlichen und kulturellen Vielfalt. Und doch merkt man, wenn man in ein Benediktinerkloster kommt, überall denselben „Stallgeruch“. Im Mittelalter haben sich Klöster zu lockeren Verbänden, zu sogenannten „Kongregationen“ zusammengeschlossen. 1893 hat Papst Leo XIII. dann die „Benediktinerkonföderation“, die Föderation der Kongregationen, gebildet, mit einem auf Zeit gewählten Abtprimas als oberstem Repräsentanten, der aber keine Rechtsbefugnisse hat, weder über Klöster noch Kongregationen. Die Bindung an dieselbe Regel hält uns zusammen, aber Benedikt weist den Abt an, alles im rechten Maß den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Der Abt ist kein Herrscher, sondern ein Diener, ein Moderator. Vor allem ist er nicht allein das Kloster, sondern bei allen wichtigen Fragen rufe er alle Brüder zusammen, und zwar alle, „weil Gott oft den Jüngeren eingibt, was das Bessere ist“. Darin liegt die Wandlungsfähigkeit. Die Jungen bringen die Mentalität ihrer Generation ein. Denn eine Gemeinschaft muss überleben und soll von der eigenen Hände Arbeit leben, und das sieht immer wieder anders aus. Gerade die treue Bindung an eine Regel ermöglicht den Wandel. Das gibt einem Kloster die lebendige Gestalt. Es gibt natürlich sehr unterschiedliche Auslegungen der gemeinsamen Regel. Es gibt Klöster, die
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heute noch fast buchstabengetreu die Regel des 6. Jahrhunderts leben, besonders im französisch-sprachigen Bereich, andere, die sich nicht einfach dem jeweiligen Zeitgeist anpassen, aber doch ihre Verortung in der jeweiligen Zeit und Kultur suchen. Das Wichtigste ist das Leben einer Gemeinschaft: die gute Pflege der Liturgie, die Zeit für die mitbrüderlichen Beziehungen und eine solide Arbeit. Dann macht ihr Leben einen Sinn und bereitet Freude. Das ist es, was auch junge Menschen immer wieder anzieht. Die Tradition trägt uns, aber wir sind keine Traditionalisten. Die Tradition wird weitergeschrieben, so wie ein mittelständisches Unternehmen seine Identität über längere Zeiten bewahrt und sich trotzdem weiterentwickelt. Bei uns ist es eben ein sehr langer Zeitraum. Die Klöster haben ihre Geschichte fortgeschrieben. Das Kloster St. Paul vor den Mauern in Rom ist 1300 Jahre alt und lebt immer noch, gerade weil es seine benediktinische Identität bewahrt hat. Andere Klöster haben 1200 Jahre überdauert, nicht selten mit Unterbrechungen, die von politischen Wirren oder Kriegen ausgelöst wurden. Viele Klöster wurden staatlicherseits aufgehoben, wie in England oder Frankreich und in Deutschland nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1802/1803. Viele blieben Ruinen bis zum heutigen Tag, aber immer regte sich wieder neues Leben, Mönche und Nonnen, die wieder an die alten Stätten zurückkehrten. Ein beredtes Beispiel ist die Abtei Ligugé, die 361 von Martin von Tours gegründet wurde. 732 wurde das Kloster von den Arabern zerstört und erst 1003 von Benediktinermönchen wiederbesiedelt. Im Hundertjährigen Krieg wurde das Kloster 1379 weitgehend zerstört und erst 120 Jahre später wieder aufgebaut. In der Französischen Revolution wurde das Kloster verkauft. 1853 kamen Mönche aus Solesmes und begannen erneut klösterliches Leben, bis 1901 alle Benediktiner aus Frankreich ausgewiesen wurden. 1923 kehrten die Mönche wieder zurück. „Succisa virescit – abgehauen grünt der Baum erneut“, lautet der Wappenspruch des von Benedikt um 529 gegründeten Klosters Montecassino. Wie sehr sich die Mentalität der Klöster ändert, zeigt sich an den Baustilen, von den karolingischen Bauten über die Romanik, Gotik, Renaissance zu den großartigen Barockanlagen. Das 19. Jahrhundert griff auf die Gotik zurück und setzte neugotische Kirchen und Klöster in die Landschaft. Die modernen Bauten sind eher im schlichten, funktionalen Stil gehalten. Die historischen Gebäude werden saniert und gepflegt. Allerdings sollen sie auch dem Leben der Gemeinschaften dienen, und da
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kann es zu Auseinandersetzungen mit den Denkmalsbehörden kommen, die nur das Alte konservieren wollen. Die Benediktiner haben aber schon gebaut und umgestaltet, lange bevor es Denkmalsämter gab. In Rom kommt noch die auf totale Konservierung ausgerichtete Archäologie dazu. Rom wird heute immer mehr zu einem Museum, während die Stadt in den 60er Jahren noch den Charme des organisch Gewachsenen ausstrahlte. Früher wurden archäologische Fundstücke und Säulen einfach in die Häuser integriert, sie wurden sozusagen „recycelt“, heute wird alles musealisiert, für unveränderlich erklärt. Archäologen und Denkmalspfleger sorgen sich um Steine, klösterliche Gemeinschaften um Menschen, und Menschen ändern sich. Benediktinisch ist die Offenheit für die Vergangenheit, für die Bewahrung des kulturellen Erbes, und gleichzeitig Offenheit für die Gegenwart und Zukunft. Das hat sich besonders in der Barockzeit gezeigt. Gotische Kirchen wurden barockisiert, wenn nicht gar durch barocke Bauten ersetzt. Künstler der damaligen Zeit hatten Gelegenheit, sich zu entfalten. Wäre das heute noch denkbar? Weil alles konserviert werden muss, haben Innovationen weder Chance noch Raum. Tradition im benediktinischen Sinn ist kein konservatives Festhalten am Vergangenen, womöglich in romantischer Verklärung und Idealisierung, sondern ein organisches Wachstum auf den Prinzipien der Regel Benedikts. Es ist ein Ausgestalten in der jeweiligen Zeit und Kultur. Wenn die USA oder Europa die Idee der Demokratie in andere Länder weiter vermitteln wollen, wird die Demokratie immer anders aussehen, mal autokratischer, mal liberaler. In Ländern, in denen Familienclans herrschen, wird es eines langsamen Übergangsprozesses bedürfen: Hinführung zu freien Wahlen und zur Beachtung von Menschen- und Frauenrechten, ohne die Ansprüche der Clans ganz einzuschränken. Sonst frisst die Revolution ihre Kinder. Es werden einfach neue Machtpotentaten an die Spitze kommen, die alles andere im Sinn haben als eine freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie. Selbst die Demokratie bei uns wird einer ständigen Pflege bedürfen, damit ihre Prinzipien bei allem Wandel nicht vernachlässigt werden. Bei den Benediktinern bedarf es dazu einer guten Führung und der Mitsprache und Mitverantwortung aller, bei einem demokratischen Staat ebenso. Die demokratische Bildung und der ständige politische und gesellschaftliche Diskurs machen das eigentlich konservative Fundament der Demokratie aus. Dann wird die Demokratie eine Zukunft haben.
Konservatismus nach seinem politischen Ende Von Bernd Irlenborn Es gibt Begriffe, die semantisch nur schwer zu beherrschen sind. Wie bei einem Palimpsest werden ihre Bedeutungen immer wieder verändert – erweitert oder überschrieben – und dabei neu kodifiziert. Der Begriff des Konservativen ist ein solches Wort. Hundert Miniaturen dazu dürften hundert unterschiedliche Konturierungen des Konservativen ergeben. Diese Unschärfe erklärt sich vor allem aus der verwickelten Ideengeschichte des Konservativen mit ihren überlappenden Bedeutungsschichten. Jeder neue Bestimmungsversuch des Konservativen tendiert ohne Kenntnis dieser Schichten stipulativ oder willkürlich zu werden. Konservatives Denken entstammt ideengeschichtlich einer Bewegung der frühen Neuzeit, die als politischer Konservatismus bezeichnet wird. Sozialhistorischen Studien zufolge bildet sich dieser Konservatismus im vorrevolutionären französischen Adel im Zuge seiner Kritik an der zentralistischen Herrschaftsform und absolutistischen Souveränitätsvorstellung heraus. Der aristokratische Protest zielt in unterschiedlichen Strömungen auf die Bewahrung der ständischen Bürgergesellschaft, die Verteidigung naturrechtlicher Traditionen oder die Ablehnung eines antireligiös ausgerichteten Rationalismus und Individualismus. Dieser Konservatismus wird in der Folgezeit vor allem in der Kritik an der Französischen Revolution durch politische Denker wie Edmund Burke und Joseph de Maistre greifbar. Im 19. Jahrhundert schließlich lagern sich in Deutschland durch eine antiliberalistische und später antisozialistische Profilierung des Konservativen neue Bedeutungsschichten auf den Begriff des Konservatismus und veränderten ihn nachhaltig bis hinein in das 20. Jahrhundert. Mit den abweichenden Reaktionen konservativer Kräfte auf die nationalsozialistische Machtergreifung, die von der Kollaboration bis zum Widerstand reichten, fragmentiert sich die noch verbliebene Abgrenzungsdynamik des politischen Konservatismus und versiegt dann allmählich in einzelnen Parteiprogrammen der Nachkriegsära.
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Die Erosion des politischen Konservatismus hatte freilich tiefere Ursachen. Im Hintergrund des vorrevolutionären Konservatismus stand unausgesprochen noch die Annahme einer von Gott als creator, gubernator et conservator mundi vorgegebenen gestuften Schöpfungsordnung, die der Mensch erkennen kann und bewahren muss vor traditionsnegierenden, egalitaristischen und antireligiösen Umbrüchen. Auch wenn diese Annahme spätestens in der Revolutionszeit in die Krise gekommen war, blieb die konservative Verteidigung der gegliederten politischen Ordnung gegen liberalistische und sozialistische Umbrüche noch eine säkulare Filiation des theologischen Ordo-Konzepts. Mit der Entzauberung des Gottesgedankens in den Katastrophenerfahrungen des letzten Jahrhunderts wurde diese Verbindungslinie gekappt und das ontologische Ordnungsmodell des politischen Konservatismus seiner Grundlage beraubt. Nach dessen Ende sind nur noch singuläre und relative konservative Einstellungen möglich, die unabhängig von politischen Ausrichtungen in ganz unterschiedlichen Lagern vorzufinden sind ! etwa als konservativer Sozialist, Christ oder Literat. Das Konservative zeigt sich nur noch als individuelle Disposition und nicht länger als kollektive Sammelbewegung. Konservativ ist immer zunächst der Einzelne, der Versprengte, der Nonkonformist. Was kann man aus diesen ideengeschichtlichen Skizzen lernen? Ist eine semantische Schnittmenge in den Bedeutungsschichten zu erkennen, die für eine Sondierung, was das Konservative heute idealtypisch noch bedeuten kann, aufschlussreich ist? Naiv wäre fraglos ein Begriff des Konservativen, der einzig das Verharren und nicht auch das Verwandeln betonte. Ein Grundzug des Konservativen findet sich in allen historischen Schichten und Ausprägungen: der spezifische Bezug zur Zeitlichkeit. Um dies näher zu verstehen, muss man fragen, was heute als Gegenbegriff zum Konservativen dienen kann. Nach dem Ende des politischen Konservatismus wird das sicherlich nicht mehr das Liberale oder Sozialistische sein. Es ist das Progressive und dessen kontrastiver Bezug zur Zeitlichkeit. In der Verhältnisbestimmung zwischen Altem und Neuem orientiert sich der Konservative primär an der Vergangenheit, um notwendige und unvermeidbare Reformen der Gegenwart in Gang zu bringen. Dabei steht auch die Zukunft im Fokus; sie wird aber nicht wie im Progressiven als zu beherrschendes Verwirklichungsfeld für Ideen oder Theorien, sondern als offener Entwicklungsraum für das Zusammenspiel von gebotener
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Innovation und der Unverfügbarkeit des Geschichtlichen verstanden. Diskontinuität gibt es für den Konservativen allein in der Kontinuität, begründet durch vorsichtige Ableitung aus bewährten Prinzipien. Dagegen orientiert sich der Progressive primär an der Zukunft, um notwendige Reformen der Gegenwart umzusetzen. In der Verhältnisbestimmung zwischen Altem und Neuem kommt auch die Vergangenheit in den Blick, entweder als Legitimationsgrundlage für die umzusetzenden Änderungen oder als Asservatenkammer noch brauchbarer oder schon erledigter politischer Theorien. Kontinuität gibt es für den Progressiven allein in der Diskontinuität, begründet durch den Bedarf von Reformen und Revolutionen zur Optimierung der misslichen conditio humana. Die zeitliche Ausrichtung kann sowohl für das Konservative als auch für das Progressive in eine ideologische Extremform umschlagen. Das Konservative ohne Bezug zur Zukunft mutiert zum Restaurativen oder Reaktionären; das Progressive ohne Bezug zur Vergangenheit verliert sich ins Utopische ! auf der einen Seite eine geschichtsidealisierende Restauration, auf der anderen Seite ein geschichtsnegierender Utopismus. In den westlichen Demokratien verweisen die Zeichen der Zeit immer stärker auf die Progressivität als die Normalform der Lebensorientierung, der gegenüber alle konservativen Haltungen rückständig erscheinen und begründungspflichtig sind, da sie den Fortschrittsoptimismus vermeintlich verschmähen. Darin kann man ein weiteres Indiz erkennen, dass der theonome Ordnungsgedanke verblasst ist. Das Planen, Machen und Lenken des geschichtlichen Voranschreitens ist gänzlich zur Aufgabe des Menschen geworden. Hat das Konservative dann überhaupt noch eine Zukunft, falls es nicht zum Progressiven konvertiert? Diese Frage sollte ein konservatives Bewusstsein im Wissen um die eigene Wandlungsfähigkeit nicht in Verlegenheit bringen. Wenn es die Konvention zum Progressiven gibt, wird es auch ein konservativ Progressives geben. Zudem könnte zukünftig noch deutlicher werden, dass die Bewahrung der Welt vor allzu fortschrittlichen Machbarkeitsfantasien eine neue Form und Semantik des Konservatismus erfordert. Sicherlich wird das conservare mundi als letztes Erbstück des alten Ordnungsmodells ein so notwendiger wie unaufgebbarer Konservatismus aller Progressiven bleiben. Insofern dürften Konservative gegenüber der Versuchung zur Konversion wohl bei ihrer konservativen Haltung bleiben und weiterhin ihre Ausgesetztheit pflegen.
Selbstumzäunung in Mitbewegung Von Diana Kinnert Der Mensch von heute ist stetigen Umgebungswechseln unterworfen. Die gelebte Wirklichkeit ist tausendgeteilt. Simultan bewegen wir uns durch das Schützenfest in der Heimat, die Investitionsüberlegungen in Kryptowährungen, das hedonistische Lebensgefühl des Urbanen, die Bilder von lose gestrandeten Rettungswesten an den Mittelmeerküsten, das Fauchen angstgetriebener neuer Populismus-Allianzen. Durch jedes Fenster in die Welt hinaus sehen wir permanent anderes. Digitalität ermöglicht Ländergrenzüberschreitung und Zeitkontextlösung in der Kürze eines Fingertipps. Soziale Zuordnung über äußere Merkmale ist kompliziert geworden. Der Leiharbeiter steigt für das erste Date im luxuriösen Airbnb ab. Der Chefarzt fährt im Smart als gemietete Carsharing-Option vor. Ob der Bart modisch oder unüberlegt ist, erfahren wir erst bei der Wahl des Restaurants: Gehen wir noch zur Fast Food-Kette oder schon zur veganen Fusionsküche? Der Verlust bekannter äußerer Zugehörigkeitsmerkmale wie dem Eigentum von Immobilie oder Sportwagen führt zur Politisierung und Moralisierung von Geisteshaltung und Lebensführung – mit erschreckenden Auswirkungen auf die demokratische Kultur. Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone ist Realität geworden. Der Weltverlauf erscheint uns willkürlich. Disruption besticht Linearität. Der Ungehorsam des Erwartbaren nimmt uns sämtliche entspannenden Verlässlichkeiten. Vor allem eine Frage drängt sich auf: Wie umzäune ich innerhalb dieser einen einzigen, nicht aufzuhaltenden und kontinuierlichen Bewegung das eigene Ich? Im eigenen Gehäuse setzt uns die Neuerfahrung der Postmoderne einem Gefühl von Unbehaustheit und Ausgeliefertsein aus. Der stetige Modus von Veränderung und Anpassung fordert uns über unsere Belastbarkeit hinaus. Und mit uns lässt er gewachsene Strukturen, erlernte Kulturgruppen und ganze politische wie wirtschaftliche Systeme kollabieren.
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Erdumspannend werden auf sozialen Plattformen politische Kampagnen gegen die Politik Donald Trumps gefahren. Deutsche Aktivistengruppen bevölkern britische Szeneviertel, um ihre Euphorie für das europäische Projekt zu teilen. Dass die politische Legitimität derartiger Aktionen zweifelhaft sein könnte, ist uns bei verbalen Einmischungen Putins oder Erdogans in die heimatliche Sphäre auf einmal sehr klar. Eine Welt, die kontinuierlich im Umbruch ist, die sich durch Komplexität und Unübersichtlichkeit, rasante Geschwindigkeit und Ambivalenz auszeichnet, verlangt natürlicherweise die Mitbewegung aller in ihr aktiven Subjekte ab. Wer nationaler Souveränität politisch gerecht werden will, muss um die politische Haltung vor und hinter dem Stacheldrahtzaun wissen; im Stacheldrahtzaun selbst geht kein Souveränitätsanspruch einer ganzen Bevölkerung auf. Souveränität klappt nunmehr ausschließlich im überlegenden globalen Kontext. Dieses Beispiel macht deutlich: Die Gestaltungsmacht von heute unterliegt immerzu neuen Spielregeln. Handlungsfähigkeit setzt das permanente Dekodieren gültiger Steuerungsmechanismen voraus. Weil diese jedoch Ländergrenzen überwinden, Industrien überleben, neue Ressourcen kappen und eigene Marktplätze erobern, schrumpft die Halbwertzeit durchschlagender politischer Programmatik in sich zusammen. Pragmatismus und Flexibilität sind darum die Erfolgsschlüssel zur Gestaltungsfähigkeit von Gegenwart und Zukunft geworden, oder anders gesagt: Die Bedingung von Konservatismus. Wer jedoch das eigene Ich, ob im Privaten oder Politischen, im ganz Eigenen oder im definiert Unseren, im rasanten und unaufhaltsamen Umgebungswechsel umzäunen mag, kommt nicht umhin, sich jener verändernder Umweltbedingungen bewusst zu werden. Wer Bewahrung ausspricht, meint Festhalten in Mitbewegung. Denn Festhalten ohne Mitbewegung führte zu ideologischem Dogmatismus, einer illoyalen Beschreibung seiner selbst. Doch der Umgang mit Offenheit, Bewegung und Freiheit will gelernt sein. Wir Ungeübten reagieren mit einem Schwall an Symmetrie und Angleichung und einer Sehnsucht nach Homogenie und Glätte. Weil uns einzig Eindeutigkeit erleichtert, laufen wir ideologischen Reduktionen und rauschhafter Folklore Gefahr. Ob es die Kreuze in bayerischen Amtsstuben oder der Burkini im Schwimmunterricht ist: Überall Phantomdebatten, Nebenschauplätze, Kompensationen.
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Ein Rezept zur Immunisierung? Schlicht Selbst-bewusst-Sein. Selbstvergewisserung im Offenen als freiheitliches Privileg schätzen zu wissen. Die Zuversicht, mit unverrückbarem Wertekorsett, wachem Geist und gesunder Skepsis, reform- und damit überlebensfähig zu sein. In jener idealen Souveränität steckte gleichsam die Absage an einen linken Geist von Staatsgläubigkeit und Moralismus und an einen rechten von Verbarrikadierung und Kulturfolklore. Das erwachsene Ertragen von Asymmetrie, die Erlaubnis zu Verschiedenheit, der Umgang mit Ambivalenz sind gelebter Pluralismus, eine bürgerliche Liberalität, die aufgeklärte Haltung der Postmoderne – und eben auch: Ein zeitgemäßer Konservatismus. Spätestens seit der Diagnose Michael Oakeshotts, der Konservative sei jemand, der „das Reale dem Möglichen, das Begrenzte dem Unbegrenzten, das Brauchbare dem Vollkommenen und die Fröhlichkeit einem utopischen Glück“ vorziehe, war in Mode gekommen, den Konservatismus mit einer Denkart statt einer Programmatik zu identifizieren. Sprach nicht so auch Edmund Burke, der Urvater des Konservatismus, wenn er bereits im 18. Jahrhundert die konservative Weltsicht „als eine Denkweise, die dem Rationalismus, der reinen Vernunft, mit Skepsis begegnet“ definierte? Irrig wäre jedenfalls die Annahme, den Konservatismus heute noch pauschal als Gegen-Aufklärung abzutun. Vielleicht ist sogar gerade das Gegenteil richtig: Es dürfte kein Zufall sein, dass Denker aus dem Dunstkreis der linken Frankfurter Schule bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mutmaßten, dass die „Lokomotive der Weltgeschichte“ nicht mehr Revolutionen seien, wie Karl Marx es noch gesehen hatte; sondern diametral entgegengesetzt „der Griff des in einem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“, so sprach Walter Benjamin. Wir dürfen gespannt sein, welche Haltung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Sieger der Postmoderne hervorgeht. Ich mutmaße: Es wird von links wie rechts keine sein, die sich anmaßt, Dramaturg der Weltgeschichte zu sein, sich furchtsam jedweder Veränderung der Umgebung entgegenstellt und damit an der Wirklichkeit vorbeihandelt. Es wird ebenfalls keine sein, die sich reflex- und rauschhaft in inszenierte Kompensationen hineinsteigert, auch nicht in die Feindbilder von Kosmopolitismus oder Kapitalismus. Vielleicht wird es jedoch eine sein, die das Ertragen aufbringt, gelassen in ein Morgen hineinzuleben.
Bewahren, was uns bewahrt Von Franz Alt Konservativ kommt nicht von Konserve, sondern vom lateinischen Verb conservare und heißt bewahren. Konservative wollen also nicht die Asche des Gestrigen hüten, sondern die Flamme für eine bessere Zukunft weitergeben. Was aber heißt konservativ in den Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung, der Klimaerhitzung und der Flüchtlingskrise konkret und praktisch? Wie könnte in unseren Zeiten des Umbruchs die Idee eines neuen und modernen Konservatismus aussehen und wirken? Und wie das Konservative, das nicht nur von der Vergangenheit her denkt, sondern unbedingt eine bessere Zukunft will? Die heutigen Umbrüche sind gewaltig und dramatisch. Das Gleichgewicht zwischen Alt und Neu droht, die Balance zu verlieren. Die alte Erkenntnis „Zukunft braucht Herkunft“ ist für Konservative selbstverständlich. Aber welche Zukunft? Zukunft ist, was wir heute vorbereiten. Am Tag, an dem Sie diese Zeilen lesen, werden wir, wie an jedem Tag, 150 Tier- und Pflanzenarten ausrotten. Soeben gab die UNO bekannt, dass bis etwa 2050 über eine Million Tier- und Pflanzenarten unwiederbringlich verschwinden werden; auch heute werden wir wieder 150 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Atmosphäre emittieren, die Wüsten um 80.000 Hektar vergrößern, 50.000 Tonnen fruchtbaren Boden verlieren und etwa eine Viertel Million Menschen mehr werden. Und am selben Tag werden ungefähr 20.000 Menschen verhungern, darunter 10.000 Kinder. Das wird auch morgen so sein und übermorgen und nächste Woche und nächstes Jahr usw. Wir sind die erste Generation, die Gott ins Handwerk pfuscht und Evolution rückwärts spielt. Sind wir noch zu retten? Was heißt in dieser Situation konservativ? Für mich sind Konservative Menschen, die bewahren wollen, was sie bewahrt: gute Luft, gesundes Wasser, fruchtbare Böden. Aber auch die
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Liebe, den Geist und das Gewissen. Deshalb ist die progressive Enzyklika Laudato Si von Papst Franziskus gerade in unserer Zeit so wertvoll und so kostbar, vielleicht das wertvollste und wichtigste konservative Dokument unserer Zeit. Es geht um nichts weniger als um die Bewahrung der Schöpfung und um eine gerechtere Welt so wie sie Jesus in seiner Bergpredigt vorausgedacht hat. Es geht um eine ökosoziale Marktwirtschaft jenseits der einseitigen Ideologien von Sozialismus und Kapitalismus. Deshalb sagt auch ein anderer moderner Konservativer wie der Dalai Lama: „Buddha wäre heute ein Grüner und ich würde die Grünen wählen, wenn ich in Europa leben würde.“ Was heute konservativ ist, habe ich mit großer Begeisterung und Zustimmung in der katholischen Soziallehre und in der evangelischen Sozialethik gefunden. Konservative orientieren sich an Maß und Mitte und sind nicht für den Brutal-Kapitalismus anfällig (Papst Franziskus: „Diese Wirtschaft tötet“) oder sind nicht für sozialistische Massenmörder zu begeistern wie Mao Tse-tung oder Ho Chi Minh. So wie manche Verirrte der 68er Generation. Welchen Beitrag könnte oder müsste ein moderner Konservatismus heute in der öffentlichen Debatte leisten? Die parteipolitisch Konservativen haben – von Ausnahmen wie Herbert Gruhl in der CDU oder Josef Göppel in der CSU abgesehen – die Klimakrise sowie den Umwelt- und Artenschutz – verschlafen. Erst durch die Ernsthaftigkeit und Denkklarheit der „Fridays For Future“-Bewegung scheinen auch einige Konservative aufzuwachen. Oder wie in Bayern durch den grandiosen Erfolg des Volksentscheids „Rettet die Bienen“. Maß und Mitte sind seit Sokrates, Aristoteles und Platon die Wesensmerkmale des Konservativen. Aber wo bleiben sie, wenn wir unsere Lebensgrundlagen zerstören? Ach, wären die „Konservativen“ doch konservativ! Gerade heute! Konservative sagen gerne, dass sie ihre Kinder lieben. Das ist reine Heuchelei, wenn sie gleichzeitig die Zukunft ihrer Kinder verbrennen. Wir verbrennen heute an einem Tag über Kohle, Gas, Benzin und Öl, was die Natur in einer Million Tagen angesammelt hat. Und damit die Zukunft unserer Kinder und Enkel. Darf dieses verbrecherische Verhalten noch konservativ, also bewahrend, genannt werden? Konservative setzen auf Rechtstaatlichkeit, auf Frieden („Du sollst nicht töten“), auf Menschenrechte, Demokratie und Wahrheit („Du sollst
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nicht lügen“), auf Gerechtigkeit, Umweltschutz und Klimaschutz, kümmern sich um sozial Schwache, um Behinderte und Geflüchtete, setzen auf Arbeitsplätze für alle, gestalten ein Europa des Friedens ohne Waffenexporte in Krisengebiete, reduzieren – wie Helmut Kohl es einmal formulierte – die Militarisierung unserer Gesellschaft (Kohl: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“) und wollen ein atomwaffenfreies Europa, engagieren sich – wie Angela Merkel nach Fukushima – für den Ausstieg aus der Atomkraft. Weil sie wissen, dass jedes AKWein Restrisiko hat und uns damit jeden Tag „den Rest“ geben kann. Sie arbeiten stattdessen an der solaren Energiewende, an einer ökologischen Verkehrs- und Bauwende sowie an einer biologischen Landwirtschaft; sie brauchen keine Feindbilder, weil sie wissen, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind oder – religiös gesprochen – Kinder Gottes; sie haben ein Weltbild, dem die Idee der einen Menschheit, auf der einen Erde unter einer Sonne zu Grunde liegt; Konservative sind geprägt von einem Menschenbild der Toleranz, der Freiheit und Völkerverständigung, das in den letzten 70 Jahren die „Europäischen Union“ hervorbrachte. Noch nie hat innerhalb der EU ein Land gegen ein anderes Krieg geführt; Konservative wissen, dass die Ökologie die modernere und intelligentere Ökonomie ist, weil sie die Folgekosten mit bedenkt; wirkliche Konservative sind Wertkonservative und nicht Strukturkonservative, denen Institutionen und deren Strukturen wichtiger sind als Werte. Diese wesentliche Unterscheidung stammt vom wertkonservativen Christen und Sozialdemokraten Erhard Eppler. Das Konservative darf nicht zur Polit-Folklore wie dem zwanghaften Aufhängen von Kreuzen in bayerischen Amtstuben verkommen oder zur schieren Brauchtumspflege. Konservativ heißt aber auch, das Neue kritisch zu hinterfragen sowie Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Algorithmen nicht heilig zu sprechen. Nur dann wird Conservare zum intelligenten Transformare. Bevor wir alle auf Künstliche Intelligenz setzen, sollten wir nicht vergessen, ein wenig mehr unsere natürliche Intelligenz zu schärfen. Es spricht nicht für den heutigen homo sapiens, dass wir zwar fähig waren, Atomwaffen zu entwickeln, aber kaum fähig sind, diese auch wieder abzuschaffen. Albert Einstein hat einmal gesagt: „Wir Heutigen nutzen allenfalls zehn Prozent der uns innewohnenden Intelligenz.“ Wenn wir es schaffen, auf vielleicht elf Prozent Intelligenz-Nutzung zu kommen, sind schon viele
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Probleme von heute gelöst. Für die hundertprozentige Energiewende zum Beispiel sind bereits alle notwendigen Technologien entwickelt. Franz Josef Strauß war ein konservatives Urgestein der alten Bundesrepublik. Er hat gesagt: „Konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts stehen.“ Das mag simpel und wahlkämpferisch klingen. Nur: Beim „Bewahren der Schöpfung“ gilt dieser Strauß’sche Imperativ vollumfänglich. Es ist ein großes Verdienst der CDU/CSU nach 1945, den preußisch-altkonservativen Konservatismus überwunden und sich für einen neuen, liberalen, europäischen, demokratischen und toleranten Konservatismus geöffnet zu haben. Diesem neuen Konservatismus ist gestalten so wichtig wie erhalten. Nur deshalb gelangen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle die deutsch-französische Freundschaft und damit die Basis für ein friedliches Europa, das nun auch endlich ein konstruktiveres Verhältnis zu Russland suchen sollte. Wertkonservative lernen aus der Geschichte, dass Nationalismus immer zu Kriegen führte. Sie setzen heute auf friedliche Zusammenarbeit, auf Handel und Wandel, auf Kooperation statt auf Konfrontation. Nationalismus ist nicht konservativ, sondern reaktionär wie „völkisches Denken“ oder die Ausgrenzung „der Anderen“. Der moderne pragmatische Konservative ist ein Kind des Wandels. Er oder sie verbinden Humanität und Ordnung. In der Liebe gilt die „Ordo amoris“ wie es Thomas von Aquin formulierte, aber auch in der Gesellschaft, im Beruf und in der Politik. Diese „Ordo“ gilt unabhängig von Geschlecht, Religion, Alter, Hautfarbe. So und nur so wird Demokratie zur Heimat. Mein Doktorvater Dolf Sternberger nannte diesen neuen Konservatismus „Verfassungspatriotismus“. Also Liebe zum eigenen Land, zu Europa und zu allen Menschen. Die „Anderen“ sind dann keine Feinde mehr, sondern Mitmenschen und Mitbürgerinnen. Der Schutz von Ehe und Familie ist schon immer ein konservativer Grundwert. Deren Wesenskern ist Vertrauen und Verlässlichkeit, was selbstverständlich auch für homosexuelle Paare gilt. Konservativ ist, wer bei wichtigen Entscheidungen auch auf seine Träume achtet und auf sein Gewissen hört.
Konserven heißen Konserven Von Dietmar Bartsch Erschließt man die Bedeutung des Ausdrucks „konservativ“ von seiner Herkunft, bedeutet es zunächst, etwas bewahren oder erhalten wollen. Er bezeichnet somit eine Haltung. Deshalb heißen Konserven eben Konserven. Dennoch reicht das nicht aus, um den Begriff des Konservatismus annähernd zu erfassen. Ein Beispiel: Jeder Mensch, der halbwegs bei Trost ist, würde kulturelle Errungenschaften bewahren wollen, wir würden sonst nicht von „Errungenschaften“ sprechen. Aber das macht diese Menschen noch nicht, zumindest nicht alle unter ihnen, zu „Kulturkonservativen“. Kulturkonservative begreifen Kultur nicht einfach nur als Erbe, dessen Aneignung und produktive Fortführung für unsere Entwicklung vernünftig ist, sondern sie sehen die von ihnen als wertvoll identifizierte Kultur auch Bedrohungen ausgesetzt, vor denen sie zu schützen ist. Diese Bedrohungen werden aber in der Regel nicht durch ein Barbarentum repräsentiert, sondern selbst durch kulturelle Entwicklungen. Dafür einige Beispiele: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bilden sich in den Künsten „avantgardistische“ Strömungen, die mit wachsender Vehemenz die Verbindlichkeit der Tradition in Frage stellten. Wagner stieß an die Grenzen der Tonalität, Schönberg ließ sie hinter sich. In der Malerei haben wir mit Impressionismus und Expressionismus, dann mit der abstrakten Kunst, ähnliche Brüche. Auch in der Literatur können wir avantgardistische Haltungen ausmachen. Diese Infragestellung der Tradition ruft natürlich eine konservative Reaktion auf den Plan, die durch solche Bestrebungen das kulturelle, in diesen Fällen: künstlerische, Erbe gefährdet sah. Und wir kennen doch alle Leute, die das in den einfachsten Worten zum Ausdruck bringen, dass das doch keine Musik sei, keine „richtige“ Malerei etc. Ein anderes Beispiel wäre die sogenannte „Popkultur“, also alle kulturellen Betätigungen, die ein Massenpublikum finden. Das findet sich in der Musik, in der Malerei, in der Literatur, im Film und Fernsehen
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usw. Hier ist die konservative Reaktion eine ganz andere. Sie sieht ein kulturelles Privileg bedroht. Früher war klar, wer im Besitz der Kultur ist: die Bourgeoisie. Popular Culture ist die Demokratisierung kultureller Praxis. Manche philosophischen, moralischen oder politischen Fragen lassen sich inzwischen besser mit Filmen und Fernsehserien verständlich machen als durch die Lektüre von Erörterungen. Der Widerstand dagegen ist ein Widerstand der Privilegierten gegen die Demokratisierung des Wissens. Das ist ein anderer Impuls als der eben diskutierte bei der Infragestellung der Traditionen. Denn Traditionen sind nicht dadurch ins Abseits gestellt, dass es Innovation gibt; sie müssen sich allerdings in ihrem Recht bestätigen – ebenso wie der Neuerer. Bewahrung von Privilegien gegen Demokratisierung, das allerdings hat mit Machtfragen zu tun. Ein drittes Phänomen erscheint mir gleichfalls wichtig. Es hat mit der Pluralität von Kulturen zu tun. Dass es „Kultur“ im Plural gibt, ist eine Kreation der frühen Romantik. Aber das ist ein Thema für sich. Folgende Reaktionen auf diese wichtige Einsicht, dass es Kulturen gibt, sind denkbar: Erstens, man privilegiert die eigene Kultur, wir würden vielleicht von der „westlichen“ Kultur sprechen, im Gegensatz zu anderen. Diese erscheinen dann als weniger wertvoll. Eine andere Reaktion wäre zu sagen: Wichtig ist nicht, ob eine Kultur „besser“ ist als andere, sondern der Wert besteht darin, dass es überhaupt eine Kultur ist. Letzteres mag, muss aber nicht, eine Einladung zum Relativismus sein. Auf diesen Relativismus würden Konservative mit Abwehr reagieren und Überlegenheitsideen ins Spiel bringen. Unsere Kultur sei liberal und tolerant, andere seien das nicht. Über eine Kultur, die mit Kolonialismus, Rassismus und Völkermord „verträglich“ war, würde ich das zwar nicht sagen, aber das zeigt nur, dass ich diesem konservativen Muster nicht folge. Aber auch aus einer relativistischen Position kann Unheil folgen: Wenn alle Kulturen gleiches Recht für sich beanspruchen, kann es zum „Krieg der Kulturen“ kommen. Ich gestehe, dass auch diese Position mir nicht behagt. In ihrem unbedingten Behauptungswillen zeigt auch sie einen konservativen Zug. Was also bleibt? Hoffnung! Die Hoffnung darauf, dass im Dialog miteinander sich Vernünftiges durchsetzt. Da unsere Kultur wirklich Vernünftiges enthält, wäre ich nicht pessimistisch, dass sie uns erhalten bleibt. Ich vermute, dass sich die hier anhand kultureller Praxis erörterten konservativen Verhaltensweisen ganz analog aufs Politische übertragen lassen. Was wäre die „Tradition“ im politischen Feld? Es sind unsere Institutionen. Es ist nicht Einfallslosigkeit, weshalb wir hier lieber auf Stabilität oder ge-
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mäßigte Modernisierung setzen. Juristisch spiegelt sich das in Ewigkeitsfiktionen von Verfassungen wider, auch wenn wir wissen, dass Verfassungen außer Kraft gesetzt werden können, dass es Revolutionen und reaktionäre Machtergreifungen geben kann etc. Das nenne ich Institutionenkonservatismus. Diesen finde ich nicht grundfalsch, solange er nicht modernisierungsfeindlich wird. Denn auch hier gibt es historische Erfahrungen. Die Französische Revolution von 1789 war nicht nur ein Schlüsselereignis in der Geschichte Frankreichs, sie hat vielmehr die Geschichte Europas geprägt. Das gilt nicht nur im Positiven; das gilt auch für Negativerfahrungen wie den Terror der Jakobiner. Der fand natürlich seine Legitimation, vor allem durch jene, die ihn durchführten. Aber er zeigte, dass revolutionäre Energien über einen kritischen Punkt hinausschießen können, ab dem es für politische Anliegen keine Basis mehr in der Gesellschaft gibt. Der Einstellungswandel gerade der damals wirkenden deutschen Intellektuellen zur Französischen Revolution zeigt deutlich, was ich hier meine. Kant und Hegel waren mit Sicherheit keine Feinde der institutionellen Modernisierung; aber die Schreckensherrschaft lehnten sie ebenso ab. Sie orientierten sich an der prinzipiengeleiteten Reform. Anders sieht es mit dem Konflikt zwischen Privileg und Demokratie aus. Hier schlagen sich Konservative im Zweifel eher auf die Seite der Privilegierten – oder sie wechseln die Seiten. Das ist eine Aussage, von der ich vermute, dass sie dem Selbstverständnis vieler Konservativer widerspricht. Aber gerade für Deutschland gilt, dass der Konservatismus seinen Frieden mit der Demokratie erst nach 1945 gemacht hat. Stabilisiert wurde dieser Frieden auch durch die soziale Marktwirtschaft, die es lange Zeit ermöglichte, dass (fast) alle vom wachsenden Wohlstand profitieren konnten, so dass es abseits theoretischer Überlegungen kaum einen Grund gab, Privilegien kapitalistischer Eigentümer in Frage zu stellen. Heute stellt sich das Verhältnis von Konservatismus zur Demokratie als weitaus problematischer dar. Konservative treten in ihrer Mehrheit – zumindest in Deutschland – nicht antidemokratisch auf. Dafür modifizieren sie den Begriff der Demokratie. Angela Merkel hat das mit dem Begriff der marktkonformen Demokratie deutlich gemacht. Demokratie ist eine feine Sache, aber sie darf die Märkte nicht stören. Während es lange Zeit darum ging, kapitalistische Märkte politisch einzuhegen, scheinen marktkonforme Demokraten die Demokratie einhegen zu wollen. Deutlich ist das bei der Bewältigung der sogenannten Eurokrise zu erkennen. Mit einer Regulierung des Finanzkapitalismus ist man nicht weit gekommen; mit der Be-
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kämpfung ökonomischer Ungleichgewichte innerhalb der EU, die auch etwas mit Deutschlands Exportnationalismus zu tun haben, auch nicht. Stattdessen wurde massiv der Sozialstaat in den „Schuldenstaaten“ abgebaut, Widerstand dagegen sogar mit Methoden bekämpft, die eher mit Nötigung als mit Verhandlungsgeschick zu tun haben. Das sind Gründe, weshalb ich kein Konservativer sein könnte. Mir ist der soziale Preis zu hoch, der für die Verteidigung von kapitalistischen Verwertungsinteressen gezahlt werden muss. Leider wird nicht deutlich genug verstanden, dass die Europäische Union auf diesem Weg destabilisiert wird. Schließlich noch ein Wort zur Außenpolitik. Das, was ich oben zur Pluralität von Kulturen sagte, findet sich hier wieder als Pluralität von Gesellschaftssystemen. 1990 schien die Idee der friedlichen Koexistenz ihre Grundlage verloren zu haben. Francis Fukuyama lieferte die Stichworte für eine Mentalität, die im liberalen, kapitalistischen Westen den Schlusspunkt der Weltgeschichte sah. Jede andere Form der Gesellschaft sei überholt und würde sich evolutionär auf den liberalen Kapitalismus zubewegen. Man kann sich täuschen, auch Philosophen können das. Es ist anders gekommen. China stieg weiter auf, Russland stabilisierte sich, innerhalb der EU gibt es inzwischen Staaten, die eine illiberale Entwicklung einschlagen. Die damit verbundene wachsende Konfliktbereitschaft hat das System von Völkerrecht und Staatenorganisationen geschwächt. „America first“ drückt nicht nur das Denken eines Mannes aus, es repräsentiert eine Entwicklung, die wir nicht nur in den USA haben. Die Alternative hierzu wäre ein Denken, das wir aus den Zeiten der „friedlichen Koexistenz“ kennen: Verständigung muss selbst dann möglich sein, wenn man die politischen Systeme ablehnt. Es ist sinnlos, die Menschenrechtslage im Iran zum Verhandlungsgegenstand machen zu wollen, wenn man dort keine Atombombe haben will. Gerade wenn man will, dass sich die Demokratie durchsetzt, muss man ein verlässliches System des Völkerrechts wollen, das von einer friedlichen Koexistenz ausgeht. Was hat das mit dem Konservatismus zu tun? In Deutschland waren die Sozialdemokraten Vorreiter der Entspannungspolitik, die Konservativen mussten irgendwann ihren Widerstand dagegen aufgeben. Ich fürchte, dass die Mentalitäten zumindest einiger deutscher Konservativer nach wie vor wenig geeignet sind, Entspannung voranzubringen.
Conservative Judaism Von Yehuda Aharon Horovitz Der Begriff „Conservative Judaism“, wie er in den USA und Israel verwendet wird, beinhaltet das Gegenteil der in Deutschland politisch geläufigen Bedeutung von „konservativ“. In den USA bezieht sich der Begriff auf die links der Mitte stehenden, liberalen und modernen ReformJuden, die aber mehr Traditionen beibehielten als die eigentlichen Reform-Juden. Aber glaubenssystematisch ist der Unterschied zwischen „Conservative“ und „Reform“ nicht besonders groß. Weder die einen noch die anderen glauben an die Göttlichkeit der mündlichen wie auch der schriftlichen Torah (Torah min Ha-Schamaim), und dass sie Unserem Lehrer Mosche am Berge Sinai übergeben worden ist (Le-Mosche Misinai). Wenn sie also jüdische Traditionen gelegentlich einhalten, so tun sie es nicht, weil sie bewusst anerkennen, dass sie göttliche Gebote und Verpflichtungen einhalten – sondern weil es für sie schlicht verstandesmäßige Gründe oder gefühlsmäßige Neigungen gibt, sie einzuhalten. Nur zur Illustration: Es ist ein Gebot aus der schriftlichen und mündlichen Torah, für Gesunde und Volljährige am Yom Kippur ca. 26 Stunden (von vor Sonnenuntergang des einen Tages bis nach Sonnenuntergang des nächsten Tages) zu fasten. Ein Orthodoxer fastet – aus Liebe zu Gott, weil es ein Torah-Gebot ist, und aus Furcht vor Gott, weil die Übertretung dieses Gebots die himmlische Karet-Strafe nach sich ziehen könnte. Ein Conservative fastet (wenn er fastet), weil es vielleicht eine gute Idee ist, zur Abwechslung einmal im Jahr zu fasten. Und im Übrigen haben seine Eltern und Großeltern es auch schon so gehalten… Ich werde deshalb offen sein und vorwegnehmen, dass das Folgende vom orthodoxen, dem wortwörtlich konservativen jüdischen Standpunkt aus, geschrieben wurde. Als ich gebeten wurde, über Conservatism zu schreiben, dachte ich zuerst daran, dies abzulehnen. Zunächst einmal, da ich orthodox und nicht conservative bin. Andererseits wurde mir vielleicht die Gelegenheit gegeben, dem europäischen Leser die Art der jüdi-
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schen Bewegungen und die Meinungsvielfalt aus verschiedenen Perspektiven zu erläutern. Da ich conservative movement nicht als konservativ ansehe, werde ich im folgenden Text die englische Schreibweise (und implizite amerikanische Aussprache) beibehalten, aber kursiv setzen und ihre Deklination vermeiden. Großgeschrieben, bezieht sich Conservative im folgenden Text auf einen oder eine Repräsentaten/in des conservative movement, kleingeschrieben wird es als Adjektiv verwendet. Auf einer einfachen Ebene bezieht sich ein Jude, wenn er das Wort conservative als Adjektiv oder Substantiv verwendet, auf die Bewegung der Juden in den Vereinigten Staaten, die von Juden in Israel und Diaspora als die Schwesterbewegung der Reformbewegung angesehen wird. In direktem Kontrast zu diesen beiden Bewegungen gibt es die als „orthodox“ bezeichneten Juden, zu denen ich gehöre. Diese Bezeichnung – orthodox – wurde uns von unseren Torah-Gebote nichtbeobachtenden und an die Göttlichkeit der Torah nichtglaubenden Brüdern gegeben. Orthodoxe Juden beziehen ihre ethno-religiöse Identität aus der Religion als die natürlichste und selbstverständlichste Sache der Welt. Als solche erfordert für sie der Begriff „Jude“ kein zusätzliches Definitionswort, weil in unseren Augen ein Jude in good standing, also ein religiös vollberechtigter Jude, ein Jude ist, wie schon seit mehr als dreitausend Jahren: aufmerksam die Torah-Gebote befolgend. Doch seit einige Juden in Deutschland vor 200 – 250 Jahren die Einhaltung der Torah-Gebote zu ändern begannen, um sie an das Christentum oder die Moderne anzupassen und ihre Anliegen im Übrigen von den nicht-jüdischen Regierungen im damaligen Deutschland vor 1918 gefördert und unterstützt wurden, versuchten andere Juden, sich diesen politischen Tendenzen zu widersetzen. Diese Juden bewahrten ihre Lebensweise so, wie sie in der Vergangenheit war und wurden von jenen Reform-Juden deshalb damals abwertend orthodox genannt. Dieser inner-jüdische Kulturkampf hatte starke Parallelen mit dem damaligen Kulturkampf gegen die Rom-loyale katholische Kirche in Deutschland, aber auch andernorts in Frankreich, Großbritannien und in den USA. Aber weil die Lage jüdischer Gemeinschaften von vornherein prekärer war, führte dieser Kulturkampf zu einer deutlicheren Unterdrückung des Torah-treuen jüdischen Lebens. Die in den USA entwickelte conservative-Bewegung wurde zeitweise auch als traditionelles Judentum bezeichnet. Seine Wurzeln liegen im deut-
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schen positiv-historischen Judentum des 19. Jahrhunderts und es ist heute eine der drei Hauptströmungen des modernen Judentums. Das konservative Judentum setzt sich einerseits für das Festhalten am jüdischen Erbe ein, sieht es andererseits aber auch als Gegenstand eines ständigen historischen Einflusses an. Daher gibt es im Zusammenhang mit der Einhaltung von Torah-Geboten (Mitzvot) einen paradoxen Ansatz. Die conservative judaism-Bewegung setzt sich kritisch-wissenschaftlich mit den Quellen der Torah auseinander und nimmt sich die Freiheit, alte Gebote und Bräuche zu ändern und häufig zu annullieren. Sie fördert jedoch gleichzeitig die Einhaltung der Traditionen, die von der jüdischen Öffentlichkeit gepflegt werden. Wenn es um Meinungen und Überzeugungen geht, tendiert sie dazu, Mehrdeutigkeit zu vermitteln, sich von theologischen Konstanten zu entfernen und nach außen einen breiten Pluralismus in Fragen des Glaubens zu pflegen. Diese Positionen unterscheiden sie von den beiden anderen Hauptströmungen, der orthodoxen und der Reform. Der Schwerpunkt der schleichenden Verschiebung des conservative judaism gegenüber dem Torah-treuen, traditionellen Judentum liegt in der Ablehnung der Göttlichkeit der mündlichen Torah. Nach orthodoxer, Torah-treuen Auffassung – den §§ 8 und 9 der dreizehn Glaubensprinzipien des Rabbi Mosche Ben-Maimon (Rambam, Maimonides) – wurden beide von Gott offenbart und bleiben unverändert und ewig gültig. Diese Glaubensprinzipien bilden das Fundament der rabbinischen Lehre vom Ende der biblischen Zeit bis heute. Alle Bewegungen, die sie leugnen, stehen außerhalb des authentischen Torah-treuen Judentums. Ein beliebter Witz über verschiedene Formen jüdischer Praxis erzählt von den verschiedenen Hochzeitstraditionen: (a) Bei einer orthodoxen Hochzeit ist die Mutter der Braut schwanger; (b) bei einer conservative Hochzeit ist die Braut schwanger; (c) bei einer Reformhochzeit ist der Rabbi schwanger. Die conservative-Bewegung ist daher eine moderne Schöpfung von Juden hauptsächlich in den USA, die nicht daran interessiert sind, Torah-Gebote einzuhalten – aber zugleich auch nicht daran interessiert, sie vollständig zu verlieren. Daher wurde der conservative-Begriff gewählt, um sie von Reformjuden in Bezug auf die jüdische Tradition zu unterscheiden. In Fragen des Glaubens oder der Sichtweise macht diese Bewegung keine andere Aussage als die, dass jeder für sich entscheidet, was in seinen
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Augen richtig ist. Kurz gesagt: Es wäre nicht völlig falsch, es als eine Art sozialer Verein für Juden mit einer individuellen und sehr unterschiedlichen Beziehung zur Religion zu definieren. Trotz der Verringerung der Mitgliederzahlen schätzen die Träger des Conservative Movement, dass sie immer noch fast eine Million Mitglieder, hauptsächlich in den USA, vertreten. Wenn ein gläubiger und praktizierender orthodoxer Jude über das Wesen des Judentums mit einem Conservative streitet – was recht häufig geschieht –, dreht es sich für ihn darum, wie der in der mündlichen und schriftlichen Torah offenbarte Wille Gottes in jedem Aspekt jüdischen Lebens anzuwenden ist. Hier würde der Conservative gegen die Orthodoxen behaupten: „Ja! Aber in der Torah werden die Autos nicht erwähnt!“ Deshalb bemühen sich conservative und Reform-Gelehrte, neue Regeln und Traditionen zu entwickeln, die den historischen Quellen widersprechen, wodurch eine neue jüdische „Tradition“ geschaffen wird. Die orthodoxe Antwort ist, dass die Torah-Weisen jeder Generation selbst in heutigen technologischen und wissenschaftlichen Problemen, die in den historischen Quellen des Judentums nicht erwähnt werden, zurückkehren, um die Worte ihrer Vorgänger zu studieren. Es spielt deshalb keine Rolle, dass sie in der Antike von den heutigen technischen Innovationen nicht mal geträumt haben. Die Halacha – das System Torah-treuer gesetzlicher Kodizes – erlaubt die Verwendung eines konsistenten und logisch stabilen Systems von Analogien, um die korrekte Torah-Antwort auf die jeweilige aktuelle Frage zu finden. Einmal wandte sich deshalb ein conservativeRabbi an mich und fragte: „Glauben Sie nicht, dass, wenn uns die Torah im 21. Jahrhundert gegeben worden wäre, sie für unsere Zeit geeignet gewesen wäre? Genau das haben wir getan. In der conservative-Bewegung passen wir die Torah an unsere Zeit an und ändern sie!“ Ich entgegnete mit einer alten Geschichte. Sie erzählt von einem jüdischen Kaufmann, der einen Kutscher beauftragte, ihn rechtzeitig von seinem Dorf zur Leipziger Messe zu bringen. Weil sie nicht rechtzeitig zur vorher vereinbarten Zeit ankamen, hatte er den Kutscher später vor einem Beit-Din (rabbinischen Gericht) verklagt. Der Kaufmann bat das Beit Din, der Kutscher möge ihm deshalb seinen bei der Leipziger Messe entgangenen Gewinn erstatten. Der Kutscher verteidigte sich, es sei nicht seine Schuld, sondern höhere Gewalt, dass ein Schneesturm sie aufgehalten habe. Der Dayan (rabbini-
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scher Richter) überprüfte darauf die heiligen Texte und entschied, dass der Kutscher unter Berücksichtigung der Umstände und der Vertragsbedingungen doch hafte, weil Rechtzeitigkeit der Kerninhalt des Vertrags war. Deshalb habe er den entgangenen Gewinn vollständig zu ersetzen. Der Kutscher sprang auf und sagte: „Ich bin bereit, das Urteil zu akzeptieren, aber nur unter einer Bedingung – erklär mir, worauf gründet sich Deine Entscheidung?“ Der Dayan erwiderte: „Ich habe die Bücher der Acharonim (der späteren Torah-Weisen) untersucht – und danach habe ich die Entscheidung gefällt.“ Kutscher: „Und worauf haben sich die Autoren dieser Bücher verlassen?“ Dayan: „Auf die Rishonim (die Torah-Weisen des Mittelalters), also Rif (Rabbi Alfasi), Rambam (Maimonides) und Rosh (Raw Asher).“ Kutscher: „Wonach haben die Rishonim entschieden?“ Dayan: „Im Lichte früherer Bücher bis zum Talmud.“ Kutscher: „Und der Talmud – worauf basiert das?“ Dayan: „Auf der Mischna – der Zusammenfassung der mündlichen Torah.“ Kutscher: „Und woher kommt die mündliche Torah?“ Dayan: „Sie wurde am Berg Sinai zusammen mit der schriftlichen Torah gegeben.“ Kutscher: „Wann wurde die Torah gegeben?“ Dayan: „Im Monat Siwan (Mai/Juni).“ Kutscher: „Und wo wurde es gegeben?“ Dayan: „In der Wüste Sinai.“ „Aha!“ sagte der Kutscher, „Endlich! Die Torah wurde in Siwan, also im Sommer gegeben! Und nicht bloß das, sondern in der heißen Hitze der Wüste Sinai! Wie anders wäre das Ergebnis, wenn es im Winter, in den verschneiten Bergen Europas, gegeben worden wäre!“ Die obige Geschichte bezieht sich darauf, dass, wenn die Torah heute gegeben worden wäre, sie mit anderen Begriffen geschrieben worden wäre. Beispielsweise könnten sie statt über Pferde und Wagen über Autos und Flugzeuge schreiben und statt über Schriftrollen über Computer. Aber das Wesen der Torah hätte sich kein bisschen geändert, da ihre wahre Botschaft das Allgemeingültige hinter der Geschichte ist – nicht das Beispiel selbst. Wenn nicht, würden Sie annehmen, dass Gott nur eingeschränkt in die Zukunft schauen kann. Als ob sein Verständnis nur auf die Generation beschränkt wäre, in der die Torah gegeben wurde. Wenn das wahr wäre, dann gäbe es Raum für conservative- und liberal- und reform-Ansichten hinsichtlich der Notwendigkeit einer Anpassung. Aber wenn Gott in der Tat begrenzt ist und seine Worte den Neuerungen jeder Generation angepasst werden müssten, dann steckt man theologisch in ernsthaften Schwierigkeiten. Nach diesem Ansatz ist es nicht mehr möglich, den Unterschied zwischen Gott und den Menschen klar zu benennen. Glaubt ein
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Conservative also an Gott, dass er sich uns auf dem Berg Sinai offenbart hat, auf dem er die schriftliche und mündliche Torah gegeben hat? Wie in fast allem ist auch hier alles relativ. In Bezug auf Reform-Movement ist Conservative-Movement etwas traditioneller. Aber alles in allem macht es das eher für die Unwissenden noch verwirrender und irreführender – eben weil es hier im Wesentlichen um eine Bewegung von Neuerungen und Veränderungen in der Religion und nicht um die Erhaltung des jüdischen Glaubens geht. Obwohl diese Bewegung nach außen erklärt, dass es die erklärte Absicht sei, die jüdische Religion zu bewahren, bewirken die Mittel, mit denen sie „bewahrt“ werden soll, Veränderungen, die dem jüdischen Glauben und Torah-Geboten vollständig widersprechen. Sie zerstören deshalb die goldene Kette unseres von Generation zu Generation übergebenen Erbes von der Annahme der Torah vor 3331 Jahren bis heute. (Ich danke meinem Freund Dr. Gennadij Rajwich von Herzen, der den Artikel ins Deutsche übersetzt und verbessert hat.)
Gestern ist morgen! Warum wir die Konservativen brauchen Von Susanne Gaschke (1) Konservativ. Seit ich mich erinnern kann, war es ein beliebter Fehler der Linken, die Adjektive „konservativ“ und „rechts“ gleichzusetzen. Dabei können auch Linke durchaus konservativ sein – rechts aber natürlich nicht. „Rechts“ in seiner extremen Form impliziert völkisches Denken, Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit, Sexismus, Rassismus und latente Gewaltbereitschaft. Konservativ zu sein, bedeutet etwas völlig anderes: nämlich nicht jede Veränderung automatisch für einen Fortschritt und nicht jeden Fortschritt automatisch für gut zu halten. Konservative wissen, dass man manchmal etwas verändern muss, um etwas Bewahrenswertes zu erhalten. Aber sie glauben auch, dass es Bewahrenswertes gibt, das überhaupt nicht verändert zu werden braucht. Sie halten es für sicherer, der Zukunft mit einer gewissen Skepsis zu begegnen als mit dogmatischem Optimismus und zwangsverordneter Fröhlichkeit. Die größten Feinde der Konservativen sind dementsprechend auch nicht die Linken. Es sind die Rechten, die sie unterwandern und korrumpieren wollen – und die radikalen Marktliberalen, die nichts um seiner selbst willen für bewahrenswert halten. (2) Kulturpessimismus. Konservative haben es besonders in Deutschland schwer, weil ihre charakteristische Skepsis schnell den Verdacht des „Kulturpessimismus“ weckt. Der gilt bei uns als gefährliche Ideologie, die dem Nationalsozialismus das Feld bereitet habe – wie es Fritz Stern in seinem Buch Kulturpessimismus als politische Gefahr darlegt. Doch Sterns differenzierte Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der „Konservativen Revolution“ und ihrer Autoren (Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Arthur Moeller van den Bruck) ist verallgemeinert und banalisiert worden. „Kulturpessimismus“ ist heute ein Totschlagargument aller vermeintlich Aufrechten, dabei kann man sich durchaus fragen, ob es nicht eher ein Zu-
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wenig als ein Zuviel an politischem Pessimismus war, das den Nazis ihre Schreckensherrschaft ermöglicht hat. (3) Kinder. Die konservativsten Wesen auf der Welt sind Kinder. Sie brauchen feste Bezugspersonen. Sie lieben Rituale. Sie wollen, dass Geschichten immer genau so erzählt oder vorgelesen werden, wie sie sie kennen – und ja nicht anders. Kleine Kinder leiden unter unerklärlichen Veränderungen: Warum ist Papas Freundin plötzlich wieder weg? Warum muss die Familie umziehen? Warum kommt eine neue Erzieherin in die Kita? Allzu wechselhaftes und unberechenbares Patchwork tut Kindern etwas an. Kindergärten ohne feste Gruppen und kalkulierbare Tagesabläufe sind eine Ideologie der Erwachsenen: Die Kinder selbst haben genug mit ihrer täglichen eigenen Veränderung zu tun. „Disruption“ ist kein Prinzip, dem Kinder ausgesetzt sein sollten; es ist allenfalls eins, das sie auf natürliche Weise verkörpern. Und: Jedes Kind fängt bei null an. Ein Ball ist ein Ball, eine Puppe ist eine Puppe, Klötze sind Klötze und ein Prügel zum Schießen ist ein Prügel zum Schießen. Deshalb braucht vielleicht der Spielzeugmarkt immer neue Produkte mit geringem Spielwert und kurzer Halbwertzeit, aber die Kinder brauchen sie nicht. Und: Sie sollten sehr viel gespielt haben, bevor sie auf ihren ersten Bildschirm starren. (Darüber mit dogmatischen Fortschrittsfreunden zu streiten, ist konservativ.) (4) Werkstoffe. Gerade beim Spielzeug, aber auch in vielen anderen Lebensbereichen gilt: Es gibt konservative und es gibt als „fortschrittlich“ apostrophierte Werkstoffe. Das Spannende ist, dass die konservativen Werkstoffe sich kaum je zu rechtfertigen brauchen – Holz, Stein, Leder, Gold, alte Ziegel oder Reet verstehen sich von selbst. Gleichzeitig ist aber jedes falsche Wort über Beton und Plastik riskant. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat die zeitgenössische Architektur Menschen davon zu überzeugen versucht, dass Sichtbeton modern und dass Universitäten und Trabantenstädte aus diesem Material gut für ihre Studenten und Bewohner seien. Und doch würden sich die meisten Jungakademiker bei freier Auswahl vermutlich schon aus ästhetischen Gründen eher für das King’s College Cambridge als für die Ruhr-Universität Bochum entscheiden. Und die meisten deutschen Mieter lieber für eine Altbauwohnung in München-Schwabing, Berlin-Charlottenburg oder Hamburg-Eppendorf als für eine Betonwabe in Hamburg-Steilshoop oder Berlin-Gropiusstadt. (5) Bildung. Ein konservativer Bildungsbegriff zeichnet sich dadurch aus, dass man bereit ist, etwas zu lernen, was einem keinen unmittelbaren
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Nutzen bringt. In seiner „Notiz über Geisteswissenschaften und Bildung“ hat Theodor W. Adorno es so formuliert: dass mit Bildung jene Art geistiger Erfahrung gemeint sei, die sich aus der Beschäftigung mit dem Sinn der Gegenstände selbst ergebe. Er nennt dies die „Hingabe des Geistes an ein ihm Entgegenstehendes und Fremdes, in der er erst seine Freiheit gewinnt.“ Man lernt zum Beispiel nicht Latein und Altgriechisch, weil das sofort die Chancen auf dem Arbeitsmarkt vergrößern würde. Man lernt diese Sprachen, um denken zu lernen; um die sinngebende Bedeutung von Grammatik zu begreifen; um zu erfahren, woher ein Großteil unseres ästhetischen Empfindens, unserer politischen und philosophischen Ideen stammen. Das muss einem Leben als Insolvenzjurist oder Investmentbanker nicht im Wege stehen; womöglich macht es einen sogar zu einem besseren Juristen oder Banker. (6) Bücher. In einem konservativen Haushalt wird man am Abend, wenn die Lampen eingeschaltet sind, durch die Fenster Bücherwände erspähen und nicht nur das bläuliche Flackern des Fernsehapparats. Lesen, das Lesen von Literatur, hat keinen Zweck außer dem, geistige Perspektiven zu eröffnen und Erfahrungen zu ermöglichen, die uns fundamental fremd sind. Lesen macht Freude – und erfordert zugleich unendlich viel mehr Vorstellungsvermögen als jede Art von elektronischer Unterhaltung. Konservative lesen gern Bücher (und Zeitungen) auf Papier, nicht vorzugsweise auf dem iPad oder Kindle – und zwar, weil für sie auch Haptik, Werkstoffe und Gerüche eine Rolle spielen. Der Geruch von Druckerschwärze beispielsweise, Bücherregale aus Holz, die Griffigkeit (oder Abgegriffenheit) des Papiers. Bücher kann man übrigens auch mühelos mit hinaus in die Natur nehmen und sie selbst im hellen Sonnenlicht ohne Mühe entziffern. (7) Natur und Heimat. Konservative haben einen Hang ins Grüne. Sie brauchen Gärten, Parks, Landschaft, Umland, das Meer, die Berge. Außerdem Tiere: Hunde, Pferde, eventuell Katzen. Wer sich vor allem in geschlossenen Räumen, in Innenstädten und bei Kunstlicht wohlfühlt, ist wahrscheinlich kein Konservativer. Konservative hängen zudem an genau der Natur, die sie als Heimat kennen gelernt haben: Sie entfliehen nicht, wie die Linken, der „Enge“ dieser Heimat – sie verlieren sie allenfalls, ob durch Fortzug oder Windkraftanlagen. Der kosmopolitische Wechsel von einer Metropole in die nächste ist ihnen möglich, aber nicht lieb.
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(8) Manieren. Benimm galt den Achtundsechzigern, die nicht Norbert Elias (Der Prozess der Zivilisation) gelesen hatten, entweder als bourgeoise Verzierung oder als reaktionärer Unterdrückungsmechanismus. Dagegen setzten sie mit viel Erfolg die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Diese Weltsicht hat sich sowohl verbreitet als auch vulgarisiert. Wer öffentlich auf gutem Benehmen besteht („Könnten Sie eventuell nicht auf den Boden speien?“, „Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten?“), der erntet bestenfalls Belustigung, oder es heißt: „Isch fick deine Mudda.“ Manieren – Respekt gegenüber Älteren, Höflichkeit von Männern gegenüber Frauen – sind heute ein konservatives Programm. Dabei dienen sie gar nicht in erster Linie der Unterdrückung, sondern dem Zweck, sehr vielen sehr unterschiedlichen Menschen das Leben auf engem Raum erträglich zu machen. (9) Mäßigung. Mäßigung ragt zum Teil in den Bereich der Manieren hinein: Man könnte aus Rücksicht auf die anderen darauf verzichten, sich bis über beide Augenbrauen tätowieren oder sich Eurostück-große Löcher in die Ohren stanzen zu lassen. Ein ernsthaft Konservativer wird natürlich auch niemals online herumpöbeln und sprachliche Grenzen verletzen. Er (oder sie) wird nach Möglichkeit darauf verzichten, den Ehepartner zu betrügen – und wenn es doch sein muss, wird er (oder sie) nicht um Absolution betteln, sondern Diskretion üben. Die „bürgerliche Doppelmoral“ ist konservativ – und mitmenschenfreundlich. Sein eigenes schlechtes Gewissen muss jeder allein aushalten. Aber ein Mäßigungsgebot gilt auch für Formen der materiellen Selbstdarstellung: Konservative protzen eigentlich nicht, fahren eigentlich keine spritfressenden, übergroßen SUVs. Sie lassen ihre Schuhe besohlen und tragen ihre Barbour-Jacken, bis diese vom Wachs nicht mehr zusammengehalten werden können. An diesen Punkten geht Mäßigung in Nachhaltigkeit über, weshalb auch Grüne sehr gut konservativ sein können. (10) Alkohol. Tagsüber Alkohol zu trinken – zum Beispiel zwei Gläser Wein zum Mittagessen oder einen Whisky in der Redaktionskonferenz – ist konservativ. Moderne, fortschrittsorientierte Menschen trinken selbstverständlich nur Wasser, denn sie dürfen ihre „Flexibel-belastbar-kreativ“Maske nicht eine Sekunde lang fallen lassen. Sie dürfen sich nicht entspannen, deshalb ist Alkohol eine Bedrohung für sie. Konservative sind entspannt. Sie haben ein eingebautes Urvertrauen darauf, dass Gott oder
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ein gütiges Schicksal über ihren Lebensweg und ihren Erfolg wachen. Brennender Ehrgeiz ist ihnen tendenziell fremd. (11) Gestalt. Aus diesem Grund dürfen Konservative auch beleibt sein. Nicht adipös, das wäre ein Zeichen von Maßlosigkeit. Aber die Obsession, in metrosexuelle Anzüge von Ein-Personen-Designerlabels aus BerlinMitte zu passen, ist eher typisch für Neoliberale oder unsichere Aufsteiger. Konservativen geht es bei ihren Mitmenschen eher um Charakter, Intellekt, Ironie, Charme und Humor. (12) Charakter. Einen Charakter zu haben, also nicht opportunistisch jeden Wahnsinn des Chefs mitzumachen oder jeder neuen Digitalmode hinterherzulaufen, muss heutzutage als konservativ gelten. Und es ist auch riskant. Denn der flexible Kapitalismus, den der Soziologe Richard Sennett vor 20 Jahren so eindrucksvoll beschrieben hat (sein Buch hieß im Original: The Corrosion of Character) verlangt von seinen minions, dass sie bereits im vorauseilenden Gehorsam alles mitmachen, unabhängig von Überzeugungen oder besserem Wissen. Was insgesamt nicht dafür spricht, dass die Dinge in Unternehmen, an Hochschulen oder in der Politik besser werden – und Konservative darum mit tiefer Skepsis erfüllt. (13) Liberalität. Konservative können in vielen Einzelfragen liberal sein, aber sie sind keine Liberalen.
Verantwortete Freiheit – Basis des Konservativen Von Heinrich Oberreuter Konservative Orientierungen begründen längst kein Weltanschauungssystem mehr. Aber sie werfen die Frage nach Erhaltenswertem, vielleicht sogar nach Erhaltensnotwendigem im historisch-gesellschaftlichen Wandel auf. Voraussetzung ist folglich gesichertes Wissen um das, was bewahrt werden soll – ganz nach der aristotelischen Frage, was „gut“ ist im Sinne einer „sinnvollen“ Lebensgestaltung. Und ist es nicht auch im Sinne „konservativer“ Politik, Beiträge und Angebote dazu zu leisten, dass das Leben glückt? Nachdrücklich stellt sich also die Frage nach Werten. So gesehen impliziert sie zugleich eine Absage an deren Beliebigkeit und Relativität – einer Relativität, nach der alle erdenklich erstrebenswerten Güter als Werte definiert werden, und sei es z. B. materielle Gier. Doch in der Orientierung an einem normativen Überbau liegt kein konservatives Alleinstellungsmerkmal. Die politische Wertekonkurrenz kreist programmatisch weithin um die gleichen Güter. Entscheidend sind die Ankerpunkte. Die Differenzen beginnen bei der Begründung von Menschenwürde und Freiheit. Wie weit geht man in die Überlieferung zurück? Genügen Humanismus und Tradition der Arbeiterbewegung – oder bedarf es auch z. B. der Aktualisierung christlich-jüdisch-antiker Traditionen? Letzteres scheint z. B. auch Jürgen Habermas zu meinen. Je nachdem, wie man es sieht, wird die Frage nach den Maßstäben also andere Antworten finden. Das Axiom der Gottebenbildlichkeit des Menschen liefert einen Maßstab von erheblich größerer Reichweite als andere Begründungen für ethische Positionen, auch wenn man andere Begründungen durchaus zu Recht ebenfalls für wertvoll halten kann. Selbst aus dem wachsenden Bedürfnis nach moralischer und ethischer Orientierung in der Gesellschaft ist für unser Thema keine abschließende Klarheit zu gewinnen. Im Grunde führt alles Fragen immer wieder auf die
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hoffentlich informierte und verantwortete Freiheit des Individuums und ihre Verteidigung zurück. Dies auch unter den Bedingungen der Globalisierung. Denn es ist ein Irrtum, dass der Rückgang staatlicher Souveränität grundsätzlich auch Rückbau der realisierbaren Grundwerte bedeutet. Denn Moral und Glück werden, ganz im Sinne Böckenfördes, nicht durch das Recht des Staates geschaffen, sondern sie liegen ihm voraus. Umso größer wird die Herausforderung politischen und sozialen Handelns, ihnen zu entsprechen, wenn ein potenzieller institutioneller Garant wie der Staat schwächelt. Das historisch fortschrittliche normative Fundament des Gemeinwesens aktiv zu bewahren zum Schutz des Individuums, seines Lebens und seiner Würde, ist wohl im besten Sinn konservativ. Verlangt ist zudem eine neue, intensive ordnungspolitische Diskussion, welche die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft und ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen thematisiert. Dieses Verhältnis lässt sich nicht situationsabhängig definieren und gleichsam nach dem Problemangebot auf dem Tagesmenü „bestellen“. Man kann nicht heute den starken und morgen den zurückgenommenen Staat fordern. Man kann auch nicht, wie üblich, die Sicherheit vor sozialen Risiken dem Staat und den kollektiven Sicherungssystemen aufbürden und die Selbstverantwortung dafür mehr oder weniger verneinen. Faktisch verwischen sich die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Wirtschaft und Politik, wenn der Staat nicht mehr nur Rahmendaten setzt, sondern unmittelbar bis ins Detail gestaltend in die Finanz- und die Realwirtschaft eingreift, wenn er Gestaltungsräume an sich zieht, gesellschaftliche und ökonomische Freiheiten beschneidet und riskant auf das eine oder andere Terrain vordringt, auf dem für ihn nicht nur Erfolgs- und Kompetenz-, sondern auch letztendlich Legitimitätsrisiken lauern – zumindest dann, wenn Erfolge ausbleiben oder die Politik in Verantwortungsrollen gedrängt wird, die sie nicht ausfüllen kann, oder die sie zum Mitakteur auf Spielfeldern machen, die ihr nicht zustehen. Im Grenzfall könnte dies von Eingriffen in die Tarifautonomie bis zur Errichtung eines Versorgungsstaates reichen, welcher der Zivilgesellschaft, der Eigenverantwortung und dem Subsidiaritätsprinzip partiell den Boden unter den Füßen wegzuziehen vermöchte. Ein solch überdehnter Staat entlastet nicht nur von Risiken, sondern auch von Freiheiten. An diesem Punkt fällt übrigens die Grenzziehung zwischen Konservatismus und Liberalismus nur dann noch leicht, wenn der Liberalismus die soziale Verantwortung abstreift.
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Freiheit muss sich entfalten können, ganz im Sinne der Kantischen Autonomie. Tätiges Leben, Selbstverantwortung gehören ebenso zum christlichen wie zum liberalen Menschenbild. Die gesellschaftlichen und rechtlichen Normen müssen das Individuum tatsächlich handeln und seine Selbstverantwortung wahrnehmen lassen, statt es seiner Verantwortungsfähigkeit misstrauend zu entmächtigen. Menschenwürde empfängt man nicht von Kollektiven. Zu fragen ist, ob der aktive Staat die Lust zu Freiheiten, die mit Risiken verbunden sind, nicht längst gebrochen hat. Konservative sind gut beraten, die Diskussion zur Reduzierung des aktiven Staates zu einem aktivierenden intensiv und motivierend zu führen, nicht weil die sozialstaatlichen Ressourcen versiegen, sondern weil das selbstbestimmte Individuum samt allen Freiheiten und Risiken ihrem Menschenbild (und dem der europäischen Zivilisation) eher entspricht. Der Sozialstaat soll greifen, wo es notwendig ist, aber nicht dort, wo er es um seines in die individuelle und gesellschaftliche Autonomie eingreifenden Gestaltungswillens wegen tut. Die Rückführung praktischer aktueller Probleme auf ihren Grund zeigt deutlich, dass nicht neue Grundsätze zu suchen, sondern Grundsätze auf neue Herausforderungen anzuwenden sind. Mit Beharren hat dies in der Tat nichts zu tun, sondern mit höchst aktiver, moderner Gestaltung. Das in etwa hat wohl Franz-Josef Strauß mit seinem Diktum gemeint, konservativ sein heiße, auf dem Boden des christlichen Sittengesetzes in der weitest möglichen Form seiner Auslegung mit liberaler Gesinnung an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Ein knappes Fazit: Das Fundament des Konservatismus in seiner modernen Spielart ist seine Wertebasis, die auf Autonomie im Sinne verantworteter Freiheit hinausläuft und Angebote für ein geglücktes, selbstbestimmtes Leben bereitzustellen versucht. Angebote sind keine Patentrezepte. Demnach ist dieser moderne Konservatismus nicht monolithisch, sondern in seiner Ausgestaltung und seinen Aussagen durchaus plural. Selbst insofern er sich parteilich formiert, kennzeichnet ihn unausweichlich innerparteiliche Pluralität.
„Ich weiß, dass er mein Vater ist“ Von Stefan Vesper Alles „Konservative“ hatte in meiner Jugend und bis in das Erwachsenenleben hinein einen schlechten Ruf. Das galt für mich und alle meine Freunde. Ich bin 1956 geboren. Mein Weg führte mich in die katholische Jugend und hier zu einem breiten und langen Engagement, dann ins Studium von Geschichte und katholischer Religionslehre. Beruflich ging es zunächst in die katholische Erwachsenenbildung. Konservativ war für uns alles, was rückständig, verstaubt, „von gestern“ war, was nicht „hinterfragt“ werden durfte oder sollte. Alles, was sich so „anfühlte“ und was unbeweglich, im schlimmsten Fall autoritär, hartherzig war, das war „konservativ“. Damit wollten wir nichts zu tun haben. Wir haben konservativ als „Kampfbegriff“ in polemischen Auseinandersetzungen verwendet. Nur weg davon, aufbrechen, neue Wege suchen und wagen. Wenn ich heute trotzdem eine Reihe von „konservativen“ Zügen in mir wahrnehme, und wenn ich hinzufüge, dass das mit meinem katholischen Glauben zu tun hat, wenn ich es also auf die Kurzformel bringe „konservativ, weil ich katholisch bin“, dann muss ich mich zuerst zweifach abgrenzen. Einerseits gegen alles, was mit reaktionären theologischen Einstellungen zu tun hat, mit Stichworten wie Piusbrüder oder vorkonziliarem Christentum. Es gibt unter kirchlichen Reaktionären eine Haltung, die sich auf die Kirche beruft als „sichere Bank“ gegen alles Moderne. Manche ihrer gruseligen Sprecherinnen und Sprecher besetzen in den Talkshows die Rolle des „Clowns“ (und werden von den Redaktionen gerade deswegen eingeladen). Die andere Abgrenzung gilt der populistischen, rechten und rechtsradikalen politische Szene, die AfD eingeschlossen, die „den Papst und Putin“ als Kronzeugen ihrer Positionen anführen. Beides hat mit „konservativ“ nichts zu tun. Aber was dann? Gemeinsam mit anderen Gruppen vertreten katholische Christen in unserer Gesellschaft eine Reihe von mir wichtigen Werten. Solche Werte auch gerade in sich wandelnden Zeiten zu vertreten,
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halte ich für im guten Sinne „konservativ“. Einige Beispiele: Zentral ist für mich die Menschenwürde, wozu für mich zuallererst der Schutz des Lebens vom ersten bis zum letzten Moment gehört. Im – überflüssigen und für unsere Kirche sehr schädlichen – Streit um die Mitwirkung in der Schwangerschaftskonfliktberatung habe ich mit anderen immer wieder klar gestellt: Es gilt, das ungeborene Leben zu schützen und zugleich Frauen in Not alle notwendige Unterstützung zu geben, damit sie einen Weg für ein Leben mit dem Kind finden. Unsere Haltung ist dabei ebenso „konservativ“ wie die des Gesetzes, denn § 219 Abs. 1 StGB heißt: „Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.“ Diese Position richtet sich gegen niemanden, wohl aber gegen solche Verharmloser, die hier überhaupt keinen ethischen Konflikt sehen. Gerade im ethischen Konflikt gilt es zu schauen, was der wichtigste Wert ist, dem man verpflichtet ist. Und gerade hier entscheidet sich, was man vor seinem Gewissen verantworten kann. Sind all das „konservative“ Begriffe oder Haltungen? Gleiches gilt für den Schutz des Lebens bei Krankheit und insbesondere im Sterben. Auch hier ist die Beachtung der Menschenwürde gefragt. Die Debatte im Bundestag vor einigen Jahren hat mich aufgewühlt, auch wenn das Ergebnis gut war und wir andere Wege beschreiten als etwa in den Niederlanden oder Belgien. Redner, auch christliche, spielten die ethische Grundfrage gegenüber konkreten Einzelschicksalen aus. Solche Schilderungen sollten Emotionen wecken, um die Grenzen zur aktiven Sterbehilfe zu verwässern. Viel hat zu tun mit dem kleinen Wörtchen „nein“. Die katholische Kirche kann noch das Wort Nein sagen an Stellen, wo ich es für richtig halte. Es gibt berühmte Neins gerade in dieser Zeit: Das Nein von Papst Johannes Paul II. zum Irakkrieg – war das konservativ? Das Nein von Papst Franziskus zu Tausenden von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer – war das konservativ? Konservativ ist für mich nicht die Beschreibung eines „Lagers“. Es hat auch nichts zu tun mit der Haltung: „Wir machen es so, wie wir es immer gemacht haben!“ Konservativ ist für mich, notwendige Veränderungen aktiv und mit Vertrauen in die Demokratie zu gestalten und dabei Grundentscheidungen in allen notwendigen Kompromissen durchzuhalten. Es heißt für mich, die guten Prinzipien der katholischen Soziallehre anzuwenden: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit. Konservativ ist für mich der Kampf gegen den Klimawandel, der Einsatz
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für Nachhaltigkeit, für den Ausstieg aus der Atomkraft, für ein Tempolimit auf den deutschen Straßen, für eine CO2-Steuer, für die Besteuerung des Flugbenzins, für soziale Gerechtigkeit, für Bildungschancen insbesondere für die Schwachen – ich könnte fortfahren. Konservativ sein heißt, seine Eingebundenheit in seine weltweite Verantwortung zu sehen und entsprechend zu handeln, im Großen wie im Kleinen. Im Politischen wie im Persönlichen. „Weiß Dein Vater eigentlich noch, dass Du sein Sohn bist?“ wurde ein Mann, der sich um seinen an Alzheimer erkrankten Vater kümmert, gefragt. „Das weiß ich nicht“, sagte er, „aber ich weiß, dass er mein Vater ist.“ Das nenne ich konservativ. Jemand übernimmt aufgrund seiner Wertvorstellungen konkrete und un-bedingte Verantwortung. Konservativ, weil ich katholisch bin… Ich räume ein, das ist ein Wortspiel. Natürlich sehe ich in meiner Kirche einen erheblichen Reformbedarf. Das gilt für die Stellung der Frau, für die Machtfrage, für die Sexualmoral, für viele Regelungen des Kirchenrechts und für vieles andere. Aber unsere Kirche hat auch eine riesige Kraft, die vor allem von Menschen ausgeht, die sich engagieren: im Dienst für den anderen, von der Ehe- und Familienberatung über die Jugendarbeit, das politische Engagement in katholischen Verbänden und Gruppen bis hin zu den weltkirchlichen Werken wie Misereor und vielen anderen, die so viel Gutes tun. Übrigens: Die Kirchen sind die größten nichtstaatlich organisierten Kulturförderer in Deutschland. Ihr finanzielles Engagement ist größer als das der Länder oder das der Kommunen und als das des Bundes. Hat das mit Wertbezogenheit zu tun? Ich meine schon. Das gilt auch für das Engagement für Flüchtlinge. Schon weit vor dem Jahr 2015 haben sich unzählige Menschen in Deutschland sehr konkret in ihrer Stadt für Flüchtlinge eingesetzt und tun es bis heute. Christliche Initiativen, Gruppen, Pfarreien gehörten überall dazu. Zu sagen, es ist eine humanitäre Aufgabe, die keinen Aufschub duldet, diesen Menschen zu helfen, nenne ich im guten Sinne „konservativ“. Manche Gruppen werden das von sich weisen. Für mich ist es ein wertbezogenes, verantwortliches Handeln mit dem Ziel, die Menschenwürde zu wahren. Konservativ also, weil ich katholisch bin? Wortspiel oder Provokation – nein, mehr als das. Alles beschriebene Suchen und alles Engagement wurzeln im Evangelium. Das kriegen weder „Progressive“ noch „Konservative“
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klein. Sondern es ist eine unerschöpfliche Quelle für alle, die nach dem Sinn des Lebens suchen und in Verantwortung fragen: „Was muss sich ändern?“ Und: „Was gilt es zu erhalten?“
Konservativ ist nicht rechts Von Jürgen Kocka Über die Jahrhunderte hat im europäischen politischen Denken der Begriff „konservativ“ keine Rolle gespielt. Die Tendenz zur Erhaltung der bestehenden Ordnung gegenüber stets drohenden Gefahren von außen und innen war so dominant, dass es keines Begriffs bedurfte, um diese Haltung als besondere zu bezeichnen. Erst als fundamentale Veränderung zum Programm wurde, die Unterstützung starker Kräfte fand und – mit der Aufklärung, den Revolutionen um 1800 und den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts – ein Stück weit realisiert wurde, bildeten sich „konservativ“ und später auch „Konservatismus“ als Gegenbegriffe heraus. Vor allem seit den 1830er Jahren spielten sie eine Rolle im öffentlichen Diskurs, und zwar als Bezeichnungen von Haltungen, Verhaltensweisen, dann auch Vereinigungen und Parteien, die sich gegen unterschiedliche Veränderungskräfte wandten: gegen (zu viel) Aufklärung und drohende Revolutionen, gegen die Forderung nach Freiheit für alle und gesellschaftlicher Gleichheit, gegen Liberale, Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, letztlich aber gegen den immer rascheren Wandel, die mit ihm verbundenen Verwerfungen, gegen Unsicherheiten und gegen die kumulative Entwertung traditioneller Werte durch stetige Neuerung im Zeitalter der Modernisierung. Konservatismus bildete sich im Gegenzug zu anderem heraus, mehr als Haltung und Praxis, weniger als Programm und kaum als Theorie, und das in sehr unterschiedlichen Allianzen mit der Verteidigung von Ordnung und Tradition, von Monarchie, Staat und Kirchen, in Verbindung mit ständischer Interessenpolitik, aber auch als Teil weit verbreiteter Volkskulturen in Stadt und Land, die sich durch Kommerzialisierung, staatliche Disziplinierung und progressive Kritik bedroht fühlten. Im Übrigen waren die Unterschiede groß und die Widersprüche beträchtlich. Nehmen wir Otto von Bismarck als Beispiel. Er war ein scharfer Kritiker der Konservativen seiner Zeit, denen er vorwarf, nicht zu wissen, was sie konservieren wollten. Unter seiner Oberleitung fand tiefgreifender
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Wandel statt. Die gewaltsame Gründung eines großen Reichs in der Mitte Europas erschien vielen Zeitgenossen als „Deutsche Revolution“. Die innere Gestaltung des neuen Nationalstaats war so modern, dass sie Bismarck nur gegen den erbitterten Widerstand der meisten Konservativen durchsetzen konnte. Aber in Lebensstil und Gesinnung, als Landjunker und loyaler Diener seines Königs war Bismarck selbst ein Konservativer. Das war er auch als Initiator des deutschen Sozialstaats wie mit seiner Überzeugung, dass sich Geschichte nicht wirklich gestalten lässt und Staatskunst darin besteht, die historisch sich ergebenden Möglichkeiten rechtzeitig zu erkennen und zu nutzen. Seine entschiedene Veränderungspolitik konservierte von den überkommenen Macht- und Sozialverhältnissen mehr als seine unterlegenen Gegner gehofft und viele Zeitgenossen erwartet hatten. Andererseits brachten sie nachhaltige Neuerungen hervor, die bis heute wirken: Ambivalenz und Ironie, eine „konservative Revolution“, lange bevor dies in der Zwischenkriegszeit zum Schlagwort wurde. Der Begriff „konservativ“ blieb vieldeutig und unscharf. Auch im 19. Jahrhundert diente er eher als kritische Fremdbezeichnung denn als stolze Selbstbeschreibung. Konservative Parteipolitik verkam besonders in Preußen schon vor 1914 zu starrer Privilegienverteidigung, die der Versuchung des Flirts mit rechtspopulistischen, auch antisemitischen Strömungen nicht ganz widerstand. Doch der große Sündenfall kam erst im 20. Jahrhundert, als wichtige Teile des deutschen Konservatismus in der Ablehnung der Weimarer Republik und im Kampf gegen „links“ ein Bündnis mit der nationalsozialistischen Massenbewegung schlossen, die alles andere als konservativ war, aber Revanche für nationale Demütigung und Schutz gegen liberale Demokraten, Sozialisten und Kommunisten zu bieten versprach. Die Potsdamer Garnisonskirche, in der dieses Bündnis mit dem feierlichen Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler 1933 bekräftigt wurde, wird gerade wieder aufgebaut. Aber nach 1945 war der Begriff „konservativ“ so diskreditiert, dass ihn keine Partei mehr im Namen tragen wollte. In der Ordnung der Bundesrepublik steckt zwar viel konservative Substanz. Sie wurde nicht zuletzt deshalb zur Erfolgsgeschichte, weil die Konservativen jetzt anders als 1918 ihren Frieden mit der neuen Demokratie machten. Aber zum dominanten Selbstverständnis der Republik gehörten Vergangenheitsbewältigung, Erneuerungsanspruch und Modernisierungsbereitschaft, nicht aber Bewahrung und Beschwörung von Tradition. Be-
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sonders links von der Mitte gab es viel Misstrauen gegen die „ewig Gestrigen“ und optimistische Zuversicht in die Gestaltbarkeit des Fortschritts. Vieles ist heute anders. Zum einen bestreiten nur Wenige, dass wir – im Langzeitvergleich und im Vergleich zu anderen Ländern – auf Jahrzehnte relativ erfolgreicher Geschichte zurückblicken können: auf Frieden in diesem Teil der Welt, funktionierende Demokratie, gesellschaftliche Emanzipation und eine Wohlstandsvermehrung sondergleichen. Je eindeutiger man in der gegenwärtigen Krise erfährt, dass Errungenschaften wie diese auch wieder verloren gehen können, desto entschiedener dringt man auf eine Politik der Bewahrung und insofern auf konservatives Verhalten, gerade wenn man gewohnt ist, sich für universale Menschenrechte, wirkliche Demokratie, verantwortungsvolle Freiheit und soziale Gerechtigkeit einzusetzen und sich also links positioniert. Zum anderen weiß man zwar seit langem, dass der Fortschritt seinen Preis hat und immer auch nicht-intendierte, nur schwer oder gar nicht vermeidbare Gefahren, Lasten und Verluste zur Folge hat, und dass seine Früchte und Kosten meist sehr ungleich verteilt sind. Aber in den letzten Jahrzehnten sind problematische Folgen des technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts besonders deutlich hervorgetreten, vor allem als Bedrohung der natürlichen Umwelt und des Klimas, als überfordernde Beschleunigung und als Erosion lebenswerter Lebenswelten. Damit ist ein im Kern konservatives Interesse an Bewahrung und Schutz als politische Aufgabe mit guten Gründen dringlich geworden, auch als Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten. Auch wer sich eher links von der Mitte verortet und Zielen wie Demokratisierung, mehr soziale Gerechtigkeit, Lebensqualität für breite Bevölkerungsschichten und Verantwortung über die Grenzen des eigenen Landes hinaus verpflichtet fühlt, muss das ernst nehmen. Wie es Michael Bröning von der FriedrichEbert-Stiftung kürzlich formulierte: Auch für linke Politik reicht es nicht zu sagen, was sich ändern muss. Man muss auch sagen, was bleiben soll. Rechtslastige und rechtsextreme Parteien wie die AfD und die NPD sind heute nicht „konservativ“, sondern auf radikale Veränderung bedacht. Vernünftige Linke schätzen den Wert der selektiven Bewahrung, um Fortschritt zu gewährleisten. Kluge Konservative kennen die Notwendigkeit selektiver Veränderung, um Grundprinzipien zu bewahren. Zwar unterscheiden sich Konservative und Linke weiterhin in manchen Zielen, im
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Ausmaß ihres Vertrauens auf die Gestaltbarkeit der Zukunft, im Temperament und in der Positionierung zwischen Wertschätzung für Herkömmliches und Hoffnung auf Neues, im praktisch-politischen Umgang mit gegenwärtigen Krisen – mehr defensiv die einen, stark proaktiv auf Innovationen als Problemlösungen setzend die anderen. Meist sind die Unterschiede graduell. Als Bezeichnung für gegensätzliche politische Richtungen hat die alte Unterscheidung zwischen progressiv und konservativ dagegen ausgedient.
Change-Management Von Christoph Türcke In ihrem Privatleben sind Menschen gewöhnlich recht konventionell. Am Geburtstag oder Silvesterabend fassen viele zwar gute Vorsätze zum neuen Jahr – weniger Fleisch, weniger Alkohol, öfter aufräumen, mehr Zeit für die Familie, mehr Sport. Aber nach einem Vierteljahr lässt der Veränderungswille nach. Der alte Trott stellt sich wieder ein. Im Großen ist das anders. Da ist die Veränderung geradezu strukturell eingebaut. Die Wirtschaft muss wachsen. Die nächste Generation von Computern steht bereit. Die Mode der vergangenen Saison sollte langsam in die Kleidersammlung, und das alte Firmenlogo mag schon keiner mehr sehen. Also her mit einem neuen Outfit, neuen Geräten und Techniken, sonst wird man abgehängt. Und Menschen sind um so veränderungsbereiter, je mehr es ihre Umgebung ist. Einer der wirkungsvollsten Veränderungstheoretiker war Kurt Lewin. 1933 war er vor den Nazis in die USA geflohen und wurde dort zu einem Pionier der Gruppenpsychologie. Eine seiner leitenden Fragen war: Wie erzieht man die autoritätsfixierten Deutschen, die Hitler nachgelaufen sind, zu überzeugten Demokraten? Gewiss nicht, indem man ihnen auf autoritäre Weise demokratische Regeln einbläut. Aber auch nicht durch Laissez-faire. Von selbst kommen sie nicht zu demokratischen Verhaltensweisen. Man muss sie dahin lenken – sanft und beharrlich, aber nicht ohne Druck, bis sie schließlich von sich aus demokratisch denken und handeln. Dazu entwarf er ein verblüffend einfaches Drei-Phasen-Modell: Auftauen – Verändern – Einfrieren. Damit war gemeint: Verhärtete Charaktere öffnen sich Vorgesetzten oder Höhergestellten nur selten. Wenn sie hingegen in Peer Groups Sorgen, Ängste und Vorlieben artikulieren dürfen, wirkt das eher „auftauend“ auf ihre starren Einstellungen. Auftauen bedeutet Öffnung gegenüber anderen, aber auch Verunsicherung. Nur verunsicherte Menschen sind ernsthaft veränderungsbereit. Wenn Initiativ-
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gruppen in Betrieben, Behörden, Vereinen und Bildungseinrichtungen diese Bereitschaft behutsam erzeugen, dann die Verunsicherten gleichsam mitnehmen zu neuen Einstellungen und letztere allmählich festigen („einfrieren“), kommt es, so Lewin, am ehesten zu gründlichen und nachhaltigen mentalen Veränderungen. Wer sollte etwas dagegen haben, wenn auf diese Weise aus Faschisten echte Demokraten werden? Doch durch Sozialtechnik wird man nicht mündiger Demokrat. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob man Menschen als Subjekte erachtet, denen man eine neue Bildungsgelegenheit eröffnet, oder als Objekte, denen alternative Einstellungen antrainiert werden sollen. In beiden Fällen gibt es lenkende Eingriffe von außen; aber im einen sind sie Impulse zu eigener innerer Entwicklung, im andern implementieren sie veränderte Einstellungen. Im einen handelt es sich um Erziehung, im andern um Change-Management. Zwischen beiden gibt es Grenzfälle und Grauzonen (wie zwischen unbelebter und belebter Materie, männlichem und weiblichem Geschlecht), aber ihre grundsätzliche Verschiedenheit hört damit nicht auf. Lewins Drei-Phasen-Modell ist genuin sozialtechnisch. Deshalb ließ es sich von seinem ursprünglichen Zweck, der Re-Demokratisierung der Deutschen, bequem ablösen. Die CIA etwa entdeckte darin die Grundstruktur eines Gehirnwäscheprogramms, das nicht nur ein paar verhärtete autoritäre Einstellungen auftaute, sondern sämtliche Wahrnehmungs-, Koordinations- und Einstellungsschemata, bis die Versuchspersonen nicht mehr selbst gehen, essen, sich erinnern konnten – und sich widerstandslos jede beliebige Einstellung neu einpflanzen ließen. Breitenwirkung hat das Drei-Phasen-Modell freilich erst als generelles Steuerungsinstrument sozialen Wandels gewonnen. Ohne Change-Management sehen sich Firmen und Institutionen immer weniger in der Lage, ihre Belegschaften und Teams auf sich ständig verändernde Anforderungen einzustellen. Man taut die Mitarbeiter auf, führt ihnen bei Fortbildungen vor, dass ihre bisherigen Verhaltensweisen ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen sind, während Initiativgruppen zur Umorientierung schon bereitstehen. Widerstand dagegen gilt als illoyal oder teamschädigend. Derzeit erobert das Change-Management die letzte Bastion, die sich hochtechnologischer Betriebsführung noch nicht fügte: den Bildungssektor. Dazu müssen die Lehrer aufgetaut werden und bei Fortbildungen erst einmal wieder kindlich fühlen lernen. Man lässt sie barfuß mit geschlos-
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senen Augen den Fußboden erspüren. Wie Fünftklässler sollen sie ihre Sorgen und Wünsche auf Tischdecken schreiben. Und wenn sie schließlich aufgetaut genug sind, um freimütig zu bekennen, wie schwierig es für sie ist, die Anforderungen von Schülern, Eltern, PISA und Kultusbehörden miteinander zu vereinbaren, haken die Fortbildner ein und zeigen ihnen auf, woran das liegt: Sie wollen immer noch vor ganzen Schülergruppen stehen und ihnen denselben Lernstoff nahebringen, obwohl jedes Kind anders tickt und lernt. Sie müssen umdenken. From teaching to learning ist die neue Parole. Statt zu lehren sollen sie die individuellen Lernprozesse der Kinder organisieren, für jedes seine ihm gemäßen Arbeitsmaterialien und Lernziele heraussuchen und jedem als Berater zur Verfügung stehen. Und wenn im deregulierten Klassenraum, wo zwanzig verschiedene Lernverläufe gleichzeitig stattfinden, Gewusel und Lärm überhandnehmen? Kein Problem. Längst bieten findige Firmen Ohrenschützer im Klassensatz an, damit sich jedes Kind ungestört in seine Aufgaben vertiefen kann. From teaching to learning ist ähnlich intelligent wie „Vom Kochen zum Essen“. Der Fraß, der aufgetischt wird, wenn nicht mehr anständig gekocht wird, ist fade bis ungenießbar – wie ein Lernstoff, der bloß noch in Gestalt von Arbeitsblättern dargereicht wird. Wenn nicht mehr lebendige Lehrer Schülergruppen Sachverhalte eröffnen, ihnen etwas zeigen, ihnen Aha-Erlebnisse verschaffen – dann kann die Schule einpacken. Darauf bereitet die Digitalisierung in ganz wörtlichem Sinne vor. Bald werden alle Arbeitsmaterialien online gestellt sein, womit sich die Frage erhebt, warum Kinder und Jugendliche einen mühsamen Schulweg auf sich nehmen sollen, um in einem wuseligen Klassenraum zu tun, was sie genauso gut zu Hause erledigen könnten. Warum soll der Staat noch für teure Schulgebäude aufkommen? Warum sollen nicht Lernbegleiter jeden Schüler an seinem Ort aufsuchen, um ihn in seiner vertrauten Umgebung viel intensiver zu fördern als je in der Schule? Damit wäre der Unruheherd des deregulierten Klassenraums auf denkbar elegante Weise stillgelegt – und die Suche nach neuen, intelligenteren Aufbewahrungsformen von Schulkindern eröffnet. Warum der Ausbau von Ganztagsschulen? In der Arbeitswelt läuft der Trend doch gerade in die Gegenrichtung: Zurück in die Wohnungen! Warum die wachsende Menge digitaler Heimarbeiter nicht mit der Aufsicht über ihre ebenfalls digital arbeitenden Kinder betrauen und für die, deren Eltern außer
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Haus tätig sind, Lösungen in nächster Umgebung der Wohnung finden? Wenn Postfilialen in Supermärkten Platz finden, warum soll es dann nicht Schulfilialen in Firmen- und Verwaltungsgebäuden geben: Räume und Nischen, wo pädagogisches Hilfspersonal Aufsicht führt, Lernbegleiter zu gezielter individueller Beratung stundenweise hinzukommen und die Verköstigung durch die Werkskantine mitübernommen wird? Jedenfalls ist jetzt schon absehbar, worauf die flächendeckende Versorgung der Schulen mit Computern hinausläuft: die allmähliche Auflösung der Schule als eines geographischen Fixpunkts. Sie wird „virtuell“. Change-Management heißt, diese Entwicklung einleiten und steuern. Wer hier nicht mitmacht, gilt als Hemmschuh des Fortschritts: als querulatorisch, konservativ – was heutzutage ungefähr dasselbe bedeutet. Diese Art des Konservativseins hat wenig gemein mit den reaktionären Kräften, die sich zu AfD, FPÖ, Fidesz etc. verdichtet haben und eine ethnische Homogenität samt Abendland retten wollen, die es so nie gegeben hat. Um so mehr erinnert es an eine Notiz Max Horkheimers aus den 1960er Jahren: „Der wahre Konservative ist vom Nazi und Neonazi nicht weniger weit entfernt als der wahre Kommunist von der Partei, die sich so nennt. […] Nazis und Parteikommunisten sind Diener niederträchtiger Cliquen […]. Ihre wahren Feinde […] sind keineswegs, wie sie behaupten, die Totalitären der Gegenseite, sondern die, denen es mit der besseren, der richtigen Gesellschaft ernst ist. Zwischen Achtung und Verachtung läuft die Trennungslinie, nicht zwischen dem sogenannten Links und Rechts, dem schon veralteten bürgerlichen Gegensatz.“
Kakanien Von Herlinde Pauer-Studer Das Tagesprogramm ist in Großbuchstaben im Kalender vermerkt. Samstag, 18. Mai 2019: Rückzug in die Österreichische Nationalbibliothek. Denn an diesem Wochenende muss ich endlich den Artikel zum Thema konservativ?! verfassen, zu dem mich Michael Kühnlein und der Verlag Duncker & Humblot freundlicherweise eingeladen haben. By the way: Erstaunlich, dass der Herausgeber in diesem Band auch einer Stimme aus dem durch die gemeinsame Sprache getrennten Ausland Raum geben will. Was aber soll ich dazu schreiben? Was kann einem schon zum Thema „konservativ“ einfallen, wenn man im Museum lebt? Während mein Fahrrad über die Pflastersteine am Michaelerplatz rumpelt und mir einer der dort auf Kundschaft wartenden Fiakerkutscher ein charmantes „Geh Oide, foah net so dicht zu meine Pferderln zuabi“ nachruft, bemerke ich ein ungewöhnlich starkes Polizeiaufgebot. Vom Ballhausplatz herüber tönt Musik, und als ich dem Lärm folgend neugierig näher komme, sind die Sprechchöre deutlich vernehmbar: „Nie wieder FPÖ“. Dieser 18. Mai 2019 scheint, museales Ambiente hin oder her, wohl kein Tag wie alle anderen zu sein. Denn am Vorabend hat nicht nur Österreich, sondern die halbe Welt ein Video bewundern dürfen, in dem der von der Kühnheit seiner eigenen Ideen geradezu berauschte Vizekanzler der Republik Österreich einer vermeintlichen Oligarchennichte den Kauf der auflagenstärksten Boulevardzeitung des Landes vorschlägt – und für die dann angedachte Berichterstattung zu Gunsten seiner eigenen Partei, der sogenannten Freiheitlichen Partei Österreichs, Gegengeschäfte in Aussicht stellt, die nach simpelster BürgerInnenlogik ohne rechtliche Gratwanderungen und unzulässige politische Interventionen gar nicht zu Stande kommen können.
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Die Menschen auf dem Ballhausplatz warten auf den Rücktritt ihres Vizekanzlers. Warten sie, wie so oft in Österreich, vergeblich auf das politisch Notwendige? Doch als ich dann endlich im Lesesaal der Nationalbibliothek ankomme, ist das Erhoffte wahr geworden. „Ein Lob der Dummheit“, so schallt es mir laut lachend entgegen – und dies in einem Lesesaal, in dem für gewöhnlich weder Räuspern noch Hüsteln geduldet sind, vom Tuscheln mit Sitznachbarn zu schweigen. Was, so frage ich mich, soll mir jetzt zum Thema konservativ?! einfallen? Meine Gefühle sind in Aufruhr, mein Kopf eine Serie von Eindrücken und Assoziationen. Es gelingt mir nicht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Was soll man zum Demokratieverständnis eines Landes sagen, in dem der vierte Mann im Staate die vierte Macht im Staate, die Medien- und Pressefreiheit, als verkauf- und tauschbares Gut begreift, ja auf dem Marktplatz parteipolitischer Machtambitionen allen Ernstes zu verscherbeln versucht? Ein Loblied auf die Dummheit kann nicht über dieses normative Vertigo hinweg helfen. Bloß raus aus diesem ethischen Naturzustand … Meine strapazierten politischen Nerven sehnen sich nach Verlässlichkeit und klaren Grenzen. An diesem Samstag, an dem mich die österreichische Innenpolitik fest im Griff hat und von der Arbeit abhält, fühle ich mich nicht nur altbacken – nein: definitiv bin ich erzkonservativ, geradezu reaktionär, wenn es um die Erhaltung der konstitutiven Säulen der Demokratie geht. Doch halt: Wir sind ja hier in Kakanien – jenem Staat, den Robert Musil als die Verkörperung des Möglichkeitssinns beschrieben hat. Bis heute hat das Land seine demokratischen Ressourcen nicht genützt, ja teils gar nicht verstanden. Es spielt politische Möglichkeiten und Unmöglichkeiten gekonnt durch – bevorzugt in Form eines Kabaretts, das die Tatsachen nicht ironisch überzeichnet, sondern blanke Realität ist. Und die Bürgerinnen und Bürger des Landes haben sich längst daran gewöhnt, dass ihre wirklichen Kabarettisten, denen sie liebevoll zugetan sind, diese Realität gar nicht karikieren, sondern nur nachspielen müssen. Und während ich fassungslos und untätig auf den Laptop starre, fallen mir die Philosophen ein. Allen voran Kant und seine Mahnung, dass legitime politische Autorität ohne normative Selbstbindung und ohne
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einen Sozialvertrag, der die auf Vernunftgründen beruhende Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger voraussetzt, nicht zu haben ist. Und zudem hat uns Kant die Pflicht aufgebürdet, vom Naturzustand, wo die Macht des Stärkeren herrscht, in den Rechtszustand überzugehen, weil nur dieser die private und öffentliche Autonomie der Person gewährleistet. Ach Gott, was sollen diese lehrbuchhaften Formeln an einem Tage wie diesem? Zudem: Österreich war nie das Land Kants. Die Bewunderung für den „bestirnte(n) Himmel über mir“ mochte ja noch durchgehen. Doch „die Ehrfurcht […] für das moralische Gesetz in mir“ entlockt der kakanischen Seele bestenfalls ein ironisches Lächeln. Die Lebensmaxime dieses Landes sind weder kategorische Imperative noch Normen, die um ihrer selbst willen und aus Pflicht zu befolgen sind. Die Lebensmaxime ist vielmehr jene des heiter-verlockenden Möglichkeitssinns: „Man wird’s ja wohl noch denken dürfen, man wird’s ja wohl noch probieren dürfen.“ An diesem besonderen Tag der politischen Gefühle komme selbst ich mit Kant nicht weiter. Wenngleich ich ihn tief verehre, so gilt die Liebe ohnehin einem anderen, der viel über Eindrücke, Empfindungen und Affekte nachgedacht hat: David Hume. Für Hume sind künstliche Tugenden wie die Rechtsordnung auf Konventionen gebaut, die sich aufgrund geteilter und auf das Gemeinwohl gerichteter Interessen ergeben. Konventionen, an einem Tage wie diesem? Bloß nicht. Sinnlos. Also doch Kant? Nein, das geht nun wirklich nicht. Denn das Preußische, das mag dieses Land so ganz und gar nicht. Aber warum eigentlich? Haben die Gründe dafür etwas mit der legendären Feindschaft zwischen Friedrich dem Großen und Maria Theresia zu tun oder gar mit Moltke und Königgrätz? Oder ist die höfisch verklausulierte Antipathie einfach nur dem forschen Auftreten der befreundeten Nachbarn und ihrem harten sprachlichen Klang geschuldet? Letztlich spielt das alles keine Rolle. Es muss ja gar nicht Kant sein. Denn der größte Philosoph des Landes hat ja längst den Weg gewiesen: Regeln sind, wie er in seinen Philosophischen Untersuchungen schreibt, nicht nur unabdingbar für Lebensformen, sondern können – so sein berühmtes Privatsprachenargument – gar nicht privat, also nur mit Bezug auf das Ich und seine unmittelbaren Eindrücke und Empfindungen, formuliert werden.
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Hätte unser eben zurückgetretener Vizekanzler jemals Ludwig Wittgenstein gelesen, vielleicht wäre ihm gedämmert, dass sein Versuch, die Wünsche, Eingebungen und steilen Ambitionen seines Egos in eine allgemeine politische Regel umzuformulieren, den Test der Regelbildung schon rein konzeptuell nicht bestehen würde … Es ist Abend geworden – mein Artikel zu konservativ?! ist über einige Stichworte nicht hinausgekommen. Ich stehe am Ausgang der Nationalbibliothek und blicke, enttäuscht über meine Disziplinlosigkeit, in den weiten Himmel Wiens – hinüber zu den Ausläufern der Hofburg, wo eine in Zeiten von Regierungskrisen verfassungsmäßig mächtige Institution der Republik residiert: der Bundespräsident in seiner Präsidentschaftskanzlei. Was wird er machen und tun? Eben, so lese ich auf meinem Handy, habe der Bundespräsident eine Pressekonferenz gegeben, in der er von einem desaströsen Sittenbild sprach, das nicht dem Land entspreche: so sei Österreich nun mal nicht. Wovon redet der Bundespräsident? Wie sollen wir seine Aussagen verstehen? Während ich noch rätsle, erfahre ich, dass er ja eigentlich Folgendes gesagt und gemeint habe: „Liebe Österreicherinnen und Österreicher, im Grunde genommen ist dieses Video, das uns so schwere Stunden beschert hat, eine Art kollektives Hirngespinst. Es gehört in den Raum der Möglichkeiten, die nicht die Wirklichkeit sind, wenngleich das alles real ist, aber letztlich doch nur vermeintlich.“ Und genau deshalb lauschen die Österreicherinnen und Österreicher an diesem denkwürdigen 18. Mai 2019 ergriffen ihrem Bundespräsidenten. Denn in seiner kaiserlich-väterlichen Bedächtigkeit hat er sie mit seiner performativen Wunschformel davor bewahrt, sich für die moralische Verfasstheit ihres Landes und seine korrupte politische Kultur schämen zu müssen. Leider habe ich nach wie vor keine Ahnung, was ich zum Thema konservativ?! schreiben soll …
Zerstören oder bewahren – wie links ist konservativ? Von Jürgen Trittin Es ist schlecht bestellt um den Konservatismus – in Deutschland und in der Welt. Das Ende des Neoliberalismus und der Aufschwung von rechtem Populismus wie völkischem Nationalismus sehen ihn in einer Sinnkrise. Konservativ wird landläufig rechts verortet. Das ist ein Vorurteil. In Sachen Strukturkonservatismus haben sich die CDU zur Rechten und die SPD zur Linken nie etwas genommen. Wer wüsste das besser als die Grünen? Die CDU kämpfte jahrzehntelang mit den Energiekonzernen und die SPD mit der IG BCE für die subventionierte und klimaschädliche Kohle. Die Kanzlerin hielt den Oligarchenfamilien Porsche/Piëch und Quandt für ihre gescheiterte Dieselstrategie den Rücken frei – und die Betriebsräte der IG Metall bei Volkswagen, BMWund Daimler konnten sich dabei auf die SPD verlassen. Die Rechten, die heute Erfolg haben, sind nicht konservativ. Nicht im Wortsinn. „Conservare“ ist das Erhalten von Werten und Hinterlassenschaften – das Land, die Erde. Die Rechten aber wollen zerstören. Ex-Präsidentenberater Steve Bannon beruft sich dabei sogar auf Lenin („Lenin wollte den Staat zerstören – das ist auch mein Ziel!“). US-Präsident Donald Trump steigt aus dem Pariser Klimaschutz-Abkommen aus – im Interesse der US-Öl-, Gas- und Kohleindustrie. Sein brasilianischer Gesinnungsgenosse Jair Messias Bolsonaro will die Abholzung der Regenwälder beschleunigen. Entwaldung verursacht heute schon ein Fünftel der Treibhausgasemissionen. Neoliberale Ideologen klatschen dazu Beifall. Ulf Poschardt von der Welt führt seinen persönlichen Dschihad gegen das Tempolimit. Er sieht die Autobahn als „letztes Freiheitsfeld“. Die einst konservative FAZ stimmt zu und formuliert: „Besser zwei Grad Erwärmung als 2 Prozent weniger Freiheit“.
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Bewahren hieße die Erde vor den Folgen einer sich beschleunigenden Klimakrise zu schützen. Wer nicht 5–20 Prozent des weltweiten Bruttoinlandseinkommens riskieren will, wer nicht in der Nordsee nach den Resten der Lüneburger Heide tauchen will, muss dafür sorgen, dass die globale Erhitzung unter 2 8C, besser: unter 1,5 8C bleibt. Rechte Populisten und radikale Neoliberale wollen das beide nicht. Sie wollen das Gegenteil. Wollen wir aber unseren Planeten bewahren, bedarf es eines ganzen Bündels von Maßnahmen. Neben dem Ausbau Erneuerbarer Energien sind dies ein funktionierendes Emissionshandelssystem sowie eine CO2Steuer. Bei beiden Instrumenten geht es darum, die Externalisierung interner Kosten zu Lasten der Allgemeinheit zu verhindern. In dem einen Fall geschieht dies durch eine Verknappung der Verschmutzungsrechte, welche zu steigenden Preisen für die Tonne CO2 führt. Im anderen sorgt die Steuer dafür, dass die ins Produkt eingeflossene Verschmutzung der Atmosphäre durch CO2 einen Preis bekommt. Beides sind politische Instrumente. Beide nutzen Marktmechanismen – beruhen aber auf einem demokratisch legitimierten Eingriff in den Markt. Man kann es ordo-liberal nennen – oder einfach konservativ. Es wird in den Markt eingegriffen, um zu bewahren. Hier haben wir auch den wesentlichen Unterschied zum Neoliberalismus und seinem Marktradikalismus. Diese Differenz spaltet zunehmend das Lager der politischen Rechten. Nach dem Scheitern des Neoliberalismus in der globalen Finanzkrise 2008 stehen sich eine wachsende Zahl rechter Nationalisten und eine kleiner werdende Gruppe demokratischer Konservativer gegenüber. Die Konfliktlinie zwischen Markt und Staat ist auch für das zweite große globale Problem maßgeblich – die wachsende Ungleichheit. Wenn heute weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen als die untere Hälfte der Menschheit, dann ist das mehr als ein moralisches Problem. Es ist eines, das mittlerweile die Stabilität des Weltwirtschaftssystems gefährdet. Ungleichheit lässt zyklisch Vermögensblasen und Überschuldung entstehen. Finanzkrisen wie die letzte von 2008 sind die Folge. Und die wachsende Ungleichheit untergräbt vielfach die Versorgung der Menschen mit
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elementaren, nicht substituierbaren Gütern. Deshalb wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in den meisten Staaten des demokratischen Kapitalismus Maßnahmen ergriffen, einer zu großen Ungleichheit entgegenzuwirken. Ein Beispiel ist das Gebot der bayerischen Verfassung für eine Erbschaftssteuer, die auch dazu dient, „die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern“ (Art. 123, 3). Offensichtlich gibt es im Verfassungsanspruch und in der Verfassungswirklichkeit massive Defizite. So hat globales Vermögen auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten die Städte Deutschlands entdeckt – weniger um zu bauen, mehr um Geld zu bunkern und seinen Wert zu steigern. Das Ergebnis: Tausende Hektar ausgewiesenes Bauland werden nicht bebaut. Vorhandene Mietwohnungen werden durch Umwandlung dem Markt und den einkommensschwachen Familien entzogen. Bei wachsenden Bevölkerungszahlen in den Städten verschärft sich die Wohnungsnot und ist dabei, den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden. Wer den gesellschaftlichen Frieden erhalten möchte, kommt nicht umhin, in diesen Markt politisch, demokratisch legitimiert einzugreifen. Über die Instrumente darf gestritten werden – aber ohne einen Eingriff in den Markt und damit auch in Eigentumsrechte wird dies nicht gelingen. Ob dies durch Vergesellschaftung oder durch Baugebote mit Enteignungsdrohung geschieht, die Städte werden handeln müssen. Sie müssen handeln, um zu bewahren. Sie setzen mit ihrem Eingriff ins Eigentum ein zentrales Gebot des Grundgesetzes um. Dort ist nicht nur das Eigentum garantiert, es „verpflichtet“. Das heißt: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14, 2). Das zu wahren ist ein Wert. Was also ist heute konservativ? #FridaysForFuture, Deutsche Wohnen und Co. enteignen – das ist heute konservativ.
Der Konservatismus ist modern! Von Henning Ottmann Die beliebte Frage „Was ist konservativ?“ wird auch heute wieder gestellt. So fragt sich etwa die CDU, ob sie wieder konservativer werden solle. Soll sie, statt sich Mitte-links zu platzieren, wieder einen Platz Mitte-rechts anstreben? Im größeren Horizont nährt sich das aktuelle Interesse an der Frage auch durch die neuerdings aufgekommenen „rechtspopulistischen“ Bewegungen. Sind diese konservativ oder nicht? Nun ist der Begriff „Populismus“ noch schwammiger als der Sammelbegriff „Konservatismus“. Was soll falsch daran sein, sein Ohr am Puls des Volkes zu haben? Ist nur der Rechtspopulismus schlecht, der Linkspopulismus aber gut und erwünscht, wie dies neuerdings Chantal Mouffe versichert? Solche Überlegungen mögen alle die erfreuen, die Spaß an RechtsLinks-Spielereien haben. Sie bringen uns aber nicht weiter. Seit der konservativen Revolution in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Fronten schon restlos verwirrt. Es gab damals „linke Leute von rechts“ (Schüddekopf ): Nationalbolschewisten, preußische Sozialisten, konservative Anarchisten, Revolutionäre, die erst einmal „Dinge schaffen“ wollten, „die sich zu erhalten lohnen“ (Moeller van den Bruck). Offensichtlich war man verzweifelt und man war bereit, starke Medikamente zu nehmen. Im 19. Jahrhundert war der Konservatismus noch anders gewesen: liberalkonservativ (Burke, Hegel), romantisch (Novalis, Adam Müller, Disraeli, Chateaubriand), sozial (Lorenz v. Stein, Kathedersozialisten). Man wollte retten, was noch zu retten war und nicht wie die Gegenrevolutionäre (de Bonald, de Maistre, Cortés) in der Trauer über den Verlust des unwiederbringlich Guten versinken. Eine Partei, die noch Volkspartei sein will, wird gut daran tun, allen Strömungen des Konservatismus, ob liberal, romantisch oder sozial Raum zu geben. Auch die Bewahrung der Natur (oder der Schöpfung) gehört in das Spektrum des Konservatismus. Dass sie ursprünglich konser-
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vativ war, wird nur dadurch verdeckt, dass sich die Ökologie heute seltsamerweise mit Feminismus oder Sozialismus paaren will. Der Konservatismus ist modern, nicht weniger als der Liberalismus oder der Sozialismus des 19. Jahrhunderts. Er ist nicht zu verwechseln mit einem Traditionalismus. Dieser bezeichnet eine allgemein-menschliche Eigenschaft, „dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf Neuerungen eingehen“ (Mannheim). Traditionalismus gibt es in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten, Konservatismus erst seit der Französischen Revolution, als die einen auf den Fortschritt setzten, die anderen dagegen bewahren wollten. Bewahrung konnte vielerlei meinen: Festhalten am Status quo, Restauration oder Reform (Epstein). Der Reformkonservatismus war dabei die aussichtsreichste Variante. Wer ein Bild restaurieren will, weiß, dass er vieles unternehmen muss: das Bild reinigen, hier und da ausbessern, neuen Firnis auftragen etc. Man kann nicht bewahren, ohne zu reformieren. Selbst Revolutionäre entgehen der Bewahrung nicht. Nach erfolgreicher Revolution werden sie konservativ. Amerikaner pilgern nach Monticello, Russen zum Lenin-Mausoleum, wo sie die pharaonisch einbalsamierte Mumie ihres Staatsgründers besichtigen können. (Was zu deren Erhaltung oder Restaurierung von Medizinern tagtäglich geleistet werden muss, mag man sich gar nicht vorstellen). Wenn ein Boot sich nach links neigt, muss man auf die andere Seite gehen, damit es wieder ins Gleichgewicht gerät (Th. Mann). Das ist vernünftig. Konservatismus muss aber mehr sein als eine kurzfristige ad hocEntscheidung. Im großen geschichtlichen Horizont hängen seine Chancen davon ab, wie er sich zur Moderne positioniert. Je mehr er in eine radikale Opposition zur Moderne gerät, umso mehr schwebt er in der Gefahr, sich in eine kompromissunfähige Kultur der Trauer zu flüchten. Man will dann in „Palästen wohnen, die längst schon verfallen sind“ (Kaltenbrunner). Je mehr er sich zum bloßen Fürsprecher der Moderne macht, umso mehr verliert er seine Fähigkeit, ein Kritiker des Fortschritts (und seiner Kosten) zu sein. Ein attraktiver Konservatismus muss eine Balance finden zwischen Apologie und Kritik der Moderne. Er kann (und er sollte) versuchen, die Bedingungen der modernen Freiheit zu bewahren, die diese aus ihren eigenen Ressourcen nicht sichern kann. Der Philosoph und Schüler Joachim Ritters, Odo Marquard, nannte diese Position, mit leicht ironischem Unterton, „Modernitätskonservatismus“. Überhaupt bot die Ritter-Schule ein reiches Reservoir neo-konser-
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vativer Positionen. Man teilte nicht die Verzweiflung der konservativen Revolutionäre, sondern ging hegelianisch von der Vermutung für die Vernünftigkeit des Bestehenden aus. Wo die Verhältnisse eine (widerlegbare) Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben, gilt die Beweislastverteilungsregel Martin Krieles: „Begründen muss, wer verändern will“. Das berühmte Wort Böckenfördes, „der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, wurde zu einer Art bundesrepublikanischem Credo des Staatsrechts und der Politik. Ein anderer Schüler Ritters, Hermann Lübbe, wies darauf hin, dass die zunehmende Veraltungsgeschwindigkeit der Kultur konservative Gegenreaktionen hervorruft. Dafür sprechen die Denkmalpflege und die überbordenden Archive genauso wie der Boom der Museen, der Oldtimer und der Flohmärkte. Dieser Boom erklärt sich nicht allein dadurch, dass manche ihre Jugend wiederhaben wollen. Er ist vielmehr die logische Reaktion auf die immer zunehmende Veraltungsgeschwindigkeit. Je schneller das Neue veraltet, desto mehr werden wir das Alte schätzen. Je ähnlicher sich die Kulturen zwischen New York und Tokio werden, umso mehr werden wir wissen wollen, wer wir sind. In Amerika ist der Kommunitarismus eine lebendige Spielart des Konservatismus. Er erinnert an die religiösen oder zivilreligiösen Grundlagen der Demokratie, an Tocquevilles „Gewohnheiten des Herzens“ (Bellah). Er fragt, was die Grundlagen der Anerkennung in multikulturellen Gesellschaften sein können und stützt sich dabei auf Hegel. Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie (Taylor)? McWorld und Dschihad, scheinbar Gegensätze, sind beide der Demokratie nicht freundlich gesinnt. „Starke Demokratie“ (Barber) braucht andere Quellen. Kommunitaristen finden sie in den gemeinsam geteilten Überzeugungen und Werten, aus denen eine Gemeinschaft lebt. Diese werden nicht von Propheten, die auf einen Berg steigen, „entdeckt“, oder von Philosophen in Seminaren „erfunden“. Sie werden gemeinsam erlebt und „interpretiert“, was den Abstand zwischen dem Bürger und dem Kritiker „auf Zentimeter“ schmelzen lässt (Walzer). Konservative sind keine Populisten. Das ständige Beharren auf dem Gegensatz von Volk und Elite, die Behauptung, man spreche für „das“ Volk, die Polarisierung und Verschärfung der Rhetorik sind ihre Sache nicht. Normen kommen aus der Normalität. Das macht Konservative misstrauisch gegenüber Extremen. Im permanenten Ausnahmezustand lässt sich weder regieren noch leben. Die „Magie des Extrems“ mag für In-
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tellektuelle (oder frisch Verliebte) verführerisch sein. Konservative scheuen vor ihr zurück. Sie bevorzugen das Konkrete vor dem Abstrakten, den Einzelfall vor dem System, das Gewachsene vor dem Gemachten, das konkrete Haus vor dem Grundriss (Mannheim). Sie leben in der Geschichte und erzählen gerne Geschichten. Theoriefeindlich sind sie nicht. Sie grenzen sich nur ab vom Fanatismus sowie von progressistischen Ideologien, die einen bösen Blick auf das Bestehende werfen und ein gutes Leben erst für die Zukunft verheißen. Wenn Konservative etwas wiederhaben wollen, dann ist es die Normalität eines Lebens, das jetzt gelebt wird. Wann denn sonst?
Stockkonservativ Von Annemarie Pieper Der Hang zum Konservativen speist sich bei uns Menschen aus dem Bestreben, unsere Zeitschiene in die Zukunft hinein zu verlängern und dadurch die Grenzen zu verschieben, die uns durch die Endlichkeit der Dinge gesetzt sind. Wenn es gelingt, leicht Verderbliches, aber als wertvoll Geschätztes über sein natürliches Verfallsdatum hinaus zu erhalten, trägt dies wesentlich zur Stabilisierung der Lebensqualität bei. So brachte die Konservierung von Lebensmitteln einen Überlebensvorteil mit sich. Die erlegte Beute musste nicht sofort möglichst ganz verzehrt werden, sondern konnte durch Pökel- oder Lufttrocknungsverfahren haltbar gemacht werden. Entsprechend wechselten sich nicht mehr Fressorgien mit Hungerphasen ab, sondern eine gleichmäßige Ernährung sorgte für eine ausgewogene Gesundheit. Heute horten wir Tiefgekühltes, insbesondere Eingemachtes und Konservendosen, um Engpässen vorzubeugen und in prekären Situationen jederzeit auf einen Notvorrat zurückgreifen zu können. Langfristig zu Bewahrendes wird speziellen Behandlungen unterzogen. Wie der Reproduktionsmediziner auf Kryokonservierung zur Frischhaltung von Embryonen für spätere Schwangerschaften setzt, so der Konservator auf Mittel zur Auffrischung musealer Werke, die den Kunstgenuss nachfolgender Generationen befriedigen sollen. Und einem Leichnam wird durch Einbalsamierung gar ein Hauch von Ewigkeit verliehen. Wir sind stockkonservativ. Damit der Stock nicht verdorrt, muss eine gewitzte Phantasie ihn als Steuerknüppel benutzen und ständig dazu anhalten, immer wieder neue Sprosse auszutreiben, um Altgewohntes zu optimieren.
Konservatismen als Regime der Geschichtlichkeit Von Michael Seewald Im Unterschied zu anderen Großfamilien politischer Theoriebildung fällt es schwer, eine materiale Kontinuität konservativer Positionen im Wechsel der Zeiten zu benennen. Soll die in unterschiedlichen Kontexten anzutreffende Bezeichnung nicht als bloße Äquivokation hingenommen werden, muss sich die Frage, was konservativ zu sein bedeutet, auf einer möglichst formal bestimmten Ebene beantworten lassen. Dazu hat Klaus Epstein, ein in Hamburg geborener Historiker, dessen Familie vor der Bedrohung durch die Nationalsozialisten in die USA emigrierte, in seiner Studie The Genesis of German Conservatism (Princeton, 1966) interessante Hinweise gegeben. Epstein unterscheidet drei Stereotypen des Konservativen. Der status-quo-Konservative „nimmt üblicherweise eine ungeschichtliche Perspektive ein – eine Tendenz, die wesentlich mit seiner statischen Weltsicht zusammenhängt. Er hat keinen Grund, mit zurückliegenden historischen Entwicklungen zu hadern, da sie zu einer Gesellschaft geführt haben, mit der er zufrieden ist. Jede zukünftige Entwicklung jedoch wird als Abweichung von den ewigen Prinzipien einer ,natürlichen Gesellschaft‘, wie der status quo sie verkörpert, betrachtet.“ Der Reformkonservative, so Epstein, kennt „den Verlauf historischer Entwicklungen und sieht die Unvermeidlichkeit bestimmter Änderungen“, was ihn vor ein Dilemma stellt: „Veränderungen geschehen entweder unter der aktiven Mitwirkung von Männern wie ihm, der verschonen wird, was immer von der Vergangenheit gerettet werden kann, oder Veränderungen werden durch radikale Kräfte bewirkt, die bei der Zerstörung des ancien régime deutlich weiter gehen als nötig und keinerlei Wert darauf legen, größtmögliche historische Kontinuität zu wahren“. Der dritte Typ des Konservativen, „der Reaktionär, ist genau genommen kein Konservativer im strengen Sinne, da er nicht zu erhalten versucht, was gegenwärtig ist, sondern einen früheren Zustand wiederherstel-
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len will, den die Geschichte überholt hat“, so Epstein. Diese Klassifizierung ist einerseits zu grob und unvollständig, da konservative Realtypen vermutlich eine Kombination aus den drei genannten Idealtypen darstellen und man zudem verschiedene Ebenen des Konservatismus unterscheiden könnte, etwa einen Konservatismus der Zwecke (das, was erreicht werden soll) und einen Konservatismus der Mittel (wie es erreicht werden soll). Epsteins Klassifizierung ist andererseits jedoch richtungsweisend, da sie durch ihre Analysen der Zeitlichkeit Entwicklungen des sogenannten temporal turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften vorweggenommen und für das Verständnis des Konservatismus fruchtbar gemacht hat. Konservatismen sind nämlich in formaler Hinsicht Regime der Geschichtlichkeit. Dieser Begriff geht auf den französischen Historiker François Hartog zurück, der unter einem régime d’historicité den machtförmigen Umgang mit Zeitwahrnehmungen und Geschichtsbildern versteht. Während im Sozialismus und im Liberalismus das Geschichtsbild des Noch-nicht im Vordergrund steht, die Geschichte also entweder offen ist und zur Gestaltung ruft (so der Liberalismus des 19. Jahrhunderts) oder durch eine Teleologie getrieben wird, in die es einzustimmen gilt (so der Historische Materialismus), ist das konservative Zeitempfinden durch ein Nicht-mehr geprägt. Eine als schützenswert angesehene Ordnung wird als bedroht oder gar verloren gedeutet. Sie gilt es aus konservativer Sicht zu erhalten (das status-quo-Moment), wenn nötig um ihrer Erhaltung willen zu reformieren (das reformerische Moment), oder aber, sofern diese Ordnung bereits als verloren geglaubt wird, aktiv zurückzugewinnen (das reaktionäre Moment). Dem Konservatismus liegt also ein spezifisches Zeitempfinden zugrunde, aus dem sich ein Geschichtsbild ergibt, das zugleich die Mannigfaltigkeit und die Einheit der Konservatismen begründet. Vielfältig ist der Konservatismus, da er spektral (in Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft usw.), national, regional, sozial (in verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft) oder temporal diversifiziert vorkommt. Diese Diversität bringt eine Konkurrenzsituation, unter Umständen gar eine Gegnerschaft verschiedener Konservatismen mit sich. Das gilt nicht nur für konservative Politiker zu unterschiedlichen Zeiten oder zur selben Zeit in verschiedenen Ländern, die konkurrierende Interessen verfolgen, sondern unter Umständen auch für simultan bestehende konservative Einstellungen innerhalb ein und desselben Landes sowie ein und derselben Gesellschaft, allerdings in unterschiedlichen Schichten. Das Bür-
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gerliche Trauerspiel zum Beispiel thematisiert genau diese Konstellation, in der ein sittlicher Konservatismus des Kleinbürgertums – etwa der eines Odoardo in Lessings Emilia Galotti oder der eines Herrn Miller in Schillers Kabale und Liebe – auf die an bürgerlichen Moralvorstellungen desinteressierte Libertinage des Hochadels trifft. Der Adel seinerseits ist jedoch in diesen Dramen politisch gesehen ein hartnäckiger Vertreter des anti-revolutionären status-quo-Konservatismus, was er in gewissen Grenzen sogar mit dem Kleinbürgertum teilt, dem seinerseits, zumindest in den beiden Dramen, an der Erhaltung einer normativ aufgeladenen Ordnung mit einem Fürsten an der Spitze gelegen ist. Die Deutung von Konservatismen als Regime der Geschichtlichkeit eröffnet damit zugleich einen Zugang zur Einheit konservativen Denkens. Denn das Bestreben, eine als bedroht wahrgenommene Ordnung des Überkommenen zu schützen, ist in der Lage, Diskurskoalitionen einzugehen. Der Begriff der Diskurskoalition beschreibt, so Maarten A. Hajer, die teilweise, womöglich auch zeitlich begrenzte Überschneidung verschiedener Diskurse durch den Bezug auf eine gemeinsame story line, die diese Diskurse wie ein roter Faden verbindet. Eine solche Diskurskoalition könnte etwa auf einem Verfallsnarrativ beruhen, das verschiedenen Akteuren aus unterschiedlichen, womöglich sogar miteinander konkurrierenden Interessen als gemeinsamer Referenzpunkt dient. Gegenwärtig zeigt sich zum Beispiel eine Allianz zwischen manchen Strömungen des konservativen Katholizismus und der sogenannten Neuen Rechten. Das „Forum Deutscher Katholiken“ sieht sich nach eigener Auskunft als eine Vereinigung „papst- und kirchentreue[r] Katholiken“, die sich zum Katholizismus, „wie er im ,Katechismus der Katholischen Kirche‘ zusammengefasst ist“, bekennt. Es profiliert sich als konservative Alternative zu anderen katholischen Verbänden und Dachorganisationen, etwa dem „Zentralkomitee der Deutschen Katholiken“, dem das Forum eine zu starke Liberalisierung und eine illegitime Politisierung des katholischen Glaubens vorwirft. Wer jedoch die „Resolution“ des im Juni 2019 durch das Forum veranstalteten Kongresses „Freude am Glauben“ liest, wird diesen Text kaum von einem neurechten Pamphlet unterscheiden können. Der Sprecher und sein Stellvertreter beklagen darin im Namen des Forums und unter dem Protektorat mehrerer deutscher Bischöfe „eine Gedankenpolizei mit Gesinnungs- und Sprachdiktaten“, was sich daran zeige, dass das „Wort ,Deutsches Volk‘ […] von Regierungsvertretern in ,Bevölkerung‘ umgewandelt“ werde, dass der
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„zwangsfinanzierte Staatsfunk und zahlreiche Pressevertreter“ ihrer Arbeit so nachgingen, „als ob sie zum bezahlten Hofstaat der Regierung gehörten“ und dass die Regierung in der Flüchtlingskrise „wissentlich und willentlich die eigene nationale Souveränität aufgegeben“ habe. Das Forum, das vorgibt, lediglich den Katechismus der Katholischen Kirche – ein Dokument aus dem Jahr 1992, das im Wesentlichen eine Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses darstellt – zu propagieren, übernimmt damit die story line der Neuen Rechten. Offenbar hat sich die Verlusterfahrung des Nicht-mehr, die die Texte des Forums durchzieht, mit den Verfallsnarrativen der Neuen Rechten derart verbunden, dass die nostalgischen Fantasien beider Gruppen eine Diskurskoalition eingegangen sind. Gemeinsamer Bezugspunkt der Sehnsucht ist eine mit starker Hand agierende Autorität, die vermeintliche Bedrohungen abwendet und einen verlorenen Idealzustand wiederherstellt. Für die Katholiken des Forums ist dieser Idealzustand eine religiös vitale und uniforme, von säkularen Strömungen unberührte Vergangenheit, während neurechte Kreise mit säkularen Tendenzen kein grundsätzliches Problem haben, sich dafür aber eine von Migration nicht beeinträchtigte, ethnisch uniforme Gesellschaftsordnung wünschen. Religiöse und ethnische Uniformität sind nicht dasselbe und können sogar in Spannung zueinander treten, vermögen aber auch, sich wechselseitig zu verstärken, was der Fall ist, wenn die Neue Rechte mit religiös aufgeladenen Kategorien („Islamisierung des christlichen Abendlands“) und Teile des katholischen Konservatismus mit politischen Begrifflichkeiten („Volk“, „Souveränität“, „Widerstand“) operieren. Was zeigt diese unheilvolle Allianz? Konservatismen sind strategisch wandlungs- und koalitionsfähiger als man auf den ersten Blick meinen könnte. Man darf nicht unterschätzen, welche Kräfte ein Zeitempfinden des Nicht-mehr freisetzen kann. Ein aufgeklärtes Verhältnis zu diesem Nicht-mehr zu unterhalten, das Idealisierungen des Vergangenen entgegentritt, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaften, sofern sie ihre gesellschaftliche Relevanz ernstnehmen, und dürfte zugleich auch das Anliegen eines gemäßigten, selbstreflexiven Konservatismus sein.
Vom Elend, als konservativ zu gelten Von Werner J. Patzelt Schon das Wort „konservativ“ ist zu einer Angriffswaffe geworden. Sie schädigt verlässlich, wen sie trifft. Als Konservativer zu gelten, kommt in vielen Sozialräumen dem Ausschluss aus den Reihen der Klugen und Guten gleich. Ein „Erzkonservativer“, ein „strammer Konservativer“, ein „Rechtskonservativer“ auch nur genannt zu werden, rückt einen in die Nähe eines „strammen Rechten“. Der aber gilt als Latenznazi und verhohlener Rassist. Bestenfalls ist ein Konservativer ein politisch Verirrter – und allenfalls dann akzeptabel, wenn er sich als „Liberalkonservativer“ zu erkennen gibt, besser noch: als „Sozialkonservativer“. Zugleich muss er sich für mittig erklären und allem Rechten abschwören. Man täusche sich also nicht über die Bekundung von Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten, „eigentlich“ gehörten Konservative zum legitimen Meinungsspektrum. Der Unterton klingt nämlich so: Zum Straßenverkehr gehören leider Unfälle, zum Zechen Räusche, zu einer freien Gesellschaft eben auch Rückwärtsgewandte und Vernagelte. Kein Wunder deshalb, dass es sich sehr unangenehm anfühlt, als Konservativer nicht nur bezeichnet, sondern gleichsam bloßgestellt zu werden. Besser jedenfalls flieht man die Schandkappe des „Konservatismus“. Allerdings gibt es auch Leute, die ihre – oft trotzige – Identifizierung mit dem weithin ungeliebten Konservatismus bis zur unverlangten Bekenntnislust treibt. Sie legen sich den Konservatismus dann wie einen Prunkmantel um, achten aber nicht darauf, ob sich ihr Gewand auch fürs Alltagsleben eignet. Wenn dann ein Hoch auf den Konservatismus ausgebracht wird, regt sich leicht Zweifel, ob der Jubler wirklich weiß, wofür einzustehen er behauptet. Denn so unbestimmt „Konservatismus“ bei denen ist, die ihn als Herabsetzungsinstrument nutzen, so vage ist er oft auch bei jenen, die ihn als Namen nicht für das Rechte verwenden, sondern schlicht für das Richtige.
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Jedenfalls verbinden die einen mit „Konservatismus“ vor allem das behagliche Verbleiben im Überkommenen; andere wittern ranziges Rückwärtswollen. Die einen denken ans Stilllegen übler Entwicklungen, die anderen an Vorliebe für Abgestandenes und Eingewecktes. Junge Leute wären neugierig und deshalb fortschrittlich; ältere Leute hingegen würden konservativ, weil sie Neues nicht mehr begriffen und frische Luft für „ungemütlich“ hielten. Gebildete kommen gern mit der Geschichte: Konservatismus entstand aus Abscheu über üble Auswirkungen der Französischen Revolution; erst richtete er sich gegen Liberalismus und Republik, dann auch noch gegen Parlamentarismus und Sozialdemokratie – und eines Tages laufen Konservative eben doch den ihnen einst vorausgeeilten Zeiten hinterher, werden also Liberalkonservative, ja sogar Demokraten. Zeigt das nicht, wie dumm Konservative sind, weil sie immer nur im Nachhinein mögen, was politisch Klügere schon viel früher zu schätzen wussten? Und dann gibt es noch den Konservatismus als Arroganz oder Bräsigkeit der Macht. „Das haben wir noch nie gemacht!“ So redet, wer sich in Machtstellungen eingehaust hat. Die Beweglichkeit eines Tankers für das Maß sinnvollen Wandels haltend, übersehen solche Leute das Großwerden von Widersprüchen zwischen sozio-ökonomischer Basis und politischem Überbau, desgleichen so manchen Konflikt zwischen den im Land schon länger Lebenden und ihren Regenten. Gerne heucheln Bräsigkeits-Konservative einander zu, es wäre doch alles gut, und also brauche es weder ein Umdenken noch Protest gegen das System. Doch Filterblasen wechselseitigen Schönredens platzen immer wieder, und das ist auch gut so. Außerdem konkurrieren beim Reden über den Konservatismus Kampfbegriffe mit Selbstbeschreibungen, die auf politische Erwünschtheit ausgehen. Derlei verwendet, wer etwa betont: „Ich bin wertkonservativ, nicht strukturkonservativ!“ Andere Aussagen erfassen ohnehin nur – teils kritisch, teils affirmativ – historische Konservatismen wie den von Edmund Burke des späten 19. Jahrhunderts oder der „konservativen Revolution“ zu Weimarer Zeiten. Wieder andere verwenden „Konservatismus“ als reinen Funktionsbegriff: Konservativ ist, wer etwas bewahren will, da er am Bestehenden hängt. Wollen wir Breschnew und Honecker aber wirklich „konservativ“ nennen? Am besten trifft den Konservatismus wohl eine Doppelformel. Einesteils ist er jenes besondere Verhältnis zur Wirklichkeit, bei dem sich stets das behauptete „bessere Neue“ zu rechtfertigen hat, nicht aber das schon „be-
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währte Bestehende“. Und andernteils unterscheidet den Konservativen vom Reaktionär die Einsicht, dass es immer wieder Reformen am Hergebrachten braucht, mitunter auch ganz Neues, falls nämlich in einer sich wandelnden Wirklichkeit Bewährtes weiterhin bestehen soll, doch neue Formen braucht. Der Reaktionär blockt also Wandel ab – und der Konservative ist ein vorsichtiger Reformer. Erfolgreiche Reformer freilich, auch wenn sie einst Revolutionäre waren, neigen oft zur Verteidigung des ihretwegen Gewordenen und nunmehr Bestehenden. Gerade so erwuchs aus dem antiliberalen Urkonservatismus der Liberalkonservatismus, und so wurde die ehedem antikonservative Sozialdemokratie sozialkonservativ. Quasi-hegelianisch kann man da sagen: Konservatismus ist eine dialektische Haltung, in der man angesichts einer Antithese gleich schon zur nächsten Synthese vorausdenkt. Lässt sich also ein vernünftiger Konservatismus wohl nur als Methode denken, mit der – bewährte Ordnungsstrukturen, funktionierende Hierarchien und bereitwilliges Lernen im Sinn – auf neue Herausforderungen reagiert wird? Nein! Vielmehr hat Konservatismus zur jeweiligen Wirkungszeit auch klare Inhalte. Die heutigen lassen sich in einem Begriffsdreieck angeben: Das linke Eck steht für „gerechte Ordnung“. Klar geht es um Recht und Ordnung als Grundlagen gesellschaftlicher Stabilität. Doch langfristig besteht Ordnung nicht dank repressiver Staatsmacht, sondern nur, weil sie auch ohne Meinungsmanipulation als gerecht empfunden wird. Dazu aber trägt am verlässlichsten bei, dass Recht und Ordnung eines Staates im Empfinden der meisten wirklich gerecht sind. An der Spitze steht „Nachhaltigkeit“ oder „aufrechtzuerhaltende Entwicklung“. Gemeint ist: Es sollen dem, was besteht und bewährt ist, seine tragenden Grundlagen nicht zerstört werden – ganz gleich, ob die im Bereich der Ökologie oder Ökonomie liegen, der Demographie oder der Staatsfinanzen. Ein konservativeres Anliegen gibt es einfach nicht. Am rechten Eck steht „Patriotismus“. Das meint: Man wünscht dem Land, in dem man lebt, alles Gute für Gegenwart und Zukunft, und man will auch selbst zu dessen Gedeihen beitragen. Also kommt es auf gutes Miteinander heute und auf eine gemeinsame Wohlfahrt morgen an, doch nie auf Unterschiede in der Herkunft. Im heutigen Deutschland gehört zu einer solchen Haltung ein auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung bezogener Verfassungspa-
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triotismus. Der wiederum wird von reiner Theorie zur gelebten Praxis durch das Handeln und Sprechen aus einem Gesamtverständnis von deutscher Geschichte und Kultur heraus. Er wird getragen von bejahter Verbundenheit mit der jeweiligen Heimat oder Herkunftsregion; und er äußert sich in der – immer wieder gern bekundeten – Zuneigung zum eigenen Land und zu dessen Leuten. Ist das alles wohl komisch oder schlimm? Und falls ja: für wes Geistes Kinder?
Wieder das ganze Feld bespielen! Von Thomas Oppermann „Was ist konservativ?“: Bei einer Straßenumfrage in der Fußgängerzone einer beliebigen deutschen Stadt würden sich wohl viele Passanten schwertun, darauf eine präzise Antwort zu geben. Das liegt sicher auch daran, dass es keine Partei gibt, die sich als konservativ bezeichnet und für konservative Politik steht. Vor wenigen Jahrzehnten, z. B. in den 1970er Jahren, war dies noch anders. Die Konservativen hatten ein klares Profil mit scharfen Konturen: (a) bloß keine Experimente, stattdessen sollten Ruhe und Ordnung herrschen; (b) sicherheitspolitisch waren die Verankerung im westlichen Bündnis und die Wehrpflicht unumstritten; (c) in der Ostpolitik setzten Konservative auf Konfrontation statt auf Versöhnung und stemmten sich gegen Willy Brandts Ostpolitik; (d) sie bekannten sich ebenso klar zur Marktwirtschaft wie zur Atomkraft; (e) die klassische Rollenverteilung der Geschlechter stand für sie außer Frage: Der Mann sollte das Geld verdienen, die Frau sich zu Hause um Kinder und Küche kümmern; (f ) eine Aufweichung des Abtreibungsverbots (§ 218 StGB) lehnten Konservative entschieden ab. Seitdem hat sich die Welt jedoch rasant verändert. Konservative Gewissheiten gerieten unter Druck oder verschwanden ganz. Dafür gibt es sicher nicht die eine Ursache. Die gesellschaftliche Entwicklung ist komplexer und facettenreicher. Zuerst sind hier die Globalisierung und Digitalisierung zu nennen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit ungeheurer Rasanz vorangeschritten sind und dabei unseren Alltag umgekrempelt haben. Das enorme Tempo dieser Veränderungen überfordert viele Menschen, weckt ein diffuses Bedrohungsgefühl und Ängste, ob sie mit dieser Entwicklung Schritt halten können. Nach der kurzen Euphorie des Mauerfalls trat nicht die von vielen erhoffte friedliche, demokratische Epoche, das von Francis Fukuyama prophezeite „Ende der Geschichte“ ein; stattdessen wich die
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Blockkonfrontation der beiden atomaren Supermächte, die sich gegenseitig in Schach hielten, einer chaotisch-ungeordneten Situation, in der neue Mächte aufgestiegen sind. Es zeichnet sich ein Kampf um die Hegemonie zwischen China und den USA ab, Europa droht ins Hintertreffen zu geraten. In großen Teilen der Welt sind Nationalismus und Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. So unterschiedliche Staatsmänner wie Trump, Putin und Xi machen keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die westliche Demokratie und unsere offene Gesellschaft. Trump stellt mit seiner chauvinistischen „America first!“-Ideologie das westliche Bündnis und den Multilateralismus in Frage. Hinzu kommt, dass unsere bewährte soziale Marktwirtschaft, die klare Regeln vorgibt, die Kräfte des Marktes einhegt und auf Ausgleich bedacht ist, durch einen Turbokapitalismus herausgefordert wird, den nicht nur Helmut Schmidt als „Raubtierkapitalismus“ bezeichnet hat. Diese Entwicklungen verstärken sich gegenseitig. Vertraute Strukturen lösen sich auf, Gewissheiten stehen plötzlich in Frage. Unsicherheit und ein Gefühl der Entwurzelung machen sich breit. In der Summe setzen diese Entwicklungen unsere Demokratie so stark unter Druck, wie wir es uns vor kurzem noch gar nicht vorstellen konnten. Ein Kippmoment war die doppelte Vertrauenskrise, die Finanzkrise von 2008 und die Flüchtlingskrise von 2015/16. Sie wurde in weiten Teilen unserer Gesellschaft als Kontrollverlust wahrgenommen. Nicht nur für Konservative war dies schwer erträglich. Auch als Sozialdemokrat sehe ich in diesem Kontrollverlust eine Gefahr für unsere Demokratie. Die Antwort darauf muss ein handlungsfähiger, „starker“ Staat sein, der klare Regeln aufstellt und fest in ein vereintes Europa eingebunden ist. Um das zerstörte Vertrauen zurückzugewinnen, brauchen wir einen Staat, der in der Lage ist, Recht zu setzen und das Recht auch durchzusetzen und zwar gegenüber allen – gegenüber kriminellen Schlepperorganisationen genauso wie gegenüber internationalen Konzernen, die sich durch Verlagerung ihrer Gewinne einer gerechten Besteuerung entziehen. Dass solche Sätze von einem Sozialdemokraten formuliert werden, ist ein Zeichen dafür, wie weit sich Konservative in Deutschland von ihren ursprünglichen Positionen wegbewegt haben. Ein weiterer großer Trend, der konservative Gewissheiten erodieren ließ, ist der Liberalisierungsschub, der 1968 einsetzte und nicht nur den
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Muff unter den Talaren gründlich entstaubte. Vor allem die sieben rot-grünen Regierungsjahre haben die Bundesrepublik moderner, diverser und weltoffener gemacht. Ob Gleichstellung von Männern und Frauen, Ehe für alle oder Einwanderungsgesetz: Wir haben heute einen breiten gesellschaftlichen Konsens über diese Themen, für die Progressive lange kämpften und die für Konservative Reizwörter waren. Als sich Angela Merkel in plötzlichen Kehrtwenden auch noch von der Atomkraft und der Wehrpflicht verabschiedete, empfanden sich viele Konservative, die sich ohnehin schon in der Defensive fühlten, als heimatlos. Besonders schmerzlich war daran, dass die Bundeskanzlerin ihre Politik nicht ausreichend erklärte, sondern Fakten schuf und vertraute Positionen, die jahrzehntelang zum Markenkern der CDU und zum konservativen „Tafelsilber“ gehörten, einfach räumte. Natürlich waren diese Kurswechsel nicht kopflos, sondern folgten einer Strategie: Mit einem sicheren Gespür für Mehrheiten und nach dem oft beschriebenen Prinzip der asymmetrischen Demobilisierung verschob Merkel ihre Partei Schritt für Schritt in die gesellschaftliche Mitte. Die logische Folge: Die Wählerinnen und Wähler beklagten, dass sie progressive und konservative Positionen kaum noch unterscheiden können, da sich zu viele Parteien im politischen Zentrum ballen. Das Fehlen starker konservativer Stimmen erzeugte eine Repräsentationslücke und war ein wesentlicher Grund dafür, dass rechts der Mitte eine neue Partei so schnell aufsteigen konnte. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, dass erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Fraktion im Bundestag sitzt, die völkisch und rassistisch argumentiert, deren Vorsitzende die Kriegsverbrechen der Nazis als „Vogelschiss“ verharmlosen oder mit Begriffen wie „Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“ Stimmung gegen Einwanderer machen. Die AfD stieß zwar in eine Lücke, ist aber ganz sicher keine konservative Partei, sondern rechtspopulistisch und in Teilen so extrem, dass diese ein Fall für den Verfassungsschutz sind. Es ist deshalb an der Zeit, dass die demokratischen Parteien wieder die gesamte Breite des Spielfelds nutzen und nicht nur im Mittelkreis dribbeln. Die Volksparteien müssen ihr Profil schärfen. Das ist nicht nur notwendig, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, sondern auch, um die lautstarken Populisten an den Rändern in die Schranken zu weisen.
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Die SPD ist gerade mitten in diesem Erneuerungsprozess und muss sich auf ihre Wurzeln besinnen: als eine Partei, die sich um die Arbeitnehmer und ihre Familien kümmert. Auch die Union steht vor der Aufgabe, sich selbst zu vergewissern und ihr Profil zu schärfen. Vielleicht wird es dann für Passanten bei der Straßenumfrage wieder einfacher, klar und ohne Zögern zu definieren, was für sie konservativ ist.
Bewahren oder Erneuern, Gemeinschaft oder Menschheit, Endlichkeit oder Offenheit – wie geht konservativ heute? Von Tine Stein Dem konservativen politischen Denken wird nachgesagt, es habe mit dem Siegeszug der Freiheit und Gleichheit des Individuums, welches die legitimatorische Grundlage des neuzeitlichen Staatsvertrags bildet, mit der gesamtgesellschaftlichen Ausrichtung auf Fortschritt und Veränderung sowie mit der Trennung von Politik und Religion im Grunde seine ideelle Basis verloren: Der Adel konnte seine Privilegien gegen das aufkommende Bürgertum nicht mehr behaupten, die patrimonialen politischen und ökonomischen Strukturen wichen der modernen Eigentümergesellschaft, schließlich dem Industriekapitalismus und wurden dann vollständig in der konstitutionellen Demokratie mit wohlfahrtsstaatlicher Prägung delegitimiert. Normativ gesehen könnte es nach dieser Analyse eigentlich nur noch Liberale geben. Aber wie, wenn nicht als konservativ, ist dann ein Denken zu bezeichnen, das aus der Erfahrung und Tradition schöpft statt konstruierend aus abstrakten theoretischen Entwürfen? Wie, wenn nicht konservativ, ist ein Denken zu charakterisieren, das vorpolitische Gemeinschaften und Räume – also insbesondere Familie, Religion, Nation, Heimat – wertschätzt und auch Institutionen wie Recht und Staat als ,haltende Mächte‘ versteht, welche dem Individuum eine Hilfestellung geben, um in der Offenheit und Unübersichtlichkeit der modernen Welt zurecht zu kommen und die für Ordnung sorgen? Und wie anders als konservativ könnte denn die Auffassung verstanden werden, dass der Mensch immer schon in existenziell notwendigen Bindungen lebt und diese durch die Politik zu schützen und nicht einzureißen seien und dass Kultur und Religion sowohl als Quelle der Sittlichkeit als auch als einigendes Band für die den
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Staat tragende Gemeinschaft und die Ethosverpflichtung des Bürgers eine unabdingbare Grundlage bilden sollen? Solche genuinen Attribute politischen Denkens ließen sich auch für die beiden anderen aus dem 19. Jahrhundert stammenden ideenpolitischen Grundströmungen finden, also für die sozialistische bzw. sozialdemokratische und die – im engeren, deutschen Sinne des Wortes – liberale Grundströmung. Erweitert durch einen nach dem „Zeitalter der Extreme“ besiegelten Konsens zu Gunsten von Demokratie und Rechtsstaat bildeten sie ein ideelles Reservoir für parteipolitische Akteure und prägten die Formation der westlichen Parteiensysteme. Aber was bleibt vom Streit der parteipolitischen Fakultäten für das 21. Jahrhundert? Es stellt sich die Frage, ob die mit den Etiketten sozial, liberal und konservativ verbundenen Problemlösungsbündel nicht schon seit geraumer Zeit an Überzeugungskraft verlieren. One size does not fit all. Um heute auf der Höhe der Probleme zu bleiben, scheint keines der geschnürten Pakete im Ganzen, aber durchaus der jeweilige Grundwert der Strömungen im Einzelnen eine sachliche und normative Berechtigung zu haben. Je nachdem, welche der Herausforderungen, die uns gestellt sind, in den Blick genommen wird, kommt es besonders auf soziale Gerechtigkeit, auf Freiheit oder auf Ordnung an: Erstens erfordert es die globalisierte Ökonomie, das Prinzip sozialer Gerechtigkeit in die institutionellen Mechanismen eines globalen Multilateralismus einzuschreiben, um die Leistungen moderner Wohlfahrtsstaaten über die Grenzen nationaler Demokratien hinaus kosmopolitisch zu erweitern. Dies gilt nicht nur aus der normativen Erwägung einer Solidaritätsverpflichtung innerhalb der einen Menschheit heraus, sondern angesichts der Migrationsbewegungen auch aus staatlichem Eigeninteresse. Zweitens verlangt die bis noch vor einiger Zeit nur in der dystopischen Literatur eines Orwell oder Huxley beschriebene, heute aber durch Digitalisierung und beispiellose Unternehmenskonzentration zur Realität gewordene Möglichkeit der Überwachung, Durchleuchtung und Konformitätserzeugung des Verhaltens des Einzelnen eine grenzüberschreitende, rechtlich geschützte Grundstruktur der Freiheit. Ohne einen neuen Freiheitsschutz ist nicht nur die individuelle Autonomie gefährdet, sondern wird sich auch Innovation und Kreativität gesellschaftlich nicht entfalten können.
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Drittens erfordert die wachsende Zahl der Interessenten innergesellschaftlicher Instabilität und zwischenstaatlicher Anarchie, die aus sehr unterschiedlichen Motiven – zumeist entweder aus Gier getrieben wie die neue Internationale der Kleptokraten oder aus ideologischer Verblendung wie die chauvinistisch und/oder religiös motivierten Extremisten – Recht durch Macht ersetzen wollen, eine neue Anstrengung der Ordnungsherstellung und Ordnungsbewahrung. Aber was für ein Grundwert und welche politische Strategie ist gefragt, wenn es um die Herausforderung der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen geht – darum also, diejenige ökologische Nische global zu erhalten, die es erdgeschichtlich der Menschheit erlaubt, nicht nur zu überleben, sondern auch in Wohlstand zu leben? Hans Jonas hat es das „Prinzip Verantwortung“ genannt und auf die folgende Formel gebracht: „Handle so, dass die Wirkung deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Als politischer Begriff ist diese ethische Formel mit dem Wort Nachhaltigkeit belegt. Man muss nicht von den endzeitlichen Motiven der ökologischen Bewegung der 80er Jahre geprägt sein, man muss nicht die Bibliotheken voller wissenschaftlicher Studien komplett gelesen haben, die bei unveränderter Produktion und Konsumtion auf fossiler Basis und weiterhin steigenden Wachstumsraten gravierende Klimaveränderungen und Artensterben, Bodenerosion und Vermüllung diagnostizieren und eine damit einhergehende dramatische Verschlechterung der Lebensbedingung prognostizieren, um zu erkennen, dass Qualität und Geschwindigkeit der bisherigen Umsteuerungsversuche in keinem Verhältnis zu dem stehen, was sachlich geboten ist. Kommt für die Aufgabe der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen dem konservativen politischen Denken nicht eine besondere Kompetenz zu? Denn das Bewahren ist dieser ideenpolitischen Strömung schon im Namen eingeschrieben, und ebenso ist in ihr die eigentlich paradoxe Überlegung erprobt, dass zur Bewahrung auch Änderung des Bestehenden notwendig sein kann. Auch das aus der Forstwissenschaft entlehnte Grundprinzip der Nachhaltigkeit, das der Bearbeitung der ökologischen Herausforderung eine normative Orientierung gibt, ist dem konservativen Denken ideenhistorisch nicht fremd, ebenso wie die ethische Vorstellung, dass zu individueller Freiheit die Fähigkeit der Selbstbeschränkung hinzukommen sollte, dass Selbstverwirklichung nicht auf Kosten anderer geschehen kann, dass innere Werte wichtiger sind als materieller Konsum.
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Wie konnte es eigentlich passieren, fragt man sich angesichts der Affinität des konservativen Denkens gegenüber dieser Herausforderung, dass sich die ökologischen Krisendiagnostiken, von punktuellen Ausnahmen abgesehen, nicht mit dem konservativen Denken verbunden haben? Tatsächlich ist der ökologischen Herausforderung aber nicht allein mit der Änderung des individuellen Verhaltens zu Gunsten von Suffizienz beizukommen. Es ist zugleich eine technologische Effizienzrevolution, es sind Innovation und Kreativität gefragt, um ökologisch verträgliche Güter, Mobilität und Dienstleistungen massenhaft herzustellen. Und zudem sind die Kosten der Transformation in das dekarbonisierte Zeitalter wie die Lasten der unvermeidbaren Schäden gerecht zu verteilen, auch im globalen Maßstab, ohne dass es zu einer feudal anmutenden Privilegienverteidigung kommt. Bei der politischen Bearbeitung dieser Aufgabe für das neue Millenium werden alle normativen Orientierungen der demokratischen Moderne zugleich gebraucht: die konservativen Werte der Begrenzung und Ordnung, die liberalen Werte der Freiheit und Kreativität, die sozialen Werte der Gerechtigkeit und Gleichheit. Diejenigen, die sich heute im politischen Spektrum als konservativ verstehen, können also aus der Koinzidenz des „conservare“ in ihrem Namen und der Aufgabe, die natürlichen Lebensgrundlagen so zu bewahren, dass sie auch zukünftigen Generationen ein Leben in Würde ermöglichen, keinen Anspruch einer Erstzuständigkeit ableiten. Das wäre ja auch angesichts der zurückliegenden Politik konservativer politischer Parteien in Bezug auf Klimawandel, Artensterben, Bodenerosion und Vermüllung das Gegenteil von Demut – was eigentlich auch eine konservative Grundhaltung ist. Vielmehr kommt allen Grundströmungen die Verpflichtung zu, im demokratischen Wettbewerb das, was ihre jeweils spezifische normative Grundhaltung und kulturelle Kompetenz ausmacht, endlich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit auf diese Krise zu richten.
Melancholie Von Peter Hoeres In seinem berühmten Essay über die Tragödie, dem „Anschwellenden Bocksgesang“, gab Botho Strauß einer konservativen, von ihm provokant als „rechts“ deklarierten Urerfahrung Ausdruck, nämlich „die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse, in denen er sein gewöhnliches Leben führt.“ Es geht dabei nicht um die präzise historische Erinnerung, sondern um ein transhistorisches Sensorium, das nur ein entsprechend disponierter, dafür empfänglicher Mensch entwickeln kann. Damit wird aus der passiven, also erlittenen Grunderfahrung ein aktiver Protest, so noch einmal Strauß, „gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will. Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein künftiges Weltreich aus, bedarf keiner Utopie, sondern sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation. Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin.“ Der Verlust ist im Sinne des griechischen Wortes pahe?m gefühlt, mehr geahnt, denn gewusst. Diese konservative Melancholie geht nicht in einer konkreten Nostalgie auf, denn sie bezieht sich nicht auf selbst erlebte oder analytisch erfasste Tatsachen und Verhältnisse. Sie ist aber auch nicht willkürlich und fiktiv. Sie schöpft durchaus aus Quellen, vornehmlich aus der Dichtung, aus der Literatur, aus Erzählungen und Mythen. Sie entspringt der Phantasie und der Erinnerung, aber jener Erinnerung, die schon an der Schwelle zum Vergessen steht. Vor allem entwirft sie ein Gegenbild zur Gegenwart und befürchteten Zukunft. Insofern richtet sich diese Melancho-
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lie nicht auf wissenschaftlich eruierte Daten und Allgemeingültigkeit beanspruchende Thesen. Was nun eher die tatsächliche Vergangenheit trifft, die melancholische Erinnerung oder die wissenschaftliche Aussage, ist angesichts des praktischen, immerwährenden ,Falsifikationsmechanismus‘ und des heutzutage hegemonialen theoretischen Konstruktivismus durchaus nicht ausgemacht. Mythen kann man nicht falsifizieren, höchstens dekonstruieren, was aber über die Wahrheitsfähigkeit des Mythos nichts aussagt, nichts aussagen kann. Als Historiker breche ich der Geschichtswissenschaft immer eine Lanze. Aber sie ist eben nur ein Zugang zur Vergangenheit und hat sich von allzu hohen Ansprüchen auch längst verabschiedet. In diesem Sinne ist eine meiner Urerfahrungen eine Trauer um die untergegangene oder gerade untergehende Schönheit von Ritualen, Ordnungen, Institutionen und Gebäuden. Dazu gehören überlieferte Liturgien, Manieren, Kleidervorschriften, Höflichkeitsformeln, Universitätsfeiern, Symbole, Armeen, diplomatische Corps, Kirchen, Paläste, Burgen und vieles mehr. Die Kniebeuge erinnert mich daran, dass der allseits zu hörende Ruf nach Gleichstellung Demutsgesten heute nicht mehr duldet, der Hut, dass es mittlerweile exotisch ist, draußen einen zu tragen und ihn zur Begrüßung zu lüften, das Abendkleid, dass man heute in Jeans in die Oper geht, der Handkuss, dass die Standardgrußformel „Hey“ heißt, der funktionale dreckige Siebziger-Jahre-Bau der Universität, dass es früher eine Alma Mater gab, der handgeschriebene parfümierte Liebesbrief, dass eine Alternative zur Whats-App-Nachricht existierte und die erotische Literatur, dass es einen aufregenden Kontinent diesseits des mühelos anklickbaren Porno-Fetischismus im Netz zu entdecken galt. Die Wertschätzung untergehender Formen und Rituale bedeutet Ehrfurcht, aber keine Unterwerfung, im Gegenteil. Wer Institutionen und Traditionen schätzt, will sie agonal herausfordern, prüfen, testen und en passant womöglich sogar stürzen. Der konservative Anarch ist voller Respekt, aber auch voller Kampfeslust. Ein Streich, den man einem dann enttäuschten Sozialpädagogen in der Schule spielt, ist kein Streich, sondern eine Demütigung. Auch wenn diese eine emanzipatorische Pädagogik bloßstellt, schämt man sich dafür. Ebenso, wenn die Grenze gegenüber der echten Autorität so weit überschritten wird, dass diese gänzlich hilflos wird. Wenn ein strenger Patriarch, autoritärer Lehrer oder konservativer Pfarrer sich ergibt, ist der Widerstand weg, der Angriff sackt in sich zusam-
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men. Der Kampf ist gewonnen und damit sinnlos geworden. Wer nun noch weitermacht, ist ein Sadist. Führt diese Melancholie in den Quietismus, stellt sie eine Variante des Eskapismus dar? Gehört sie zum ewigen Gespräch der Romantik, welches vor der Entscheidung flieht (Carl Schmitt)? Eher wirkt sie im Sinne der dreifachen Wirkung der Historie nach Friedrich Nietzsche, sofern diese lebensbejahend ist: Sie wirkt kritisch, indem sie Probleme der Gegenwart scharf konturiert, sie wirkt antiquarisch, indem sie Relikte der Vergangenheit und Restbestände der Tradition hegt und pflegt und sie wirkt monumentalisch, indem sie Idealbilder aus der Vergangenheit aufrichtet. Für den Konservativen ist die Melancholie zwar eine Grundstimmung, er erschöpft sich aber nicht in ihr. Seine Melancholie kann sogar zur heiteren Distanz und damit wieder zur Hinwendung und Zuneigung zu den Zeitgenossen führen. Sie kann zur Tat anspornen, handlungsleitend sein. Diese Folgerung können wir derzeit in England beobachten, wo man wieder „Rule Britannia“, besonders aber der gepflegten Englishness nachtrauert, die in der Globalisierung verloren zu gehen droht. Auch das ist ein Grund für die dezisionistische Flucht in den Brexit. Die konservative Melancholie kann zur Imitatio oder zur schöpferischen Rekonstruktion führen, wie sie in der kreativen Neuerrichtung der Frankfurter Altstadt oder der Belebung der katholischen Liturgie durch den von Papst Benedikt XVI. wieder zugelassenen vetus ordo zu beobachten ist. Natürlich ist es einfach, die Melancholie zu diskreditieren, mit einem Schlagwort zu erledigen. Aber alle politischen Impulse entspringen nicht einem rationalen Kalkül, sondern einer kaum zu hintergehenden Grundstimmung. Der Sozialist, der sich gegen die Reichen empört, will nichts hören über die unsichtbare Hand, welche zum Wohlstand für alle oder für die meisten führt. Der Progressive, der das Überkommene als morsch und faul empfindet, will nichts über die entlastende Funktion von Institutionen vernehmen. Der Liberale, der die Repression des Staates bekämpft, möchte nichts über die natura corrupta des Menschen wissen, welche der Einhegung bedarf. Und so will der Konservative nicht hören, dass eine Institution oder Tradition nicht erst degeneriert ist, sondern immer schon repressiv, dysfunktional, bigott oder schlicht Tand war, dass seine Vorstellungen nur Metaphern sind. Verstehenwollen und Einfühlung können gleichwohl Begegnung und Verständigung mit ganz anders Disponierten ermöglichen.
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Vornehm ist es, so noch einmal Nietzsche, ein Vorurteil für die Ahnen zu hegen. Während sich die Gegenwart, zumindest die westliche, diese nur mehr in Verbrecherporträts imaginieren kann, ist diese Empathie und Wertschätzung für die Vorfahren, die freilich nicht blind werden darf und mit einer kritischen Historie einhergehen kann, als Gegengift umso mehr zu pflegen. Alles andere ist Selbstzerstörung. Aber die Melancholie ist da, sie ist wirklichkeitsaufschließend und kann nicht verboten werden. Ihre Kraft ist bewahrend und schöpferisch zugleich. Konservativ.
Der Islam – weder konservativ noch liberal Von Aiman A. Mazyek Der AfD-Abgeordnete Albrecht Glaser behauptet, der Islam sei „keine Religion“, sondern eine „politische Ideologie“, weswegen Muslime keine Religionsfreiheit beanspruchen dürfen. Dieses Argumentationsmuster ist nicht nur islamfeindlich, sondern ebenso mit unserer Verfassung nicht vereinbar. Viele sogenannte Islamkritiker folgen diesem abenteuerlichen Ansatz und sprechen damit mal soeben 1,6 Milliarden Muslimen weltweit den Glauben ab, eine 1400 Jahre alte Weltreligion, die große Zivilisationen hervorgebracht hat und deren friedliche Kernbotschaft und Praxis unbestreitbar und unübersehbar ist. Die Light-Version dieses Ansatzes ist die folgende Formulierung: Islam ja, nicht aber der politische Islam. Was immer dann sich hinter diesem Begriff „politischer Islam“ verbirgt, er bleibt ebenso äußerst vage. Das ist auch Programm, denn so bleibt es der Interpretationshoheit desjenigen überlassen, der dies ohne Beweiskraft und Herleitung behauptet. Und vom „politischen Islam“ ist es dann nicht mehr weit zum Begriff des „konservativen Islam“, der – um noch einen weiteren und äußerst vagen, inzwischen sehr strapazierten und unterschiedlich genutzten Terminus ins Spiel zu bringen – über den Begriff des „Islamismus“ eingeführt wird. Der Einstieg zum politischen Islam geht also angeblich über den Weg des sogenannten konservativen Islam, der wiederum als Scharnier für den sogenannten Islamismus gilt. Der Diskurs über den Islam – selten ein Diskurs mit Muslimen – ist also stark belastet von politischen Zuschreibungen, die längst Bodenhaftung verloren haben und realpolitischen Gegebenheiten und Entwicklungen nicht im Ansatz wiedergeben. Oder anders ausgedrückt: Das Geschäft der Politisierung meiner Religion ist längst nicht mehr alleine das Geschäft der muslimischen Fundamentalisten und Fanatiker, sondern der Islamkritiker und Religionsskeptiker. Meine, unsere Haltung als Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) ist dabei klar, und sie bestimmt stets die Agenda unseres Handels,
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denen wir uns als Mitglieder, als Moscheen und als Religionsgemeinschaft verpflichtet sehen: Einsatz für das Wohl unseres Landes, den Erhalt unserer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (was derzeit leider gar nicht mehr als so selbstverständlich gesehen wird) und Engagement für den Frieden und Zusammenhalt unserer Gesellschaft im Sinne des Leitspruches: „Lokal handeln und global denken“. Wer das verfolgt, der ist stets bei uns willkommen. Wer jedoch sich dem Islam in Form einer Ideologie nähert, sei es sektiererisch, sei es nationalistisch, sei es als Hizbel-Tahrir, Muslimbruderschaft oder sich sonstwie in ähnlich gelagerten Gruppierungen oder Bewegungen betätigt, wird bei uns keine Heimat finden. Das ist und war bekannterweise unsere Linie. Das Bekenntnis zu den demokratischen Grundprinzipien, zum staatlichen Gewaltmonopol und zur rechtsstaatlichen Ordnung gehört zu unserem Selbstverständnis und zu unserer DNA. All das würde wohl in unaufgeregten Zeiten und ohne den Kontext Islam als dezidiert konservativ gelten und auch so durchgehen. Nicht aber beim Thema Islam, da lassen wir offenkundig nicht alle „Fünf gerade sein“ – und weil das so ist, sind alle Zuschreibungen derzeit für mich unanwendbar. Bei den muslimischen Extremisten, Inquisitoren (Takfiris) gibt es übrigens, wie in allen Religionen gut zu beobachten ist, ebenso den Hang, Gott zu spielen. Demnach katalogisieren sie die eigenen Muslime in gute und weniger gute, in schlechte oder gar abtrünnige Muslime. Die Inquisition ist ein erschreckendes Beispiel, wohin das führt. Meine Haltung: Gott alleine entscheidet und kein Weltgericht, weder das von Fundamentalisten noch von Freigeistern, weder das von den sogenannten Konservativen noch von sogenannten Liberalen. Denn das ist der Moment der politische Einordung und damit der Politisierung meiner Religion – und damit für mich hinfällig. Gott sei Dank ist der Islam in seiner Religion, in seinen Interpretationen und Lebensweisen plural und sehr vielfältig und das ist auch gut so, oder wie es der Prophet gesagt hat, die Vielfalt ist Ausdruck der „Barmherzigkeit“. Inquisition verurteile ich in allen Spielarten, sie ist die Pest. Jeder, der sich als Muslim bekennt und danach versucht zu handeln, ist einer. Ich maße mir nicht an, zu beurteilen, ob der- oder diejenige ein sogenannter konservativer, ein liberaler, ein strenggläubiger Muslim oder kein strenggläubiger ist. Er oder sie ist für mich Muslim oder Muslimin, wenn er oder
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sie sich dazu bekennt. Ich kann doch nicht in ihr Inneres sehen. Nur Gott kann dies und bisweilen die Betreffende selbst. Es ist interessant zu sehen, wie sich aus dieser Haltung heraus bestimmte Kreise – nicht nur die der Fundamentalisten übrigens – wie aufgeschreckte Hühner wehren, wenn man „den“ Islam nicht in politische Schubladen zu pressen gedenkt. Als hätte man einem Kind das Lieblingsspielzeug weggenommen, versuchen sie, ihre Einteilungen und damit ihre machtpolitische Deutungshoheit krampfhaft zu verteidigen. Der Islam steht für Barmherzigkeit, Liebe, Frieden, für Gerechtigkeit, für den Zusammenhalt aller Menschen. Es gibt den Islam und viele Muslime. Es gibt aber ganz bestimmt keinen konservativen Islam, so wie es keinen liberalen Islam gibt.
Wer an der Spitze des Fortschritts marschiert, muss sich bisweilen ausruhen Von Peter Feldmann Als Sohn eines Vaters, der nicht weniger wollte, als die Welt retten, wurde ich in den 70er Jahren politisch sozialisiert. Politisches Engagement war für mich von Beginn an damit verbunden, die Verhältnisse zu verändern. In der Tat gab es gesellschaftlich in dieser Phase der Republik, auch über 20 Jahre nach Ende des Krieges, noch allerhand zu verbessern: Wir wollten mit Willy Brandt mehr Demokratie wagen, wozu unbestreitbar Bildungsexpansion, Frauenbewegung und insgesamt die Kritik an autoritären Strukturen zählte. Wer sich auf den Marsch gemacht hat, die Lebensbedingungen durch sozialen und technischen Fortschritt zu verbessern, dem lag der Konservatismus wie ein Felsbrocken im Weg. Konservativ war gleichbedeutend mit verstaubt, unbeweglich und autoritär. Wer tradierte Privilegien und Machtverhältnisse bewahren wollte, galt als Feind. Wenn man an Fortschritt glaubte, konnte man allem Konservativen gut und gerne grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen: Wer das Bestehende bewahren will, hat wohl etwas zu verlieren, meist Besitz, Einfluss oder Macht. Mit diesem Wertegerüst lebte es sich gut in Frankfurt, einer als schnelllebig bekannten Großstadt. Mit den Erfahrungen der 1848er-Bewegung der Paulskirche, der Frankfurter Schule und einer starken 68er-Bewegung waren die Frankfurter immer herrschaftskritisch und progressiv. Heute gehört Frankfurt zu den am meisten wachsenden Städten des Landes, Jahr für Jahr kommen 10.000 bis 15.000 Einwohnerinnen und Einwohner hinzu, praktisch eine mittlere Kleinstadt. Während die Republik altert und schrumpft, sinkt der Altersdurchschnitt in Frankfurt. Wir sind die deutsche Großstadt mit dem höchsten Anteil an Kindern und Jugendlichen. Darüber hinaus hat inzwischen mehr als die Hälfte der Einwohner einen internationalen Hintergrund. In Frankfurt zählt – zum Glück –
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nicht, wo man herkommt, sondern, wer man ist und wie man sich in unsere Gesellschaft einbringt. Frankfurt scheint immer einen Schritt weiter im Morgen als im Gestern zu sein. Die Frankfurter Schriftstellerin Eva Demski fasste dies einmal in einem Gespräch mit mir in dem Satz „Frankfurt war immer eine Stadt, die von sich wegwollte“ zusammen. Das war durchaus nicht wertend gemeint, sondern vielmehr ein Versuch, den Charakter der Stadt auf den Punkt zu bringen. Zum Teil ist das richtig, dennoch spüre ich – je länger ich als Oberbürgermeister im Amt bin –, dass es in der Stadt bei aller Aufbruchsstimmung gleichzeitig die Sehnsucht gibt, sich festzuhalten und bestimmte Errungenschaften zu bewahren. Damit verbunden ist der Wunsch nach Ruhe, durchzuatmen, einmal zu entschleunigen. Greifbares Sinnbild dessen ist die gerade fertiggestellte neue Altstadt. Das Gelände der im Zweiten Weltkrieg zerstörten historischen Altstadt wurde lange profan als Parkplatz genutzt, bis im Charme der 60er Jahre, aus Stahl und Beton, das Technische Rathaus zwischen Dom und Römer entstand. Nach 35 Jahren entschied sich Frankfurt für den Abriss des von Beginn an umstrittenen Bauwerks. Seit 2018 bilden 35 Häuser, davon 15 originalgetreue Rekonstruktionen und 20 Neubauten, das neue Herz der Stadt. Die neue Altstadt ist für die Menschen der Stadt schnell zum Identitätsanker geworden, der sie emotional sehr berührt. Der neue Stadtkern gibt ihnen Halt, indem er die Geschichte der Stadt in der Gegenwart erlebbar macht. Anfangs stand ich dem Bauvorhaben selbst skeptisch gegenüber, ließ mich aber schnell von der großen Begeisterung der Menschen für das einmalige Projekt überzeugen. Schließlich ist es doch allzu menschlich, wenn man sich in unserer schnelllebigen, manchmal atemlosen Zeit an etwas festhalten will. Diese Erfahrung und die aktuellen politischen Ereignisse lassen mich neu über die Idee des Konservativen nachdenken: Da wir seit dem Zweiten Weltkrieg im ganzen Land und auch in Frankfurt viel Gutes erkämpft, erstritten und erarbeitet haben, was aktuell durch gegenläufige Bewegungen wieder in Frage gestellt wird, gibt es tatsächlich vieles, das sich zu bewahren lohnt. Dies gilt für unsere offene demokratische Gesellschaft, in der jede und jeder die eigene Meinung äußern und sich frei entfalten kann, dies gilt für die Gleichheit der Geschlechter, Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherung. Selbstverständlich ist all das ausbaufähig und wir müssen weiter
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daran arbeiten, unser Land, unsere Stadt zu einem besseren Ort zu machen. Wir erleben mit der Debatte, was unsere Gesellschaft ausmacht, eine Wiederbelebung des Politischen in der Auseinandersetzung um die besten Lösungen. Gleichzeitig gilt es, unsere Errungenschaften zu verteidigen. Verteidigen gegen die Neoliberalen, die uns erklären, dass wir uns von hohen sozialen Standards im Zuge der Globalisierung verabschieden müssen. Verteidigen gegen die, die alles der Maxime des Kapitalismus unterwerfen und dem Leitbild folgen, sozial sei, was Arbeit schaffe. Verteidigen aber auch gegen Hetzer und geistige Brandstifter, die ganz Europa mit ewiggestrigen, ausgrenzenden Parolen überziehen und damit in Parlamente einziehen. Frankfurt ist in Vielfalt vereint und von starkem Zusammenhalt und Solidarität geprägt. Zugleich ist Frankfurt eine Stadt traditionell selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger. In keiner anderen Stadt gibt es pro Einwohner mehr angemeldete Demonstrationen als in der Mainmetropole. Im Mittelpunkt stehen gegenwärtig Demonstrationen für Geflüchtete, gegen Rechtsextreme und gegen hohe Mieten. Schaut man genau hin, dann gehen die Frankfurterinnen und Frankfurter bei diesen Protestzügen auf die Straße, um etwas zu bewahren: Wer sich für Geflüchtete und gegen Rechtsextreme engagiert, der verteidigt unsere offene Gesellschaft und ein solidarisches Miteinander. Wer sich gegen hohe Mieten einsetzt, will Frankfurt als Stadt erhalten, in der sich auch Menschen mit niedrigem Einkommen eine Wohnung und damit ihr Leben leisten können. Wenn man konservativ damit übersetzen will, dass man bewahrt, was sich bewährt hat, dann haben diese Demonstrationen einen durchaus konservativen Kern. Sie wollen Selbstbewusstsein und Demokratie als Selbstverständlichkeit in unserer Heimatstadt Frankfurt bewahren und schützen. Die Proteste sind Selbstvergewisserung, geben gegenseitig Halt und stiften Gemeinschaft. Selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger wollen sich nicht wegnehmen lassen, was sie erreicht haben. Sie bewahren, ja verteidigen es. Auch wer gern an der Spitze des Fortschritts marschiert, muss sich bisweilen ausruhen, festhalten und Kraft schöpfen, bevor es weitergeht.
Ich bin durchaus konservativ Von Petra Pau „Gott bewahre“, dürften 2018 viele Landwirte in Deutschland ob ungewohnter Hitze und Trockenheit geklagt haben. Das Stoßgebet der Inkas in ähnlicher Lage hätte wohl geheißen: „Kon serviere“. Denn „Kon“ galt ihnen als Gott des Regens. Bewahren, konservieren, konservativ, das klingt nach althergebracht, nach erhalten. Ein Grundsatz, der meist politisch eher Mitte-Rechts zugeschrieben wird. Zu Unrecht. Wer neue Herausforderungen, etwa die drohende Klimakatastrophe, schlicht leugnet, bewahrt nicht, sondern ignoriert die Folgen, gefährdet die Zukunft. Man nennt das wohl neuerdings auf-trump-fen. Und umgekehrt: Als Linke lasse ich mir gern mal zuschreiben, auch konservativ zu sein. Etwa, weil ich nach wie vor auf Artikel 1 Grundgesetz bestehe: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wohl bemerkt: aller Menschen, nicht nur der Schönen und Reichen und nicht nur der Deutschen und Weißen. Nun habe ich ein persönliches, ein privates Verhältnis zu Gott. Was mir zuweilen zweifelndes Staunen einbringt, allemal, wenn ich in westlichen Bundesländern unterwegs bin. „Was, ausgerechnet Sie, eine Linke, noch dazu aus dem Osten?“ Das hat mich übrigens bestärkt, mein Episodenbuch Gottlose Type – meine unfrisierten Erinnerungen genau so zu titeln. Was nichts daran ändert, dass mir – bei allen historischen Groß- und Kleinereignissen – die entscheidende Botschaft des Arbeiterliedes „Die Internationale“ (1888) ungebrochen präsent ist: „Es rettet uns kein höh’res Wesen“, […] „das müssen wir schon selber tun“, egal, ob es um das Klima, den Frieden oder um soziale Gerechtigkeit geht.
Der Anknüpfer Von Norbert Bolz Wenn man bei Google das Wort „konservativ“ eingibt, werden als „ähnlich“ angeboten: rückschrittlich, rückständig, althergebracht. Das fasst die Vorurteile derer, die sich selbst für fortschrittlich und der Zukunft zugewandt halten, ganz gut zusammen. Und obwohl man mittlerweile Zweifel hat, ob man die politische Szene noch sinnvoll mit der Unterscheidung von links und rechts beschreiben kann, zumal die Linke seit über hundert Jahren „ideenkonservativ“ auftritt, erscheint den meisten die Unterscheidung von progressiv und konservativ nach wie vor plausibel. Doch die Welt so zu sehen, erweist sich mittlerweile selbst als rückständig und althergebracht. Man muss die Konservativen auf einem anderen Schauplatz suchen, nämlich auf dem der Bürgerlichkeit und des gesunden Menschenverstands. Der Konservative ist nicht reaktionär. Er versteht sich nicht als Aufhalter des Bösen. Vielmehr ist er ein Anknüpfer, der in unserer Geschichte die bewahrenswerten Errungenschaften pflegt. Während die sich fortschrittlich Dünkenden in einer Filterblase der absoluten Gegenwart leben und denken, lebt der Konservative von der Kraft der Tradition. Diese Tradition wird aber nicht einfach nur „weitertradiert“, sondern behutsam rationalisiert. So wird eine pragmatische Politik möglich, die von der Vermutung ausgeht, dass das Bestehende vernünftig ist. In schärfstem Gegensatz zum heute dominierenden politischen Moralismus plädiert der Konservative für eine Politik der provisorischen Moral. Er stellt keine Sollensforderungen an die Realität, sondern weiß die Beweislast bei den Veränderern. Überall da nämlich, wo es um Komplexität und Kontingenz, wo es um Risiko und Entscheidung geht, waltet nicht das überlegene Wissen, sondern allein die Verständigung unter Betroffenen. Verständigung ist aber nur möglich, wenn alle Beteiligten darauf verzichten, die Wahrheit ins Spiel zu bringen. Der konservative Politiker hat Sinn für die Wirklichkeit, das heißt für die genaue Erkenntnis der jeweiligen Machtverhältnisse, und
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deshalb muss er sich Wünsche und Träume verbieten. Die utopische Erwartung ist ein genauso gefährlicher Feind des Politischen wie die blasierte Verachtung, die man heute „Politikverdrossenheit“ nennt. Die Perspektive des konservativen Politikers kann also weder die des wissenschaftlichen Beobachters, noch die des Sozialingenieurs, noch die des Propheten sein. Im Politischen gibt es nämlich keine Wahrheit, sondern man schafft Wirklichkeit. Deshalb kann man politische Urteile auch nicht beweisen, sondern nur bewähren. Urteilskraft ist eine unhintergehbare Kategorie. Das stärkste Argument für den Konservatismus ist die Komplexität der modernen Welt. Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit sind ihre wesentlichen Charakteristika. Fast alles, was geschieht, ist unvorhersehbar – und geht auch anders. Wer dies einsieht, hat, was Philosophen Kontingenzbewusstsein nennen. Je größer aber die Komplexität der modernen Welt wird, desto nötiger werden die Restabilisierungen. Deshalb braucht man gerade heute den Mut zum Kanon – aus Kontingenzbewusstsein: „Lest die großen alten Bücher!“ Die Konservativen wollen nicht zurück, sondern sie interessieren sich für das, was Halt gibt. Es ist kein Zufall, dass man heute gerne von Lebensstilen, aber nur selten noch von Lebensführung spricht. Denn Lebensführung ist methodisch, Lebensstil ist bloß modisch. Die einen leben, die anderen führen ein Leben. So kann man die Freien von den Knechten, die Selbstständigen von den Betreuten unterscheiden. Denn Freiheit ist Lebensführung, statt bloß zu leben. Schon rein anthropologisch gilt eigentlich, dass der Mensch, weil er von Natur künstlich und labil existiert, leben nur kann, wenn er ein Leben führt. Doch erst die methodische Lebensführung des Bürgers macht aus dem Leben ein System. Die Welt, in der er sich bewährt, ist die Welt des Üblichen, der Routine, der Pensen, der Pflichten und Gewohnheiten, also die Welt der nächsten Dinge. Man kann es auch so sagen: Konservatismus ist der Glaube an die Normalität. Und deshalb steht der Konservative auf verlorenem Posten, sobald er sich in die Öffentlichkeit der Medien und Tagungen begibt. Seit fünfzig Jahren straft uns ein zorniger Gott, indem er die Wünsche der 68er erfüllt. Mit dem berühmten Marsch durch die Institutionen begann damals eine Kulturrevolution, die sich im Lauf der Jahre nicht etwa abgeschwächt, sondern sogar dramatisch verschärft hat. Über „n-Geschlechter“ und „Transgender“ hätte Rudi Dutschke noch den Kopf geschüttelt – heute sind sie
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regierungsoffizielle Grundbegriffe. Und seither hat es der gesunde Menschenverstand schwer. Es gibt nichts Selbstverständliches mehr. Man könnte das Normalitätsschwund nennen. In allen Lebensbereichen sind die traditionellen Standards fragwürdig geworden. Man denke nur an die faktische Unmöglichkeit, in der Schule einen Lektürekanon durchzusetzen. Goethes Faust, Brechts Maßnahme oder ein Comic Strip – alles ist gleichermaßen möglich. Dass ein Sonett von Shakespeare wertvoller sein könnte als ein Song von Bob Dylan, leuchtet heute kaum mehr jemandem ein. Und das passt durchaus ins Bild der westlichen Kulturentwicklung: Erst, nämlich in der Moderne, werden die Standards abgesenkt und dann, nämlich in der Postmoderne, werden sie ganz aufgegeben. So leben wir heute in einer geistlosen Konjunktion von Relativismus und Universalismus. Der Relativismus behauptet, dass alle Kulturen gleich viel wert sind. Und der Universalismus präsentiert sich als ein unpolitischer Humanitarismus, für den es nur noch Menschen gibt – ohne weitere Bestimmung. Die Universitäten, deren Geisteswissenschaften schon immer Brutstätten der Realitätsfremdheit waren, spielen in dieser Dynamik des Normalitätsschwunds eine Schlüsselrolle. Natürlich gibt es auch heute noch viele Geisteswissenschaftler, die in ihrem Fach Hervorragendes leisten. Aber sie sind von zwei Seiten bedroht. Da gibt es zum einen die Gefälligkeitswissenschaftler, die den Studenten politisch korrektes Denken beibringen und genau die „Gutachten“ produzieren, die die Regierung braucht. Und da gibt es zum anderen die Zauberer und Magier, die vollkommen neue Wesenheiten erfinden. Solche Voodoo-Science entsteht, wenn man vorwissenschaftliches Wissen, das kein normaler Mensch bezweifelt, „wissenschaftlich“ in Zweifel zieht – z. B. dass es einen natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Doch wie soll man ohne Normalität leben? Sollen wir alles immer wieder neu aushandeln? Diese Politik der Verständigung um jeden Preis verdrängt die Frage nach dem Richtigen. Gerade die regierungsoffizielle Kultur der sogenannten „Diversity“ sieht keine Unterschiede mehr. Mit ihrem Diskriminierungsverbot tabuisiert sie die Unterscheidung von normal und pathologisch. Dadurch wird die Neurose zum Identitätsentwurf aufgewertet. Der Neurotiker klammert sich an seine Angst und wird darin von den Warnern und Mahnern in den Medien bestätigt. Das einschlägige Stich-
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wort lautet hier: Identitätspolitik. Im Klartext bedeutet das, dass Hysteriker nicht mehr psychoanalytisch behandelt, sondern politisch geadelt werden. So verlangt jeder Wahn heute Respekt. Und wie reagiert der Konservative auf diese Komödie der Empfindlichkeiten? Nicht mit Protest, sondern mit Humor und Ironie, mit Witz und befreiendem Lachen – in unbeirrbarem Vertrauen auf seine Urteilskraft und seinen gesunden Menschenverstand.
Erhalten oder Beharren? Von Jean-Luc Nancy Die ,konservative Revolution‘, mag es nun diejenige sein, die in den 20er Jahren ihr Syntagma bildete, oder diejenige, die in den 80er Jahren ihren Namen von der ersten empfing, besteht darin, das Paradox zweier Begriffe auszutragen, von denen einer gewöhnlich eine Umwälzung ankündigt, während der andere eine préservation, eine Erhaltung und tiefgreifende Kontinuität verlangt. Innerhalb der recht zerstreuten Konstellation im Entstehungsmoment dieses Ausdrucks waren alle möglichen Varianten dieser Austragung zu finden. Für die einen konnte allein die Treue zu einer großen Vergangenheit die bedeutende Erneuerung ermöglichen, die Europas Zustand erforderte. Für die anderen lag die wahre Herausforderung darin, die Vergangenheit zu restaurieren, ja wiederzubeleben, um einem Niedergang gegenzusteuern, dessen Hauptsymptom nicht zuletzt die andere ,Revolution‘ war. Zwischen diesen beiden Schemata waren viele Abwandlungen möglich. Es war indessen nicht ausgeschlossen, den Ausdruck selbst zu stürzen, denn einige sprachen damals lieber von einer „schöpferischen Restauration“. Allerdings ist es ihnen nicht gelungen, diese Formulierung wirklich durchzusetzen. Am Kontrast der beiden Ausdrücke lässt sich besser umschreiben, worum es in dem, der sich durchgesetzt hat, geht: Einerseits scheint die ,Revolution‘ die Umwälzung und vollständige Erneuerung zu gewährleisten, die man sich geloben muss, wenn man mit einem gewissen Zustand Schluss machen will. Im Kontrast dazu sieht die ,Restauration‘ blass aus, wenn sie sich damit begnügt, den früheren Zustand wiederherzustellen; wenn sie aber tatkräftiger eingreift, droht sie dagegen das Restaurierte zu verraten, indem sie es einem anderen Geschmack anpasst, anstatt seinen Geist zu bewahren. Die seit dem 19. Jahrhundert anhaltenden Debatten um den Umgang mit dem Kunst- und Kulturerbe haben die Schwierigkeiten und Spannungen, die sich zwischen „Konservieren“ und „Restaurieren“ auftun, umfassend veranschaulicht.
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Zumindest dies können wir festhalten: Insofern sie sich der Restauration widersetzt, hängt die Konservation an der Vergangenheit als solcher. Sie will die Vergangenheit als solche konservieren. Von der Tendenz her bewahrt sie also die Ruine in ihrem Ruinenzustand. Die Restauration dagegen möchte das Monument in seinem Entstehenszustand wieder aufleben lassen. Da dies voraussetzen würde, dass die Welt, in die hinein es entsteht, selbst gegenwärtig ist, so ist das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Es ist bekanntlich beinahe unzumutbar und unvertretbar, die Farben eines griechischen Tempels oder einer romanischen Wandmalerei zu restaurieren, und sei es noch so richtig und genau. Unsere Augen sind nicht mehr diejenigen, denen diese Farben sich einst darboten. Die Restauration kann also tatsächlich ,schöpferisch‘ sein wollen, dennoch überdeckt diese Schöpfung die wahrhafte Möglichkeit des ex nihilo (das nie Dagewesene oder das Unerhörte, die Entstehung einer Form und damit einhergehend eines Empfindens). Diese Möglichkeit grenzt de facto ans Unmögliche: Das nihil einer tatsächlichen Neuheit lässt sich nicht fassen, es ist zwangsläufig sich selbst unbekannt. Vermutlich war deshalb der ,konservativen Revolution‘ von Anfang an Erfolg beschert: Sie nahm sich nichts Unmögliches oder Unzumutbares vor. Sie vertrat – sie vertritt noch immer –, dass eine Umwälzung aus einer Treue zur Vergangenheit hervorgehen müsse, einer Treue, die so bewahrt würde, dass dieses Bewahren selbst wiederum etwas eröffnet: nämlich die erneute Geburt eines ursprünglichen Zustands, der als solcher natürlich oder göttlich wäre, aber immer wesentlich, organisch oder schicksalhaft. Der wahre Urzustand der Dinge, ihre Natur und Ordnung, ist dermaßen uranfänglich, dass seine Vorannahme nur beibehalten werden kann. Besser noch, gerade in der erneuten Bekräftigung dieser Vorannahme liegt die Möglichkeit zur Revolution des vergesslichen, schwächelnden Laufs der menschlichen Angelegenheiten. Man bewahrt und erhält eigentlich nur, was schon zuvor erhalten worden ist, und diese Konservation, diese oft schon sehr alte Erhaltung (so alt, dass man bisweilen nicht weiß, wie weit man zurückgehen müsste: zu einer gesunden Republik oder zum Ancien Régime, und warum nicht zu einer Christenheit?) hat sich so gut erhalten, dass eher sie selbst überdauert als die Inhalte (Formen, Tugenden, Werte), die sie eigentlich erhalten soll. Wie Nietzsche deutlich gemacht hat, will man sich nicht eingestehen, dass man sich gewöhnt hat und dass die Gewohnheit von selbst nach ihrem
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Unterhalt ruft, denn tatsächlich wüsste man ohne Gewohnheit nicht, Tag um Tag zu leben. Aber nicht immer geht es darum, Tag um Tag zu leben. Weder die Gedanken noch die Gefühle können sich damit zufriedengeben: Mitunter muss ihnen die Fracht der Gewohnheiten genommen werden, was nicht immer einfach ist. Wenn man derlei Überraschungen nicht akzeptieren kann, bemüht man sich, tiefere Gründe für die Gewohnheiten zu finden, die man bewahren will. Und dieses „Hinzugelogene“, hinter dem steckt laut Nietzsche die „Unehrlichkeit der Conservativen aller Zeiten“. Diese Lüge hat selbstverständlich ihre eigenen Beweggründe und meist weiß sie gar nicht, dass sie eine Lüge ist (außer natürlich bei den Unternehmens-Chefs in Industrie oder Politik). Sie weiß es nicht, weil sie auf einem tiefen Unvermögen beruht, sich dem Neuen zu stellen. Dieses Unvermögen liegt an dem beträchtlichen Gewicht, das eine Gewohnheit annimmt, die zur zweiten Natur geworden ist. Eine zweite Natur bedeutet die Schwere eines Anhaftens an Ursprüngen, das nicht akzeptieren kann, dass sie in unrückholbarer Ferne liegen. Das nennt man Melancholie: Das Fixiertsein auf die Vorstellung oder das Phantasma eines Urzustandes, eines unschuldigen ersten Seins (einer Kindheit und des Behütetseins, das diese unterstellt). Manche Melancholien nähren das Genie, so will es jedenfalls die Tradition (die vielleicht selbst melancholisch und ein wenig unehrlich ist). Diese Melancholien wissen sich der persévérance, dem Beharren eines Seins in seinem Sein verbunden (so formuliert es Spinoza), wobei dieses Sein keineswegs eine Substanz ist, nicht einmal ein Subjekt, sondern darin aufgeht, dass sein Dasein selbst ins Spiel gebracht wird (Nietzsche ist ein Beispiel dafür, wie Faulkner oder Artaud und etliche andere). Die konservativen Melancholien dagegen täuschen sich selbst in Hinsicht auf das Sein, das sie sich als ursprüngliches vorstellen. Sie schreiben ihm eine Substanz, eine Identität, eine Gestalt zu. Und dann hegen sie ein Ressentiment gegen das, was ihre Gewissheit trüben will. Diese Melancholiker verkennen ihr eigenes Dasein um eines imaginären Seins willen, das mit bekannten und wiedererkennbaren Eigenschaften begabt ist. Sie können sich nicht vom Sinn forttragen lassen, das heißt von dem, was immer über das Gegebene und das Identifizierte hinausgeht. Sich diesem Forttragen des Sinns anzuvertrauen, ist nicht einfach, das stimmt. Oft geschieht es übrigens aus einer Form von Unbewusstheit oder naivem Vertrauen heraus. Aber es ist sehr gut möglich, dass allein eine ge-
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wisse Naivität – mit den offensichtlichen Risiken, die ihr innewohnen – das an den schweren Ursprungsklotz bindende Band loszuknüpfen vermag. Im Sein – in dem Sinne, in dem ,Sein‘ über sich hinausgeht – zu beharren, heißt nicht, nichts zu erhalten: Es heißt, nichts zu haben, um es zu erhalten – und alles, um es fortzutragen … (Übersetzung von Esther von der Osten)
Eine Erinnerung an das, was es nicht mehr gibt Von Iris Radisch Meine früheste Vorstellung von „konservativ“, an die ich mich erinnern kann: Das müssen gesellschaftliche Höhenlagen sein, wo nicht so viel gestritten wird, nicht so laut geschrien wird, nicht so viel ferngesehen wird wie in der Tiefebene des gesellschaftlichen Normalzustandes, der mich umgab. Das Wort war umflattert von einem Schleier aus graumelierter Kultiviertheit, milder Toleranz, heiterer Gelassenheit, bequemer, gut sitzender Kleidung aus edlen Materialien. Konservative lebten in meiner Vorstellung in fernen, freundlichen Gegenden, in denen man nicht unausgesetzt über Pläne, Wünsche und Anschaffungen spricht, sondern Wünsche erfüllt und Anschaffungen getätigt sind, so dass man nichts mehr planen oder befürchten muss, sondern den Moment genießen und ein Gespräch nicht über die Tarife und Umstände des Lebens, sondern um die bedeutenden Inhalte des Lebens selbst führen kann. Der Unterschied zwischen konservativ und nicht konservativ in der mir als Heranwachsende vorschwebenden Gestalt war der zwischen dem sozialen Typus, der umständlich die Fahrpläne studiert, die Fahrpreise und die Umsteigemöglichkeiten berechnet, und dem geheimnisvollen Anderen, der schon im Zug sitzt und fährt. Erste Klasse natürlich. An diesen Beschreibungen lässt sich unschwer erkennen, dass ich in meiner Jugend mit real existierenden Konservativen keinerlei Umgang hatte. Entsprechend ließ sich die treuherzige Vorstellung von einem vorpolitischen Gentleman-Konservatismus in nachlässig gepflegten und verkehrsarm gelegenen Villenetagen auch nicht lange aufrechterhalten. Sie verdankte sich den besonderen historischen Umständen meiner Westberliner Jugend in den sechziger und siebziger Jahren, in denen das alte Berliner Bürgertum abgetaucht, erheblich kompromittiert oder in Konzentrationslagern ermordet war, weshalb die eingemauerte Stadthälfte mehr oder weniger von kriegstraumatisierten Kleinbürgern beherrscht wurde, die nur
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ein Notabitur und meiner Erinnerung nach erhebliche Probleme mit der Kontrolle und Modellierung ihrer Affekte hatten. Vor diesem Hintergrund hielt sich das Sehnsuchtsbild von einem auf Ausgleich, Bildung und Bedachtsamkeit ausgelegten Beverly Hills des Kulturkonservatismus einige Jahre. Später verlagerte sich mein Vorurteil vom Konservativen nicht weniger kenntnisarm ins Negative. Überzeugende Konservative waren zwar auch in den achtziger Jahren in Westberlin noch nicht nachgewachsen (die Regionalpolitiker haben in Berlin traditionell eher einen gewissen Bauarbeitercharme). Doch meine Schreckvorstellung vom Konservatismus orientierte sich ersatzweise an den in der bundesdeutschen Nachkriegswirklichkeit im Übermaß vorrätigen Saubermännern, die ihre Vorgärten asphaltierten, ihr Wohnzimmer mit Fliesen auslegten, im Haushalt keinen Handschlag taten, auf Dienstreisen in den Puff gingen und die Tochter nach 22 Uhr nicht mehr aus dem Haus ließen. Meine frühen Vorstellungen vom Konservatismus waren auf diese Weise beinahe ausschließlich von seinem lebensweltlichen Formenkreis bestimmt. Diskreditiert war das für konservativ Gehaltene bereits auf der Erscheinungsebene. Die war geprägt durch unattraktive, humorlose oder schlimmer noch: peinlich humorige Männer in sperrigen, ewig frisch gewaschenen Autos. Und durch benachteiligte Frauen, die unendlich komplizierte Frisuren trugen, weniger verdienten als ihre Männer, weniger gut ausgebildet waren und im Alter ausgetauscht und verlassen wurden. Der unmittelbar ins Auge springende phänomenologische Vorsprung der Linken vor den sogenannten Konservativen war damals vor allem ihre vergleichsweise überlegene Sexiness, ihre geschmeidigen, amerikanisierten Umgangsformen, ihr verminderter Untertanengeist, ihre weniger zur Schau gestellte Lebensangst und so weiter. Die ideologischen Gräben zwischen konservativen, wörtlich genommen: bewahrenden Geistern und den linken Kämpfern für den gesellschaftlichen Fortschritt schienen entlang der beschriebenen Nachkriegsphänomenologie zu verlaufen. Konservative, so hieß es, verteidigten das alt Bewährte, also nicht nur die gute alte Zeit ihrer Vorväter, die in Deutschland freilich sehr lange zurückliegen musste, sondern auch ihre männlichen Vorrechte, ihren Besitz, ihre Privilegien, ihre Einkommensund Mercedes-Klasse. Fortschrittliche hingegen verlangten Rechte auch für andere als sich selbst, sie verlangten eine Erneuerung, eine Individua-
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lisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, in der es auch den Frauen und den weniger Privilegierten besser gehen sollte. Wirkten die einen verklemmt, egoistisch und statusbewusst, so trugen die anderen den Heiligenschein des Samariters, der sich für die Benachteiligten und Verfolgten einsetzt. Die Wahl zwischen diesen beiden Nachkriegstypologien fiel nicht schwer. Die Welt der Konservativen schien zugepflastert mit unsinnigen Stoppschildern und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die des Fortschritts schien alle Argumente für sich zu haben. Aber auch dieses allzu übersichtliche Kampfbild ist lange überholt. Die Tragödie, die den Konservatismus inzwischen ereilt hat, ist oft erzählt worden: Sie begann, als die Konservativen den Fortschrittsgeist, den die Linke für sich abonniert hatte, nicht länger bekämpften, sondern sich kühn an seine Spitze setzten. Die Unionsparteien, traditionell die politische Heimat des Konservatismus, engagierten sich für den weltwirtschaftlichen Fortschritt, dessen Betriebslogik verlangt, alles Alte durch Neues zu ersetzen – also für das direkte Gegenteil ihrer Herkunftsideologie. Die überlieferten konservativen Lebensanker – Patriarchat, Brauchtum, Gemüt, Tradition – sollten weiter bestehen, doch Wirtschaft und Technik sollten sich radikal modernisieren, wenn nicht sogar: deregulieren. Die daraus entstandenen Widersprüche konnten nur durch die Preisgabe des nach schweren Zigarren duftenden konservativen Wertekanons gelöst werden. Eine Entwicklung, die auch Uwe Tellkamp und die Werte-Union nicht mehr zurückdrehen können. Seitdem gibt es den Konservatismus vor allem als Erinnerung an etwas, das es nicht mehr gibt. Und als Methode der Verwaltung und Eindämmung seiner selbst hergestellten Widersprüche. Die eingeübte politische Symbolik steht in Deutschland deswegen seit längerem Kopf. Wer für fortschrittlich und wer für konservativ gelten kann, ist dem großen Publikum in keiner Weise mehr verständlich zu machen. Im Gegenteil, die Umkehr aller Werte ist Ausdruck unserer Gegenwart: Sogenannte Linke ketten sich an Bäume, um den deutschen Wald, ursprünglich das Zauberwort des romantischen Kulturkonservatismus, vor der Abholzung und wirtschaftlichen Nutzbarmachung zu bewahren, während Konservative im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts Abholzung, Massentierhaltung, Luftverschmutzung und die Vergiftung und Versiegelung des Bodens in Kauf nehmen.
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Erst unter dem Eindruck der jüngsten Erfolge des neuen grünen NaturBewahrertums versuchen die offiziellen politischen Erben des alten Konservatismus ihr Image als rücksichtslose Natur-Terminatoren nachzubessern und sich an ihren verlorenen naturkonservativen Markenkern zu erinnern. Der neue Konservatismus greift unterdessen in Gestalt der Grünen und der Klimaschützer auf die Stoppschild-Idee des alten Konservatismus zurück und riskiert darüber, in den Ruf des Spaßbremsers und Modernitätsverhinderers zu geraten, in dem der alte einmal stand – weshalb die Grünen ihre Spaßbremser- und Verbotsseite ständig verleugnen und herunterspielen. In diesem Durcheinander findet man keinen sicheren Ort des Konservatismus, an den man sich zurückziehen könnte wie in ein altes Landhaus voller vornehm verschlissener Récamieren und alter Klassikerausgaben, die man in Ruhe studiert, während man den alten Hund krault und die Welt draußen verglüht. Solche Idyllen des Konservatismus gibt es gegenwärtig nur noch in den Romanen des selbst ernannten Literatur-Reaktionärs Michel Houellebecq. Und selbst bei ihm darf man sich nicht darauf verlassen, dass er es damit noch ernst meint.
Sind Sprichwörter konservativ? Von Gottfried Gabriel Sprichwörter sind dem verbreiteten Verdacht ausgesetzt, sie würden konservative Vorurteile festschreiben. Dieser Verdacht speist sich aus Erfahrungen in Kindertagen, in denen wir mit Sprichwörtern wie „Wer nicht hören will, muss fühlen“ erzieherisch traktiert wurden. Mir scheint, dass solche Erfahrungen ihrerseits zu Vorurteilen über Sprichwörter geführt haben. Üblicherweise unterscheidet man zwischen sprichwörtlichen Redensarten und Sprichwörtern im engeren Sinne. Während eine sprichwörtliche Redensart in unterschiedlichen Formulierungen auftritt und erst in Verbindung mit anderen Ausdrücken einen syntaktisch vollständigen Satz bildet, treffen Sprichwörter Aussagen. Sie sind aber nicht auf das Aussagen beschränkt, sondern ihre Verwendungsmöglichkeiten sind je nach Redesituation vielfältiger Art: Sprichwörter können als Mahnung, Warnung, Bestätigung, Ermunterung, Zuspruch, Trost und vieles mehr dienen, und einzelne Sprichwörter können, je nach Situation und Adressat, sehr unterschiedlichen kommunikativen Zwecken dienen. „Morgenstund’ hat Gold im Mund“ wäre in die abendliche Runde gerufen als Mahnung zu verstehen, diese Runde nicht zu lange auszudehnen, um eine Veranstaltung am nächsten Morgen nicht zu verschlafen. An eben diesem Morgen gesprochen, wäre derselbe Satz eher als Aufmunterung gemeint, sich nach zu kurzer Nacht zusammenzureißen. Der Eindruck, Sprichwörter würden konservativen Vorurteilen Vorschub leisten, wird dadurch verstärkt, dass sie in Sammlungen aufgereiht erscheinen, ohne sie in ihrem konkreten Gebrauch zu betrachten. Die Form der Sammlung liefert uns aber auch Hinweise zur Korrektur des Vorurteilsverdachts. Zu beachten ist nämlich, dass sich zu vielen allgemeinen Sprichwörtern auch deren Gegenteil findet, dass es Sprichwörter gibt, die einander widersprechen.
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Der Hinweis, dass der Geltungsanspruch einzelner Sprichwörter durch gegenteilige Sprichwörter relativiert werde, reicht allerdings nicht hin; denn man könnte ihn auch dahingehend wenden, dass dadurch der Vorurteilscharakter eher bestätigt als gemindert werde: Indem die Volksweisheiten es mit dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs nicht so ernst nehmen, würden sie es erlauben, je nach Bedarf, sogar gegenteilige Vorurteile zu stützen. Dem ist entgegenzuhalten: Nimmt man die konkrete Gebrauchssituation in den Blick, so heben sich nicht die gegensätzlichen Sprichwörter, sondern die Gegensätze der Sprichwörter auf. Einem ewig Zögernden wird man zurufen: „Frisch gewagt ist halb gewonnen“, einem Waghalsigen eher: „Erst wäg’s, dann wag’s“ im Sinne von „Eile/Mit Weile“. In einer Sammlung nebeneinanderstehend erscheinen beide Sprichwörter als unverträglich, mit Blick auf konkrete Situationen können aber beide zutreffen – angewandt auf verschiedene Fälle. In direktem Widerspruch stehen „Aller Anfang ist schwer“ und „Anfangen ist leicht,/Beharren ist Kunst“. Auch hier bedarf es wenig Phantasie, sich passende Situationen vorzustellen, die den Widerspruch auflösen. Der erste Satz macht dem Anfänger Mut, der zweite Satz appelliert an seine Ausdauer. Der Vorurteilscharakter der Sprichwörter scheint dadurch gegeben zu sein, dass Sprichwörter häufig unzulässige Verallgemeinerungen vornehmen. Dagegen ist zu sagen, dass die sprichwörtliche Verwendung von allgemeinen Aussagen nicht mit einer logischen Verallgemeinerung im Sinne des Ausschlusses von Gegenbeispielen gleichzusetzen ist. Es wird keine Verallgemeinerung (im Sinne faktischer Allgemeinheit) vorgenommen, sondern ein möglicher Fall angesprochen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Das Ei will klüger sein als die Henne, Wie der Hirt, so die Herde, Der Mensch denkt, Gott lenkt, Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Noch deutlicher tritt die genannte Rolle von Allgemeinheitsausdrücken in den bekannten ,W‘-Konstruktionen zahlreicher Sprichwörter hervor. Zu nennen sind neben dem eingangs erwähnten „Wer nicht hören will, muss fühlen“ folgende Beispiele:
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Wer rastet, der rostet, Was sich liebt, das neckt sich, Wer hoch klimmt, der fällt hart, Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wenn Gorbatschow in einer bestimmten historischen Situation erklärt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, so wird er nicht gemeint haben, dass das Leben alle, die zu spät kommen, bestraft. Der Ausdruck ,wer‘ ist nicht im Sinne des verallgemeinernden ,wer auch immer‘ zu verstehen, sondern als Platzhalterwort, das den Platz für mögliche Anwendungsfälle freihält, und der freie Platz wird im situativen Gebrauch durch einen konkreten Fall ausgefüllt, sozusagen belegt: Das Sprichwort als Satz liefert ein Deutungsmuster, macht ein Angebot, einen Fall als möglichen Fall eines Allgemeinen zu sehen, und als Ausspruch besagt es: Dieser Fall ist so zu sehen. Dementsprechend ließe sich die Aussage Gorbatschows sprachlich in die folgende, freilich künstliche Form zwingen: Diese Situation ist eine solche Situation des Zu-spät-Kommens, die das Leben bestraft. Äußerungen von Sprichwortsätzen in der Funktion von situationsbezogenen Aussprüchen sind keine allgemeinen Behauptungen, sondern Kommentare zu jeweiligen Einzelfällen, die den allgemeinen Gedanken des Sprichworts exemplifizieren. Dem Einwand, Sprichwörter würden Vorurteile festschreiben, ist damit allerdings noch nicht hinreichend begegnet, denn Vorurteile äußern sich auch darin, dass man einen Fall zu vorschnell unter ein Allgemeines subsumiert, also eine zu einseitige Deutung vorlegt, indem man der Besonderheit des Falls nicht gerecht wird. Vor derartiger Praxis warnt das Sprichwort: „Jedes Ding hat zwei Seiten“. Zugegeben, ein gewisser Konservatismus, gegründet auf die Anerkennung anthropologischer Konstanten, kommt in Sprichwörtern zur Sprache; aber auch der Konservatismus hat zwei Seiten. Es spricht aus Sprichwörtern nicht nur der rechthaberisch subsumierende, sondern auch der reflektierende, zu Bedenken gebende Konservatismus. Dementsprechend können die durch Sprichwortsätze ermöglichten Sprichwortaussprüche als Kommentare subsumierend oder reflektierend ausfallen, je nachdem ob die subsumierende oder die reflektierende Urteilskraft zum Einsatz kommt. Ein lebendiger Gebrauch des Sprichworts wird Fälle nicht subsumierend ,abhaken‘, sondern die Reflexion im Ausgang vom Besonderen in Gang setzen, um so eine überraschende Perspektive auf den Fall oder die Situation zu eröffnen.
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Für Kant, dessen Unterscheidung zwischen bestimmender (subsumierender) und reflektierender Urteilskraft herangezogen wurde, ist ein Sprichwort eine allgemein gewordene „Formel“, die der „Sprache des Pöbels“ angehört und den „gänzlichen Mangel des Witzes im Umgange mit der feineren Welt“ beweist (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 55). Überaus positiv äußert sich dagegen der konservative Schopenhauer, für den Sprichwörter „die Quintessenz tausender von Vorgängen“ sind, „die sich jeden Tag wiederholen und durch sie exemplifiziert, illustriert werden“ (Parerga und Paralipomena II, § 22). Um zu erkunden, welches Sprichwort in der konkreten Situation jeweils exemplifiziert wird, ist durchaus Witz erforderlich, indem es darum geht, den pointierten Kommentar abzugeben, der die Situation reflektierend erschließt und nicht bloß subsumtiv abschließt. Eine gelungene Aktualisierung verleiht den alten Weisheiten neuen Witz.
Glauben aus der Konservenbüchse? Von Ansgar Wucherpfennig SJ Eigentlich würde ich „konservativ“ am liebsten immer in Anführungszeichen setzen. Denn ich weiß nicht genau, was damit gemeint sein soll. Für das Schubladendenken im politischen Gegenüber zu Progressiven und Ökos, Linken oder Liberalen ist konservativ ungeeignet. Denn oft sind ökologische oder linke politische Vorstellungen nicht weniger konservativ – d. h. im wörtlichen Sinne: „bewahrend“ – als die sogenannten „konservativen“ politischen Parteien. Inzwischen ist es in manchen Kreisen wieder chic geworden, konservativ zu sein und zwar nicht nur im Bereich des Politischen. Konservatives gibt es auch im Lifestyle: Vintage, Oldies im Radio, Althergebrachtes in Stil und Manieren. Auch ich finde Autos interessant, die älter als 30 Jahre sind und von anderen längst in Richtung Schrottplatz gefahren worden wären. Von Liebhabern werden sie inzwischen wieder aufpoliert und kurven als Kuriositäten auf den Straßen herum, gewöhnlich mit einem H am Ende des Kennzeichens. Als ich neulich einen stolzen Besitzer eines solchen H-Oldtimers nach der Bedeutung des H fragte, meinte er: „historical“. Das schöne alte deutsche Fremdwort „historisch“ also offenbar nicht. Ein „historisches Fahrzeug“ klingt auch eher nach einem Panzer aus dem Ersten Weltkrieg oder noch älter: nach dem zweirädrigen Pferdewagen, auf dem Luther nach Worms zum Reichstag hoppelte. Das sind wirklich historische Fahrzeuge, und selbst konservative Gemüter würden sich damit heute nicht mehr auf die Straße wagen. Jesus ist auf einem Esel in Jerusalem eingeritten (Mt 21,1 – 8), Salomo ist schon viel früher als Jesus in Jerusalem auf einem Esel als König begrüßt worden (1 Kön 1,38 und Sach 9,9). War Jesus deshalb konservativ, weil er als Nachkomme Davids um das Jahr 30 das gleiche Reittier benutzt hat wie schon sein Ur-Ahn etwa 900 Jahre vor ihm? Konservativ klingt Jesus nicht, auch wenn er alten, ausgereiften Wein geschätzt hat (Lk 5,39). In seinen ersten Sätzen im frühesten Evangelium fordert Jesus auf (Mk 1,15): meta-
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noeite, das heißt im Griechischen wörtlich eigentlich: „Denkt um!“ So beginnt er und fährt fort: „und glaubt an das Evangelium!“. „Ändert euer Denken“ paraphrasiert ein neues Kirchenlied. Das klingt nicht konservativ, sondern eher nach Goethes schönem Satz aus dem Gedicht „Eins und Alles“: „Und umzuschaffen das Geschaffne, Damit sich’s nicht zum Starren waffne, Wirkt ewiges lebend’ges Tun.“ Das Label „konservativ“ ist ungeeignet für eine sachgerechte Diskussion. Und zwar sowohl als Etikettierung, konservativ versus progressiv, wie auch als neuer Identitätsbegriff, wie er inzwischen wieder gesellschaftsfähiger wird. Der Ausdruck erfordert vielmehr die gleiche intellektuelle Disziplin, die Philosophen bei Begriffen verlangen, die überwiegend emotional besetzt sind: sie zunächst einmal klar zu definieren, in ihren Einzelteilen auseinanderzunehmen und zu prüfen, was sie präzise besagen wollen. Wer „konservativ“ verwendet, sollte also auch sagen, was er damit wirklich meint. Vielleicht könnte man sich dann auf etwa folgendes positives Verständnis einigen: Konservativ meint, die funktionierenden Bedingungen gemeinsamen Lebens, Natur und Umwelt, Person und Werte, soziale und gesellschaftliche Institutionen, aber auch den menschlichen Körper und seine Seele erhalten zu wollen. Wobei „funktionierend“ wiederum meint, den ethischen Maßstäben der Gerechtigkeit und Integrität folgend. Zu ihrem nachhaltigen Erhalt unterliegen Natur, Mensch und Gesellschaft dann aber auch einem ständig progressiven Wandel und Umschaffen, denn sonst – so Goethe – erstarren sie. Die Vorstellung eines numquam reformata quia numquam deformata funktioniert in menschlichen Gemeinschaften nach verbreiteter historischer Erfahrung nicht oder nur sehr selten. Institutionen brauchen den Wandel, um gerecht zu bleiben. Der Ausdruck „konservativ“ hat seinen Ursprung in der Moderne, also nicht schon in einer Zeit, als Latein und Griechisch noch als lebendige Sprachen nebeneinander existierten. Würde man „konservativ“ dennoch ins Griechische zurückübersetzen wollen, käme man auf das Verb phylassô – für „bewahren, beschützen“. Phylakterien ist ein Wort für die Kapseln, in denen Juden die Schriftabschnitte ihres rituellen Gebets aufbewahren: schema jisrael adonai elohenu adonai echad. Die Phylakterien binden sich Juden beim Gebet an Kopf und Arme, und gewöhnlich findet sich ein Phylakterion an den Türen eines jüdischen Hauses. Mich hat schon oft bewegt, wenn ich bei Juden gesehen habe, wie sie dem Phylakterion am Hauseingang ein Zeichen ihrer Verehrung erweisen. Das Phylakterion be-
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wahrt das Wort Gottes in der Heiligen Schrift auf. Mit dem Zeichen ihrer Verehrung erinnern sich Juden an dieses Wort und lassen ihre Gedanken und ihr Handeln davon bewegen. Es ist ein Ritual und führt mit seiner Praxis über die Jahrhunderte vermutlich bis in Zeiten vor Jesus zurück. Eine Gemeinschaft braucht Rituale, Symbole und Gesten, um die Zeiten zu überleben, und tatsächlich hat das Rituelle immer etwas Konservatives. Aber das Wort wird deshalb aufbewahrt, damit es Menschen anspricht und sie aktuell bewegen kann. Das Wort Gottes hilft nichts, wenn es in einer Kapsel bewahrt bleibt, aber Menschen nicht ins Herz springt. „Denn lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens“ heißt es im Hebräerbrief (4,12). Auch christlicher Glaube und Theologie lassen sich nicht als unantastbares Depositum in Konservenbüchsen kondensieren. Sie brauchen das ständige Wagnis, das Wort Gottes stets neu zu hören und weiterzusagen. Dabei verändert das Wort Gottes Menschen, aber vermutlich verändert es sich auch selbst. Denn dazu hat Gott sein Wort in diese Welt gesandt, dass es Menschen in verschiedenen Zeiten anspricht und ihnen bei der Unterscheidung zwischen gerecht und ungerecht hilft. Deshalb sind die Jüngerin und der Jünger Jesu, die vom Himmelreich lernen, nicht konservativ, auch nicht progressiv, sondern sie gleichen Menschen, die einen Haushalt führen und aus ihrem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholen (Mt 13,52).
Warum ich trotzdem kein Konservativer bin Von Dieter Schönecker Ich finde es (um mit Hannah Arendt zu sprechen) ziemlich zK (zum Kotzen), wenn deutsche Nationalspieler mit türkischem Migrationshintergrund es nicht einmal übers Herz bringen, die Nationalhymne zu singen; wenn auf einer Kant-Tagung in Deutschland alle Englisch reden, obwohl nur ein einziger Kollege aus den USA des Deutschen nicht mächtig ist (der es aber sein sollte); wenn im WDR eine Sendung über die Volkshochschule anmoderiert und prompt eine abfällige Bemerkung über den Namen dieser Institution gemacht wird; zK ist natürlich erst recht, wenn ernsthaft die These vertreten wird, eine deutsche Kultur gebe es gar nicht und wer von deutscher Leitkultur spreche, sei mindestens Rassist, wenn nicht Nazi; wenn man Patriotismus mit Nationalismus verwechselt; zK ist auch, wenn mein neunjähriger Sohn nach Hause kommt und fragt, was eine Hure sei, weil seine Lehrerin ihm weismachen wollte, „Hure sei ein ganz normaler Beruf“; wenn man den Begriff der Homoehe (nicht zu reden von einem semantischen Monster wie „Ehe für alle“) nicht kritisieren darf, ohne sofort der Homophobie bezichtigt zu werden, obwohl man de facto dafür ist; wenn man Schmutz und Häme über die katholische Kirche ausgießt, aber die Klappe hält, wenn es um den Antisemitismus, die Homophobie, die Frauenfeindlichkeit, die Integrationsunwilligkeit (and you name it) vieler Muslime geht; dein Bauch gehört Dir? Du darfst also Dein gesundes Kind einen Tag vor der Geburt abtreiben? ZK!; zK und nahezu hirnrissig ist, wenn man allen Ernstes immer noch dem linken Dogma anhängt, es gebe keine angeborenen Intelligenzunterschiede, obwohl jeder mit auch nur zwei Kindern weiß, dass es selbstredend genau so ist; zK ist die Meinung, schon die bloße Tatsache, dass eine Position nicht zeitgemäß ist, wäre ein Grund, sie zu verwerfen; und ich könnte k, wenn ich lesen muss, der vollkommen unerträgliche poetry slam stehe auf einer Stufe mit echter Lyrik und Conchita Wurst mache Kunst (das ist so, als hielte man König der Löwen für ein Spätwerk von Richard Wagner); zK ist, wer „Narrativ“ schreibt oder „Inszenierung“ und
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damit gleich einen SFB einwirbt; und so weiter; und so fort. Alles zK. Wie auch immer die jüngste Sau heißt, die durchs kulturwissenschaftliche Dorf getrieben wird, dieses ganze sozialdemokratische, kritische, grüne, postmoderne, postkolonialistische, antiessenzialistische Gedöns – alles zK; das geht mir alles gehörig auf die Nerven. Trotzdem bin ich kein Konservativer. Ich halte das aus. Denn so einfach ist das alles nicht, und Konservative machen es sich zu einfach. Konservative denken, dass Menschen einen Platz haben in der Welt, weil die Welt eine Ordnung hat. Sie denken auch, dass wir diese Ordnung erkennen können – und zwar mit Vernunft; manche von ihnen denken außerdem, dass Gott uns dabei hilft, diese Ordnung zu erkennen, denn immerhin stamme sie ja von Ihm, und Er habe uns das Mittel gegeben, Ihn und Seine Ordnung zu erkennen. Konservative meinen außerdem, dass diese Ordnung mehr oder weniger schon realisiert ist; deswegen muss man sie ja bewahren. Vielleicht haben die Konservativen ja auch Recht mit ihrem Glauben an die Vernunft, vielleicht sogar wahrscheinlich. Vielleicht aber auch nicht. Denn wie steht es um die Begründung dieses Glaubens an die Ordnung? Nun, nach zweieinhalbtausend Jahren Philosophie darf man doch getrost sagen: Geht so. Könnte schon gut sein, dass der Mensch ein Wesen hat, eine Natur, mit einer Seele, der eine bestimmte Tüchtigkeit entspricht, die man Tugend nennt; vielleicht gibt es Güter wie Arbeit, Liebe, Freundschaft, Familie, ohne die Menschen nicht glücklich werden können, egal, wann und wo sie leben. Könnte aber auch sein, dass die wahre Natur des Menschen seine allgemeine, reine Vernunft ist, die praktisch werden kann, auch wenn sie rein ist; vielleicht gibt es wirklich den kategorischen Imperativ, der die Grundsätze unseres ethischen und rechtlichen Lebens zu testen ermöglicht, so dass wir wissen, was erlaubt ist und auch, was geboten. Könnte sein. Könnte aber auch sein, dass alles – auch alle Werte, alle moralischen, ästhetischen, gesellschaftlichen Güter, einfach alles – zumindest letztlich nur Natur ist, wie die Naturalisten sagen; auch das sind sehr kluge Leute, die wirklich mit gar nicht dummen Argumenten davon überzeugt sind, moralische Güter seien bestenfalls wie Farben: durchaus objektiv, aber unterm Strich dann doch nicht wirklich. Seien wir also realistisch (und zumindest hierin konservativ, denn die Progressiven sind die Irrealisten, die das, was wir immerhin haben, einer irren Version von dem, was nur sehr vielleicht sein könnte, zu opfern bereit sind): De facto ist die Philosophie als Quelle der Legitimation für Ordnungsansprüche nicht viel weiter
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als sie es vor langer Zeit schon war. Nur dass die Zeiten sich geändert haben, andere Quellen längst versiegt sind und wir in einer Welt leben, in der eine Weltanschauung neben der anderen steht und ihr sogar innerhalb nationaler Grenzen nicht aus dem Weg gehen kann. Der Liberale räumt diese unschöne Vielfalt ein, auch wenn er vielleicht im Herzen Konservativer ist und sich wünscht, es wäre anders. Aber es ist, wie es ist (in dieser Überzeugung, wie gesagt, ist der Liberale konservativ). Der Liberale begnügt sich mit einem Minimum; er begnügt sich mit dem, worauf Philosophen verschiedenster Provenienz sich einigen können, egal, was die Begründung ist. Der Liberale kann die Sterbehilfe ethisch für falsch halten; aber er räumt ein, dass andere, kluge, anständige Menschen das anders sehen, und so lässt er diesen Standpunkt zu. Der Liberale kann das Kopftuch deuten als Symbol der sexuellen Unterdrückung; aber er räumt ein, dass sogar kluge und gebildete Frauen das Kopftuch tragen (vielleicht begreifen sie ja nicht, warum sie es tragen, aber das ist dann ihr Problem). Konservativ ist, wer meint, die Welt und ihre Ordnung erkannt zu haben. Politik, so Konservative, ist dazu da, diese Ordnung – den logos von Ethik und Recht – zu realisieren. (Insofern sind auch die Linken konservativ, wenn sie keine postmodernen Relativisten sind; denn ihr Ausgangspunkt ist die bestehende Unordnung, die hin zu einer Ordnung, wie sie sie sehen, verändert werden soll; sie träumen vom Fortschritt.) Liberale lassen andere denken, wie sie denken wollen, und sie lassen andere leben, wie sie leben wollen, wenn es denn einigermaßen erträglich ist. Konservative schreiben vor. Was sie vorschreiben, kann sympathisch sein. Es kann aber auch ein Irrtum sein. Der Liberale vergisst das nicht. Der Liberale ist skeptisch.
Tradition als Weitergabe der Flamme Von Jacqueline Straub In der katholischen Kirche wird gerne schnell von „konservativ“ und „liberal“ gesprochen, um den rechten und den linken Flügel innerhalb der Institution zu bezeichnen. Konservative haben dabei den Ruf, dass sie nichts verändern wollen und lieber den guten, alten Zeiten nachtrauern. Ich würde jene, die keine Weiterentwicklung in der Kirche wollen, nicht unbedingt als konservativ bezeichnen, da echte Konservative eine immerwährende Weiterentwicklung im Blick haben sollten. Vielmehr sollten jene „ewiggestrig“ genannt werden, da sie an einer Zeit festhalten, die es vermutlich so nie gab und dennoch für unsere heutige Zeit als „die Ordnung“ propagiert wird. Sie leben in der Vergangenheit, obwohl das Christentum mit Blick auf die Tradition stark gegenwartspräsent und zukunftsweisend ist. Konservativ meint daher nicht, dem Ewiggestrigen hinterherzulaufen und dabei die Tradition aus dem Blick zu verlieren. Konservativ ist nicht nur das bloße Bewahren brüchiger Überbleibsel vergangener Zeiten und Ordnungen, sondern muss vielmehr schöpferisch-innovativ betrachtet werden. Im Zentrum des Ganzen steht Jesus Christus selbst, der mit seiner Frohbotschaft auch heute die Menschen berühren möchte. Aus diesem Blickwinkel heraus müssen aktuelle Fragen gestellt und beantwortet werden. Die Antworten können dabei heute anders ausfallen als noch vor 500 Jahren. So braucht es das Akzeptieren von Innovation in der Tradition. Wenn in der katholischen Kirche über das „Konservative“ gesprochen wird, wird relativ schnell die 2000-jährige Tradition genannt. Es gibt in der katholischen Kirche die eine Tradition und viele Traditionen. Die Tradition ist das feste Fundament des Glaubens und der Institution; sie ist unumstößlich und nicht änderbar. Gleichzeitig gibt es viele Traditionen, die sich im Laufe der Zeit verändert haben. Manche wurden abgeschafft, manche erweitert, andere wieder neu belebt. Wer also der Tradition treu bleiben
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will, darf keine Angst vor der Zukunft haben. Denn Traditionen bewegen sich immer und entwickeln sich weiter. Der Kern bleibt dabei bestehen. Dieser ist – wie das lateinische Wort conservare sagt – zu bewahren. Die Tradition ist wandelbar. Will sie bestehen, also ,konserviert bleiben‘, bedarf es der Veränderung und der Weiterentwicklung. Bleibt Tradition stehen, schafft sie sich selbst ab, weil sie dann keinerlei Bedeutung mehr für die Menschen von heute und morgen hat. Die Tradition muss stets den Menschen dienen und ihre heutigen Umstände und Ansichten im Blick haben und diese geschickt miteinbeziehen. So bedeutet konservativ nicht ein starres Festhalten am Bestehenden, sondern die kritische Betrachtung der Tradition in der Geschichte und das richtige Einordnen ins Heute. In Diskussionen über Konservatismus in der Kirche wird oft über den Zeitgeist und den Heiligen Geist gestritten. Wer den Zeitgeist nicht kennt, nicht erkennt, der redet an den Menschen vorbei und verkennt dadurch womöglich, dass der Heilige Geist sich auch noch heute bemerkbar machen kann. Wenn gewisse „Probleme“ in einer bestimmten Zeit auftauchen, muss geprüft werden, ob eine Veränderung genau zu diesem Zeitpunkt nicht dem „gottgewollten Augenblick“, dem Kairos, entspricht. Denn auch die Kirche kann den Kairos verpassen. Es ist traurig, wenn heute gegen den Zeitgeist gewettert und gleichzeitig an einem Zeitgeist vergangener Jahrhunderte festgehalten wird. Tradition bedeutet kein Festhalten am Bestehenden und ist auch kein abgeschlossenes System, sondern immer lebendig. Wenn an der Tradition zu stark festgeklammert wird, besteht die Gefahr, dass die Tradition immer mehr verblasst. Das heißt: die Weitergabe des Glaubens. Um des Evangeliums willen müssen wir zuweilen einen ,alten Zopf‘ abschneiden, um neues Leben wachsen zu lassen, welches die Kirche in die Zukunft führt. Seit Beginn des Christentums gehört es zum Wesen der Kirche, sich zu wandeln. Die Formel Ecclesia semper reformanda et purificanda beschreibt, dass es eine permanente Aufgabe der Kirche ist, Reform und Reinigung an Haupt und Gliedern vorzunehmen. Yves Congar, französischer Konzilstheologe und Ordensmann, betonte, dass wahre Erneuerung durch Rückkehr zum Prinzip der Tradition zu erfolgen hat – kurz: Innovation durch Tradition! So muss eine richtig verstandene kirchliche Tradition offen, dynamisch und zukunftsgerichtet sein. Ein gläubiger Christ lässt sich deshalb nicht in ein geschlossenes Wertsystem (Ideologie) pressen, sondern orientiert sich stets am gemeinsamen
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Ursprung, nämlich an Jesus Christus. Tradition bedeutet stets eine Weitergabe der christlichen Botschaft an die kommenden Generationen. Der Tradition treu sein, bedeutet nicht, nicht nach vorne zu schauen, sondern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unvoreingenommen zu betrachten und innovativ zu handeln. Das Zweite Vatikanische Konzil brachte das Bewahren der Tradition und die gleichzeitige Weitergabe der Frohen Botschaft auf den Punkt, indem es betonte, dass die „Zeichen der Zeit“ immer wieder neu zu erkennen sind. Auf dem Feld von Theologie und Kirche werden heute teilweise erbitterte Kämpfe ausgetragen. Es wird gar von „Schisma“ und vom „Verrat am Glauben“ gesprochen, wenn kreative Neuerungen vorgeschlagen werden, wie die Kirche ihre gesellschaftliche Relevanz und Akzeptanz wieder zurückgewinnen kann. So wäre die Einführung des Frauenpriestertums mitnichten ein Verrat an der kirchlichen Tradition, sondern vielmehr ein Aufbruch in eine neue Zeit und gleichzeitig eine Rückbesinnung auf eine alte Zeit, die Zeit der ersten Christen. Es wäre nicht nur ein Zurückblicken, sondern auch eine heilsame Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Das Christentum hat sich im Laufe der Kirchengeschichte schon immer von zweitrangigen Traditionen befreit, um dadurch den Blick auf das unverkürzte Evangelium wieder neu zu lenken. Denn zu jeder Zeit bedarf es neu des befreienden Lichts des Glaubens. Dieses Licht darf durch das Festklammern an vergangenen Traditionen und veralteten Denkmustern nicht unter den Scheffel gestellt werden. Die kirchliche Tradition hat ein Recht und auch eine Pflicht auf Weiterentwicklung. Tradition im Hier und Heute leben, bedeutet immer auch ein Suchen des Heiligen Geistes in der Geschichte und auf den Wegen von heute. Ja, „die Tradition wird nur dann treu weitergegeben, wenn sie aufrüttelt und belebt“ (Yves Congar). Die Tradition kann und muss erneuert werden. Nur so ist und bleibt sie Traditionsgut der katholischen Kirche. Wenn Tradition erstarrt, wird sie zu einem Stück im Antiquariat oder im Museum. Bereits Thomas Morus (1478 – 1535) sagte: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“
Sozialdemokratie und Konservatismus Von Ralf Stegner Wer im politischen Koordinatensystem der Bonner Republik aufgewachsen ist, muss fast notwendigerweise Befangenheit vermuten, wenn sich ein Sozialdemokrat über konservatives Denken äußert – umso mehr, wenn er dem linken Flügel angehört. Denkt man an die Ursprünge beider Lager und an starke Persönlichkeiten wie Franz-Josef Strauß oder Herbert Wehner, so stehen sich Sozialdemokratie und Konservatismus wenig versöhnlich gegenüber. Nun bin ich aber nicht nur Freund von politischer Trennschärfe, sondern als studierter Historiker ebenso ein Verfechter des kritischen Blicks unter die Oberfläche der populären Geschichtsschreibung. Dieser offenbart ein vielschichtiges Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und konservativem Denken, was sich auch mit meinen persönlichen Einstellungen deckt. Konservativ zu sein heißt im Wortsinn, etwas zu bewahren. Konservatismus ist im Kern also genauso vielfältig wie jene Dinge mannigfaltig sind, die Menschen als bewahrenswert gelten. Es war der Sozialdemokrat Erhard Eppler, Entwicklungsminister unter Willy Brandt und später Vorsitzender der Grundwertekommission, der 1975 in seinem Buch Ende oder Wende folgerichtig die grundsätzliche Frage stellte: „Was kann und soll bewahrt werden, und wie kann das geschehen?“ Dabei geht es nicht um Nebensächlichkeiten wie Weihnachtstraditionen oder Oberflächlichkeiten wie Jugendmode. Ganz im Gegenteil: Es ist eine hochpolitische Frage! Das tägliche Erleben von Politik mag dem Wesen nach stärker von Vokabeln wie Veränderung, Reform oder Wandel geprägt sein. Jedoch ist die Frage nach dem, was wir gemeinschaftlich bewahren wollen genauso fundamental für unser gemeinschaftliches Zusammenleben. Für Politikerinnen und Politiker wie mich bedeutet das in meinen Augen zwangsläufig: Nicht nur klar sagen, für welche Veränderungen wir kämpfen, sondern auch, was wir bewahren wollen – und was nicht.
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Was konservativ im besten und im schlechtesten Sinne bedeutet, habe ich bereits früh im Leben erfahren. Als Wirtshaussohn bin ich in einfachen Verhältnissen in der Pfalz großgeworden. Um nach der Grundschule ein Gymnasium besuchen zu können, pendelte ich jeden Tag mit der Straßenbahn über den Rhein ins baden-württembergische Mannheim. Der Grund: Im Jahr 1969 gab es in Rheinland-Pfalz noch immer keine Lernmittelfreiheit, was sich meine Familie nicht leisten konnte. Wenige Jahre zuvor musste man sogar noch Schulgeld zahlen. Zugang zu höherer Bildung – und somit zu besser bezahlter Arbeit – war so den wohlhabenden Familien vorbehalten, ganz nach dem Motto: „Schuster, bleib‘ bei deinen Leisten!“ Die Beibehaltung des Schulgeldes über Jahrzehnte durch eine rheinland-pfälzische Regierung aus CDU und FDP zeigte beispielhaft die hässlichste aller Fratzen des Konservatismus, welche Erhard Eppler in oben genanntem Buch Strukturkonservatismus nennt: Das Bewahren von Privilegien weniger, das Verteidigen bestehender Einkommenshierarchien und letztlich den bloßen Erhalt von Macht. Der für mich an jedem Schultag sichtbare Unterschied politisierte mich schon als Gymnasiast: In Baden-Württemberg, auf der anderen Rheinseite also, war es die Sozialdemokratie um Viktor Renner und Erwin Schoettle, die diese Form des Konservatismus durchbrochen hatten und als Teil der Regierung bereits Mitte der Fünfziger die Schulgeld- und Lernmittelfreiheit für alle allgemeinbildenden Schulen durchgesetzt hatten. Durch das unter Willy Brandt eingeführte Bafög konnte ich später zudem studieren. Mein Weg zur SPD war also früh geebnet, und noch heute kämpft meine Partei weiter dafür, den Aufstieg durch Bildung, den ich erleben durfte, auch den heutigen Kindern zu ermöglichen: durch die Abschaffung jeglicher Gebühren in der Kita, während der dualen Ausbildung für alle Berufe, und für den Meisterbrief. Ich habe aber auch früh in meinem Leben gelernt, was konservativ im besten Sinne heißen kann. Als Jugendlicher nahm ich an den Protesten gegen das geplante Atomkraftwerk am Kaiserstuhl in Wyhl am Rhein teil. Bis zu 25000 Menschen demonstrierten vor Ort und besetzten zeitweise den vorgesehenen Baugrund. Die Versuche des damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, CDU-Mann Hans Filbinger, die Demonstranten als Kommunisten abzutun, musste an der Realität scheitern: Vor Ort waren neben Studenten vor allem Winzer, Bauern, Hausfrauen, Rentner und Handwerker. Es war ein zutiefst bürgerlicher Protest, geprägt von unbedingter Gewaltlosigkeit, gegenseitiger Achtung, Hilfsbereitschaft
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und Solidarität untereinander – vereint im Ansinnen, ein Stück Natur und die Umwelt im Allgemeinen zu schützen. Dort, in Wyhl am Rhein, zeigt sich mir also ein ganz anderer Konservatismus: Einer, dem es nicht um den Erhalt von Privilegien, Hierarchien und Macht ging, sondern um Werte und zuvorderst um die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Diese Art, konservativ zu sein, nennt Erhard Eppler in seinem Buch Wertkonservatismus. Mit Blick auf die politische Großwetterlage weltweit und die Herausforderungen der Klimakrise kann ich nur festhalten: Wir brauchen mehr von dieser Art Konservatismus. Als Vorkämpfer im sozialökologischen Flügel der SPD bekannte sich Eppler schon 1975 dazu, wertkonservativ zu sein – ganze drei Jahre, bevor die CDU das Wort konservativ das erste Mal überhaupt in ihr Grundsatzprogramm schrieb. Dies ist keineswegs eine Anomalie der Geschichte: Die SPD hat eine starke sozialökologische und damit bewahrende Tradition, die in meinem SPD-Landesverband Schleswig-Holstein besonders gut gepflegt wird: Wir beschlossen den Atomausstieg bereits 1976, als es die Grünen noch gar nicht gab. In der Regierungszeit unter Ministerpräsident Björn Engholm setzte man sich Ende der Achtzigerjahre das Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien in Schleswig-Holstein bis 2010 von unter einem Prozent (!) auf 25 Prozent zu steigern. Von der CDU wurde das als utopisch abgetan: Es würden im Land die Lichter ausgehen ohne Atom- und Kohlekraft. Im Jahr 2010 hatten wir jedoch bereits 45 Prozent Anteil erneuerbarer Energien, heute sind es 100 Prozent. Dies ist für mich ein Beispiel an politischem Gestaltungswillen und Entschlossenheit, welchem wir öfter folgen sollten – in der SPD wie außerhalb. Nichts braucht aktuell so sehr unsere Anstrengungen, es zu bewahren, wie unser Planet selbst. Wir haben keinen Planeten B, und es ist fünf nach zwölf. In der Tat: An dieser Stelle brauchen wir radikale Veränderungen, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren, also mithin wertekonservativ zu sein. Dieser notwendige Umbau unserer Industriegesellschaft muss dabei zwingend gemeinwohlorientiert sein, um Arbeit und Umwelt nachhaltig zusammenzubringen, ohne dass es wieder die Geringverdiener und Verbraucher sind, die die Lasten dafür zu schultern haben.
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Für mich ist dabei klar: Bei aller gezeigten Vielschichtigkeit des Begriffes konservativ wird dies jedoch nur mit progressiven Bündnissen zu erreichen sein.
Das Konservative als reflexive Selbstverendlichung Von Rolf Schieder Der Beginn einer weltweiten und anhaltenden Wertschätzung des Konservativen lässt sich recht genau datieren: An Weihnachten 1968 sendet der amerikanische Astronaut Bill Anders ein Foto mit der aufgehenden Erde zur Erde, während die Raumkapsel Apollo 8 den Mond umrundet. Er liest dazu die biblische Schöpfungsgeschichte. Die Rück-Sicht auf den atemberaubend schönen und atemberaubend verletzlichen „blauen Planeten“ lässt die hypertrophen Träume von einer „Eroberung des Weltraums“ wie Seifenblasen platzen. Das Bild ist eine Offenbarung: Die „Bewahrung der Schöpfung“ wird als Herkulesaufgabe der Menschheit entdeckt, Selbstverendlichung als Alternative zur egoistischen Selbstextension scheint als Paradigma der Zukunft am Horizont auf. Nicht die Eroberung der unendlichen Weiten des Weltalls entpuppen sich als Herausforderung, sondern die gerechte Raumverteilung auf einem an Lebensmöglichkeiten begrenzten Himmelskörper in einem unwirtlichen Universum. Nicht alle Milieus und nicht alle Nationen waren gleichermaßen angerührt von dieser überwältigenden Entdeckung unserer Endlichkeit. Mittlerweile leugnet nur noch eine kleine radikale Minderheit die Notwendigkeit eines nachhaltigen und achtsamen Umgangs mit den begrenzten Ressourcen unseres Planten. Die Sehnsucht nach Beheimatung wächst. Nicht waffenstarrende „Star Warriors“ aus Hollywood sind heute Helden, sondern die kindliche Umweltaktivistin Greta Thunberg aus Schweden. Mit der Gründung und dem Erfolg der Partei der Grünen ist das Konservative auch längst nicht mehr im Besitz nur einer Partei. „Wertkonservativ“ wollen heute alle sein. Konservative müssen, wenn sie Konservative bleiben wollen, drei Versuchungen widerstehen. Das ist zum einen die faschistische Versuchung, zum anderen die neo-liberale Versuchung, und schließlich die naturalistische Versuchung.
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(1) Ausnahmezustandsdiagnosen als faschistische Versuchung: Wie weit sich Teile der CDU/CSU von ihrem konservativen Erbe verabschiedet haben, lässt sich an einem im Januar 2018 erschienenen Artikel des CSUMitglieds und damals amtierenden Verkehrsministers Alexander Dobrindt in der Tageszeitung Die Welt ablesen. Dort rief dieser öffentlich zur „konservativen Revolution“ auf. Er hielt es offenbar mit seinem Amtseid vereinbar, einen Umsturz der staatlichen Ordnung zu proklamieren: „Wir unterstützen die Revolution und sind ihre Stimme in der Politik.“ Madeleine Albright hat mit Ihrem Buch Faschismus. Eine Warnung (2018) eindrücklich gezeigt, dass es sich beim Faschismus nicht um ein Phänomen der Vergangenheit handelt, sondern um eine allzeit präsente Gefahr. Albright hält den Faschismus für eine politische Strategie, die Gesellschaft zu spalten. Carl Schmitt kann als Drehbuchautor für faschistische Politik gelten: Sobald sich die Gesellschaft mit Hilfe einer FreundFeind-Semantik als gespaltene wahrnimmt, kann ihr leicht suggeriert werden, sie befinde sich in einem Ausnahmezustand, aus dem nur ein starker, in der Regel männlicher Führer einen Ausweg wisse. Die internationale Neue Rechte arbeitet mit dem Schema „Krisendiagnose – Empörung – Polarisierung – Schuldzuweisung – Ausnahmezustandserklärung – Aufruf zur Revolution“ seit vielen Jahren verblüffend erfolgreich. Nicht mehr Regeln und Prozeduren sollen den politischen Willensbildungsprozess steuern, vielmehr soll das politische System als solches durch eine „Bewegung“ zerstört und aufgelöst zu werden. Dass ein vereidigter Bundesminister zu eben jener Zerstörung aufruft, die zu schützen er einen Amtseid geleistet hat, ist zumindest fahrlässig. Konservative, die vergessen, dass ihre Stärke im Insistieren auf der Herrschaft des Rechts und der Einhaltung demokratischer Regeln besteht, sind traurige Gestalten. Das war im 20. Jahrhundert nicht anders als im 21. Jahrhundert. (2) Wenn der bourgeois den citoyen verdrängt – die neo-liberale Versuchung: In Deutschland kann „Bürger“ zweierlei bedeuten: Zum einen den staatskritischen „Schmied seines eigenen Glücks“, der seine Bürgerrechte dazu nutzt, um sein Privateigentum zu mehren und dabei so rücksichtslos wie möglich seine privaten Interessen verfolgt. Das ist im Französischen der „bourgeois“. Diesem kapitalistischen Selbstvermarkter steht im Französischen der „citoyen“ gegenüber. Auch er legt Wert auf Autonomie und Freiheit, weiß sich aber dem kantischen kategorischen Imperativ verpflichtet, der es ihm unmöglich macht, sich auf Kosten anderer zu bereichern.
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Recht und Staat sind ihm nicht Feinde, sondern Garanten seiner individuellen und gesellschaftlichen Freiheit. Nicht selten wurde die Koalition aus FDP und CDU/CSU als das „bürgerliche Lager“ bezeichnet. Der deutsche Begriff des Bürgers verschleiert freilich den fundamentalen Unterschied, der im Französischen mit den Begriffen „citoyen“ und bougeois“ markiert wird. Wer meint, die Konservativen und die Neo-Liberalen seien die idealen politischen Partner, der hat den Begriff des Bürgers auf den des bourgeois reduziert. Das öffentliche Erscheinungsbild des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner zeigt uns einen idealtypischen bourgeois, dem die staatsbürgerliche Verantwortung eines citoyen schlicht nicht zuhanden war, als es darauf ankam. Konservative, die nur den bourgeois, nicht aber den citoyen repräsentieren wollen, haben in der Politik nichts verloren. Sie sind Lobbyisten. Man kann am Zustand der republikanischen Partei in den USA gut sehen, in welche Dilemmata man sich verstrickt, wenn man als bürgerliche Partei den bourgeois den citoyen dominieren lässt. Die kreative Spannung zwischen Staat und Gesellschaft darf nicht in billiger Staats- und Bürokratiekritik einerseits und einer unsolidarischen Besitzstandswahrung andererseits enden. (3) Geist oder Natur? Die naturalistische Versuchung: Nicht wenige Konservative neigen dazu, ihrem Weltbild unter Berufung auf „die Natur“ besonderes Gewicht zu verleihen. Das Problem eines solchen Vorgehens besteht darin, dass alles Mögliche als „natürlich“ gilt und galt: Gewalt und Krieg, die Ausbeutung von Frauen und Rassen, die sexuelle Orientierung. Tribalismus erscheint dann „natürlicher“ als Kosmopolitismus, Fremdenfeindlichkeit natürlicher als Gastfreundschaft, Egoismus natürlicher als Nächstenliebe. Der Mensch ist aber nicht nur ein Naturwesen, sondern darüber hinaus ein geistbegabtes Wesen. Der „Natur“ sollten Konservative deshalb nicht mehr Macht und Autorität zuzubilligen als ihr zukommt. Die Natur ist – wie Hegel sagt – selbstlos. Sie zu einem Kollektivsubjekt zu stilisieren, hieße, sie maßlos zu überschätzen. Als Ikone dieser Versuchung kann das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Juni 2000 gelten. An diesem Tag gab es dort keine Texte zu lesen, sondern lediglich eine seitenlange Variation der Buchstaben ACGT. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms sollte angeblich die Menschheit zu Designern ihrer selbst machen. Davon ist heute zwar keine Rede mehr, aber der Glaube an die Macht der Natur ist immer noch groß. Selbstbewusste Konservative werden statt auf die Naturbin-
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dung des Menschen auf seinen bildungsfähigen Geist setzen und die menschliche Fähigkeit eines solidarischen und verantwortlichen Umgangs mit der Natur fördern. Kunst, Religion und Wissenschaft sind genetisch weder determiniert noch biologisch zu ersetzen. Wenn Konservative diesen drei Versuchungen widerstehen, dann haben sie alle Chancen, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Dazu müssen sie die Tugenden stärken, die Konservative immer ausgezeichnet haben: Ein tiefes Vertrauen in Recht und Gesetz schützt sie dann vor der faschistischen Versuchung, staatsbürgerliches Bewusstsein (citoyenneté) schützt vor dem ausbeuterischen Egoismus des Neoliberalismus, und der Glaube daran, dass der Mensch ein geistbegabtes Wesen ist, der zu autonomen ethischen Handlungen fähig ist, schützt vor der naturalistischen Versuchung. Weder staatsfromm noch dezisionistisch, weder sozialdarwinistisch noch kapitalistisch können die Konservativen des 21. Jahrhundert Anwälte der Würde des Menschen und seiner Freiheit in Verantwortung sein. Ein durchaus demütiges Bewusstsein von der Endlichkeit unsers Daseins kann Quelle getrosten Mutes für die Zukunft sein.
Konservatismus: Brandmauer gegen politische Allmachtsansprüche Von Mike Mohring Jenseits unmittelbarer eigener Interessen eine politische Haltung zu entwickeln und zu haben, ist im Normalfall das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Dazu trägt sicherlich Bildung im Allgemeinen und politische Bildung im Besonderen bei. Den großen Einfluss der Familien und des Freundeskreises bestätigt nicht allein die Lebenserfahrung, sondern auch manche sozialwissenschaftliche Studie. Besonders prägend ist am Ende die Konfrontation der Theorie mit der Wirklichkeit. Je weiter beide auseinanderklaffen, desto einschneidender ist diese Erfahrung. Wer in der DDR aufgewachsen ist und dem Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur umfassenden Allmachts- und Wahrheitsanspruch der SED ausgesetzt war, weiß ein Lied davon zu singen. Nichts weniger als der „neue Mensch“ stand auf dem Programm dieser Staatspartei. Rolf Henrich hat dies in seinem Buch „Der vormundschaftliche Staat“ im April 1989 mit einem treffenden Begriff versehen. Doppelzüngigkeit und stille Verweigerung waren häufige, Dissidenz seltenere Reaktionen. Auch der Überdruss daran ließ das SED-Regime in der Friedlichen Revolution 1989/90 zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Mit dem lauten Ruf „Wir sind das Volk“ war diese Revolution eine Selbstermächtigung. Die Mündel des vormundschaftlichen Staates forderten schlicht ihre Bürgerrechte ein. Ich habe als Abiturient im Neuen Forum in meiner Heimatstadt Apolda daran mitgewirkt. Die Erfahrung, ja der Rausch der Freiheit haben mein politisches Denken tief geprägt. Dass und was das mit Konservatismus zu tun hat, habe ich erst später erkannt. Wie hätte es auch anders sein können. Ganze Gesellschaften nach einer ideologischen Blaupause gestalten und dies auch noch als alleinige Wahrheit verkaufen zu wollen, das muss immer schiefgehen. Auch als Christ weiß ich, dass wir Menschen unvollkommen sind, in unseren Erkenntnismöglichkeiten begrenzt, und mit
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Wahrheitsansprüchen daher sehr vorsichtig sein sollten. Was heute als richtig gilt, kann sich schon morgen als falsch erweisen. Es gibt historische Beispiele in Hülle und Fülle. Konservatismus verstehe ich als wirksame Brandmauer gegen derartige Allmachtsansprüche. Konkret: Der Staat sollte sich weitgehend darauf beschränken, gute Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für ein gelingendes Leben zu schaffen. In diesem Rahmen können und müssen sich jeder Einzelne, Familien, Kommunen, Unternehmen und Gemeinschaften aller Art frei entfalten können. „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“, wie Friedrich der Große es ausdrückte. Dafür muss der Staat eine verlässliche und gerechte Ordnung garantieren, die jedem Bürger faire Chancen eröffnet und ihm in den Wechselfällen des Lebens Hilfe zur Selbsthilfe gewährt. Der demokratische Verfassungsstaat und die soziale Marktwirtschaft sind Eckpfeiler einer solchen Ordnung. Das bedeutet für jeden Einzelnen allerdings auch, zunächst Verantwortung für sich, die Seinen und seine Nächsten zu übernehmen. Gute, im besten Sinn konservative Politik erleichtert dies, indem sie die gemeinschaftsbildenden Kräfte in der Gesellschaft stärkt: angefangen bei den Familien, über möglichst eigenständige Kommunen bis hin zu den zahllosen Aufgaben, die ehrenamtlich erledigt werden. Sofern es sich nicht notwendigerweise um formalisierte Aufgaben wie zum Beispiel den Dienst in den Freiwilligen Feuerwehren handelt, idealerweise in freier Selbstbestimmung der Zwecke und Wege. Eine Politik, die im Ergebnis dazu führt, dass der Staat immer mehr Aufgaben an sich zieht oder überall leitend und lenkend mit im Spiel ist, widerspricht dem fundamental. Konservatives Denken verläuft vom Konkreten ins Allgemeine, nicht umgekehrt. Das Subsidiaritätsprinzip hilft bei der Orientierung. Oswald von Nell-Breuning sprach in diesem Zusammenhang vom „Recht der kleinen Lebenskreise“. In einem Zitat aus dem Jahr 1986: „Was der engere und daher nähere Lebenskreis seinen Gliedern leisten kann, soll der weitere und höhere Lebenskreis (die ,höhere Instanz‘) ihm nicht entziehen, sondern ihm überlassen und ihm dabei behilflich sein.“ Das ist letztlich das exakte Gegenteil von dem, was ich in der DDR noch erlebte. Umso besorgter nehme ich wahr, wenn politisch versucht wird, das zitierte „Recht der kleinen Lebenskreise“, konkreter: ihre Gestaltungsmöglichkeiten im Interesse vermeintlich höherer Zwecke zu
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begrenzen oder vorzuformen. Es ist, aus konservativer Sicht, das alte Laster linker Politik. Thüringen steht mir dabei unmittelbar vor Augen: Die erste von der LINKEN geführte rot-rot-grüne Regierung in Deutschland gelangte im Dezember 2014 ins Amt und hat dafür seither etliche Beispiele geliefert, mit denen wir uns als CDU-Fraktion im Thüringer Landtag auseinanderzusetzen hatten. Am Bestreben, das Land „hin zu einer neuen Gesellschaftsordnung“ zu entwickeln, lässt die Thüringer Landesvorsitzende der LINKEN überhaupt keinen Zweifel. Gewiss beschränkt die landespolitische Bühne den Tatendrang, doch das Muster wird gut sichtbar. Dies sei an einigen wenigen Beispielen verdeutlicht. In Thüringen gab es ein von der CDU eingeführtes Landeserziehungsgeld, das nach dem Auslaufen des Bundeselterngeldes für ein Jahr gezahlt wurde. Es hatte den Sinn, die Entscheidungsfreiheit der Eltern bei der Betreuung ihrer Kleinkinder zu stärken. Gerade finanziell schwächere Haushalte erhielten so oft überhaupt erst die Wahlmöglichkeit, ihre Kinder ein Jahr länger zu Hause zu betreuen. Rot-Rot-Grün hat dies abgeschafft und einen einseitigen Systemwechsel zugunsten der öffentlichen Betreuung von Kleinkindern mit beitragsfreien Kita-Jahren vollzogen. Die Möglichkeit, es anders zu handhaben, ist damit wieder zu einem Privileg finanziell Bessergestellter geworden. Für das gesellschaftliche Leben sind überschaubare Gebietsstrukturen von größter Bedeutung. Verhältnisse, die einem vertraut und überschaubar sind, laden eher zur Mitgestaltung ein als unübersichtliche Großstrukturen. Das war eines unserer zentralen Argumente gegen eine von der Thüringer Linkskoalition geplante Zwangsgebietsreform. Die Zahl der Landkreise sollte mehr als halbiert werden. Gemeinden sollten langfristig mindestens 6000 Einwohner haben. In einem kleinteiligen Land wie Thüringen hätten dadurch rund 700 Kommunen ihre Eigenständigkeit verloren. Das haben die Bürger des Landes mit dem bisher größten Volksbegehren in der Geschichte Thüringens und mit der Hilfe unserer Fraktion verhindert. Gescheitert ist der rot-rot-grüne Versuch, das Land von oben herab umzubauen, schlussendlich an der Verfassung. Landespolitik ist zu einem guten Teil Schul- und Bildungspolitik. RotRot-Grün nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um Weichen in Richtung Einheitsschule zu stellen. Das reicht von der Privilegierung der Gemeinschaftsschulen, über die vollständige Inklusion und die langfristige Entlee-
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rung der Förderschulen bis zu Überlegungen, die schulartbezogene Lehrerausbildung abzuschaffen. Unsere Fraktion hat stattdessen immer wieder auf ein begabungsgerechtes, differenziertes Schulsystem gedrungen, in dem jedes Kind sich bestmöglich entfalten kann. Ganz in der Logik ihrer an den Bürgern gescheiterten Gebietsreform, versuchte die Landesregierung übrigens auch hier, durch Größenvorgaben das Schulnetz so weit als möglich auszudünnen. Diese Reihe ließe sich durch zahlreiche Beispiele, etwa zu Lasten des gewerblichen Mittelstands, verlängern. Stattdessen sei abschließend ein Beispiel genannt, das die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates als Inbegriff einer für Deutschland verlässlichen Ordnung berührt. Zu den letzten rot-rot-grünen Gesetzen in dieser Wahlperiode des Thüringer Landtags gehörte ein Paritätsgesetz, mit dem Parteien gesetzlich verpflichtet werden, Wahllisten abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen. Das ist ein massiver Eingriff in die im Grundgesetz garantierten Wahlrechtsgrundsätze und die Parteienfreiheit. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein Ziel, das gewiss jede Unterstützung verdient. Es kommt jedoch auf die Mittel an. In den Paritätsgesetzen wird eine Logik sichtbar, in der Gruppen, die nach Identitätsmerkmalen gebildet werden, im Kernbereich der Demokratie plötzlich wichtiger sind als die gleichen Rechte aller Staatsbürger. Ein großer Gewinn der europäischen Demokratie- und Verfassungsgeschichte ist, dass diese Rechte über alle Unterschiede hinweg in der Eigenschaft als Staatsbürger wurzeln, aber nicht an Identitätsmerkmale anknüpfen. Dieser Gewinn droht gerade verloren zu gehen. Sich der Identitätspolitiken von links wie von rechts erwehren zu müssen, gehört zu den gegenwärtigen Herausforderungen bürgerlich-konservativer Politik, deren Bedeutung wachsen wird.
Wer bewahren möchte, muss Zukunft mutig gestalten Von Katharina Schulze Ich rede gerne in Bierzelten, liebe mein Dirndl und fahre als Innenpolitikerin häufig bei Nachtschichten im Polizeiauto mit. Dazu kommt: Ich bin Feministin, verfechte das Motto „lieb doch, wen Du willst“ und esse Pasta statt Schweinshaxe. Wahrscheinlich nicht die erste Assoziation, die man hat, wenn man an eine Grünen-Politikerin denkt. Ich möchte verändern, bewahren, die Zukunft gestalten. Geboren im Jahr 1985 bin ich im Süden Münchens am Ammersee mit Mama, Papa, Bruder und Katze aufgewachsen. Im Handballverein konnte ich lernen, was Teamgeist und Zusammenhalt bedeutet, in der Schule, benannt nach dem Widerstandskämpfer Christoph Probst, habe ich von der Zivilcourage der Weißen Rose erfahren, was mich nachhaltig geprägt hat. Als Schülersprecherin und im Ehrenamt bei der Grünen Jugend und den Grünen konnte ich dann das Engagement für Generationengerechtigkeit, Klimaschutz, Demokratie und gegen rechts im Team weiter vorantreiben. Oft stieß unser Antrieb zur Verbesserung und unser Gestaltungswille auf Menschen, die kleinen und großen Veränderungen eher skeptisch gegenüberstanden. Wenn die Veränderung angestoßen war, erwärmten sich viele von ihnen für das Neue, weil damit das Bisherige gut weitergehen konnte. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass es ohne Veränderung keine Konstanz geben kann. Wenn wir und die nachkommenden Generationen weiter gut leben wollen, dann müssen wir auch an entscheidenden Stellen Änderungen vornehmen. Wir müssen mutig die Zukunft gestalten, anstatt Angst vor Veränderung zu haben. Politikerinnen und Politiker, engagierte Bürgerinnen und Bürger, Vereine und Verbände streben im ganzen Land nach Verbesserung. Natürlich gibt es auch viele, die zufrieden wären, wenn alles nur so bleibt wie es ist. Oder wie es mal war. Konservativ eingestellte Menschen erkennen sicherlich nicht in jeder kleinen oder großen Veränderung sofort einen Fort-
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schritt. Viele sind skeptisch oder vorsichtig. Die großen und wichtigen Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg sind von vielen Menschen in Verantwortungspositionen erstmal ausgebremst worden: die Emanzipation der Frauen, die Ausgestaltung individueller Freiheiten, welche die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes uns schenkten, das vehemente Eintreten für Klimaschutz und gegen das Waldsterben. Die Grünen und die vielen Strömungen, aus denen sie entstanden, haben diese Fortschritte miterkämpft bzw. arbeiten immer noch daran. Das war damals nicht sonderlich konservativ, sondern revolutionär. Wir müssen nun, konservativ im besten Sinne, diese Errungenschaften der Moderne bewahren. Und gemeinsam ausbauen! Es war eine Errungenschaft der Konservativen, die soziale Marktwirtschaft als erfolgreiche Wirtschaftsform bei uns zu etablieren. Aber dieses Wirtschaftssystem stößt an seine Grenzen: nicht alle profitieren, Ressourcen werden geplündert. Die Digitalisierung stellt alte Gewissheiten auf den Kopf. Sie fordert unsere Institutionen heraus, die für die analoge Industriegesellschaft geschaffen wurden. Wir müssen die Chancen der Digitalisierung für unsere Zukunft nutzen! Das Bewahren des Analogen oder der unkritische Glaube an Fortschritt durch bessere Technik wäre hier die falsche Prämisse. Wir müssen vielmehr hinterfragen, wie wir soziale und kulturelle Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger und die Verantwortung fu¨ r kommende Generationen organisieren, damit der Rechtsstaat auch in einer digitalen Welt das Fundament unseres Zusammenlebens ist. Dafür muss sich auch unsere Wirtschaftsweise grundlegend ändern, damit alle Menschen faire Chancen erhalten. Ludwig Erhard, ein Konservativer, würde heute vermutlich sagen: Wir müssen unsere Wirtschaft ändern, damit wir auch in Zukunft erfolgreich sind. Recht hätte er. Mit dem Pariser Klimaabkommen und den globalen Nachhaltigkeitszielen ist dafür der Rahmen gesetzt. Wir müssen nun gemeinsam diese Ziele engagiert umsetzen. Gleichzeitig hat niemand eine einfache Antwort auf diese komplexen Herausforderungen. Manche argumentieren, nur mit einfachen Antworten können wir alle mitnehmen. Das halte ich für falsch. Gerade weil vieles komplex ist, braucht es ein differenziertes Vorgehen. Ich plädiere für einen zuversichtlichen Handlungsanspruch: Wertschätzung gegenüber dem Bestehenden und Optimismus gegenüber dem Neuen. Der unbedingte Wille, unsere Gesellschaft besser zu machen, auch gegen Widerstände. Ja, auch idealistisch. Dafür müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, wir könnten einen Umbauplan aufsetzen, ihn abarbeiten und danach
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ist es besser. Wir müssen als Gesellschaft, als Wirtschaft, aber erst recht als politische Parteien in der Lage sein, flexibel zu agieren, und auch damit leben, dass eine Idee scheitern kann. Daraus können wertvolle Erkenntnisse geschöpft und neue Ideen kreiert werden. Dies sollten wir nicht mit Beliebigkeit verwechseln, denn eines bleibt auch in einer Welt voller Unsicherheit konstant: die Grundüberzeugung, die Haltung. Die Rahmenbedingungen für all diese Aufgaben schafft die Politik. Glücklicherweise haben wir dafür einen großartigen Instrumentenkasten: unsere Verfassung. Seitdem das Grundgesetz auf Herrenchiemsee in Bayern vor 70 Jahren in nur 13 Tagen entworfen wurde, hat sich die Bundesrepublik radikal verändert und stets neu begründet, trotz aller Herausforderungen. Denn unsere liberale Demokratie bringt alle Voraussetzungen dafür mit, den Transformationen unserer Zeit und der Zukunft zu begegnen. Selbsternannte „Konservative“ täten gut daran, ab und zu in unsere schlichte und klare Verfassung zu blicken, wenn sie dabei sind, Bürgerrechte einzuschränken, Menschen unterschiedlich zu behandeln oder dem Land eine vermeintliche „Leitkultur“ überzustülpen. Unsere „Leitkultur“ ist unser Grundgesetz. Unser bewährtes Fundament. Unsere Verfassung wird seit ihrer Existenz von innen und von außen angegriffen. Mal mehr, mal weniger. Mir macht Mut, dass sich viele Menschen zunehmend als Verfassungsschützerinnen und Verfassungsschützer sehen. Auch wir Grüne, denn das ist ein Teil unserer DNA: Wir sind im Osten Deutschlands aus der Bürgerrechtsbewegung entstanden. Es braucht viele Köpfe und viel Kraft, um die Werte unserer Verfassung, die pluralistische gesellschaftliche Vielfalt, gegen Angriffe zu bewahren. Es braucht ebenso viel Köpfe und Kraft, um unsere Gesellschaft voranzubringen. Ein Beispiel: Mich freut es sehr, dass in diesen Tagen der Feminismus in Deutschland wieder stärker wird und so das Grundgesetz, Artikel 3 zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern, mit Leben gefüllt wird. Als ich noch jünger war, hielt ich es für selbstverständlich, dass Frauen und Mädchen die gleichen Rechte und Chancen haben. Ich lernte, dass die Realität eine andere ist. Frauen haben immer noch nicht die Hälfte der Macht, verdienen weniger als Männer für die gleichwertige Arbeit und werden häufiger Opfer von Gewalt. Der Staat muss – laut Grundgesetz – die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung“ fördern. Ein klarer Handlungsauftrag an Staat und Regierende! Für mich ist das Verteidigen der Emanzipationserfolge des letzten Jahrhunderts – und das gleich-
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zeitige Vorantreiben des Rechts auf gleiche Chancen für Frauen – daher im besten Sinne konservativ. Um die Zukunft zu gestalten, gilt: „Machen, nicht meckern“. Wie oft habe ich hierfür schon öffentlich und in kleineren Runden plädiert. Gelernt habe ich diese Maxime von meinen Eltern, die mich und meinen Bruder ermutigten: Arbeitet mit an der Veränderung, wenn Euch etwas stört oder wenn Menschen etwas verändern, was ihr bewahren wollt. Ob Konservative, Liberale, Progressive, die, die schon immer dagegen waren oder die, die schon immer dafür waren – um die Herausforderungen der Zukunft anzupacken braucht es einen Mix aus Bewahren und Erneuern. Aus Skepsis und Mut. Aus Werten und neuen Ideen, innovativ und gerne auch mal radikal. Über den besten Weg müssen wir immer diskutieren – das kann man überall: z. B. im Festzelt, im Polizeiauto, an den Stammtischen der Republik. Nicht jede Veränderung bedeutet automatisch Fortschritt. Es ist wichtig, dass es Menschen gibt, die dem Neuen erstmal mit Skepsis begegnen. Ebenso sehr brauchen wir aber Leute, die mit Optimismus und Zuversicht die Dinge anpacken. Im Lichte der stürmischen Veränderungen unserer Zeit dürfen wir den Fortschritt keineswegs ausbremsen oder ihm hinterherhinken. Vieles muss sich ändern, damit wir vorankommen. Um unsere hohe Lebensqualität zu bewahren, müssen wir die Zukunft mutig gestalten.
Konservatismus – wie ich seiner durch den Marxismus gewahr wurde Von Christoph Böhr Wer in den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts an einem deutschen Gymnasium sein Abitur ablegte und an einer deutschen Universität sein Studium aufnahm, war einem Meinungsdruck ohnegleichen ausgesetzt: Wer nicht brav in der linken Kolonne mitlief, galt als unverbesserlicher Reaktionär und Faschist. Das Schimpfwort ,konservativ‘ war viel zu harmlos, um die Ignoranz derjenigen zu brandmarken, die nicht bereit waren, sich der linken Bewegung anzuschließen – oder doch zumindest widerspruchslos unterzuordnen. Die Lage an den Hochschulen war in höchstem Maße unerfreulich: Vorlesungen wurden regelmäßig durch Sprechchöre linker Gruppen gesprengt, Institute besetzt, und selbstverständlich war die marxistische Theorie in jeder Lehrveranstaltung tonangebend; Wolfgang Leonhard, der eingeladen worden war, über Marxismus zu sprechen, wurde ausgebuht und mundtot gemacht – er galt den Linken nicht nur als Renegat, sondern auch als Reaktionär. Viele Professoren resignierten und noch mehr Studenten beugten sich dem Druck, der gelegentlich zum Terror ausartete, indem sie schwiegen und den Dingen schulterzuckend ihren Lauf ließen. Aufgestachelt durch diese Erfahrungen entstand damals ein ,Konservatismus‘, der bis heute einen Teil meiner Generation nachhaltig prägt: Ein Konservatismus, der die Meinungs- und Redefreiheit verteidigt, weil er selbst erfahren hat, wohin es führt, wenn das freie Wort unmöglich gemacht wird. In wessen Namen wurde damals das Recht auf die Freiheit der Rede ausgehebelt? Es gab etliche miteinander rivalisierende Fraktionen, die sich jedoch alle auf ein und denselben Mann beriefen, in dessen Namen die Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wurde: Karl Marx. Dabei war es – nebenbei bemerkt – geradezu putzig mitanzusehen, wie der erbitterte Kampf um die Orthodoxie das linke Lager in immer mehr Gruppen und
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Grüppchen aufspaltete: Leninisten, Spartakisten, Maoisten, Stalinisten, SDS, DKP, KPD, KPD/ML und KBW, Rote Hilfe, Stamokap sowie Kommunisten unterschiedlichster Orientierung stritten mit- und untereinander schlimmer als die Kesselflicker. Ein Gutes hatte allerdings diese Zeit des Gesinnungskampfes für alle, die dem Zeitgeist widerstanden: Niemand kam damals daran vorbei, den Obergenossen Marx zu lesen – auch ich nicht; und im Licht dieser notgedrungen ausführlichen – heute sage ich: viel zu ausführlichen – Lektüren musste ich dann immer wieder schmunzeln, als dieser Mann anlässlich seines zweihundertsten Geburtstages in Ausstellungen und Veröffentlichungen als kinderliebender Weihnachtsmann mit wallendem Rauschebart der Öffentlichkeit vorgeführt wurde. Damals, in den frühen 70ern, haben wir alle die dicken Wälzer der blauen MEW für einen Appel und ein Ei am Büchertisch der DKP gekauft und – oft zähneknirschend, weil so schrecklich langatmig und oberlehrerhaft verfasst – gelesen, wobei spätestens beim Kapital dann aber auch Schluss mit lustig war; die Bücher, deren Preise ,in Mark der DDR‘ eingedruckt waren, wurden günstig angeboten und waren von Ost-Berlin zur Beförderung der Revolution in den kapitalistischen Staaten bezuschusst, zumal sich das Regime damals, in den frühen 70ern, noch in der Erwartung sonnte, die Stimmung in Westdeutschland würde schon bald zum Sozialismus hin kippen. Manchen besonders unangenehmen linken Fanatikern hat man das – in einigermaßen nüchterner Kenntnis darüber, wie die Dinge im östlichen Teil Deutschlands lagen – damals sogar heimlich gewünscht. Der Konservatismus war in diesen bewegten Jahren mehr denn je herausgefordert, sich um seiner Selbstbehauptung willen theoretisch zu verorten. Ein solches Unterfangen geht dem Konservativen eigentlich contre cœur: Er ist kein großer Freund der Theorie, schon gar nicht einer Theorie, die beansprucht, über das Leben zu herrschen. Aber er kam nicht umhin, über eine anspruchsvollere Begründung seines Selbstverständnisses nachzudenken, weil sein Theoriedefizit größer nicht hatte sein können – und uns damaligen Studenten schien das ein reizvolles Unterfangen. Ohne den Druck der Linken wäre es dazu allerdings nie gekommen. Westdeutschland war in den 70ern nicht auf Konservatismus eingestellt. Die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler hatte eine Euphorie ausgelöst, die große Teile der Gesellschaft erfasste und einem moderaten linksliberalen Meinungsklima zuführte. Aber er und die Sozialdemokraten insgesamt
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waren den linken Doktrinären an den Universitäten damals fast noch verhasster als wir Konservative. Akademisch standen uns die Bücher von Arnim Mohler und Klaus Epstein, Kenner der Geschichte des konservativen Denkens, zur Seite, aber publizistisch machte ein ganz anderer Name Furore: Es war die große Stunde des bis heute unvergessenen Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der damals bei Herder die Schriftenreihe Initiative begründete und verantwortete – mit Aufsätzen, die zu lesen nicht nur damals lohnte. Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass der Konservatismus in Deutschland sich ab Mitte der 70er Jahre nicht mehr nur und ausschließlich e contrario definierte – als Widerspruch zu allerlei linken Ideologien. Kaltenbrunner steuerte das Schiff des Konservatismus aus seichten Ufergewässern wieder auf hohe See, übrigens ohne auf Thinktanks, Programmkommissionen, Kommunikationsagenturen und Planungsstäbe zurückgreifen zu können – dank der Tiefe seines eigenen Denkens, seiner eindrucksvollen Bildung, seiner Originalität, seiner Kompetenz und seiner Kreativität. Auch das ist – nebenbei bemerkt – eine Facette des Konservatismus, dass dieser ganz auf die Kraft des individuellen Denkens setzt und sich nicht am Ziel des Aufbaus von kollektiven Massenbewegungen berauscht. Kaltenbrunners Plädoyer für ein Europa „überlieferungsverwurzelter Völker“ ist heute übrigens mindestens so aktuell wie vor vierzig Jahren. Hätte man es berücksichtigt, wäre in der Europäischen Union manches im vergangenen Jahrzehnt anders – und vermutlich besser – gelaufen. Von der Klarheit seines Denkens befruchtet, nahm mit Kaltenbrunner die Reflexion über Konservatismus Fahrt auf – stets flankiert von Attacken, die Konservatismus und Faschismus zu zwei Seiten ein und derselben Medaille erklären wollten. Konservatismus, so könnte man Kaltenbrunners Fazit vielleicht in Worte fassen, bedeutet kein Zurück in die Vergangenheit, keine Restitution von Traditionen, sondern – ganz so, wie es der alte Dubslav von Stechlin in Theodor Fontanes gleichnamigen Roman auf zeitlos gültige Weise zum Ausdruck bringt: Das Alte lieben und mit dem Neuen leben. Darin zeigt sich die Haltung des Konservativen: das Hergebrachte zu achten und sich zugleich für das Neue zu öffnen, kurz: Im Neuen das Alte anwesend bleiben zu lassen. Das Alte: Das ist eine bestimmte bewahrenswerte Gesinnung und keine überkommene untergehende Gesellschaftsform. Aus Nostalgie – oder gar dem Wunsch nach Be-
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sitzstandswahrung – erwächst kein Konservatismus, weder damals zur Zeit Fontanes noch heute in unserer Gegenwart. Konservatismus, seinem Wortsinn nach habituell verstanden, beinhaltet – zunächst – keine Sozialtheorie, gewiss keine Rechtfertigung für einen Anspruch auf Herrschaft und keine Begründung für Macht; Konservatismus bietet auch keinen Anlass für Überheblichkeit oder Bevormundung gegenüber Dritten, sondern meint vor allem eines: Dienst. Der Konservative versieht einen Dienst an der memoria – der Erinnerung und der Treue zu dieser Erinnerung als ihre Bewahrung vor dem Vergessen. Der Überlieferung – durchaus auch in zeitgemäßer Form – treu zu bleiben, versteht der Konservative als seine erste und wichtigste Aufgabe – eine widerständige Aufgabe, die er zugleich als einen Dienst an der Gesellschaft, in der er lebt, begreift. Im Englischen wird dieser Habitus auch mit dem Wort ,conservationist‘ wiedergegeben: eine Haltung, die gar nicht auf eine Theorie zielt; die darf man vielleicht eher schon von einem ,conservative‘ erwarten, doch auch bei ihm findet man sie nur in Ausnahmefällen – was keinesfalls heißt, dass der ,conservative‘ nicht in hohem Maße reflektiert ist. Sich selbst konservativ nennende politische Organisationen im kontinentalen Europa machen oft den Fehler, dass sie eine Restauration des Vergangenen wünschen, obwohl Bewahrung nur auf eine Denk-, nicht aber auf eine Gesellschaftsform zielen kann. Auch aus diesem Grund wird man bezweifeln müssen, ob Konservatismus überhaupt ein politisches Programm sein kann – oder ob Konservatismus nicht der Geist ist, aus dem man ein politisches Programm zur Gestaltung des Neuen entwickelt. Mir scheint: Letzteres ist der Fall. Dann aber gibt es schon lange keine konservative Partei mehr in Deutschland. Die Union fürchtet das Attribut ohnehin wie der Teufel das Weihwasser, und ob andere Strömungen die notwendige Anstrengung des Begriffs auf sich nehmen, wird sich zeigen. Um Wahlen zu gewinnen, bedarf es dieses Bemühens nicht – und auch aus diesem Grund unterliegen Parteien keiner allzu großen Verführung, sich Aufgaben zu widmen, die ihnen keinen schnellen Zuwachs an Wählerstimmen versprechen. Diesem Ziel dienen nette Unverbindlichkeiten allemal mehr als klare Begriffsbestimmungen. Und vielleicht ist ja die Lebensform des Waldgängers, wie Ernst Jünger sie in seinem Essay Der Waldgang beschreibt, tatsächlich die vom Konservativen bevorzugte: unwillig und unfähig zur Einbindung in Gruppe und Verband, oft – und durchaus ohne Betrübnis – auf verlorenem Posten stehend, ja, selbst abweisend gegenüber seiner Vereinnahmung durch Milieus und Kombattanten.
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Vor diesem Hintergrund war der 5. Oktober 2011 ein wichtiger Tag in der Geschichte des konservativen Denkens in Deutschland. An diesem Tag veröffentliche Lorenz Jäger – einer der klügsten Köpfe eines reflektierten konservativen Denkens in Deutschland – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Adieu, Kameraden, ich bin ein Gutmensch“ seinen Scheidungsbrief, mit dem er sich von den pseudokonservativen Milieus seines Landes verabschiedete – vor allem deshalb, weil es sich wieder einmal nur e contrario – diesmal als Widerspruch zum Gutmenschentum – versteht. Und ganz anders, als das Sprichwort es nahelegt, bringt Jäger zum Ausdruck, dass Scheiden in diesem Fall gar nicht weh tut. Was ist geschehen? Verdient der Konservatismus in Deutschland heute keine Unterstützung mehr? „Adieu“ ruft Jäger dem sich selbst als konservativ bezeichnenden Milieu zu, das – ohne Abschiedsschmerz – zu verlassen er sich entschlossen hat. Wer, zumindest hierzulande, beim Abschied „Adieu“ sagt, legt es nicht auf ein Wiedersehen an. Und wie der Rheinländer, bei dem sich diese Grußformel bis heute erhalten hat, weiß: übersetzt heißt das Wort ,Gott befohlen!‘ – will heißen: Ich kann jetzt für euch, meine langjährigen Weggefährten, von denen ich Abschied nehme, nichts mehr tun, seid also Gott befohlen. Jäger allerdings belässt es nicht bei diesem letzten Gruß. Das ,Gott befohlen‘ der Überschrift klingt im letzten Absatz seines Scheidebriefes noch einmal an. Dort nämlich gibt er einen Hinweis, was den Konservativen, wenn ihn mehr als nur der Widerspruch zum Zeitgeistigen beseelt, umtreibt: nämlich „die Sehnsucht nach Maßstäben, die von oben kommen, vielleicht von Gott.“ Treffender als in dieser zudem bemerkenswert schönen Redewendung, denke ich, kann man die Sache des Konservatismus nicht auf ihren Begriff bringen. Konservative denken seit jeher in der Grundform von Ordnungen. Dabei geht es dem Konservativen besonders um die Bewahrung des Wissens darüber, dass eine schlechte Ordnung immer noch besser ist als keine Ordnung. So denken Konservative. Wer aber will sich heute in der Öffentlichkeit einer solchen Überzeugung anschließen? Und wer könnte, wenn er es täte, dann auf Verständnis, gar Zustimmung hoffen? Die Frage zu stellen, heißt schon, sie beantwortet zu haben. Und dennoch scheint, auch heute noch, von einem Denken, das sich in der Grundform von Ordnungen vollzieht, durchaus eine Faszination aus-
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zugehen. Der Konservative bekennt sich zu dieser Faszination. Sie gründet, knapp gesagt, in der Vermutung, dass ein Denken in Ordnungen dem Denken Gottes näher kommt: und zwar als die humanere Alternative zu Chaos und Anarchie. Das Denken in der Form von Ordnungen ist die große Provokation für den Unruhestifter, den Diabolos, der Ordnung zu beschädigen und Unordnung anzurichten trachtet. Daraus entstehen Verwirrung, Zwietracht, Haltlosigkeit, schlimmstenfalls Bürgerkrieg. Deshalb sind für den Konservativen Verführungen zur Unordnung diabolische Versuchungen. Wer sich – um noch einmal Jäger aufzunehmen – nach Maßstäben, „die von oben kommen“, sehnt, der kann nicht umhin, in der Form von Ordnungen zu denken. Er unternimmt den Versuch, Ordnung zu schaffen, weil er in Unordnung immer und zu Recht Unheil und Untergang wittert. Und die Ordnung, auf die er es anlegt, ist die Ordnung des Rechts, also nicht zwingend die der jeweils zeitgenössischen Rechtsprechung. Der Habitus des Konservativen ist jener des Legislators, nicht der des Judikators. Er zielt – als Legislator – nicht auf die Wiederherstellung dessen, was gerade untergeht, sondern auf die Gestaltung dessen, was sich in Umrissen ankündigt. Das jedenfalls wäre die Aufgabe des Konservativen heute: die Vorstellung einer Ordnung zur Gestaltung der neuen Zeit zu entwickeln. Das Alte ist vergangen, ein Neues ist im Werden – und die Frage des Konservativen lautet: Welche neue Ordnung wäre es wert, sie sich an Stelle der gerade zerbrechenden alten zu wünschen?
„We are all individuals! – I’m not!“* Von Klaus-M. Kodalle Der Zeitgeist wirkt hinterrücks: Zuweilen meint man, avantgardistisch zu sein oder zumindest zu urteilen – und entdeckt alsbald, im Rückblick, dass man letztlich doch zeitgeist-konform agiert hatte. Aus dieser Entdeckung generiert sich die besondere Achtsamkeit, Nonkonformität zu bewahren und auch einzuüben. Wer sich nicht für eine Sache zu begeistern wüsste, wer nicht im Rausch des Gemeinschaftsgefühls für eine gute Sache einzutreten und zu kämpfen bereit wäre, litte womöglich unter Frühvergreisung. Der Kampf für das als gerecht Erachtete beansprucht den ganzen Menschen – und sortiert auch die kommunikativen Verhältnisse. Wer anders denkt, wer das Sowohl-alsauch für geboten hält, ja: wer gar mit moralischer Überzeugungskraft eine Gegenposition vertritt, rückt de facto aus dem Freundeskreis heraus, wird ein Stück weit fremder. Das schöne Gefühl der Einigkeit und der darin waltenden Rechthaberei soll nicht gestört werden … Nun ist jede in der Gesellschaft vertretene moralisch aufgeladene Position einseitig, ideologieanfällig, geistig tendenziell vereinnahmend, praktisch – im Grenzfall – gewalttätig. ,Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein.‘ Gemeinschaftsideologien garnieren ihren Kampf mit diversen Aspekten des Ideals der Gerechtigkeit. Der Hohepriester Sarastro verkündet in Mozarts Zauberflöte das Ideal einer alle Menschen einbegreifenden Menschheitsreligion: „Und ist ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht.“ Wer nicht gewillt ist, sich in diese Liebes- und Menschheitsreligion enthusiastisch einzufügen, dem droht Sarastro an, er müsse damit rechnen, seiner Anerkennung als Mensch verlustig zu gehen: „Wen diese Lehren nicht erfreuen, verdienet nicht ein Mensch zu sein.“
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Erkennbar ist natürlich hier in der Oper das Ideal der Freimaurerbewegung angesprochen. Aber philosophisch könnte man auch an den von Marx geschätzten Hegel-Schüler Feuerbach erinnern. Dieser hatte die Gottesidee gleichsam in die Immanenz geschoben und verkündet, Inhalt einer neuen Religion müsse nun die Liebe zur Menschheit sein. Deshalb auch müsse nun die Politik eine religiöse Angelegenheit werden. Die Gattung, nicht das Individuum sei absolut vorrangig. Dem hatte der Theologe David Friedrich Strauß, auch ein Schüler Hegels, vorgearbeitet. Die Vernichtung der nonkonformen Subjektivität, wie sie dann in den religiös aufgeladenen, aber programmatisch atheistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts zur Vernichtungswirklichkeit wurde, ist hier auf geistigem Terrain vorbereitet. Zeitgenossen von Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach und Karl Marx hatten diese Tendenzen bereits radikal herausgearbeitet. Ich nenne hier den heutzutage wenig beachteten Max Stirner. Er sah bereits in der unerlässlichen Verallgemeinerung, die in jeder begriffslogischen Prozedur steckt, eine tendenzielle Vergewaltigung des Einzelnen. Dieser Gedanke wurde wieder prominent bei Theodor W. Adorno und zwar in dessen Theorie der Nicht-Identität. Auch Adorno redete von der Gewalt des Begrifflichen – und meinte damit implizit auch die Gewalt, die sich in jeder strategischen Verallgemeinerung gegenüber dem Andersdenkenden abzeichnet. Wird die Einseitigkeit einer Position des ,Wir‘ insgeheim geahnt oder gar widerwillig eingesehen, muss dieser Befund um des zielstrebigen Kampfes willen für die gute Sache verdrängt werden. Das ist die Ursache jener Verfilzung von hochmoralischen Ansprüchen mit Heuchelei – ein Zusammenhang, der seit Hegels Phänomenologie des Geistes für jeden auf der Hand liegen müsste. Der katechontische Widerstand des Konservativen: Angesichts der Sogkraft des Wir-Bewusstseins plädiere ich für eine katechontische Haltung und Einstellung zur Praxis. Was heißt das: Katechon? Die Verwendung dieses Begriffs ist durch Carl Schmitt und – freilich auf andere Weise – durch Dietrich Bonhoeffer prominent geworden. Auf geschichtsphilosophische bzw. geschichtstheologische Weise wird in eschatologischer Perspektive (also: mit Blick auf das Ende der Zeiten das Erscheinen des Anti-Christen und die endgültige Wiederkunft des Messias) die Bedeutung des Aufhaltens und des Aufhalters beschrieben; will sagen: des entschiedenen Widerstands gegen das Böse im Walten der Geschichte. Bezugspunkt sind dann immer kollektive Gebilde wie ,das Reich‘ oder ,die Kirche‘.
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In meinem Versuch, das Konservative im Lebensentwurf der einzelnen Existenz bzw. der Existenz des Einzelnen zu profilieren, wird dieser Begriff subjektivistisch umgedeutet und auf die Achtsamkeit gegenüber den Verfallstendenzen in den eigenen engagierten Lebensausrichtungen bezogen. In jedem persönlichen Engagement für eine gute Sache (hegelianisch geredet: für ein konkretes substanzielles Allgemeines) lauert die Verführung, diese jeweiligen Ziele und Zwecke ihres provisorischen Charakters zu entkleiden. Eine konservative Lebenshaltung bewährt sich in einer Kultur des Taktes, d. h. der Wahrung von Distanzen und der vornehmen Praxis indirekter Mitteilungen, die dem anderen die Chance auf die Wahrung einer gegenläufigen Auffassung oder Lebenshaltung einräumen. Konservativ sein ist demnach kein Programm, sondern es waltet im Inkognito. Der Konservative reißt nicht die mühsame Maskierung des anderen herab, sondern stellt sich, höchstens mit einem leicht ironischen Lächeln, das unmerklich bleiben sollte, auf die Charaktermaske des anderen ein, der vielleicht nur so auf Augenhöhe zu bleiben vermag. Der große Lehrmeister dieses Inkognito ist Sören Kierkegaard. Er gibt die Frage zu bedenken, ob die zerbrechliche Kommunikation nicht zu stark gefährdet wird, wenn wir uns mit ,der‘ Wahrheit auf die Pelle rücken. Denn dann droht eine Beschlagnahme der kommunikativen Verhältnisse durch die immer vereinnahmenden Impulse der Rechthaberei. Die indirekte Anzeige einer Ausrichtung des Daseins, einer angedeuteten Orientierung, muss genügen – und ansonsten: Bemühen um Wahrhaftigkeit. Und wenn alle Stricke reißen und sich eine allgemeine ideologische ,Besoffenheit‘ der Gesellschaft bemächtigt, dann muss der Einzelne gegebenenfalls bereit sein, dieser Gesellschaft als Vomitiv zu dienen … Der konservative Revolutionär Sören Kierkegaard trieb die Camouflage um der Wahrhaftigkeit willen auf die Spitze: Tief in seinem christlichen Glauben verwurzelt, brachte er noch auf dem Sterbebett die Kraft auf, auf das Abendmahl zu verzichten, weil es ihm von Repräsentanten einer Kirche gereicht wurde, die er in Grund und Boden kritisiert hatte. Das ist ein weit zurückliegender Vorgang aus dem fernen 19. Jahrhundert. Auch Dietrich Bonhoeffer lebte eine Glaubensradikalität, die ihn in seinem Inkognito zu Entscheidungen trieb, die er nicht mehr mit anderen (zum Beispiel mit seiner Kirche) teilen konnte. Die spätere Erhebung zum Märtyrer des authentischen Glaubens ändert an dem Befund nichts.
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Fokussiert auf die katechontische Grundierung des gesellschaftlichen Engagements lässt sich der Umriss einer pro-aktiven ethischen Einstellung des wahrhaft Konservativen angeben. Der gesteigerten Sensibilität für die Verletzbarkeit des Menschen und dem Wissen um die Prozesse des aus gegenseitiger Vereinnahmung folgenden Leidens und der Verzerrung der Kommunikation auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens folgt ein Sollensgrundsatz, der freilich nur als Korrektiv eingeführt werden kann: Prüfe bei jedem Vorhaben, jeder praktischen Handlungsoption, ob es nicht auch gute Gründe gibt, den Nächsten (die Gruppe, die Gesellschaft …) damit zu verschonen. Das gilt nicht zuletzt für den in jedem sachhaltigen Dialog mitschwingenden ganz ,natürlichen‘ Anspruch, ,Recht zu haben‘. Im Vertrauen darauf, dass ethische Verhältnisse immer nur wirklich gelingen, weil und insofern die eng mit dem Austrag von Streit verbundene Rechthaberei zurückgenommen wird im Zeichen einer noch stärkeren Kraft, die sich als Souveränität, als Großzügigkeit im Dasein manifestiert, kennzeichnet eine gewisse Gelassenheit die Rhetorik eines solchen moralphilosophischen Diskurses. Diese Großzügigkeit, Manifestation der Souveränität eines Geistes der bescheidenen Menschenfreundlichkeit, prägt die zukunftsorientierten Tätigkeiten und verhindert eine ,Zukunftsbewältigung‘, die wähnt, sie besäße das einzig richtige Konzept, dem sich alle zu fügen oder anzuschließen hätten, die guten Willens sind. Wird der Respekt für die Nichtidentität der Person so ernst genommen, könnte sich ,regelrecht‘ ein „Ethos der Grazie und Leichtigkeit“ (Plessner) entwickeln, in dem Fingerspitzengefühl, Biegsamkeit, Mäßigung und Takt den Ton angeben und den Rigorismus der Eindeutigkeit und der ,reinen‘ Gesinnung auf die Plätze verweisen. Die Fähigkeit zur großzügigen Bildung von Kompromissen, beispielsweise, verweist zurück auf ein Ethos der Nachsichtigkeit und der Selbst-Zurücknahme. Ein Erfahrungsbericht: In einer Fakultät der Universität Hamburg hatte (in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts!) eine Frauengruppe veranlasst, dass 1x2 Meter große Schwarz-Weiß-Fotos von schreienden Frauen die Wände der Eingangshalle zierten unter dem Slogan: ,Hier wird vergewaltigt!‘ Nach Entfernung der Materialien wiederholte sich das Spiel an mehreren Tagen. Man scheute sich nicht, Professoren, welche im Unterricht Texte von ethnologischen Klassikern (Malinowski), die für rassistisch ausgegeben wurden, als Lektüre-Empfehlung angezeigt hatten, mit ihrem Namen als übergriffige Typen zu identifizieren. Als
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ich, damals Dekan (Fachbereichssprecher), in eine Frauenversammlung ging und die Initiatorinnen zur Rede stellte, erklärte man mir, so unverschämt könne ich ja nur auftreten, weil ich bei ihnen „gegenwärtig“ erst als „potenzieller Vergewaltiger geführt“ würde. Ich reagierte damals mit der Bemerkung, dass müsse ich mir von potentiellen Prostituierten nicht sagen lassen – und verließ diese Versammlung. Die Sache eskalierte weiter, bis hin zu der Forderung, bestimmte Texte im Unterricht nicht mehr zu verwenden – alles immer unter dem Schlagwort ,Vergewaltigung‘ der Frauen. Der Ballon platzte erst, als in einer sogenannten Vollversammlung unter der Leitung der Vizepräsidentin der Universität eine Frau plötzlich schrie, sie könne diese metaphorische Verwendung des Begriffs ,Vergewaltigung‘ nicht mehr ertragen, denn sie habe die Erfahrung einer realen Vergewaltigung machen müssen. In dieser stürmischen Situation empfand ich es als meine Pflicht, im Getöse der aufgeregten ideologischen Exzesse einfach standzuhalten. Ohne Rückhalt. Denn auf Professoren-Solidarität ist kein Verlass. Keine Kommunität ist gegen die Sogkraft des Opportunismus gefeit. Versammelt in einem Raum, versicherten sie den angegriffenen Kollegen ihre Solidarität – und eine Stunde später, im Gespräch mit Studierenden, distanzierten sie sich von ihrer kaum verhallten Solidaritätsbekundung … Aktuell, im Jahr 2019, wird, angesichts der Verfestigung von Tabuzonen und Zensurmaßnahmen in der akademischen Welt, die Gründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift vorbereitet, in der – nach Prüfung der Manuskripte durch ein Editorial Board – Autoren ihre Texte anonym veröffentlichen können, um so Benachteiligungen und Gefährdungen zu entgehen (einer der Initiatoren ist der Philosoph Peter Singer).
Utopisten contra Realisten Von Vera Lengsfeld Die Einteilung von Menschen in konservativ, demokratisch, liberal oder sozialistisch ist irreführend und bedient lediglich das Schubkastendenken. Mit der Realität haben diese Kategorien immer weniger zu tun. Es sind, wie Friedrich August von Hayek sagen würde, „Wiesel-Wörter“, deren eigentliche Bedeutung umfassend aus dem Wort herausgesaugt wurde. Was ist nach dem grandiosen Scheitern aller sozialistischen Experimente, einschließlich des venezolanischen, noch „sozialistisch“? Was hat der Staatskapitalismus Chinas noch mit Maos „Großem Sprung“ gemein? Was ist demokratisch, das nicht rechtsstaatlich ist? Die DDR hat sich fast unwidersprochen demokratisch genannt, ohne je ein Rechtsstaat gewesen zu sein. Was ist an der staatstragenden FDP noch liberal? „Liberals“ nennen sich auch die US-amerikanischen Demokraten, die mit den wirklichen Liberalen, deren im Individualismus wurzelnde Weltanschauung, die in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht die freie Entfaltung und Autonomie des Individuums fordern und staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen wollen, nichts gemein haben. Die Äußerungen des jüngsten demokratischen Stars Alexandria Ocasio Cortez hören sich eher nach Sozialismus an. Auch der Begriff konservativ ist heute vollkommen ausgehöhlt. Heute wird jeder als konservativ oder rechts bezeichnet, der sich nicht linksaußen verortet. Damit sind wir schon beim entscheidenden Problem: Früher war man Sozialdemokrat, Kommunist oder Nationalsozialist, weil man sich zu einer dieser Parteien bekannt hatte, zumindest in einer ihrer Vorfeldorganisation aktiv war. Heute hat die SPD mit der ursprünglichen Sozialdemokratie kaum noch etwas gemein. Eine Arbeiterpartei ist sie schon längst nicht mehr.
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Kommunisten haben alle Hände voll zu tun, die kommunistischen Ideale gegen die gescheiterte Realität zu verteidigen. Und zum Nazi werden heute alle erklärt, die eine vom politisch-korrekten Mainstream abweichende Meinung vertreten. Das trifft jeden, der nicht an den menschengemachten Klimawandel glaubt, die Euro-Rettungspolitik ablehnt oder die unkontrollierte Masseneinwanderung skeptisch beurteilt. Als mit dem Fall des Eisernen Vorhangs das Zeitalter der verheerenden Ideologien zu Ende ging, nahmen leichtsinnige Optimisten an, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der sozialistischen Staaten bald die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig überall durchsetzen würden. Die Demokratie habe sich als Ordnungsmodell bewährt, weil sie das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung besser befriedige als alle anderen Gesellschaftssysteme. Mit dem Sieg dieses Modells ende der Kampf um Anerkennung und es entfalle das Antriebsmoment der Geschichte. Das war, wie sich seit Beginn des neuen Jahrtausends mehr und mehr herausstellte, Wunschdenken. Inzwischen ist nicht nur der Islamismus und sein Anspruch auf Weltherrschaft ein Problem. Es bilden sich neue Ideologien heraus, wie die Klimarettung, die schon quasi-religiöse Züge angenommen hat. Das Ende der Geschichte wird nun in der Integration und Assimilation nicht-westlicher Kulturen in die westliche Kultur gesehen, unter Preisgabe ihrer Grundsätze zu Gunsten von Freiheit und Menschenrechten. Es ist so, wie der Politikwissenschaftler Yasha Mounk in aller Offenheit sagte: „Es ist ein historisch einzigartiges Experiment, eine Demokratie zu nehmen, die diese monoethnische Vorstellung von sich selber hatte, und sie in eine multiethnische Gesellschaft umzuwandeln.“ Und: „Wir wissen nicht, ob es funktioniert, wir wissen nur, dass es funktionieren muss.“ Nach dem Scheitern der kommunistischen Experimente wurde hinter dem Rücken der Europäer ein neues Experiment mit ungewissem Ausgang in Gang gesetzt. Alle, die dieses Experiment ablehnen, werden mindestens als Konservative bezeichnet. Trifft das zu? Laut Wikipedia handelt es sich bei der CDU immer noch um eine konservative Partei. Dabei hat sie unter Angela Merkel einen so weiten Linksruck vollzogen, dass sie die Politik der Kanzlerin, wie Atom- und Kohleausstieg, Euro-Rettung und unkontrollierte Masseneinwanderung fast widerstandslos akzeptierte. Als konservative Korrektur fällt das einstige Er-
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folgsmodell der alten BRD jedenfalls aus. Daran ändert auch eine kleine Gruppe, die sich innerhalb der CDU gebildet hat und die konservativen Werte der Partei wiederbeleben will, bislang nichts. Jeder Abweichler von den politisch-korrekten Vorgaben der Meinungsmacher in Politik und Medien, jede Kritik an der Regierungspolitik, wird inzwischen auch in der CDU unter Kuratel gestellt. Das geht, wie wir erfahren mussten, bis hin zu der totalitären Forderung, Kritikern die Grundrechte nach Artikel 18 des Grundgesetzes zu entziehen, wie das jüngst der Ex-Generalsekretär der CDU, Peter Tauber, kundgetan hat und unser Innenminister Horst Seehofer jetzt „prüfen“ will. Das beide damit keineswegs wirkliche Verfassungsfeinde, sondern Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaat meinen, zeigt schon die Aufzählung Taubers, der Mitglieder seiner eigenen Partei genannt hat. Sein Vorgänger im Amt des Generalsekretärs Ruprecht Polenz hat sogar zu „Säuberungen“ aufgerufen und sich damit in stalinistische und maoistische Traditionen gestellt. Wirklich beunruhigend ist aber, dass aus der Union kein Widerspruch kam. Nun waren die Konservativen nie eine geschlossene Strömung oder eine gefestigte Organisation. Deshalb hatten sie es in der politischen Debatte immer schwerer als die Linken, wahrgenommen zu werden. Ihre Kraft schöpften die Konservativen stets aus ihren starken Einzelpersönlichkeiten. Das war schon so, als die Konservativen als Burschenschaftler 1832 zum Hambacher Fest zogen. Die Teilnehmer des Hambacher Festes von 1832 ersehnten und forderten die Freiheit, die uns heute peu á peu wieder entzogen wird. Unser Freiheitsdichter Friedrich Schiller hat es auf den Punkt gebracht: „Die ganze Weltgeschichte ist ein ewig wiederholter Kampf der Herrschsucht gegen die Freiheit.“ Wir erleben das heutzutage hautnah mit. Wieder haben wir die Freiheit gegen die Herrschsucht einer politischen Klasse zu verteidigen, die ihre Macht im Namen von Buntheit, Vielfalt, Weltoffenheit und anderen Wiesel-Wörtern zementieren wollen. Das ist die alte Geschichte, die nur immer wieder neu erzählt wird. Klingt Jacob Friedrich Siebenpfeiffers Rede, die er 1832 auf Schloss Hambach hielt, nicht brandaktuell? „Wir widmen unser Leben der Wissenschaft und der Kunst, wir messen die Sterne, prüfen Mond und Sonne, wir stellen Gott und Mensch, Höll’ und Himmel in poetischen Bildern dar, wir durchwühlen die Körper- und Geisterwelt: aber die Regungen der Vaterlandsliebe sind uns unbekannt, die Erforschung dessen, was
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dem Vaterlande Noth thut, ist Hochverrath, selbst der leise Wunsch, nur erst wieder ein Vaterland, eine frei-menschliche Heimath zu erstreben, ist Verbrechen. Wir helfen Griechenland befreien vom türkischen Joche, wir trinken auf Polens Wiedererstehung, wir zürnen, wenn der Despotism der Könige den Schwung der Völker in Spanien, in Italien, in Frankreich lähmt, wir blicken ängstlich nach der Reformbill Englands, wir preisen die Kraft und die Weisheit des Sultans, der sich mit der Wiedergeburt seiner Völker beschäftigt, wir beneiden den Nordamerikaner um sein glückliches Loos, das er sich muthvoll selbst erschaffen: aber knechtisch beugen wir den Nacken unter das Joch der eigenen Dränger; wenn der Despotism auszieht zu fremder Unterdrückung, bieten wir noch unsern Arm und unsere Habe; die eigene Reformbill entsinkt unsern ohnmächtigen Händen […].“ Ein paar kleine Änderungen nur und wir haben den aktuellen Zustand Deutschlands. – „Was wollt ihr eigentlich?“, werden Skeptiker und Kritiker der aktuellen Zustände gefragt; „wir haben doch alles, was die Freiheitskämpfer immer wollten: Demokratie, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, ein Grundgesetz, freie und geheime Wahlen und Wohlstand für alle.“ Ja, auch Zuckererbsen für jedermann, wie es sich der Zeitgenosse der Hambacher Festgesellschaft, Heinrich Heine, wünschte, sogar für jene, die sie nicht mit eigenen Händen erwarben. Es sind alle Voraussetzungen für ein gutes Leben für alle vorhanden. Noch, muss man hinzufügen, denn jene, die von Herrschsucht getrieben werden, sind gerade dabei, diese Grundlagen nachhaltig zu zerstören. In einer Demokratie gibt es normalerweise eine demokratische Rechte, wie es eine demokratische Linke gibt. In Deutschland ist diese Balance außer Kraft gesetzt, weil Politik und veröffentlichte Meinung alles anprangern, was dem linken Mainstream widerspricht. Es gibt keine Debatten mehr, kein Austausch und Abwägen unterschiedlicher Argumente. Das ist Gift für eine funktionierende Demokratie. Das heutige Deutschland wird einer Gesinnungsdiktatur immer ähnlicher. Um diese Schieflage wieder ins Lot zu bringen, braucht es die Rückkehr zur politischen Debatte. Um diese Debatte führen zu können, braucht es Charakterköpfe, die sich nicht nur eine unabhängige Meinung bilden, sondern in der Lage sind, diese zu verteidigen, auch in schwierigen Umständen. Die findet man eher bei den Konservativen.
Utopisten contra Realisten
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Die findet man heute hauptsächlich in den ehemaligen Ostblockländern. Hier haben die Menschen vor einem Vierteljahrhundert die Freiheit unter Gefahr für Leib und Leben erkämpft. Sie sind offenbar sensibler für die Gefahren, die der Freiheit drohen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Ostblocks stehen wir wieder vor einer geschichtlichen Wahl: Diesmal ist es der ideologische Eiserne Vorhang, den wir entweder erfolgreich abschaffen oder von dem wir versklavt werden. Es geht um die Versuche von Utopisten, immer neue Experimente am Körper von lebendigen Gesellschaften durchzuführen, denen die Realisten gegenüberstehen, die sich an der Wirklichkeit orientieren. Jede menschliche Gemeinschaft ist ständiger Entwicklung unterworfen. Es kommt auf die Leitbilder für diese Entwicklung an. Der Berliner Professor Herfried Münkler, der aus der Erfahrung, von seinen Studenten selbst denunziert und diffamiert zu werden, offensichtlich den Schluss gezogen hat, auf die Seite der Diffamierer zu wechseln, behauptet nunmehr, dass „Rechte“, also Konservative und Libertäre, keine positiven Bezugspunkte hätten – im Gegensatz zu Linken, die sich hinter dem Bild von Rosa Luxemburg versammeln könnten. Die Linke hat sich nicht nur hinter Rosa Luxemburg versammelt, die am Ende ihres Lebens eine aktive Putschistin war und zu massiver Gewalt gegen die Weimarer Republik aufgerufen hat, die sich am 9. November 1918 formiert hatte. Nein, die 68er-Linke, die gerade wieder bejubelt wird, ist mit Bildern von Massenmördern wie Mao, Pol Pot und Ho Chi Minh herumgelaufen, hat den vielfachen Mörder und Terroristen Che Guevara zu ihrem Idol gemacht, den Diktator Fidel Castro angehimmelt und in der DDR-Diktatur das bessere Deutschland gesehen. Solche „Vorbilder“ sind gefährlich. Geeignete Leitbilder sind die Widerstandskämpfer gegen Diktaturen, Menschen wie der Konservative Joachim Fest, der sich schon als Gymnasiast dem Nationalsozialismus entzog, die Studenten der Weißen Rose, die ihr Vaterland von den Nazis befreien wollten, die Männer des 20. Juli und Georg Elser, die bereit waren, einen Diktator zu töten, alle Deutschen, die Juden geholfen haben, unterzutauchen und zu überleben, die ihre zugeteilten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter menschlich behandelt haben und deshalb von ihnen in den Hungerjahren 1946/47 mit Care-Paketen versorgt wurden.
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Konservative orientieren sich am Widerstand: Welche Charaktereigenschaften bewahren den Einzelnen davor, sich als Werkzeug von Diktatoren anzudienen oder missbrauchen zu lassen? Was befähigt den Einzelnen, der Propaganda zu widerstehen, sich eine eigene Meinung zu bilden und sie erfolgreich zu verteidigen? Was macht aus uns Menschen nicht eine folgsame, von Politik und Medien manipulierbare Masse, sondern selbstbestimmte Individuen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen? Was gibt uns Hoffnung gegen eine scheinbar unbesiegbare Übermacht? Die Friedliche Revolution von 1989 hat es gezeigt: Wenn sich genügend viele Menschen finden, die den Herrschenden die Legitimation absprechen und die Gefolgschaft verweigern, bricht auch ein bis an die Zähne atomar bewaffnetes System zusammen. Damals verschwand fast über Nacht eine ganze politische Klasse. Die Furcht davor steckt den Herrschsüchtigen bis heute in den Knochen. Deshalb wird immer wieder bestritten, dass es sich damals um eine Revolution gehandelt hat und behauptet, dass die „Wende“ eigentlich ein Werk von Politikern gewesen sei. Die Wahrheit ist, dass die Politiker fast ein Jahr lang nichts zu sagen hatten, sie mussten den Ereignissen hinterherrennen. Auch heute dürfen wir nicht auf die Politik hoffen. Die ehemals emanzipatorische Linke wusste das: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“ Wer die Freiheit liebt, verteidigt unser Land, unsere emanzipatorischen Errungenschaften, den Rechtsstaat und das Grundgesetz. Freiheitlich handeln heißt, unsere Heimat nicht kampflos der Demontage überlassen zu wollen. Und ja: Freiheitlich Gesinnte, also Konservative, sind für die Herrschaft des Rechts. Alle, auch die Politiker, stehen unter dem Gesetz, nicht darüber. Niemand darf unter keinem Vorwand Recht und Gesetz für einen angeblich „höheres Gut“ außer Kraft setzen. Wenn das „neurechts“ ist, bitte sehr. Ich nenne das rechtsstaatlich.
Über Rettungswürdiges und Rettungsbedürftiges Von Jean-Pierre Wils Ob wir in einer Zeitenwende leben, wird sich erst im Rückblick erweisen. Es ist also müßig, dieses diagnostische Vokabular zu verwenden. Dass wir uns allerdings in einer Krisenzeit befinden, dürfte weniger umstritten sein. Krisenzeiten sind günstig für die Semantik des Konservatismus. Aber je nach Krise dürfte der Zuschnitt der konservativen Sprache unterschiedlich ausfallen. Längst nicht entschieden ist darüber hinaus, wie das Kausalitätsverhältnis aussieht: Liegt der Konservatismus der Krise zu Grunde oder bildet er lediglich eine Reaktion in politisch-therapeutischer Hinsicht auf sie? Hemmt konservative Politik den erforderlichen Wandel oder bemüht sie sich um Schadensbegrenzung? Dass in Europa das Gespenst rechtsnationalen und rechtsradikalen Denkens umgeht und ein gefährlich nostalgisches Gebräu ethnischen und hochprozentig-totalitären Gehalts herumgereicht wird, muss zu den trüben Revolutionen gerechnet werden, die auf affektive Zustimmung und bloße Rudelbildung setzen. Die „terrible simplificateurs“, die hier am Werk sind, sind des Prädikats „konservativ“ keineswegs würdig. Sie treten es eher mit gestiefelten Füßen. Auch wenn die Übersetzung von „konservativ“ in „bewahren-wollend“ inzwischen etwas abgegriffen wirkt, lässt sie sich kaum gänzlich vermeiden. Wenn wir etwas retten möchten vor dem Verschwinden, kann zu Recht davon die Rede sein, dass hier konservierende Absichten am Werk sind. Es soll gerettet werden, was rettungsbedürftig, weil rettungswürdig ist. Warum etwas unter dieser Ägide konserviert werden sollte, ist damit noch längst nicht gesagt. Aber ich möchte zunächst den Vorschlag machen, Konservatismus als das Gefühl für Rettungswürdiges und Rettungsbedürftiges zu bezeichnen. Selbstredend fungiert der Konservatismus heute als ein Projektionshorizont für diverse Anliegen: Sie reichen von der Rettung des Abendlands und dem sogenannten christlichen Menschenbild bis zu einem Werteka-
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non, der sich gegen die angeblichen Auflösungstendenzen stemmt, die unsere Gesellschaften befallen haben. Je größer der Abstraktionsgehalt des Beschworenen ausfällt, umso emphatischer muss die Sache verteidigt oder restituiert werden. Hinter der Fiktion des Abendlands marschieren solche, die mit ihm erst Bekanntschaft gemacht hatten, nachdem sie bereits die stämmigen Parolen skandierten, in denen jenes Europa zum Slogan verkommen war. Ihre Emphase wird nicht durch Wissen um die Sache gestört. Das Abendland ist hier zum Durchlauferhitzer degradiert. Das christliche Menschenbild – eine späte Erfindung aus dem letzten Jahrhundert – erfüllt die Rolle einer ,deus ex machina‘: Wo man politisch nicht konkreter werden will (oder kann) und dennoch auf Exklusivität hofft, wird es herbeizitiert, ohne dass die Quelle genauer genannt wird. Es reicht offenbar die Kuhstallwärme der Familie. Zusammengehörigkeit ersetzt die Notwendigkeit, zu argumentieren. Ganz zufällig entspricht dem christlichen Menschenbild jeweils die vage politische Marschrichtung. Es funktioniert als „conversation stopper“ (Richard Rorty), denn wer möchte sich an ihm versündigen? Werte wiederum suggerieren Überzeitliches, weshalb es angebracht scheint, deren Verblassung entgegenzutreten. Auch hier ist es der hohe Abstraktionsgehalt, der verführt. Der Konservatismus geriert sich dann als Hüter jener Werte, die unter die Räder der Modernisierungsprozesse geraten sind. Natürlich existiert auch ein produktiver Umgang mit Werten. Letztere haben – anders als moralische Normen mit ihrem dominanten Verbotscharakter – etwas Attraktives. Sie machen die Welt moralisch interessant. Aber das dürfte nur gelingen, wenn man sie vergegenwärtigt, sie also gegenwartsfähig, vor allem aber zukunftsfähig macht. Der Rückgriff auf Vergangenes ist natürlich nicht zufällig. Dezidiert konservatives Denken setzt kaum früher als zu Zeiten der Aufklärung ein. Das hängt damit zusammen, dass der Primat der Vergangenheit in Zweifel gezogen wurde. Diese Bestreitung der Normativität der Vergangenheit setzte zunächst im Bereich des Ästhetischen ein: Im Jahre 1687 brach Charles Perrault die später sogenannte „Querelle des Anciens et des Modernes“ vom Zaun, als er die normative Stellung der „Alten“ in der Kunst bestritt. Als konservativ galt nun deren Verteidigung gegen den Anspruch der neueren Kunst, sich den Maßstäben der Vergangenheit nicht unterwerfen zu müssen. Politisch läutete der Zusammenbruch des „Ancien Regime“ die Geburtsstunde konservativen Denkens ein. Letzteres entsteht in dem Augenblick, in dem der Absolutismus die „societas civilis“
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und mit ihr die soziale Herrschaft des Adels in Frage stellt: Der Absolutismus verkörpert die frühe Gestalt des modernen Souveränitätsgedankens, gegen die der Konservatismus sich zu Wehr setzt. Weil die politische Figur des Absolutismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts in die demokratischen Revolutionen mündet, erhält der Konservatismus in diesem Moment einen neuen Gegner. Im 19. Jahrhundert wartet der Konservatismus mit korporativem Gedankengut auf, um „die sich entfaltende Industrie in die Fesseln feudalen Immobilismus zu legen und somit den sozialen und wirtschaftlichen Primat des Grundeigentums aufrechtzuerhalten“ (Panajotis Kondylis). Wie Reinhart Koselleck in seiner meisterhaften Studie Kritik und Krise gezeigt hat, richtet sich der konservative Widerstand aber auch gegen den Furor der Kritik – gegen die „moralische Zensur“ –, die das Bestehende rücksichtlos in „geschichtlich Gegebene(s)“ auflöst und ihr Heil geschichtsphilosophisch in eine utopische Zukunft verlegt. „Die Spaltung von Moral und Politik leitete die überlegene Kritik und legitimierte eine indirekte Gewaltnahme, deren tatsächliche politische Bedeutung für die Akteure […] weiterhin verdeckt blieb. […] Die politische Anonymität der Aufklärung erfüllt sich in der Herrschaft der Utopie.“ Und diese Utopie „verwandelt sich in den Händen des neuzeitlichen Menschen“, so Koselleck, „in einen politisch ungedeckten Wechsel auf die Zukunft.“ Der Horizont des Konservatismus enthält offenbar dreierlei Ferngesichte: nämlich (1) das der ans Reaktionäre grenzenden Fiktionalität, (2) das der Vergeblichkeit einer retrograden Kontinuität, (3) das des Erschreckens über die „Furie des Verschwindens“ (Hegel). Fiktional ist die Konstruktion einer fingierten Vergangenheit wie die des Abendlands, die in abstrakten Annahmen verstrickt den Schlussstrich unter der Gegenwart ziehen möchte und damit unverhohlen die Rolle der Reaktion übernimmt. Vergeblich wirkt der Konservatismus, sobald er sich der Einsicht verweigert, dass Vergangenes manchmal tatsächlich vergangen ist. Anders als im Falle der Fiktionalisten, deren Vergangenheitsbild leer bleiben muss – weshalb dieses gegen jegliche Falsifikation immunisiert ist –, wird die Vergeblichkeit konservativer Positionen erst ,ex post‘ deutlich. Sie werden später widerlegt. Der Konservatismus des Erschreckens jedoch sei hier verteidigt. Kosellecks glückliche Metapher des „politisch ungedeckten Wechsel(s) auf die Zukunft“ vermag es, die leidige Vergangenheitsbezogenheit des Konservatismus ein Stück weit hinter sich zu lassen. Den von ihm behandelten historischen Aufklärungskontext sollten wir als die
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frühe Figur eines selbstgerechten und sich auf Veränderung um jeden Preis verlassenden Monopols der Zukunft betrachten. In dieser Figur ist die Zukunft einem verhängnisvollen Utopismus erlegen. Rettungsbedürftig, weil rettungswürdig ist aber nicht die Vergangenheit. Diese ist nämlich – unsentimental ausgedrückt – rettungslos vergangen. Auf die Zukunft trifft diese nicht zu, es sei denn, wir bekehrten uns zu dem Standpunkt, dass es da nichts mehr zu retten gäbe, weil die Zukunft der Zukunft nüchtern betrachtet bereits vergangen sei. Diese Haltung wäre eine Variante des Vergeblichkeitskonservatismus; nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft ist hier purer Resignation anheimgefallen. Rettungsbedürftig, weil rettungswürdig bleibt die Zukunft, weil ihre sich abzeichnende Verdunklung nicht hingenommen werden darf. Konservatismus wäre also das Gefühl für die Rettungsbedürftigkeit, weil Rettungswürdigkeit der Zukunft. Dass Melancholie dieser Haltung nicht fremd ist, dürfte damit zu tun haben, dass es Zeiten gegeben hat, die mit diesem Problem noch keine Bekanntschaft gemacht hatten.
Konservativ. Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft Von Hubert Aiwanger Meine Eltern haben mir auf dem Bauernhof von Kindesbeinen an vorgelebt, verantwortungsvoll mit Land, Wald und Tieren umzugehen. Das Denken in Generationen ist in der Landwirtschaft gelebte Praxis. Mit großer Weitsicht pflanzten mein Vater und mein Großvater einst kleine Setzlinge, aus denen heute starke und robuste Bäume in unseren Wäldern geworden sind. Meine Kinder und Enkelkinder werden hoffentlich einmal die Bäume bewirtschaften, die ich ihnen heute pflanze. Als Landwirt gestalte ich einen kleinen Teil unserer deutschen Kulturlandschaft mit. Eine Aufgabe, der ich mich verpflichtet fühle. Denn ich will, dass meine Kinder in einer ebenso schönen Heimat leben können, wie ich es darf. Konservativ zu sein, bedeutet für mich nicht einer bestimmten Ideologie hinterher zu eifern. Ich finde es falsch, sein geplantes Handeln schlicht danach abzuklopfen, ob es allen Regeln einer konservativen Theorie genügt. Es geht mir vielmehr darum, sich zu bemühen, die gesellschaftsdienlichen Errungenschaften der Vergangenheit zu erhalten, um unsere Zukunft und die unserer Kinder zu sichern. Konservativ zu sein bedeutet für mich nicht, einseitig und rückwärtsgewandt in die Vergangenheit zu blicken, gar frühere Zeiten durch die rosarote Brille zu sehen, in denen letztlich doch vieles beschwerlicher war als heute. Gerade um Bewährtes aus der Vergangenheit in die Zukunft zu retten, dürfen wir uns der Zukunft nicht verschließen: Die Welt dreht sich immer schneller und wird immer komplexer. So steht unsere Wirtschaft in einem hart umkämpften Wettbewerb. Unser Ziel lautet Wertschöpfung und damit Wohlstand sichern. Als bayerischer Wirtschaftsminister sitze ich nur an einem kleinen Rad, das Einfluss auf die internationalen Rahmenbedingungen nehmen kann. Aber ich sehe, dass wir den Kern der Errungenschaften unserer Vorfahren nur erhalten können, wenn wir bereit
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sind Schritt zu halten und auf ihrer Grundlage den Blick nach vorne richten – Künstliche Intelligenz, Tragflächen aus dem 3D-Drucker, alternative Antriebstechniken: Hier warten die Chancen von morgen, mit denen wir unseren Kindern weiterhin ein gutes Leben sichern können. Jeder Mensch steht irgendwann in seinem Leben vor prägenden, ja einschneidenden Ereignissen. Für mich war ein solches am 26. April 1986. Auf den Tag drei Monate nach meinem 15. Geburtstag. Es war die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Der Super-GAU führte mir vor Augen, wie schnell unsere Zukunft vorbei sein kann, wie schnell unsere über Generationen erbrachte Arbeit vor dem Ende stehen kann. Ab diesem Zeitpunkt war für mich klar: Wir müssen raus aus der Kernkraft. Heute setze ich mich für einen vollständigen Umstieg auf erneuerbare Energien in Bayern ein. Nicht nur, um die Gefahren der Kerntechnik zu beseitigen, sondern auch um unseren Beitrag gegen die nächste große Gefahr des Klimawandels zu leisten. Viele Innovationen und Technologien waren und sind für die Menschheit ein Heilsbringer: Vom Buchdruck bis zum Computer, vom Penicillin bis zum Herzschrittmacher. Wenn wir aber wie bei der Kerntechnik die Kontrolle über sie verlieren, kann unsere Zukunft schnell verbaut sein. Chancenreiche neue Wege bergen neue Risiken. So auch im Bereich der Gentechnik, die zu Recht viele ethische Fragen aufwirft. Wir wissen es heute schlicht nicht, ob sie ein tatsächlich bedenkenloser Heilsbringer für die Ernährung einer immer größer werdenden Weltbevölkerung sein wird. Konservativ zu sein, bedeutet aber für mich nicht, in eine kompromisslose Grundabwehrhaltung überzugehen, sondern sich mit gesunder Skepsis mit den Gefahren auseinanderzusetzen: Durch weitere Forschung können sie in der Zukunft vielleicht einmal vollständig ausgeschlossen werden. Auch Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, ist für mich Teil einer konservativen Grundhaltung: Familienunternehmer wie ein Schreinermeister, der Lehrlinge ausbildet und Arbeitsplätze schafft, sind für mich ein wichtiger konservativer Anker unserer Gesellschaft. Unternehmertum mit Verantwortung sichert Existenzen, gibt Menschen Chancen und leistet damit einen wertvollen und nachhaltigen Beitrag für die Zukunft unserer Gesellschaft. Auch ein Fußballtrainer, der in seiner Freizeit ehrenamtlich die Jugendmannschaft trainiert, übernimmt Verantwor-
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tung und leistet einen unersetzlichen Beitrag für die Menschen in seinem Umfeld. Konservativ bedeutet aber auch Rücksichtnahme. Das gilt gerade in der Politik. Unsere Gesellschaft durchlebt einen vielschichtigen Wandel, der hoher politischer Sensibilität bedarf: Die Menschen werden älter, die Geburtenrate bleibt niedrig. Viele Leute zieht es in die Städte, Dörfer in ländlichen Räumen sterben aus. Deutsche wandern aus, Menschen aus anderen Ländern finden bei uns Arbeit und eine neue Heimat. Wollen wir unter diesen Voraussetzungen unser Gemeinwesen zusammenhalten, braucht es viel Kompromissbereitschaft. Eine Willkürherrschaft der Mehrheit gegenüber einer Minderheit und umgekehrt die Bevorzugung einzelner Gruppen gegenüber der breiten Masse sind dabei Gift. Die Väter unseres Grundgesetzes waren vorausschauend und haben uns gerade in dieser Hinsicht eine gute Verfassung vermacht: Eine starke kommunale Selbstverwaltung, durchaus machtvolle Bundesländer. Ein politisches System, bei dem ausgeschlossen ist, dass es zu viel Machtkonzentration an einer Stelle gibt. Viele Kompromisse müssen über die Ebenen hinweg geschmiedet werden, so dass bei politischen Entscheidungen die Breite der Gesellschaft einbezogen wird. Bei allen inhaltlichen Streitigkeiten in der Politik ist die Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Problemlösung ein konservativer Wert. Hierzu gehört das Reichen der Hand zum Dialog statt unnachgiebiger Konfrontation, die unsere Gesellschaft spalten kann. Das unterscheidet im Übrigen Parteien der politischen Mitte von Populisten und Extremisten. Mir selbst ist es sehr wichtig, Antworten auf die großen gesellschaftlichen Streitfragen gemeinschaftlich zu suchen. Deswegen liegt es mir als bayerischer Wirtschaftsminister besonders am Herzen, bei Fragen wie der Energiewende oder des Flächensparens alle relevanten Akteure an einen Tisch zu holen: Dialog statt Politik ,par ordre du mufti‘. Die Komplexität der Probleme erfordert es, dass wir mehr vermitteln müssen statt über die Köpfe der Bürger hinweg Entscheidungen zu treffen, die letztlich einen Keil in die Gesellschaft treiben können. Damit verstehe ich konservative Politik ein Stück weit als chinesische Tellerjonglage: Mehrere sich drehende Teller müssen gleichzeitig im Blick behalten werden, während darauf zu achten ist, dass keiner aus der Balance gerät und zu Boden fällt.
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Der Tellerjongleur ist aber auch gut beraten, sich nur so viel aufzuladen, wie er selbst beherrschen kann. Konservativ heißt deshalb auch, sein Handeln nur auf die Dinge zu beschränken, für die tatsächlich Handlungsbedarf besteht. Das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip ist für mich eine wichtige konservative Maxime: Danach sollen größere gesellschaftliche Einheiten nur Dinge regeln, zu denen kleinere Einheiten wie die Familie nicht in der Lage sind. Dieses Prinzip sichert den Menschen ihre Handlungsfreiheit und ermöglicht ihnen, ihr persönliches Lebensglück finden zu können. Zugleich hält es unsere Gesellschaft zusammen, wenn es um die gemeinschaftliche Ausführung solcher Aufgaben geht, zu denen der Einzelne nicht in der Lage ist. Für mich heißt konservativ, die eigene Geschichte und Herkunft wertzuschätzen und bei allem Handeln im Kopf zu behalten. Unseren Kindern eine gute Zukunft ermöglichen zu wollen, dabei gleichzeitig die Gesellschaft mitzunehmen. Die Menschen nicht zu bevormunden und nicht zu überfordern.
Früchte Von Bruder Paulus Terwitte Ein Gärtner, der nur Früchte verkaufen will, steht bald mit leeren Händen da. Er muss konservativ sein und von den geernteten Früchten immer genügend zurückhalten, um sie neu auszusähen. Der Konservative weiß, dass nichts wächst, was nicht vorher gesät wurde. Es ist ihm eine merkwürdige Vorstellung, beim Verteilen nur die Adressaten zu sehen; denn verteilen können nur Absender, die sich Früchte mit dem Samen aufbewahrt haben. Weil der Konservative die Herkunft im Blick behält, kann er getrost in die Zukunft gehen. Für ihn ist nicht maßgeblich, was geträumt werden kann, sondern hier und jetzt möglich ist. Aus dem, was war, kommen wir. Wahre Utopie ehrt immer ihre Herkunft. Der Konservative schätzt den Wert der kleinen Möglichkeiten heute; er hofft, dass sich daraus das Neue, Gute, Hilfreiche entwickeln wird. Er lässt sich nur schwer für geträumte Unmöglichkeiten erwärmen. Es sei denn, sie zeigen sich ihm im treuen Weiterschreiten, Schritt für Schritt, als nie zuvor erdachte Früchte, die man freundlich und gern in den weiteren Entwicklungsweg integriert.
Unkonservativ! Von Simone Lange „Konservativ kommt nicht von Konserve. Die Konservativen der Zukunft erkennt man am Mut zur Veränderung“, suggerierte uns einmal Angela Merkel. Ob sie diese Aussage vor dem alleinigen Hintergrund, für ihre Partei zu sprechen, traf, oder ob sie tatsächlich das Konservative im Allgemeinen meinte, bleibt zunächst offen. Offen bleibt auch der bestehende Widerspruch dahingehend, „konservativ“ und zugleich „veränderungswillig“ zu sein. Konservativ ist, wie wir wissen, eine Verhaltensbeschreibung, die alles andere als Veränderung beschreibt. Oder ist es schon eine Veränderung, am Althergebrachten festzuhalten? Es gibt sicher gute Gründe, weshalb wir Errungenschaften bewahren sollten, aber mit Veränderung hat dies erst einmal nicht viel zu tun. Noch stärker manifestieren dies die sogenannten konservativen Werte, die in der Tat nicht das Hängen am Gestrigen meinen, aber die Werte beschreiben, die dem Sinn nach ein Leben lang, also unveränderlich, immer gelten. Mit konservativen Werten ist eine kulturelle und gesellschaftliche Geisteshaltung gemeint, die sich stark verkürzen lässt auf die Attribute traditionell, bewahrend, reaktionär oder auch verklemmt. Das klingt recht destruktiv, wenn man bedenkt, dass es durchaus geboten erscheint, der einen oder anderen Einstellung langlebige Leitlinien zu gewähren. So ist es für mich schon erstrebenswert, humanistische Werte auf Dauer politisch und gesellschaftlich zu verankern, und dabei betrachte ich mich alles andere als verklemmt, wenn ich danach strebe, als Gesellschaft nach dem humanistischen Menschenbild zu leben. In dieser Hinsicht bin ich offenbar auch konservativ. Ich möchte aber in gleicher Weise unverzüglich einwenden, dass ich nur an wenigen Stellen meines politischen Wirkens konservativ eingestellt bin. Dafür stehen die Zeichen in meinen Leben viel zu stark auf Veränderung.
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Doch zurück zur Frage, ob Konservatismus automatisch mit Veränderung einhergeht oder ob hier der Wunsch der Mutter aller Gedanken ist. Ich schaue dabei gern auf die vergangenen dreißig Jahre zurück, ein Zeitraum, den ich aus eigenem Erleben überschauen kann und der in der Tat gespickt war mit großen Veränderungen in unserer Gesellschaft. Vor genau dreißig Jahren erlebten wir die Deutsch-Deutsche Wiedervereinigung, besonders vorangetrieben von einem konservativen Kanzler, der bis heute als Kanzler der Einheit und als herausragender Europäer gefeiert wird. Doch wie viel Veränderung steckte und steckt tatsächlich in der Einheit Deutschland? Ist es nicht vielmehr so, dass die physische Veränderung, also der Abbau der Deutschland in zwei Teile trennenden Grenzanlagen und die Zusammenführung zweier unterschiedlicher Systeme, derart gestaltet wurde, dass es Ziel war, die zur damaligen Zeit in Westdeutschland bestehende Demokratie und Marktwirtschaft so zu bewahren und zu erhalten, wie sie war und damit eben keine Veränderung des westlichen Systems zuzulassen, sondern ein System zu bewahren, dass ein anderes System abschaffte? Ist es nicht vielmehr so, dass bis heute, dreißig Jahre nach der DeutschDeutschen Wiedervereinigung, genau dies zur Manifestation des Unterschiedes beigetragen hat? Bis heute sind die Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern stark unterschiedlich zu denen der alten Bundesländer. Auch dreißig Jahre nach diesem historisch herausragenden Ereignis haben fehlende Veränderungen gleiche Lebensverhältnisse unterbunden. Viel lieber wurde am Althergebrachten festgehalten und versucht, den 17 Millionen neuen deutschen BundesbürgerInnen, das Althergebrachte näher zu bringen. Längst ist klar, dass es hier tatsächlich einer progressiven Politik und einer progressiven Einstellung gebraucht hätte, die Menschen in den drei Jahrzehnten sich näher zu bringen und gemeinsam gute Lösungen für die Gestaltung und Finanzierung beider deutscher Teile auf den Weg zu bringen, beide Biografien zu berücksichtigen und aus beiden Länderbiografien eine veränderte gemeinsame deutsche Biografie zu schreiben. Welch wunderbare progressive Vorstellung, die dem Zitat von Angela Merkel Sinn verliehen hätte! Auf einem Argument kann man bekanntlich nicht stehen, weshalb ich ein zweites Beispiel anführen möchte, welches nur wenige Jahre zurückliegt, aber erneut ganz Deutschland verändern sollte. Aber hat es Deutsch-
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land wirklich verändert? Ich meine das Jahr 2015 und den sogenannten Handschlag der deutschen Kanzlerin mit dem österreichischen Kanzler, um einer großen Vielzahl Geflüchteter Zuflucht, Obdach und Hilfe in Deutschland zu gewährleisten. Dieses Ereignis ist gemeinhin bekannt geworden als erneute Grenzöffnung und bis heute streiten die Fachleute darüber, ob es als Grenzöffnung oder als Aussetzen von Grenzkontrollen in die Geschichte eingehen soll. Ich möchte darüber nicht streiten, denn ich gehöre zu denjenigen Millionen Menschen in Deutschland, die geholfen haben und das von Angela Merkel beschriebene „freundliche Gesicht“ Deutschlands gezeigt haben. Es war wirklich unbeschreiblich, dass ganz Deutschland in einem seiner größten Stressmomente nicht verzagte, sondern mit einem nie dagewesenen couragierten Verhalten diesen Stressmoment in etwas verwandelte, was Deutschland nachhaltig tatsächlich verändern könnte. Ja, ich formuliere „verändern könnte“, denn noch ist diese Veränderung nicht klar und nicht sicher. Diese mögliche Veränderung wird erst dann eintreten, wenn aus der Haltung Deutschlands, die wir 2015 gezeigt haben, tatsächlich eine veränderte Haltung der Regierenden und eine tatsächlich veränderte Haltung unserer Gesetze erreicht ist. Durch das Verhalten der Kanzlerin waren bis zu einer Million geflüchtete Menschen zu uns gekommen. Sie alle wurden willkommen geheißen, erst von der Kanzlerin, dann von Millionen helfender Hände in Deutschland und darüber hinaus. Die Menschen haben nicht nur ihre Herzen geöffnet, sondern im wahrsten Sinne ihre Türen. Das Ehrenamt war schneller als jede Administration und hat gezeigt, wie ein kollektives und solidarisches Leben aussehen kann. Staatliches Handeln wurde teilweise ersetzt durch das beherzte Handeln und Zupacken der Menschen in Deutschland. Der Respekt und die Anerkennung all diesen helfenden Menschen darf nie verloren gehen. Doch was geschah dann? Nachdem europaweit bis heute keine einheitliche Lösung zur Aufnahme und Integration Geflüchteter erreicht wurde, zeigen sich auch in Deutschland die Folgen einer konservativen Haltung, die es eben nicht schafft, die Haltungsänderung in der Gesellschaft herbeizuführen, sondern umso stärker mit der Bewahrung althergebrachter Vorstellungen reagiert und regiert. Die jüngste Bestätigung dieses Bewahrertums zeigt sich im sogenannten „Hau-Ab-Gesetz“, mit dem wir all das in 2015 Erreichte über Bord zu werfen versuchen und den Fokus wieder dort-
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hin legen, wo er vor 2015 bereits gelegen hat: Die Formel „Wer sich nicht benimmt, muss gehen“ wird in den Mittelpunkt der Integrationspolitik gestellt, anstatt das veränderte Leben der Menschen in Deutschland mit fördernden Gesetzen positiv zu gestalten. Es wird den Parolen derer nachgegeben, die die Angst in Deutschland bewahren wollen, statt die humanistische Haltung der Mehrheit der Bevölkerung zu lohnenswerten Gütern zu machen. Wieder wird bewahrt statt verändert. Wären da nicht die Millionen von couragierten Menschen, die noch immer mehrheitlich danach rufen, in Deutschland endlich die Veränderung unserer Haltung zuzulassen: Wir wollen innovativ sein, einmal aufhören, immer nur zu bewahren, wir haben uns bereits verändert, wir sind längst unvernünftig, gestalten unsere Lebenswelt nach neuen Orientierungspunkten, wollen Menschlichkeit und Klimaschutz statt alte, konservierte Moden zu bewahren und dabei ängstlich-verklemmt zu erscheinen. Wir wollen’s eben unkonservativ!
Vom kühnen Ritter zum Meistersinger – ein Integrationskurs für Deutsche Von Igor Zeller Geboren 1968. In Frankfurt am Main. Keine gute Ausgangslage, um ein Konservativer zu werden. Oder vielleicht gerade doch. Zur musikalischen Muttermilch gehörten in den frühen Siebzigern auf den Umlaufbahnen um den „Club Voltaire“ an der Fressgass’ die „Gripsparade“ und der „Baggerführer Willibald“. Und natürlich die „Rübe“ von Fredrik Vahle. Meine ersten Auftritte als Grundschüler hatte ich zur Gitarre, mit allen Liedern von Wolf Biermann, die man im A-Moll- und C-Dur-Raum ohne zu viel Gewalt an der harmonischen Struktur über die Rampe kriegen konnte: „Ermutigung“, „Enfant perdu“, später dann (mit stolz geschwellter Knabenbrust hinter schwerem F-Dur-Barré-Griff ) auch ganz besonders gerne der „Hugenottenfriedhof“. „Revolutionäre Stimmung lutschen“ – so hat der spätere Biermann mal gesungen. Und schön war’s allemal. Ein geschlossenes Weltbild. Stehen auf der richtigen Seite. Heilig die letzte Schlacht! Aber da war im elterlichen Audiomöbel auch schon früh irgendwo diese vergilbte Doppelplatte: Bach. Matthäuspassion – Auszüge. Stuttgarter Hymnuschorknaben. Karl Münchinger. Und eine seltsame Faszination begann. Stundenlang mit Kopfhörer: „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“, „So ist mein Jesus nun gefangen“. „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Und je anstrengender das ständige Verschieben der Weltrevolution in der Nach-Kinderladen-Phase wurde, desto stärker wuchs der Sog des guten Alten. Nebenbei: die A13-Che-Guevaras unter meinen Lehrern, die mit den demonstrativ zerrissenen Hosen und dem pathetisch-freudlosen Supertramp-Beben in der Stimme – die habe ich schon damals nicht
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ernst genommen. Da hielt ich mich mit meinem Respekt doch lieber an die alten Kriegsheimkehrer, die, versehrt an Leib und Seele, von jeglichem Jungstürmer-Testosteron geheilt und mit zerrissenem letztem Segel im Hafen eines kleinen Glücks gelandet, den Versuch unternahmen, uns Gesamtschülern ganz sachautoritär schlichtweg Mathematik beizubringen. Auf einer Oberstufenfahrt saß ich dann 1985 gebannt am Fernseher vor Alpenpanorama in Garmisch: Richard von Weizsäcker. Rede zum 8. Mai. Und plötzlich der Gedanke: Wie wäre es, die Seiten zu wechseln? Nicht mehr im höheren Auftrag kaputt zu machen, was mich gar nicht mal so kaputt machte? Den Rittern von der traurig-kritischen Gestalt Reha-Urlaub zu geben? Und auf diesen Krawattenmann zu hören, der in großbürgerlichem Gestus lange Linien über tiefe Gräben zog. Ein Merk-Posten war geboren. Der Weg zum Konservatismus war zunächst aber noch durch das abschreckende, unbürgerlich-contenancebefreite Beispiel der Dregger-CDU verstellt. Gauland ließ grüßen – damals noch aus der hessischen Staatskanzlei. Und dann 1989. Der Zusammenbruch der DDR war für mich Jungstudenten hygienisch hilfreich gegen jede west-linke Selbsthypnose hinsichtlich des angeblich großen, gleichwertigen Systemkonkurrenten. Und auch meine in schwacher Brise noch flammenden inneren roten Fahnen wurden endgültig eingezogen beim Blick auf so manchen Nepper-Gebrauchtwagenmarkt im plötzlich so nahen Osten. Was nun? Zum Glück gab es da schon vorher diesen Kollegen meiner Mutter, gelernter Maschinenschlosser, Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt und Inhaber einer überwältigenden Plattensammlung. Keine Nena, kein Bruce Springsteen – viel besser: ein ganzer Raum voll Richard Wagner! Hier, in seinen Musikdramen gab es sie schon seit Urzeiten, die testosteron-gedopten Jungstürmer. Sie hießen da noch nicht Konstantin Wecker, Joschka Fischer und Fritz Teufel, sondern Tannhäuser, Siegfried und Tristan. Auch sie alle waren – um es gut wagnerisch mit Schopenhauer zu sagen – meistens mehr vom überschwänglichen hormonellen Willen als von einer tragfähigen geistigen Vorstellung getrieben. Aber im Gegensatz zu den Welt-Befreiern der Siebziger Jahre waren sie doch eingebunden in große, kosmische Erzählungen. Und zugegeben: Durch ihr notorisch frühes Ableben kamen sie auch nicht in die Situation, als postheroische ApoOpas die Schmähungen der Nachwelt über sich ergehen lassen zu müssen.
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Aber dann war da auch noch dieser eine, andere Jung-Revolutionär in den Wagnerschen Musikdramen. Der, dessen Laufbahn nicht darin endete, dass er spätestens gegen Ende des dritten Aktes entseelt zu Boden sank, erlöst durch die unbedingte, selbst-aufopfernde und darin ebenso selbstzerstörerische Liebe eines Weibes. Sondern der – noch jung und perspektivenreich – in den Hafen der Ehe fand. Und in ein reichhaltiges, tiefes, bürgerliches, kreatives und gelingendes Leben: Der Ritter Walther von Stolzing. Ermutigt und befähigt durch Geist, Geschick und Tatkraft eines modernen Konservativen: des Meistersingers Hans Sachs. Durch jenen Sachs, der als historische Figur, fest verankert in der Meisterzunft, den großen Gesang auf die Zukunft in der Reformation angestimmt hat: „Wach auf, es nahet gen den Tag! Ich hör’ singen im grünen Haag ein wonnigliche Nachtigall, ihr Stimm’ durchdringet Berg und Tal“. Und der – von Wagner ins 19. Jahrhundert transformiert – die Verheißung einer utopischen Gesellschaft formuliert, die sich gerade nicht über Stände, Ahnentafeln und Stahlhelme definiert, sondern über die Liebe zur Kunst als dem gemeinsamen geistigen Raum der Lebendigkeit und Vielfalt in höherer Ordnung. Dieser Sachs, „Nürnbergs teurer Sachs“, ist wahrlich eine schillernde Figur, die viele Schattierungen des idealen und des wahren Lebens in sich vereint: Halb sokratischer Nachfrager, halb platonischer Ideengeber. Meisterlich als Schuster und als Sänger, Handwerker und Künstler. Dabei zudem noch versierter Kommunalpolitiker mit Respekt vor den verschlungenen Mechaniken des demokratischen Prozesses. Dezidiert postheroisch und dennoch voll glühender Leidenschaft. Liberaler mit Fundament. Bahnbrecher des nachhaltig Neuen durch die Kraft der Tradition. Dieser Sachs ist einer, der viel zu erzählen hat von Identität und Leitkultur. Und nichts von Abschottung und Ressentiment. Der die Wutbürger nach dem zweiten Akt ihren nächtlichen Rausch ausschlafen lässt – und auf das irritierend Fremde am nächsten Morgen mit einem sofortigen Integrationskurs auch für Deutsche reagiert, aus dem dann ein ganzer Bildungsroman wird. Dem es dadurch gelingt, das aggressiv Revolutionäre in das diskursiv Bürgerliche zu integrieren – nicht „heilig die letzte Schlacht“, sondern geduldiges Dranbleiben, auch wenn es spießig erscheint. Der bei allem Kopfschütteln über den Wahn der Welt das Leben bejaht, so wie es ist. Der damit dem Revolutionär zur Heimat verhilft und dem Bürger zur Lebendigkeit – furchtlos in den ungewissen Mor-
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gen schauend in der traumwandlerischen Gewissheit des eigenen Urgrunds aus bleibenden Werten, klaren Regeln und gewachsener Kultur. Und vor dem sich am Ende auf der Festwiese alle erheben und ihm sein eigenes großes Lied anstimmen. Jene Zeilen, in denen der aufgeklärte Bewahrer Worte findet, die heute geradezu revolutionär-prophetisch erscheinen: „Die Nacht neigt sich zum Okzident, der Tag geht auf von Orient, die rot-brünstige Morgenröt her durch die trüben Wolken geht“. Wenn ein moderner Konservativer so ist, dann möchte ich auch einer sein.
Kurze Geschichte einer Kapitulation Von Uwe Paulsen Das Elend begann gegen Ende der 60er Jahre. Wir saßen zu viert in einem verrauchten Zimmer, tranken Tee und lasen in der Deutschen Ideologie. Unsere Aktivistin war eine ältere Studentin, die uns Karl Marx Satz für Satz kenntnisreich, dialektisch und widerspruchsfrei erklärte. Ich verstand wenig, empfand es aber mit 16 Jahren schon als Ehrerweis, zur intellektuellen Speerspitze einer revolutionären Bewegung zu zählen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Aber wer waren die Gegner? Egal, am Heiligabend 1969 outete ich mich im Familienkreis als Kommunist, beschimpfte meinen Schwager als konservativen Kleinbürger (er war Amtsrat bei der Deutschen Bundesbahn und Dauercamper, insofern meinte ich, nicht ganz falsch zu liegen) und trug damit zu einer turbulenten Familienfeier bei. Nach einem Zwischenspiel in der SPD (Willy wählen!) mit einem vermeintlich herrlich konservativen Feindbild – Dr. Rainer Candidus (!) Barzel – gerieten wir an der Universität Göttingen in eine eher libertäre Szene. Man organisierte sich in Fachschaften und schlug sich die Nächte mit Lektüre um die Ohren: Hegel, MEW (Marx-Engels-Werke, die „Blauen Bände“ der DDR-Ausgabe), Nietzsche und neuere marxistische Theoretiker, meine Lieblingslektüren waren Georg Lukàcs’ Geschichte und Klassenbewusstsein und Die Zerstörung der Vernunft. Mühsam lernten wir, dass man zwischen Konservativen und Reaktionären unterscheiden müsse. Dann sprach es sich herum, dass die Kommilitonen vom maoistischen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) die Devise ausgaben, man solle doch bitte nicht Patti Smith, Bob Dylan oder Frank Zappa hören, sondern deutsche Schlager, etwa Rex Gildo oder Marianne Rosenberg. Nur dann könne man die Mentalität und das – noch unterentwickelte – Klassenbewusstsein des deutschen Proletariats verstehen. Ich war irritiert. Das war die Musik, die mein Schwager, der Amtsrat, auch hörte. Ich tröstete mich damit, dass ich wohl das revolutionäre Potenzial, das in ihm
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und anderen feucht-fröhlich geselligen Dauercampern steckte, nicht erkannt hatte. Eine andere revolutionäre Kadergruppe schlug vor, als Textgrundlage für ein Geschichtsseminar zur Arbeiterbewegung ausschließlich ein wissenschaftliches Werk zu verwenden, nämlich das der – von mir sehr geschätzten – Professorin, die diese Lehrveranstaltung abhielt. Ziel war die Entlarvung des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes. Nur ein Buch – auch da musste ich wieder an meinen Schwager denken. So stolperten wir durch das Geistesleben. Über bemerkenswerte Einsichten in Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France (eine Arbeit über die Thematisierung des Jakobitenaufstandes von 1745 in historischen Romanen nötigte mich zur Lektüre dieses großen Denkers) ging ich großzügig hinweg. In einem Oberseminar zum Thema Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie versuchten wir als Junghistoriker und Alltagsphilosophen nachzuweisen, dass die SPD der 70er Jahre eigentlich Karl Popper auf den Leim gekrochen sei. Rückblickend muss man sagen: Liebe Sozialdemokraten, wenn es doch so gewesen wäre. Es ginge euch heute besser. In der Philosophie faszinierten uns besonders die Existentialisten, mich persönlich auch Arnold Gehlen. Über die Wertschätzung von Camus und Sartre – „verurteilt zur Freiheit (!)“, und das in Jazzkellern bei Musik von John Coltrane – bestand solidarisches Einvernehmen. Meine Vorliebe für Gehlen stieß bei meinen Freunden auf Empörung. Dass ich ein Missverständnis aus dem Weg räumte – sie hatten Arnold Gehlen mit dem ehemaligen BND-Chef Reinhard Gehlen verwechselt – schaffte keine Abhilfe. Besonders angetan war ich von Gehlens konservativem Blick auf die Institutionen, die uns als Mängelwesen ja entlasten sollen. Ich bedauerte es, seine Schriften nicht schon zu Beginn des Studiums gelesen zu haben. Dann hätte ich die Hegel-Vorlesungen – sie begannen um 8 Uhr in der Früh – regelmäßiger besucht. Der wiederkehrende morgendliche Zweifel, ob der Besuch dieser Vorlesung nur wenige Stunden nach der nächtlichen Heimkehr erträglich oder gar notwendig sei, wäre gewichen. Ich hätte zumindest den Wecker gestellt. Schließlich Kommunalpolitik für Die Grünen in Frankfurt. Vom proletarischen Internationalismus der Kommunisten über die Doppelstrategie der Jungsozialisten (das System parlamentarisch und außerparlamentarisch zu reformieren) zu den Ökoautisten der 80er Jahre. Wasser sparen
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statt Weltrevolution, Vorgartenbegrünung statt Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Aber es kam noch schlimmer. Als Vorsitzender der Frankfurter Grünen war ich einige Jahre später an den ersten Verhandlungen für eine schwarz-grüne Koalition in einer deutschen Großstadt beteiligt. Ich kannte mein Gegenüber von der CDU durch gelegentliches gemeinsames Joggen in einem Frankfurter Park. Man duzte sich – auch in den Koalitionsverhandlungen. Die Parteifreunde waren erstaunt. Dann kritisierte ich öffentlich eine geplante Koalition zwischen SPD, Linken und Grünen in Hessen (die dann nicht zu Stande kam) als Beihilfe zum Wahlbetrug (die SPD hatte vor der Wahl ein Bündnis mit der Linken ausgeschlossen). Ein zudem unverzeihlicher Fauxpas dabei: Ich schrieb in einem Beitrag für eine Frankfurter Zeitung, dass ich Roland Koch im Vergleich mit der sozialdemokratischen Aspirantin für den besseren Ministerpräsidenten hielt. Was war passiert? Das Bewusstsein, dass das, was wir heute für richtig halten, morgen als falsch gelten kann, schützt Konservative vor rigorosem Dogmatismus (Andreas Rödder). Zumindest in diesem Sinne hatte ich vor dem Konservatismus kapituliert. Beruflich hatte es mich in die Schulleitung eines – zu Recht sehr renommierten – humanistischen Gymnasiums verschlagen mit Latein (!) als erster Fremdsprache. All das ist Vergangenheit. 2019 wird es ernst. Nach Francis Fukuyama (The End of History, 1992) glaubten wir, im Weltgeist habe die Vernunft gesiegt. Den Idealen, Werten und Ordnungsvorstellungen der westlichen Demokratien und auch des demokratischen Konservatismus als Teil davon – sei er nun etwas mehr oder weniger liberal, strukturkonservativ oder wertkonservativ, angelsächsisch geprägt oder nicht – schien die Zukunft zu gehören, nachdem nahezu ein halbes Jahrhundert westliche Werte und Prinzipien unter Rechtfertigungszwang gegenüber dem Anspruch von totalitären Ideologien standen, die Karl Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde so treffend analysiert hatte. Schnell erwies sich Fukuyamas Prognose als falsch. Im Jahr 2019 gibt es für den ursprünglichen Optimismus ebenfalls keinen Anlass. Im Gegenteil, wir brauchen gerade auch starke, authentische Konservative gegen die Feinde der liberalen Demokratien, die Trumps, Salvinis, Orbáns und Gaulands dieser Welt. Die AfD ist nicht konservativ, sie ist instrumentell populistisch und in Teilen menschenverachtend. Ein amerikanischer Präsident, der in seiner Antrittsrede kein Wort über die Werte der amerikanischen Verfassung und das großartige Erbe der Gründerväter verliert,
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stattdessen gegen die angebliche Lügenpresse und die vermeintliche politische Elite hetzt („We are transferring power from Washington, D.C. and giving it back to you, the American People“), ist kein konservativer Republikaner, sondern ein übler Demagoge und notorischer Lügner. Deshalb: Auch die Konservativen müssen die Werte einer offenen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft verteidigen. Es sind ihre eigenen. Der Schlachtruf des 21. Jahrhunderts muss lauten: Konservative aller Länder, vereinigt euch!
Eher konservativ Von Thilo Sarrazin Die Wortpaare „links und rechts“ bzw. „konservativ und fortschrittlich“ sind verbale Kürzel, die es leichter machen, Menschen und Meinungen einzuordnen. Dabei handelt es sich um Wörter, deren Inhalt nicht wesenhaft bestimmt ist, sondern sich aus sozialen Konventionen ergibt. Ihre Bedeutung kann ganz unterschiedlich sein, je nachdem, wer solche zuschreibenden Wörter verwendet und in welcher Absicht. Als Pragmatiker der Sprache befasse ich mich nicht damit, ob die mit Wörtern verbundenen Inhalte falsch oder richtig sind. Entscheidend ist der Kontext. Wenn Kommunikation gelingen soll, müssen Kommunikationspartner unter identischen Wörtern dasselbe verstehen. Das ist oft nicht der Fall, und dann ist das entsprechende Wort für eine sinnvolle, die Lagergrenzen überschreitende Kommunikation sinnlos geworden. Mit dem Wort links assoziiert der typische Linke (da stelle ich mir jetzt Claudia Roth oder Kevin Kühnert vor) positive Eigenschaften wie: sozial gerecht, fortschrittlich, idealistisch, veränderungswillig, an sozialer Gleichheit orientiert, demokratisch, genderfreundlich, antirassistisch, warmherzig, friedfertig – die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Derselbe typische Linke assoziiert mit dem Wort konservativ negative Eigenschaften wie reaktionär, rückwärtsgewandt, sozial rücksichtslos, egoistisch, unflexibel, innovationsfeindlich, frauenfeindlich, rassistisch, kriegerisch. Für einen Konservativen wie mich erweckt dagegen das Wort links vorwiegend negative Assoziationen, nämlich selbstgefällig, naiv, destruktiv, realitätsblind. Konservativ ist für mich dagegen ein relativ wertfreier Begriff, der a priori weder positiv noch negativ besetzt ist, da er für ganz unterschiedliche Sachverhalte verwendet wird – z. B. finde ich eine konservative Haltung schlecht, wenn sie z. B. dazu führt, dass ein gläubiger Muslim seine Tochter unter das Kopftuch zwingt und ihr Liebesleben regulieren will; gut hingegen finde ich die Meinung, dass die „gleichgeschlecht-
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liche Ehe“ ein Widerspruch in sich ist, und dass dem Kindeswohl am besten gedient ist, wenn die Kinder bei den leiblichen Eltern aufwachsen. Wenn jemand meine familienpolitischen Meinungen „konservativ“ findet, so ist mir das ziemlich gleichgültig. Das Etikett, das meiner Meinung angeklebt wird, sagt ja nichts aus über Wahrheit oder Vernunft. Natürlich registriere ich das vorherrschende Meinungsklima. In den Medien ist es eindeutig links, und die weit überwiegende Zahl der Politiker passt sich dem opportunistisch an. Darum sind die sogenannten Rechtspopulisten überall in Europa so stark geworden. Sie heißen so, weil man sie rechtsradikal nicht nennen kann und konservativ nicht nennen will. Auch hier versucht man, mit Wörtern Politik zu machen, aber das wird nicht gelingen. Danach gefragt, wo ich persönlich steht, so würde ich mich als „eher konservativ“ einordnen. Gleichzeitig halte ich solch eine Einordnung für nicht sehr erhellend. Ich bin es gewohnt und darin geübt, mit den Mitteln von Empirie und Logik zu arbeiten. Ich bin statistisch versiert und in der Lage, wissenschaftliche Erkenntnisse einzuordnen und in meinen Überlegungen und Argumenten zu verarbeiten. Die Resultate aus diesen Überlegungen finden sich in meinen Büchern. Sie sind für die Linken in der SPD so schockierend, dass jetzt das dritte Parteiausschlussverfahren gegen mich betrieben wird. Es wird erneut scheitern, wie schon die beiden vorhergehenden. Meine Feinde in der SPD, die Linken, nennen mich nicht konservativ, das finden sie viel zu schwach. Weil ich ungeliebte Fakten bringe, die sie nicht widerlegen können, bin ich für sie ein Menschenfeind und tendenziell rechtsradikal. Weil es der SPD an Realitätssinn mangelt, wird sie in den nächsten Jahren als Partei entweder untergehen oder in die Bedeutungslosigkeit versinken. Das liegt auch daran, dass ihr das konservative Fundament abhanden gekommen ist, das jeder braucht, der in der Wirklichkeit bestehen will: Ein guter Konservativer beginnt stets mit der soliden Verankerung in der Wirklichkeit, er stellt sie aber niemals naiv auf einen Podest. Ein schlechter Konservativer hält dagegen das Vorhandene schon deshalb für besser, weil es vorhanden ist. Für das noch Werdende, vielleicht auch Ungewisse, müsste der schlechte Konservative seine Phantasie strapazieren und auch einmal ein Risiko eingehen. Das möchte er nicht. Um auf die richtige Weise konservativ zu sein, bedarf es des Maßes und der Urteilskraft. Wer beides nicht in ausreichendem Maße hat und einfach gern am Alten hängt, wird schnell zum Reaktionär.
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In dem Maße, in dem der Mensch seinen Verstand und seinen Fleiß auf das Konkrete wendet, dort seine Urteilsgründe findet und seine Entscheidungen sucht, werden Begriffe wie links oder konservativ zu schemenhaften Etiketten, die nur für mindere Geister überhaupt von Interesse sind.
Stil und Formen Von Wolfgang Stahl Die Gesellschaft zur Zeit der Europawahlen 2019 ist im Wandel. Sie modernisiert sich auf dem Vehikel des Internets aus sich selbst heraus in einer beachtlichen Geschwindigkeit. So schnell, dass dieser Tage nicht wenige Spitzenpolitiker überrascht und aus mancher Perspektive betrachtet vielleicht sogar tölpelhaft darauf reagiert haben, dass ihre Parteien und deren Kommunikation von der Entwicklung schon überholt wurden, bevor sie überhaupt verstanden haben, dass ein junger Mann mit blauen Haaren ihnen in einem – so soll glauben gemacht werden – mit wenig Aufwand selbstgedrehten Video erklärt, was die Mehrheit stört und die junge Generation nicht mehr mitzumachen bereit ist. Die Zeit der großen Volksparteien und ihrer berechenbaren Mehrheiten scheint vorüber. Menschen bilden sich ihre Überzeugung im Internet und nicht durch Wahlplakate. Youtuber und Influencer sind bis vor kurzem noch belächelte Berufsbezeichnungen, die es mittlerweile ernst zu nehmen gilt. Daneben sind in den sozialen Medien Kommunikationsplattformen entstanden, auf denen man individuell – aber ohne anderen ins Angesicht schauen zu müssen – seiner Timeline und seinen Followern mitteilen kann, wie man über dieses und jenes denkt. Dank dieses Anonymitätseffekts des Internets werden selbst die grauesten Mäuse schillernd bunt. Im Strom dieser Entwicklung überhaupt die Frage danach zu stellen, was konservativ ist oder ob jemand konservativ ist, klingt dieser Tage geradezu unangebracht verstaubt und fortschrittsabgewandt. Fragte man Anhänger der Bewegung Fridays for Future, ob er oder sie konservativ ist, würde man wahrscheinlich von seinem Gegenüber ausgelacht werden. Konservativ?! Das sind die Rückwärtsgewandten, die, die nichts begriffen haben und an alten Zöpfen festhalten wollen. Doch natürlich sind insbesondere die Anhänger von Greta Thunberg und den Grünen konservativ –
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und zwar im genauen Wortsinn, denn sie wollen etwas bewahren: die Natur, die Artenvielfalt, das Klima, den Planeten, wie er derzeit existiert. Das ist keine Wortklauberei. Das ist das Ziel des Konservativen, nämlich etwas zu bewahren. Wir alle, die wir etwas bewahren möchten, unterscheiden uns unterdessen nicht dadurch, dass wir einen Anzug tragen oder Hipsterbärte und Rastazöpfe, sondern darin, was wir bewahren möchten bzw. welche Priorität dieses Ziel für uns einnimmt. Es mag profan klingen: Aber die vermeintlich konservativen Werte wie Benehmen, Höflichkeit, Stil und Formen sind weder Selbstzweck noch bloße Attitüde, sondern Werte, die es auch in und für eine moderne Gesellschaft zu bewahren und zu erhalten gilt, denn sie sind tatsächlich nicht unnötig gewordenes Überbleibsel aus vergangenen analogen Zeiten, sondern auch heute noch Teil eines Fundaments für ein friedliches Zusammenleben. Motiv aller konservativen Benimm- und Verhaltensregeln – so verstehe ich sie jedenfalls – ist gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme. Wenn man mit dem Zug verreist, lässt sich regelmäßig erleben, dass Menschen trotz deutlicher Hinweisschilder, z. B. im Speisewagen, ausgiebige Telefonate führen oder – was eine neue Unart im Smartphonezeitalter geworden ist – sich gegenseitig Videos, nicht selten mit einem klamaukigen, musikalisch entsprechend hinterlegten Inhalt, vorführen, so dass es sich nicht vermeiden lässt, dies als Mitreisender mit anhören zu müssen. Auf den Gedanken, wie es wäre, wenn jeder sich derart rücksichtslos verhalten würde, scheinen die Menschen nicht mehr zu kommen. Die Idee der Rücksichtnahme auf andere existiert oft nur theoretisch. Praktisch entwickeln sich viele Menschen zu gesellschaftsuntauglichen Egoisten. Rücksichtnahme auf die Interessen und das Befinden von Mitmenschen ist nahezu immer auch das Motiv von förmlichen Gesetzen und Regeln. Denn Regeln – auch dies scheint in den Augen mancher eine veraltete und verstaubte Erkenntnis zu sein – braucht die Welt, damit sie funktioniert. Selbst die kleinste Gemeinschaft, besteht sie auch nur aus einer Handvoll Menschen auf einer kleinen Insel, braucht ein – wenn auch minimales – Regelwerk, damit sie existieren kann und bestehen bleibt. Als absolutes Mindestmaß wird man in etwa einen Verhaltenskodex ähnlich der in den Zehn Geboten des Christentums enthaltenen Regeln, die das Zusammenleben betreffen, aufstellen müssen. Denn wenn sich die Mitglieder einer Gesellschaft nicht an die dort auf das Zusammenleben aus-
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gerichteten Regeln halten (Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, etc.), ist ein friedliches gesellschaftliches Miteinander unmöglich, weil jeder – wenn ihm danach ist – dem anderen den Schädel einschlagen kann, wenn nicht eine verbindliche Regel existiert, nach der dies ausgeschlossen ist. Nicht anders verhält es sich mit den vermeintlich altmodischen Regeln des guten Benehmens und der Rücksichtnahme. Einer Dame den Vortritt zu lassen, aufzustehen, wenn ältere Menschen einen Sitzplatz benötigen, jemanden in den Mantel zu helfen, sich im Restaurant leise zu unterhalten und keine Smartphone-Videos vorzuspielen, sind keine altmodischen, überflüssigen Attitüden oder Zeichen mangelnder Toleranz, sondern Signale an die Mitmenschen, dass man sich in einer Gesellschaft zurücknehmen und sozial verhalten kann. Diese Signale senden viele Menschen heute nicht mehr. Aus falsch verstandener individueller Freiheit und vor allem weil sie Verhaltensregeln, Stil und Formen überhaupt nicht mehr kennen und beherrschen. Schon die Generation heutiger junger Eltern hat Probleme damit, ihrem Nachwuchs auf kindgerechte Art und Weise gutes Benehmen beizubringen. Weshalb? Weil kaum jemand mehr weiß, was darunter zu verstehen ist und folglich auch nicht in der Lage ist, dies weiterzugeben. Um den Menschen miteinander ein friedliches Leben zu ermöglichen, gilt es, sich nicht nur im Hinblick auf die Natur und die Umwelt konservativ zu zeigen. Auch die Regeln für ein gesellschaftliches Miteinander, wie sie sich über die Zeit entwickelt haben, sollten nicht über Bord geworfen, sondern im Kern bewahrt werden. Konservativ sein heißt, auch miteinander umgehen können.
Weißbuch. Nachrichten aus dem Verteidigungsministerium Von Uwe Tellkamp Das Verteidigungsministerium (Vemini) geht vom Bestand aus. Der Bestand besteht aus den Beständen. Das neue Weißbuch ist im Entstehen begriffen, das neue Weißbuch geht, wie alle Weißbücher davor, auf die Sicherheitslage unseres Staates ein. Die Sicherheit muss sich neu definieren, die Sicherheit steht vor Herausforderungen in unbekannter Dimension. Da gibt es die von den Streitkräften Wladimir Wladimirowitschs annektierte Krim, die Lage in der Ukraine erscheint instabil, der Arabische Frühling hat andere Blüten getrieben als es die zivilen Frühlinge unserer Breiten tun, der Islamische Staat ist zurückgedrängt, aber keineswegs geschlagen, in Syrien gibt es Friedenszonen mitten in Kriegszonen, am Rande von Kriegszonen, unterhalb von Kriegszonen, im Durchbruch begriffene Friedenszonen also, es gibt Kriegszonen, Kriegsrisiken, Kriegsflackern innerhalb von Friedenszonen, die wiederum wechselnde Umrisse und wandernde Flächen haben, kurz: die Lage ist vollständig unübersichtlich. Das Weißbuch ist ein Prestigeprojekt des Verteidigungsministeriums, hier wird der Truppe Orientierung gegeben, wird ihre Zukunft, werden Strategien zur Bewältigung der sicherheitspolitischen Herausforderungen vorgestellt; ein Grundlagendokument, das unregelmäßig erscheint (das letzte stammt von 2006) und als ein Leitfaden, eine Enzyklika, angesehen wird. Das neue Weißbuch ist ein Haupt-Tagesordnungspunkt der Konferenz, doch muss es der Flüchtlings-Herausforderung wegen überarbeitet werden. Die Ministerin lauscht MinDir Tostik mit reglosem Gesicht und zusammengelegten Händen. Der Colonel nennt das die Gefechtsposition. Hatte die Ministerin die Flüchtlings-Herausforderung als Teil – und wichtigen, willkommen-unverzichtbaren! – Teil der neuen Friedensphilosophie des Vemini skizziert, so verrät eine leichte Unruhe, eine Randauflösung ihrer als windhart berühmten Frisur, dass sie Tostiks Ausführungen vor allem eins entnimmt: die Gefährdung des von langer Hand geplanten, medienstrategisch überaus sorgsam vorbereiteten Weißbuch-Vorstellungster-
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mins. So war es nicht gedacht, deutet die Verteidigungsministerin den anwesenden Vertretern der Sicherheit an, die Einverleibung der FlüchtlingsHerausforderung in die neue Friedensphilosophie, im Vemini unter dem griffigen Kürzel pp (peace philosophy, auch peace power) bekannt, sollte nicht zu einer Kollision mit dem Weißbuch führen, sie sei bereits in die Talkshows der Drei Schwestern eingeladen, der COURIER wolle sein Dossier dem Weißbuch widmen, es werde ein von Cremmen-Special im Ersten Trevischen Fernsehen geben, die Flüchtlings-Herausforderung sei doch abzusehen gewesen, die sei doch nicht schicksalhaft über uns hereingebrochen! Die anwesenden Vertreter der Sicherheit schweigen, natürlich haben die Abteilungen Abwehr, Terrorbekämpfung, Tausendundeinenacht diese Herausforderung gesehen, haben in vielen Rundschreiben darauf hingewiesen, doch befand sich die Verteidigungsministerin als letzte Adressatin dieser Rundschreiben in einem Konflikt zwischen den Anforderungen der soft power, die auch unsere Kanzlerin als wichtigste trevische Triebkraft ansieht, und den Anforderungen der hard power; gerade vor einem Monat, auf dem Höhepunkt der neuen Herausforderung, neigte die Ministerin der Verstärkung der hard power zu, begründete dies in den Sicherheitskonferenzen, dass aktive Politik sich nicht immer nur mit Bedenken und Untergangsszenarien aufhalten könne, aktive Politik vielmehr Gestaltung sei, Tatkraft und den mutigen Blick in die Zukunft erfordere, auch eine Entscheidung darüber, welcher der beiden Waagschalen, in die unsere Wirklichkeit die Rätsel ihrer Tage legt, mehr Vertrauen entgegengebracht werden solle, eben soft- oder hard power, und nun hat es zwar Vergewaltigungen gegeben, Raubüberfälle, Einbrüche, Aufenthaltserschleichungen, Messerstechereien, aber die hätte man doch vorab einpreisen können, als gewissermaßen abstrakte, von den Flüchtlingen losgelöste und auch von der einheimischen Bevölkerung getragene Posten, auch hege sie Bedenken gegen die Aufnahme von Gefühlen in das Weißbuch. Nun kann aber das Verteidigungsministerium die unmittelbaren Aspekte der Flüchtlings-Herausforderung, die als Teil der Friedensphilosophie auch Teil des Freund-/Feind-Narrativs, des Untersuchungskomplexes „Der/Die/Das Fremde“ sind, nicht gänzlich ausblenden, in der Nähe verschwimmen die Kompetenzen, in der Nähe kennt der Krieg keinen Unterschied mehr zwischen den Ressorts. Gegen die Terrorgefahr, soviel steht fest, müssen alle Kräfte gebündelt, müssen konzertierte Aktionen vorbereitet werden, hier muss sich das Verteidigungsministerium, so der Generalinspekteur als oberster Soldat der Streitkräfte, über seine grundlegenden Aufgaben im klaren sein und eine unmissverständliche Linie ver-
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folgen, die Linie nämlich, die Frau Verteidigungsministerin anlässlich des Besuchs der Flottenschule neulich gezogen habe: keinen Fußbreit den Zerstörern unserer Demokratie, kein Zurückweichen vor den Angriffen auf unsere westlichen Werte, es wird ihnen, diesen Angreifern, nicht gelingen, unsere offene und freiheitliche Lebensform zu zerstören. Der Colonel kann den Generalinspekteur nicht leiden, gibt es doch immer wieder Angriffe aus dessen Umfeld auf das Budget des Flottenamts zum einen und auf das Budget der Tausendundeinenacht-Abteilung zum andern, auch hält der oberste Soldat der Streitkräfte nicht viel von einer gewissen Tradition des Militärs, seinen Angriffs- und also Wehrqualitäten. Das Bild der Streitkräfte ist ihm insgesamt zu maskulin, die toxische Männlichkeit, nimmt er eine Bezeichnung unserer Medien auf, schade dem Ansehen der Truppe in unserer Öffentlichkeit, toxische Männlichkeit entspreche nicht mehr den Erfordernissen der Zeit und sei Ausdruck einer Vergangenheit, die man zu überwinden gedenke. Die Verteidigungsministerin lenkt zum Weißbuch zurück. Es geht ihr um die im Weißbuch ausgedrückten grundsätzlichen, die sogenannten Leitfragen: Wofür stehen wir? Wohin wollen wir? Mit welchen Mitteln und warum? Die Lage im Großen ist klar, unsere Abteilungen arbeiten zuverlässig, sie gehören innerhalb unserer Verwaltung zum sogenannten Arbeitsmuskel. Wir stellen die Fragen, wir liefern Planspiele, wir sind auf alles vorbereitet … wirklich auf alles? Ewiges Misstrauen. Wir können nicht immer nur passiv denken, so die Verteidigungsministerin, das Verteidigungsministerium dürfe nicht die Balance verlieren und nur Bestehendes verteidigen, denn a) müsse man, um das Bestehende verteidigen zu können, ständig auf dem neuesten technischen Stand sein, weswegen ja auch eine Task Force gegen Cyberkriminalität eingerichtet worden sei, und b) müsse man das Bestehende überhaupt erst einmal kennen, müsse das, was bloß da sei als Bestehendes von dem Bestehenden unterscheiden, was sich bewährt habe und also verteidigenswert sei, hierüber müsse Klarheit geschaffen werden, und da die Philosophen nicht ein noch aus wüssten, alles angezweifelt werden könne, sei ihre Aufgabe als Leiterin und Lenkerin des Verteidigungsministeriums, die Antwort einfach zu geben, ein Ziel zu formulieren, wie es auch das Weißbuch tue, und keine Angst zu haben vor der Erhabenheit, aber auch Fragwürdigkeit, ja, Lächerlichkeit einer solchen Antwortgebung. Auf alle Fälle, so die Verteidigungsministerin nach einer Pause, müsse die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigungsministeriums verbessert werden, als unmittelbarer Ausdruck der Power-
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Peace-Friedensphilosophie wahrgenommen werden, es komme darauf an, Avantgarde konservativ zu denken und Konservatismus avantgardistisch, die scheinbaren Gegensätze zu versöhnen, eins ins andre gewissermaßen hineinzuintegrieren, so die Verteidigungsministerin.
Wie konservativ ist konservativ? Von Michael Kühnlein Der konservativste Satz, den ich kenne, ist beinahe 200 Jahre alt und stammt von einem Philosophen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Kein Geringerer als der schwäbische Nestor des Weltgeistes, Hegel höchstselbst, hat diesen Satz in der „Vorrede“ seiner Rechtsphilosophie für die Ewigkeit aufgeschrieben – und weniger als die Ewigkeit will der Konservative, wenn es um das philosophische Begreifen geht, auch nicht begreifen. Schließlich muss er ja allein schon aus etymologischen Gründen seinen Ruf wahren, denn was lohnte für die Nachwelt mehr zu bewahren als die Wahrheit? Freilich ist in Zeiten, in denen die Wahrheit nur noch ,gefühlt‘ werden kann, das Handwerk des Konservativen vom Aussterben bedroht. Wo man sich nämlich an ihren „Namen nicht mehr erinnern will“ (wie es in einem anderen berühmten Eröffnungssatz aus der Weltliteratur heißt), ist alles nur noch bloße Veränderung wert und Wahrheit kein fester Gegenstand der Philosophie mehr. Der Konservative wäre dann einer von der traurigen Sorte, der verzweifelt gegen das ankämpfte, was ihm seine eigenen Dämonen einflüsterten. Doch Windmühlen bleiben Windmühlen – und der Konservative machtlos. Aus diesem Grunde hat Hegel den Auftritt des konservativen Philosophen auch an das Ende der Geschichte versetzt; sein Wappen ist nicht das des ,fahrenden Ritters‘, sondern das der Eule der Minerva, die ihren mythologischen Flug mit der einbrechenden Dämmerung beginnt, wie es in einer weiteren berühmten Formulierung aus der Rechtsphilosophie heißt. Damit ist bereits die erste Auffälligkeit im Habitus des Konservativen bestimmt: Er ist seiner Natur nach kein Tat-, sondern ein Verstehensmensch, der sich rückblickend dem verpflichtet weiß, was Vernunft zu begreifen in der Lage ist. Erkennen ist daher kein apriorisches Geschäft, sondern immer geschichtlich vermittelt; es zielt auf die Anerkennung dessen ab, was an sich je schon verwirklicht, aber eben noch nicht für sich selbst ge-
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worden ist. Ansonsten wäre die von Hegel behauptete ,Wirklichkeit des Vernünftigen‘ in der Tat auch nicht mehr als eine Restauration des Tatsächlichen, die das Kontingente für das Essenzielle, die Erscheinung für das Wesen der Dinge selbst hielte. Aber dann würde der Konservative in the long run nur das Schicksal jenes beklagenswerten Ritters ereilen, der staubumwölkte Hammelherden mit dem Aufziehen mächtiger Heere verwechselte. Doch bei Hegel wird der Philosoph eben nicht von der Wirklichkeit verprügelt. Dass dieses Ende ihm nicht beschieden ist, hängt mit einer zweiten Besonderheit des konservativen Denkens zusammen: Seiner Natur nach schätzt nämlich der Konservative die Medien der Freiheitshervorbringung, wie sie in Traditionen, Narrationen und Institutionen zum Ausdruck kommen. Anders als der Liberale weiß er, dass gesellschaftliche Freiheit nicht einfach von der Freiheit ihrer selbst ausgehen kann, sondern diese ihre Voraussetzung selbst evaluieren muss. Denn was der Rechtsstaat an Freiheit gewährt, kann er nicht bewahren. Also müssen Sittlichkeit, Kultur und Religion dort in die Bresche springen, wo der Rechtsstaat aus inneren Liberalitätsgründen das Terrain der Legitimität preisgibt. Dieses Wissen um die nicht-liberalen Freiheitgrundlagen der modernen Gesellschaften macht den Konservativen skeptisch in Bezug auf allzu forsch und siegesgewiss vorgetragene Fortschrittslegenden. Denn Geschichtsvergessenheit macht blind – dies gilt übrigens auch für jene Revolutionäre, die mit dem Adjektiv „konservativ“ im Titel in der Weimarer Republik vermeintliche Traditionszusammenhänge heraufbeschwören wollten. Deren Lust an der Apokalypse (Spengler), die blinde Zerstörungswut und der Glaube an die reine, schöpferische Kraft der Dezision (Schmitt) muss der Konservative aufgrund seines prozessualen Wahrheitsverständnisses verachten; denn hier würde er immer auch das Ganze eliminiert sehen. Deshalb ist das Vergnügen der losgelassenen Affekte, die ungezügelten Aggressionen des Kurzundkleinschlagens, die virile Polemik ( Jünger) seine Sache nicht. Gegenüber dem nihilistischen Sirenengesang einer Mythologie der neuen Sprache, der zufolge das Bewahrenswerte erst geschaffen werden müsse, zeigt er sich vielmehr im besten Sinne aufgeklärt-immun; und schon gar nicht vermag ihn der anarchische Wiedergänger-Hymnus der Identitären heutzutage in die Defensive zu bringen. Aufgrund seines zeitlichen Abstands zu den Dingen ist der Konservative per se kein Revolutionär; schon gar nicht zählt er zu jenem erlauchten
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Kreis welthistorischer Individuen, die wie Cäsar oder Napoleon in ihren Handlungen der Logik einer höheren Notwendigkeit unterliegen. In dieser Rolle sieht sich der Konservative heute nicht. Vielmehr schlägt seine große Stunde in Zeiten des Umbruchs und des Übergangs – dort, wo sich Gegenwart verdichtet und aus Trends Entwicklungen, aus Kontingenzen Kontinuitäten und aus vermeintlichen Episoden Geschichten werden. Erst dann nämlich vermag er die obwaltende Vernunft in der Geschichte zu erkennen. Sein Sendungsbewusstsein ist nicht von Verlustangst getrieben, sondern seine Leidenschaft gilt dem Verstehen. Phänotypisch ist der Konservative also kein Jäger, der die Ideen vor sich hertreibt und dann eine erschöpfte Gesellschaft in die Ecke stellt, so dass sie ihren Widerstand aufgibt; vielmehr ist er ein Beobachter, ein Abwarter, der sich erst dann einzumischen beginnt, wenn die Dinge in die falsche Richtung zu laufen drohen. Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Was würde eigentlich passieren, wenn der Konservative aus dem emanzipatorischen Gedächtnis postmoderner Gesellschaften vollständig getilgt wäre und das Progressive von Sieg zu Sieg eilte? Fortschritt allenthalben? Mitnichten. Vielmehr würde aus solchen Zeiten der impulsiven Abkürzung eine Gesellschaft „ohne Eigenschaften“ (Musil) hervorgehen, die das Gegebene nur den Umständen nach ad hoc beurteilte und immer wieder auf die am Horizont dräuende bessere Chance, auf die verheißungsvollere Gelegenheit lauerte. Die Normativität der praktischen Vernunft bliebe dadurch amorph, weil in einer solchen Gesellschaft nur die Imperative der unmittelbaren Machbarkeit und Verwertbarkeit zählten – Traditionen, Tugenden, Loyalitäten, selbst das begründete Argument würden hier dem Moloch der kurzfristigen Möglichkeiten geopfert werden, dem Opportunismus der günstigen Konstellationen. Man begehrte lediglich Vorteile, egal durch was und mit wem, am besten gleich und sofort, weil morgen schon andere Gelegenheiten und Koalitionen auf einen warteten. Wenn also der Konservative als letzter Mann ausfällt, dann würden in einer solchen (fiktiven) Gesellschaft die Wendehälse das Geschehen diktieren, Wendehälse von der zweifelhaften Aura eines Charles-Maurice de Talleyrand, jenes französischen Diplomaten und Zeitgenossen Edmund Burkes, dessen ominöser Nachruhm allein auf der Tatsache gründete, dass er flott zwischen den unterschiedlichen Regimen von Kaiser, König, Kirche und der Republik hin und her zu wechseln wusste und dabei den Verrat zu seiner eigenen, ganz persönlichen Frage der Ehre machte.
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Mit anderen Worten: Ohne das Konservative bliebe dem Progressiven nur das postliberale Mantra unbedingter Flexibilität. Doch wird es auch in Zukunft vermehrt darauf ankommen, dem verführerischen Markt der bloßen Möglichkeiten mit den Selbstverwirklichungsinteressen der Vernunft in Politik, Moral und Recht, in Kultur, Religion und Geschichte zu vermitteln. Denn nicht alles, was möglich ist, ist deshalb schon vernünftig. Diese Hochachtung für das Bestehende schützt den Konservativen ein Stück weit vor autoritären Verwerfungen, weil er die Wirklichkeit der Vernunft anerkennt. Für den flexiblen Menschen hingegen ist das Reich der Vernunft ein Reich voller Möglichkeiten; nur durch seine Entscheidungen und Loyalitäten schafft er hier Verbindlichkeiten – und deshalb ist gerade die radikale Autonomie des Progressiven für die Logik restaurativer Erweckungsideen so empfänglich. Denn beide, sowohl der Flexible als auch der Identitäre, denken ihr Sein prinzipiell von der Überwindung des konservativen Paradigmas her. Beide setzen an Stelle der Tradition die verführerische Suggestion des permanenten Neuanfangs. Insofern ist es ein populärer Trugschluss, zu glauben, dass Modernität und Aufklärung allein die Gefahr des identitären Rückfalls bannen könnten; vielmehr sind sie gerade auch Multiplikatoren dieser Entwicklung. Wir müssen also paradoxerweise erst konservativer, nicht moderner werden, um den Ansprüchen einer vollends emanzipierten Gesellschaft zu genügen. Denn nur der konservative Mythos zeigt an der Vernunft auf, was unwiderruflich Bestand hat. Wer das kritisiert und den Wirklichkeitssinn der Vernunft durch ihren reinen, bindungslosen Möglichkeitssinn ersetzen möchte, der betreibt langfristig das Geschäft der Restauration und der „Unterwerfung“ (Houellebecq). Das muss jeder wissen. Hegels Satz von der vernünftigen Wirklichkeit des Bestehenden hat also nichts von seiner bestechenden Aktualität verloren; er drückt nach wie vor eine wichtige Intuition aus, obzwar die dahinterliegende Metaphysik nicht mehr die unsrige ist – und schließlich, und vielleicht noch wichtiger, erinnert uns dieser Satz daran, dass weder die autoritären Rechten noch die progressiven Linken über ein ernstzunehmendes Konzept des Konservativen verfügen.
Konservatismus – eine Liberalitätsgarantie in Modernisierungsprozessen Von Hermann Lübbe Mit der Evolutionsdynamik der modernen Zivilisation steigen zugleich Umfang und Differenzierung der kulturellen und politischen Bemühungen der Vergangenheitsbewältigung in vergangenheitsbewahrender Absicht. Das gilt ausnahmslos für alle erfolgreich modernisierungsbemühten Länder, europäisch oder amerikanisch, japanisch oder chinesisch – zumal nach dem Ende revolutionärer und damit zumeist zugleich destruktiver Epochen. Am auffälligsten ist die Modernität der konservierenden Vergangenheitsbewältigung kulturpolitisch. Ich verweise auf exemplarisch markant moderne kulturpolitische Aktivitäten, ohne sie inhaltlich vorzuführen. Jeder Zeitgenosse kennt sie ja – den expandierenden Denkmalschutz oder die weniger spektakuläre, aber politisch gelegentlich noch gewichtigere Praxis der Schriftgutkonservierung in unseren Bibliotheken. Was das Archivwesen anbelangt, so sei dessen politische Relevanz mit einem aktuellen Exempel von markanter politischer Bedeutung erläutert. Paris ist ja nach Größe der Stadt, nach ihrer Zentralität im Land sowie städtebaulich und architektonisch eine Hauptstadt von bezwingender Herausgehobenheit. Zahllose Repräsentanten Frankreichs waren bemüht, ihren Namen mit bedeutenden Beiträgen zur Architektur der Stadt dauerhaft verbunden zu halten – so auch noch Präsident Mitterand, der wichtigste europapolitische Kooperationspartner Helmut Kohls in den 80er und frühen 90er Jahren. Mitterands wichtigste Beiträge zur Pariser Stadtarchitektur waren – signifikant für die Modernität der Vergangenheitskonservierung – die neuen großen Archivbauten im Nordosten der Stadt. Ich verzichte auf weitere analoge Exempel politisch signifikanter Vergangenheitsvergegenwärtigungsbemühtheit in konservierender Absicht – bis auf ein paar Fälle, die zugleich die politisch liberalisierende Wirkung der konservierenden Vergangenheitsvergegenwärtigung demonstrieren.
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Nicht zuletzt für spektakuläre Denkmalschutzfälle gilt das. Stalin, Hauptrepräsentant des sowjetischen Totalitarismus deutschkulturell-marxistischer Prägung, ließ bekanntlich in einem hochsymbolischen Akt seines Fortschrittwillens die Moskauer Christ-Erlöser-Kirche sprengen. Inzwischen ließ Putin sie wiedererrichten. Als einer der Hauptrepräsentanten des politischen Liberalismus gilt Putin gewiss nicht. Aber das politische System, das er repräsentiert, ist unzweifelhaft ungleich freier als das untergegangene Sowjetsystem – und die erwähnte denkmalpflegerische Vergangenheitsrekonstruktion der Wiedererrichtung der Christ-Erlöser-Kirche symbolisiert es. Komplementär dazu wollen einem natürlich sogleich auch deutsche analoge Exempel einfallen – die Leipziger Universitätskirche zum Beispiel, die Ulbricht ja sprengen ließ. Auch dieser Modernitätsvandalismus in totalitärer politischer Absicht ist also revidiert – in der erneuerten alten architektonischen Anmutungsqualität des Universitätsszentrums in Leipzig. Das korreliert mit dem Ende der realsozialistischen Illiberalität, die die Gegenwart der Vergangenheit liquidiert hatte. Analoge Aussagekraft hat ein chinesisches Exempel für das Museumswesen Mao, dessen Menschheitsreinigungspraxis die seiner deutschen und russischen einheitsparteilich machthabenden Führerkollegen noch bedeutend überbot – Mao also hatte, dazu symbolisch passend, zugleich auch zahllose vergangenheitskonservierende Museen liquidieren lassen. Es wird berichtet, 1976 habe es im riesigen China gerade noch etwa 250 Museen gegeben. Konsequenterweise spiegeln sich die neuen Freiheiten des post-totalitären China auch im Museumswesen. Die Zahl der Museen ist inzwischen auf mehr als das Sechzehnfache angestiegen. Es hat seine Evidenz: Der Grad realer politischer Freiheit spiegelt sich nicht zuletzt im Abbau der politischen Kontrolle der Vergangenheitsvergegenwärtigungspraxis. Politische Freiheit ist – was immer sonst noch – nicht zuletzt auch Freiheit der Kenntnisnahme und Einschätzung der eigenen Herkunft. Für das Verständnis dieser Zusammenhänge ist es leider nötig, sich einige Sätze lang mit der Temporalstruktur des Zivilisationsprozesses zu befassen. Jeder ABC-Schüler des Marxismus-Leninismus hatte ja einmal zu lernen, im Geschichtsprozess wälzten sich materielle Basis und ideologischer Überbau gleichzeitig um. In der Tat: So will es die originäre Geschichtsphilosophie des deutschen Philosophen Karl Marx. Die Wahrheit
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ist in diesem wichtigen Punkt eine ganz andere: Mit der modernisierungsabhängig ansteigenden Menge der zivilisatorischen Innovationen pro Zeiteinheit gewinnen zugleich Unterschiede der Alterungstempi von Zivilisationselementen an Auffälligkeit. Das gilt technisch und organisatorisch, rechtlich und künstlerisch und in eins damit für die Unterrichtsprogramme, die uns in Schulen wie Hochschulen, in familiären wie beruflichen, überdies auch kulturellen und politischen Kommunitäten kompetent und teilnahmefähig halten. Indessen: Weniger schnell als die Inhalte unserer Lehrbücher ändert sich ihre Orthographie, stabiler als das Umweltrecht ist das Verfassungsrecht, die Leistungen jeweiliger Avantgarden machen zugleich die Geltungskompetenz unserer Klassiker unübersehbar, und die Folgen der Nutzung naturaler Voraussetzungen der Existenz unserer Gattung machen zugleich Erfahrungen der Grenzen dieser Nutzungen spürbarer. Die dramatisch verlaufende Expansion durchschnittlicher Lebenserwartung macht Abschiedsworte von Todeswegen, statt gegenstandslos, lediglich anspruchsvoller. Und so in allem: Die Erfahrungen zivilisatorischer Evolution ist in hochentwickelten Zivilisationen inzwischen überall von Erfahrungen des Grenznutzens der Fortschritte dieser Evolution mitbestimmt. Unter der Symbolfarbe „grün“, zum Beispiel, sind diese Erfahrungen sogar parteibildungsfähig geworden oder sie prägen traditionale Parteiprogramme zwangsläufig um. So oder so verschafft das dem Faktum Evidenz, dass der Fortschritt von Voraussetzungen abhängig bleibt, die ihrerseits geltungskonstant und damit konservierungsfähig sind. Aktuell erhebt sich damit die Frage, was es denn über die erwähnten, erfolgreich gewordenen grünen Bewegtheiten hinaus eigentlich sei, was derzeit in Europa als neuer politischer Konservatismus mannigfach auffällig geworden ist – von Schweden bis Schottland, von Polen bis Oberitalien und vom EU-kritischen Ungarn bis zur deutschen AfD in den neuen Bundesländern zumal. Die Antwort auf diese Frage lautet: Der Kern dieser polemisch gern „populistisch“ genannten Bewegtheiten ist der Wille zur Konservierung tunlichst uneingeschränkter Selbstbestimmung vor Ort – lokal, regional und national. „National“ – das klingt in deutschen Ohren nicht gut. Aber das ist eben speziell deutsch – als habe der Nationalsozialismus uns über seine katastrophalen Folgen die Lehre erteilt, nationale Selbstbestimmungsansprüche
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endlich internationalsozialistisch zu relativieren. Aber eben damit hätte man den Nationalsozialismus zugleich missverstanden. Zur Katastrophe wurde dieser Sozialismus ja nicht durch seine Rückbindung an die Nation, vielmehr durch die Erhebung ihrer Sondereigenschaft, eine deutsche zu sein, zum Recht der Vorherrschaft über andere Nationen, ja zur Aufkündigung ihres Lebensrechts. In der Konsequenz des Selbstbestimmungsanspruchs der Nationen hat sich in Europa die Zahl der uneingeschränkt souverän gewordenen Nationen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mehr als versiebenfacht. Man kann das ja durchzählen. Wieso ist das so? Es handelt sich um die in der modernen Zivilisation zwangsläufig sich herausbildende Kehrseite unserer sich dramatisch intensivierenden wechselseitigen Abhängigkeiten – verkehrstechnisch und kommunikationstechnisch, ökonomisch und sicherheitspolitisch. Eben das meinen wir ja, werden zumal die deutschen Post-Nationalisten erwidern und halten tatsächlich Post-Nationalität für die staatspolitische Antwort auf den modernen Zivilisationsverbund. Das Gegenteil ist stattdessen der Fall. Rechtsegalitäre Nutzung wachsender Beziehungsdichte bringt ja gerade nicht egalisierte Interessen und Kompetenzniveaus hervor. Sie bewirkt stattdessen ihre Differenzierung. Unter den Vorgaben des Völkerrechts, das seinerseits egalitär gilt, individualisieren sich die Kollektiv-Subjekt ihrer Nutzung – wie seit langem bekannt binnenstaatlich unter Bedingungen gleicher Rechte die Interessen und Könnerschaftsprofite der Bürger. Staatszusammenschlüsse zu Großstaaten sind nicht aktuell. Begünstigt werden stattdessen die Souveränitätsansprüche der kleineren Kommunitäten. Von Katalonien bis Schottland sind Separationen aktuell. In der Abwehr parastaatlicher Kompetenzen, die sich in der EU herausgebildet haben, verweigern Norwegen wie die Schweiz ihren Beitritt und favorisieren stattdessen die Verdichtung des völkerrechtlichen Vertragsverbunds uneingeschränkt souveräner Nationen. Es wäre ein Irrtum zu vermeinen, in der Pluralisierung der Staatenwelt, die sich in Europa – und nicht allein in Europa – im jüngst vergangenen Jahrhundert ereignet hat, hätten sich Tendenzen der Selbstisolierung von Provinzialismen breitgemacht. Das Gegenteil ist der Fall. In der erwähnten kleinen Schweiz zum Beispiel ist der Anteil der Landesbürger, die im Ausland tätig sind, oder auch umgekehrt der Anteil der Ausländer unter den Landeseinwohnern, ungleich größer als bei den EU-Ländern – von Luxemburg einmal abgesehen.
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Es erübrigt sich, mit der Exemplifizierung der Differenzierung und Pluralisierung nationaler Interessen im Kontext expandierender wechselseitiger zivilisatorischer Abhängigkeiten fortzufahren. Die institutionelle Konsequenz dieses Prozesses ist die Expansion des Völkerrechts, in welchem sich der sich verdichtende Verbund der pluralisierten Nationalstaaten spiegelt. Bei der Identität der in diesen Staaten politisch organisierten Nationen handelt es sich – analog zur Identität von Personen – jeweils um historisch kontingente Entitäten, die weder rechtfertigungsfähig noch rechtfertigungsbedürftig sind. Sie wollen „konservativ“ anerkannt sein. Die eingangs skizzierte moderne Praxis der kulturellen Konservierung von Herkunftsbeständen ist ein Medium dieser Anerkennung. Komplementär zum Verbund der pluralisierten Staatenwelt im modernen Völkerrecht repräsentiert die Europäische Union eher eine partiell gefährdete Großstaatsimitation. Nach der Natur der Sache werden die misslichen Folgen des einschlägigen Souveränitätsabbaus, zumal im Zuwanderungs- und Aufenthaltsrechts, von den Bürgern inzwischen nicht mehr protestlos hingenommen. Sogar allerlei Lächerlichkeiten mindern inzwischen die Geltung der Union – Täfelchen auf Waldwanderungen zum Beispiel, die melden, dass die EU zu deren Finanzierung beigetragen habe. Im tiefen Wald auf dem Höhenweg zwischen Straßburg und Gurk in Österreich stieß ich zu meiner Verblüffung kürzlich auf eine solche Präsenz der Union. Muss man denn ausdrücklich sagen, dass die kulturelle Einheit Europas im gemeinen traditionell-konservativen Bildungswissen eine ungleich stärkere Präsenz hat? Dergleichen ist nicht harmlos. Es bringt ja zur Evidenz: Just komplementär zur weltweiten Expansion unserer wechselseitigen Abhängigkeiten prägen sich die politischen Souveränitätsansprüche der Subjekte dieser vorteilshaften Abhängigkeiten schärfer aus. Das ist die politisch dauerhaft wirksame Quintessenz der besagten Pluralisierung nationalstaatlicher Souveränitäten, und wachsender Bürgerunmut richtet sich plausiblerweise gegen Parteien und Regierungen, die das, EU-treu, nicht thematisieren wollen. Die deutsche Kanzlerin ist ein Genie moderierter politischer Kommunikation und der politisch unauffälligen Marginalisierung von Einwänden und ihrer Subjekte. Die Kehrseite dieser in der staatlichen Politik seltenen Diszipliniertheit ist Analysescheu – zugedeckt von ungedeckter Zuversichtsrhetorik von der Art des unvergessenen Zurufs: „Wir schaffen
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das!“ Zur Konsequenz dieses politischen Stils gehört die politische Evokation des Protests wider die Zumutung, reale Besorgnisse besser gar nicht haben zu sollen, und damit die politische Exklusion derer, die gleichwohl diese Besorgnisse tatsächlich haben, aus dem Kreis politisch, ja moralisch akzeptabler Subjekte. Eben das bedeutet zugleich: Die Bürgerschaft ist insoweit politisch als nationale Selbstbestimmungskommunität nicht mehr wohlkonstituiert, und der Nationalstaat, der jeweils eigene zumal, wird zum Objekt überfälliger politischer Konservierungsbemühung. Weit über Deutschland hinaus eignet sich zum Studium dieses Prozesses der international manifeste Streit um den globalen Migrationspakt, der generell die Staaten migrationsaufgeschlossener machen möchte und unter anderem auch die Bereitschaft fördern helfen soll, den Zugang zu vorteilhafteren Sozialleistungen zu erleichtern. Es kam, wie es kommen musste: Zahlreiche Staaten verblieben reserviert – von Ungarn bis zu den USA und von Polen über Österreich und Tschechien bis nach Australien. Und abermals ist es evident, wieso das so ist. Migration – sie nimmt in einer Welt rasch wachsender wechselseitiger Abhängigkeiten tatsächlich unaufhaltsam auch aus zustimmungspflichtigen Gründen zu, und der Hauptgrund dafür sind doch im Regelfall wechselseitig förderliche Interessen, während die verbreitete Moralisierung einer vermeintlichen Migrationsförderungspflicht selbstschädigungsträchtig ist. So oder so: Mit der Pluralisierung der Subjekte souveräner Selbstbestimmung, der Staaten also und ineins mit der Intensivierung ihres Souveränitätsanspruchs, bringt sich in modernitätsspezifischer konservativer Absicht Nationalität zur Geltung – selbsterhaltungsinteressierte kontingente Herkunftsprägung also in Verbindung mit der Erfahrung, hier unter Leuten mit analoger Erfahrung einvernehmlich mehrheits- und minderheitsfähig zu sein. Das darf man sogar verallgemeinern: Politischer Konservatismus – das ist der politische Wille, in einer rasch zusammenwachsenden Welt sich in der Konsequenz seiner unverfügbaren Herkunft zukunftsfähig zu halten. Freie Herkunftsvergegenwärtigung begünstigt das, und dafür gibt es in der modernen Welt überall, in einem Umfang wie nie zuvor, die eingangs genannten vergangenheitskonservierenden Institutionen – von den Museen über den Denkmalschutz bis zu den Sammlungen gestriger und vorgestri-
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ger Worte in unseren Archiven. Sie halten sichtbar, wie es wirklich gewesen ist und sichern die Freiheit, das im Interesse einer freien Zukunft auch zu sagen.
Autorenverzeichnis Hubert Aiwanger, Bundesvorsitzender der Freien Wähler, stellvertretender Ministerpräsident von Bayern sowie Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie im Kabinett von Markus Söder. Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der WELT und Buchautor, Berichterstatter von Angela Merkel auf Auslandsreisen, ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis, Autor von Die Getriebenen: Merkel und die Flüchtlingspolitik. Franz Alt, Fernsehmoderator und Autor von über 50 Büchern zu den Themen Frieden, Jesus, Umwelt, Zukunft, C.G. Jung und ökosoziale Marktwirtschaft. Autor von Lust auf Zukunft – wie unsere Gesellschaft die Wende schafft. Philipp Amthor, Jurist und CDU-Politiker, Mitglied des Deutschen Bundestages, Mitglied des Landesvorstands der Jungen Union Mecklenburg-Vorpommern. Seyran Ates¸, Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Autorin, Mitbegründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, ausgezeichnet u. a. mit dem Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung, Autorin von Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin. Jörg Baberowski, Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin und Gewaltforscher, Mitherausgeber zahlreicher Zeitschriften und Kolumnist der Basler Zeitung, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Autor von Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt. Dorothee Bär, Diplom-Politologin und CSU-Politikerin, Mitglied des Deutschen Bundestages und Staatsministerin für Digitales im Kabinett von Angela Merkel, stellvertretende Generalsekretärin der CSU. Dietmar Bartsch, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker der Partei DIE LINKE, Mitglied des Deutschen Bundestages und Fraktionsvorsitzender. Nicola Beer, FDP-Politikerin und Rechtsanwältin, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Christoph Böhr, Professor für Philosophie an der Päpstlichen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz in Wien, ehemaliger Fraktions- und Landesvorsitzender der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag, Mitautor des Bandes Politik und Christentum – Kohärenzen und Differenzen.
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Frank Bösch, Professor für Deutsche und Englische Geschichte des 20. Jahrhunderts und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, Autor von Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. Norbert Bolz, Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin, ausgezeichnet mit dem Tractatus-Preis 2011, Autor von Zurück zu Luther. Dieter Borchmeyer, Professor em. für Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg, von 2004 – 2013 Präsident der Bayerischen Akademie der schönen Künste, zahlreiche Ehrungen und Preise für sein wissenschaftliches Werk, Autor von Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Bazon Brock, Professor em. für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal, Künstler, Kunsttheoretiker und Autor, Inhaber des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse, Autor von Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht. Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler und Professor em. an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Publizist und Autor, ehemaliger Leiter des Fritz Bauer Instituts, Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille, Autor von Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition. Heinrich Detering, Literaturwissenschaftler und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Göttingen, Lyriker und Übersetzer, Mitglied u. a. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, ausgezeichnet u. a. mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, Autor von was heißt hier ,wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Dan Diner, Professor em. für Moderne Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem, Historiker und Schriftsteller, ehemaliger Direktor des Simon-DubnowInstituts, ausgezeichnet u. a. mit dem Leipziger Wissenschaftspreis, Autor von Aufklärungen. Wege in die Moderne. Peter Feldmann, SPD-Politiker und Politologe, seit 2010 Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt/M. Thomas Fischer, Jurist und ehem. Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, Honorarprofessor der Universität Würzburg und Kolumnist, Autor der Beck’schen Kurz-Kommentare und von Über das Strafen. Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft. Svenja Flaßpöhler, Philosophin, Autorin und Literaturkritikerin, Chefredakteurin des Philosophie Magazins, Autorin von Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld. Norbert Frei, Historiker und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gastprofessor an der Stanford University, Kolumnist der Süd-
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deutschen Zeitung, Mitautor von Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft. Marie-Luisa Frick, Philosophin und Professorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, Autorin von Human Rights and Relative Universalism. Gottfried Gabriel, Professor em. für Logik und Wissenschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Autor von Fiktion und Wahrheit: Eine semantische Theorie der Literatur. Susanne Gaschke, Journalistin, Publizistin und Autorin, ehem. Oberbürgermeisterin von Kiel, Autorin von SPD. Eine Partei zwischen Burnout und Euphorie. Volker Gerhardt, Professor em. für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, zahlreiche Ehrungen und Mitgliedschaften, Autor von Humanität: Über den Geist der Menschheit. Friedrich Wilhelm Graf, evangelischer Theologe und Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Kolumnist u. a. in der FAZ, Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträger, Autor von Götter Global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird. Alexander Grau, Philosoph, Publizist und Autor, freier Journalist u. a. bei der FAZ, Autor von Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. Monika Grütters, CDU-Politikerin und Mitglied des Deutschen Bundestages, Staatsministerin für Kultur und Politik, Honorar-Professorin an der Freien Universität Berlin. Hans Ulrich Gumbrecht, Professor für Komparatistik an der Stanford University, zahlreiche Gastprofessuren und Ehrendoktorwürden, regelmäßige Kolumnenbeiträge in den führenden Medien, Autor von Brüchige Gegenwart. Reflexionen und Reaktionen. Gregor Gysi, ehem. Fraktionsvorsitzender der Linken und Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, seit 2016 ist er Präsident der Europäischen Linken, Autor von Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. Jens Hacke, Politikwissenschaftler und Autor, Privatdozent an der Universität Greifswald, ausgezeichnet u. a. mit dem Wolf-Erich-Kellner-Preis, Autor von Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Martin Hein, evangelischer Theologe und Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Mitglied des Rates für Digitalethik der Hessischen Landesregierung, Mitherausgeber der Zeitschrift für Theologie und Kirche, Autor von Theologie in der Gesellschaft. Aufsätze zur öffentlichen Verantwortung der Kirche. Christian Hillgruber, Jurist und Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Direktor des Instituts für Kirchenrecht
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und Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, Autor von Die lutherische Reformation und der Staat. Peter Hoeres, Historiker und Professor für Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Autor von Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ. Vittorio Hösle, Philosoph und Paul Kimball Professor of Arts and Letters der University of Notre Dame, USA, Direktor des Notre Dame Institute for Advanced Study, ausgezeichnet u. a. mit dem Fritz-Winter-Preis, Autor von Globale Fliehkräfte? Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Marion Horn, Journalistin und Chefredakteurin der Bild am Sonntag, ausgezeichnet mit einem LeadAwards in der Sparte „Zeitung überregional“. Yehuda Aharon Horovitz, Münchner Gemeinderabbiner, arbeitet zur Zeit an einem Dissertationsprojekt über den Einfluss der „Chassidut Aschkenas“ auf das deutsche Judentum. Dirk Ippen, Zeitungsverleger, zur Ippen-Verlagsgruppe gehören u. a. der Münchner Merkur, die Tageszeitung, die Hessische/Niedersächsische Allgemeine, der Westfälische Anzeiger, die Frankfurter Rundschau und die Offenbach Post. Bernd Irlenborn, Professor für Geschichte der Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Autor von Relativismus. Lorenz Jäger, Soziologe, Germanist und Journalist, u. a. Visiting Fellow am German Studies Department der Stanford University, USA, ehem. Redakteur und Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften der FAZ, Kolumnist der FAS, Autor von Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten. Hans Joas, Soziologe und Sozialphilosoph, Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Professor für Soziologie an der Universität Chicago, USA, ehem. Leiter des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt, ausgezeichnet u. a. mit dem Max-Planck-Forschungspreis, Autor von Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Josef Joffe, Publizist und Buchautor, Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, Dozent u. a. in Stanford und Harvard, USA, ausgezeichnet u. a. mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik, Autor von Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß. Der jüdische Humor als Weisheit, Witz und Waffe. Jürgen Kaube, Volkswirt und Soziologe, Feuilletonist und Herausgeber der FAZ, Lehrbeauftragter am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, u. a. Ludwig-Börne-Preisträger, Autor von Max Weber – Ein Leben zwischen den Epochen.
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Peter Graf Kielmansegg, Politikwissenschaftler und Professor em. an der Universität Mannheim, von 2003 – 2009 Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, ausgezeichnet u. a. mit dem Sigmund-Freud-Preis und Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, Autor von Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte. Diana Kinnert, Unternehmerin, Autorin, Politik-Influencerin und Kolumnistin der Wochenzeitung Die Zeit, Autorin von Für die Zukunft seh’ ich schwarz. Paul Kirchhof, Jurist, Publizist und Professor für Öffentliches Recht und Steuerrecht der Universität Heidelberg, ehem. Richter des Bundesverfassungsgerichts, Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, u. a. Ludwig-Erhard-Preisträger, Autor von Beherzte Freiheit. Jürgen Kocka, Sozialhistoriker und Professor em. für die Geschichte der industriellen Welt an der FU Berlin, Lehrbeauftragter u. a. an der EHESS, Paris und Standford, USA, Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, u. a. Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preisträger, Autor von Capitalism. A Short History. Klaus-M. Kodalle, Professor em. für Praktische Philosophie und Religionsphilosophie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Autor von Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. Winfried Kretschmann, Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, ausgezeichnet u. a. mit dem SignsAward für Glaubwürdigkeit in der Kommunikation, Autor von Worauf wir uns verlassen wollen: Für eine neue Idee des Konservativen. Michael Kühnlein, Universitätsdozent für Philosophie und Politische Theorie an den Universitäten in Frankfurt/M. und Heidelberg, Autor von Wer hat Angst vor Gott? Über Religion und Politik im postfaktischen Zeitalter. Simone Lange, SPD-Politikerin und Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, Mitbegründerin der linken Sammlungsbewegung aufstehen. Armin Laschet, CDU-Politiker und Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Autor von Die Aufsteigerrepublik. Zuwanderung als Chance. Vera Lengsfeld, Publizistin und Bürgerrechtlerin in der DDR, ehem. Mitglied des Bundestages und Kolumnistin u. a. des Blogs Achse des Guten, ausgezeichnet u. a. mit dem Aachener Friedenspreis, Autorin von 1989: Tagebuch der Friedlichen Revolution. Jörn Leonhard, Historiker und Professor für Neuere und Neuester Geschichte Westeuropas an der Universität Freiburg, Mitglied u. a. der Heidelberger Akademie
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der Wissenschaften, Preisträger u. a. von Geisteswissenschaften International, Autor von Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. Hartmut Leppin, Professor für Alte Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Leibniz-Preisträger, Autor von Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Juristin und FDP-Politikerin, ehem. Bundesministerin der Justiz, Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, ausgezeichnet u. a. mit der Bayerische Verfassungsmedaille, Autorin von Angst essen Freiheit auf. Warum wir unsere Grundrechte schützen müssen. Hermann Lübbe, Professor em. für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich, ehem. Staatssekretär im Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen, ausgezeichnet u. a. mit dem Ernst-Curtius-Preis für Essayistik, Autor von Zivilisationsdynamik: Ernüchterter Fortschritt politisch und kulturell. Hans Maier, Politikwissenschaftler, Publizist und ehem. Bayerischer Kultusminister, Guardini-Lehrstuhlinhaber für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der LMU München, Mitherausgeber der Wochenzeitung Rheinischer Merkur, ausgezeichnet u. a. mit dem Dolf-Sternberger-Preis, Autor von Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff. Aiman A. Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Arabist und Politikwissenschaftler, Mitbegründer von Grünhelme e.V., Redakteur des Webportals islam.de, Integrationspreisträger der Europäischen Gesellschaft Diaphania, Autor von Was machen Muslime an Weihnachten? Klaus Mertes SJ, Autor und Chefredakteur; ehem. Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg Berlin, seit 2011 Direktor des Kollegs St. Blasien, Autor von Verlorenes Vertrauen. Katholisch Sein in der Krise. Thomas Middelhoff, Betriebswirt und ehem. Manager und Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann AG und der Arcandor AG, ausgezeichnet mit dem Vernon A. Walter Award, Autor von A115 – Der Sturz. Mike Mohring, Jurist (Master of Laws), Landesvorsitzender der CDU Thüringen, seit 1999 Mitglied des Thüringer Landtags und seit 2008 Vorsitzender der CDULandtagsfraktion. Hugo Müller-Vogg, Journalist und ehemaliger Herausgeber der FAZ, Verfasser zahlreicher Kolumnen, Autor von: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient! Warum die große Koalition keine großen Ziele verfolgt. Jean-Luc Nancy, Philosoph und Professor für Philosophie an der Université Marc Bloch in Straßburg, Gastprofessor u. a. in Berlin, Inhaber der Albertus-Magnus-Professur 2006, Autor von Banalität Heideggers.
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Eckhart Nickel, Schriftsteller und Journalist, regelmäßige Veröffentlichungen u. a. in der FAZ, ausgezeichnet u. a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis, Autor von Hysteria. Heinrich Oberreuter, Politikwissenschaftler und Autor in verschiedenen Zeitungen, Professor em. an der Universität Passau, ehem. Direktor der Akademie für Politische Bildung, ausgezeichnet u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz, Autor von Republikanische Demokratie. Der Verfassungsstaat im Wandel. Claus Offe, Soziologe und Politikwissenschaftler, Professor em. für Politische Soziologie an der Humboldt Universität in Berlin und Prof. em. der Hertie School of Governance, Theodor-Eschenburg-Preisträger, Autor von Europa in der Falle. Thomas Oppermann, SPD-Politiker und Jurist, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Vorstand der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, Mitautor von Fagus Benscheidt Gropius. Wege in die ästhetische und sozial Moderne. Henning Ottmann, Philosoph und Professor em. für Politische Theorie und Philosophie an der LMU in München, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Mitherausgeber des Philosophischen Jahrbuchs, Autor u. a. von Geschichte des politischen Denkens von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Cem Özdemir, Dipl.-Sozialpädagoge, Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen, ehem. Bundesvorsitzender, Gründungsmitglied von European Council on Foreign Relations, ausgezeichnet u. a. mit der Theodor-Heuss-Medaille, Autor von Die Türkei – Politik, Religion, Kultur. Werner J. Patzelt, Politikwissenschaftler und Professor em. für Politische Systeme an der TU Dresden, Politikblogger und Redakteur der Zeitschrift für Parlamentsfragen, ausgezeichnet u. a. mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages, Autor von CDU, AfD und die politische Torheit. Petra Pau, Politikerin der Partei DIE LINKE und Dipl.-Gesellschaftswissenschaftlerin, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages sowie der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, Autorin von Gottlose Type. Meine unfrisierten Erinnerungen. Herlinde Pauer-Studer, Philosophin und Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Wien, ausgezeichnet u. a. mit dem ERC Advanced Grant, Mitautorin von „Weil ich nun mal Gerechtigkeitsfanatiker bin“. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen. Uwe Paulsen, pensionierter Studiendirektor an einem humanistischen Gymnasium, Politiker der Grünen und Mitglied der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung.
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Annemarie Pieper, Philosophin und Professorin em. für Philosophie an der Universität Basel, Rundfunk- und Fernsehmoderatorin, Mitherausgeberin der Briefe Friedrich Nietzsches, Autorin von Einführung in die Ethik. Hans Pleschinski, Autor und Übersetzer, freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, Mitglied des Ordres des Arts et des Lettres, Leiter der Abt. Literatur der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, ausgezeichnet u. a. mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, Autor von Wiesenstein. Iris Radisch, Literaturkritikerin sowie Philosophin und Germanistin, Leiterin des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit, Gastprofessorin u. a. an der Saint Louis University, Fernsehmoderatorin und ehem. Leiterin des Literaturclubs, ausgezeichnet u. a. mit dem Ordre des Arts et des Lettres, Autorin von Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben. Von Sartre bis Houellebecq. Bodo Ramelow, Politiker der Partei DIE LINKE, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen und ehem. Gewerkschafter, Herausgeber u. a. von Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen: wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen. Bernd Roeck, Historiker und Professor em. für Geschichte an der Universität Zürich, Vorsitzender des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, ehem. Generalsekretär des italienisch-deutschen Zentrums Villa Vigoni, ausgezeichnet u. a. mit der Warburg-Professur der Warburg-Stiftung Hamburg, Autor von Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte. Thilo Sarrazin, Volkswirt und Autor, ehem. Berliner Senator für Finanzen und Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, Autor von Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. Tilo Schabert, Politikwissenschaftler und Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg, Gastprofessor u. a. in Beijing, ausgezeichnet u. a. mit dem Deutsch-Französischen Parlamentspreis, Autor u. a. von Das Gesicht der Moderne. Zur Irregularität eines Zeitalters. Wolfgang Schäuble, Jurist und CDU-Politiker, Präsident des Deutschen Bundestages und ehem. Innen- und Finanzminister, Initiator der Deutschen Islamkonferenz, ausgezeichnet u. a. mit dem Karlspreis und dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern, Autor von Braucht unsere Gesellschaft Religion? Vom Wert des Glaubens. Rolf Schieder, Theologe und Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Herausgeber u. a. der Berliner Reden zur Religionspolitik, Autor von Sind Religionen gefährlich? Religionsphilosophische Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Dagmar Schipanski, Physikerin und Professorin em. für Festkörperelektronik an der TU Ilmenau, CDU-Politikerin und Mitglied des Bundesvorstands der CDU, Bundespräsidentschaftskandidatin 1999, ehem. Präsidentin des Thüringer
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Landtages, u. a. Hans-Olaf-Henkel-Preisträgerin, Mitherausgeberin u. a. von Dreißig Thesen zur Deutschen Einheit. Dieter Schönecker, Philosoph und Professor für Praktische Philosophie an der Universität Siegen, ausgezeichnet u. a. mit dem Initiativpreis Deutsche Sprache, Mitherausgeber der Reihe Einführungen Philosophie, Mitautor von Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals. A Commentary Susanne Schröter, Professorin und Direktorin des Instituts für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt/M., Vorstandsmitglied des Deutschen-Orient-Instituts, Autorin von Politischer Islam: Stresstest für Deutschland. Katharina Schulze, Politikwissenschaftlerin und Politikerin der Partei Bündnis 90/ Die Grünen, Mitglied des Bayerischen Landtags sowie Fraktionsvorsitzende der Grünen. Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und ehem. Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, SPD-Politikerin und Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, Bundespräsidentschaftskandidatin 2004 und 2009, ausgezeichnet u. a. mit dem Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung, Mitautorin von Woraus wir leben. Das Persönliche und das Politische. Michael Seewald, Theologe und Priester, Professor für Dogmatik an der Universität Münster, Gastprofessor am Saint John’s Seminary in Boston, USA, ausgezeichnet u. a. mit dem Heinz-Maier-Leibniz-Preis, Autor von Reform. Dieselbe Kirche anders denken. Wolf Singer, Neurophysiologe und Hirnforscher, Direktor der Abteilung Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/M. sowie Mitbegründer des Frankfurt Institute for Advanced Studies, ausgezeichnet u. a. mit dem Hessischen Kulturpreis, Mitautor von Jenseits des Selbst: Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch. Jens Spahn, CDU-Politiker und Bundesminister für Gesundheit, Politikwissenschaftler und Kurator für die AIDS-Stiftung, Herausgeber u. a. des Bandes Ins Offene. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Wolfgang Stahl, Rechtsanwalt und Strafverteidiger, u. a. Pflichtverteidiger von Beate Zschäpe im NSU-Prozess, Mitautor im Münchner Anwaltshandbuch. Bernd Stegemann, Dramaturg und Autor, Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Vorsitzender des Vereins Aufstehen, Mitherausgeber der Reihe Lektionen, Autor von Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie.
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Ralf Stegner, SPD-Politiker und Politikwissenschaftler, stellvertretender SPD-Vorsitzender und Fraktionsvorsitzender der SPD Schleswig-Holstein, Autor von Die Bundesrepublik Deutschland Staatshandbuch, Schleswig-Holstein. Tine Stein, Politikwissenschaftlerin und Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Göttingen, Autorin von Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaats. Thomas Sternberg, Germanist und Theologe, CDU-Politiker und ehem. Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Jacqueline Straub, katholische Theologin, Journalistin und Buchautorin, von der BBC auf die Liste der „BBC 100 Woman 2018“ gesetzt, Autorin von Jung, katholisch, weiblich. Weshalb ich Priesterin werden will. Rita Süssmuth, CDU-Politikerin und Professorin für Erziehungswissenschaften an den Universitäten Bochum und Dortmund, ehem. Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit und Präsidentin a.D. des Deutschen Bundestags, seit 2017 Mitglied des World Refugee Councils zur Verbesserung der weltweiten Flüchtlingsbewegungen. Uwe Tellkamp, Schriftsteller und Mediziner, Essayist sowie Verfasser zahlreicher Beiträge in Literaturzeitschriften, ausgezeichnet u. a. mit dem Ingeborg-BachmannPreis, Autor von Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Bruder Paulus Terwitte, Theologe und Philosoph, Ordenspriester, Moderator und Autor, Guardian des Kapuzinerklosters Liebfrauen in Frankfurt/Main und Vorstand der Franziskustreff-Stiftung, ausgezeichnet mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt, Autor von Das Leben findet heute statt! Ein Anschlag auf die Vertröstungsgesellschaft. Bassam Tibi, Sozialwissenschaftler und Philosoph, Professor em. für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen, Gründungsmitglied der Arabischen Organisation für Menschenrechte, Gastautor der NZZ, ausgezeichnet u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, Autor von Islamische Zuwanderung und ihre Folgen: Der neue Antisemitismus. Jürgen Trittin, Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Dipl.-Sozialwirt und ehem. Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, ehem. Vorsitzender der Bundesfraktion der Grünen, Autor von Stillstand made in Germany: Ein anderes Land ist möglich! Christoph Türcke, Philosoph und Theologe, Professor em. für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, Autor in der Wochenzeitung Die Zeit, Sigmund-Freud-Preisträger, Autor von Digitale Gesellschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft.
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Stefan Vesper, Religionspädagoge, Generalsekretär und Geschäftsführer des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Autor von Suche Frieden. Menschen erzählen von einer Sehnsucht, die nie aufhört. Sahra Wagenknecht, Politikerin der Partei DIE LINKE, Philosophin und Publizistin, Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Gründerin der Sammlungsbewegung aufstehen, Autorin von Couragiert gegen den Strom. Über Goethe, die Macht und die Zukunft. Stephan Weil, SPD-Politiker und Ministerpräsident von Niedersachsen, Jurist und ehem. Richter und Staatsanwalt, Vorsitzender der SPD-Niedersachsen. Jean-Pierre Wils, Philosoph und Theologe, Professor für Praktische Philosophie an der Radboud Universität Nijmegen, Autor von Kunst. Religion. Rainer Maria Kardinal Woelki, Kardinal und Erzbischof von Köln, Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz, Präsident des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande, Verleihung der Ehrendoktorwürde für das Engagement in der Flüchtlingsarbeit der Sophia-Universität in Tokio. Notker Wolf OSB, Theologe und Philosoph, ehem. Abtprimas der benediktinischen Konföderation, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, ausgezeichnet u. a. mit der Ludwig-Erhard-Medaille, Mitautor von Das Unmögliche denken, das Mögliche wagen. Visionen für eine bessere Zukunft. Birgitta Wolff, Wirtschaftswissenschaftlerin, CDU-Politikerin und Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Goethe-Universität, ehem. Kultusministerin des Landes Sachsen-Anhalt und Landesministerin für Wissenschaft und Wirtschaft, Mitautorin von Einführung in die Personalökonomik. Ansgar Wucherpfennig SJ, Theologe, Priester und Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, Rektor der PTH Sankt Georgen und Mitherausgeber der Frankfurter Theologischen Studien, Autor von Josef der Gerechte. Eine exegetische Untersuchung zu Matthäus 1 – 2. Barbara Zehnpfennig, Politikwissenschaftlerin und Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau, Gründungsmitglied des Bayerischen Zentrums für Politische Theorie, Autorin von Adolf Hitler: Mein Kampf. Weltanschauung und Programm. Igor Zeller, Kirchenmusiker und Kantor in einer Hamburger Gemeinde, Mitglied der 12. Synode der EKD Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland.