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German Pages [646] Year 2015
650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert
Band 4
Hrsg. von Friedrich Stadler im Namen der »Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« und des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« (Katharina Kniefacz und Herbert Posch) International Scientific Board: Walter Rüegg (Universität Bern), Ehrenvorsitz; Gary B. Cohen (University of Minnesota); Pieter Dhondt (University of Eastern Finland); Mordechai Feingold (California Institute of Technology); Tibor Frank (Eötvös-Lornd-Universität Budapest); Maria Carla Galavotti (Universität Bologna); Michael Grüttner (Technische Universität Berlin); Konrad H. Jarausch (University of North Carolina); Trude Maurer (Universität Göttingen); Brigitte Mazohl (Universität Innsbruck); Sylvia Paletschek (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg); Ada Pellert (Deutsche Universität für Weiterbildung Berlin); Jirˇ Pesˇek (Karls-Universität Prag); Sheldon Rothblatt (University of California); Rudolf Stichweh (Universität Luzern/ Universität Bonn); Sonˇa Sˇtrbn´ov (Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik); Lszlû Szögi (Eötvös-Lornd-Universität Budapest); Heinz-Elmar Tenorth (Humboldt Universität Berlin)
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Karl Anton Fröschl / Gerd B. Müller / Thomas Olechowski / Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.)
Reflexive Innensichten aus der Universität Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik
Mit 3 Abbildungen
V& R unipress Vienna University Press
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0415-5 Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Nationalbank und des Rektorats der Universität Wien. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Unter Verwendung einer Fotografie von Hertha Hurnaus, Arkadenhof im Hauptgebäude der Universität Wien mit »Der Muse reicht’s« von Iris Andraschek (2009), »zur Erinnerung an die nicht stattgefundenen Ehrungen von Wissenschafterinnen und an das Versäumnis, deren Leistungen an der Universität Wien zu würdigen«. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Geleitwort des Rektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Anton Fröschl, Gerd B. Müller, Thomas Olechowski und Brigitta Schmidt-Lauber Reflexive Innensichten aus der Universität – eine Einleitung . . . . . . .
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Christoph Gnant Der lange Weg zur Autonomie: Die Organisation der Universität Wien und das Universitätsgesetz 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Dynamiken der Institutionalisierung Margit Berner, Anita Dick, Julia Gohm-Lezuo, Sarah Kwiatkowski, Katarina Matiasek, David Mihola und Harald Wilfing Wiener Anthropologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Wolfgang Duchkowitsch und Hannes Haas (†) Die Überwindung vieler schwerer Bürden in langer Zeit – Kennzeichen des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft . . . . .
55
Tamara Ehs und Thomas König Von der Staats- zur Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Karl A. Fröschl und Günter Haring Informatik: am Anfang war der Rechner …
. . . . . . . . . . . . . . . .
85
Christa Hämmerle und Gabriella Hauch »Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden …« Zur Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Stefan Hulfeld und Birgit Peter Die Entwicklung der Theaterwissenschaft an der Universität Wien seit ihrer Institutionalisierung 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Tanja Jenni und Raphael Rosenberg Die Analyse der Objekte und das Studium der Quellen – Wiens Beitrag zur Etablierung einer universitären Kunstgeschichte . . . . . . . . . . . . 121 Hanna Mayer Pflegewissenschaft – Über die Etablierung einer neuen Disziplin an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Rudolf Müllner und Otmar Weiß Von der Turnlehrerausbildung zur Sportwissenschaft . . . . . . . . . . . 149 Gilbert Norden, Christoph Reinprecht und Ulrike Froschauer Frühe Reife, späte Etablierung: Zur diskontinuierlichen Institutionalisierung der Soziologie an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Oliver Rathkolb Zeit- und Gegenwartsgeschichte und die Mühen der Institutionalisierung auf Fakultätsebene nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Wolfgang L. Reiter Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Robert Rosner und Rudolf Werner Soukup Die chemischen Institute der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . 211 Birgit Sauer und Eva Flicker Modernisierung der Universität Wien? – Sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis
. 225
Mary Snell-Hornby und Gerhard Budin Translationswissenschaft in Wien – Zur Pionierrolle einer altehrwürdigen Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Inhalt
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Maria Wirth Die molekularen Biowissenschaften der Universitäten am Campus Vienna Biocenter und die Gründung der Max F. Perutz Laboratories . . . 253
II. Disziplinäre Paradigmen im Wandel Gerhard Benetka und Thomas Slunecko Desorientierung und Reorientierung – Zum Werden des Faches Psychologie in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Friedrich Ehrendorfer, Michael Hesse und Michael Kiehn Botanik und Biodiversitätsforschung am Standort Rennweg der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Elisabeth Grabenweger Germanistik an der Universität Wien – Zur wissenschaftlichen und politischen Geschichte des Faches von 1848 bis in die 1960er Jahre . . . . 297 Gernot Heiss Zwischen Wissenschaft und Ideologieproduktion – Geschichte an der Universität Wien 1848 bis 1965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Rupert Klieber Die (Katholisch-)Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014: Von der Theologenschmiede Mitteleuropas zur Wiener Hauslehranstalt und retour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Karl Milford Zur Entwicklung der Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien von 1763 bis 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Gerd B. Müller und Hans Nemeschkal Zoologie im Hauch der Moderne: Vom Typus zum offenen System . . . . 355 Herbert Nikitsch und Brigitta Schmidt-Lauber Europäische Ethnologie an der Universität Wien – Zur Entwicklung einer empirischen Kulturwissenschaft im (hochschul-)politischen Kontext . . 371 Richard Olechowski Zwei Forschungsparadigmen in der Pädagogik: der »transzendentalkritische« und der »empirische« Ansatz . . . . . . . . . . 385
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Inhalt
Thomas Olechowski Jurisprudenz oder Rechtswissenschaft? – Zur Entwicklung des wissenschaftlichen Leitbildes der juristischen Fakultät der Universität Wien seit 1852 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Thomas Posch Zur Geschichte der Astronomie an der Universität Wien
. . . . . . . . . 417
Fritz Schiemer, Georg Grabherr, Marianne Popp und Jörg Ott Wege zu einer synoptischen Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Karl W. Schwarz »Zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich«: Die Evangelisch-Theologische Fakultät in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Karl Sigmund Mathematik an der Universität Wien
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Friedrich Stadler Philosophie – Konturen eines Faches an der Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Timothy Taylor und Claudia Theune Touching the Past – Archäologie und Urgeschichte in Wien seit 1892
. . 489
III. Wissenschaften zwischen Politik und Gesellschaft Clemens Gütl Das Institut für Ägyptologie und Afrikanistik im Schnittfeld von Wissenschaft und Politik 1923 – 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Christina Köstner-Pemsel und Markus Stumpf Ein Spiegelbild machtpolitischer Umbrüche – Die Universitätsbibliothek Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Gerhard Langer Erinnern – Aufklären – Bilden: Von der Aufgabe einer Erinnerungskultur am Beispiel eines Instituts für Judaistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
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Inhalt
Ramon Pils Disziplinierung eines Faches: Zur Englischen Philologie in Wien im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Claudia Rapp Die Entstehungsgeschichte der Byzantinistik in Wien – Das Fremde im Eigenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Franz Römer, Sonja Schreiner und Herbert Bannert Klassische Philologen im Spannungsfeld von Bildung und Gesellschaft – Vertreter alter Fächer als »Trendsetter« 1849 – 2015 . . . . . . . . . . . . 563 Hadwiga Schörner Äußerer Zwang und innerer Antrieb: Die Dynamik des Faches Klassische Archäologie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . 575 Maria A. Stassinopoulou Wohin mit den neuen Griechen? – Fachareale der Neogräzistik in Wien . 587 Kamila Staudigl-Ciechowicz Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1933 – 1945 Abstracts
. . 595
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
Geleitwort des Rektors
Der vorliegende »Fakultätenband« – Reflexive Innensichten aus der Universität. Wiener Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik – schließt die anlässlich des Gründungsjubiläums der Universität Wien 2015 von Friedrich Stadler und dem Forum Zeitgeschichte der Universität Wien herausgegebene vierbändige Universitätsgeschichte »650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert« ab, mit einem kritischen Blick auf die disziplinen- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Universität Wien im hier so genannten »langen 20. Jahrhundert«. Darunter ist schwerpunktartig der Zeitraum ab dem Revolutionsjahr 1848 bis zur Gegenwart zu verstehen. Dieser Abschnitt in der Geschichte der Universität Wien umfasst bedeutende Zeiten der Forschung und Lehre. Es entstanden wissenschaftliche Schulen, deren herausragende Leistungen bis heute mit der Universität Wien in Verbindung gebracht werden. Folgenreiche Zäsuren waren die beiden Weltkriege 1914 – 18 und 1939 – 45. Die katastrophalen Kriege des langen 20. Jahrhunderts, auch die Zeiten davor und danach, waren Perioden extremer politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Universitäten waren immer schon ein Ort weltanschaulicher und politisch geprägter Auseinandersetzungen. An der Universität Wien nahmen diese gegen Ende der Monarchie und in der Zwischenkriegszeit radikale Formen an: Es folgten Zeiten des vielfachen Unrechts, wobei sowohl Lehrende wie auch Studierende als Täter aufscheinen. Das Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938 listet 234 Namen von der Aberkennung akademischer Grade Betroffener, rund 1770 Namen vertriebener Studierender und rund 200 Namen von vertriebenen DozentInnen und ProfessorInnen. Unter den vertriebenen Studierenden und Lehrenden befindet sich eine Reihe Verfolgter, die in der Shoah ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden. Den Herausgebern/der Herausgeberin Karl Anton Fröschl, Gerd Müller, Thomas Olechowski und Brigitta Schmidt-Lauber gelingt es, mittels einer themenreichen und vielstimmigen Sammlung differenzierter Essays die dynamische Entwicklung der einzelnen Fakultäten, Institute und Disziplinen der Uni-
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Heinz W. Engl
versität Wien über den genannten Zeitraum im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik vor dem Hintergrund der universitätsgeschichtlichen Abläufe plastisch zu präsentieren. Der Band vermittelt seinen Leserinnen und Lesern einen spannenden Einblick in die – keineswegs vollständige – Entwicklungsgeschichte und Praxis der Fächer an der Alma mater Rudolphina Vindobonensis. Allen, die durch ihre Beiträge und durch ihre Mitarbeit zur Verwirklichung dieses Publikationsprojektes beigetragen haben, sei für ihr Engagement sehr herzlich gedankt. Die größte Zäsur im Verhältnis zwischen Universität und Staat seit den Staatsreformen des 18. Jahrhunderts war die Umwandlung der Universitäten in vollrechtsfähige Körperschaften öffentlichen Rechts durch das Universitätsgesetz 2002 (UG 2002), das 2004 in Kraft trat. Zur gleichen Zeit erfolgte nach rund 640 Jahren der Zugehörigkeit zur Universität Wien und der gemeinsamen Entwicklung die Ausgliederung der Medizinischen Fakultät und deren Neugründung als Medizinische Universität Wien. Die lange Geschichte der bedeutenden und großen Medizinischen Fakultät ist in diesem Band nicht explizit ausgeführt. Die Beziehungen zwischen den beiden Universitäten sind jedoch weiterhin eng, vor allem in der Forschung insbesondere an den gemeinsam betriebenen »Max F. Perutz-Laboratorien für Molekulare Biologie« am Campus Vienna Biocenter. Die Universität Wien ist die größte Hochschule im deutschen Sprachraum. Einige Zahlen mögen das zunächst kontinuierliche, in der letzten Zeit starke Wachstum illustrieren: 1848 hatte die Universität Wien in den vier »klassischen« Fakultäten der (Katholischen) Theologie, Rechtswissenschaften, Medizin und Philosophie 46 Professoren, rund 50 Jahre später, 1898, waren es bereits 162 Professoren, wobei der Zuwachs in der Medizin und den philosophischen Fächern am stärksten war. Heute ist die Universität Wien nicht mehr in vier Fakultäten, sondern in 15 Fakultäten und 4 Zentren gegliedert, und die Zahl der ProfessorInnen liegt (inzwischen ohne Medizin) bei rund 420. Ein umfassenderes Bild der aktuellen wissenschaftlichen Personalstruktur ergeben die nachstehenden Kategorien und (gerundeten) Zahlen: wissenschaftliches und künstlerisches Personal: 6.900; darin enthalten sind neben den Drittmittelfinanzierten wissenschaftlichen MitarbeiterInnen die genannten 420 ProfessorInnen, 320 ao. ProfessorInnen und 55 InhaberInnen der neugeschaffenen »Laufbahnstellen«. Das Allgemeine Personal umfasst insgesamt rund 3.000 MitarbeiterInnen. Ein ähnliches, in letzter Zeit sogar deutlich stärkeres Wachstum lässt sich bei der Zahl der Studierenden feststellen: Im Studienjahr 1848/49 gab es 929 ordentliche Hörer. Im Jahr der Eröffnung des neuen Hauptgebäudes am Ring, 1884, waren an der Universität Wien 5.249 Studierende inskribiert. Von 1965, dem Jahr des 600. Gründungsjubiläums, über das Jahr 2006 bis zum WS 2013/14 stieg die Zahl der ordentlichen Studierenden von 17.271 über 67.371 auf rund
Geleitwort des Rektors
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92.000. Bei den Letztgenannten kommt etwa ein Viertel aus dem Ausland. Frauen wurden erst ab 1897 zum Studium an der Universität Wien zugelassen, die erste Habilitation einer Frau erfolgte 1907 (Elise Richter), die erste Professorin wurde mit der Physikerin Berta Karlik erst 1956 berufen. Heute beträgt der Frauenanteil rund 65 % der Studierenden, unter den AbsolventInnen ist er sogar 70 %. Der Anteil der Frauen der DoktoratsabsolventInnen beträgt 56 %. Der Anteil der Frauen bei den ProfessorInnen liegt bei 28 %; dagegen sind es bereits 40 % Frauen der in den Jahren 2011 bis 2013 an die Universität Neuberufenen. Die Universität Wien versteht sich heute als internationale, globale Universität. Sie zeichnet sich durch ihr breites Fächerspektrum und die damit verbundene Möglichkeit der interdisziplinären Forschung und Lehre aus sowie durch ihre attraktiven Lehrangebote und durch Forschungsleistungen, die trotz knapper Finanzierung höchsten internationalen Standards gerecht werden. Mit ihren fast 10.000 MitarbeiterInnen ist sie eine der größten ArbeitgeberInnen der Region. Die durch sie ausgelöste Wertschöpfung am Standort Wien beträgt rund 1,1 Milliarden Euro pro Jahr. Die Universität Wien ist ein bedeutender, weit über die Region hinaus wirkender Innovationsmotor. Sie will das Jubiläumsjahr 2015 nutzen, den Wert und die Bedeutung der anwendungsoffenen Grundlagenforschung und der forschungsgeleiteten Lehre für die zukünftige wissenschaftliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Dazu leistet dieser der Entwicklung der Fakultäten gewidmete Band zwischen kritischem Rückblick und reflexivem Ausblick einen wichtigen Beitrag. Wien, im März 2015
Heinz W. Engl Rektor der Universität Wien
Karl Anton Fröschl, Gerd B. Müller, Thomas Olechowski und Brigitta Schmidt-Lauber
Reflexive Innensichten aus der Universität – eine Einleitung Es ist unmöglich, eine Institution ohne den historischen Prozeß, der sie heraufgebracht hat, zu begreifen. [Berger/Luckmann 1966]
Das Jahr 2015 nimmt die Universität Wien zum Anlass, ein besonderes Ereignis der Institutionen-, Wissenschafts- und Stadtgeschichte zu begehen: die Gründung der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis durch Herzog Rudolf IV. am 12. März 1365. Die heute größte Universität im deutschen Sprachraum, die in diesem Jahr ihr 650-jähriges Bestehen feiert, präsentiert sich damit als eine der ältesten Europas. Jubiläen bieten Gelegenheit zur Reflexion und Selbstreflexion. In einer Gesellschaft, in der die Referenz auf »Geschichte« – zumal auf eine »lange Geschichte« – auf individueller wie institutioneller, symbolischer wie materieller Ebene bedeutsam ist, kommt ihnen besonders große Relevanz zu. Entsprechend manifestiert sich die Jubiläumsgestaltung »650 Jahre Universität Wien« in einem breiten Programm und einer Vielzahl an Aktivitäten, über die sich die Alma Mater Rudolphina nach innen und außen präsentiert und damit absichtsvolle Beiträge zur gesellschaftlichen Selbstpositionierung leistet. Neben Empfängen, Konferenzen und Tagungen, Ausstellungen, Sportveranstaltungen und Forschungspräsentationen wurde auch eine Vielzahl von Publikationen initiiert, die sich der Befragung der Vergangenheit und Gegenwart der Universität Wien widmet. Als eine dieser Initiativen konstituierte sich im September 2010 eine von Friedrich Stadler geleitete »Universitäre Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte«, bestehend aus neun historisch arbeitenden Wissenschafterinnen und Wissenschaftern. Dieser Kommission wurde ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite gestellt, in den die einzelnen Fakultäten und sonstigen Organisationseinheiten der Universität jeweils einen oder mehrere Vertreterinnen oder Vertreter entsandten. Aus diesen Arbeitskontexten erwuchs im März 2012 das Konzept einer vierbändigen Jubiläumsreihe. Dieses sollte neben thematisch gegliederten Sammelbänden, die die Universität insgesamt behandeln, auch einen Band zur Geschichte der Fakultäten, Zentren, Departments und sonstigen Einrichtungen beinhalten. Die Ver-
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Karl Anton Fröschl et al.
antwortlichkeit wurde jeweils einem Herausgeber-Team überantwortet. Allen Bänden gemeinsam sollte die zeitliche Eingrenzung auf das »lange 20. Jahrhundert« sein, welches einen Zeitraum umfasst, der von der – bis heute nachwirkenden – Universitätsreform des Leo Graf Thun-Hohenstein ab 1849 bis zur Universitätsreform der letzten Jahrtausendwende reicht. Der vorliegende Band hat die Aufgabe, sich kritisch mit der Disziplin- und Wissenschaftsgeschichte am Beispiel unterschiedlicher Fächer und Einrichtungen der Universität Wien auseinanderzusetzen und die Bedingtheiten und Wirkungen wissenschaftlichen Handelns sowie disziplinären »Wissens« zu dechiffrieren. Das Jubiläum wird mithin nicht zum Anlass genommen, eine Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte der Universität Wien bzw. ihrer Fächer(-vielfalt) zu schreiben, sondern es sollen – der Aufforderung zur Selbstreflexion folgend – über den historischen Blick auf Wissenschaft und ihre Einrichtungen die Prozessualität universitärer Strukturen und disziplinärer Perspektiven sowie ihre Dynamiken deutlich werden. Die Intention des Bandes liegt somit darin, Universität – konkret: die Universität Wien – als lebendige, gleichermaßen zukunftsoffene wie geschichtsgeprägte Institution zu reflektieren, deren Binnenstrukturierung in Disziplinen und Institutionen sich intellektuell wie organisatorisch in Auseinandersetzung mit ihren vielfältigen »Umwelten« sowie durch konkrete Akteure unter spezifischen Bedingungen stets neu formt und verändert. Gemäß diesem Anliegen ergibt sich das editorielle Leitkonzept des vorliegenden Bandes als Darstellung und Reflexion disziplinärer Dynamiken an der Universität Wien in ihren vielfältigen Kontexten und Bedingtheiten. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Zäsuren, Schub- und Zugkräften, den Kontingenzen und Wechselwirkungen intra- und extramuraler Bedingtheiten, aus denen heraus die historischen Entwicklungsverläufe in ihrer jeweiligen Spezifik nachgezeichnet und verständlich gemacht werden können. Entlang der verbindenden Theoriefigur der Selbstorganisation von Wissenschaft im Sinne von Krohn und Küppers (1989) als grundlegendes »Wirkprinzip« wird anhand eines breiten Portfolios an Einzelbeiträgen die Vielfalt der universitas in ihrer Wandlungsfähigkeit – freilich aber nur selektiv und in gewisser Weise auch willkürlich – veranschaulicht. Von den übrigen Bänden der Reihe unterscheidet sich das vorliegende Buch somit in mehrfacher Hinsicht: Haben jene die Universität als Ganzes zum Gegenstand, beschäftigt dieses sich mit einzelnen Wissenschaften und Disziplinen. Ein weiterer Unterschied liegt in der Autorenschaft der einzelnen Beiträge: Sie wurden in diesem Fall nicht vorwiegend von Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern verfasst, sondern zum allergrößten Teil durch Autorinnen und Autoren der jeweiligen Fächer, von denen die meisten selten bzw. gar nicht historisch arbeiten. Zudem kam die Auswahl an Fächern und Texten dieses Bandes nicht über gezielte Auftragserteilung zustande; vielmehr bildete ein
Reflexive Innensichten aus der Universität – eine Einleitung
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»call« um Beitragsvorschläge im Februar 2013 den Ausgangspunkt, aus dem das vorliegende Compendium erwuchs. Diese Einwerbung von Beiträgen sollte eine Pluralität der Perspektiven hervorbringen und einen größtmöglichen Raum in der Themenwahl eröffnen, die lediglich eingegrenzt war in der Aufforderung, Fragen der Institutionalisierung der je eigenen Disziplin bzw. deren zeitlichem Wandel sowie (internen wie externen) Strukturierungsfaktoren besonderes Augenmerk zu widmen und so die »Permanenz im Wandel« als verbindendes Element in den Vordergrund zu stellen. Die so zustande gekommene Auswahl an Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Disziplinen und Diskursgemeinschaften führte zugleich zu einer Heterogenität der Darstellungsformen, in denen implizit – aber editoriell bewusst – eine Vielfalt an Wissenschaftskonzepten wie auch kognitiver und kommunikativer Stile der gegenwärtig gelebten Universität sichtbar werden. Trotz der offensichtlichen Diversität seiner Texte erhebt der vorliegende Band in keiner Weise Anspruch auf Vollständigkeit bezüglich der disziplinären Vielfalt an der Universität Wien. Dies betrifft insbesondere die vormalige medizinische Fakultät der Universität Wien und nunmehrige Medizinische Universität Wien, über welche trotz intensiver Bemühungen kein eigener Beitrag zustande kam. Auch aus anderen Fakultäten sind nicht alle Disziplinen vertreten. Die versammelten Beiträge geben somit ein nicht auf Repräsentativität, sondern auf Typik abzielendes Portrait von Universität wieder, die in ihrer charakteristischen Heterogenität und Spezifik erkennbar wird. Dies macht – so meinen es zumindest die Herausgeberin und die Herausgeber – gerade den spezifischen Reiz eines solchen Projektes aus. Und damit leiten wir über, abschließend die Struktur des Buches vorzustellen. Nach einem einleitenden Beitrag zur Organisationsgeschichte der Universität Wien sind die Fachbeiträge in drei Schwerpunkte gruppiert, wobei diese nicht als klar voneinander getrennte Themenblöcke und auch nicht im Sinne einer Chronologie der Disziplinenentwicklung zu verstehen sind. Die erste Gruppe, »Dynamiken der Institutionalisierung« betitelt, enthält Beiträge über Disziplinen, die sich während des Betrachtungszeitraumes formten oder neu konstituierten und somit als eigenständige Einheit anschaulich Ausdruck der gesellschaftlichen Situation ihrer Entstehung sind. Die schon früher etablierten Wissenschaften wiederum sind vornehmlich in der zweiten Gruppe an Texten zu finden, die wir »Disziplinäre Paradigmen im Wandel« benannten und die sich mehr den Veränderungen innerhalb von Disziplinen widmet. So ist immer wieder und in vielen Fächern zu beobachten, dass nicht nur einzelne Theoreme, sondern ganze Theorien, Methodologien, Welt- und Selbstverständnisse im Zeitverlauf miteinander rivalisieren, einander überlagern oder ablösen, sich Fächer ausdifferenzieren oder mitunter ganz neu ausrichten. Die dritte Gruppe vereint unter der verbindenden Überschrift »Wissenschaft zwischen Politik und
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Karl Anton Fröschl et al.
Gesellschaft« Beiträge, die in besonderem Maße den staatspolitischen oder gesellschaftlichen Einfluss in den Mittelpunkt der Reflexion stellen und die Kontextgebundenheit von »Wissen« an konkreten Beispielen herausarbeiten. Die Beiträge explizieren an ausschnitthaften Fällen und Phasen die übergeordnete Leitidee und Prämisse des Bandes, dass alle Fächer und ihre Erkenntnisdynamiken in Abhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen sind. Gemäß der Einladung an die Beitragenden richtet sich das Hauptaugenmerk der Darstellungen auf eine historische Analyse der institutionellen und fachlichen Entwicklungen (einschließlich ihrer Diskontinuitäten) aus einer primär disziplinären Perspektive. Der gewählte Untersuchungszeitraum ist bekanntlich von fundamentalen Umbrüchen in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Praktiken akademischer Forschung und Lehre geprägt. Letztlich spiegelt der Band die Bemühungen um die Genese einer neuen Wissensordnung im Übergang von einer »Wissensgesellschaft« in ein Zeitalter »postmoderner« bzw. »postnormaler« Wissenschaft (Lyotard, 1996; Weingart 2001), die sich mehr implizit als systematisch in der Zusammenstellung oder im Duktus der hier versammelten Einzelbeiträge spiegelt. So stellt beispielsweise der Soziologe Peter Weingart (2005, 15) mit Blick auf die epistemischen und transdisziplinären Verschiebungen in der Wissenschaft fest: »Disziplinen sind infolgedessen nicht mehr die entscheidenden Orientierungsrahmen, weder für die Forschung noch für die Definition von Gegenstandsbereichen.« Umso bemerkenswerter ist, dass Disziplinengeschichte – unbeschadet der Strukturreformen – weiterhin vor allem als Institutsgeschichte reflektiert und gelebt wird, wie die Mehrzahl der hier versammelten Beiträge zum Ausdruck bringt. Im vorliegenden Band kann auf Fragen der politischen Ökonomie speziell der jüngsten Hochschulreformen nicht näher eingegangen werden, wiewohl ihre tiefgehenden Auswirkungen auf die gesellschaftliche Einbettung der Universitäten (Münch 2011) und ihre Binnenverfassung auch an der Universität Wien deutlich spürbar sind. Auch die zunehmende Verschränkung der Wissenschaft mit anderen sozialen Funktionssystemen der Gesellschaft (wie insbesondere der Wirtschaft im Sinne eines intensivierten Wissenstransfers) wird an anderer Stelle behandelt (vgl. z. B. Mladenow/Fröschl 2011), so auch die Auseinandersetzung mit der Ausdehnung administrativer Auflagen in allen Bereichen der Universität (Ginsberg 2011) oder jene – noch kaum abschätzbaren – Effekte der Verlangsamung, die aus der markanten Expansion des Wissenschaftssytems in den letzten Jahrzehnten resultiert und dem steigenden Wettbewerb und Anpassungsdruck gegenübersteht (Bok 2004). Das vorliegende Buch ist als wissenschaftsgeschichtliches Lesebuch zu verstehen. Seine Lektüre vermittelt, so hoffen wir, einen aufschlussreichen Querschnitt an reflektierten und selbstreflexiven Diskursbeiträgen und eröffnet zu-
Reflexive Innensichten aus der Universität – eine Einleitung
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gleich weitere Forschungsfragen, die der Bearbeitung harren – sei es die Frage nach der offenkundigen Nähe zwischen Wissenschaft und Laien, Disziplinen und Museen, Universität und Stadt oder die Bedeutung von Netzwerken, Einzelpersonen und persönlichen Freundschaften oder die wechselnden Modi der Berufungspolitik. Nun ist es an den Leserinnen und Lesern, solche Querblicke und Bezüge zwischen den Disziplinen, Zeiten, politischen Systemen und Akteursgruppen vorzunehmen. Die Vielfalt der in diesem Band abgebildeten Fächer spiegelt sich auch in der Heterogenität des Herausgebergremiums. In diesem sind so verschiedene Wissenschafts- und Fachrichtungen vertreten wie die theoretische Biologie (Gerd Müller, Fakultät für Lebenswissenschaften), die empirische Kulturwissenschaft Europäische Ethnologie (Brigitta Schmidt-Lauber, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät), die Rechtsgeschichte (Thomas Olechowski, Rechtswissenschaftliche Fakultät) sowie die Wirtschaftsinformatik (Karl Fröschl, Fakultät für Informatik). Durch diese Konstellation waren die Verständigung und der Austausch über wissenschaftliche Spezifika und Gepflogenheiten von Geistes-, Natur- und Rechtswissenschaften sowie Informatik gefordert und unseres Erachtens erfolgreich umgesetzt worden. Schließlich wollten wir die charakteristische Pluralität an Perspektiven und Wissenschaftsverständnissen, aber auch von Ausdrucksformen und -stilen beibehalten, statt sie zu glätten. Und so waren schon die Abfassung des »call« wie auch die Formulierung dieses Editorials eine anschauliche Erfahrung der Heterogenität der Universität Wien. Angesichts der programmatischen Freiheit in der Gestaltung wurden die Aufsätze nach peer review und anschließender Überarbeitung (mit Ausnahme des organisationsgeschichtlichen – und somit eher formalen – Beitrags) lediglich redaktionell vereinheitlicht in den Band aufgenommen. Als logische Konsequenz dieses Prinzips ergibt sich, dass sich die inhaltlichen Akzentuierungen und die entwickelten Argumentationen nicht immer mit den Auffassungen der Herausgeberschaft decken. Das Herausgeberteam dankt insbesondere Karl Fröschl, der es verstand, alle Fäden in seiner Hand zu vereinen, für seinen unermüdlichen Einsatz. Auf dem Weg zur Publikation waren uns als Herausgebergremium zahlreiche Personen behilflich. Allen voran ist den Autorinnen und Autoren zu danken, die sich mutig auf dieses Projekt einließen, einen reflexiven Beitrag zu ihrem Wirkungsfeld einreichten und geduldig und konstruktiv an den Revisionen und der Fertigstellung des »Fakultätenbandes« mitwirkten. Dem »Forum Zeitgeschichte« sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern der anderen drei Bände der Reihe ist für die gelungene organisatorische Zusammenarbeit und den inhaltlichen Austausch zu danken. Besonderer Dank gilt Herrn Lennert Pfeiffer für seine unermüdliche und sorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge und die Vorbereitung des Drucks. Großer Dank gebührt schließlich den Gutachte-
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Karl Anton Fröschl et al.
rinnen und Gutachtern für ihre konstruktive Rückmeldung zu den einzelnen Beiträgen und für ihre damit maßgebliche Mitwirkung an der Realisierung des Projekts. Nicht zuletzt danken wir Rektor Heinz Engl für den stets wohlwollenden und unterstützenden Austausch in der Vorbereitung dieses Bandes.
Literatur Berger, Peter L. / Luckmann Thomas: Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit (Frankfurt 232010: 58). Engl. Originalausgabe: The Social Construction of Reality (Garden City/New York 1966). Bok, Derek: Universities in the Marketplace: The Commercialization of Higher Education (Princeton 2004). Ginsberg, Benjamin: The Fall of the Faculty (Oxford 2011). Krohn, Wolfgang / Küppers, Günther : Die Selbstorganisation der Wissenschaft (Frankfurt 1989). Lyotard, Jean-FranÅois: Das postmoderne Wissen – Ein Bericht (Wien: 1999). Franz. Originalausgabe: La condition postmoderne (Editions de Minuit 1979). Mladenow, Andreas / Fröschl, Karl A.: Kooperative Forschung (Frankfurt 2011). Münch, Richard: Akademischer Kapitalismus – Über die politische Ökonomie der Hochschulreform (Berlin 2011). Weingart, Peter : Die Stunde der Wahrheit – Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft (Weilerswist 2001); Studienausgabe, unveränderter Nachdruck (Weilerswist 2005).
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Der lange Weg zur Autonomie: Die Organisation der Universität Wien und das Universitätsgesetz 2002
Verglichen mit der 650-jährigen Geschichte der Universität Wien stellen die letzten zwei Jahrzehnte nur eine kurze Zeitspanne dar.2 Dennoch ereigneten sich während dieses Zeitraums gravierende Veränderungen, die die größte strukturelle Umwälzung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts brachten und sowohl das Selbstverständnis der Alma Mater Rudolphina als auch das Verhältnis zwischen Universität und Staat revolutionierten. Die gleichzeitige Reform von Organisation, Studienstruktur und Studienplänen sowie dem Arbeitsrecht der Universitätsangehörigen stellte die Universität dabei vor große Herausforderungen. Eingebettet waren diese Veränderungen in eine breite europäische Diskussion über die Zukunft der Universitäten.3 Unter anderem führte die Bologna-Reform mit ihrer neuen Studienarchitektur europaweit zu einer grundsätzlichen Umgestaltung der Studienpläne.4 Auch die universitären Arbeitsverhältnisse haben sich wesentlich verändert und unterliegen in Österreich nunmehr prinzipiell dem allgemeinen Arbeitsrecht: Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – auch auf Professorenebene – werden keine Bundesbeamten mehr. Für die Universität und die bisherige Form von akademischer Meinungsbildung bedeutete es auch eine wesentliche Neuerung, dass mit den beiden Betriebsräten für das wissenschaftliche und das allgemeine Universitätspersonal nunmehr Vertretungsorgane nach dem Arbeitsverfassungsrecht existieren.5 Am Beginn dieses Bandes über die Disziplinen- und Wissenschaftsgeschichte der Universität Wien werden insbesondere die Veränderungen ihrer organisatorischen Struktur sowie das Verhältnis von Universität und Staat näher beleuchtet. * Büro des Universitätsrats. 1 Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder. 2 Zur Geschichte der Universität Wien im Überblick: Mühlberger 1996: Die Universität Wien; Mühlberger 2007: Palast der Wissenschaft. 3 Winckler 2010: Autonome Universitäten, 32 – 36. 4 Zur grundlegenden Reform der Curricula im Sinne der europäischen Studienarchitektur an der Universität Wien vgl. etwa Schrittesser 2009: University goes Bologna. 5 Vgl. dazu Havranek 2004: Kollektivverträge für Universitätsangehörige.
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Das Verhältnis der Universität Wien zum Staat bis 1975 Die fundamentale Bedeutung der Umwandlung der Universitäten in juristische Personen öffentlichen Rechts6 durch das Universitätsgesetz 2002 (UG) und die Auswirkungen der Universitätsautonomie auf die heutige Universität Wien erschließen sich aus der historischen Entwicklung der Universitäten in Europa. So komplex die Frage der Entstehung von Universitäten, deren Ursachen und späterer unterschiedlicher Ausprägungen auch sein mag, so lassen sich doch seit der Entstehung der Universitäten in Bologna und Paris ab dem 12. Jahrhundert zwei Grundprinzipien nachweisen: die unabhängige wissenschaftliche Forschung7 und die enge Verbindung von Forschung und Lehre. Seit dieser Gründungsphase können die europäischen Universitäten als spezifische Gemeinschaften von Studierenden und Lehrenden (»universitas magistrorum et scholarium«) von anderen wissenschaftlichen oder schulischen Institutionen abgegrenzt werden. Für die Universität als Korporation, die das Ziel hatte, die Gesamtheit der Wissenschaften (»universitas litterarum«) zu vertreten, war das Verhältnis zwischen »universitas« einerseits und Gesellschaft, Staat oder Kirche(n) andererseits entscheidend.8 Es formte auch das Selbstverständnis der Universität. Für die Universität Wien, die 1365 als landesfürstliche Universität gestiftet wurde, lassen sich über die Jahrhunderte hinweg9 – kurz zusammengefasst – zwei mehr oder weniger permanente Konfliktfelder beschreiben: das dauernde Ringen um eine zweckmäßige Beziehung zu Staat und Gesellschaft sowie die beständige Sorge um eine ausreichende Finanzierung ihrer Aufgaben.10 Anders als die Universitäten in England und in späterer Folge in Amerika, etwa Harvard oder Yale, die sich seit ihrer Gründung dauerhaft eine gewisse rechtliche und vor allem finanzielle Autonomie erhalten haben (wie sich heute u. a. an einem beachtlichen Stiftungsvermögen und der Einhebung erheblicher Studienbeiträge ihrer Studierenden zeigt), waren die kontinentaleuropäischen Universitäten vor allem seit dem 18. Jahrhundert einem ausgeprägten Verstaatlichungsprozess unterworfen.11 Diesen Verstaatlichungsprozess des »aufgeklärten Absolutismus« prägten in 6 § 4 Universitätsgesetz 2002. 7 Der Forschungsbegriff war naturgemäß im Lauf der Jahrhunderte erheblichen inhaltlichen Wandlungen unterworfen, vgl. dazu zusammenfassend Elkana/Klöpper 2012: Universität im 21. Jahrhundert, 64 – 74. 8 Hoyer 2002: Aufgaben der Universität, 25 – 26. 9 Zur Organisationsgeschichte der österreichischen Universitäten grundlegend, Ferz 2000: Ewige Universitätsreform. 10 Auch der Staatsbegriff unterliegt zeitbedingten Wandlungen, vgl. etwa Bärsch 1974, Staatsbegriff. 11 Winckler 2010: Autonome Universitäten, 31 – 33.
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der Habsburgermonarchie die Staatsreformen unter Maria Theresia und Joseph II.,12 wobei sich diese Reformphase am besten durch das Modell des »territorialen Etatismus« erklären lässt – territorial im Sinne einer Abgrenzung der Länder der Monarchie nach außen, etatistisch im Sinne einer Überhöhung der Rolle des Staates und des (letztlich gescheiterten) Versuchs, alle Lebensbereiche der Menschen neu ordnen zu wollen.13 In diesem Prozess waren die sogenannten intermediären Gewalten wie die Kirche, die Stände, aber eben auch die Universitäten in ihrer relativen Autonomie mit eigener Gerichtsbarkeit ein wesentlicher Hemmschuh auf dem Weg zu einer effizienten, utilitaristischen Gesellschaftsveränderung.14 Zweck der Universität sollte primär die Ausbildung von für das Gemeinwohl »nützlichen« Staatsdienern, wie etwa Ärzten oder Juristen, sein. Aus dieser Motivation heraus wurden die Reste des eigenständigen Vermögens der Universität eingezogen und die eigenständige Gerichtsbarkeit der Universität bis zum Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft. Die Professoren wurden staatlich besoldet, in ihrer Rechtsstellung »verbeamtet« und die Universitäten überwiegend aus öffentlichen Geldern finanziert.15 Der Prozess der Entkirchlichung16 und Verstaatlichung führte zwar zu einer aus heutiger Sicht sehr verkürzten Auffassung von Universität als primär »staatlicher Lehranstalt«17, darf aber zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass seit dem späten 18. Jahrhundert das Prinzip der Verpflichtung des Staates zur Finanzierung und Ausstattung der Universitäten unbestritten ist. Die Universität Wien wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts baulich, etwa durch das »neue« Universitätsgebäude in der Wiener Innenstadt, in dem sich heute die Akademie der Wissenschaften befindet, aber auch personell und inhaltlich durch die Schaffung erster naturwissenschaftlicher oder staatswissenschaftlicher Lehrkanzeln wesentlich erweitert.18 Das Universitätsmodell des frühen 19. Jahrhunderts beinhaltete eine inhaltliche Abkehr von dieser primären Ausbildungsorientierung und entwickelte das Prinzip von »Freiheit der Wissenschaft« neu.19 Die Ausrichtung der Universität als Ort zweckfreier Wissen12 Aus der Fülle der diesbezüglichen Literatur vgl. jüngst Schmale 2012: 18. Jahrhundert, 23 – 34. 13 Gnant 2008: Territorialer Etatismus, 40. 14 Gnant 2014: Ende der akademischen Gerichtsbarkeit, 617. 15 Zu den Reformen im Detail Ferz 2000: Ewige Universitätsreform, 69 – 148. 16 An der Universität Wien beispielsweise durch die Zurückdrängung der Jesuiten oder das erste Aufbrechen der konfessionellen Grenzen durch die josephinische Toleranzgesetzgebung, vgl. Ferz 2000: Ewige Universitätsreform, 141. 17 Brunner 1968: Hochschulautonomie, 24. 18 Vgl. dazu Mühlberger 1996: Universität Wien, 36 – 44. 19 In der jüngeren Forschung findet eine deutliche Dekonstruktion des Humboldtschen Universitätsmodells statt, vgl. Ash 1999: Mythos Humboldt; Langewiesche 2002: Humboldtsche Universität als nationaler Mythos.
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schaft im Sinne des Humboldtschen Universitätsideals bleibt – unabhängig von der aktuellen Diskussion über den »Mythos Humboldt« – für die Frage des aufgeklärten Selbstverständnisses von Universität bis heute wesentlich.20 Auch für die aktuelle hochschulpolitische Diskussion ist es wichtig festzuhalten, dass die Grundentscheidung, die Universitäten organisatorisch als »nachgeordnete Dienststellen der staatlichen Verwaltung« zu konstruieren, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bestehen blieb. Das Verhältnis zwischen Staat und Universität hat diesbezüglich – trotz aller historischer Brüche in den letzten 150 Jahren – bis zum Ende des 20. Jahrhunderts keine fundamentale Veränderung mehr erfahren21: Die Universitäten waren und blieben unselbständige Einrichtungen des Staates, in denen akademische Freiheit im Gegenstand der Erkenntnis von Forschung und der inhaltlichen Ausrichtung von Lehre sowie in gewissem Umfang auch in Personalfragen22 möglich war, nicht aber in der Gestion von Finanzen und der Ausstattung der Universitäten. In diesem Bereich lag auch die Steuerung der Universität Wien in den Händen einer »mehr oder weniger aufgeklärten Ministerialbürokratie«.23 In der Zweiten Republik wurden die Organisationsprinzipien der Universitäten weitgehend unverändert übernommen. Durch das Hochschul-Organisationsgesetz 1955 (HOG 55) erfolgte aber insofern eine wichtige Konsolidierung, als die Unzahl von organisatorischen Rechtsvorschriften aus unterschiedlichen Epochen und staatsrechtlichen Systemen in einem einheitlichen, die Hochschulverwaltung einigermaßen umfassend regelnden Gesetz zusammengefasst wurden. Die Universitäten waren nach § 1 HOG 55 »Anstalten des Bundes«, die dem damaligen Unterrichtsressort unmittelbar unterstanden.24 Die Rechte und Pflichten des Hochschulpersonals wurden eingehend beschrieben, wobei den ordentlichen Universitätsprofessoren in erster Linie die Erfüllung der Forschungs- und Lehraufgaben an den Universitäten im sogenannten Lehrkanzelsystem übertragen war.25
20 Siehe dazu jüngst Liessmann 2014: Geisterstunde, 118 – 130. 21 Zu den Einzelheiten der Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Universität in diesem Zeitraum, vgl. umfassend die Ausführungen von Reiter-Zatloukal und Staudigl-Ciechowicz in Band II dieser Reihe. 22 Vor allem im Bereich der Habilitations- und Berufungsverfahrenen. 23 Winckler 2010: Autonome Universitäten, 32. 24 Ferz 2000: Ewige Universitätsreform, 337. 25 Brunner 1968, Hochschulautonomie, 24.
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Das Universitätsorganisationsgesetz 1975 als Aufbruch in die »Antragsdemokratie« Die gesellschaftlichen Veränderungen und Reformbewegungen ab Mitte der 1960er-Jahre26 haben zu einem international wirksamen, grundsätzlichen Erneuerungsprozess der Universitäten geführt. An der Universität Wien kam es im Rahmen der 68er-Bewegung neben zahlreichen Protestaktionen auch zu künstlerischem Aktionismus.27 In Österreich war diese Epoche parallel zur geistesgeschichtlichen Entwicklung durch eine deutliche Zunahme der Studierendenzahlen und den Beginn der bis heute andauernden Diskussion über Zielsetzung und Grenzen der Steuerung der Studierendenströme gekennzeichnet. Die inneruniversitäre Diskussion über Selbstverständnis und Struktur der universitas litterarum war stark von den Studierenden, aber vor allem auch von den Assistentinnen und Assistenten geprägt.28 Wie wichtig das Universitätsorganisationsgesetz 1975 (UOG 1975) für die Frage der Demokratisierung der hohen Schulen war, zeigen die erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage von 1973 über die Zielsetzung des UOG 1975: »Hochschulpolitik ist zu verstehen als ein essentieller Teil der Gesellschaftspolitik«29. Durch das UOG 1975 wurden neue Typen von Hochschullehrern geschaffen und – in dieser Form erstmals – leitende Grundsätze für die Aufgaben der Universitäten verankert. Diese beinhalteten neben der Freiheit von Wissenschaft und ihrer Lehre auch eine notwendige Verbindung beider Komponenten sowie das Prinzip der Vielfalt wissenschaftlicher Lehrmeinungen und die Lernfreiheit wie auch das Zusammenwirken der Angehörigen der Universität.30 Diese Grundsätze finden sich ebenfalls im heutigen Universitätsgesetz 2002 und sind dort u. a. um die leitenden Grundsätze zur Berücksichtigung der Erfordernisse der Berufszugänge, die nationale und internationale Mobilität der Studierenden und Absolventinnen sowie um die Gleichstellung von Frauen und Männern, aber auch um das Prinzip der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit (der Gebarung) erweitert.31 Aber auch 1975 wurde die Frage nach der Rechtsstellung der Universitäten und dem genauen Umfang ihrer Selbstverwaltung nicht exakt definiert.32 Das 26 Zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Österreich, siehe Ebner /Vocelka 1998: Zahme Revolution. 27 Zur – bei aller zeitgenössischen Kritik – in die Kunstgeschichte eingegangenen »Körperanalyseaktion« von Günter Brus, vgl. Ebner/Vocelka 1998: Zahme Revolution, 170 – 172. 28 Ferz 2000: Universitätsreform, 397. 29 StProtNR 1973 Blg 888, 53. 30 § 1 Abs. 2 UOG 1975, Ferz 2000: Universitätsreform, 426 – 427. 31 § 2 Universitätsgesetz 2002. 32 Zur Kritik daran Winkler 1988: Rechtspersönlichkeit, 401 – 403.
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»Firnbergsche Universitätsmodell«33 der 1970er-Jahre schuf in Abkehr von der alten »Ordinarienuniversität« in der Organisation der Universitäten zwei zentrale Änderungen: einerseits die Zusammenfassung der Professuren (Lehrkanzeln) zu Instituten, andererseits die Einführung der Mitbestimmung von »Mittelbau« und Studierenden durch die Schaffung neuer inneruniversitärer Organe wie Fakultätskollegien, Institutskonferenzen oder Studienkommissionen. Die zahlreichen Kollegialorgane und ihre Kommissionen boten somit allen universitären Gruppen die Möglichkeit, an der inneruniversitären Willensbildung mitzuwirken. Allerdings war diese Willensbildung in wesentlichen Bereichen (Budget, Personalausstattung) auf die Antragstellung an das Wissenschaftsressort beschränkt, die Umsetzung lag jedoch weiterhin in den Händen der Ministerialbürokratie.34 Diese Neugestaltung der inneren Struktur der Universitäten, insbesondere auch die verstärkte Beteiligung der Assistenten und Studierenden an der universitären Willensbildung, lässt sich folglich mit dem Begriff der »Antragsdemokratie« beschreiben. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Verfahren der Antragsstellung innerhalb der Universität für das Selbstverständnis insbesondere von Mittelbau und Studierenden von zentraler Bedeutung war und zu einer erheblichen Zunahme der Identifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Studierenden mit der Universität geführt hat. Auch wenn die hohen Schulen durch das UOG 1975 gewisse autonome Wirkungsbereiche zuerkannt bekommen hatten, blieben sie dennoch weiterhin nachgeordnete Dienststellen des Bundes und unterlagen somit dem weitreichenden Aufsichtsrecht des Bundes.35 Problematisch blieb auch nach dem UOG 1975 der weitgehende Mangel an universitärer Gesamtplanung und Profilbildung. Im UOG 1975, welches an der Universität Wien bis Ende 1999 wirksam war, standen die Fakultäten in unmittelbarer Verbindung mit der jeweiligen Fachabteilung des Wissenschaftsressorts, etwa in Bezug auf die Personal- und Ressourcenausstattung. Die Universitätsbibliothek war eine eigenständige nachgeordnete Dienststelle des Bundes. Im Forschungssektor gewann im Zuge der beschriebenen Entwicklungen die sogenannte Drittmittelfinanzierung immer zentralere Bedeutung. Die Angehörigen der Universität sollten bei anderen Rechtsträgern, wie etwa dem 1967 gegründeten österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), Gelder für Forschungsprojekte einwerben. Durch die UOGNovelle 1987 wurde für die Abwicklung dieser Drittmittelforschung die Kon33 Nach Hertha Firnberg, 1970 – 1983 erste sozialdemokratische Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung. 34 Hoyer 2002: Aufgaben der Universität, 30. 35 Zu den Einzelheiten vgl. Ferz 2000: Universitätsreform, 489 – 491 und 425 – 488.
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struktion der sogenannten Teilrechtsfähigkeit der Universität verwirklicht. In der Schaffung der Möglichkeit, aus eigener Rechtspersönlichkeit Verträge mit externen Fördergebern abschließen zu können, liegt eine der Wurzeln der heutigen Universitätsautonomie.36 Die politische Grundsatzentscheidung der 1970er-Jahre, den freien Hochschulzugang für alle Studien zu ermöglichen, war hingegen nicht mit einer Ausstattungsgarantie für einzelne Fachbereiche verbunden. Wie an anderen Universitäten führte dieser Umstand auch an der Universität Wien zu einer ungleichen Verteilung der Studierendenzahl in den einzelnen Studienrichtungen und zur später vielfach kritisierten »Massenuniversität« in einigen besonders nachgefragten Fächern.37
Das Universitätsorganisationsgesetz 1993 – Teilautonomie als Experiment Seit den späten 1980er-Jahren stand das Modell des UOG 1975 zunehmend in der Kritik.38 Dies bezog sich nicht nur auf die in mancher Hinsicht überbordende Sitzungsintensität der zahlreichen UOG-75-Gremien, sondern auch auf die Erkenntnis, dass die universitären Gremien über zentrale Fragen der Universität, wie etwa Finanzierung oder Ressourceneinsatz, nur unzureichend entscheidungsbefugt waren.39 Im Universitätsorganisationsgesetz 1993 (UOG 1993) wurde deshalb der Handlungsspielraum der Universitäten durch eine Art »Teilautonomie« merklich erhöht. Die bislang fehlende Trennung zwischen strategischen und operativen Organen40 konnte durch die Neudefinition der Funktion des Rektors und der Schaffung eines operativ verantwortlichen Rektorats mit Vizerektoren und Vizerektorinnen erreicht werden. Für die weitere Entwicklung war die Verfassungsbestimmung des § 7 Abs. 1 UOG 1993 wesentlich, wonach jede Universität durch Verordnung (Satzung) die »zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Ordnungsvorschriften für die innere Organisation sowie für die Tätigkeit ihrer Organe und die Universitätsangehörigen im Rahmen der bestehenden Gesetze und Verordnungen selbst zu erlassen hat.« Trotz dieser Bemühung, ein wesentliches Problem der autonomen universitären Handlungsfähigkeit zu lösen, blieben die Universitäten Dienststellen des Bundes. Erstmals allerdings verzichtete der Bund auf die Einrichtung eines über36 37 38 39 40
Zu den Novellen zum UOG 1975 siehe Ferz 2000: Universitätsreform, 440 – 441 und 489 – 491. Diese Thematik ist im Prinzip bis heute ungelöst. Mayer 1995: Universitäten im Spannungsfeld, 13 – 15. Ferz 2000: Universitätsreform, 491. Brünner 1995: Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen, 9 – 10.
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tragenen staatlichen Wirkungsbereichs.41 Die komplexe, »überformalisierte Ressourcenverteilung« 42 vom Ministerium bis zur Ebene der Institute wurde gestrafft und die Universitäten im Rahmen der Gesetze zur weisungsfreien Besorgung ihrer Angelegenheiten befugt. Dennoch blieb das Haushalts- und Dienstrecht des Bundes anzuwenden. An der Universität Wien gelang es unter Rektor Georg Winckler, mit dem Aufbau der erforderlichen Strukturen für die neue universitäre Administration gemäß UOG 1993 zu beginnen, wie etwa Kostenrechnung und Quästur neu, Ressourcenmanagement usw.43 Die Medizinische Fakultät erhielt durch das UOG 1993 erstmals eine Sonderstellung, die sich vor allem in einem eigenen Budget manifestierte. Die dezentrale Organisation der Entscheidungsfindung, insbesondere auf der Ebene der Fakultäten und Institute, setzte der Neuordnung der universitären Binnenstruktur inklusive der Ressourcenverteilung enge Grenzen. Ein wesentlicher Fortschritt im UOG 1993 war jedoch die in dieser Form erstmalige Thematisierung von gesamtuniversitären Strategieüberlegungen, die von Rektorat und Senat, dieser damals unter dem Vorsitz von Jörg Hoyer, gemeinsam vorangetrieben wurden. Das UOG 1993 war – im Rückblick betrachtet – für den Übergang der Universität von der nachgeordneten Dienststelle des Bundes, die vom jeweiligen Wissenschaftsressort detailgesteuert war (UOG 1975 und früher), zur autonomen Universität des Universitätsgesetzes, die weitgehend für sich selbst verantwortlich ist, ein wesentlicher Zwischenschritt.
Die autonome Universität Wien und das Universitätsgesetz 2002 Das Universitätsgesetz 200244 (UG 2002) war das Ergebnis einer Grundsatzdiskussion, die seit Beginn der 1990er-Jahre die Reform des Universitätswesens und seine Anpassung an internationale Entwicklungen zum Gegenstand hatte.45 Zahlreiche Prinzipien des neuen Gesetzes, wie die Umwandlung der Universitäten von unselbständigen Anstalten des Bundes in vollrechtsfähige juristische Personen des öffentlichen Rechts, die Europäisierung des Studienrechts oder die Neuordnung des Personalrechts fanden sich im Prinzip schon seit dem Regie41 Zu den gescheiterten Bestrebungen einer weitergehenden Autonomie vgl. Busek 2004: Die Richtung stimmt, 28. 42 Siehe dazu Ferz 2000: Universitätsreform, 492 – 498. 43 Das UOG 1993 trat nach einem langwierigen Implementierungsprozess an der Universität Wien erst zum 1. Januar 2000 in Kraft. 44 Unter der Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten Elisabeth Gehrer. 45 Zu dieser Reformdiskussion umfassend Titscher/Winckler 2000: Universitäten im Wettbewerb.
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rungsprogramm 1990 in verschiedenen ministeriellen Diskussionsentwürfen.46 Der sogenannte »Einem-Entwurf« sah bereits 1999 die konkrete Ausgestaltung der Vollrechtsfähigkeit der Universitäten vor.47 Wie die Entstehungsgeschichte zeigt, bedarf die These, das UG 2002 sei ein »typisches Produkt« der Regierungszeit von ÖVP-FPÖ ab dem Jahr 2000 und führe zu einer »neoliberalistisch beeinflussten Ökonomisierung« der Universitäten48, einer differenzierenden Betrachtung.49 Die Universitätsreform 2002 war auch ein Resultat der in ganz Europa intensiv geführten Debatte um die zweckmäßige Organisationsform von grundsätzlich staatlich finanzierten Universitäten im 21. Jahrhundert.50 Mit dem UG 2002 wurden die österreichischen Universitäten vollrechtsfähig. D. h., die Universitäten erhalten ihre staatliche Finanzierung primär auf Grundlage einer dreijährigen Leistungsvereinbarung mit der Republik Österreich.51 Durch das für drei Jahre festgelegte Globalbudget konnte die Planungssicherheit für die Universitäten deutlich erhöht werden. Die Universitäten besitzen erstmals einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf Zuweisung der vereinbarten Finanzmittel und sind dadurch – zumindest nach den Zielsetzungen des Universitätsgesetzes – in der Lage, flexibler als je zuvor auf Veränderungen und Chancen in der Bildungs- und Forschungsumwelt zu reagieren. Die Erfahrungen mit den Leistungsvereinbarungen der letzten Jahre zeigen insgesamt, dass die angekündigte »Vereinbarungskultur« durchaus verwirklicht werden konnte, weshalb die Befürchtung, dass durch die Leistungsvereinbarung ein unsachgemäßer Einfluss des Staates auf Forschungsinhalte der Universitäten erfolge, nicht eingetreten zu sein scheint. Allerdings stehen die Universitäten weiterhin dem Problem gegenüber, dass die staatlich zur Verfügung gestellten Finanzmittel im Vergleich zu den universitären Zielen in einem permanenten Spannungsverhältnis stehen. Dies hat sich auch durch die nunmehr etablierte Leistungsvereinbarung zwischen dem Wissenschaftsressort und der Universität nicht prinzipiell geändert.52 Die Leistungsvereinbarung beinhaltet eine Verpflichtung der Gesamtuniversität. Über eine »Kaskade« von sogenannten 46 Dazu eingehend Höllinger 2004: Entwicklung zur autonomen Universität, 63 – 65. 47 Nach dem damaligen (1997 – 2000) sozialdemokratischen Bundesminister für Wissenschaft und Verkehr Caspar Einem; siehe dazu auch Einem 2004: Universitätsreform, 34 – 38. 48 Zu dieser These siehe Kampits 2003: Ausbildung statt Bildung, 43. 49 Zur Frage der Gefahr der »Ökonomisierung« und den Erfahrungen an der Universität Wien vgl. auch Kothbauer 2006: Bildung und Ökonomie, 120 – 122. 50 Vgl. dazu Titscher/Winckler 2000: Universitäten im Wettbewerb, 34 – 37. 51 Zum indikatorgebundenen Teil des Budgets, dem sog. formelgebundenen Budget in der ursprünglichen Fassung des UG und deren Auswirkungen auf die einzelnen Universitäten, vgl. umfassend Binder/Engl 2000: Studie Modellrechnung, 387 – 435. 52 Vgl. dazu etwa Tichy 2012: Pseudoautonomie, 260 – 269; leider war die Phase der Implementierung der neuen Universitätsorganisation mit einem extensiven »Sparkurs« der Bundesregierung verbunden, obwohl zeitgleich Studienbeiträge eingeführt wurden.
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»Zielvereinbarungen« zwischen dem Rektorat und den Organisationseinheiten53, bzw. bis zu den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, erfasst dieser Leistungsauftrag alle Ebenen der Universität.54 Nach dem UG 2002 gibt es vier oberste Leitungsorgane der Universität: Universitätsrat, Rektorat, Rektor55 und Senat, die in »doppelter Legitimation« gewählt werden. Umgesetzt wurde die neue Struktur an der Universität Wien durch einen Gründungskonvent, dem Vertreterinnen und Vertreter aller universitären Gruppen angehörten und der unter dem Vorsitz von Günter Haring stand. Dabei ist festzuhalten, dass die überwiegende Mehrzahl der Beschlüsse des Gründungskonvents der Universität Wien, wie etwa die Wahl von Mitgliedern des neuen Universitätsrats, einstimmig erfolgte. Über die Konstruktion des Universitätsrats, dessen Mitglieder der Universität selbst nicht angehören dürfen und vom Senat und der Bundesregierung berufen werden, erfolgte im Rahmen der Gesetzwerdung eine besonders eingehende Debatte. Auf den Universitätsrat, der den Rektor/die Rektorin aus einem Dreiervorschlag des Senats wählt56 und neben wirtschaftlichen Agenden u. a. den Organisations- sowie den Entwicklungsplan der Universität genehmigt, hat der Staat in der Konsequenz der Autonomie einen Teil seiner bisherigen Funktionen übertragen.57 Der Universitätsrat, in den beiden ersten Funktionsperioden (2003 – 2013) unter Vorsitz von Max Kothbauer, sah sich von Anfang an als integraler Bestandteil der Universität Wien.58 Dem Rektorat obliegt nunmehr die operative Führung der Universität und der Rektor vertritt diese nach außen. Dem Senat kommt neben der Mitwirkung an der Wahl von Rektor oder Rektorin und am Organisations- und Entwicklungsplan vor allem die Aufgabe der Erlassung der Studienpläne zu.59 Die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts, wie etwa die hohe Anzahl einstimmiger Beschlüsse bei zentralen Themen wie Entwicklungs- und Organisationsplan, zeigen eine hohe Übereinstimmung der obersten Organe der Universität Wien in Fragen der strategischen Zielsetzung. Die außer- wie inneruniversitäre Kritik am Universitätsgesetz 2002 entzündete sich u. a. an Fragen der Mitwirkungsmöglichkeiten des Universitätsperso-
53 Dieses Verfahren ist für die beteiligten Universitätsangehörigen durchaus zeitaufwendig. 54 Vgl. dazu Winckler 2004: Universitätsreform, 133 – 136. 55 Eigenzuständigkeiten des Rektors/der Rektorin etwa in Berufungsfragen, siehe § 23 Abs. 1 UG. 56 Der Rektor/die Rektorin muss kein Angehöriger der Universität mehr sein, siehe § 23 Abs. 2 UG. 57 Berka 2010, Steuerung der autonomen Universität, 64. 58 Zum Selbstverständnis und den Erfahrungen des Universitätsrats des Universität Wien in der Gründungsphase des UG vgl. Kothbauer 2008: Modernization of Universities. 59 Zur Aufgabenverteilung eingehend Mayer 2013: Kommentar zum UG §§ 21 – 25.
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nals60 oder der Zentralisierung im Inneren sowie der Erhöhung der Komplexität der administrativen Abläufe.61 Die Eindeutigkeit der Verantwortung nach außen setzt eine rechtlich und wirtschaftlich handlungsfähige, operative wie strategische Universitätsleitung voraus, welche die Universität auch inhaltlich gestalten kann. Dies führte zur Zurückdrängung der traditionellen Kollegialorgane der Universitätsangehörigen, die im UOG 1975 auf den sogenannten Mittelbau und die Vertreter der Studierenden erweitert worden war.62 Eine der komplexesten Fragen bei der Gesetzwerdung des UG 2002 war jene nach der Zukunft der Medizinischen Fakultäten. Kern des Problems war die Beziehung der Medizinischen Fakultät und der Universität mit dem als Lehrkrankenhaus dienenden Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, zumal in Österreich die Universitäten Bundessache und die Krankenanstalten Ländersache sind. Die Berechnung des Kostenersatzes an den Krankenanstaltsträger (»klinischer Mehraufwand«) ist schon seit Jahrzehnten ein nicht abschließend gelöstes Problem. Daher wurde die Frage von möglichen institutionellen »Klammern« zwischen den im UOG 1993 bereits mit einer gewissen Selbständigkeit versehenen Medizinischen Fakultäten und den autonomen Universitäten durchaus kontroversiell diskutiert. Dazu gab es zahlreiche Überlegungen, wie etwa die Schaffung zweier Universitätsräte. Im Ergebnis konnte keines dieser Modelle den Gesetzgeber überzeugen.63 Aus diesem Grunde wurden die Medizinischen Fakultäten in ganz Österreich aus den klassischen Volluniversitäten ausgegliedert und als eigenständige Universitäten konstruiert. Da die medizinische Fakultät seit 1365 einen wesentlichen Teil der Alma Mater Rudolphina umfasste, war die Trennung unabhängig von der Frage ihrer organisationsrechtlichen Zweckmäßigkeit ein markanter Einschnitt für die Universität Wien. Allerdings bestand – anders als an übrigen Universitätsstandorten – kein Zweifel daran, dass die nunmehrige Medizinische Universität Wien eine hinreichende Größe aufweist, um sich selbständig zu entwickeln.64 Die Universität Wien und die Medizinische Universität Wien arbeiten wissenschaftlich intensiv zusammen und sind insbesondere in den gemeinsamen Max F. Perutz Laboratories65 eng verbunden. Autonomie bedeutet Selbstverantwortung der Universität für den Aufbau der
60 Burtscher 2006: Universities and the Regulatory Framework, 247 – 248. 61 Dazu zusammenfassend Grünewald/Gadner 2002: Universitätsgesetz 2002; Grünewald 2003: Universitätsgesetz – umstrittene Reform, 162 – 167. 62 Siehe vorn. 63 Höllinger 2004: Gründung Medizinischer Universitäten198 – 170. 64 Jüngst wurde die Einrichtung eines Studiums der Humanmedizin an der Universität Linz beschlossen, § 93a UG. 65 Siehe dazu den Beitrag von Wirth in diesem Band.
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inneren Organisation.66 Damit ist grundsätzlich auch die Verantwortung für die Infrastruktur, insbesondere die Gebäude und die Ausstattung der Universität verbunden. Diese Verantwortung steht zugleich immer in einem Spannungsverhältnis zu den finanziellen Möglichkeiten der Universität, die wiederum stark vom Ergebnis der Leistungsvereinbarung determiniert werden.67 Eine wesentliche organisatorische Konsequenz der Autonomie ist die weitgehende Freiheit der Universität zur Regelung ihrer Binnenstruktur. Das UG 2002 enthält diesbezüglich nur wenige gesetzliche Vorgaben. Das mit der Verleihung der Vollrechtsfähigkeit einhergehende Recht, eine eigene Organisation aufzubauen und Entscheidungsabläufe einzurichten, ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Universitäten in der Forschung, aber auch in der Lehre im internationalen Wettbewerb erfolgreich konkurrieren können. Im Rahmen des UG 2002 war die Frage nach der künftigen Binnenstruktur der Universität Wien durchaus umstritten. Ausgangspunkt für die kontroversielle Debatte war die Erkenntnis, dass es – auch im internationalen Vergleich – kein idealtypisches Modell der Universitätsorganisation über alle Fächerkulturen hinweg gibt. Auf Grundlage der »Eckpunkte des Organisations- und Entwicklungsplans« des Rektorats vom Oktober 2003 erstatteten fünf Projektgruppen unter Einbeziehung internationaler Expertinnen und Experten Vorschläge zur Neugliederung des wissenschaftlichen Bereichs der Universität Wien.68 Zielsetzung des Rektorats-Vorschlags zum Organisationsplan 2004 (unter Rektor Georg Winckler) war es, mit einer deutlich höheren Anzahl von »Fakultäten« strategiefähige Einheiten zu bilden, um die ausgeprägte innere Fragmentierung der Universität Wien und den »Partikularismus« von über 130 Instituten69 überwinden zu können.70 Die historisch gewachsenen Fakultätsstruktur mit großen Unterschieden in Größe und Homogenität, etwa zwischen den Theologischen Fakultäten und der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät, sollte sich dabei in neuen Einheiten weiterentwickeln, die auf Grund ihre Größe und Struktur in der Lage wären, ein eigenes akademisches Selbstverständnis und eine wissenschaftliche Identität zu entwickeln. Zugleich sollten die neuen Fakultäten so zusammengesetzt sein, dass sie einerseits nach ihrem inhaltlichen Zusammenhang eine »strategiefähige« Größe aufweisen, andererseits die gesamtuniversitäre Planung noch gewährleisten können. Nach einge-
66 Zur Vieldeutigkeit des Autonomiebegriffs vgl. Berka 2010: Steuerung der autonomen Universität, 53 – 55. 67 Vgl. zu dieser Ambivalenz, Tichy 2012: Pseudoautonomie, 266. 68 Universität Wien 2005: Tätigkeitsbericht 2004, 8. 69 Selbst nach dem Ausscheiden der Medizinischen Fakultät. 70 Winckler 2010: Autonome Universitäten, 37 – 38.
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hender Diskussion sah der neue Organisationsplan zunächst 15 Fakultäten und zwei Zentren vor71, die inzwischen um zwei weitere Zentren erweitert wurden. Die intensivsten Debatten gab es um die Schaffung der sogenannten »EinFach-Fakultäten« wie etwa Psychologie, Mathematik oder Physik sowie um die Teilung der früheren geisteswissenschaftlichen Fakultät. Viele der neugegründeten Fakultäten haben ihre Binnenstruktur in den letzten Jahren etwa durch ein Department-System grundlegend umgestaltet. Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Fakultäten der Universität Wien im Lauf der Jahrhunderte, wobei der Begriff und die Funktion von »Fakultät« naturgemäß eine zeitbedingte, unterschiedliche Bedeutung hatte. Tabelle 1: Entwicklung der Fakultäten der Universität Wien (Stand April 2015) a) Vor 1975 Katholisch-Theologische Fakultät (seit 1384) Evangelisch-Theologische Fakultät (seit 1850/1921) Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät (seit 1365) Medizinische Fakultät (seit 1365) Philosophische Fakultät (seit 1365/1848) b) nach Universitäts-Organisationsgsetz 1975 Katholisch-Theologische Fakultät Evangelisch-Theologische Fakultät Rechtswissenschaftliche Fakultät Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät Geisteswissenschaftliche Fakultät Formal- und Naturwissenschaftliche Fakultät c) nach Universitäts-Organisationsgesetz 1993 (im Jahr 2000 an der Univ. Wien implementiert) Katholisch-Theologische Fakultät Evangelisch-Theologische Fakultät Rechtswissenschaftliche Fakultät Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Informatik Medizinische Fakultät Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät Fakultät für Naturwissenschaften und Mathematik d) nach Universitätsgesetz 2002 (im Jahr 2004 an der Univ. Wien implementiert) Katholisch-Theologische Fakultät Evangelisch-Theologische Fakultät Rechtswissenschaftliche Fakultät Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Fakultät für Informatik Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät 71 Universität Wien 2005: Tätigkeitsbericht 2004, 8 – 9.
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(Fortsetzung) Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft Fakultät für Psychologie Fakultät für Sozialwissenschaften Fakultät für Mathematik Fakultät für Physik Fakultät für Chemie Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie Fakultät für Lebenswissenschaften Zentrum für Translationswissenschaft Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport Zentrum für Molekulare Biologie (ab 2007) Zentrum für LehrerInnenbildung (ab 2013)
Nach den bisherigen Erfahrungen mit der neuen Organisationsstruktur und auf Basis einer umfassenden Evaluierung erfolgte zum 1. Januar 2013 auf Vorschlag von Rektor Heinz Engl eine umfangreiche Novellierung des Organisationsplans, mit der die Kompetenzen der Beratungsgremien auf der Ebene der Fakultäten gestärkt wurden. Zielsetzung war dabei neben der Einrichtung eines neuen Zentrums für LehrerInnenbildung insbesondere die Stärkung von Information und Partizipation der Universitätsangehörigen durch Ausweitung der Stellungnahmerechte der Fakultätskonferenz zu zentralen Fragen wie etwa dem Entwicklungsplan.72 Die gegenwärtige Binnenstruktur der Universität Wien beruht nicht nur auf Veränderungen im Bereich der Fakultäten und ihrer weiteren Subeinheiten (Institute, Departments), sondern auch auf einer grundlegend neuen Organisationsform der Lehre. Dabei bilden die Studienprogrammleitungen eine zentrale Anlaufstelle für studienrechtliche und –organisatorische Fragen. Diese werden von Studienkonferenzen, die je zur Hälfte aus Studierenden und Lehrenden zusammengesetzt sind, beraten. Aktuell existieren rund 50 Studienprogrammleitungen (inklusive Doktoratsstudienprogrammleitungen), welche die breite Fächervielfalt der Universität Wien widerspiegeln.73 Ein wesentliches Element zur Stärkung der interdisziplinären Forschungskooperationen und zur Profilbildung der Forschung der Universität Wien stellte auch die Schaffung von Forschungsplattformen, Forschungszentren und Forschungsverbünden dar.74 Derzeit bestehen rund 20 derartige Forschungsplattformen (Stand Jänner 2015), die sich vor allem mit an der Universität Wien noch nicht verankerten Forschungsgebieten befassen.75 Mit dem Instrument des Entwicklungsplans konnte an der Universität Wien 72 73 74 75
Vgl. Universität Wien 2012: Leistungsbericht und Wissensbilanz 2012, 9 – 11. Universität Wien 2013: Leistungsbericht und Wissensbilanz 2013, 18. § 9 Organisationsplan der Universität Wien. Universität Wien 2005: Tätigkeitsbericht 2004, 9.
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erstmals eine Gesamtschau der »universitas litterarum« erfolgen. Im Entwicklungsplan werden beispielsweise die Forschungsprofile und die Widmung der Professuren an den Fakultäten festgelegt. Die Verantwortung für die Fächervielfalt ist damit mit dem Ziel verbunden, Rahmenbedingungen für die bessere Vernetzung der Fächer zu schaffen und das Profil der Universität Wien zu definieren.76 Der Anspruch, eine führende europäische Universität zu sein, kann in der Mitte Europas nur auf Grundlage einer verstärkten und nachhaltigen internationalen Orientierung erfüllt werden. Deshalb hatte bereits der erste Entwicklungsplan von 2005 Aspekte der Internationalisierung enthalten, die in den letzten Jahren immer größere Bedeutung erlangten.77 Diesem Ziel dient auch die Einrichtung von Scientific Advisory Boards als Beratungsorgane der Entwicklungsplanung, sowohl auf der Ebene der Fakultäten und Zentren als auch auf jener der Gesamtuniversität. Die Autonomie der Universitäten ist verfassungsrechtlich abgesichert. Mit dem Art. 81c Bundes-Verfassungsgesetz konnte 2008 die Autonomie der Universitäten erstmals als allgemeine Verfassungsbestimmung in die Bundesverfassung integriert werden.78 Darin werden die öffentlichen Universitäten zu »Stätten freier wissenschaftlicher Forschung, Lehre und Erschließung der Künste« erklärt und mit einer institutionellen Bestandsgarantie ausgestattet.79
Ausblick Die Universität Wien lebt – bei allen Brüchen in ihrer Geschichte – seit 650 Jahren vom Engagement und der Kreativität ihrer Angehörigen – Studierenden wie Lehrenden und auch des allgemeinen Personals. Die Universitätsautonomie ist gegenwärtig jene Organisationsform, mit der die universitären Ziele und Aufgaben bestmöglich umgesetzt werden können. Die Autonomie ist eine wechselseitige Verpflichtung. Sie verpflichtet die Universität zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den ihr übertragenen Ressourcen, sie verpflichtet aber auch Staat und Gesellschaft zur ausreichenden Dotierung der Universitäten, damit diese ihre Aufgaben auch tatsächlich erfüllen können. Autonomie ist dabei kein Selbstzweck, sondern eine Organisationsform, die dazu dienen soll, die Qualität von Lehre und Forschung langfristig zu sichern und zu verbessern.80 Die Ausgliederung der Universitäten aus der Bundesverwaltung und aus dem Bundeshaushaltsrecht, die Selbstverantwortung für die Gebarung und die 76 77 78 79 80
Winckler 2010: Autonome Universitäten, 37. Vgl. dazu ausführlich Universität Wien, Entwicklungsplan 2015. Kucsko-Stadlmayer 2013: Kommentar zu Art. 81c B-VG. Berka 2008: Autonomie und Freiheit der Universität, 294 – 320. Winckler 2010: Autonome Universitäten, 33.
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Übernahme der Drittmittelverwaltung in die Universitäten81 haben sich in diesem Sinne als zweckmäßig erwiesen. Die Autonomie ist aber auch eine zentrale Frage für das Selbstverständnis der Universität. Die Universitäten stehen dabei unter der täglichen Herausforderung, aktuellen Bestrebungen nach einer wieder verstärkten ministeriellen Detailsteuerung durch die autonome Umsetzung ihrer Ziele zu begegnen und diese in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Naturgemäß sind grundlegend verändernde Gesetzesvorhaben weder unumstritten noch perfekt. So lässt sich auch erklären, dass das Universitätsgesetz 2002 inzwischen mehrfach novelliert wurde.82 Ob es allerdings zweckmäßig ist, dass diese Gesetz allein in den letzten fünf Jahren insgesamt vierzehnmal novelliert wurde (Stand Jänner 2015), sei dahingestellt. Das Verhältnis zwischen Universität, Staat und Gesellschaft wird auch in der Zukunft Gegenstand der Diskussion unterschiedlicher inhaltlicher und gesellschaftspolitischer Vorstellungen sein. Die österreichischen Universitäten stehen in einem globalen Wettbewerb um die besten Studierenden und Lehrenden. Sie müssen in der Lage sein, in diesem weltweiten Wissenschaftsprozess mitzuwirken. Die autonome Universität ist heute, bei aller Diskussion zur Ausgestaltung von Details, das weltweit anerkannte Organisationsmodell von Universität. Das Universitätsjubiläum 2015 bietet für die Universität Wien eine gute Gelegenheit, über Kontinuität und Wandel der Alma Mater Rudolphina nachzudenken und darüber zu reflektieren, wie die Universität Wien ihren Auftrag in Forschung und Lehre auch im digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts83 gestalten wird.
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I. Dynamiken der Institutionalisierung
Margit Berner, Anita Dick, Julia Gohm-Lezuo, Sarah Kwiatkowski, Katarina Matiasek, David Mihola und Harald Wilfing*
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Einleitung Die 1913 erfolgte Gründung des Lehrstuhls für Anthropologie und Ethnographie an der Universität Wien hob zwei Wissenschaften vom Menschen gemeinsam aus der Taufe. Heute sind sie als spezialisierte, mehrfach umbenannte Einzeldisziplinen seit 85 Jahren institutionell getrennt. Das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften (KSA) und das Department für Anthropologie an der Fakultät für Lebenswissenschaften (DOA) nehmen das Jubiläum der Universität Wien zum Anlass, über Fakultätsgrenzen hinweg eine Standortbestimmung vorzunehmen. Dazu werden die wissenschafts- und fachgeschichtliche Entwicklung der Disziplinen diskutiert sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten einiger Forschungsthemen in einen »doppelten Blick« genommen.1 Entlang eines historiografischen Überblicks wird dem zunächst gemeinsamen Lehrstuhl, der späteren Trennung in zwei Disziplinen und den damit verbundenen Institutsgründungen im Jahr 1929 sowie deren Spezialisierung in den folgenden Jahrzehnten nachgegangen. Anders als für die Volkskunde blieb die Etablierung dieser Fachrichtungen bisher für Österreich auf den Standort Wien beschränkt.2 Diese Entwicklung vollzieht sich nicht nur entlang der politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Sie ist auch durch neue Forschungsparadigmen und die damit verbundene Etablierung von Schulen gekennzeichnet – nicht zuletzt aber durch Reflexionsprozesse, wie sie in beiden Disziplinen während der letzten Dekaden eingesetzt haben. * Department für Anthropologie der Universität Wien. 1 Die Umsetzung dieses Vorhabens erfolgte mit Studierenden beider Disziplinen im Rahmen eines zweisemestrigen interdisziplinären Forschungsseminars im Studienjahr 2013/14. Um das gemeinsame Seminarprojekt einem weiteren interessierten Kreis zugänglich zu machen, wurde bei den »Tagen der Kultur- und Sozialanthropologie 2014« ein Workshop zu den »Wiener Anthropologien« angeboten. 2 Vgl. Beitrag von Schmidt-Lauber/Nikitsch in diesem Band.
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Gründungsgeschichten Anthropologische Wissensbestände erfuhren in Wien 1870 ihre erste außeruniversitäre Institutionalisierung in einem fachwissenschaftlichen, bürgerlichen Verein, der Anthropologischen Gesellschaft. In der Gründungsrede bezeichnete ihr erster Präsident Carl Rokitansky (1804 – 1878) die Anthropologie als eine »Naturgeschichte des Menschen« und beschrieb ihre Teilgebiete als »von wechselseitiger Abhängigkeit und Durchdringung« gekennzeichnet, welche sich nirgends in dem Grade geltend machen würde, wie in der Anthropologie (Wilfing 2005). Das Anliegen der Anthropologischen Gesellschaft, die Menschenwissenschaft und ihre drei Sektionen (physische Anthropologie, Ethnographie und Prähistorie) auf akademischem Boden zu etablieren, führte ab 1899 zur schrittweisen Einrichtung eines Lehrstuhls für Prähistorie an der Philosophischen Fakultät. Für die beiden anderen Fächer hatte auf Anregung der Anthropologischen Gesellschaft das Unterrichtsministerium bereits 1889 die Philosophische Fakultät der Universität Wien mit der Einrichtung einer gemeinsamen Lehrkanzel für vergleichende Ethnographie und Anthropologie betraut. Die dafür eingesetzte Kommission legte für die physische Anthropologie eine naturwissenschaftliche, für die Ethnographie jedoch eine geisteswissenschaftliche Ausrichtung fest. Genau diese Vorgaben sollten zur Hürde werden, welche die universitäre Etablierung von physischer Anthropologie und Ethnologie in Wien verzögerte. Der Einrichtung eines gemeinsamen Lehrstuhls stand die fakultäre Organisation der Universität und damit auch die Venia Legendi möglicher Kandidaten für eine Doppelprofessur entgegen (Ranzmaier 2013). Erst 1913 konnte an der Universität Wien eine außerordentliche Professur für Anthropologie und Ethnographie eingerichtet werden, auf die der Mediziner Rudolf Pöch (1870 – 1921) berufen wurde. 1919 erfolgte die Umwandlung in eine reguläre Professur. Pöchs frühere großangelegte Expeditionen nach Ozeanien und Südafrika, auf welchen er in einem für die Zeit typischen »Dokumentationsfuror« (Kabatek 2003) umfangreiche anthropologische und ethnographische Daten- und »Material«-Sammlungen angelegt hatte, dürften letztlich seine Qualifikation für die neue Lehrkanzel unterstrichen haben. Die multidisziplinäre Ausrichtung und die Vielzahl der von ihm eingesetzten Dokumentationsmedien spiegelt sich in der Tatsache, dass seine Sammlungen heute auf verschiedene Universitätsinstitute, Archive und Museen verteilt sind. Dennoch, so sein späterer Assistent Josef Weninger (1886 – 1959), habe »Pöch seiner ganzen Einstellung nach mehr zur physischen Anthropologie« geneigt und man könne daher sagen, dass »dieses Institut von Anfang an ein anthropologisches Institut war« (Weninger 1938, 191). Wie die anthropologische war auch die ethnographische Forschung und Lehre in den frühen Institutsjahren
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einem generellen »Evolutionismus« verpflichtet – jener ersten, noch aus der Entstehungsphase der Disziplinen stammenden Auffassung, die Menschheit sei in aufsteigende Stadien gereiht und bestimmten gleichgerichteten Entwicklungssequenzen unterworfen (Kudraß 2008). Im Ersten Weltkrieg wurden die »rassenkundlichen« Untersuchungen an mehreren tausend Kriegsgefangenen zum zentralen Projekt des Instituts. Vor allem anthropologisch weniger bekannte »Völkerschaften« des russischen Reiches sollten erforscht werden, wobei Pöch morphologische Schemata zur Unterteilung von Gesichtsmerkmalen ausarbeitete (Lange 2013). Dies ist vor dem Hintergrund eines damals neuen Forschungsparadigmas – der Übertragung der Mendelschen Vererbungsregeln auf den Menschen – zu betrachten. Pöch sah sie in der Studie »Die Rehoboter Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen« belegt (Fischer 1913). Er selbst konzentrierte sich jedoch nicht auf eine »Rassenmischung«, sondern auf die Rekonstruktion ursprünglicher »Rassen« und »Typen« (Berner 2007). Die Verflechtung von Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft kennzeichnet in den folgenden Jahrzehnten die physische Anthropologie am Institut. Für den aus Leipzig berufenen Otto Reche (1879 – 1966), der erst 1924 auf dem Lehrstuhl folgte und später einer der führenden NS-Anthropologen wurde, traten anstelle des Messens von lebenden Menschen und Skeletten Fragen der »Rassenphysiologie«, »Rassenpsychologie«, Vererbungsforschung und »Rassenhygiene« in den Vordergrund. In Reches Wiener Zeit fallen die Gründung der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene), der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung und die Einführung des sogenannten anthropologischen Vaterschaftsgutachtens sowie auch erste vererbungswissenschaftliche Untersuchungen an Familien (Berner 2010; Geisenhainer 2002).
Teilungsgeschichten Als Reche 1927 an die Universität Leipzig wechselte, wurde die Wiener Lehrkanzel vakant und es kam 1929 zu ihrer Teilung. Einerseits fand sich kein beide Fächer vertretender Nachfolger, andererseits hatte ein gewandeltes Selbstverständnis der Ethnographie, die sich »mittlerweile als historische Disziplin begriff und sich schon allein deshalb als Fremdkörper in einem naturwissenschaftlich orientierten Institut empfand«, diese Trennung herbeigeführt (Feest 1978, 5). Nach Pöchs Tod hatte sich der Lehrbetrieb am Institut für Anthropologie und Ethnographie deutlich in Richtung Völkerkunde erweitert (A. Mayer 1991, 36). Maßgeblich hierfür war aber eine außeruniversitäre Einrichtung, nämlich das von Pater Wilhem Schmidt (1868 – 1954) schon 1909 am Missionshaus des Or-
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dens Societas Verbi Divini (SVD) in St. Gabriel bei Mödling gegründete Anthropos-Institut (A. Mayer 1991, 26). Schmidts Schüler und Ordensbruder Pater Wilhelm Koppers (1886 – 1961) wurde mit der Leitung des neugegründeten Lehrstuhls für Völkerkunde betraut. Dies war der Grundstein für eine klerikal geprägte Wiener Schule der Kulturkreislehre, welche – die Zeit des Nationalsozialismus ausgenommen – die wissenschaftliche Ausrichtung der Wiener Völkerkunde bis in die 1950er Jahre prägen sollte. Auf den in anderem Zusammenhang bereits 1898 vom deutschen Ethnologen Leo Frobenius (1873 – 1938) geprägten Begriff »Kulturkreis« aufbauend, ging die »Kulturkreislehre« in einem kulturhistorischen Ansatz von charakteristischen Übereinstimmungen in verschiedenen Kulturelementen wie der Verwandtschaftsordnung, der Religion und der materiellen Kultur aus, woraus sie deren gemeinsamen Ursprung ableitete. Oft als Reaktion auf den Evolutionismus bezeichnet und ihm scheinbar diametral entgegengesetzt, ist der Diffusionismus der Wiener Kulturkreislehre jedoch »ohne eine Basis aus evolutionistischer Denkweise im Grunde nicht vorstellbar«. Mit der Erforschung von »Urkulturen« wollte die Kulturkreislehre letztlich den theologischen Nachweis eines »Urmonotheismus« erbringen (Rössler 2007, 11 – 13). Diese Entwicklungen im Wien der Ersten Republik sind vor dem Hintergrund eines politischen Kräftemessens zu lesen, bei dem das christlich-soziale Lager mit der Sozialdemokratie in einem »Kampf um die Seele« (Feller 2010, 72) um das Verhältnis von Staat und Religion rang. Ebenfalls 1929 wurde Pöchs Schüler Josef Weninger zum Professor für physische Anthropologie berufen. In Folge wurden die an Kriegsgefangenen entwickelten Fragestellungen auf das »eigene Volk« in Form von Familienuntersuchungen ausgedehnt. Die von ihm gegründete »Erbbiologische Arbeitsgemeinschaft« entwickelte eine Methode der Spezialisierung und Arbeitsteilung für »morphognostische« Beobachtungen. Diese »Wiener Schule der Anthropologie« ermöglichte letzlich auch die Erstellung einer zunehmenden Anzahl von Vaterschaftsgutachten (Berner 2007).
Ausrichtungsgeschichten Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 trat das 1933 in Berlin erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auch im ehemaligen Österreich in Kraft. Dieses sah die Entfernung von politisch gegnerischen oder »nicht-arischen« Staatsbediensteten vor. An den beiden Universitätsinstituten führte dies zur umgehenden Entlassung der Vorstände. Wilhelm Koppers wurde aufgrund seiner von den »Reichsidealen« abweichenden klerikal-nationalen Einstellung als Professor des Instituts für Völker-
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kunde beurlaubt. Er ging Anfang 1940, unmittelbar nach einem Forschungsaufenthalt in Indien, in die Schweiz. Auch Wilhelm Schmidt wurde nach dem »Anschluß« die Venia Legendi aberkannt. Er konnte ebenfalls in die Schweiz ausreisen, wo er im Chteau de Froideville in Posieux im Kanton Fribourg ein neues Institut aufbaute und so seine wissenschaftliche Forschung und Publikationstätigkeit fortsetzen konnte (Linimayr 1994, 57; Brandewie 1990, 357). Der Privatdozent Robert Heine-Geldern (1885 – 1968) verlor seine Venia Legendi aufgrund seiner jüdischen Abstammung. Während des Machtwechsels befand er sich auf Vortragsreise in den USA, wo er bis nach Kriegsende verblieb. Die interimistische Leitung des Instituts für Völkerkunde übernahm der Dekan der Philosophischen Fakultät, der Orientalist Viktor Christian (1885 – 1963), SSOffizier und illegales Mitglied der NSDAP (Leitner 2010). Am Institut verblieben vorerst Koppers Assistenten Josef Haekel (1907 – 1973) und Christoph FürerHaimendorf (1909 – 1995), der während der Interimsphase die rechte Hand Christians war. 1939 verließ er Wien, um auf Feldforschung nach Indien zu gehen. Haekel, seit 1938 Mitglied der NSDAP, habilitierte sich 1940. Weninger wurde aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin, der Anthropologin Margarete Weninger (1896 – 1987), aus »Gesundheitsgründen« beurlaubt. Er beantragte im April 1938 die Enthebung von seiner Tätigkeit als Lehrer und Prüfer (Leitner 2010), verblieb aber mit seiner Frau in Wien und arbeitete mit Unterstützung Christians weiter wissenschaftlich. Schon im April 1938 entstand die Idee zur Gründung eines Wiener Instituts für Erb- und Rassenbiologie an der Medizinischen Fakultät. Als Leiter war Lothar Löffler (1901 – 1983) vom Erb- und Rassenbiologischen Institut in Königsberg vorgesehen. Diese Neugründung stieß jedoch auf Widerstand. Christian befürchtete die Marginalisierung der physischen Anthropologie und damit der wissenschaftlichen Richtung Weningers innerhalb eines großen Rassenhygienischen Instituts (T. Mayer 2013). Beide zunächst interimistisch geleiteten Institute schlugen in der Folge eine veränderte fachliche Ausrichtung ein. Mit der Übersiedelung des AnthroposInstituts in die Schweiz hatte die Kulturkreislehre Wien verlassen. Unter dem erst 1940 vom Berliner Museum für Völkerkunde berufenen neuen Institutsleiter und Afrika-Experten Hermann Baumann (1902 – 1972) stand eine nunmehr säkulare Kulturhistorie im Vordergrund, mit welcher unter anderem das politische Ziel einer Wiederherstellung der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika wissenschaftlich untermauert werden sollte (Gingrich 2005, 125 ff.). In Anlehnung an die physische Anthropologie machte er hierzu einen »Rassefaktor« geltend, über welchen die Bevölkerung der anvisierten ehemaligen Kolonialgebiete abgewertet und die Notwendigkeit eines »mittelafrikanischen Kolonialreichs« unter deutscher Führung gerechtfertigt werden sollte. Baumann war dabei bestrebt, das Wiener Institut für Völkerkunde als »kolonial-
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politisches Zentrum völkerkundlicher Forschung« zu etablieren (Gohm/ Gingrich 2010). Wie viele seiner Wiener Fachkollegen war er außerdem aktives Mitglied des Reichskolonialbundes und stellte sich mit ihnen in den Dienst einer ideologisierten und dezidiert angewandten Völkerkunde. Eberhard Geyer (1899 – 1943), seit 1933 illegales NSDAP-Mitglied, wurde nach Weningers Rückzug zunächst mit der provisorischen, ab 1941 auch mit der offiziellen Leitung des Instituts für Physische Anthropologie betraut (Pusman 2008, 208). In seine Ära fallen neben der Fortführung familienbiologischer und »rassenkundlicher« Erhebungen in Österreich insbesondere auch Untersuchungen an Juden. Die Nürnberger Gesetze von 1935 sahen den Nachweis einer »arischen Abstammung« für das Recht auf Staatsbürgerschaft und Eheschliessung vor. Nach dem »Anschluß« war auch hierorts die breite Bevölkerung zur Vorlage offizieller Dokumente verpflichtet, was zu einer Ausweitung der physisch-anthropologischen Gutachtertätigkeit führte. Lag etwa aufgrund fehlender Urkunden ein »Verdacht auf jüdische Abstammung« vor, wurde im Auftrag des Reichssippenamtes und ab 1938 auch über Gerichte ein Gutachten erstellt (Seidler/Rett 1982). Dabei wurde nicht nur die vaterschaftliche Abstammung des »Prüflings« untersucht, sondern auch eine »rassisch«-typologische Zuordnung vorgenommen. Nachdem Geyer 1943 gefallen war, übernahm Karl Tuppa (1899 – 1981) provisorisch die Institutsleitung (Pusmann 2008, 213). In Weiterführung von Geyers »erbbiologisch-rassekundlicher« und »rassenhygienischer« Lehre bestritt er bis 1945 fast gänzlich alleine das anthropologische Vorlesungsangebot der Philosophischen Fakultät der Universität Wien (Exner/Schimany 2007). Zur Frage, ob die beiden Wiener Anthropologien von der Ideologie des Nationalsozialismus vereinnahmt wurden, sich selbst in den Dienst dieses totalitären Regimes gestellt haben oder ob Wissenschaft und Politik hier mit Mitchell G. Ash als »Ressourcen für einander« (Ash 2002) gelesen werden können, besteht durchaus weiterer Forschungsbedarf.
Reflexionsgeschichten Die Zeit nach 1945 brachte für die Wiener Anthropologien keinen Neubeginn. Beide Lehrstühle wurden mit ihren vormaligen Inhabern besetzt, was auch einen inhaltlichen Rückgriff auf den Stand der Fächer auf das Niveau der Vorkriegszeit bedeutete. Baumann verließ noch vor Kriegsende Wien. Koppers kehrte 1945 als Leiter des Instituts für Völkerkunde aus der Schweiz zurück, Schmidt folgte später als Gastprofessor für einige Semester nach (Gingrich 2005). Die Wiener Schule der Kulturkreislehre kehrte damit vorerst ohne ihre »Leitfigur« aus dem Exil zurück. Dennoch dominierte sie die Forschung und Lehre der Völkerkunde bis zu Schmidts Tod 1954 (Smetschka 1997; Kwiatkowski et al. 2005). Allmählich
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kehrte sowohl die vom Nationalsozialismus vertriebene als auch die politisch belastete und 1945 entlassene Professorenschaft wieder an ihre Positionen zurück (Gingrich 2005, 136 ff.). Auch Weninger wurde wieder als Institutsvorstand und Professor für Anthropologie eingesetzt, nachdem Tuppa und die wissenschaftliche Assistentin Dora Maria Kahlich-Könner (1905 – 1970) aufgrund ihrer NS-Gutachtertätigkeit entlassen worden waren. Weninger schloss an seine morphologische Forschung aus der Vorkriegszeit an, die mittlerweile internationale Anerkennung genoss. Margarete Weninger, die sich im Rahmen der Erbbiologischen Arbeitsgruppe auf Hautleisten spezialisiert hatte, habilitierte sich 1948 als erste Frau in physischer Anthropologie (Fuchs 2002). 1949 und 1951 wurden von der UNESCO zwei wissenschaftliche Konferenzen zum Rassebegriff abgehalten – allerdings ohne eine österreichische Teilnahme. Die dabei verabschiedeten Erklärungen sollten jeglichen Rassenvorurteilen ein Ende setzen (Weingart et al. 2006). Lediglich Robert Routil (1893 – 1955), ehemaliger Assistent von Weninger und nunmehr Direktor der Anthropologischen Abteilung am Naturhistorischen Museum, referierte unmittelbar nach der Tagung von 1951 an einer vom Internationalen Museumsrat der UNESCO veranstalteten Tagung zum Thema »Question of Race« über die 1949 am Naturhistorischen Museum eröffnete Großausstellung »Die Menschheit eine Familie«. Diese Schau war bemüht, sich auf naturwissenschaftlicher Grundlage von der nationalsozialistischen »Rassenlehre« und deren Verknüpfung mit der Politik abzugrenzen. Gleichzeitig wollte sie den Forschungsgegenstand selbst retten, wobei die nun zu verurteilende »Rassenkunde« unreflektiert zur Menschheitsforschung mutierte (A. Mayer, 1996). Im deutschsprachigen Raum kam es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend zur Umbenennung der Völkerkunde in Ethnologie, was neben einer Distanzierung vom ideologisch besetzten Begriff »Volk« auch einer »re-separation« von der physischen Anthropologie Ausdruck verleihen sollte (Gingrich 2005, 138). Besonders für die nunmehrige Ethnologie läutete der 1952 in Wien abgehaltene 4. Internationale Kongress für Anthropologie und Ethnologie eine beträchtliche Internationalisierung ein. Diese wurde von Heine-Geldern nach seiner Rückkehr aus der US-Emigration aktiv vorangetrieben (Pusman 2008, 273 f.). Unter dem Ordinariat von Haekel, der 1956 auf seinen Lehrer Koppers nachfolgte, kam es zur inhaltlichen Abkehr von der Wiener Kulturkreislehre. Walter Hirschberg (1904 – 1996), bereits seit seiner Studienzeit ein Kritiker der Kulturkreislehre3, erhielt aufgrund seiner Tätigkeiten als illegales NSDAP-Mit3 Hirschberg war 1931 Mitbegründer des »Wiener Arbeitskreises für Afrikanische Kulturgeschichte« (WAFAK), der sich als Gegenpol zur Kulturkreislehre verstand. Hierin sind wohl auch die Wurzeln der Ethnohistorie zu verorten.
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glied und seiner Aktivitäten während des Nationalsozialismus erst 1953 nach seiner Entnazifizierung den ersten Lehrauftrag. Von 1962 bis 1975 war er a.o. Professor und Inhaber des zweiten Lehrstuhles am Institut für Völkerkunde (Dick 2009, 89; Loidl 2008, 79). 1958 und 1959 organisierte Haekel gemeinsam mit Emil Breitinger (1904 – 2004) und Richard Pittioni (1906 – 1985) zwei Symposien, die sich inhaltlich dem gegenwärtigen Forschungsstand und möglicher interdisziplinärer Zugänge aller anthropologischen Disziplinen in Österreich widmeten. Besonders hervorzuheben ist Koppers Beitrag zum ersten Symposium, der in seiner Abwesenheit verlesen wurde und ein persönliches Eingeständnis des Scheiterns der von ihm so lange mitgeprägten und verteidigten Kulturkreislehre darstellte (Pusman 2008, 278). Mit Breitinger hatte man 1957 aus Frankfurt einen Schüler des NS-Anthropologen Theodor Mollison (1874 – 1952) auf den Wiener Lehrstuhl für physische Anthropologie berufen (Massin 1999, 40). In seine Ära fällt eine insgesamt engere Auslegung des Faches, welches sich nun auf die Hominidenevolution und die prähistorische Osteologie konzentrierte. Entsprechend seiner Auffassung, dass die biologische Anthropologie von »philosophischen Richtungen« abzugrenzen sei (Hauser 2005), setzte Breitinger schließlich 1972 auch die Umbenennung in Institut für Humanbiologie und dessen institutionelle Angliederung an die Naturwissenschaftliche Fakultät durch (Fuchs 2003, 315). Die Zeit der Vakanz nach seiner Emeritierung (1975 – 1984) wurde durch eine kommissarische Leitung überbrückt. Während dieser Periode entwickelten sich dennoch zwei wesentliche Schulen am Institut. Zum Einen führte eine mehr oder minder »rassenkundlich«-typologisch orientierte Richtung die Tradition der so genannten Wiener Schule der Morphologie fort, wenngleich unter Integration neuer Methoden wie etwa der multivariaten Statistik. Zu ihr zählen neben Margarete Weninger auch Egon Reuer (1925 – 2004) und Eike-Meinrad Winkler (1948 – 1994), Inhaber des zweiten Lehrstuhles von 1993 bis 1994. Zum Anderen verlagerte sich der Schwerpunkt der Forschungen in Richtung »Sozialanthropologie«, »Humanökologie« und »Hominidenevolution«. Diese Fachbereiche sind eng mit der Person Horst Seidler (* 1944) verbunden, der mit einer sozialanthropologischen Habilitation 1984 Breitingers Nachfolge als Ordinarius und Institutsvorstand für Humanbiologie antrat. Er dokumentierte erstmalig die Beteiligung von Anthropologen an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und engagierte sich in einer gründlichen Kritik der eigenen Fachgeschichte während des Nationalsozialismus (Seidler/Rett 1982; Schäfer et al. 2004). Im Vorfeld der im Jahr 1995 mitveranstalteten UNESCO-Konferenz »Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung« wurde unter Seidlers Federführung in der sogenannten »Deklaration von Schlaining« eine umfassende Stellungnahme
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zur Obsoleszenz des »Rassebegriffs« erarbeitet. Die Deklaration steckte konkrete Aktionsfelder ab, innerhalb derer »Anschauungen und Schlussfolgerungen auf der Grundlage des heutigen Verständnisses genetischer Vielfalt« im Sinne einer Prävention umgesetzt werden könnten. Vermutlich wegen der fast ausschließlich naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Konferenz nahmen daran keine Ethnologen teil (Österreichische UNESCO-Kommission 1995). Damit war für das Fachgebiet der physischen Anthropologie ein Meilenstein geschaffen, der die verhängnisvolle Rolle von Anthropologie und »Rassenkunde« in der Zeit des Nationalsozialismus aufzeigte – ein Gegenstand, der Ende der 1990er Jahre im Kontext musealer Provenienzforschung weitere Vertiefung fand (Teschler-Nicola/Berner 1998). Demgegenüber steht eine fachgeschichtliche Aufarbeitung der Zeit ab der Gründung des Instituts und der damit verbundenen Kolonialgeschichte erst in ihren Anfängen. Die Initiative zu einem kritischen Umgang mit den Praktiken dieser Epoche in post-kolonialen Verhältnissen ging dabei meist von den Nationen der vormals beforschten Indigenen selbst aus. Durch die umfangreichen Recherchen der südafrikanischen Historiker Martin Legassick und Ciraj Rassool zu Pöchs Akquisitionspolitik menschlicher Skelette während seiner Kalahari-Expedition (1907 – 1909) (Legassick/Rassool 2000) konnten etwa die Überreste eines namentlich bekannten Ehepaars zwischenzeitlich nach Südafrika repatriiert werden (Sauer 2012). Innerhalb eines interdisziplinären Forschungsprojekts von 2005 bis 20074 widmete man sich dann auch von österreichischer Seite her erstmals einer exemplarischen Thematisierung der Forschungs-, Beschaffungsund nicht zuletzt den bis dahin zu Pionierleistungen stilisierten Medienpraktiken von Rudolf Pöch (Matiasek o. J.). Unter Seidlers Institutsleitung erfolgte, neben der Umbenennung in Institut für Anthropologie, die Einrichtung eines Ludwig Boltzmann Instituts für Stadtethologie unter der Leitung des Humanethologen Karl Grammer (* 1950) und die Nachbesetzung der vakanten Professur Winklers mit dem Biomathematiker und Morphometriker Fred L. Bookstein (* 1947). Die Berufung Booksteins ist als Ausdruck der Etablierung einer neuen Forschungsrichtung innerhalb der physischen Anthropologie, insbesondere auch der Hominidenevolution anzusehen: der sogenannten »Virtuellen Anthropologie« (Weber 2001). Unter diesem Schlagwort werden aktuell dreidimensionale digitale Modellierungen des menschlichen und vormenschlichen Körperbaus zum geometrisch-morphometrischen Studium von Entwicklungs- und Evolutionsvorgängen herangezogen. Dies kann als repräsentativ für eine generelle Dominanz von bildgebenden Verfahren innerhalb der medizinisch-naturwissenschaftlichen Felder angesehen werden. 4 Vgl. das FWF-Projekt »Rudolf Pöch: Ein Wissenschaftspionier« (P17761-G6, 2005 – 2007) unter der Leitung von Maria Teschler-Nicola und Harald Wilfing.
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Zeitgleich gewannen auch am Institut für Völkerkunde neue Einflüsse an Bedeutung. Den Wandel von der noch durch die Kulturkreislehre geprägten Nachkriegsethnologie zu einer modernen Kultur- und Sozialanthropologie trieben vor allem zwei namhafte Vertreter des Faches voran: Walter Dostal (1928 – 2011) und Karl R. Wernhart (* 1941). Dostal wurde 1975 zum ordentlichen Professor ernannt und etablierte einen für Wien neuen theoretischen Ansatz. Er kombinierte Heine-Gelderns Interesse für Hochkulturen mit einem – auch marxistisch motivierten – neo-evolutionistischen Zugang, in dem Abhängigkeiten von Umwelt und Kultur beziehungsweise Wirtschaft und Politik eine wesentliche Rolle spielen (Gingrich/Haas 2007). Als einer der ersten zeigte Dostal ein spürbares Engagement für den Status der von Ethnologen beforschten Gruppen, indem er beispielsweise 1972 maßgeblich an der Organisation einer Konferenz für die Rechte der Indigenen in Südamerika beteiligt war. Wernhart wurde 1980 ordentlicher Professor am Institut für Völkerkunde. Er erweiterte die – zunächst von Hirschberg als vorwiegend deskriptiver Ansatz konzipierte – Ethnohistorie um eine explizit sozialwissenschaftliche Dimension, in der er sich mehr und mehr mit der historischen Entwicklung sozialer Strukturen auseinandersetzte (Wernhart 2001, 45). Dabei kommt neben schriftlichen und archäologischen Quellen auch der »oral history« und der materiellen Kultur eine wesentliche Bedeutung zu. Wernhart prägte allerdings nicht nur das Institutsgeschehen, sondern wirkte auch als Dekan der Grundund Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien (1985 – 1989) und als Rektor (1989 – 1991). Mit der neuen Auffassung von Geschichte konnten innerhalb lokal und regional spezifischer Fragestellungen hierdurch konkrete gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen untersucht werden (Gingrich 2005, 150). Auch ging ein starkes Interesse für die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Archäologie und Ur- und Frühgeschichte einher. Dieselbe Offenheit zeigte sich gegenüber Einflüssen aus der Kultur- und Sozialanthropologie Nordamerikas sowie Nord- und Westeuropas (Gingrich/Dostal 1999, 151 f.). Die Aufarbeitung der eigenen Wissenschafts- und Institutsgeschichte begann mit Dostals »Silence in the Darkness« (Dostal 1994) und wurde später vor allem von Andre Gingrich (* 1952) vorangetrieben.5 Schließlich wurden auch internationale (selbst-)kritische Strömungen innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften (Postmoderne Wende, Feministische Theorie, Writing CultureDebatte, Postcolonial Studies) in Wien zunehmend rezipiert und schlugen sich in Arbeiten und Publikationen der Wiener Ethnologen und Ethnologinnen nieder (Kohl 2012, 180 ff.). 5 Vgl. das FWF-Projekt »Rochaden – Systemerhalter, Überläufer und Verstoßene« (P 19839G08, 2008 – 2013) unter der Leitung von Andre Gingrich.
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Zukunftsgeschichten Wie dieser historische Abriss zeigt, blicken beide Disziplinen auf eine gemeinsame Gründungsgeschichte und im weiteren Verlauf auf wechselhafte Beziehungen zwischen zwei unabhängigen Wissenschaftskulturen zurück. Aktuell stehen die Wiener Anthropologien jedoch vor der Herausforderung, ihr historisches Werden nicht ausschließlich als Trennungsfaktor anzusehen, sondern gerade darin Aufschluss über ihre heute divergierenden wissenschaftstheoretischen Zugänge (Schabus 2012) zu finden und daraus eine Basis für reflektierte und einander ergänzende Arbeitsweisen zu konzipieren. In diesem Sinne versteht sich dieser Artikel nicht nur als Beitrag zur 650jährigen Geschichte einer zentralen österreichischen Bildungsinstitution, sondern als möglicher Indikator einer Annäherung von zwei eigenständigen und stark ausdifferenzierten Disziplinen. Ihre immer schon multidisziplinären Randzonen und Auffächerungen könnten sich dabei zukünftig als jene Schnittstellen erweisen, an denen sich die große und über all die Jahre verbindende Gemeinsamkeit niederschlägt: das Interesse am Menschen in all seinen biologischen, kulturellen und sozialen Facetten.
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Wolfgang Duchkowitsch und Hannes Haas (†)*
Die Überwindung vieler schwerer Bürden in langer Zeit – Kennzeichen des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Prolog Das Institut ist im Vergleich zu konvergenten Instituten in Deutschland erst spät errichtet worden. Es verdankt seine Gründung keinem Antrieb der Universität Wien, sondern einer Anweisung von Goebbels an die Universität im Sommer 1938. Die Einrichtung des Instituts erfolgte in stillgelegten Räumlichkeiten eines jüdischen Buchverlegers nahe der Universität Wien. Die Eröffnung als Institut für Zeitungswissenschaft, analog zu der Bezeichnung im »Altreich«, fand im Mai 1942 statt. Diesen Namen behielt das Institut bis Ende der 1960er Jahre bei. Danach wurde »Zeitungswissenschaft« durch »Publizistik« bzw. »Publizistikwissenschaft« ersetzt. Den heutigen Namen erhielt das Institut vor rund 25 Jahren. Der Beitrag erläutert die mühselige Entwicklung vom »Vorzeigeinstitut« im »Dritten Reich« über die von vielen strukturellen Problemen geprägte Nachkriegszeit, die am Institut bis Ende der 1960er Jahre dauerte, zum heutigen Selbstverständnis als Stätte wissenschaftlicher Vorbildung für permanent sich ausdifferenzierende Kommunikationsberufe. Im Vorfeld zeigt er auf, worin sich die Pflege zeitungskundiger Betrachtung in Deutschland und Österreich während des 18. und 19. Jahrhunderts gravierend unterschied, welche Chancen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts versäumt oder ungenützt blieben, Lehre über Journalismus an der Universität Wien institutionell zu verankern, und wie Zeitungswissenschaft im Austrofaschismus außeruniversitär etabliert wurde.
* Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften der Universität Wien.
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Wolfgang Duchkowitsch und Hannes Haas
Vorläufer der Zeitungswissenschaft Zweistündige Zeitungskollegien an deutschen Universitäten markieren im 18. Jahrhundert den Beginn einer wissenschaftlichen Betrachtung des Mediums Zeitung. Die Kollegien dienten einer Reflexion dessen, was die Zeitung als Transportmittel von Informationen, insbesondere über politische und militärische Ereignisse in der Alten und Neuen Welt sowie als Agentin höfischer Ordnung, für ihre Leser in der aufkeimenden bürgerlichen Öffentlichkeit bedeutete. Es verwundert nicht, dass an der Universität Wien kein Zeitungskollegium angeboten wurde, wie es der am Wiener Hof hoch geschätzte Universalgelehrte Ludwig August von Schlözer in Göttingen zur Hochblüte gebracht hatte. Denn während er seinen Studenten den gesamten Nachrichtenprozess erklärte, vom Zeitungskorrespondenten bis zum fertigen Produkt, ihnen beibrachte zwischen Facta und Judicia zu unterscheiden (Storz 1931, 50 – 56), kam die Pflege eines bescheidenen zeitungskundigen Wissens in der kaiserlichen Residenzstadt Wien nur den Edelknaben sowie den angehenden Beamten in der Savoyischen Ritterakademie und den Zöglingen in den Priesterseminaren zu Gute (Duchkowitsch 1981, 156 – 162). Gravierende Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich sind ebenso nach dem Ausklingen der Zeitungskollegien unter dem Eindruck der französischen Revolution im Schrifttum des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Ersten Versuchen von Privatgelehrten in deutschen Landen, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Zeitungsproduktion und – rezeption zu theoretisieren (Holtz-Bacha/Kutsch 2002, 278 – 279 und 392 – 394), standen in Österreich deskriptiv gestaltete kulturhistorische Betrachtungen des Pressebetriebs gegenüber, gestaltet von Publizisten, die ihre Tagesarbeit reflektierten. Diese Ausrichtung manifestiert sich in der zweibändigen »Geschichte der Wiener Journalistik« von Ernst Viktor Zenker. Sie gipfelte in seinem Buch »Geschichte der Journalistik in Österreich«. Er verfasste sie als Auftragsarbeit, mithilfe derer die lange Tradition österreichischer Kultur bei der Pariser Weltausstellung 1900 vor Augen geführt werden sollte. Auch wenn Wien für ihn eine capitale de la presse war, überzeugt davon, dass der Journalismus eine kulturhistorische Mission in sich trage, gelangte er zu keiner systematischen Erklärung von Ausschnitten aus der Welt des Journalismus oder gar der Zeitungsleserschaft.
Versäumte oder nicht genützte Chancen 1903 brachte der Journalist Emil Löbl mit dem Buch »Kultur und Presse« ein Werk heraus, das im intellektuellen Nährboden des jüdischen Lebens in »Wien um 1900« wurzelt. Ihm ging es um den Versuch einer systematischen und kri-
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tischen Darstellung des modernen Zeitungswesens, beeindruckend nicht zuletzt deshalb, weil er sich intensiv mit dem Kulturfaktor Lesen auseinandergesetzt hat (Löbl 1900, 254). Er entwickelte als Schüler des Ökonomen Carl Menger für die Zeitung eine Definition, die in ihren Grundzügen die Begriffsdeutung in der zeitungswissenschaftlichen Lehre der 1930er Jahre (vgl. Koszyk/Pruys 1969, 393) vorweggenommen hat. Sein Œuvre hätte die besten Voraussetzungen für eine universitäre Vertiefung des Zeitungswesens samt allen innewohnenden kulturellen und ökonomischen Elementen geboten. Eine leidliche Chance dafür bot sich 1904 an. Joseph Pulitzer, in Ungarn geboren und in den USA zu einem bedeutenden Zeitungsverleger aufgestiegen, ersuchte die »Concordia«, die Standesvertretung österreichischer Journalisten, ihn bei der geplanter Errichtung einer »School of Journalism« zu beraten. Die »Concordia« votierte nach langer Erörterung für die Etablierung eines »journalistischen Seminars« in fachlicher Nähe zur juridischen Fakultät einer Universität. Dieses Ergebnis teilte sie Pulitzer 1905 mit. Seine bündige Antwort: Die Vorbereitungen für die Errichtung einer »School of Journalism« seien bereits abgeschlossen (Eppel 1984, 138). Die erste konkrete Chance für die Universität Wien, ihren Kanon zu öffnen, ergab sich, als der Staatskanzler Karl Renner im Frühjahr 1919 im Rahmen einer Enquete unter dem Vorsitz des Staatssekretärs Rafael Pacher für die Errichtung eines Hochschullehrgangs für Journalisten plädierte (Duchkowitsch 1991, 7 – 45). Zur Enquete lud Renner alle Standesvertreter der Presse ein, ebenso den Rektor Friedrich Becke sowie die Dekane der juridischen und philosophischen Fakultät, Carl Grünberg und Eugen Oberhummer. Pacher argumentierte die Errichtung eines derartigen Hochschullehrgangs mit drei Schwächen im Lehrangebot der Universität Wien: 1. Mangel an gebotener Systematik in Lehrveranstaltungen, in denen Informationen über einzelne berufsnotwendige Wissenszweige erworben werden können, 2. Fehlen eines inneren Zusammenhangs für das erworbene Wissen und 3. Zwang zum Selbststudium (ebd., 13). Renner ging vom übergeordneten Wunsch aus, Hochschul- und Journalistenwelt sollen eng zusammenrücken. An die Spitze seiner sachbezogenen Argumente rückte er : Der Erste Weltkrieg sei deshalb verloren worden, weil der Staat, die Regierung und die Wissenschaft die öffentliche Meinung zu gering geschätzt haben. Journalismus als Träger öffentlicher Meinung verdiene nach diesen bitteren Erfahrungen größeren Respekt als bisher. Überdies könne eine dauerhafte Festigung der gesellschaftlichen Umwälzung nach Ausrufung der Republik nur in einem dialektischen Prozess mit der Presse erreicht werden (ebd., 14 – 15). Die Vertreter der Presse lehnten mit einer Ausnahme die Idee Renners schroff ab: Journalismus könne nicht in einem Hochschullehrgang erlernt werden, sondern nur in der Praxis. Zu diesem Beruf müsse man geboren sein. Grünberg folgte dieser Argumentation: Journalismus beruhe auf drei Teilen, auf einem Hand-
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werklichem, auf einem Künstlerischem und einem »aus dem Urquell der Natur sprudelnden Begabung« (ebd., 27). Becke bezog keinen Standpunkt. Oberhummer hingegen erklärte sich mit dem Anliegen Renners solidarisch. Einigkeit herrschte seitens der Standesvertreter wie der Universität Wien letztlich bloß im Beschluss, weitere Beratungen vorzunehmen. Bald danach senkte sich Stille über die gesamte Angelegenheit (ebd., 30). Erst 1926 kam der Rektor der Universität Karl Sperl auf das Thema zurück. Er empfahl einen Lehrstuhl für Zeitungswissenschaft zu errichten, beeindruckt von der Gründung des Instituts für Zeitungskunde in Berlin (Fabris 1983, 205). Sein Vorstoß blieb ohne Konsequenz. Zum Repertoire der Lehre zählten daher weiterhin bloß zeitungskundige Kollegien, die Wilhelm Bauer, antisemitischer, deutschnationaler Historiker für Neuere Geschichte (Heiss 2010, 399 – 406), seit 1909 in unregelmäßigen Abständen anbot (Schulz 1979, 258 – 263). Unter seiner Ägide beschäftigten sich Studenten mit der österreichischen Mediengeschichte und der öffentlichen Meinung, zu denen gemäß seiner Position das »jüdische Element« zählte (Venus 2003, 283.). Ab 1936 diente Bauer sich dem Austrofaschismus an, indem er einige Vorträge im Rahmen der 1935 gegründeten »Österreichischen Gesellschaft für Zeitungskunde« hielt, deren Vereinsziel in der »Schaffung und Unterhaltung eines Forschungs- und Lehrinstituts in Wien« bestand.
Zeitungswissenschaft im Austrofaschismus Dieses Institut sollte den Namen »Österreichisches Institut für Zeitungskunde« erhalten und das Zeitungswesen sowie die damit »zusammenhängenden Probleme« wissenschaftlich erforschen. Dieser Plan kam nicht zustande. Dagegen wurde eine andere Idee realisiert: die Etablierung eines Kurses für Zeitungskunde im Rahmen der Österreichischen Pressekammer (Duchkowitsch 1989, 156). Eduard Ludwig, Mitglied des Staatsrates sowie Präsident der Österreichischen Pressekammer und der »Österreichischen Gesellschaft für Zeitungskunde«, präsentierte das Programm des Kammerkurses erstmals in einem Vortrag vor dem »Deutschen Journalisten- und Schriftstellerverband Österreichs« im Jänner 1937. Der Kurs werde das »Zeitungswesen als Forschungsgegenstand nicht zu kurz kommen« lassen, aber primär als »Vorbildungsstätte« wirken. Er war auf sechs Semester angelegt, analog zur Dauer des zeitungswissenschaftlichen Studiums in Deutschland. Die Leitung erhielt Arnold Winkler. Er hatte bereits ab dem Studienjahr 1932/33 an der Hochschule für Welthandel Vorlesungen über die Geschichte des Zeitungswesens und der Journalistik abgehalten. Der erste Kurs, für den sich rund 250 Personen nicht nur aus Österreich, sondern auch aus dem Ausland inskribiert hatten, begann am 1. März
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1937. Mit Beginn des Wintersemester 1937 wurde er gemäß der Programmatik, Wissenschaft als Dienst in der »geordneten menschlichen Gesellschaft« zu begreifen, in eine »Akademie für Presse und Politik« umgewandelt (Ludwig 1937, 1 – 3). Der »Anschluss« setzte dem Kammerkurs ein jähes Ende. Noch in der Nacht zum 12. März 1938 wurden die leitenden Kräfte der »Österreichischen Gesellschaft für Zeitungskunde«, Eduard Ludwig, Friedrich Funder, Chefredakteur der »Reichspost«, und Edmund Weber, Leiter der Amtlichen Nachrichtenstelle, verhaftet und bald danach gemeinsam mit prominenten christlich-sozialen Politikern ins Konzentrationslager Dachau überstellt (Venus 1987, 121).
Das Institut im »Dritten Reich« Den entscheidenden Impuls zur Gründung eines zeitungswissenschaftlichen Instituts an der Universität Wien setzte Walther Heide, Präsident des Deutschen zeitungswissenschaftlichen Verbandes (DZV), im Mai 1938. Er fand dafür sowohl bei Goebbels als auch bei Otto Dietrich, dem Pressechef der Reichsregierung, uneingeschränkte Unterstützung. Im Sommer 1938 ließ Dietrich die Räumlichkeiten des aus rassischen Gründen geschlossenen Verlages C. Barth in der Heßgasse 7, nahe dem Universitätsgebäude, für den Einzug des Instituts bereitstellen. Goebbels genehmigte dem Institut in dieser Entstehungsphase ein eigenes Budget, das treuhänderisch vom DZV verwaltet wurde. Das Professorenkollegium der Universität verhielt sich angesichts des raschen Tempos an Vorkehrungen aus zwei Gründen verhalten: Das neue Institut dürfe weder durch eine einseitige materielle Begünstigung noch durch eine »Verbilligung des Doktorats« eine Sonderstellung einnehmen (Duchkowitsch 1989, 156 – 157). Die räumliche Ausstattung des Instituts war schnell abgeschlossen, nicht aber die personelle. Ende 1939 verfügte das Institut mit Wilmont Haacke zwar schon über einen Assistenten, der Vorstandsposten blieb jedoch vakant, auch wenn es an Bewerbern nicht gefehlt hatte. Als Erster bewarb sich Lambert Haiböck, Hauptschriftleiter der »Wiener Zeitung«, Lehrbeauftragter für Presse und Propaganda an der Konsularakademie, ein Schützling des Historikers Heinrich von Srbik. Lambert, der über kein abgeschlossenes Studium verfügte, zog seine Bewerbung bald zurück (Duchkowitsch 2010, 527). Die Suche nach einem geeigneten Leiter dauerte danach bis Ende 1941. Sie schloss mit der Betrauung von Karl O. Kurth ab, geboren 1910 in Sachsen, 1919 der SA und NSDAP beigetreten, Geschäftsführer des DZV, Inhaber einer Dozentenstelle und kurzzeitig Leiter des Instituts für Zeitungswissenschaft an der Universität Königsberg. Er zählte zu den einflussreichsten Figuren in der Wissenschaftspolitik der Disziplin (ebd., 527 – 528). Die Eröffnung des Instituts im Mai 1942 feierten nahezu alle Fach-
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kapazitäten sowie die Prominenz aus NSDSAP und SS mit. Sie wurde als weitere »Eroberung« einer deutschen Universität verstanden: Wien sei nunmehr an die Seite der zeitungswissenschaftlichen Institute bzw. Abteilungen in Berlin, Hamburg, München, Münster, Heidelberg, Freiburg, Köln, Königsberg, Nürnberg und Prag getreten (ebd., 530 – 531). Heide wies dem Institut bei der Eröffnung die Spezialaufgabe zu, Anziehungsort für die Zeitungswissenschaft des Südostens zu werden, sekundiert von der neuen Südostabteilung der Nationalbibliothek sowie von der Union Nationaler Journalistenverbände in Wien, die mit der Erforschung der Südostpresse beauftragt war. Drei Garanten somit für den Gedanken, die historische Rolle Österreichs im südosteuropäischen Raum aufzugreifen, die erworbenen Kenntnisse über diesen Raum zu nutzen und Wien zum geistigen »Ausfallstor« werden zu lassen. Fritz Knoll, Rektor der Universität, nützte die Eröffnung, um die Redensart »Er lügt wie gedruckt« volksnah zu erklären: »Damit ist die Zeitung gemeint. Die Gründe für eine solche noch weit verbreitete Auffassung liegen darin, daß das internationale Judentum als der frühe Beherrscher des gesamten Zeitungswesens Wahrheit und Unwahrheit ganz nach Gutdünken zu seinen Zwecken gebrauchte.« Getreu nationalsozialistischen Maximen huldigte er dem Objekt des Instituts als »Stimmer der Volksführung« und »Stimme des Volks« zugleich. Sei die Zeitung in der liberalen Zeit schwer mit dem Odium der Unwahrhaftigkeit belastet gewesen, so bedürfe es nun einer Wahrhaftigkeit (sic!) im Sagen und Verschweigen (Institut 1942, 111). Kurth, der Zeitungswissenschaft auf die von ihm geschaffene Nachrichtenlehre reduzierte, nutzte die Gelegenheit, um seine Thesen zur deutschen Presse als Führungsmittel kund zu tun: »Die deutsche Presse der Gegenwart bewältigt, indem sie Nachrichten bringt und bespricht, zugleich eine kämpferische und erzieherische Aufgabe. Die kämpferische Aufgabe erfüllt sie dadurch, daß sie einmal die deutsche Leistung im Aufbau des Reichs und im Kampf um dessen Bestand verkündet. Zum anderen kämpft die Presse auch zum Schutz des deutschen Volkes in der Abwehr feindlicher Hetzpropaganda, indem sie die Lügen der feindlichen Nachrichtendienste aufgreift und zunichte macht.« (Ebd.) Er stellte diesem Programm zufolge das Institut in den totalen Dienst des Kriegs. Ebenbürtig dazu inspirierte er die Studierenden am Institut und führte sie an die »führende«, »kämpfende« Leistung des Fachs heran. Aufsätze von Studentinnen und Studenten in der Institutszeitschrift »Wienerisches Diarium« sowie in der Wiener Tagespresse dokumentieren den Erfolg dieser Indoktrination. Im Oktober 1943 tauschte Kurth den Katheder mit dem Waffenrock. Er erfüllte sich damit seinen »allersehnlichsten« Wunsch. Von diesem Zeitpunkt an ging der Betrieb des Instituts nur noch behelfsmäßig voran, doch ersetzten Studierende, deren Zahl kriegsbedingt von 162 auf knapp über 100 im Wintersemester 1944/45 gesunken war, in Arbeitsgemeinschaften seine ideologische
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Funktion, z. B. mit einer Exposition über Feldzeitungen im Ersten Weltkrieg. Im Sommersemester 1945 belief sich die Zahl der Studierenden auf 52 (Duchkowitsch 2010, 536 – 542).
Die lange Nachkriegszeit Kurth wurde nach Kriegsende von der Universität relegiert. Marianne Pig, verehelichte Lunzer-Lindhausen, Assistentin seit 1943, konnte am Institut als einziges nationalsozialistisch nicht belastetes Mitglied verbleiben. Sie kümmerte sich in der Schutt- und Trümmerzeit um den materiellen Fortbestand des Instituts: »In den Frühlingstagen des Jahres 1945 stand das Institut vor dem Zusammenbruch. Niemand wollte mit der Zeitungswissenschaft, dieser ›Nazieinrichtung‹, wie sie allgemein genannt wurde, auch nur das Geringste zu tun haben.« (Lunzer-Lindhausen 1987, 113) Für die neue geistige Ausrichtung des Instituts sorgte die philosophische Fakultät im Dezember 1945. Sie plädierte für einen Fortbestand des Instituts vom »Standpunkt der wissenschaftlichen Forschung wie von dem des Staatsinteresses«. Denn nur ein solid fundiertes Zeitungswesen sei imstande, den demokratischen Staatsgedanken in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Konträr zu der von Kurth geübten Arbeitsweise soll nicht Aktualität zum Ausgang der Lehre gewählt werden. Vielmehr soll die wissenschaftliche Darstellung des Zeitungswesens die »vornehmste« Basis der Ausbildung sein, »deren Ziel in erster Linie der wissenschaftliche Forscher, in zweiter Linie der seriös vorgebildete Redakteur ist« (Venus 1987, 125). Die Leiterfunktion erhielt Ludwig, der vormalige Präsident der »Österreichischen Gesellschaft für Zeitungskunde«, mit gleichzeitiger Ernennung zum Honorarprofessor. Mit dieser Entscheidung wurde personell ein Anschluss an die »Akademie der Presse« getroffen, so als wäre die nationalsozialistische Penetration der Zeitungswissenschaft am Wiener Institut bloß ein unliebsames, nebensächliches Zwischenspiel gewesen. Mit Ludwig stand dem Institut ein Mann vor, der 1937 beteuert hatte, im »Ständestaat« herrsche Pressefreiheit (Ludwig 1937, 2), und vom Journalismus die »Erkenntnis richtigen Staatswohls« (ebd.) verlangte. Ludwig, Abgeordneter der Österreichischen Volkspartei zum Österreichischen Nationalrat bis 1949, stand dem Institut bis 1958 vor. Während dieser Ära der zweiten Generation gewann das Institut kein wissenschaftliches Profil. Sein Betrieb galt mitsamt einer Akzentuierung der Pressehistorie und Geschichte der öffentlichen Meinung in der Tradition von Bauer und einer Beachtung nationaler und internationaler pressepolitischer Entwicklungen der Ausbildung zum Journalismus (Venus 1987, 126). Zur Optimierung der Lehre in demokratiepolitischer Hinsicht waren Englisch und Französisch als Pflichtfächer eingerichtet.
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In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre reagierte das Institut auf den ökonomischen Aufschwung durch Einbeziehung der Markt- und Meinungsforschung sowie der Werbung in die Lehre, besorgt durch externe Lehrbeauftragte wie schon davor und weiterhin im Praxisfeld Journalismus. Die interne Lehre, vermittelt durch Lunzer und Kurt Paupi¦, der Zeitungswissenschaft in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre studiert hatte und am Institut zunächst eine Stelle als Hilfsassistent bekleidete (Duchkowitsch 2002, 146), blieb mehrheitlich traditionellen Verpflichtungen der Zeitungswissenschaft verhaftet (Vorlesungsverzeichnis, 1953 – 1973). Nach dem Abgang von Ludwig kamen weder Lunzer noch Paupi¦ für die Institutsleitung in Betracht. Lunzer war seit 1956 habilitiert, konnte in der »Männerwelt« der Universität aber nicht reüssieren. Paupi¦ kam deshalb nicht in Frage, weil sein Habilitationsverfahren noch in Schwebe war. Seine Habilitationsschrift lag 1956 vor, war aber mit dem Vermerk zurückgestellt worden, es sei eine neuerliche Behandlung seines Ansuchens um Erteilung der Venia erst nach Vorlage weiterer gedruckter Arbeiten möglich. Dies gelang ihm 1960 mit der Publikation des ersten Bandes seine »Handbuchs der österreichischen Pressegeschichte 1848 – 1959«. Seine Ernte bestand nur in der Pragmatisierung. Denn die Universität hatte schon 1958 beschlossen, das Institut unter kommissarische Verwaltung zu stellen (Duchkowitsch 2002, 146 – 147). Mit der Funktion eines kommissarischen Leiters waren zunächst der Historiker Heinrich Benedikt und dann der Orientalist Herbert Duda betraut. Diese Bevormundung währte zehn Jahre, akzentuiert durch die Einschätzung von Duda, Zeitungswissenschaft sei nichts anderes als eine historische Hilfswissenschaft. 1968 kreuzten sich kurz die Lebenswege von Paupi¦ und Kurth, der nach mehrjähriger Tätigkeit für Heimatvertriebene die Stelle eines Hilfsreferenten im Presse- und Informationszentrum des Bundesministeriums für Verteidigung in der BRD bekommen hatte. Beide bewarben sich um die neu geschaffene Lehrkanzel für Zeitungswissenschaft. Die Berufungskommission reihte sie »primo et aequo loco«, ohne die Tätigkeit von Kurth während des »Dritten Reichs« aufzugreifen. Der Mitbewerberin Lunzer wurde beschieden, sie sei eine ausgezeichnete Lehrkraft, habe aber seit ihrer Habilitation im Jahr 1956 kaum nennenswerte Publikationen hervorgebracht. Im zweiten Verfahrensschritt räumte die Kommission Paupi¦ den Vorzug mit folgender Begründung ein: Für ihn spräche der 1966 publizierte zweite Band seines »Handbuchs der österreichischen Pressegeschichte 1848 – 1959«, dessen Wert vor allem aus der vorgelegten Rezension von Haacke ersichtlich sei (ebd., 140). Just von jenem Wissenschafter also, der 1942 einen von Ausfällen getränkten Aufsatz zum Wiener jüdischen Feuilleton im »Handbuch der Zeitungswissenschaft« publiziert hatte, von dem er sich auch nach 1945 nie distanzierte. Vermutlich schloss sich da ein kleiner Kreis zu Paupi¦, der seine Lebensbahn als illegales Mitglied der HJ ab Mitte der
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1930er Jahre und der SA ab 1. Jänner 1938 sowie danach als Mitglied der NSDAP bei seiner 1950 erfolgten Bewerbung um eine Assistentenstelle eidesstattlich geleugnet hatte (ebd., 145). Inhaltlich konnte sich das Institut seiner geistigen Ausrichtung auf die alte Zeitungswissenschaft und daran gebunden auf die Zeitung und Zeitschrift sowie auf die Pressepolitik bis Ende der 1960er Jahre nicht entledigen. Hörfunk und Fernsehen gerieten erst allmählich in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung. Ungünstig wirkte sich außerdem die allgemeine »Verspätung« der Sozialwissenschaften an den österreichischen Universitäten auf das Institut aus (Fabris 1983, 4).
Die Entwicklung ab den 1970er Jahren In den 1970er Jahren wies das Institut eine personell marginalisierte, aber durch exzellente Dissertationen immer noch starke medien- und kommunikationshistorische sowie eine aus dem Mittelbau erwachsene empirisch-analytische bzw. theorieorientierte Ausrichtung auf. Damit wurde der Übergang von der bescheiden konturierten Zeitungswissenschaft zu einer sozialwissenschaftlich fundierten Disziplin eingeleitet. Kennzeichnend für diesen Wandel waren die Integration von internationalen kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen und Modellen, des Weiteren von Prinzipien des »Kritischen Rationalismus« und der »Kritischen Theorie« sowie die Reflexion und Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden, vor allem der quantitativen Inhaltsanalyse, aber auch qualitativer Verfahren etwa im Rahmen von Rezeptionsanalysen. Sichtbar wurde dieser Umschwung in Forschungsprojekten und Publikationen von Angehörigen der aufstrebenden dritten Generation des Instituts, die als Assistenten allesamt Paupi¦ zugeordnet waren. Die Gliederung des Instituts in eine theoretische, angewandte und historische Abteilung spiegelt die Konsequenz dieser Entwicklung wider. Sie war von Fragen nach dem Selbstverständnis des Fachs, der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft begleitet, die zunehmend an Bedeutung gewannen und auch von der Wissenschaftspolitik wahrgenommen wurden. Kooperationen mit dem jungen Schwesterinstitut in Salzburg und mit Nachbardisziplinen sowie auch mit der Kommunikationspraxis wurden vom Projektteam »Medien- und Kommunikationsforschung« am Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung gefördert. Nach dem Tod von Paupi¦ im Dezember 1981 (Gottschlich 1982, 179 – 180) übernahm Marianne Lunzer die Leitung des Instituts. In dieser Funktion wusste sie fürsorglich die Lehre und Forschung am Institut zu vertiefen. Ihre eigene Forschung musste sie als Ordinaria etwas zurückstellen. Den Wiener Frauenzeitschriften und der Frau als Leserin im 18. Jahrhundert sowie der Medien-
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politik in der Ersten Republik galten jedoch weiterhin ihre Schwerpunkte. Lunzer hat mit der von ihr mitgelebten Einmündung des Fachs in das Gesamtfeld der Sozialwissenschaft viele Konturierungsmöglichkeiten für Forschungsarbeiten auf dem Weg von der Presse- zur Kommunikationsgeschichte eröffnet. (Duchkowitsch 2002, 486 – 487). Nach ihrer Emeritierung folgte Wolfgang R. Langenbucher im April 1984 in das Ordinariat. Er leitete das Institut bis zu seiner Emeritierung Ende September 2006 fast durchgängig, in den Jahren 1994 bis 1997 war Thomas A. Bauer Vorstand gewesen. In seiner Ära, in der das Institut aus den längst schon zu klein gewordenen Räumlichkeiten im Neuen Institutsgebäude (Universitätstrasse 7) in ein eigenes Haus in der Schopenhauerstrasse im 18. Wiener Bezirk übersiedelte, begleitet von der Errichtung der Fachbibliothek, wuchs die Zahl der Studierenden rapid an. Weit über 1.200 MaturantInnen griffen pro Jahr das Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im Haupt- und Nebenfach auf, als »Modestudium« von der Politik wie auch von der Universität qualifiziert. Eine krasse Fehleinschätzung angesichts des nicht nachlassen wollenden Interesses von Studierenden, das sukzessiv in theoretischer wie auch praxisbezogener Hinsicht ausgebaute Lehrangebot als wissenschaftliche Vorbereitung für den beruflichen Einstieg in ein Segment der Kommunikationsberufe zu nutzen, die sich zunehmend ausfalteten und spezialisierten. Verglichen mit dem »Massenansturm« von Studierenden war die Verbesserung der personellen Ausstattung des Instituts höchst bescheiden. So konnte die Betreuung hunderter Abschlussarbeiten, Diplomarbeiten und Dissertationen pro Jahr nur deshalb gelingen, weil viele Angehörige des Instituts, Professoren, Dozenten und Assistenten, keine Trennlinie zwischen Arbeitszeit und Freizeit zogen. Viele hatten pro Studienjahr 30, manche sogar über 50 Abschlussarbeiten zu begutachten. Möglich waren solche Leistungen wie auch die Leistungen der administrativen Betreuung tausender Studierender aus zwei Gründen: Erstens, weil sich alle MitarbeiterInnen des wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Personals mit den gesellschaftlichen Anliegen des Instituts identifizierten und zweitens, weil das Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft zumindest für die angehenden AbsolventInnen des Instituts eben kein Modestudium bedeutete. Heute findet sich keine seriöse Gesellschaftsdiagnose ohne eine entsprechende Betonung der überragenden Bedeutung von Kommunikation und Information, ganz selbstverständlich haben sich Begriffe wie »Mediengesellschaft« in Wissenschaft und Praxis etabliert. Die Langlebigkeit der Abwertungsvokabel »Modestudium« ist daher – dezent formuliert – erstaunlich. 30 Jahre lang haben Kritiker damit unter Beweis gestellt, gleich viel über Mode wie über das Studium und erst recht über den evidenten gesellschaftlichen Wandel zu wissen. Aber das Vorurteil, dass der heftige Zustrom von Studierenden eine rasch wieder vereb-
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bende Zeiterscheinung wäre, hatte verheerende strukturelle Folgen für das Institut. Sowohl in der Wissenschaftspolitik als auch in den Universitätsleitungen der 1980er und 1990er Jahre glaubte man, dem wachsenden Zustrom zum Institut durch keinerlei Verbesserungen der räumlichen und personellen Ausstattung begegnen zu müssen, um der Mode ein Ende zu machen. Das erwies sich als krasse Fehleinschätzung. Das Gegenteil war der Fall: stetig steigende Studierendenzahlen, desaströse und international nicht vergleichbare Betreuungsverhältniszahlen, kurz: unzumutbare Lehr-, Forschungs- und Studienbedingungen. Das ergaben die Evaluierungen durch externe Peers, die sich außerstande zeigten, die »Wiener Zustände« nachzuvollziehen und nicht selten an den angegebenen Studierenden- und Ausstattungszahlen zweifelten. Denn dass dennoch und allen Widrigkeiten zum Trotz kontinuierlich publiziert und geforscht wurde, ja, dass das Wiener Institut bei Publikationsstudien sogar auf den vorderen Rängen rangierte, stand ebenfalls in den Evaluationsberichten.
Diplomstudium Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (1984 – 2009) Lange Jahre war das Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft nach der Philosophischen Rigorosenordnung organisiert, die von wenigen Regelungen abgesehen ein weitgehend selbstbestimmtes Studieren ermöglichte. Die Zahl der Studienanfänger betrug in den frühen 1980er Jahren rund 200 Neu-Inskribienten. Die Betreuung der Dissertationen lag zunehmend in den Händen von vier Universitätsassistenten, die einen Ordinarius und eine ExtraOrdinaria unterstützten. Mit dem 1984 eingeführten Diplomstudium startete endgültig die Ära des sogenannten Massenstudiums: In den 25 Jahren der Gültigkeit dieses Studiums waren rund 18.000 StudentInnen eingeschrieben. Da man 19 Jahre lang das Studium beginnen konnte, waren das durchschnittlich rund 950 ErstfachInskribienten pro Jahr. Zusätzlich kamen noch mehr als 10.000 Zweitfach-Studierende hinzu, die mit Ausnahme zweier Seminare dasselbe Studienprogramm durchliefen, allerdings keine Diplomarbeit zu verfassen hatten. Mit der Verfünffachung der BeginnerInnenzahl (bzw. mit Zweitfach gar der Verachtfachung) konnte die Steigerung der Zahl des Personals bei weitem nicht mithalten. Auch die Verdoppelung der Professoren- und AssistentInnenstellen konnte nicht verhindern, dass das Studium durch überfüllte Hörsäle, unzumutbare Studienbedingungen und rekordverdächtige Betreuungsverhältnisse gekennzeichnet war. Der Anteil externer Lektoren an der Lehre betrug einiges über 80 %, die Dropout-Rate war lange Zeit ebenso hoch, ehe diese durch das
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Engagement zusätzlicher DiplomarbeitsbetreuerInnen für das auslaufende Studium auf 76 % über den Gesamtzeitraum gesehen gesenkt werden konnte. Insgesamt haben 4.357 Personen das Diplomstudium Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit dem Magistergrad abgeschlossen. Ab 2003 begann mit der Umstellung des Diplomstudiums in ein Bakkalaureats- und Magisterstudium eine kontinuierliche Aufstockung des wissenschaftlichen Personals, die AbsolventInnenzahlen entwickelten sich in zehn Jahren zu etwa 500 Bakkalaureats- und 200 MagisterabsolventInnen pro Jahr. Damit entspannte sich auch die Situation für die Studierenden deutlich, weil es gelang, durch mehr Mittel für die Lehre kleinere Gruppengrößen in Lehrveranstaltungen zu realisieren und ein Studium in der Mindestzeit zu ermöglichen. Proseminare mit 120 und Forschungsseminare mit 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gehören seither der Vergangenheit an. Selbst bei den Großvorlesungen kam es durch Tutoriumsbegleitung und eLearning sowie durch unterstützende Maßnahmen wie das »Buddy-Projekt« für Studierende, deren Muttersprache nicht deutsch ist, zu deutlichen Verbesserungen. Die Universitätsreform 2002 brachte bei aller berechtigten Kritik für das Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft auch manch Positives. Der Ausbau und die Verbesserung des Berichtswesens durch das Universitätsmanagement machte die strukturelle Benachteiligung des Instituts ebenso (und durch harte Zahlen belegt) deutlich wie die Dringlichkeit eines Ausbaus, der in den Nachbarländern Schweiz oder Deutschland lange zuvor schon in erheblichem Ausmaß begonnen worden war. Unterstützt durch das Rektorat und die Fakultätsleitung gelang es, einen – noch nicht abgeschlossenen, aber schon weit gediehenen – Sanierungsprozess in Gang zu setzen, der seit 2006 zu einer Reihe neuer Professuren mit wissenschaftlichen und administrativen MitarbeiterInnen sowie 2012 zum Bezug des neuen Hauses (gemeinsam mit der Fakultät für Informatik) in der universitätsnahen Währinger Straße 29 führte. Das Institut konnte in diesen Jahren erhebliche Erfolge in der Publikationsund Forschungstätigkeit, in der Einwerbung von Drittmitteln, in der Grundlagenforschung wie bei Auftragsprojekten, in der Nachwuchsförderung wie in der öffentlichen Wahrnehmung verzeichnen. Noch ist der Ausbau nicht abgeschlossen, aber die wesentlichen Weichen sollten gestellt sein.
Inhaltliche Perspektiven und Orientierung 2010 wurde gemeinsam mit den Instituten an den Universitäten in Klagenfurt und Salzburg ein Selbstverständnispapier der Publizistik-, Kommunikationsund Medienwissenschaft verabschiedet und eine Standortbestimmung des Faches vorgenommen. Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, so
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heißt es in dieser Grundsatzerklärung, »beschäftigt sich mit den sozialen, kulturellen und ethischen Bedingungen, Bedeutungen und Folgen medialer, öffentlicher, organisationsbezogener und interpersonaler Kommunikation. In Forschung und Lehre greift sie – international vergleichend – gesellschaftliche Wandlungen in den Kommunikationsverhältnissen auf. Diese Prozesse sind zum Beispiel Globalisierung, Individualisierung, Medialisierung, Digitalisierung, Ökonomisierung und Visualisierung.« (Positionspapier 2013, 64) Während traditionell die über (Massen-)Medien vermittelte öffentliche Kommunikation den Schwerpunkt bildete, hat das Fach in den letzten Jahren den Fokus auf andere Formen der Kommunikation erweitert: Digitalisierung und Medienkonvergenz haben die Grenzen zwischen öffentlicher, teil-öffentlicher und privater Kommunikation, zwischen informations- und unterhaltungsorientierten Angeboten sowie zwischen lokalen, regionalen, nationalen und globalen Bezügen durchlässiger gemacht. Das Institut hat sehr früh auf diese Entwicklungen reagiert und Prozesse der Interaktion, der Partizipation oder des User Generated Contents in Forschung und Lehre behandelt. Grundsätzlich sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der gesellschaftlichen Medien- und Kommunikationsverhältnisse in international vergleichender Perspektive die zentralen Forschungsgebiete des Faches. Großen Stellenwert nehmen dabei der Wandel der Produktions- und Nutzungsgewohnheiten und dessen Folgen für Einzelne, Gruppen und Organisationen sowie gesellschaftliche Teilbereiche ein. Die Analyse dieser Prozesse erfolgt aus struktureller, politischer, ökonomischer und kultureller Perspektive. Durch Grundlagen- wie angewandte Forschung trägt das Institut, das mittlerweile in produktivem Austausch mit der dynamisch wachsenden Medien- und Kommunikationsbranche steht, zur Lösung von Problemen der gesellschaftlichen Kommunikation bei.
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Ein Beitrag zur Institutionalisierung aus Anlaß der Wiedereröffnung des Wiener Instituts für Zeitungswissenschaft 1946, in: Jahrbuch der österreichischen Kommunikationswissenschaft (Salzburg 1987) 116 – 119. Venus, Theodor : Zeilenschinder und Wortdrechsler. Das Projekt »Jüdische Journalisten in Österreich«, in: Evelyn Adunka und Peter Roessler (Hg.), Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung (Wien 2003) 289 – 301. Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien. 1953 – 1973. (Wien 1953 – 1973). Zenker, Ernst Viktor : Geschichte der Wiener Journalistik, Bd. 1 – 2 (Wien 1892 – 1893). Zenker, Ernst Viktor : Geschichte der Journalistik in Österreich (Wien 1900).
Tamara Ehs und Thomas König*
Von der Staats- zur Politikwissenschaft
Gemeinhin gelten die 1970er Jahre als Geburtsstunde der österreichischen Politikwissenschaft. Tatsächlich begann damals die universitäre Institutionalisierung, als das Bundesgesetz über geistes- und naturwissenschaftliche Studienrichtungen (BGBl 1971/326) die Politikwissenschaft als (kombinationspflichtige) Studienrichtung einrichtete. Entsprechend sah die bisherige disziplinäre Geschichtsschreibung darin eine »verspätete Institutionalisierung« und zudem eine »doppelte Dependenz«1 der österreichischen sowohl von der deutschen als auch von der US-amerikanischen Re-Education-Politologie. Vergessen (gemacht) wurden dabei jedoch die politikwissenschaftlichen Ansätze der demokratischen Jahre der Ersten Republik, insbesondere das 1919 eingeführte Studium der Staatswissenschaften und darüber hinaus die ältere Traditionslinie von Staatsrecht und Politiklehre.
Entwicklungslinien: Politiklehre zwischen Rechts- und Staatswissenschaft Der erste institutionelle Nachweis einer frühen Politikwissenschaft in Österreich findet sich im Jahre 1763, als an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien die Lehrkanzel für »Polizey- und Kameralwissenschaften« geschaffen und Joseph Sonnenfels übertragen wurde, um für die wachsenden Staatsaufgaben fähige Untertanen auszubilden.2 Der Begriff »Polizey« beschrieb allgemein die öffentliche Verwaltung und geht auf die griechische »politeia«, den Staat, zurück. Somit ist in Sonnenfels’ Lehrkanzel nicht nur der enge Zusammenhang von Polizei und Politik hinsichtlich der Entwicklung des modernen Staates zu er* Ehs: Forschungsinstitut für politisch-historische Studien, Salzburg; König: Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. 1 Wicha 1972: Politikwissenschaft, 89. 2 Vgl. Ehs 2010b: Ursprünge.
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kennen, sondern schon die Traditionslinie von der Polizey- zur Politikwissenschaft. 1784 erfolgte die Zuordnung der Lehrkanzel an die Juridische Fakultät, wodurch die »politischen Wissenschaften« (Polizeywissenschaft, Handlungswissenschaft, Landwirtschaft, Manufakturen, Steuerwesen, Verfassung, Landesstatistik, Geschäftsstil) Gegenstand eines juristischen Rigorosums wurden. Diese Ausrichtung der Politikwissenschaft als Erziehung für die Zwecke des Staatsdienstes statt Bildung wissenschaftlicher Gelehrter spiegelte sich vollends in der Studienordnung von 1893 wider, als die politischen Wissenschaften schließlich auch in ihrer Fachbezeichnung auf die politische Ökonomie verkürzt waren und in Form der Fächer Volkswirtschaftslehre und -politik sowie Finanzwissenschaft und österreichische Finanzgesetzgebung gelehrt wurden.3 Während die staats- und politikwissenschaftlichen Fächer an den meisten deutschen Universitäten bis Anfang des 20. Jahrhunderts noch an den philosophischen oder an eigenen staatswissenschaftlichen respektive staatswirtschaftlichen Fakultäten gelehrt wurden, waren sie in Österreich also stets Teil der juristischen Staatsdienerausbildung. Zudem hatte das Rechtsfach Staatslehre allmählich die ältere Lehre der Politik beerbt, womit die Allgemeine Staatslehre als Politiklehre in der Folgezeit zu einer Art Hilfswissenschaft des Öffentlichen Rechts geriet. Auf diese Entwicklung, die durch die zunehmende Vernachlässigung des gesellschaftswissenschaftlich orientierten Teils der Rechtswissenschaften den sozialen und politischen Veränderungen des Industriezeitalters und des modernen Massenstaates nicht mehr gerecht wurde, nahmen einige Rechtswissenschafter der Wiener Fakultät wie Edmund Bernatzik, Friedrich Wieser, Adolf Menzel oder Ernst Schwind Bezug, die 1916 eine schon im Jahre 1905 vorgebrachte Idee der Deutschen Universität Prag aufnahmen, um die Einführung eines Studiums der Staatswissenschaften zu fordern. Denn die lebhaft geführten Methodendiskussionen der vergangenen Jahre hatten – zum Beispiel durch Hans Kelsens Konzentration der Rechtswissenschaft auf eine Strukturtheorie, die Reine Rechtslehre – der disziplinären Trennung von sozialen Normen und Rechtsnormen den Weg bereitet und das Fundament für eigenständige Sozialwissenschaften geschaffen. Durch die Begrenzung der Rechts- als Sollenswissenschaft wurde die Ablösung von der alten Politikwissenschaft – sei es in Gestalt der aristotelisch bestimmten politica oder im Sinne der kameralistischen Staatslehre – vollzogen und in Österreich die moderne Politikwissenschaft als Seinswissenschaft, zwar noch nicht institutionell, doch zumindest ideell, begründet. Vor allem die damals im Aufstreben begriffene Sozialdemokratie, allen voran die Gruppe der rechts- und staatswissenschaftlich gebildeten AustromarxistInnen, leistete frühe sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten, wie 3 RGBl 68/1893 sowie § 14 RGBl 204/1893.
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etwa Max Adler mit der wegweisenden Theorieschrift »Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft« (1904) oder Karl Renner mit »Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion« (1904). Somit hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den genannten Wissenschaften eine Soziologisierung, d. h. eine erhöhte gesellschaftliche Praxisorientierung, eingesetzt. Einen Startvorteil hatten aufgrund ihrer universitären Einbindung die Nationalökonomen, denn die Nationalökonomie war in Form von Fächern wie der Handlungswissenschaft, der Landwirtschaft, des Steuerwesens und der Statistik seit 1784 im juridischen Studium verankert und hatte sich auf dieser universitären Basis neben den im engeren Sinne juristischen Fächern personell gut ausgestattet als Teil der Staatsdienerausbildung entwickeln können. Aufgrund dieses Startvorteils beherrschte sie lange Zeit die Entwicklung der Sozialwissenschaften. Das erste große sozialwissenschaftliche Werk aus Österreich stammte folglich aus der Feder eines Nationalökonomen: Carl Mengers 1871 erschienene »Grundsätze der Volkswirtschaftslehre«. Damit hob er »die klassische ökonomische Theorie aus den Angeln und eröffnete den Aufschwung der österreichischen Sozialwissenschaften«4. Mengers Buch war die erste grundlegende Auseinandersetzung über Aufgabe und Methodik der Sozialwissenschaften. Basierend auf den Forschungen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und auf den Überlegungen der Wiener Rechtstheoretischen Schule wurde das Umfeld der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien in den 1920er Jahren zu einem Zentrum des Grundlagendiskurses über die Wissenschaft(sdisziplinen). Dazu trug auch die Einführung einer neuen Studienrichtung, der Staatswissenschaften, bei.
Das Doktoratsstudium der Staatswissenschaften (1919 – 1966) Dieses im Frühjahr 1919 per Vollzugsanweisung durch Unterstaatssekretär Otto Glöckel gegen nicht unerheblichen Widerstand seitens der Universitäten Graz und Innsbruck österreichweit eingerichtete Doktoratsstudium verzichtete auf rechtshistorische und judizielle Fächer, umfasste nur die Absolvierung von mindestens 90 Stunden (in sechs Semestern), dafür aber die Vorlage einer wissenschaftlichen Abhandlung (Dissertation) über ein frei gewähltes Thema aus Nationalökonomie, Finanzwissenschaft, theoretischer Statistik, Wirtschaftsgeschichte, allgemeiner und vergleichender Staatslehre, Verwaltungslehre oder Völkerrecht. Somit gab es ab dem Sommersemester 1919 an den drei österreichischen juridischen Fakultäten zwei Studiengänge: das Studium der 4 Leube/Pribersky 1995: Zum Geleit, 9.
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Rechte, das sehr wohl weiterhin staatswissenschaftliche Fächer umfasste, sowie das Studium der Staatswissenschaften. Mit dem staatswissenschaftlichen Studium hatte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die bis Oktober 1920 mit Otto Glöckel den ersten Unterrichtsminister stellte, die Einführung einer sozialwissenschaftlichen universitären Ausbildung versucht. Denn indem das Studium vor allem ein staatswirtschaftliches war, lehrten hier insbesondere die NationalökonomInnen – und diese waren immerhin die ersten österreichischen SozialwissenschafterInnen. Schon bald entwickelten Lehrende und Studierende innovative empirische sozialwissenschaftliche Untersuchungen.5 Doch in der Lagermentalität der Ersten Republik, in der Sozialwissenschaft und Sozialdemokratie gleichgesetzt wurden, waren wissenschaftliche Befunde über das Gemeinwesen vor allem nach dem Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Bundesregierung nicht mehr gern gesehen. Deshalb erfuhr das Studium der Staatswissenschaften im Jahre 1926 eine Novellierung, die zwar dem Anschein nach eine Erweiterung um wirtschaftswissenschaftliche Pflichtfächer beinhaltete, jedoch nicht in deren sozialwissenschaftlicher Ausprägung, sondern bloß als Hilfswissenschaft für die judiziellen Fächer in Form von Privatwirtschaftslehre (Buchführung, Betriebswirtschaftslehre, Warenkunde), Versicherungsrecht, Arbeitsrecht und Wirtschaftsgeographie. Ebenso wenig war die Ausweitung des Fächerkanons um Sozialpolitik und Gesellschaftslehre sozialwissenschaftlich-empirisch geprägt, sondern Gesellschaftslehre hieß gemäß Studienplan allein »Kenntnis der soziologischen Theorien«6. Die Novelle steht im Zusammenhang mit der damals konservativ-katholischen bis explizit antimarxistischen, letztlich antisemitischen Berufungspolitik, die eine Weiterentwicklung der ersten österreichischen sozialwissenschaftlichen Forschungsansätze verhinderte. Dadurch entstand an der Universität Wien eine gewaltige Disproportion zwischen ihrer jüngsten Entwicklung seit dem Fin de SiÀcle und der Wissenschaftspolitik der Ersten Republik. Schließlich durfte auch die nächste Generation der Schule der Nationalökonomie kaum mehr an der Universität forschen, sondern musste ihre Aktivitäten in Vereine außerhalb der Universität verlagern. Ebenso erging es der Gesellschaftslehre, die an der Universität Wien bloß in ihrer konservativ-romantisch geisteswissenschaftlichen Ausrichtung (vor allem bei Othmar Spann) gefördert wurde; jegliche kritische Gesellschafts- als empiriegeleitete Sozialwissenschaft hingegen wurde innerhalb der Mauern im Keim erstickt und konnte sich bloß extramural ein wenig entwickeln, wurde aber letztlich aus Österreich vertrieben.
5 Vgl. Ehs 2014: Staatswissenschaften. 6 Vgl. BGBl 1926/258.
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Politikwissenschaft ante portas Viele jener frühen PolitikwissenschafterInnen, die zuerst von der Universität Wien verdrängt und schließlich aus Österreich vertrieben wurden, gingen in die USA und prägten dort die »Political Science« mit.7 Ihre internationalen Kontakte hatten sie bereits in Wien in einem eng geknüpften Netzwerk von außeruniversitären Zusammenkünften etabliert. Dieses »extramurale Exil«8 von Vereinen, Kreisen und Volksbildungsstätten bildete die »zivilgesellschaftliche Substitution«9 für die nicht vorhandene universitäre sozialwissenschaftliche Ausbildung. Jenseits der Mauern der Universität Wien zeigte sich in den 1920er Jahren die Innovationskraft der Sozialwissenschaften: Sie fanden in der sozialdemokratisch regierten Stadt ein Betätigungsfeld, das der christlichsozialen (Wissenschafts- bzw. Universitäts-)Politik gänzlich entgegengesetzt und bis spätestens 1934 auch entzogen war. Hinsichtlich der Geschichte der Politikwissenschaften ist daher das »Spezifikum der unkonventionellen Institutionalisierung« auszumachen respektive eine »alternative Institutionalisierung«,10 weil die liberale und austromarxistische, im Gegensatz zur konservativ-katholischen, bald austrofaschistischen Richtung nicht an der Universität, sondern extramural verankert war. Mit der Novelle von 1926 war das staatswissenschaftliche Doktorat für an sozial- oder politikwissenschaftlichen Fragestellungen interessierte Studierende unattraktiv geworden. Die Studierenden entschieden sich nun eher wieder für das Studium der Rechte, das ihnen durch die grundsätzliche Möglichkeit zur Aufnahme in den Staatsdienst immerhin konkrete Berufschancen in Aussicht stellte. Die schwindenden Studierenden- und AbsolventInnenzahlen waren jedoch kein Anreiz für eine abermalige Novellierung. Vielmehr scheint es, dass sich die GegnerInnen dieser Studienrichtung bestätigt sahen und die Staatswissenschaften ihrem Schicksal überließen; mit nur etwa zwei Dutzend AbsolventInnen pro Jahr und der Verunglimpfung als »Frauenstudium« und »Billigdoktorat«11 bestand kaum Gefahr, eine eigenständige sozial- und politikwissenschaftlich ausgerichtete Disziplin zu etablieren. Hugo Huppert, einer der ersten Studenten, hatte das Studium der Staatswissenschaften im Jahr 1919 noch entsprechend politisch wahrgenommen und begrüßt: »[E]s war die jüngste, die neugegründete Wissensrichtung und Lehrpraxis, es war die eigentliche Tochter
7 Vgl. Ehs 2010c: Vertreibung. 8 Vgl. Ehs 2011: Extramurales Exil. 9 Müller 2008: Kritische Massen, 128; vgl. auch Hollingworth/Hollingworth 2000: Innovationen, 35. 10 Müller 1996: Kreativität, 18. 11 Vgl. Ehs 2010a: Staatswissenschaften.
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der Republik«12. Diese Tochter wurde in den darauffolgenden Jahren allerdings ziemlich stiefmütterlich behandelt. Paul Neurath berichtete von seiner Enttäuschung: »[A]ls ich 1931 an die Universität kam, wollte ich Soziologie studieren mit der vagen Vorstellung, daß man so lernen konnte, soziale und politische Vorgänge systematisch zu analysieren. Das Fach als solches gab es damals in Wien noch nicht. Wollte man sich auf diesem Gebiet spezialisieren, dann konnte man bestenfalls an der juridischen Fakultät ›Gesellschaftslehre‹, hauptsächlich bei Othmar Spann, hören und allenfalls sein Studium mit dem Doktorat der Staatswissenschaften, dem Dr. rer. pol. abschließen.«13 Neurath studierte schließlich Rechtswissenschaften; zu einer sozial- und politikwissenschaftlichen Ausbildung kam er erst über die außeruniversitäre Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle (der Projektträgerin der berühmten Marienthal-Studie), letztlich durch ein Auslandsstudium im US-amerikanischen Exil: »Um etwa 1933 oder 1934 las ich zum ersten Mal ›Die Arbeitslosen von Marienthal‹ […]. Da wußte ich dann schon etwas besser, was ich wirklich wollte: Studien wie diese machen können. Zwar setzte ich mein Jus-Studium weiter fort, aber den Gedanken, schließlich doch noch Soziologie zu studieren, wenn auch gewiß nicht jene von Othmar Spann, gab ich darum nicht auf«14. Somit gab es an der Universität Wien bis weit in die Zweite Republik hinein zwar kein Fach Sozial- oder Politikwissenschaft, mit dem Staatswissenschaftlichen Studium dafür aber ein ebenso unkritisches wie im internationalen Vergleich uninteressantes, weil unwissenschaftliches Studium. AbsolventInnen, die bloß strikt dem Studienplan gefolgt waren, ohne Zeit und Mühe für die Teilnahme an extramuralen Zirkeln und Forschungsstellen aufzubringen, waren weder in den Rechten noch in der Sozial- oder Politikwissenschaft hinreichend (aus-)gebildet. Adolf Kozlik resümierte 1965 resigniert: »In Deutschland wird schon jetzt ein staatswissenschaftliches Doktorat von einer österreichischen Universität kaum ernst genommen.«15 Es ist daher wenig verwunderlich, dass man sich in den Jubiläumsschriften zum 600-jährigen Bestand der Alma Mater Rudolphina nicht mit den Staatswissenschaften auseinandersetzte.16 In der Sonderausgabe des »Jahrbuchs der Sommerhochschule der Universität Wien«, worin sich zahlreiche prominente Absolventen der Alma Mater Rudolphina in Anekdoten an ihre Studienzeit erinnerten, fanden sie eine bloß randständige Erwähnung. Sie kommen darin – ganz gemäß dem jahrzehntealten Vorurteil – aber lediglich als Zweitdoktorat der JuristInnen zur Sprache, indem Josef Laurenz Kunz berichtete: »In 1921, I passed the examinations form my second 12 13 14 15 16
Huppert 1976: Tür, 392. Neurath 1982: Otto Neurath, 224 ff. Ebd. Kozlik 1965: Akademiker. Vgl. die nur kurze Erwähnung in Gall 1965: Alma Mater, 29.
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doctor’s degree (political science) and became a privatdozent of international law at the Vienna University Law School.«17 Dabei hatte sich schon bald nach 1945 Interesse an der Politik als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung artikuliert: Sowohl HistorikerInnen als auch JuristInnen beackerten Fragen der politischen Ordnung des wiedererrichteten Österreich respektive Fragen dessen, was Anton Pelinka später die »Realverfassung« dieser Republik nannte.18 Dem internationalen Standard entsprachen solche Einlassungen jedoch nicht.
Politikwissenschaft am IHS Ende der 1950er Jahre aber erfuhr das Hochschulsystem eine Expansion: Mehr Studierendenzahlen und neue politische Realitäten ließen die wissenschaftlichen Stellen an den Universitäten wachsen, und eine erste Generation von Intellektuellen, die im demokratischen System sozialisiert war, entwickelte neuartige Überlegungen, wie man Politik in Österreich fassen könnte. Solche Überlegungen stammten teils direkt von wissenschaftlichen Traditionen, die die vergangenen 30 Jahre in Österreich gepflegt worden waren; teils waren sie Importe von in den USA entwickelten Konzepten, insbesondere des Behaviorismus und der marxistischen Gesellschaftskritik.19 Von herausragender Bedeutung für die Einbindung der US-amerikanischen Ansätze – die in den 1970er Jahren dann bald durch eine auch räumlich näher liegende Orientierung auf die Politologie in Deutschland abgelöst werden sollten – war das »Institut für Höhere Studien« (IHS) in Wien. Es gilt daher auch in der disziplinären Geschichtsschreibung als Meilenstein für die Entwicklung der österreichischen Politikwissenschaft.20 Das IHS, das ab 1963 eine zweijährige Postgraduiertenausbildung in den Fächern Ökonomie, Politologie und Soziologie anbot, war mit Geldern der US-amerikanischen Ford Foundation auf Betreiben von Paul F. Lazarsfeld und Oskar Morgenstern entstanden. Letzterer war in den 1920er Jahren Absolvent des Staatswissenschaftlichen Studiums an der Universität Wien gewesen. Das IHS, diese von außen auf das universitäre Bildungssystem wirkende Einrichtung, beschleunigte fraglos den Prozess der Institutionalisierung der Politikwissenschaft in Österreich. Zugleich versinnbildlichte seine Entstehungsgeschichte die verdrängte Präsenz der Vergangenheit im Nachkriegs17 18 19 20
Kunz 1965: Two countries, 69. Pelinka 2004: Impact, 232; allgemein hierzu Ehs/König 2012b: Wissenschaft von der Politik. Vgl. König 2012: Naturrecht. Gerlich 1993: Anfänge.
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österreich. Die politischen Umbrüche seit den 1930er Jahren hatten gemeinsam mit einer nur halbherzig durchgeführten Entnazifizierung eine wissenschaftliche Elite hervorgebracht, deren Mittelmaß und Schmiegsamkeit die mangelnde Innovations- und (Re-)Produktionsfähigkeit der Hochschulen erklärt. Der personelle »Rückbruch«21 an den Hochschulen in den 1950er und 1960 Jahren hatte einem Klima Vorschub geleistet, das sich nicht zuletzt in der Abwehr gegen das US-amerikanische »Exportprodukt« Politikwissenschaft äußerte. Es verwundert daher kaum, dass nun die sich am IHS etablierende »amerikanische Politologie« jenen Ansätzen, die sich auf »österreichische« Traditionen beriefen, methodisch wie theoretisch weit überlegen war. Dass sie aber in vielen Bereichen eigentlich »österreichisch« geprägt war, wurde dennoch geflissentlich ignoriert bzw. war oftmals gar nicht bekannt und wollte wohl auch nicht erinnert werden.
Wider die Rechtswissenschaften Während die Politikwissenschaft am IHS bereits gelehrt wurde und dort auch nach, zumindest für Österreich, neuartigen Standards geforscht wurde, tobte an der Universität Wien ein veritabler Machtkampf darüber, wer die neue Disziplin für sich beanspruchen dürfte. Es war im Wesentlichen ein Konflikt zwischen den beiden etablierten Studienrichtungen Philosophie und Rechtswissenschaft, wobei es sowohl um Fragen der Ressourcenakquisition wie auch der Definitionshoheit ging. Als 1966 das Studium der Staatswissenschaft mit dem Bundesgesetz über sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Studienrichtungen (BGBl 1966/179) abgeschafft und in den §§ 3 und 4 desselben Bundesgesetzes die Wissenschaft von der Politik als Wahlfach vorgesehen wurde, beanspruchte das I. Philosophische Institut der Universität Wien die Lehrkanzel für »Philosophie der Politik und Ideologiekritik«. Sie wurde 1968 mit dem deutschen Politologen Heinrich Schneider besetzt. Damit hatte die Philosophische Fakultät der Universität Wien ein klares Signal für die Einrichtung einer eigenen Studienrichtung Politikwissenschaft gesetzt. Entsprechende Anträge waren jedoch vom Ministerium wiederholt abgelehnt worden, weil unter anderem »die Errichtung eines Instituts und einer Lehrkanzel für Politische Wissenschaft an der Philosophischen Fakultät die Interessen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät berühre«22. Die Berufung Schneiders auf die Philosophische Fakultät war ganz offensichtlich ein Affront für die mächtigen JuristInnen, die wie selbstverständlich die 21 Drimmel 1975: Erinnerungen, 223; vgl. auch König 2011b: Irrfahrer. 22 Aktenvermerk; siehe hierzu sowie zur turbulenten Vorgeschichte Wicha 1972: Politikwissenschaft.
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Patronanz des Pflänzchens Politikwissenschaft für sich beanspruchten. Zugleich wussten sie selbst noch nicht, ob sie es verwelken lassen oder aufpäppeln sollten. In einer legendären Denkschrift durfte der Grazer Rechtshistoriker Berthold Sutter alle Vorurteile, die seine Kollegen über die Politikwissenschaft hatten, ausbreiten.23 Wie schon bei der Gleichsetzung von Sozialwissenschaft und Sozialdemokratie in den 1920er Jahren, galt in den 1960er Jahren die Politikwissenschaft vielen Konservativen als Revolutionswissenschaft. Leidtragende dieses Konfliktes war letztlich nur die Politikwissenschaft, genauer gesagt das Institut von Heinrich Schneider, der bestimmt keine revolutionären Ambitionen hegte.24 So musste die universitäre Institutionalisierung der Disziplin bis zur Kanzlerschaft Bruno Kreiskys warten. Die Reformregierung mit dem 1970 neugegründeten Wissenschaftsministerium unter Hertha Firnberg durfte sich davon praktische Impulse erhoffen, auch »weil es einfach international Standard war, die Disziplin im Hochschulbetrieb zu haben«25. Unter institutionellen Gesichtspunkten ist die Politikwissenschaft daher deutlich eine Konsequenz sozialdemokratischer Modernisierung.26 Als Studienrichtung besteht die Politikwissenschaft somit seit dem Bundesgesetz über geistes- und naturwissenschaftliche Studienrichtungen (BGBl 1971/ 326). Dadurch konnte ab dem Studienjahr 1971/72 Politikwissenschaft auf Grundlage der Philosophischen Rigorosenordnung aus dem Jahr 1945 als achtsemestriges Doktoratsstudium an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien studiert und mit dem akademischen Grad Dr. phil. abgeschlossen werden. Hierfür war Ende November 1971 an der Philosophischen Fakultät per Erlass das »Institut für Theorie der Politik« errichtet und Heinrich Schneiders Professur in »Ordentliche Lehrkanzel für Politikwissenschaft« umbenannt worden. 1977 erfolgte die Neubezeichnung als »Institut für Politikwissenschaft«, das fortan an der kurz zuvor gegründeten Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät (UOG, BGBl 1975/258) angesiedelt war. Seit 1975 gab es allerdings, auf Initiative von Günther Winkler, auch an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät ein Institut für Politikwissenschaft (mit Peter Gerlich als Institutsvorstand), das sich ab 1977 als »Institut für Staatswissenschaft« bezeichnete – somit gleichzeitig in Abgrenzung zum neuen Studium als auch in Anlehnung an die rechts- und staatswissenschaftliche Geschichte der Fakultät. Das UOG 1975 hatte die bisherige Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät in eine Rechtswissenschaftliche und eine Sozialund Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät geteilt. Im neuen rechtswissenschaftlichen Studienplan von 1978 (BGBl 1978/140) war von den Staatswissenschaften 23 Sutter 1970: Denkschrift. 24 Vgl. dazu das aufschlussreiche Interview mit Schneider in der Diplomarbeit von Kliment 1992: Politikwissenschaft. 25 König 2011a: Unvollständiges Projekt, 82. 26 Vgl. Pleschberger 1982: Politikwissenschaft, 9.
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zwar keine Rede mehr, allerdings Politikwissenschaft als mögliches Wahlfach im zweiten Studienabschnitt vorgesehen.
»Verspätete Institutionalisierung«: 1970 bis heute Mit der »Studienordnung für die Studienrichtung Politikwissenschaft« (BGBl 1978/259), die 1978 verordnet wurde und an den Universitäten Salzburg27 und Wien 1980 in Kraft trat, war die Politikwissenschaft als kombinationspflichtiges Diplomstudium (Mag. phil.) mit zwei jeweils viersemestrigen Studienabschnitten etabliert. Darüber hinaus sah die Studienordnung ein viersemestriges Doktoratsstudium vor. Die ersten Jahre gestalteten sich für Lehrende wie Studierende allerdings schwierig, denn die finanzielle und damit personelle Ausstattung blieb schlecht. Nachdem das Institut für Politikwissenschaft aus dem Hauptgebäude am heutigen Universitätsring delogiert worden war, bezog es eine aus zwei Zimmern bestehende Wohnung in der Liebiggasse 4. Das Lehrpersonal bestand aus Heinrich Schneider und seinen Assistenten Wolfgang Pesendorfer, Fritz Windhager und Ingfrid Schütz-Müller ; fallweise wurden Lehrbeauftragte wie etwa Helmut Kramer hinzugezogen. Die Lehrinhalte bewegten sich überwiegend im Bereich der politischen Ideengeschichte. Als die Studierendenzahlen rasch anstiegen (auf rund 1.000 Haupt- und Nebenfachstudierende bis zum Jahr 1979), wurden jedoch zwei zusätzliche AssitentInnenstellen mit Cheryl Benard und Edit Schlaffer besetzt, die neue Forschungs- und Lehrfelder mitbrachten. Die Politikwissenschaft war klein, aber sehr divers: konventionelle politische Theorie, nach amerikanischem Vorbild orientierte strukturfunktionalistische (postbehavioristische) Analyse des politischen Systems, und marxistische sowie feministische Ansätze wurden praktiziert. Sie alle profitierten auf die eine oder andere Weise vom sozialdemokratischen Reformschwung, der sich nicht zuletzt von den modernen, importierten Sozialwissenschaften Impulse versprochen hatte. Als dieser Elan jedoch gegen Ende der 1970er Jahre erlahmte, hatte die Disziplin weder am akademischen Arbeitsmarkt eine Nische besetzen, noch ihre eigenen Ränge an der Universität verstärken können.28 Die Zahl der ProfessorInnen und der AssistentInnen blieb weitgehend gleich; dagegen wuchs die Zahl der Studierenden stark. Erst mit dem EU-Beitritt Mitte der 1990er erlangte die Politikwissenschaft neue Bedeutungskraft. Hinzu kamen die Universitätsreformen und eine personalpolitische Dynamisierung sowie eine zunehmende Ausrichtung auf projektbasierte Drittmittelfinanzierung. Der Berufung von Eva 27 In Salzburg konnte bereits seit 1965 Politikwissenschaft als Haupt- und Nebenfach studiert werden. 28 König 2010: Geschichte, 236 – 242.
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Kreisky als Nachfolgerin Schneiders folgte universitätsintern eine Aufwertung der Disziplin. All das ermöglichte in den letzten 20 Jahren die Schaffung zahlreicher neuer Stellen – wenngleich auch in den meisten Fällen nur befristet. Erst seit dem Jahr 2004 ist auch das Institut für Staatswissenschaft der im Zuge der Implementierung des Universitätsgesetzes 2002 (BGBl 120/2002) neu errichteten Fakultät für Sozialwissenschaften und damit der gleichen Organisationseinheit wie das Institut für Politikwissenschaft unterstellt. Bis heute sind die beiden Institute freilich in der Binnenstruktur der Fakultät getrennt; und dies drückt sich auch durch ihre räumliche Trennung aus: Die Politikwissenschaft befindet sich im Neuen Institutsgebäude (NIG) in der Universitätsstraße, die Staatswissenschaft hat erst im September 2013 Räume am Rooseveltplatz bezogen und sich damit auch geographisch der Politikwissenschaft angenähert, nachdem sie zuvor in der Hohenstaufengasse, in unmittelbarer Nähe der Juridischen Fakultät, beheimatet gewesen war. Die Aufrechterhaltung zweier Institute mit all ihren organisatorischen Implikationen und Komplikationen zeigt unter anderem die schwierige Geschichte der Etablierung der Politikwissenschaft in Österreich und ihre Entwicklungslinien aus den und wider die Rechts- und Staatswissenschaften. Dies manifestierte sich nicht zuletzt in den Gratwanderungen entlang der inhaltlichen und methodischen Schwerpunktsetzungen. Hier überwog lange eher eine Forschungstradition, die als kleinteilig und individualisiert bezeichnet werden muss. Die oft beklagte »Methodenschwäche« ist wohl eher nur Ausdruck der schwach ausgebildeten Kooperationen zwischen den Mitgliedern der beiden Institute. Tatsächlich wurde etwa mit Herbert Gottweis schon in den 1990ern ein auch methodisch innovativer und international renommierter Politikwissenschafter Professor. Das von Sylvia Kritzinger und Wolfgang C. Müller geleitete AUTNES-Projekt (seit 2009) ist in Länge und budgetärer Ausstattung das bisher größte und ehrgeizigste politikwissenschaftliche Projekt in Österreich. Erforscht werden darin von mehreren Teams verschiedene Aspekte des Wahlverhaltens in Österreich. Zudem fasste mit der EU-Forschung im Zuge des Beitritts Österreichs eine neue, dynamische Forschungsorientierung Fuß, in der sich VertreterInnen der Politikwissenschaft ebenfalls international behaupten. Die institutionelle Komplexität nahm in jüngeren Jahren aber eher noch zu: So wurde 2012 mit dem EIF (Institut für Europäische Integrationsforschung) eine weitere politikwissenschaftliche Forschungseinrichtung in die Fakultät eingegliedert, und auch das OIIP (Österreichisches Institut für Internationale Politik) stärker ans Institut für Politikwissenschaft angebunden. Nicht nur das Studium der Politikwissenschaften ist im internationalen Vergleich ein sehr junges; auch die Österreichische Gesellschaft für Politikwissen-
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schaft (ÖGPW) und die Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) feierten 2010 respektive 2012 ihr erst 40-jähriges Bestehen.29 Wertet man Studienordnungen, Interessenvereinigungen sowie Zeitschriften, Journale und Studienreihen als Indizien für die Eigenständigkeit einer wissenschaftlichen Disziplin, ist es oberflächlich gesehen verständlich, dass sich in Österreich die Disziplingeschichtsschreibung von der »verspäteten Institutionalisierung« durchgesetzt hat, wie es im oft zitierten Editorial der ersten ÖZP-Ausgabe geschah.
Literaturverzeichnis Aktenvermerk des Vorstandes des Instituts für Theorie der Politik (Wien, 7. Jänner 1972). Drimmel, Heinrich: Die Häuser meines Lebens. Erinnerungen eines Engagierten (Wien 1975). Ehs, Tamara: Die Staatswissenschaften. Historische Fakten zum Thema »Billigdoktorate« und »Frauen- und Ausländerstudien«, in: Zeitgeschichte 37/4 (2010a) 238 – 256. Ehs, Tamara: Über die Ursprünge österreichischer Politikwissenschaft. Ein Blick zurück im Bologna-Jahr 2010, in: ÖZP – Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39/ 2 (2010b) 223 – 241. Ehs, Tamara: Vertreibung in drei Schritten. Kelsens Netzwerk und die Anfänge österreichischer Politikwissenschaft, in: ÖZG – Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21/3 (2010c) 147 – 174. Ehs, Tamara: Das extramurale Exil. Vereinsleben als Reaktion auf universitären Antisemitismus, in: Evelyn Adunka, Georg Traska und Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Centrum für Jüdische Studien, Bd. 18 (Innsbruck 2011) 15 – 29. Ehs, Tamara: Das Studium der Staatswissenschaften, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien in den Jahren 1918 bis 1938 (= Schriften des Archivs der Universität Wien 20, Göttingen 2014) 173 – 223. Ehs, Tamara / König, Thomas (Hg.): 40 Jahre ÖZP, Serienschwerpunkt in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft 41/1 – 4 (2012a). Ehs, Tamara / König, Thomas: Wissenschaft von der Politik vor der Politikwissenschaft?, in: ÖZP – Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 41/2 (2012b) 211 – 227. Gall, Franz: Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965. Die Wiener Universität und ihre Studenten (Wien 1965). Gerlich, Peter : Die ersten zehn Jahre – die Anfänge der Politikwissenschaft, in: Bernhard Felderer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zwischen Theorie und Praxis. 30 Jahre Institut für Höhere Studien in Wien (Heidelberg 1993) 139 – 162. Hollingworth, J. Rogers / Hollingworth, Ellen Jane: Radikale Innovationen und Forschungsorganisation. Eine Annäherung, in: ÖZG – Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11/1 (2000) 31 – 66. 29 Vgl. Ehs/König 2012a: 40 Jahre ÖZP.
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Karl A. Fröschl und Günter Haring*
Informatik: am Anfang war der Rechner …**
Die Informatik – als die Disziplin der Theorie und Praxis digitaler Rechenautomaten – hat sich ganz generell aus rechenintensiven Anwendungserfordernissen entfaltet. Die Entstehungskontexte waren geschichtlich gesehen divers1 und umspannen einen weiten Bogen von der Astronomie und den naturwissenschaftlichen Fächern im Allgemeinen bis hin zu den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Methodische Kerne der sich später zur Informatik (»Computer Science« im Angelsächsischen) formierenden Wissenschaft finden sich, wenig überraschend, in der Mathematik – hier vor allem in der Algebra (formale Sprachen, Automaten-, Komplexitätstheorie) und der sog. »Numerik« (also Fragen der praktischen Durchführung umfangreicher Berechnungen mit endlicher Darstellungsgenauigkeit der Operanden einschließlich Fehler- und Stabilitätsabschätzungen von Rechenverfahren) – sowie in der Elektro- und Nachrichtentechnik, aus denen sich die physikalischen Konstruktionsprinzipien der programmierbaren Elektronenrechner speisen. Da sie sich sehr stark auf numerische Berechnungsprobleme beziehen, sind ganz besonders die Statistik und die damit eng verwandte Unternehmensforschung (»Operations Research«) historisch gesehen typische Anwendungsbereiche, in denen programmierbare Digitalcomputer sehr früh auf den Plan getreten sind. Derartige Anwendungen charakterisieren auch die Anfänge der Informatik * Fakultät für Informatik der Universität Wien. **Die Autoren danken für die kollegiale Unterstützung von Frau Mag.a Michaela Bociurko, die ihre Unterlagen und Texte zur (leider fragmentarisch gebliebenen) Geschichte des Rechenzentrums der Universität Wien großzügigst zur Verfügung gestellt hat. Als sehr hilfreich haben sich die Auskünfte durch Mag. Harald Titz, MSc (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung) sowie Dr.in Barbara Pitlik (CeMSIIS, Medizinische Universität Wien) erwiesen. Unser großer Dank ergeht auch an alle Zeitzeugen für die vorbehaltlose Bereitschaft, wertvolle Erinnerungsarbeit zu leisten, sowie an das »Forum Zeitgeschichte« (Mag.a Katharina Kniefacz und Dr. Herbert Posch) und die Professoren Dr. Wilfried Grossmann und Dr. Walter Gutjahr für zahlreiche äußerst stimulierende Diskussionen und Hinweise. 1 Auf den – entwicklungsgeschichtlich relevanten – militärisch-rüstungstechnischen Hintergrund der Entwicklung geht dieser Beitrag nicht ein.
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an der Universität Wien sehr treffend;2 war es doch eben genau das damalige Institut für Statistik unter Slawtscho Sagoroff, das ab Ende der 1950er Jahre an der Universität Wien über deren ersten »Computer« im Sinne des heutigen Verständnisses verfügte. Sagoroff war es dank seiner internationalen Beziehungen gelungen, eine Burroughs 205 Datatron-Rechenanlage durch Fördermittel der Rockefeller Foundation nach Wien zu bringen, wobei dieser Computer nicht nur den Fakultäten und Instituten der Wiener Universität zur Verfügung stand, sondern auch von den Universitäten Graz und Innsbruck mitgenutzt werden konnte (Sagoroff 1965), womit eine Art »österreichisches Universitätsrechenzentrum« begründet wurde. Aus dieser ersten Rechenanlage und der darum herum eingerichteten Betriebsorganisation entwickelte sich in weiterer Folge nicht nur das sogenannte »Interfakultäre Rechenzentrum« (kurz: IRZ) der Universität Wien (ab Anfang der 1970er Jahre), sondern – wie nachfolgend skizziert – auch die institutionelle Etablierung der Informatik als akademische Disziplin mit Lehrstühlen und regulärem Studienbetrieb.
Von der Programmierung zu den Curricula Die Nutzbarkeit elektronischer Rechenanlagen setzt Kenntnisse über deren Bedienung und damit zuvorderst Kenntnisse in der Programmierung voraus. Mit Aufstellung der Rechenanlagen am Institut für Statistik – der Burroughs 205 Datatron folgte ab 1968 eine für damalige Verhältnisse recht leistungsfähige IBM 360 Modell 44 – ging somit die Einrichtung von Programmierkursen und Nutzerschulungen einher. Diese wurden ab dem Sommersemester 1960 entsprechend angekündigt – dort erstmals im Kapitel »XXIV. Statistik« des Vorlesungsverzeichnisses der Universität Wien dieses Semesters unter Nr. 114a »Programmierung digitaler elektronischer Rechenanlagen, 3st., n.Ü.; Inst. f. Statistik, Lehrbeauftragter Dr. Roppert«. Ab dem Sommersemester 1961 finden sich regelmäßige Ankündigungen dieser Lehrveranstaltung, die später auch höhere Programmiersprachen wie Fortran, PL/I und Cobol umfassten. Programmierkurse gab es bald auch an der Physik ebenso wie am Mathematischen Institut; vorerst blieben diese Instruktionen aber oft nur »theoretischer« Natur, also ohne praktische Berührung mit der Rechenanlage selbst. Ein wichtiger Aspekt dieser Form einer großteils außercurricularen »Lehre« lag darin, dass einerseits die Benutzerschulung (im Sinne von »Selbstbefähigungskursen« der Nutzer der Rechenanlagen) im Vordergrund stand, anderer2 Auf die ebenfalls sehr frühen Computeranwendungen in der Medizin, der Physik und auch der Psychologie sowie die sich daraus ergebenden infrastrukturellen Konsequenzen und Institutionalisierungen kann hier aus Raumgründen nicht weiter eingegangen werden.
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seits ein wesentlicher Anteil auch der individualisierten methodischen Betreuung eben jener Nutzer bei der Bewältigung konkreter Rechenaufgaben gewidmet war. Immerhin wurde mit der Verfügbarkeit der Ressource auch ein wachsender Kreis an Rechenproblemen praktisch behandelbar. Umgekehrt ergibt sich aus der Universalität des Werkzeugs »Computer« auch eine genuin methodische Orientierung: in der fachlichen Abstraktion – Algorithmisierung, Prinzipien der Programmierung, Datenorganisation und »Informationsstrukturen«, Klassifikation von Rechenproblemen nach ihrer Komplexität usw. – bildeten sich von Einzelfragestellungen ausgehend, sowie im Hinblick auf technische Entwicklungen (wie Compilerbau und Betriebssysteme), allmählich Bausteine eines akademischen Curriculums in der neuen Disziplin der »Informatik« heraus. Die Institutionalisierung des akademischen Lehrbetriebs der Informatik an der Universität Wien setzte demgemäß – an die nun schon bestehenden Nuklei anknüpfend – mit der Einrichtung neuer einschlägiger Studienrichtungen ein. Den Anfang der Informatikstudien in Österreich bildete ein eilig konzipierter Entwurf für die Studienrichtung »Informatik« durch Hans Stetter (Stetter 2009) an der Technischen Hochschule (TH) Wien. Sozusagen in letzter parlamentarischer Minute floss in die Textierung des Bundesgesetzes vom 10. Juli 1969 über die technischen Studienrichtungen ein Zusatz ein (§ 4 Abs. 1, lit m), dem mit Erlassung einer Studienordnung 1971 die formelle Einrichtung zeitgleich an der TH Wien, gemeinsam mit der Universität Wien, und der Hochschule für Sozialund Wirtschaftswissenschaften in Linz folgte. Während allerdings die gemeinsam mit der TH Wien erfolgte Einrichtung der Studienrichtung Informatik an der Universität Wien selbst kaum sichtbare Effekte zeitigte, löste die unmittelbar nachfolgende Einführung des Studienversuchs »Betriebs- und Wirtschaftsinformatik« (ebenfalls gemeinsam mit der TH Wien) dann einen recht markanten Institutionalisierungsschub aus. Vorbestimmende Anstöße zur Beantragung und Einrichtung eines anwendungsorientierten Informatikstudiums gingen insbesondere von Gerhart Bruckmann aus, der aus Studienreisen in die USA schon in den 1960ern (noch als Statistikreferent der Bundeskammer für Wirtschaft) die Erkenntnis des stark anwachsenden Bedarfs an anwendungskundigen EDV-Fachleuten mitnehmen konnte. Gemeinsam mit den Proponenten Erich Loitlsberger (Betriebswirtschaftslehre an der Universität Wien, Ruf 1971) und dem bereits genannten Hans Stetter wurde 1971 die probeweise Verbindung von angewandter Informatik mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkt als Lehrgang konzipiert. Dieser zunächst auch unter der Bezeichnung »Computerökonomik« (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 1972, 223) firmierende Antrag konnte unter Nutzung neuer legistischer Möglichkeiten (Verordnung vom 09. November 1972 aufgrund von § 19 des Bundesgesetzes über die geistes- und naturwissenschaftlichen [!] Studienrichtungen 1971) als Studienversuch ab dem Sommersemester 1973 – mit den Studi-
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enzweigen Betriebsinformatik (betriebswirtschaftlicher Schwerpunkt) und Wirtschaftsinformatik (volkswirtschaftlicher Schwerpunkt) – eingerichtet werden. Dabei wurde, jedenfalls an der Universität Wien, ganz offensichtlich auf bestehende disziplinäre Traditionen am Institut für Statistik (in Verbindung mit dem aus diesem hervorgegangenen IRZ) zurückgegriffen. Gleichzeitige Versuche, auch die Rechtswissenschaft als Anwendungsfach in das Studium der Informatik einzubinden, erwiesen sich als weniger erfolgreich, da unbeschadet der diplomatischen Zustimmung des Professorenkollegiums der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien zu diesem (ebenfalls von Stetter eingebrachten) Vorschlag der dafür verfügbare zeitliche Rahmen im Studienplan der Studienrichtung Informatik für unzureichend erachtet wurde, womit das Schicksal einer »Wiener Rechtsinformatik« vorgezeichnet war. Im Lehrangebot wurde zunächst auf bestehende Lehrveranstaltungen und EDV-Kurse zurückgegriffen. Beispielsweise nennt das Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1972/73 nur wenige Lehrveranstaltungen des Studienplans Informatik, die durch »analoge Lehrveranstaltungen an der Universität Wien ersetzt werden« können – ansonsten wird auf das Lehrangebot der Technischen Hochschule in Wien verwiesen. Immer noch stark mit Lehrveranstaltungen in Statistik und angewandter Mathematik durchmischt, entwickelte sich allerdings ein kanonisiertes Lehrprogramm zur »Einführung in die Informatik« (mit den Teilen Programmierung I und II bzw. Datenverarbeitung I und II) und dem dann obligatorischen »Einführungspraktikum« als Ablöse der langjährig angebotenen Programmierkurse. Ab dem Wintersemester 1973/74 finden sich unter Kapitel »XXVII. Statistik und Mathematik« (der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät) dann bereits eigene Abschnitte zu »c) Einführung in die Informatik« (im I. Studienabschnitt) bzw. »e) Informatik« (im II. Studienabschnitt) im Vorlesungsverzeichnis, um ab dem Sommersemester 1974 überhaupt in einem nunmehr eigenen Kapitel »XXIX. Informatik« zusammengefasst zu werden. Mit der Berufung von Günther Vinek 1976 auf den vakant gewordenen Statistik-Lehrstuhl von Franz Ferschl setzte sich das etablierte Lehrprogramm kontinuierlich fort. Vinek – der selbst durchaus grundlagenorientiert war – vertrat eine stark anwendungsbezogene, interdisziplinäre Form der Informatik, wie sie durch die Verschränkung computationaler Methoden mit rationalen Planungsansätzen seit 15 Jahren am Institut für Statistik gepflogen worden waren. Infolge der rasch steigenden Studierendenzahlen mussten die einführenden Informatik-Übungen und -Praktika ab dem Wintersemester 1976/ 77 schon in Parallelgruppen gehalten werden. Für den zweiten Studienabschnitt des Studienversuchs »Betriebs- und Wirtschaftsinformatik« verbreiterte sich das Lehrangebot um Vorlesungen, Übungen und Seminare aus »EDV-Organisation und Einsatzplanung«, »Informationssysteme«, »Informationsstrukturen«, »Nichtnumerische EDV«, »Systemanalyse« sowie »Höhere Programmier-
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technik« (zumeist gelesen von Vinek und Dozent Leo Reisinger, einem Assistenten bei Bruckmann), abgerundet durch ein sog. »Interdisziplinäres Praktikum« im Umfang von 10 Semesterstunden, welches bewusst praxisnahe EDVAnwendungen thematisierte und praktisch den gesamten Lehrkörper des Instituts für Statistik involvierte, sowie auch Professoren, Dozenten, Assistenten und Lehrbeauftragte weiterer themenverwandter Institute und Disziplinen (etwa Soziologie und Psychologie, aber auch solche der TH Wien) miteinbezog. Die wirtschaftswissenschaftlichen bzw. auch die rechts- und sozialwissenschaftlichen Fächer des Studienplans wurden naheliegenderweise ebenfalls von den entsprechenden Instituten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen (dann, ab 1975, von der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen) Fakultät sowie der TH (bzw., ebenfalls ab 1975, TU) Wien abgedeckt – dort von Helmut Frisch (Volkswirtschaftslehre, Ruf 1971) insb. die ökonomischen Themen. Der Studienversuch bezog seine Attraktivität nicht zuletzt aus der Breite zulässiger Wahlund Kombinationsmöglichkeiten – aufgrund der Studienordnung konnte nahezu jede tatsächlich im Lehrangebot verfügbare Wahlmöglichkeit einfach ausgeschöpft werden: »Auf Antrag des ordentlichen Hörers hat die Studienkommission festzustellen, ob ein im Studienplan nicht genanntes Fach als Wahlfach in Betracht kommt[.]« (§ 4 Abs. 3 der Studienordnung 1972). Dank dieser fachlichen Breite konnte auch der eklatante Mangel an in der Informatik facheinschlägig ausgewiesenem Lehrpersonal generell recht gut kompensiert werden. Die Versorgung der Lehre im Diplomstudium Informatik an der Universität Wien erfolgte im Wesentlichen über das Lehrangebot des Studienversuchs »Betriebs- und Wirtschaftsinformatik«, da die Anzahl der an der Universität Wien die Studienrichtung »Informatik« belegenden Studierenden stets sehr gering blieb. Auf Seite 210 im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien vom Sommersemester 1977 wird zum Informatikstudium angemerkt: »Der Großteil der Informatikstudenten studiert an der Technischen Universität (TU), da es dort eigene Informatiklehrstühle gibt und die Verwaltung des Studiums (Prüfungskommission usw.) hauptsächlich auf der Seite der Technischen Universität liegt.« Der Hochschulbericht 1975 vermerkt für die Universität Wien eine etwa fünfprozentige Quote an Erstinskribierenden der Studienrichtung »Informatik« am Standort Wien (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 1975, 32).3 Gemäß ebendieser Quelle (ebd., 34) wurden im Studienjahr 1974/75 im Studienversuch Betriebs- und Wirtschaftsinformatik an der TH Wien 52 Studierende gezählt. Für die Universität Wien wird nur die pauschale Zahl von 137 3 Gemäß den Angaben des zitierten Hochschulberichts nahmen im Wintersemester 1974/75 23 % der Erstinskribierenden dieser Studienrichtung das Studium an der Hochschule Linz auf; 72 % an der Technischen Hochschule Wien.
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Studierenden für in Studienversuchen Inskribierte ausgewiesen und inkludiert daher auch den (an der Philosophischen Fakultät eingerichteten) Studienversuch »Soziologie«.4 Es kann aber schon zu dieser Zeit von deutlich über 100 Inskribierten im Studienversuch »Betriebs- und Wirtschaftsinformatik« ausgegangen werden. Die Einrichtung des Studienversuchs war – wie so oft – unter der Prämisse erfolgt, dass sich daraus keine zusätzlichen budgetären Erfordernisse ergeben. Aufgrund der stark ansteigenden Inskriptionszahlen entstand jedoch, parallel zur Entwicklung auch in der Studenrichtung Informatik an der TU Wien, ab Anfang der 1980er Jahre eine sich zuspitzende Engpasssituation. Ein bis dahin unterbliebener Ausbau der Kapazitäten wurde unvermeidbar. Wohl ergab sich – siehe dazu auch weiter unten – eine leichte Entlastung durch erste einschlägige Habilitationen, d. h. Dozenturen, und die Einrichtung eines Extraordinariats (A Min Tjoa) 1982 sowie der Zuordnung etlicher neuer wissenschaftlicher Planstellen und schließlich der Widmung eines dedizierten Lehrstuhls für Angewandte Informatik (Ruf 1985 an Günter Haring) im Bereich des Instituts für Statistik und Informatik. Parallel zu diesen Entwicklungen erfolgte die rechtliche Konsolidierung des Studienversuchs mit dem Bundesgesetz über die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Studienrichtungen 1983, das die Einrichtung eines regulären Diplomstudiums »Wirtschaftsinformatik« vorsah (§ 3 Abs. 1 lit g). Am 17. April 1984 folgte dazu der Erlass der Studienordnung, der weiterhin als Studienstandorte Wien und Linz und die Gliederung in die Studienzweige »Betriebsinformatik« bzw. »Wirtschafts- und Verwaltungsinformatik« festlegte und am Standort Wien die gemeinsame Einrichtung der Studienrichtung an der Universität Wien (Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät) und TU Wien (Technisch-Naturwissenschaftliche Fakultät) ebenso beibehielt. Die mit dem neuen Diplomstudium geschaffene Möglichkeit der Einrichtung von Unterrichtsversuchen konnte in attraktiver Weise zur Gestaltung von Wahlfächern genutzt werden, die an damals aktuelle Forschungsschwerpunkte des Instituts – etwa »Parallel Processing« oder »Mensch/Maschine-Kommunikation« am Lehrstuhl von Günter Haring – durchaus pionierhaft im Sinne forschungsgeleiteter Lehre angebunden wurden. Bemerkenswerter Weise ist jedoch im curricularen Bereich kein vergleichbarer Anschluss an Entwicklungen der computationalen Statistik – die mit Begründung der Konferenzreihe »CompStat« 1974 durch Peter Paul Sint und Johannes Gordesch auch einen starken lokalen Startimpuls aufzuweisen hatte (Bruckmann et al. 1974) – erfolgt, obwohl vergleichbare Themen sich später und seither unter Bezeichnungen wie »eScience« 4 Zu den Umständen der Einrichtung des Studienversuchs Soziologie siehe auch den Beitrag von Norden et al. in diesem Band.
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oder »data science« (Cleveland 2001) international großer Popularität erfreuen. Erst in jüngster Zeit wurde an der Universität Wien – mit der Entwicklung eigenständiger, von der TU Wien entkoppelter Informatik-Curricula 2006 – diese unterbrochene Tradition mit dem Masterstudium »Scientific Computing« – hervorgehend aus einem Forschungsschwerpunkt »High Performance Computing« (i. W. parallelisiertes Fortran) am Lehrstuhl von Hans Zima – und einem überfakultären Masterstudium »Computational Sciences« (mit Schwerpunktsetzungen in Astronomie und Geowissenschaften, Physik, Chemie und Biologie neben den Hauptfächern Mathematik und Informatik) wiederum aufgegriffen. Auch der Bereich der Informatikdidaktik bzw. der Lehramtsausbildung im Fach Informatik konnte sich lange nicht etablieren. Obwohl bereits 1974 die Thematik eines Lehramts für »Informatik« an der Philosophischen Fakultät erörtert worden war, erfolgte eine gesetzliche Regelung erst mit dem Universitätsstudiengesetz 1997 (Anlage 1, BGBl. I Nr. 48). Ab dem Studienjahr 2000/015 wurde, wiederum gemeinsam mit der TU Wien, ein neues Unterrichtsfach »Informatik und Informatikmanagement« zur Lehramtsausbildung eingerichtet; an der Universität Wien ist einer eigenständigen Informatik-Fachdidaktik – unbeschadet ihrer stets unbestrittenen Bedeutung – aber bis heute kein eigener Lehrstuhl gewidmet.
Informatik: vom Desiderat zur Fakultät Die fachliche Institutionalisierung der Informatik vollzog sich an der Universität Wien in mehreren Phasen. Einen ersten Schatten wirft das am 15. Oktober 1974 von Othmar Preining an die Philosophische Fakultät der Universität Wien gerichtete Schreiben, in dem auf eine – offenbar durchaus als Konkurrenz empfundene – »Konzentration der Informatik an der Technischen Hochschule« sowie die Notwendigkeit einer gewissen Grundausbildung in Informatik hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Disziplinen und »auch für die Lehramtsausbildung in verschiedenen Fächern« hingewiesen wird. Damit verbunden wurde ein »Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Notwendigkeit der verstärkten Beteiligung der Philosophischen Fakultät an der Studienrichtung Informatik« formuliert. In der Sitzung dieser Fakultät am 12. Dezember 1974 wird die Einrichtung von fünf neuen Lehrkanzeln (an der 5 »Studienplan Lehramt Informatik und Informatikmanagement am Universitätsstandort Wien an der Formal- und Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien (NAWI), und der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien (WINF) und der Fakultät für technische Naturwissenschaften der Technischen Universität Wien (TU)«; Mitteilungsblatt der Universität, Stück LIX, Nummer 709, 29. 09. 2000.
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Philosophischen Fakultät: Theoretische Informatik, Angewandte Informatik, Informatik mit besonderer Berücksichtigung des Bibliothekswesens und der Dokumentation; an der Juridischen Fakultät: Betriebs- und Wirtschaftsinformatik; an der Medizinischen Fakultät: Bioinformatik) als dringlich beurteilt und die Zusammenfassung der neuen Lehrstühle in einem zu errichtenden »Informatikzentrum« (als interfakultäres Institut) unter auch Einbeziehung des bereits bestehenden Lehrstuhls für Logistik (Curt Christian) – parallel zur ja bereits bestehenden Infrastruktur des »Interfakultären Rechenzentrums« – vorgeschlagen; für die »Übergangsphase« wurde die Vergabe von entsprechenden Lehraufträgen angeregt. In einem Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät, Kurt Komarek, vom 3. Jänner 1975 an den Akademischen Senat der Universität Wien stellt die Fakultät als Ergebnis ihrer diesbezüglichen Beratungen den Antrag auf Einrichtung einer »Informatikkommission«. Der Senat setzte per 13. März 1975 in der Tat eine solche »Senatskommission Informatik« unter Vorsitz von Dekan Komarek ein, die in der Sitzung vom 14. April 1975 einen Stufenausbauplan mit insgesamt zehn (!) Informatik-Lehrstühlen befürwortete, darunter drei Lehrstühle im Rahmen eines »Sofortprogramms« nach der Priorität 1. Informatik an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, 2. Informatik an der Philosophischen Fakultät und 3. Informatik an der Medizinischen Fakultät.6 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass der Prioritätskatalog der Senatskommission Informatik keine besondere Betonung von der Mathematik zuordenbaren Lehrstühlen vorsah; bspw. wurde ein Lehrstuhl für Theoretische Informatik dem »Langfristigen Programm« ohne weitere Priorisierung zugeschlagen.7 Einen ersten konkreten Schritt in Richtung einer fachlichen Institutionalisierung der Informatik bedeutete allerdings erst die Berufung von Günther Vinek 1976, in deren Zuge die schon bestehende Planstelle »Statistik III« in »Statistik und angewandte Informatik« umbenannt wurde: »Zu Ihrer bisherigen Lehrbefugnis (venia docendi) für Statistik tritt die Lehrbefugnis für angewandte Informatik hinzu[.]« (Schreiben des BMWF, GZ 68 968/1 – 11/81 vom 27. Juli 1981 unter Bezugnahme auf einen entsprechenden Beschluss des Fakultätskollegiums der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät auf Antrag 6 Letztere nach einer Intervention seitens der Medizinischen Fakultät (Brief von Dekan Franz Seitelberger an Rektor Siegfried Korninger vom 14. Mai 1975), der stattgegeben wird (Brief des Vorsitzenden der Senatskommission Informatik Dekan Komarek an Rektor Korninger vom 9. Juni 1975). 7 Durch Berufung von Monika Henzinger wurde 2009 erstmals ein in diesem Sinn theoretischer Lehrstuhl – mit Schwerpunkt in Algorithmentheorie – an der neuen Fakultät für Informatik formal etabliert. Bemerkenswert ist wohl auch, dass die für praktische Computeranwendungen so wichtige Numerik keinen Niederschlag in diesem Forderungskatalog fand.
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Vinek vom 4. März 1981). Die beginnende institutionelle Verankerung der Informatik als neue Disziplin im akademischen Kanon verdeutlicht sich zudem in einem von Günther Vinek am 20. Dezember 1978 an die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien gerichteten Antrag auf Umbenennung des Instituts für Statistik durch Anfügung des Zusatzes »und Informatik«, allerdings mit diplomatisch vorgebrachtem Hinweis: »Mit der Umbenennung des Instituts wird somit keine Neuorientierung eingeleitet, sondern eine längst bestehende Tatsache auch im Namen ausgedrückt.« Dies bestätigte sich auch durch erste informatikorientierte Habilitationen, beginnend mit Leo Reisinger (1973, Angewandte Informatik und Angewandte Statistik, mit einem inhaltlichen Schwerpunkt in Rechtsinformatik) und Johannes Gordesch (1973, Angewandte Statistik und Angewandte Informatik); sodann auch interdisziplinär in Verbindung mit Betriebswirtschaft etwas später Gerwald Mandl (1978, Betriebsinformatik) und Gerhard Knolmayer (1978, Betriebswirtschaftslehre und Betriebsinformatik) sowie Stochastik Georg Pflug (1980, Statistik, Wahrscheinlichkeitstheorie und Angewandte Informatik) bzw. Operations Research Christoph Mandl (1980, Operations Research mit besonderer Berücksichtigung der Netzwerkoptimierung). Die erste, im eigentlichen Sinne der Informatik zurechenbare Habilitation ist jene von A Min Tjoa 1981, der – sozusagen dann schon in zweiter Generation – ab den frühen 1990ern eine ganze Reihe weiterer Habilitationen aus Informatik bzw. Angewandter Informatik folgt. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Habilitierten auf in- und ausländische Informatik-Lehrstühle berufen. Nach einer ersten Ausbaustufe der Informatik bzw. Wirtschaftsinformatik Anfang der 1980er – mit Widmung einer ersten einschlägigen Professur für Angewandte Informatik (Günter Haring, 1985, mit entsprechender personeller Ausstattung) – führten die weiterhin stark wachsenden Studierendenzahlen 1985 zu einer sich in politisch heftigen studentischen Protesten entladenden Auseinandersetzung mit der Bundesregierung. Wissenschaftsminister Heinz Fischer zeigte sich mit der Zuweisung zahlreicher neuer Planstellen, darunter drei neue Professuren und fünf zusätzliche Assistentenstellen an die Universität Wien, diesen Anliegen gegenüber sehr aufgeschlossen. Nach entsprechendem Vorlauf wurden schließlich 1989 die Lehrstühle »Wirtschaftsinformatik« (A Min Tjoa), »Angewandte und Praktische Informatik« (Hans P. Zima, von Bonn kommend) und »Computerverfahren« (Georg Pflug) eingerichtet, womit zwar einerseits der wirtschaftsinformatisch-datenanalytischen Tradition an der Fakultät Tribut gezollt, andererseits aber nunmehr doch einer markanten Akzentuierung der Informatik im disziplinären Gefüge sichtbarer Ausdruck verliehen wurde. Mit der Einrichtung dieser Lehrstühle verfestigte sich die mit der Berufung von Günther Vinek eingeleitete fachliche Etablierung der Informatik als Disziplin sui generis an der Universität Wien: d. h., die Befassung mit dem
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Thema »Computer« stand nun nicht mehr nur im Zeichen der Bereitstellung methodischer Konzepte und Rechnerkapazität als Werkzeug für andere Disziplinen (sowie Bibliotheken und verschiedene universitäre Verwaltungsanwendungen), sondern konnte sich – unter Beibehaltung vielfältiger Anwendungsbezüge – auf eine eigene Existenzberechtigung ohne indirekte Legitimierung über andere Disziplinen begründen. Damit einhergehend vollzog sich nun auch eine stärkere institutionelle Differenzierung. Das Institut für »Statistik und Informatik« wurde per Jahresbeginn 1993 in drei Einheiten gegliedert: zum erneut umbenannten »Institut für Statistik, Operations Research und Computerverfahren« (Leopold Schmetterer, Pflug, sowie die seit 1992 vakante Stelle von Bruckmann) traten nun die Institute für »Software Engineering und Parallele Systeme« (Zima) sowie »Angewandte Informatik und Informationssysteme« (Vinek, Haring, Tjoa) hinzu. Letzteres wurde im Zuge des Ausbaus des Studiums der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Wien noch ergänzt um einen Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik (Dimitris Karagiannis, 1993). Mit der Novelle des Universitätsorganisationsgesetzes 1993 und der daraus resultierenden Fakultätsreorganisation im Jahr 2000 (Abtrennung der Institute für Soziologie und Politikwissenschaft, Umbenennung der Fakultät in »Wirtschaftswissenschaften und Informatik«) nannten sich die Statistik-Sprösslinge sodann »Institut für Informatik und Wirtschaftsinformatik« und »Institut für Softwarewissenschaft«, um sich nur wenig später, mit der Änderung des Organisationsrechts durch das Universitätsgesetz 2002, erneut zu reorganisieren und mit Wirkung vom 1. Oktober 2004 überhaupt in einer neuen, eigenen »Fakultät für Informatik« aufzugehen, diesmal unter Zurücklassung der angestammten Statistik (bis auf einen kleinen, datenanalytisch orientierten Teil unter Leitung von Wilfried Grossmann, einem vormaligen Assistenten Schmetterers mit Extraordinariat am Statistik-Institut der Universität Wien ab 1985), die, inklusive des mit Georg Pflug besetzten Computerverfahren-Lehrstuhls, nun der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften angehört. Die mit der schrittweisen Expansion der Informatik an der Universität Wien einhergegangene räumliche Zersplitterung, die der Festigung einer sichtbaren Identität lange Zeit hinderlich war, wurde schließlich mit dem Bezug eines neuen Fakultätsgebäudes (Währinger Straße 29)8 im Sommer 2012 auch physisch überwunden und der symbolischen Selbständigkeit der Disziplin innerhalb der Universität Wien fühlbarer Ausdruck verliehen. Mit diesem letzten, formalen Institutionalisierungsschritt machte das intellektuelle empirisch-rationalistische Grundprogramm – in seiner Konzeption und Praxis noch zurückgehend auf Wilhelm Winkler, Adolf Adam, Slawtscho 8 Konzeption und Durchsetzung dieses Vorhabens hat maßgeblich der Gründungsdekan der neuen Fakultät für Informatik, Günter Haring, betrieben.
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Sagoroff, Gerhard Derflinger, Gerhart Bruckmann und letztlich auch Günther Vinek – einer epistemischen »Spektralverschiebung« Platz, die mit der Berufung Günter Harings eingesetzt hat und die ein de facto seither sich beschleunigender Wandel des »Denkstils« (Fleck et al. 1980) begleitet: der »Rechner« hebt sich nunmehr als Kristallisationspunkt des Eigenverständnisses (d. h. als primäres Objekt des Erkenntnisgewinns) ab, nicht mehr in seiner Rolle als Werkzeug insb. sozio-ökonomischer Rationalismen und Entscheidungsnormen. Dies erklärt u. a. auch den markanten Wechsel in der Wahrnehmung der quantitativen Verfahren, die nun in der computationalen Statistik eher eine – weitere – Klasse von Algorithmen sieht, aber kaum noch den damals so fundamentalen Möglichkeitshorizont, der sich aus der Verfügbarkeit digitaler Rechner für Modellierung, Optimierung und Simulation – also einem digitalisierten, »kalkulatorischen« Weltzugang abseits innerdisziplinärer Selbstanwendung – eröffnet hat. Über die Algorithmik ergibt sich nun eine methodische Subsumtion der ehedem den Ausgangspunkt bildenden Statistik unter die Sichtweise der informatisierten Daten- und Prozessorganisation: an die Stelle der einstmaligen Integrität der »instrumentellen Datenverarbeitung« ist eine in fächerübergreifende Forschungsfelder der computational sciences eingebundene, sich selbst gewisse Fakultät für Informatik getreten, in der sich Interdisziplinarität mit einem systemorientierten Ansatz verbindet.9 Obwohl »die Informatik« ziemlich sicher an der Universität Wien auch ohne die spezifische Trajektorie über die Statistik und all die genannten Zwischenstufen einmal ankommen musste, bliebe doch die Möglichkeit, dass mangels der damaligen Initiative von Slawtscho Sagoroff und die damit ausgelöste Kette an Entwicklungen hierorts gar keine institutionalisierte Informatik (im Sinne von Studienrichtungen, Instituten oder eigener Fakultät) entstanden wäre, über die nun Bericht gelegt hätte werden können. Es scheint, einmal mehr, dass sich der Erfolg einer Idee gelegentlich seiner eigenen Wurzeln besser besinnen sollte.
Literaturverzeichnis Bruckmann, Gerhart / Ferschl, Franz / Schmetterer Leopold (Hg.): CompStat 1974 – Proceedings in Computational Statistics (Wien/Heidelberg 1974). Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung: Hochschulbericht 1972, Bd. I (Wien 1972). Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung: Hochschulrechnerverbund Wien (Wien 1975). 9 Die »brückenbauende« Selbstbestimmung dieser jungen Fakultät, die gleichzeitig hohe Ansprüche an die eigene Kommunikationsfähigkeit stellt, spiegelt sich auch durchgängig in ihren veröffentlichten Leitbildern.
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Cleveland, William S.: Data science: an action plan for expanding the technical areas of the field of statistics, in: International Statistical Review / Revue Internationale de Statistique (2001) 21 – 26. Fleck, Ludwik / Schäfer, Lothar / Schnelle, Thomas (Hg.): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (Frankfurt a. M. 1980). Sagoroff, Slawtscho: Institut für Statistik der Universität Wien: Organisation und Aufgaben, in: Universität Wien (Hg.), Aufgaben der Universität Wien in Gegenwart und Zukunft – Aufsätze zur 600-Jahr-Feier (Wien 1965) 83 – 85. Stetter, Hans: Ein österreichisches Wunder, in: Gerhard Chroust und Hans-Peter Mössenböck (Hg.), Informatik macht Zukunft/Zukunft macht Informatik – 40 Jahre Informatik-Studium in Österreich. Festschrift (Wien 2009) 157 – 159.
Mündliche Evidenz (Interviews mit Zeitzeugen)10 Univ.-Prof. i.R. Dr. Gerhart Bruckmann (02. Juni 2010) Univ.-Prof. emeritus Dr. Gerhard Derflinger (28. März 2012) Univ.-Prof. emeritus Dr. Johannes Gordesch (21. November 2013) MR i.R. Dr. Walter Grafendorfer (24. Mai 2013) SC i.R. Dr. Sigurd Höllinger (06. März 2012) Dr. Peter Rastl (16. Mai 2013) SC i.R. Dr. Norbert Roszenich (08. Juni 2010) OR i.R. Dr. Werner Schimanovich (15. Mai 2011)
10 Teilweise wurden die Aussagen der Interviews durch weitere Nachfragen bei und Kommentare von den Zeitzeugen präzisiert und ergänzt. In der Gruppe der für Interviews in Frage kommenden Personen befand sich bezeichnender Weise keine einzige Frau.
Christa Hämmerle und Gabriella Hauch*
»Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden …«1 Zur Institutionalisierung der Frauenund Geschlechtergeschichte an der Universität Wien
»[…] eine Gründung ist ja kein Datum, sondern ein Prozess«, formulierte Edith Saurer in ihrer Rede zur Feier des 20. Jahrgangs von »L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft« im Juni 2009.2 Die bis kurz vor ihrem Tod im April 2011 an der Universität Wien tätige Doyenne der österreichischen Frauen- und Geschlechtergeschichte sprach damit am Beispiel dieser von ihr initiierten Fachzeitschrift an, was jenes Feld des Engagements, dem sie sich gemeinsam mit anderen an ›ihrer‹ Fakultät jahrzehntelang gewidmet hat, ganz grundsätzlich kennzeichnet: nämlich ein Ineinandergreifen von (geschlechter-)politischen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten, die jeglichen solchen Gründungen vorausgehen, diese erst ermöglichen, begrenzen und figurieren. Das gilt für die im Folgenden behandelte Geschichte der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der vormals Geisteswissenschaftlichen Fakultät in besonderer Weise. Sie ist, selbst wenn das im Rückblick so erscheinen mag, weniger eine Abfolge von zeitlich fixierbaren Verankerungen dieses Forschungs- und Lehrfeldes, sondern ein komplexer Prozess, der zwar in Erfolge mündete, gleichzeitig aber zahlreiche Suchbewegungen, nicht realisierbare Ideen und Rückschläge, ein mitunter vergebliches Bemühen beinhaltet. So gesehen war nicht zuletzt viel Beharrlichkeit notwendig, um überkommene Machtstrukturen und -verteilungen zwischen den Geschlechtern auch an der Universität Wien allmählich zu verändern. Es musste gegen zahlreiche Widerstände angekämpft werden, die insbesondere der frühen, eng mit den Forderungen der autonomen Frauenbewegung verknüpften feministischen Wis* Institut für Geschichte der Universität Wien. 1 Aus den vom damaligen Ministerium für Wissenschaft und Forschung für die 1980er Jahre erstellten Forschungsschwerpunkten der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften, zitiert im 1982 vorgelegten »Arbeitsprogramm der Arbeitsgruppe Frauengeschichte« am Institut für Geschichte. 2 Vgl. den Wortlaut der Rede im virtuellen Salon 21: [http://www.univie.ac.at/Geschichte/ salon21/wp-content/saurer_20jahrelhomme1.pdf] (13. Juni 2009/29. Jänner 2014).
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senschaftskritik3 und damit auch der Frauengeschichte auf vielen Ebenen entgegengesetzt wurden. Vor einem solchen Hintergrund versteht sich der folgende Beitrag als Versuch, dieser nicht unumstrittenen Institutionalisierungsgeschichte nachzugehen, auch im Spiegel außeruniversitärer und internationaler Entwicklungen. Sie gaben dafür oft die notwendigen Anstöße, ohne sie wäre ein solcher Prozess undenkbar gewesen. Der Blick auf rund drei Jahrzehnte bis zum Universitätsgesetz 2002, die gewissermaßen als Weg in eine heute weitgehend etablierte Frauen- und Geschlechtergeschichte an der nunmehrigen HistorischKulturwissenschaftlichen Fakultät erscheinen, zeigt das deutlich.
Von der Pionierinnenrolle der historischen Disziplinen Dass es gerade die Geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien war, an der in Reaktion auf die Impulswirkungen der außeruniversitären Frauenbewegung/en erste Diskussionen und Institutionalisierungsversuche feministischer Wissenschaft einsetzten, ist kaum verwunderlich. Im Aufbruch der Frauenforschung ab den späten 1960er Jahren fungierte sowohl in den USA, als auch – etwas verzögert – in Europa vor allem die Geschichtswissenschaft lange Zeit als Leitwissenschaft. Das hing mit der persistenten Geschichtslosigkeit der Frauen im Mainstream der Geistes- und Kulturwissenschaften ebenso zusammen wie mit der verbindenden Suche nach ›weiblichen‹ Erfahrungen und Formen von Frauenunterdrückung in der Geschichte, die sich mit der Genese der Frauenbewegung/en jener Zeit verband.4 Diese wurzelten also auch in der Praktikabilität und Nützlichkeit der historischen Argumentationen, wie es von Beginn an selbstreflexiv diskutiert wurde.5 Das Schlagwort von der Identitätssuche der Frauen durch die (Wieder-)Entdeckung historischer Vorbilder hatte Sprengkraft, die Erkenntnis von der Gewordenheit der Geschlechterverhältnisse barg das Moment der Veränderbarkeit, wurde zur Waffe im Kampf um die gesellschaftspolitische Frauen-Emanzipation. Die historische Methodik schärfte aber auch den kritischen Blick auf ein im ersten Überschwang der feministischen Bewegung phantasiertes Kollektivsubjekt Frau, analysierte dieses als eurozentrisch und der Mittelschicht angehörend und forderte schon früh die Kombination der Kategorie Geschlecht mit anderen Differenzkategorien wie Klasse, Alter, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Religion, Körperlichkeit etc. Außerdem führte der historische Fokus in den Fragestellungen nach der Konstruktion der Geschlechternormen und -verhältnisse 3 Geiger et al. 1989: Donauwalzer ; Gehmacher et al. 2007: Land, 19 – 35. 4 Vgl. etwa Opitz 2005: Um-Ordnungen, 25 – 28. 5 Zum Beispiel: Scott 2004: Feminism’s History, 18.
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zur Dechiffrierung all jener Disziplinen, die angetreten waren, die gesellschaftliche Position von Frauen und Männern als naturgegeben festzuschreiben – Frauengeschichte war damit per se auch Wissenschaftskritik. Deren große Bedeutung bündelte die Pionierin der internationalen Frauengeschichte Gerda Lerner – eine geborene Wienerin, die im Nationalsozialismus emigrieren musste – in der Forderung »Jede Frau sollte mindestens ein Jahr lang Frauengeschichte studieren, egal, was sie sonst macht. Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat«.6 Dieser emanzipatorische Ansatz begeisterte und mobilisierte Frauen auf der ganzen Welt: von Frauen – für Frauen, lautete nun die Parole der ›Schwesterlichkeit‹, eben auch an der Universität Wien. Auch hier kam es ab den 1970er Jahren im Gefolge der von der autonomen Frauenbewegung erhobenen Forderungen zu einer beachtlichen Bandbreite verschiedener Aktivitäten, von Vernetzungen unter Frauen über erste Buchprojekte, Tagungen und Lehrveranstaltungen bis hin zu ersten Schritten der Institutionalisierung. Sie waren ebenso vom früh erhobenen Anspruch nach Inter- oder Transdisziplinarität geprägt wie von der Stärkung historischer Perspektiven in Forschung und Lehre; auch diesbezüglich sind Prozesse oder Suchbewegungen zu konstatieren, die von fließenden oder offenen Disziplingrenzen in den Anfängen der Frauenforschung und Frauengeschichte über das primäre Interesse an disziplinären Perspektivierungen bis hin zu deren (partiellem) Bedeutungsverlust in Folge des ›linguistic turn‹ der sich etablierenden Gender Studies reicht. In diesem Spektrum, das zudem durch den Trend hin zu einer verstärkten Berücksichtigung der Kategorie Männlichkeit geprägt war, verorten sich auch unterschiedliche Positionen, die den Prozess der Institutionalisierung begleiteten und gestalteten.
Vom »ewigen Klischee« zur »Arbeitsgruppe Frauengeschichte« und darüber hinaus Aus intensiven Diskussionen einer Gruppe von mehrheitlich als Assistentinnen an verschiedenen Instituten der Fakultät tätigen Frauen ging 1981 ein Sammelband mit dem Titel »Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis bei Männern und Frauen« hervor. In einem weiten Bogen werden darin »Streiflichter« zur Situation der Frauen in der Antike, im Mittelalter und in der Französischen Revolution bis zur Neuen Frauenbewegung und in die Gegenwart, inklusive textkritischer und sprachwissenschaftlicher Analysen der Geschlechterungleichheit, entworfen. Damit wurde an der Universität Wien, wie in 6 Vgl. Lerner 2002: Zukunft; Lerner 1979: Majority.
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der Einleitung des Bandes formuliert, erstmals gegen die Bezugssysteme der »traditionslosen, geschichtslosen, sprachlosen Frauen« angeschrieben, auch schon indem »der Mann als Thema […] ins Visier genommen« wurde.7 Zuvor hatte die 1975 erschienene Studie der vier Jahre später von Salzburg nach Wien berufenen Zeithistorikerin Erika Weinzierl, die unter der Frage »Emanzipation?« der Geschichte österreichischer Frauen im 20. Jahrhundert nachging,8 den Status einer Pionierarbeit. Das Feld begann sich zu öffnen – den ersten Konzepten und Theoremen der neuen Frauenforschung entsprechend sowohl interdisziplinär als auch disziplinär. Daraufhin ist eine beschleunigte Entwicklung zu konstatieren, die mit dem tief greifenden Paradigmenwechsel der deutschsprachigen Geschichtswissenschaften jener Zeit korrespondierte und insbesondere dort häufig auf Widerstand stieß, wo die Frauenforschung – von ihren Vertreterinnen zunehmend selbstbewusster und expansiver formuliert – ihren konstitutiven Platz im Gefüge solcher Neupositionierungen forderte.9 Denn »eine Eisdecke von unterschiedlicher Stärke lag über dem Fach«, so dass die Frauengeschichte »bedeutend mehr Schwierigkeiten zu überwinden [hatte] als andere neue Ansätze«.10 Umso dringlicher schien es, solche Prozesse auch institutionell zu verankern. Das war bereits zu Beginn der 1980er Jahre von Seiten des Wissenschaftsministeriums unter der Sozialdemokratin und Historikerin Herta Firnberg dezidiert empfohlen und durch mehrere Maßnahmen auf Regierungsebene – einem Frauenförderungsprogramm und einem Aktionsplan, der Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe und der Ernennung von »Kontaktfrauen« in öffentlichen Institutionen – vorangetrieben worden.11 In der Folge fand sich das Anliegen der Institutionalisierung, wie im Titel unseres Beitrages zitiert, daher umgehend in dem von Heide Dienst, Helene Maimann, Herta Nagl-Docekal und Edith Saurer 1982 unterzeichneten »Arbeitsprogramm der Arbeitsgruppe Frauengeschichte« wieder, das sich zudem auf das Universitätsgesetz von 1975 stützen konnte. Dieses hatte Kurien und drittelparitätische Gremien eingerichtet und dadurch nicht zuletzt den universitären Mittelbau gestärkt; so konnten auch 7 Herausgegeben wurde dieser Sammelband von einer »Autorinnengruppe Uni Wien«, der u. a. Edith Specht, Heide Dienst, Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Waltraud Heindl und Ruth Wodak angehörten. Autorinnengruppe Uni Wien 1981: Difference, 9. 8 Erika Weinzierl wurde 1979 nach Wien berufen. 9 Vgl. dazu etwa eine interdisziplinäre Tagung in Wien, auf der Gisela Bock methodischtheoretische Prämissen der Frauengeschichte referierte und damit noch heftige Kontroversen auslöste: Bock 1984: Platz, 108 – 127. 10 Saurer 1984: Arbeitsgruppe, 171. 11 Zur Gründung eines eigenständigen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung unter Herta Firnberg war es 1971 durch die Regierung von Bruno Kreisky gekommen. Besonders aufgrund des langjährigen Engagements von Eva Knollmayer funktionierte hier das »Kontaktfrauen-Komitee« weit besser als in anderen Ressorts.
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Assistentinnen zum Ausdruck bringen, dass es sich im Falle der Frauengeschichte in Zukunft um einen Forschungsschwerpunkt des Instituts handeln würde. Sie schufen mit ihrer Arbeitsgruppe »speziell für Geschichte, der in dem Kontext der Frauenforschung eine Schüsselrolle zukommt« und für die es in Österreich damals »noch keine koordinierende Stelle« gab, eine erste Verankerung. Diese definierten sie als Diskussionsforum und Informations- sowie Vernetzungsstelle mit dem Ziel, die Interessen für Frauengeschichte und deren »Anschluß an den internationalen Standard« zu stärken, wobei auch »studentische und andere Initiativen« aufgegriffen werden sollten. Außerdem wurde die Erstellung eines »Desideratakatalogs« zur Forschungs- und Lehrtätigkeit im Feld der neuen Frauengeschichte in Aussicht gestellt. 12 Dieser ließ sich in der Folge nur teilweise beziehungsweise mehr im Sinne einer Schritt-für-Schritt Strategie für verschiedene immer wieder neu zu bestimmende Gravamina realisieren. Und auch studentische Initiativen verselbstständigten sich mitunter – wie das Beispiel der Organisation des 5. Historikerinnentreffens zeigt, dessen Abhaltung in Wien zwei Diplomandinnen initiierten, die ein vorangegangenes Treffen in Berlin besucht hatten.13 Dessen ungeachtet wurde die »Arbeitsgruppe Frauengeschichte« beziehungsweise die 1996 in Entsprechung zur wissenschaftsimmanenten Entwicklung umbenannte »Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechtergeschichte« zum Markstein und Zentrum auf dem Weg der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung an der damals noch großen geisteswissenschaftlichen Fakultät. Sie nutzte dafür, neben dem Engagement ihres sich erweiternden Mitgliederkreises und unter teilweise wechselnder Leitung,14 zunächst die arbeitsmarktpolitische Maßnahme des »Akademikertrainings«. Erst 1992 gelang es im Zuge der Schaffung einer außerordentlichen Professur für Edith Saurer, dem damaligen Wissenschaftsminister Erhard Busek eine Stelle abzuringen, die dem weiteren Aufbau der Frauengeschichte am Institut für Geschichte gewidmet war.15 12 Arbeitsprogramm der Arbeitsgruppe Frauengeschichte 1982. 13 Die finanzielle Förderung der scheidenden Wissenschaftsministerin Firnberg und der Hochschülerschaft ermöglichte die Veranstaltung des 5. Historikerinnentreffens im April 1984 in Wien, das im Anschluss an die Initiative von Sigrun Bohle und Christa Hämmerle von Studentinnen und Absolventinnen der Studienrichtung Geschichte organisiert wurde. Es griff die Tradition von vier Historikerinnentreffen in Deutschland auf, erweiterte jedoch den Kreis der Teilnehmerinnen auf rund 600 Frauen beziehungsweise 76 Referentinnen aus verschiedenen Ländern. Vgl. die daraus hervorgegangene Publikation: Wiener Historikerinnen (Hg.) 1985: Geschichte. 14 Bisherige Leiterinnen waren Edith Saurer (1982 – 1987; 1990 – 2007), Heide Dienst (1987 – 1989), Christa Hämmerle (2007 – 2011), Gabriella Hauch (ab 2012); stellvertretende Leiterinnen waren Christa Hämmerle (1998 – 2007) und Birgitta Bader-Zaar (2007 ff.). 15 Geteilt besetzt durch Andrea Griesebner und Christa Hämmerle (Jänner 1994 bis Februar
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In Kooperation mit vielen anderen Wissenschaftler/innen in- und außerhalb der Fakultät konnten daraufhin zahlreiche Projekte, Vortragsreihen und Konferenzen durchgeführt werden.16 Dazu gehörte beispielsweise der Aufbau der schon 1990 gegründeten »Sammlung Frauennachlässe«, die sich heute als von Forschung und Lehre viel genutzter gegenläufiger Gedächtnisspeicher für Vorund Nachlässe von Frauen etabliert hat; dafür musste allerdings lange auch auf Drittmittel zurückgegriffen werden.17 Noch in der Anfangsphase der Arbeitsgruppe gab es zudem erste Bemühungen um die österreichweite Vernetzung durch die Etablierung eines Rundbriefes. Dieser sollte der sich rasch vergrößernden Frauengeschichte-Szene gerecht werden, wofür von den Initiatorinnen eine föderalistische Struktur gewählt wurde, um die Kluft zwischen der Hauptstadt als Metropole und den Bundesländern als Peripherie zu überbrücken: Die Herausgabe des Rundbriefes rotierte daher nach den ersten drei in Wien erarbeiteten Nummern von einer Universitätsstadt zur anderen, und der 1989 gegründete Verein für Historische Frauenforschung hatte seinen Sitz in Salzburg – bis er sich 1992 wieder auflöste. Ungeachtet dessen schritt in den Folgejahren die österreichweite Vernetzung ebenso fort wie der Aufbau und die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an den anderen Universitäten in Innsbruck, Salzburg, Graz und Klagenfurt.
Internationalität Die von den Proponentinnen der Frauengeschichtsschreibung in Wien von Anfang an betonte Internationalität schrieb sich in ihre Initiativen ebenfalls mannigfaltig ein. Das zeigen die zum Teil publizierten Ringvorlesungen oder die Einladung zahlreicher auswärtiger Wissenschaftler/innen zu Gastvorträgen, Workshops und Tagungen18 ebenso wie die Initiierung einer Gastprofessur für Frauen- und Geschlechterforschung, der heutigen Käthe-Leichter-Gastprofessur seit 1991.19 Die internationale Orientierung mündete auch in die Beteiligung an
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1995 vertreten durch Johanna Gehmacher). Vorangegangen war die umstrittene Entscheidung des Wissenschaftsministers für die Berufung eines durch die Kommission ex aequo gereihten männlichen Kollegen auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte. Vgl. das Archiv der Veranstaltungen auf der Homepage der Arbeitsgruppe: [http:// www.univie.ac.at/Geschichte/htdocs/site/arti.php/90094] (29. Jänner 2014). Vgl. zu den Projekten und Publikationen auf Basis der »Sammlung Frauennachlässe«, deren definitive Institutionalisierung an der Universität Wien erst 2013 gelang: [www.univie.ac.at/ Geschichte/sfn] (31. Jänner 2014). Vgl. die Homepage der Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechtergeschichte: [http:// www.univie.ac.at/Geschichte/htdocs/site/arti.php/90094] (29. Jänner 2014). Vgl. die Liste auf: [http://genderkult.univie.ac.at/kaethe-leichter-gastprofessur/bisherigekaethe-leichter-gastprofessorinnen/] (29. Jänner 2014).
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der »International Federation for Research in Women’s History«20 (gegründet 1987). Diese Kommunikationsnetze förderten und stärkten die hiesige Frauenund Geschlechtergeschichte auf dem schwierigen Weg zu inneruniversitärer Akzeptanz und budgetären Mitteln und erlaubten es auch, Rückschläge produktiv zu gestalten. Ein solches Wechselverhältnis gilt insbesondere für die im Jahr 1990 gegründete Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, L’Homme.21 Ihre Entstehung in einer Zeit gehäufter Zeitschriften-Gründungen, die nach Jahren einer an interdisziplinären Diskussionen ausgerichteten Frauen- und Geschlechterforschung ein verstärktes Bedürfnis nach einer Orientierung in der Disziplin markierte,22 war ein Höhepunkt im Bemühen um eine internationale Ausrichtung der hiesigen Frauen- und Geschlechtergeschichte – was als selbstbewusst formuliertes und, wie es manche damals noch sahen, an der Peripherie der europäischen Frauen- und Geschlechtergeschichte initiiertes Projekt durchaus auch kritische Stimmen evozierte. Zunächst von österreichischen Wissenschaftlerinnen herausgegeben,23 hatte die Zeitschrift vor dem Hintergrund einer »von Kontingenz gezeichneten Diskussionssituation« im europäischen Raum nämlich von vornherein einen Anspruch erhoben, der »über die Grenzen Österreichs hinausreicht«, wie es im Editorial des von Edith Saurer und Christa Hämmerle herausgegebenen ersten Heftes hieß.24 Im selben Heft argumentierte Herta Nagl-Docekal programmatisch eine multiperspektivisch ausgerichtete, auch von Divergenz gekennzeichnete Feministische Geschichtswissenschaft als »historische Forschung am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau« – und damit als jedenfalls »unverzichtbares Projekt«.25 Mit viel »Schwung und Begeisterung«26 vorangetrieben, verfolgte die Zeitschrift L’Homme in den folgenden Jahren nicht nur die weitere Internationalisierung, indem sie einerseits frauen- und geschlechtergeschichtliche Arbeiten, die an der Universität Wien beziehungsweise in ihrem Umfeld entstanden, in ein 20 Vgl. [www.ifrwh.com] (13. November 2014). Diese Vernetzung wird, inklusive der betr. Rundbriefe, seitens der Universität Wien seit 2007 von Birgitta Bader-Zaar betreut. 21 Vgl. die Website unter : [http://www.univie.ac.at/Geschichte/LHOMME/] (31. Jänner 2014). 22 Im englischsprachigen Raum erschien ab 1989 die Zeitschrift Gender & History, die ähnliche Wege beschritt. Auch die damals ebenfalls an der Universität Wien gegründeten historischen Fachzeitschriften, das »Frühneuzeitinfo« (1990) und die »Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« (1990), integrierten von Beginn an frauen- und geschlechtergeschichtliche Themen in ihr Konzept. 23 Die Gründung der Zeitschrift erfolgte an der Universität Wien durch Birgit BologneseLeuchtenmüller, Heide Dienst, Christa Hämmerle, Waltraud Heindl, Herta Nagl-Docekal und Edith Saurer ; aus Salzburg waren Brigitte Mazohl-Wallnig und aus Innsbruck Erna Appelt beteiligt. 1991 kam Hanna Hacker hinzu. 24 L’Homme-Herausgeberinnen 1990: Editorial, 3 f. 25 Nagl-Docekal 1990: Feministische Geschichtswissenschaft, 7 – 18. 26 Nagl-Docekal et al. 1995: Frauengeschichte, 283.
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weites Diskussionsforum einband. Sie brachte andererseits viele Übersetzungen aus jenen europäischen Wissenschaftskulturen, die nicht nur in Österreich besonders wenig rezipiert wurden. Ab 1996 kam es zu einer Erweiterung des Herausgeberinnenkreises, zunächst mit Wissenschaftlerinnen aus Deutschland und der Schweiz, wozu u. a. die Pionierinnen Ute Gerhard und Karin Hausen gehörten, dann auch aus anderen europäischen Ländern. Die Drehscheibe der heute international renommierten, vor Kurzem ihr 25-jähriges Jubiläum feiernden Zeitschrift blieb jedoch, trotz wiederkehrender Finanzierungsengpässe, am Institut für Geschichte der Universität Wien.27
Vom »Fuß fassen« in der Lehre Doch ist am Beispiel eines weiteren, lange umstrittenen Feldes der hier skizzierten Institutionalisierungsgeschichte nochmals daran zu erinnern, wie schwierig es einst auch an der Universität Wien war, überhaupt Frauengeschichte lehren zu können. Im Jahre 1975, als Edith Saurer als Assistentin am Institut für Geschichte in Form eines Proseminars »Zur Geschichte des Frauenwahlrechts: die Suffragetten« die erste solche Lehrveranstaltung veranstaltete, musste sie angesichts der schlechten Ausstattung der Bibliotheken mit wissenschaftlichen Publikationen zur damaligen Frauengeschichte und feministischen Theorieproduktion fast ausschließlich auf schlechte Xerokopien, die sie aus England bezogen hatte, zurückgreifen28 – eine Erfahrung, die wohl später die Initiierung einer »F-Reihe« mit Fachliteratur zur Frauen- und Geschlechtergeschichte am Institut für Geschichte beflügelt hat. Und noch 1980 kam es institutsübergreifend zu erbittertem Widerstand gegen den Antrag für ein interdisziplinäres Seminar zur Frauengeschichte, das für mehrere Subfächer bis hin zur Österreichischen Geschichte anrechenbar gemacht und von der noch nicht habilitierten Universitätsassistentin Birgit Bolognese-Leuchtenmüller vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und anderen veranstaltet werden sollte. Nur weil der Sozialhistoriker Michael Mitterauer als Vorsitzender der Studienkonferenz Geschichte die Zeichen der Zeit erkannte und den Antrag unterstützte, und dank Erika Weinzierl, die als Ordinaria für Zeitgeschichte offiziell eine Art Oberhoheit über die Lehrveranstaltung übernahm, konnte es schließlich doch abgehalten werden. Dieser Vorfall scheint signifikant für die Anfangszeit des Ringens um akademische Akzeptanz und Anerkennung, die von Vorbehalten und Angstfiguren 27 Saurer sowie Hämmerle 2009: Festrede; Hämmerle 1994: L’Homme, 75 – 81; vgl. auch [http:/ www.univie.ac.at/geschichte/salon21/?cat=158] (4. April 2015). 28 Zit. in: Nagl-Docekal et al. 1995: Frauengeschichte, 275.
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begleitet war, dass es sich bei dieser neuen Wissenschaftsdisziplin um ein politisches Emanzipationsprojekt handeln würde, welches Männer qua Geschlecht ausschließen und demnach – wie immer wieder argumentiert wurde – unwissenschaftlich sein könnte. Wohl gerade deshalb, und weil die Frauengeschichte eben auch vor den Bastionen männlicher Wissenschaft (wie der Österreichischen Geschichte) keinen Halt zu machen gewillt war, verfolgte den Institutionalisierungsprozess in der Lehre zunächst auch der Einwurf des Männerausschlusses, der keine gesetzliche Grundlage gehabt hätte – und unseren Recherchen zufolge an der Universität Wien auch nie praktiziert wurde. Dessen ungeachtet setzte das Interesse der Kollegen an der neuen Frauenforschung – von der gerade in Wien bedeutsamen Familiengeschichte einmal abgesehen29 – zunächst nur zögerlich ein und nahm erst im Zuge ihrer Erweiterung zur Geschlechterforschung zu, da diese die historische Männlichkeitsforschung ebenso wie die Sexualitätsforschung stärker integrierte und den relationalen Charakter der Kategorie Geschlecht weiterentwickelte.30 Insgesamt lief die Institutionalisierung in der Lehre auch in der Studienrichtung Geschichte im Wahlfachbereich vor allem über als »Arbeitsgruppen« angebotene frauenspezifische Lehrveranstaltungen und die interdisziplinäre »Fächerkombination Frauenforschung«, die allzu oft ebenfalls aus einem ministeriell zugewiesenen »Sonderkontingent« schöpfen musste.31 Erst nachdem Frauen- und Geschlechtergeschichte von zunehmend mehr Instituten der Fakultät angeboten und zusätzlich durch Erasmusverträge mit europäischen Partneruniversitäten gestützt wurde,32 folgten weitere disziplinäre Verankerungen. Sie mündeten in einen gänzlich neuen Studienplan »Diplomstudium Geschichte«, der 2002 – kurz vor der Bologna-Reform – erlassen wurde und als »Ergebnis sehr intensiver, teilweise auch langwieriger und kontrovers geführter Diskussionen« die Frauen- und Geschlechtergeschichte erstmals im Pflichtfachbereich etablierte.33 Das entsprach den Absichtserklärungen im Qualifikationsprofil des neuen Diplomstudiums, das im § 3 die »Gleichwertigkeit der Frauen- und Geschlechterforschung mit anderen Forschungsbereichen«, die »kritische Auseinandersetzung mit […] sexistischen […] Geschichts- und Gesellschaftsbildern« und den »Abbau von Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht« postulierte – was darauf hindeutet, dass feministische Wissenschaft29 Vgl. den Beitrag von Josef Ehmer und Thomas Buchner in diesem Band. 30 Vgl. Schmale 2003: Geschichte; sowie ÖZG 11/3 (2001): Im Inneren der Männlichkeit, hg. v. Franz Eder. 31 Vgl. Griesebner 1994: Wiener Initiative, 67 – 73; sowie den Beitrag von Eva Flicker und Birgit Sauer in diesem Band. 32 Diese Studierendenmobilität wurde im Feld der Frauen- und Geschlechtergeschichte v. a. durch Birgitta Bader-Zaar, Andrea Griesebner und Edith Saurer betreut. 33 Hämmerle 2002: Vielfalt, 81.
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lerinnen sich mittlerweile durchzusetzen vermochten.34 Die Akzeptanz der Frauen- und Geschlechterforschung war somit auch in der Lehre merklich gestiegen und als Prozess nicht mehr umkehrbar, als nach wenigen Jahren neue Masterprogramme entwickelt wurden. Nun entstand, aufbauend auf einer Verankerung auch im Bachelorstudium, ein aktuell wieder auslaufendes Masterstudium Frauen- und Geschlechtergeschichte und – nur ermöglicht durch eine EU-Förderung für die ersten drei Jahre der Entwicklung und Implementierung – das internationale Studienprogramm »MATILDA. European Master in Women’s and Gender History« (bewilligt 2006). Es folgte der schon zur ›Tradition‹ gewordenen, stark internationalen Ausrichtung der hiesigen Frauen- und Geschlechtergeschichte, indem Wissenschaftlerinnen der Universität Wien die Antragstellung und die Gesamtkoordination des mit den Universitäten CEU Budapest, Lyon 2, Nottingham und Sofia durchgeführten Programms übernommen haben.35
Ausblick Mit dem neuen Universitätsgesetz von 2002 und der Hochschul-Autonomie haben sich die Bedingungen und damit verbunden auch die Möglichkeiten für die Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät verändert. Erstmals konnten vom Rektorat direkt Forschungsgelder für bestimmte Schwerpunkte lukriert werden, was – nach einer in zwei Etappen erfolgten positiven Begutachtung durch auswärtige Expert/inn/en – zur Etablierung der universitären Forschungsplattform zur »Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext« führte. Mit ihren Zielrichtungen »Vernetzung – Ressourcen – Projekte« hat sie von 2006 bis 2012 einerseits einige in den Jahrzehnten zuvor entwickelte Instrumente, insbesondere die »Sammlung Frauennachlässe« und die Zeitschrift »L’Homme«, zur weiteren Internationalisierung und Professionalisierung im Kontext der gewachsenen »Vielstimmigkeit« der europäischen Frauen- und Geschlechtergeschichte genutzt. Andererseits hat diese Forschungsplattform durch verschiedenste Kooperationen, die insbesondere die bestehenden Kontakte nach Süd/Osteuropa intensivierten, eine Vielzahl neuer Initiativen und Projekte durchgeführt oder mitgetragen – vom virtuellen »Salon 21« über Ta34 Vorausgegangen war eine Diskussion über die konkrete Benennung des neu etablierten Faches und schließlich die Entscheidung, es doppelt als Frauen- und Geschlechtergeschichte zu benennen, um weiterhin beide Dimensionen zu stärken. 35 Vgl. [https://matilda-european-master.univie.ac.at/] (31. Jänner 2014). Wiener Koordinatorinnen von MATILDA waren bis 2014 Christa Hämmerle und Carola Sachse, nun Kerstin Susanne Jobst und Maria Mesner.
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gungen und Workshops bis hin zu Sammelbänden, Monografien und Editionen.36 Während diese Forschungsplattform vorübergehend bleiben sollte, spiegelt sich die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät in der neuen Universitätsstruktur am deutlichsten in der Denomination von Professuren. Ihre frühe Verankerung am Institut für Geschichte mündete im September 2011 in die dortige (Nach-) Besetzung einer Professur für Geschichte der Neuzeit mit der Schwerpunktsetzung Frauen- und Geschlechtergeschichte;37 zuvor wurde im Februar 2004 am Institut für Zeitgeschichte, wo es erst 1998 zur Besetzung einer Mittelbaustelle mit einer Gender-Forscherin gekommen war,38 eine Professur mit Gender-TeilDenomination eingerichtet.39 2007 gelang es, im ersten Entwicklungsplan der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät auch die Frauen- und Geschlechtergeschichte als Forschungsschwerpunkt festzuschreiben, sie wird ab diesem Zeitpunkt durch eigene Sprecherinnen repräsentiert. Daneben kam es im Dezember 2012 zur Gründung der »Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung«,40 und seit Jänner 2014 existiert – eingerichtet für drei Jahre – der gesamtuniversitäre Forschungsverbund »Geschlecht und Handlungsmacht« (Gender and Agency).41 Ungeachtet aller dieser Institutionalisierungserfolge – seien sie kurz-, mitteloder auch längerfristig angelegt – ist weiterhin offen, wohin sich die Zukunft der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät bewegen wird. Ihre Geschichte war auch von Kontroversen und Dissonanzen geprägt, nicht zuletzt im wachsenden Kreis der beteiligten Wissenschaftler/innen selbst, die im mühevollen Prozess der (Selbst-)Legitimierung der Frauen- und Geschlechterforschung in einem vormals rein ›männlichen‹ Wissenschaftsgefüge verschiedene theoretisch-methodische Konzepte und Strategien verfolgten – bis hin zur steten Reflexion über verwendete Begrifflichkeiten.42 In einer Zeit der zunehmenden Finanznöte wird sich zeigen, wie bleibend die so in Gang gesetzten Prozesse sind. Und ob es gelingen wird, Frauen- und Geschlechtergeschichte über die Orte ihrer Institutionalisierung 36 Der Salon 21 besteht – betreut von Li Gerhalter – weiterhin; vgl. [http://www.univie.ac.at/ Geschichte/salon21] (31. Jänner 2014). Vgl. zu den Aktivitäten und Publikationen der Forschungsplattform auch: [www.univie.ac.at/Geschichte/Neuverortung-Geschlechtergeschichte]; sowie Saurer et al. 2014: Research. 37 Diese Professur wurde mit Gabriella Hauch besetzt. 38 Die Stelle wurde mit Johanna Gehmacher besetzt. 39 Besetzt mit Carola Sachse, die einen Schwerpunkt auf »Wissen-Macht-Geschlecht. Zeitgeschichte in internationalen Bezügen« setzte. 40 Vgl. [http://www.oeggf.at] (21. Dezember 2013). 41 Vgl. [http://genderandagency.univie.ac.at/] (21. Dezember 2013). 42 Vgl. zuletzt etwa Hausen 2014: Wörter, 160 – 168.
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Christa Hämmerle und Gabriella Hauch
hinaus zu einem in der Tat integrativen Prinzip der Forschung und Lehre an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät insgesamt zu machen.
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»Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden …«
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Stefan Hulfeld und Birgit Peter*
Die Entwicklung der Theaterwissenschaft an der Universität Wien seit ihrer Institutionalisierung 1943
Im Mai 2008 gedachte das Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien seines 65-jährigen Bestehens. Der Zeitpunkt des Erinnerns an die Gründung im Jahr 1943 fiel mitten in eine Umbruchphase. Das bis heute zuweilen als »die Theaterwissenschaft« bezeichnete Institut hatte sich schon 2000 umbenannt und thematisiert szenische Vorgänge und inszenierte Wahrnehmung in Theater, Film und Medien seither. Unter anderem die strategische Ausdehnung der Gegenstandsbereiche auf Film und Medien führte zu einem sprunghaften Anstieg der Studierendenzahlen, während sich die vier Professuren alle in der Phase der Neubesetzung befanden. Jene für »Theater- und Kulturwissenschaft« und »Theorie des Films« waren im Mai 2008 bereits besetzt, jene für »Theater- und Medienkulturen der Neuzeit« und »Intermedialität« sollten bald folgen. Und während Studienpläne umzuschreiben waren, einerseits um sie der Bachelor- und Masterstruktur anzupassen, andererseits um darin die ineinander verschränkte Ausbildung in Theater-, Film- und Medienwissenschaft zu konzeptualisieren, galt es zusätzlich, die Geschichte der Institution aufzuarbeiten. Denn bekanntermaßen erfolgte die Gründung des »Zentralinstituts für Theaterwissenschaft« im Mai 1943 unter nationalsozialistischen Auspizien; bekanntermaßen gehörte der (nach einer Zwangspause) 1954 bis zu seiner Emeritierung 1966 wieder aktive Gründer Heinz Kindermann (1894 – 1985) in jenen historischen Kontext, der Österreich ab 1986 im Zuge der Auseinandersetzung um Kurt Waldheims Tätigkeit als Wehrmachtsoffizier die Aufarbeitung der Mitverantwortung nationalsozialistischer Ideologien und Verbrechen abverlangte. Zwar existierten bereits Publikationen zur Wiener Theaterwissenschaft und ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus1 bzw. zur Gründungsgeschichte des Instituts,2 aber diese wurden außerhalb Wiens kaum rezipiert. Im * Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. 1 Meier et al. 1981: Theaterwissenschaft und Faschismus; sowie Kapitel in Deutsch-Schreiner 1980: Nationalsozialistische Kulturpolitik. 2 Haider-Pregler 2005: Die frühen Jahre. Im Zeitraum der Vorbereitung der Ausstellung ist am
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Mai 2008 schien deshalb eine auf das eigene Institutsarchiv gestützte Ausstellung in Kombination mit einer fachgeschichtlichen Tagung3 eine adäquate Form des Erinnerns, zumal die deutschsprachige Theaterwissenschaft insgesamt bezüglich der Aufarbeitung ihrer personellen und ideologischen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus ein Defizit aufzuweisen hatte. Die akademische Auseinandersetzung mit Theater reicht weit über die eigentliche Geschichte einer universitären Theaterwissenschaft hinaus und diente in der Neuzeit nachhaltig der Proklamation humanistischer Bildungs- und Demokratisierungsutopien;4 im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert verdichtete sich jedoch das kultur- und geistesgeschichtliche Interesse an Theater signifikant. Im deutschsprachigen Raum arbeiteten Gelehrte so unterschiedlicher Disziplinen wie der Altphilologie, der Germanistik, der Archäologie, der Kunstgeschichte oder der Soziologie zu theaterspezifischen Fragestellungen. In der Folge wurden u. a. an den Universitäten in Wien, Berlin, München, Frankfurt am Main, Kiel, Jena oder Köln vermehrt theatergeschichtliche Vorlesungen abgehalten. Parallel dazu präludierten Gründungen von Gesellschaften und Publikationsreihen, hervorzuheben etwa die 1902 in Berlin konstituierte Gesellschaft für Theatergeschichte, die ersten Versuche, Theaterforschung zur eigenständigen Fachdisziplin aufzuwerten. 1919 nahm im damaligen Petrograder Institut für die Geschichte der Künste die Sektion Geschichte und Theorie des Theaters ihre Arbeit auf,5 1921 erfolgte die Einrichtung eines theaterwissenschaftlichen Instituts an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität.6 Doch war damit weder ein Ordinariat für Theaterwissenschaft geschaffen worden noch der vom Berliner Pionier Max Herrmann (1865 – 1942) als so wichtig erachtete Status eines akademischen Prüfungsfaches erreicht. Herrmann wurde nach 1933 als Jude aus dem öffentlichen Leben, insbesondere auch von seinen Kollegen, ausgegrenzt. Zermürbt von zunehmend beschwerlichen und demütigenden Bedingungen seiner Forschungen zu den Anfängen berufsmäßiger Schauspielkunst verbrachte er seine letzten Lebensjahre zurückgezogen in Berlin. 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er kurze Zeit später umkam.7 Die vollwertige Institutionalisierung des Faches Theaterwissenschaft war Teil der NS-Wissenschafts- und Kulturpolitik und diente dem Ziel, durch den
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Institut für Geschichte der Universität Wien zudem eine die Gründung des theaterwissenschaftlichen Instituts thematisierende Diplomarbeit abgeschlossen worden, vgl. Nieß 2007: Die Gründung des Instituts. Die Tagungsbeiträge sind publiziert in Hulfeld/Peter 2009: Theater/Wissenschaft. Vgl. dazu Hulfeld 2007: Theatergeschichtsschreibung. Baumbach 2009: Der Theaterwissenschaftler Meyerhold, 40 f. Vgl. Corssen 1998: Max Herrmann, 85 – 92; Hulfeld 2007: Theatergeschichtsschreibung, 237 – 246; Kirsch 2009: Bruno Th. Satori-Neumann, 121 – 132. Vgl. das Nachwort von Ruth Mövius in Herrmann 1962: Entstehung, 291 – 297.
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»›Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‹ […] die notwendigen Grundlagen für die geistige Vorherrschaft der Deutschen nach dem Krieg«8 zu legen. Sie manifestierte sich in der Einrichtung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943.9 Der in diesem Jahr als erster Ordinarius für Theaterwissenschaft nach Wien berufene deutschnationale Literaturwissenschaftler Heinz Kindermann erschien dem Reichserziehungsministerium und dem Wiener Reichsstatthalter Baldur von Schirach als die geeignete Person, das neue Fach zu etablieren und dessen wissenschaftliche Grundlagen zu formulieren. Der in Wien geborene Kindermann hatte Theater bereits in den frühen 1920er Jahren als innovatives Forschungsfeld für sich entdeckt. Sein Interesse richtete sich auf Theater als Teil einer genuin germanischen Kultur, um damit deren Vorherrschaft vor allen anderen Kulturen zu behaupten.10 Er hatte seit Jahren sein Interesse an der Einrichtung eines theaterwissenschaftlichen Instituts an der Universität Wien bekundet und mehrere Strategien entwickelt, um sein Ziel zu erreichen. Als Literaturwissenschaftler hatte sich Kindermann bereits einen Namen gemacht, indem er seit den 1930er Jahren Grundlagen einer NS-Literaturwissenschaft sowie die Eingrenzung eines entsprechenden Literatur-Kanons erarbeitete. Theater wurde von ihm dabei als Aspekt der Literaturgeschichte dargestellt, doch Kindermann zeigte zusätzlich ein gesondertes Interesse an der Aufführungspraxis, woran er auch das Innovationspotential für ein neues Fach festmachte. Dabei verfolgte er die Etablierung einer deutschen Literatur- bzw. Theaterproduktion, die ihm immer mit der ›Lebenspraxis‹ verknüpft erschien, während er gleichzeitig die ›nicht-deutsche‹ Kulturproduktion und deren Exponenten diffamierte. Durch vorwiegend an Houston Stewart Chamberlain orientierte antiziganistische, antislawische und antisemitische Argumentationsstrategien basierte Kindermanns deutsche Literatur- und Theatergeschichtsschreibung auf den Kategorien ›Rasse‹, ›Volk‹ und ›kultureller Ausdruck‹. Die Bedeutung, die der in dieser Weise verstandenen Wissenschaftsdisziplin im Nationalsozialismus von unterschiedlichster Seite beigemessen wurde, lässt sich an mehreren Faktoren erkennen. So fand ein Wettlauf zwischen Berlin und Wien um die Verankerung des ersten theaterwissenschaftlichen Ordinariats statt.11 Der Leiter der Kriegstheatersammlung in Köln und Kindermann-Konkurrent Carl Niessen (1890 – 1969) intervenierte, aber auch die Universität Wien selbst sperrte sich gegen die Berufung Kindermanns. Insbesondere der prominente Literaturhistoriker Josef Nadler (1884 – 1963) pro8 Nagel 2012: Hitlers Bildungsreformer, 340. 9 Saurer 1989: Institutsneugründungen. 10 Die Ausführungen basieren auf der mit Studierenden des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft erarbeiteten Gründungsgeschichte des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft. Vgl. Peter/Payr 2008: Wissenschaft nach der Mode. 11 Auch in Berlin wurde gegen das Votum der Universität eine Professur für Theaterwissenschaft geschaffen, allerdings eine außerordentliche, die mit Hans Knudsen besetzt wurde.
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testierte gegen seinen zukünftigen Kollegen, dem er fachliche Inkompetenz attestierte. Doch Kindermann hatte seit Jahren die Einrichtung eines theaterwissenschaftlichen Instituts an der Universität Wien vorbereitet und genügend einflussreiche Personen aus Politik, Bürokratie und Kultur hinter sich geschart. Neben Baldur von Schirach, dem Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien, zählte beispielsweise auch Alfred Meyer, Gauleiter von Westfalen-Nord, als dessen kulturpolitischen Berater sich Kindermann bezeichnete, zu seinem Netzwerk. In der Bürokratie pflegte Kindermann über Jahrzehnte engen Kontakt zum Wiener Ministerialdirigenten Alfred Eckmann und er hofierte den Reichsdramaturgen Rainer Schlösser. Innerhalb des Kulturbetriebs tauschte er sich mit prominenten Theaterleitern wie beispielsweise dem Intendanten der Gaubühne Bochum, Saladin Schmitt, oder mit dem schon um 1900 auffallend antisemitisch orientierten Burgschauspieler Otto Tressler aus.12 Kindermanns Publikationstätigkeit setzte um 1940 zielgerichtet Themen ins Zentrum, die für Wien als Standort eines theaterwissenschaftlichen Ordinariats argumentierten. Das Buch »Burgtheater« (1939) hob die geopolitische Bedeutung Wiens hervor, in »Ferdinand Raimund« (1940) und in der »Grillparzer-Volksausgabe« (1941) deutete er zwei bislang als österreichische Dramatiker kanonisierte Autoren zu deutschen Nationaldichtern um. Die Grillparzer-Volksausgabe ließ Kindermann im November 1941 Schirach überreichen, der sich höflich unter Andeutung neuer Perspektiven bedankte: »Sie haben mir mit der Übersendung Ihrer GrillparzerAusgabe eine besondere Freude gemacht und ich danke Ihnen herzlich. Ich hoffe, Sie nun trotz aller Schwierigkeiten bald ganz hier in Wien zu wissen.«13 Im April 1941 hatte Reichsstatthalter Schirach der Öffentlichkeit im Burgtheater die bevorstehende »Errichtung eines Lehrstuhls für Theaterwissenschaft«14 angekündigt; im November 1942 bekräftigte dessen Generalkulturreferent Walter Thomas dieses Vorhaben in seiner Eröffnungsansprache zur Gerhart-Hauptmann-Woche.15 Die Universität Wien versuchte die Einrichtung des geplanten Zentralinstituts zu verhindern und machte neben den geäußerten fachlichen Bedenken geltend, dass keine geeigneten Räumlichkeiten zur Verfügung stehen würden. Der politische Wille war allerdings so dezidiert, dass Räume in der Hofburg, die der Reichstatthalterei zugeteilt waren, für die Institutsgründung unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden. Auch die finanziellen Förderungen 12 Derzeit wird in Kooperation mit theaterwissenschaftlichen Instituten in Deutschland und der Schweiz an einem Projektantrag zur Erforschung solcher Netzwerke gearbeitet. 13 Archiv der Republik, Österreichisches Staatsarchiv, Bürckel Gauakten, Reichsleiter Baldur von Schirach Zentralbüro Generalreferent Walter Thomas an Heinz Kindermann, 23. Dezember 1941. 14 Schirach 1941: Kulturrede, 18. 15 Anderman 1947: Bis der Vorhang fiel, 160 f.
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des Reichserziehungsministeriums zur Einrichtung der Räume, zum Aufbau eines Lehr-und Forschungsapparats sowie für publikumswirksame »Sonderveranstaltungen« im Auditorium maximum fielen großzügig aus. Zwischen Mai 1943 und März 1945 erhielt das Zentralinstitut Zuschüsse im Umfang von beachtlichen 225.000 Reichsmark.16 Denn die Errichtung des Zentralinstituts implizierte auch bereits die Funktion Kindermanns in der Zeit nach dem Krieg, in der er als Präsident eines direkt dem Reichserziehungsministerium unterstellten Reichsinstitutes die Richtung theaterwissenschaftlicher Forschung für Großdeutschland formulieren sollte.17 Die Verknüpfung von Wissenschaft, Kultur und Politik war damit von Anfang an bestimmend für die Ausrichtung des Wiener theaterwissenschaftlichen Institutes. Der erste Ordinarius definierte in den Jahren 1943 bis 1945 Theater- als »Lebenswissenschaft«, wodurch er die maßgeblichen Leitkategorien seiner Zeit ›Nation‹, ›Rasse‹ und ›Volk‹ besonders umfassend zu verhandeln vermochte.18 Die Frage, wie dieses rassistisch-biologistische Konzept nach 1945 in transformierter Form die Grundlagen des Wiener Instituts bestimmte, ist Ausgangspunkt für ein zur Zeit entstehendes Forschungsprojekt. Auf jeden Fall wirkte der von Kindermann jahrzehntelang entwickelte und praktizierte Geschichtsbegriff bis zu seiner Emeritierung 1966 nach. Im Mai 1945 war er zwar seines Amts enthoben worden, doch gelang 1954, wenn auch unter Protesten, seine Wiedereinsetzung. Die für den 26. April 1954 angekündigte Antrittsvorlesung musste zunächst abgesagt werden, drei Tage später fand sie indes statt: Zugelassen wurden jedoch nur Studierende, die dem anwesenden Rektor Leopold Schönbauer »durch Handschlag« versicherten, »die Vorlesung von Prof. Kindermann in keiner Weise zu stören«.19 Der studentische Widerstand wurde dabei teils ignoriert, teils gezielt marginalisiert.20 Als Verfasser der 1957 bis 1974 erschienen »Theatergeschichte Europas«21 in zehn Bänden legte Kindermann ein Kompendium vor, das als internationales Standardwerk galt und zuweilen bis heute als solches Verwendung findet. Die aus einem deutschnationalen, später nationalsozialistischen Geschichtsbild entwickelten Grundlagen wurden darin jedoch nicht revidiert, sondern lediglich einem konsensualen europäischen Nationalismus der Nachkriegszeit angepasst. Kindermann wurde fortan mehrheitlich als »einer der profundesten Kenner der europäischen Theaterwissenschaft« gewürdigt, seine NS-ideologischen Grundlagen ausgeklammert. Margret 16 Delavos/Herfert 2008: Alltagsgeschäft. 17 Kirsch 1996: Kindermann, 47. 18 Kindermann 1943: Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft. Vgl. dazu Peter 2009: Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft. 19 Neues Österreich, 30. April 1954. 20 Illmayer 2008: Folgenloser Wechsel, 164. 21 Kindermann 1957 – 1974: Theatergeschichte Europas.
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Dietrich (1920 – 2004), Schülerin Kindermanns, 1952 mit einer am NS-Menschenbild orientierten Arbeit habilitiert,22 folgte ihm 1966 als Ordinaria und Institutsleiterin nach. Eine Distanzierung zur Tätigkeit für den NS-Wissenschaftsbetrieb oder eine selbstkritische Reflexion der entwickelten Kategorien und Deutungsmuster leistete weder Kindermann noch Dietrich. Ihre Geschichte im Nationalsozialismus lebte als Tabu fort und prägte so maßgeblich mehrere Generationen von Studierenden. 1981 wollte die studentische Publikation »Theaterwissenschaft und Faschismus« das Schweigen brechen: Eine nachhaltige Empörung war die Folge, jedoch keine Diskussion über das nationalsozialistische Erbe.23 Die Leitung des Instituts vertrat ostentativ einen apolitischen Wissenschaftsbegriff. Eine dezidierte Politisierung von Institutsmitarbeitenden der Nachfolgegeneration sowie der Studierenden wurde dadurch dynamisiert. Der Einbezug Kritischer Theorie und eine Hinwendung zu subversiven Theaterästhetiken prägten fortan den Lehrbetrieb.24 2008 dokumentierten, wie eingangs erwähnt, Studierende und Lehrende dann gemeinsam mit dem Ausstellungsprojekt »Wissenschaft nach der Mode« die NSGründung umfassend, um eine Basis für weitere fachhistorische Auseinandersetzungen zu bieten und eine solche anzuregen. Im Zuge dieses Projekts tauchten auch Unterlagen zur Etablierung einer Filmwissenschaft im Kontext NS-wissenschaftspolitischer Überlegungen auf, die in der Folge durch ein Forschungsprojekt bearbeitet wurden.25 Diplomarbeiten, Forschungs- und Lehrschwerpunkte zur NS-Geschichte des Faches sind seither Teil der fachhistorischen und wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung. Im Zeitraum zwischen 2004 und 2010 waren indes eine ganze Reihe weiterer Herausforderungen zu meistern. Die Generation der UniversitätsprofessorInnen, die seit den 1980er Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts das Institut prägten (Ulf Birbaumer, Wolfgang Greisenegger, Hilde Haider-Pregler und Johann Hüttner), hatten ihre Ausbildung alle an der Universität Wien selbst absolviert, waren von ihrer Kernkompetenz her TheaterhistorikerInnen und unterhielten neben den internationalen wissenschaftlichen Beziehungen auch konkrete Arbeitskontakte zur Wiener Theater- und Kulturszene. Die inhaltliche Erweiterung des Instituts basierte zwar sehr wohl auf Forschungsinteressen und Publikationen 22 Dietrich 1952: Europäische Dramaturgie. Eine Auseinandersetzung mit den Leistungen von Margret Dietrich für das Fach Theaterwissenschaft stellt noch ein Forschungsdesiderat dar, Anregungen finden sich in Lazardzig 2009: Mathematik, Mechanik und das barocke Theater. 23 Meier et al. 1981: Theaterwissenschaft und Faschismus. Vgl. dazu Peter et al. 2008: Theaterwissenschaft und Faschismus. 24 Diese Tendenz äußerte sich stärker in der Lehre, in Kunstprojekten oder in grauer Literatur denn in Publikationen. Einen Eindruck vermitteln: Hofmann 1971: Theorie des Theatralischen; Stefanek 1991: Vom Ritual zum Theater ; Haider-Pregler 1990: Das Verschwinden der Langeweile. 25 Ausgangspunkte in Cargnelli 2009: Anfänge der Filmwissenschaft.
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von langjährigen Institutsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, aber erst durch die Ausschreibung neu gewidmeter Professuren erfolgte die Weichenstellung hinsichtlich einer seither im Werden begriffenen, seit 2004 zur Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät gehörenden Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Der Zeitraum zwischen 2004 und 2010, als u. a. die Folgen eines neuen Universitätsgesetzes, ein exponentieller Zuwachs an Studierenden, ein Ausbau an Personal, eine inhaltliche Neuausrichtung in Lehre und Forschung, ein Generationenwechsel, das erfolgreiche Einwerben von größeren Drittmittelprojekten und die skizzierte Auseinandersetzung mit der Institutsgeschichte zu bewältigen waren, entzieht sich für die aktiv an diesen Prozessen partizipierenden Schreibenden derzeit der Darstellung. Die Herausforderungen, Leistungen und Konflikte, die diesen Prozess begleiteten, verweisen jedoch darauf, dass es sich um eine einschneidende Umbruchphase dieses Instituts handeln dürfte, die im schwierigen Umfeld einer sich rasant verändernden Universität im Rahmen einer weitgehend stagnierenden, von Opportunitäten regierten Bildungspolitik vonstattenging. Ein Rückblick auf ausgewählte Aktivitäten soll deshalb einen Eindruck vermitteln, was aus der »Theaterwissenschaft« geworden ist bzw. über welches Entwicklungspotential das Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft heute verfügt. Derzeit befragt das vom FWF finanzierte Projekt »Texture Matters« das Verhältnis von haptischen und optischen Aspekten in der Produktion und Rezeption von Medien unter historiographischen und theoretischen Gesichtspunkten. Das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften finanzierte Projekt »Wien ist die alte Porta Orientis für Europa« untersucht die Repräsentation von Orient in Theater und Medien des 19. Jahrhunderts und liefert damit einen Beitrag zur Theaterhistoriographie der ›ersten Globalisierung‹. 2010 beschäftigte sich der durch ein Filmscreening ergänzte Workshop »Unsicherer Grund. Mitteilbarkeiten des Dokumentarischen« mit Techniken der Montage als Prozeduren eines Wahrheitsprozesses. 2011 thematisierte die Tagung »Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen« das Dispositiv Fernsehen als gesellschaftliche Agentur, die maßgeblich damit beschäftigt ist, Demokratieeffekte herzustellen, zu problematisieren und zu verhandeln. In diesem Sinne fokussieren Forschung und Lehre am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft auf Prozesse der Vergesellschaftung und Subjektivierung anhand szenischer Vorgänge und medialer Dispositive. Bewusst wird unter historiographischen und theoretischen Gesichtspunkten der Anteil von Theater, Film und Medien an der Genese moderner Lebenswelten in wechselseitigem Bezug sowie in einer longue dur¦e problematisiert. Ästhetik wird dabei als Technik zur Hervorbringung und Reflexion von Wirklichkeiten aufgefasst, wobei das Interesse an künstlerischen Strategien überwiegt, die normative Setzungen hintergehen.
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Stefan Hulfeld und Birgit Peter
Literaturverzeichnis Anderman, Walter Thomas: Bis der Vorhang fiel. Berichtet nach Aufzeichnungen 1940 bis 1945 von W. Th. Anderman (Dortmund 1947). Anonym: In der Hofburg: Theaterwissenschaftler wider Willen. Wegen eines ungeschriebenen akademischen Gesetzes mußte der Rektor der Wiener Universität eine Überrumpelungstaktik gegen unerwünschte Hörer anwenden. in: »Neues Österreich, 30. April 1954«. Siehe auch: Mayerhofer, Claudia / Tschank, Gerald: Chronologie des Instituts für Theaterwissenschaft 1943 – 1955, in: Birgit Peter und Martina Payr (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943 (Wien 2008). Baumbach, Gerda: Der Theaterwissenschaftler Meyerhold. Russische Theaterforschung in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts, in: Stefan Hulfeld und Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte (= Maske und Kothurn 55/1 – 2, Wien/Köln/Weimar 2009) 39 – 71. Cargnelli, Christian: »Das Seiende und Ewige selbst«. Die Anfänge der Filmwissenschaft in Wien am (Zentral)Institut für Theaterwissenschaft, in: Stefan Hulfeld und Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte (= Maske und Kothurn 55/1 – 2, Wien/Köln/Weimar 2009) 213 – 226. Corssen, Stefan: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien (= Theatron 24, Tübingen 1998). Delavos, Paul / Herfert, Caroline: »Alltagsgeschäft«. Daten und Fakten zur Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft, in: Birgit Peter und Martina Payr (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943 (Wien 2008) 52 – 75. Deutsch-Schreiner, Evelyn: Nationalsozialistische Kulturpolitik in Wien 1938 – 1945 unter spezieller Berücksichtigung der Wiener Theaterszene (phil. Diss., Univ. Wien 1980). Dietrich, Margret: Europäische Dramaturgie. Der Wandel ihres Menschenbildes von der Antike bis zur Goethezeit (Wien 1952). Grillparzer, Franz: Grillparzers Werke in sechs Bänden, hg. mit einer Einführung von Heinz Kindermann (Leipzig 1941). Haider-Pregler, Hilde: Das Verschwinden der Langeweile aus der (Theater-) Wissenschaft. Erweiterung des Fachhorizontes aus feministischer Perspektive, in: Renate Möhrmann (Hg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung (Berlin 1990) 317 – 350. Haider-Pregler, Hilde: Die frühen Jahre der Theaterwissenschaft an der Universität Wien, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss und Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 – 1955 (Innsbruck/Wien 2005) 137 – 155. Herrmann, Max: Die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit, hg. und mit einem Nachwort versehen von Ruth Mövius (Berlin 1962). Hofmann, Jürgen: Theorie des Theatralischen als Wirkungskritik mimetischer Praxis (phil. Diss., Univ. Wien 1970). Hulfeld, Stefan: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht (= Materialien des ITW Bern 8, Zürich 2007). Hulfeld, Stefan / Peter, Birgit (Hg.): Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte (= Maske und Kothurn 55/1 – 2, Wien/Köln/Weimar 2009).
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Illmayer, Klaus: Ein folgenloser Wechsel. Die Ablösung Heinz Kindermanns durch Eduard Castle 1945, in: Birgit Peter und Martina Payr (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943 (Wien 2008) 150 – 171. Kindermann, Heinz: Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft. Rundbriefe des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien, Heft 1 (Wien 1943). Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas (Salzburg 1957 – 1974). Kindermann, Heinz: Das Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters (Leipzig 1939 und Wien 1944). Kindermann, Heinz: Ferdinand Raimund. Lebenswerk und Wirkungsraum eines deutschen Volksdramatikers (Wien/Leipzig 1940). Kirsch, Mechthild: Heinz Kindermann – ein Wiener Germanist und Theaterwissenschaftler, in: Wilfried Barner und Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945 (Frankfurt a. M. 1996) 47 – 59. Kirsch, Mechthild: Bruno Th. Satori-Neumann (1886 – 1943). Ein Berliner Theaterwissenschaftler, in: Stefan Hulfeld und Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte (= Maske und Kothurn 55/1 – 2, Wien/ Köln/Weimar 2009) 117 – 132. Lazardzig, Jan: Mathematik, Mechanik und das barocke Theater. Überlegungen zur Attraktivität eines Forschungsprogramms, in: Stefan Hulfeld und Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte (= Maske und Kothurn 55/1 – 2, Wien/Köln/Weimar 2009) 227 – 245. Meier, Monika / Roessler, Peter / Scheit, Gerhard (Hg.): Theaterwissenschaft und Faschismus (Wien 1981). Nagel, Anne C.: Hitlers Bildungsreformer. Das Reichserziehungsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934 – 1945 (Frankfurt a. M. 2012). Nieß, Wolfram: Die Gründung des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien im Nationalsozialismus (Diplomarbeit, Univ. Wien 2007). Peter, Birgit / Payr, Martina (Hg.): »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943 (Wien 2008). Peter, Birgit / Illmayer, Klaus / Roessler, Peter: Theaterwissenschaft und Faschismus – eine Spurensuche«. Birgit Peter und Klaus Illmayer im Gespräch mit Peter Roessler, in: Birgit Peter und Martina Payr (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943 (Wien 2008) 207 – 225. Peter, Birgit: Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft. Die Begründung der Wiener Theaterwissenschaft im Dienst nationalsozialistischer Ideologieproduktion, in: Stefan Hulfeld und Birgit Peter (Hg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte (= Maske und Kothurn 55/1 – 2, Wien/Köln/Weimar 2009) 193 – 212. Pilger, Andreas: Germanistik an der Universität Münster (Heidelberg 2004). Saurer, Edith: Institutsneugründungen 1938 – 1945, in: Gernot Heiß, Siegfried Mattl et al. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945 (Wien 1989) 303 – 328. Schirach, Baldur von: Das Wiener Kulturprogramm. Rede des Reichsleiters Baldur von Schirach im Wiener Burgtheater am Sonntag, den 6. April 1941, hg. v. Gaupropagandaamt Wien der NSDAP (Wien 1941). Stefanek, Paul: Vom Ritual zum Theater. Gesammelte Aufsätze und Rezensionen (Wien 1991).
Tanja Jenni und Raphael Rosenberg*
Die Analyse der Objekte und das Studium der Quellen – Wiens Beitrag zur Etablierung einer universitären Kunstgeschichte
Vor dem Horizont der 650-jährigen Universität Wien ist Kunstgeschichte eine junge Disziplin. Ihre Grundlage war ein zunehmend differenzierter Diskurs, der in der italienischen Renaissance überwiegend von Künstlern initiiert, später von Laien professionalisiert wurde.1 Das Bewusstsein über die Relativität des Sprechens über Kunst resultierte schon früh in einem ausgeprägten Reflexionsbedürfnis über die Geschichte der eigenen Disziplin, das weit über jenes angrenzende Gebiete der Archäologie hinausgeht. Bekannt ist, dass sich die universitäre Institutionalisierung der Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert zuerst im deutschsprachigen Raum ereignete. Bekannt ist auch, dass Wien, wo 1852 die nach Berlin zweite außerordentliche Professur für Kunstgeschichte und 1864 die nach Bonn zweite ordentliche geschaffen wurde, in diesem Prozess eine wichtige Rolle einnahm. Während Methoden, Themen und disziplinäre Abhängigkeiten auf der einen und die Geschichte von Lehrstuhl- und Institutsgründungen auf der anderen Seite mehrfach erforscht wurden, ist die Ausbildung kaum Fokus eingehender Studien gewesen. Der folgende Aufsatz versucht anhand der Wiener Quellen und einem vorläufigen Vergleich mit anderen deutschsprachigen Universitäten der Frage nachzugehen, wie, wo und wann kunsthistorische Lehrveranstaltungen aufhörten, primär zur Bildung der Studierenden aller Fakultäten und dem interessierten Stadtpublikum angeboten zu werden, um Fertigkeiten zu vermittelten, die von professionellen Kunsthistorikern, etwa in Museen, erwartet wurden. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstand der Begriff der »Wiener Schule der Kunstgeschichte«, vermutlich auch aus dem Bedürfnis, die verlorene imperiale Größe im wissenschaftlichen Feld zu kompensieren.2 Dass er sich * Jenni: Forschungsplattform Cognitive Science der Universität Wien; Rosenberg: Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. 1 Unser besonderer Dank gilt Wilhelm Schlink, der vor Jahren in einem Nebensatz die Anregung zur Entstehung dieses Textes gab und ihn kritisch gegengelesen hat, sowie Friedrich Polleroß für wertvolle Hinweise. 2 Die Betonung der verbindenden Elemente mit dem Begriff einer »Wiener Schule«, der ein-
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durchsetzen konnte, lag nicht zuletzt an Julius von Schlosser ; der siebente Wiener Ordinarius verortete deren »Prähistorie« in der Privatsammlung von Daniel Böhm, wo im vormärzlichen Wien, unter Teilnahme des späteren Ordinarius Rudolf Eitelberger von Edelberg, von einem Kreis kunstinteressierter Laien eine induktive, von einer genauen »Autopsie«3 des Einzelwerkes ausgehende Methode praktiziert wurde.4 Damit waren zwei miteinander verbundene Konstanten eingeführt, die für die spätere Wiener Kunstgeschichte und deren Selbstverständnis prägend wurden: der Fokus auf das Einzelwerk, auf dessen Historizität und Materialität sowie die Verbindung der universitären Kunstgeschichte zu Kunstsammlungen. In der vom zuständigen Minister für Unterricht und Cultus Leo von Thun-Hohenstein mit Anregungen Eitelbergers 1852 verfassten Programmschrift zur Ausformung der österreichischen Kunstwissenschaften spielten aber vorerst weder die Betreuung noch die Aufarbeitung der Kunstschätze des Staates eine Rolle.5 Anders als in Berlin, wo 1844 bei der Besetzung des außerordentlichen Lehrstuhls mit dem Museumsmann Gustav Waagen die seit der Universitätsgründung bestehende Verschränkung zwischen Universität und Sammlungen verstärkt wurde, und Bonn, wo die an Kunstwerken reiche Umgebung der Universitätsstadt unter anderem als Argument für die Berufung Anton Springers 1860 diente,6 waren sich der liberale Eitelberger und der klerikal-konservative Thun über die primär gesamtgesellschaftliche Relevanz der Neugründung einig. Die Begründungen der Bestellung von Eitelberger zum »a.o. Professor für Kunstgeschichte und Kunstarchäologie« von 1852 machen deutlich, dass ein sehr breites Aufgabenspektrum von ihm erwartet wurde: die Übernahme der Agenden der seit 1846 vakanten Professur für Ästhetik unter dem neuen Gesichtspunkt der Werkorientierung, das Vermitteln von Kenntnissen der Altertümer an Lehramtskandidaten zum besseren Verständnis der Klassiker, die Unterstützung der Historie als Hilfswissenschaft, aber auch die Hebung des allgemeinen Geschmacksurteils durch die Unterweisung von Handwerkern und Künstlern.7 Damit war die universitäre Kunstgeschichte in ihrem Gründungsdokument nicht als eigenständige Disziplin definiert, die Experten heranziehen sollte, sondern als offenes Feld, das dem besseren Verständnis angrenzender Fächer und der Staatswohlfahrt zu dienen hat. Die
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zigen kunsthistorischen Schule in der frühen Literatur, findet sich bereits bei Strzygowski 1918: Zustand und scheint sich danach recht schnell eingebürgert zu haben. Wickhoff 1901 (1913): Dollmayr, 234. Schlosser 1934: Wiener Schule. Zur Böhmschen Sammlung außerdem: Eitelberger 1847: Kunstsammlung; Eitelberger 1879: Böhm. Auszugsweise in Höflechner 1992: Graz, 13 – 16. Bredekamp/Labuda 2010: Kunstgeschichte, 25 – 54; Dilly 1979: Institution, 190 und 240. Borodajkewycz 1962: Frühzeit; Höflechner 1992: Graz, insb. 13 – 16.
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Analyse der angebotenen Lehrveranstaltungen zeigt allerdings, dass die Ziele des Faches schnell eingeengt wurden.
Der Beginn der kunsthistorischen Lehre im Spiegel der Vorlesungsverzeichnisse Ab dem Sommersemester 1850 konnte im Zuge der Universitätsreform ein eigenständiges Studium innerhalb der Philosophischen Fakultät belegt werden. Der Prozess der Autonomisierung einzelner Fächer fand seitdem auch in der nun nach Gegenständen geordneten Systematik der Lehrveranstaltungsankündigungen Niederschlag. »Archäologie und Kunstgeschichte« (insg. drei Lehrveranstaltungen) wurden zu einer Einheit zusammengefasst und standen gleichberechtigt neben »Philosophie« (drei Lehrveranstaltungen), »Geschichte« (fünf Lehrveranstaltungen), »Mathematik und Naturwissenschaften« (18 Lehrveranstaltungen) sowie »Philologie und Linguistik« (sechs Lehrveranstaltungen). Ab 1879/80 bildete die »Kunstgeschichte« eine eigene Gruppe ohne die archäologischen Lehrveranstaltungen, die nun der Philologie zugeordnet waren.
Altertum
Sommersemester 1851 – Sommersemester 1861 (insg. 44 Lehrveranstaltungen) 16 35 SWS
Wintersemester 1861/1862 – Wintersemester 1871/1872 (insg. 43 Lehrveranstaltungen) 8 19 SWS
Mittelalter 13 Einzelne Künstler 1
26 SWS 2 SWS
0 5
0 SWS 10 SWS
Überblicke Fallstudien Ästhetik Methode
9 0
22 SWS 0 SWS
1 18
2 SWS 36 SWS
5 0
10 SWS 0 SWS
2 9
4 SWS 24 SWS (davon sechs im Museum)
Eitelberger hielt selbst bis 1865 Lehrveranstaltungen zur Altertumskunde, bis er diese an den eben erst von München nach Wien übersiedelten Karl von Lützow abgab. Während das Angebot zur mittleren, neueren und neuesten Kunstgeschichte zwischen Eitelbergers Ernennung 1852 und der Einrichtung der zweiten (außerordentlichen) Professur 1873 weitgehend konstant blieb, kam es zu einem 50-prozentigen Rückgang der archäologischen Lehrveranstaltungen.8 Neben der Zurückdrängung des Altertums und letztendlichen Trennung von 8 Dies änderte sich 1868 als das Altertum mit der Berufung Alexander Conzes zum ersten Ordinarius für Archäologie an einen eigenen Lehrbeauftragten fiel.
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Kunstgeschichte und Archäologie fand eine grundlegende Änderung der Lehrmethode statt: die Einführung von Übungen vor Originalen, einer Praxis, die in der Numismatik und Altertumskunde bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert war. 1864/65 wurde die erste Lehrveranstaltung im Vorlesungsverzeichnis explizit als im Museum abgehalten angeführt; danach stieg deren Anzahl sprunghaft an. Von 1863 bis 1873 wurden mehr als vierzig Prozent aller kunsthistorischen Lehrveranstaltungen, meist als »Übungen im Bestimmen und Erklären von Kunstwerken«, vor Objekten gehalten. Primärer Ort ihrer Durchführung war das 1863/64 auf Initiative von Eitelberger gegründete Österreichische Museum für Kunst und Industrie. Nur eine einzige Lehrveranstaltung fand 1868 in einer anderen Sammlung statt, in der Galerie des Fürsten Liechtenstein. Eitelbergers museumspolitisches Engagement verknüpfte sich damit eng mit seiner universitären Lehre. Für das allgemeine Publikum zugängliche Sammlungen hätten in Wien zwar auch schon zu Beginn seiner Lehrtätigkeit als Orte der direkten Objektanalyse dienen können. Doch erst als ihm ein eigenes Museum unterstand, führte Eitelberger zehn Jahre nach seiner universitären Bestellung das Studium vor Originalen als integralen Bestandteil des Unterrichts ein. Die Vorteile seiner Doppelbeschäftigung betonte er selbst: »In meiner Stellung als Director des österreichischen Museums war es mir gegönnt, einen künstlerischen Anschauungsunterricht für Studierende der Universität zu ertheilen.«9 Sein Mitarbeiter und späterer Nachfolger am Museum Jacob von Falke überlieferte sogar seine oft getätigte Aussage, dass es ein Unding sei, wenn ein Professor nicht auch ein Museum unter seinen Händen hätte.10 Wir konnten leider im Nachlass Eitelbergers keine Quellen finden, die Aufschluss über den genauen Ablauf und den pädagogischen Ansatz seiner Übungen geben. Seine kunsthistorischen Schriften zeigen allerdings eine hohe Kompetenz sowohl in ikonographischen wie auch in formanalytischen Fragen, die er oft auf wenig bekannte Objekte anwendete.11 Die kunstgewerblich orientierte Sammlung des Österreichischen Museums, die nicht zum Exempel einer zusammenhängenden Geschichte der Kunst anhand ihrer größten Werke dienen konnte, korreliert mit dem Studium des Einzelkunstwerks beziehungsweise enger gesteckter Bereiche (etwa der »Geschichte der Kunsttechnik« 1867/68 oder der 9 Eitelberger 1881: Lionardo, 281. 10 Falke 1897: Lebenserinnerungen, 196. 11 Siehe z. B. Eitelberger 1859. Die kritische Einschätzung seines kunsthistorischen Werkes als überholt (Falke 1885: Eitelberger) und epigonal (Schlosser 1934: Wiener Schule), die sich in der folgenden Literatur festgeschrieben hat, sollte überprüft werden. Zur Analyse seiner Beiträge zur zeitgenössischen Kunst: Lachnit 1984: Kunst; zum politischen Gehalt seiner Forschungen: Rampley 2013: Empire. Während sich Eitelberger zu den pädagogischen Fragen des Unterrichts an der ans Österreichische Museum angeschlossenen Gewerbeschule sowie des Zeichenunterrichts an den Schulen ausführlich geäußert hat (siehe Nebel 1980: Eitelberger), veröffentlichte er nichts über sein universitäres Lehrkonzept.
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»Kirchlichen Kunst mit Rücksicht auf innere Kirchendekoration« 1868 und 1868/69). Der Vielfalt des Einzelnen wurde im Gegensatz zu den synthetischen Entwürfen der ersten Generationen deutscher Kunstwissenschaftler in der frühen Wiener Zeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Während sich der 1873 auf das erste Berliner Ordinariat für Kunstgeschichte berufene Hermann Grimm explizit gegen das Studium im Museum ausspricht, da es – anders als die von ihm maßgeblich propagierte fotografische Sammlung bzw. die von ihm erstmals eingesetzte Diaprojektion via Skioptikon12 – den Makel der Zufälligkeit in sich trägt, erhielt das Bestimmen des Einzelwerks in Wien eine Relevanz, die zumindest im Lehrangebot das Herstellen eines systematisch geordneten Zusammenhangs zurückdrängte: 1861 – 1871 wird an der Wiener Universität nur einmal eine kunsthistorische Überblicksvorlesung angeboten (die »Geschichte der modernen Kunst vom Anfang des 12. Jahrhunderts bis auf unsere Tage«). Die Übung am realen Objekt bedeutet im Gegensatz zum passiveren Erleben eines Bildes im dunklen Auditorium auch eine dialogische Auseinandersetzung mit dem Gesehenen innerhalb einer Gruppe und die Möglichkeit zum kritischen Vergleich mit umgebenden Werken. Die Lehre im Kunstgewerbemuseum rückte gerade die Peripherien der Wissenschaft in den Vordergrund, die durch ihr eingehendes Studium zu ebenso würdigen Objekten der Kunstforschung wurden wie die großen Namen, denen die Vorlesungen gewidmet waren. Verbunden mit Eitelbergers immer wieder betonter Ansicht, es gäbe zwischen hoher Kunst und Handwerk keine Trennung,13 und der Anstellung einer Reihe von Wiener Absolventen in verschiedenen Abteilungen des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, wurde die Beschäftigung mit den Randbereichen zu einem Charakteristikum der »Wiener Schule«: Eitelberger widmete eine seiner nicht zahlreichen rein kunsthistorischen Arbeiten der Geschichte der Spielkarten (1859), Franz Wickhoff arbeitete über die Wiener Genesis (1895) und Alois Riegl zu altorientalischen Teppichen (1892). Ganz im Sinne dieser Tradition veröffentlichte Julius von Schlosser Studien über Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance (1908) und zur Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs (1911). Bedingt zeigte sich diese Tendenz auch in den erst seit der Rigorosenordnung von 1868 vorgesehenen Dissertationen: Von den etwa 50 bis 1909 angenommenen Arbeiten wurden vier zu kunsthandwerklichen Themen verfasst (über persische Stoffe, frühchristliche Reliquiare, das Kunstgewerbe im 10. Jahrhun12 Rößler 2010: Erlebnisbergriff, 85. Rößlers Beitrag erschien in einem von Horst Bredekamp und Adam S. Labuda herausgegebene Sammelband zur Kunstgeschichte an der HumboldtUniversität, der nicht nur den Institutionalisierungsprozess nachzeichnet, sondern erstmals auch verschiedene Aspekte der Lehre einbezieht. 13 Z. B. in seiner Eröffnungsrede an den kunsthistorischen Kongress 1873 (Eitelberger 1873: Ansprache, 447).
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dert sowie die Wiener Porzellanmanufaktur), zwei zu Quellenschriften und zwei zu Handschriften der Wiener Hofbibliothek.14 Neben den im Museum abgehaltenen Übungen wurde ab 1863 auch ein zweiter Schwerpunkt der Wiener Lehre sichtbar : Methodenlehrveranstaltungen zu Kunsttheorie, Kunstterminologie, Kunsttechnik und besonders häufig zu Quellenschriften der Kunstgeschichte. Entsprechend der in vielen geisteswissenschaftlichen Fächern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zunehmenden Orientierung an historisch-kritischen Prinzipien wird die Kunstgeschichte von Eitelberger als methodisch in der Quellenlektüre fundiert begriffen: »Universitätsstudierende, welche sich der Kunstgeschichte zuwenden, haben mit mir in gemeinsamer Lectüre die Quellenschriften des Mittelalters und der Renaissance durchgenommen. Langjährige Erfahrungen im Lehramte haben mir gezeigt, dass nichts so geeignet ist, Studierende der Universitäten in das Gebiet der Kunstgeschichte einzuführen […]«15. Die philologisch-textkritische Ausrichtung der Wiener Kunstgeschichte zeigte sich auch in zwei Publikationsunternehmungen: Den ab 1871 von Eitelberger herausgegebenen »Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters«16 sowie dem 1883 gegründeten »Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses«, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, das »zumeist brach gelegene historische Quellenmaterial« zur Sammlungsgeschichte zum »Gemeingut für die aufstrebende Kunstforschung« zu machen.17 Die Verankerung im Quellenstudium legitimierte die noch junge Kunstwissenschaft gegen all jene, die in ihr lediglich ein mit ästhetisierenden Phrasen der Kunstschriftstellerei gefülltes »geistiges Lotterbett«18 sahen. Sie wurde als Nachholarbeit gegenüber der auf diesem Gebiete viel fortgeschrittenen Schwesternwissenschaft der Archäologie begriffen, stellte aber gleichzeitig auch eine praktische Notwendigkeit in der Sammlungsbetreuung dar, um Zuschreibungsfragen zu klären und einen wissenschaftlichen Kriterien genügenden Katalog verfassen zu können.19 Damit ist das zweistufige Lehrsystem Eitelbergers aufgespannt: Vorlesungen, die für Anfänger und Studierende der anderen Fakultäten gedacht waren20 – in der zweiten Dekade seiner Tätigkeit primär zu den großen Künstlergestalten 14 Nach der Liste im Anhang von Schlosser 1934: Wiener Schule, 213 – 226. 15 Eitelberger 1881: Lionardo, 282. Zu Wickhoffs textanalytischem Unterricht, der wie Eitelberger ebenfalls die Studienanfänger anhand der Quellenlektüre zur »Selbstzucht in wissenschaftlichen Denken« anhielt: Wickhoff 1901 (1913): Dollmayr, 231. 16 Dazu Dobslaw 2009: Quellenschriften. 17 Graf Folliot-Crenneville im Vorwort der ersten Ausgabe 1883, o. S. 18 Thausing 1873 (1884): Wissenschaft, 6. 19 Woltmann 1873: Kongress, 454. 20 Eitelberger selbst ist nie vom Anspruch auf die Förderung der Kunstbildung aller Studierenden zugunsten einer reinen akademischen Ausbildung eines »Geschlechts[s] von jüngeren Kunsthistorikern« abgewichen (Höflechner 1992: Graz, 22).
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(Raphael, Michelangelo, Leonardo, Rembrandt, Rubens) – sowie vereinzelt zu ästhetischen Fragen (»Die Lehre vom Styl: Ideal in den bildenden Künsten«) und Übungen vor Werk und Text für jene, die sich tiefer in den Gegenstandsbereich einarbeiten wollten.
Das Institut für Österreichische Geschichtswissenschaften und die Kunstgeschichte Die spezifische Ausrichtung der Wiener Kunstgeschichte – die Emphase auf Quellenschriften und Werkanalyse – wurde durch dessen enge Verbindungen zum Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG) maßgeblich gefördert. Die 1853 zur »Hebung des Studiums der österreichischen Geschichte« gegründete Institution entwickelte sich bald zu einer Ausbildungsstätte der historischen Hilfswissenschaften, deren als Gegenentwurf zur »gewissenlosen Geschichtsschmiederei« entworfene strenge, akribische Methode zu ihrem internationalen Ruf beitrug, von Kritikern jedoch Vorwürfe des spezialisierten Virtuosentums und der urkundlichen Kleinkrämerei herausforderte.21 Der dreijährige Kurs nahm alle zwei Jahre vier bis sechs ordentliche stipendierte Mitglieder auf, deren Unterrichtsgegenstände zu Beginn im zweiten und dritten Jahr Kunstgeschichte obligat, dann bis 1874 als »wünschenswertes« Fach umfassten.22 Den drei Absolventen dieser Periode, die sich schon während ihres Studiums kunstwissenschaftlichen Fragen gewidmet hatten, wurden von Eitelberger Museumsanstellungen verschafft: Franz Schestag kam ans Österreichische Museum, um mit ihm zusammen in den Kronländern Bestände für die neugegründete Institution zu sammeln, Eduard Chmelarz an die Albertina und 1875 als Nachfolger Schestags ans Österreichische Museum. Moritz Thausing erhielt ebenfalls eine Stelle an der Albertina, die er ab 1868 leitete. 1873 wurde er zum außerordentlichen Professor, 1879 neben Eitelberger zum zweiten Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität ernannt. Mit der Statutenänderung und Reorganisation der Lehre von 1874 wurde die Kunstgeschichte zu einem integralen Bestandteil des IÖG. »Allgemeine Kunstgeschichte des Mittelalters und der Renaissance« wurde bereits im Vorbereitungsjahr gelesen, im ersten Jahr »Spezielle Kunstgeschichte mit Übungen« und im zweiten Jahr »Kritik der kunstgeschichtlichen Quellenschriften und Denk21 Die gleichen Vorbehalte gegen unfreies »Kleben am Einzelnen« (Robert Vischer, zit. nach Waetzoldt 1924 (1986): Kunsthistoriker, 124 bzw. einseitig historische, an den Hilfswissenschaften »klebende« Methode (Frimmel 1897: Sehen, 26) wurden folgerichtig auch gegen die Vertreter der Wiener Kunstgeschichte vorgebracht, insbesondere Moritz Thausing. 22 Lhotsky 1954: Geschichtsforschung, 207.
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mäler«. Im dritten Jahr stand es den Mitgliedern frei, sich auf eine der drei Hauptgruppen Scriptores, Urkunden oder Kunstdenkmäler zu spezialisieren.23 Die Aufwertung der Kunstgeschichte verlangte eine stärkere Repräsentation im Lehrkörper, und so wurde Thausing gleichzeitig mit seiner außerordentlichen Professur für Kunstgeschichte auch ans IÖG übernommen, von dem aus er seine universitäre Tätigkeit gestaltete.24 Die Spezialisierung des Instituts auf mittelalterliche Quellen erklärt vielleicht auch den vollständigen Rückgang von kunsthistorischen Lehrveranstaltungen zum Mittelalter in der Kunstgeschichte durch eine Arbeitsteilung zwischen der Lehrkanzel Eitelberger und dem IÖG. Bis 1860 nahm das Mittelalter durch diverse Ausformungen der Vorlesung zur »mittelalterlichen Kunstarchäologie« mit 40 Prozent den größten Teil der Lehre ein. Danach entfällt es vollständig aus dem Curriculum.25 Von den 53 bis 1909 mit einer Dissertation abgeschlossenen Kunsthistorikern gingen 24 als ordentliche und fünf als außerordentliche Mitglieder durch eine Ausbildung im IÖG, darunter die Wiener Lehrstuhlinhaber der Kunstgeschichte Moritz Thausing (1859 – 1861), Franz Wickhoff (1877 – 1879), Alois Riegl (1881 – 1883), Julius von Schlosser (1887 – 1889 als außerordentliches Mitglied) und Max Dvorˇk (1895 – 1897).26 Damit waren sie mit einer Methode konfrontiert, die exakte Quellenarbeit und die Verbindung zu angrenzenden Wissenschaften wie Numismatik, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte betonte. Simon Laschitzer (Institutsmitglied von 1873 – 1875), der von Thausing an die Albertina geholt wurde, formulierte das durch die Schule des IÖG geprägte Verständnis der Kunstgeschichte 1885 als Parallelität der schriftlichen und künstlerischen Quellen, die beide als Ausdruck des Empfindens einzelner Perioden und Künstler in Bezug auf Echtheit und Originalität der Form untersucht werden
23 Statuten abgedruckt bei Lhotsky 1954: Geschichtsforschung, 131 – 134. 24 Dasselbe gilt auch für Thausings Nachfolger Franz Wickhoff, der zehn Tage nach seiner Bestellung zum außerordentlichen Professor für Kunstgeschichte 1885 vorerst provisorisch als Dozent des IÖG installiert wird (Lhotsky 1954: Geschichtsforschung, 210). 25 Entgegen den realen Verhältnissen und unter Umständen bedingt durch die offizielle Bezeichnung Eitelbergers als Professor für »Kunstarchäologie« sowie die Doppelbesetzung Eitelberger/Thausing ordnet Kraus 1874: Studium, 8 im Zuge seiner quantitativen Auswertung der deutschsprachigen kunsthistorischen Professuren Wien den einzigen Lehrstuhl für mittelalterliche Kunstgeschichte zu. 26 Neben den Institutsmitgliedern, die sich der Kunstgeschichte zuwandten wurden auch eine Reihe von dort ausgebildeten Historikern zu Akteuren im Ausbildungsprozesses des Faches, indem sie die Edition der im Jahrbuch veröffentlichten Quellenschriften übernahmen, z. B. Frantisˇek Maresˇ, Karl Uhlirz (11. Kurs, Archiv der Stadt Wien), Heinrich Zim(m)ermann (12. Kurs, späterer Herausgeber des Jahrbuches für Kunstgeschichte), Hans von Voltelini (15. Kurs, Haus- Hof- und Staatsarchiv), Michael Mayr (18. Kurs, Statthalterarchiv Innsbruck), Viktor Thiel (21. Kurs, Statthalterarchiv Graz).
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müssen, denn im »Grunde genommen ist […] jedes Kunstwerk eigentlich nichts als eine Urkunde im weitesten Sinne«27. Bereits bei seiner Gründung 1853 fiel unter die Aufgaben des IÖG auch die Eignung der Absolventen zur »Anstellung an Archiven, Bibliotheken und Museen«. Einer der Gründe der stärkeren Betonung der Kunstgeschichte im Lehrplan 1874 war das Festhalten an der Berufsqualifikation für Kustoden.28 In den folgenden Jahrzehnten bemühte sich das Institut erfolglos, bei der Regierung die Institutsausbildung als Grundvoraussetzung für einschlägige öffentliche Posten zu erwirken.29 Der so explizit auch als Berufsvorbereitung definierte Ausbildungsgang trug maßgeblich zur Verbindung von universitärer Lehre und zukünftiger praktischer Tätigkeit bei. Obwohl sich die Tradition, Maler als Leiter von Gemäldegalerien zu bestellen, im Kunsthistorischen Museum bis zur Berufung des Wickhoff- und Riegl-Schülers Gustav Glück 1911 hielt, übernahmen am Institut ausgebildete Wissenschaftler in zahlreichen anderen Sammlungen schon viel früher kuratorische Aufgaben.30 Dennoch sind die neuen Anforderungen im Qualifikationsprofil der Museumsmitarbeiter weniger als Bruch zu verstehen, sondern als langsame und nicht immer in eine Richtung verlaufende31 Verfestigung eines schon vorher in Gang gekommenen Prozesses der Neuordnung der Museen nach wissenschaftlichen Prinzipien.32 Im Kontext der 1876 27 Laschitzer 1884: Kataloge, 571. Ähnliche methodische Übereinstimmungen mit den Geschichtswissenschaften hatte Thausing bereits in seiner Antrittsvorlesung von 1873 formuliert, in der er sein Programm der disziplinären Grenzziehung (vor allem zur Ästhetik) und Verwandtschaftsaffirmation zu den historischen Schwesternwissenschaften formulierte. Thausing 1873 (1884): Wissenschaft. 28 Lhotsky 1954: Geschichtsforschung, 129. 29 Lhotsky 1954: Geschichtsforschung, 36, 100, 212, 219 und 263 f. 30 1884 löste der Eitelberger-Schüler und IÖG Absolvent Albert Ilg den Bildhauer und Offizier Wendelin Böheim als Direktor der Sammlung für Waffen und Kunstindustriellen Gegenstände ab, gefolgt von Julius von Schlosser (1901 – 1922). Zwei weitere Absolventen des IÖG wurden nach ihrer Anstellung im Österreichischen Museum Leiter der Kupferstichsammlung der Hofbibliothek: Franz Schestag Anfang der 1880er Jahre und Eduard Chmelarz ab 1888. Hermann Dollmayr, ebenfalls im IÖG ausgebildet, wird 1897 auf Anraten Wickhoffs als Kustos in die Gemäldegalerie aufgenommen, um die Neuaufstellung und -bearbeitung durchzuführen. 31 So war von 1896 – 1905 der an der Akademie ausgebildeten Maler Josef Schönbrunner Direktor der Albertina. 32 Eitelberger arbeitet in den 1850er Jahren gemeinsam mit dem damaligen Direktor der Gemäldegalerie Peter Krafft an der Erstellung eines ausführlichen Kataloges der Kaiserlichen Gemäldegalerie und ist seit seiner Italienreise von 1850 mit Eduard Engerth befreundet, der die Direktorenstelle von 1871 – 1892 innehat. Engerth positioniert sich als Teilnehmer des ersten kunsthistorischen Kongresses innerhalb der kunstwissenschaftlichem Gemeinschaft. Dasselbe gilt für Wendelin Böheim und eine Reihe weiterer Angestellter in den kaiserlichen Sammlungen, die obwohl nicht als Kunsthistoriker ausgebildet, fundierte Artikel im »Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen« veröffentlichen, sowie erste Schritten in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Bestände tätigen.
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genehmigten »systematischen Organisation der kunsthistorischen Sammlungen« mit dem Ziel, »in wissenschaftlicher Beziehung unabhängige Leiter zu schaffen«33, übernimmt das kurz danach gegründete »Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen« die Rolle eines Korrektivs für alle, die in ihrer Rolle als Kuratoren »den kritischen Anforderungen der Kunstwissenschaft gerecht [zu] werden suchen«34.
Die Wiener Ausbildung im internationalen Vergleich Ein systematischer Vergleich von Vorlesungsverzeichnissen des 19. Jahrhunderts wurde noch nicht unternommen und kann hier nur in Ansätzen geleistet werden. Professuren für Kunstgeschichte entstehen im 19. Jahrhundert auch an Kunstakademien und Polytechniken. Die Ausrichtung der Lehre scheint aber deutlich verschieden von derjenigen der Universitäten zu sein.35 Wir haben uns deswegen auf die vier Universitätsstandorte begrenzt, an denen zuerst Professuren mit der Widmung Kunstgeschichte geschaffen wurden (Berlin 1844, Wien 1852, Bonn 1860 und Zürich 1871). Im Vergleich wird deutlich, dass die Wiener Lehre sich einerseits am stärksten an Erfordernissen der Praxis, wie sie in einem Museum gegeben waren, orientiert und andererseits weitaus weniger von personellen Veränderungen abhängig war.36 Der erste Berliner Extraordinarius Waagen hatte die schon vor seiner Bestellung existierende Tradition der Lehre vor Originalen fortgesetzt, indem er, anders als Eitelberger, die Werke im Rahmen seiner Überblicke als Exempel einer allgemeinen Kunstentwicklung »in encyklopädischer Form« verwendete. Dessen Nachfolger Grimm (ab 1873 nach fünfjähriger Vakanz) stellte diese Vorlesungen allerdings wieder ein und begann mit dem quellenkundlichen Unterricht, jedoch als Vorlesung und nicht als Übung.37 Anton Springer, ab 1852 Privatdozent und von 1860 – 1872 erster ordentlicher Professor in Bonn, wurde schon 1924 von Waetzoldt eine methodische Nähe zur »Wiener Schule« konstatiert. Er betonte, wie wichtig die »Hilfe von Modellen, 33 Eine Neuorganisation erfuhr auch die Albertina, in der Thausing (1876 – 1884 als deren Direktor) für die Reorganisation der Sammlung »im Geiste der modernen Kunstwissenschaft« zuständig war. Eitelberger 1884: Thausing. 34 Folliot de Crenneville 1883: Vorwort, o. S. 35 So schon in der zeitgenössischen Wahrnehmung: Erster kunstwissenschaftlicher Congress in Wien, in: Mitteilungen des k.k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie 8/98 (1873) 518 f. 36 Die folgenden Vergleiche beruhen wenn nicht anders angegeben auf der Auswertung der jeweiligen Vorlesungsverzeichnisse. 37 Schweers 2010: (Aus-)Bildung, 150 und 154. Die Auseinandersetzung mit originalen Werken wurde in Berlin erst ab 1887 von anderen Dozenten in den Lehrplan wieder aufgenommen.
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Diagrammen und Abbildungen« für seine Vorlesungen sei, also »die Anschauung, durch den kunsthistorischen Apparat vermittelt«38. Seine Wechsel nach Straßburg (1872) und Leipzig (1874) wurden deswegen jedes Mal mit der Hoffnung auf eine bessere Ausstattung verknüpft. Zur Anschauung von Originalen waren seine Studierenden jedoch auf eigenständige Reisen und Museumsbesuche verwiesen.39 Da er 1874 die Qualität des kunsthistorischen Universitätsunterrichts verteidigte, indem er auf das bereits »tagein tagaus betriebene« kritische Studium der Quellen (vor allem von Vasari) verwies, kann davon ausgegangen werden, dass deren Analyse auch schon Teil seiner von 1853 bis 1871 insgesamt acht Mal angebotenen und nicht näher bezeichneten »kunsthistorischen Übungen«40 war, obwohl erst sein Nachfolger Justi ab 1874 regelmäßig auch im Vorlesungsverzeichnis ausgewiesene Lehrveranstaltungen dazu hielt. Im kulturgeschichtlich ausgerichteten Zürcher Unterricht begannen die kunsthistorischen »Besprechungen und Übungen« 1870. Ab 1872 wurden sie von den beiden außerordentlichen Professoren Johann Rudolf Rahn und Friedrich Salomon Vögelin fast jedes Semester gehalten. Von den 27 Übungen, die bis 1886 stattfanden, waren fünf mit Exkursionen verbunden, 1886 wurde die erste Spezial-Lehrveranstaltung (die »Geschichte des Holzschnitts und Kupferstichs mit Benutzung der Kupferstichsammlung des Polytechnikums«) im Museum in den Lehrplan aufgenommen. Eine im Vorlesungsverzeichnis als Quellenkunde bezeichnete kunsthistorische Lehre gab es in Zürich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht.
Fazit 1873 fand der erste kunstwissenschaftliche Kongress in Wien statt. Teils in Affirmation des bereits Erreichten, teils als Kritik am unbefriedigenden Stand des Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozesses, wurden vor allem Fragen der Praxis verhandelt. Alfred Woltmann prangerte in seinem Beitrag die unbefriedigende Situation deutscher Museen an, die in Ermangelung wissenschaftlich ausgebildeter Fachkräfte noch immer die dilettantische Arbeit 38 Springer 1874: Studium, 379; Waetzoldt 1924 (1986): Kunsthistoriker, 421. 39 Beyrodt 1991: Universitätsfach, 322. Dazu auch Springers Aussage: »Die Vorbildung kann der künftige Kunstforscher auf den Universitäten empfangen, für die Studien jedoch, welche ihn befähigen, als Fachgelehrter aufzutreten, ist ihm ein ganz anderer Weg vorgezeichnet.« Springer 1874: Studium, 381. 40 Zusätzlich 1854/55 zwei thematische Lehrveranstaltungen »verbunden mit praktischen Übungen« sowie 1858 eine einzige Übung mit Exkursion.
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der ersten Jahrhunderthälfte weiterführten.41 Die Kritik an der Bestellung von »Laien«, in der Regel Künstler, als Sammlungsleiter und -mitarbeiter gab in den 1870er und 1880er Jahren wiederholt Anlass zu Auseinandersetzungen.42 Pikant ist angesichts dieser Entwicklung die 1890 publizistisch geführte Debatte zwischen Herman Grimm und Wilhelm Bode, dem Generaldirektor der preußischen Kunstsammlungen. Mit der Schaffung neuer kunsthistorischer Professuren, die die beiden auf den Kongress folgenden Jahrzehnte kennzeichnete, standen inzwischen genug universitär geschulte Fachwissenschaftler zur Verfügung. Die Qualifikation derer, die in Berlin ausgebildet wurden, war aber in den Augen des Museumsdirektors unbrauchbar.43 Bode, der 1870 sein Studium nach Wien verlegt hatte, wo ihm unter anderem »das rege Kunstleben und ein Kreis jüngerer, für ihren Beruf begeisterter Kunsthistoriker und Archäologen als Lehrer« »wesentliche Förderung«44 versprachen, konstatierte eine Kluft zwischen dem Berliner Studium und dem Museum45 – eine Kluft, die es offensichtlich in Wien nicht gab. Durch die vielfältigen Verflechtungen von Sammlungen und Universität und die Lehrmethode Eitelbergers, die Camillo Sitte 1885 retrospektiv als »Übungen im Bestimmen und Prüfen alter Kunstobjekte, also recht eigentlich Vorstudien für zukünftige Museums-Männer«46 bezeichnet hatte, verfestigte sich hier sehr früh eine Form des Unterrichts, die Befähigungen zur Berufsausübung dezidierter als andere Universitätsstandorte vermittelte. Als 1909 mit Josef Strzygowski der erste nicht am IÖG ausgebildete Professor für Kunstgeschichte ernannt wurde, erschien ihm die Wiener Lehre als eine reine »Vorbildung für die praktischen Bedürfnisse der Denkmalpflege und der Museen berechnete Art der Kunstforschung«, die um den in seinen Augen vernachlässigten »systematisch wohl fundierte Kunstforschung« erweitert werden musste.47 Strzygowskis Aussage ist zweifellos polemisch. Sie zeigt aber, dass die von Eitelberger initiierte Lehrtradition noch über die Jahrhundertwende hinweg nicht an Bedeutung verloren hatte.
41 Woltmann 1873: Kongress, 454 – 456. 42 Gegen die Praxis der Malerdirektoren polemisch Thausing 1884: Kunstgeschichte, 140 – 159 und 336, konzilianter Wickhoff 1913: Dollmayr, 241 sowie Bode 1930 (1997): Leben, 149. 43 Dilly 1979: Institution, 33 und 37, Schweers 2010: (Aus-)Bildung, 147. 44 Bode 1930 (1997): Leben, 26. 45 Dilly 1979: Institution, 37 zufolge hatte sich das Schisma zwischen Universitätsprofessoren und Museumsangestellten Anfang des 20. Jahrhunderts noch verschärft, während die »Lagertheorie« laut Beyrodt 1991: Universitätsfach, 328 zumindest für Berlin mit den jeweiligen Nachfolgern ihrer Proponenten überwunden war. 46 Sitte 1885 (2013): Eitelberger, 316. 47 Strzygowski 1913: Institut, 15.
Die Analyse der Objekte und das Studium der Quellen
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Pflegewissenschaft – Über die Etablierung einer neuen Disziplin an der Universität Wien
Pflegewissenschaft ist an der Universität Wien eine junge Disziplin. 1999 konnte man erstmalig Pflegewissenschaft als Individuelles Diplomstudium inskribieren, nach zwei Studienplanadaptierungen (2002 und 2005) wurde es 2011 als Masterstudium in den Regelstudienbetrieb aufgenommen. Auch wenn die Universität Wien damit in Österreich durchaus noch in einer »Vorreiterrolle« gesehen werden kann und Pflegewissenschaft an sich im gesamten deutschsprachigen Raum eine eher junge Wissenschaftsdisziplin darstellt – international gesehen kann sie doch schon auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückblicken.
Die Entwicklung der Pflegewissenschaft – ein kurzer Exkurs in die Anfänge Als eigentlicher Ausgangspunkt für die Entwicklung der Pflege als eigene wissenschaftliche Disziplin kann die Arbeit von Florence Nightingale gesehen werden. Ihre Mitte des 19. Jahrhunderts verfassten Schriften legten nicht nur den Grundstein für die Pflege als eigene Profession, sondern können auch als Anstoß der Entwicklung der Pflege als Wissenschaft gesehen werden. Pionierhaft versuchte sie Phänomene, die sie bei der Pflege britischer Soldaten im Krimkrieg beobachtete, wissenschaftlich zu belegen. Sie verfügte über Fachkenntnisse in der Statistik und der Epidemiologie und nutzte diese, um genaue Aufzeichnungen über die pflegerische Arbeit und die Wirkung von Pflegehandlungen (bzw. auch hygienische Maßnahmen) zu führen, da sie erkannt hatte, dass diese Daten und daraus gewonnenen Erkenntnisse von ungeheurer Wichtigkeit für die Entwicklung effizienter Betreuung und Behandlung kranker Menschen waren. Ihre Denkweise war eine sehr fortschrittliche (im * Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien.
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Lichte des heutigen Verständnisses des Gegenstandsbereich der Pflege betrachtet). So waren unter anderem Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention schon zentrale Anliegen ihrer Arbeit (Evers 2004). Die Entwicklung der Pflegewissenschaft und -forschung ist eng mit der Etablierung der Pflege an den Universitäten (Akademisierung) verknüpft. Diese begann Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA. Den ersten Lehrstuhl für Krankenpflege hatte die Krankenschwester Adelaide Nutting inne. 1907 wurde sie als Professorin für Krankenhauswirtschaft an das Teachers Colleg der Columbia University in New York berufen, 1910 wurde dort eine eigene Abteilung »Krankenpflege und Gesundheitsfürsorge« eingerichtet, mit dem Lehrstuhl »Kranken- und Gesundheitspflege« (Steppe 1993). Ihre Studie über die Ausbildung von Pflegenden aus dem Jahre 1907 ist wahrscheinlich die erste wichtige Forschungsarbeit, die von einer Krankenschwester durchgeführt wurde. Pionierhafte pflegewissenschaftliche Arbeiten, die in den 1920er und 1930er Jahren in den USA publiziert wurden, beschäftigten sich (der damaligen Situation entsprechend) mit ganz praktischen Fragestellungen, wie z. B. die der wirksamen Händehygiene, der Brustpflege stillender Mütter oder der Pflege Tuberkulosekranker. 1952 wurde erstmals die nationale wissenschaftliche Zeitschrift »Nursing Research« herausgegeben, um Forschungsdaten zu verbreiten und für die Pflegenden zugänglich zu machen (van Maanen 1996; Majoros et al. 1995; Matherny 1994; Notter/Hott 1994). In Europa erfolgte die Entwicklung der Pflegewissenschaft erst einige Jahrzehnte später.1 Hier war Großbritannien das erste Land, in dem die Pflege wissenschaftlichen Status erhielt.2 1956 wurde an der Universität von Edinburgh der erste Studienlehrgang zur Grundausbildung in der Krankenpflege eingerichtet. Die gebürtige Österreicherin Lisbeth Hockey, die dort das erste universitäre Institut für Pflegeforschung begründete, war Großbritanniens Pionierin auf dem Gebiet der Pflegeforschung. Es gab im europäischen Raum allerdings große zeitliche Unterschiede, die Entwicklung von Pflegewissenschaft und -forschung betreffend. Waren die Staaten des nördlichen Europa in diesem Bereich führend, so konnte sich die Krankenpflege an den Universitäten der süd- und mitteleuropäischen Länder nur schleppend etablieren.3 Betrachtet man heute nur den europäischen Raum, so hat 1 Die verzögerte Entwicklung der Akademisierung der Pflege kann durchaus als eine den beiden Weltkriegen geschuldet gesehen werden. 2 Diese Entwicklung (Großbritannien als Pionier in Europa) ist zum einen auch in den Innovationen von Florence Nightingale begründet, da sie die erste Krankenpflegeschule in London gründete, zum anderen durch die sprachliche Nähe zu den USA. 3 Eine der wenigen Analysen der Ursachen dieser Entwicklung findet man in einem Abdruck einer Keynote der Pflegewissenschafterin Rosette Poletti 1984. Sie führt dies unter anderem auf Unterschiede in der gesellschaftspolitischen Stellung der Frau, der schlechteren politischen Verankerung der Pflege (Krankenpflegverbände), der geringeren Vorbildung, die zum Eintritt in die Krankenpflegeschulen verlangt wurde, der Tradition mancher Länder, Ärzte als
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sich Pflegewissenschaft mittlerweile in allen Ländern etabliert. Österreich ist eines der Länder, die in dieser Entwicklung das Schlusslicht bilden. Der Erste Schritt zur Akademisierung der Pflege in Österreich erfolgte über die Annäherung an die internationale Pflegeforschung. Dazu kann man erste Initiativen bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts verzeichnen, jedoch in erster Linie auf der persönlichen Ebene von Einzelinitiativen. Seit 1978 ist Österreich Mitglied der Workgroup of European Nurse Researchers (WENR)4. Der Beitritt zu und die aktive Arbeit in der Workgroup geschah aufgrund der Initiative und des Einsatzes einzelner Personen, die hier schon früh internationale Kontakte pflegten. Es war jedoch gesamtösterreichisch weder ein berufs- noch allgemeinpolitisches Anliegen. Akademisierung der Pflegewissenschaft bedeutete in Österreich in den Anfängen in erster Linie ein Angebot an Qualifizierungsmaßnahmen im tertiären Sektor, auf Hochschulniveau. Dieser Schritt war durchaus kein außergewöhnlicher und ist ein Bestandteil der »Phase der Annäherung« in dem Prozess der Entwicklung der Pflegewissenschaft (Rappold 2009). Diese Art der »akademischen Qualifizierung« vollzog sich aber wiederum außerhalb des regulären tertiären Bildungssystems und zwar über sogenannte Universitätslehrgänge, die zwar formal an Universitäten angesiedelt waren, aber an berufsspezifischen Sonderausbildungseinrichtungen vollzogen wurden und zu keinem regulären akademischen Abschluss führten, der eine Durchlässigkeit in das tertiäre Bildungssystem ermöglichte (eine Weiterbildungsform in der Pflege, die es heute noch gibt). Die Zielgruppe dieser Maßnahmen waren ausschließlich PflegelehrerInnen und MangerInnen. Die/Der typische »PflegepraktikerIn« und somit auch die Pflegepraxis blieben davon weitgehend unberührt und in Folge blieben auch der erwartete »Professionalisierungsschub« sowie die »Verwissenschaftlichung« des Pflegeberufs aus. Erst mit der Etablierung erster pflegewissenschaftlicher Studiengänge an den Universitäten sowie der (schrittweisen) Überführung der Ausbildung zum gehobenen Dienst in der Gesundheits- und Krankenpflege in den tertiären Bildungssektor5 hat sich auch Österreich endgültig auf dem Weg der Akademisierung6 der Pflege gemacht. Leiter einzusetzen, sowie den allgemein schlechteren Englischkenntnissen und dadurch der fehlende Zugang der Berufsgruppe zu pflegewissenschaftlichen Fachzeitschriften und die Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen zurück. 4 Kernanliegen der WENR ist den Kontakt zwischen Pflegeforscher/innen in Europa zu stärken, um langfristig eine systematischen Forschungskollaboration in Europa sicherzustellen. 5 Die berufsqualifizierenden Bachelorstudiengänge für die Grundausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege folgen internationalen Vorbildern und werden in Österreich momentan noch parallel zu der traditionellen Ausbildung an den Gesundheits- und Krankenpflegeschulen geführt, die nicht ins Regelschulwesen eingegliedert sind. Eine schrittweise Überführung in das tertiäre Bildungswesen ist geplant. 6 »Akademisierung« ist ein Begriff, der in dem Zusammenhang oft verwendet wird, der jedoch
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Die Bemühungen, Pflege universitär anzubinden, begannen Mitte der 1980er Jahre. Den Anfang machte 1984 die Karl-Franzens-Universität in Graz. Dort wurde das Kombinationsfach Pflegewissenschaft für Studierende der Pädagogik eingerichtet und sollte in einen Studienversuch Pflegewissenschaft als zweite Studienrichtung übergeführt werden. Dies scheiterte jedoch an der fehlenden Finanzierung und somit wurde auch das Kombinationsfach 1991 eingestellt. Die Universität Wien war dann die erste öffentliche Universität, an der man tatsächlich Pflegewissenschaft als eigenständiges Fach studieren konnte.
Vom individuellen Diplomstudium zum Regelstudium – der Weg der Etablierung der Pflegewissenschaft an der Universität Wien Den Prozess der Etablierung einer Wissenschaft an der Universität zu beschreiben, ist kein einfaches Unterfangen. Die offensichtlichen Meilensteine universitärer Verankerung der Pflege (wie z. B. der erste Studiengang) ergeben nur ein unvollständiges Bild von den vielen mühsamen Schritten, den vielen Einzelinitiativen, die letztendlich zu diesen Entwicklungen beigetragen haben. Rückblickend gesehen gibt es viele Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Diskussion um Pflegewissenschaft stehen und die ihren Beitrag geleistet haben. Vieles davon lässt sich aufgrund der nicht vorhandenen systematischen Dokumentation bzw. der Komplexität und Verflechtungen der Umstände, Ursachen und Anlässe für Entscheidungen bzw. »Nicht-Entscheidungen« kaum mehr im Detail nachvollziehen. Die ersten Initiativen auf individueller, berufspolitischer, bildungspolitischer und allgemein politischer Ebene reichen in Wien mehr als 15 Jahre zurück. Wesentliche Vorarbeiten zur Institutionalisierung der Pflegewissenschaft an der Universität Wien gingen von der 1992 gegründeten Abteilung Pflegeforschung des Instituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung der Johannes-Kepler-Universität Linz7 aus.
kein sehr präziser ist, denn es verbirgt sich dahinter zweierlei: zum einen die Etablierung der Ausbildung auf tertiären Niveau und zum anderen die Tatsache, dass das berufliche Wissen ein akademisches, wissenschaftliches wird, dass Pflege erforschbar und wissenschaftlich erfassbar wird. 7 Univ. Prof. Klaus Zapototczky, Professor für Soziologie an der Johannes Kepler Universität in Linz, begründete das Institut für Pflege- und Gesundheitssystemforschung an der Universität Linz und war langjähriger Vorstand. Die Abteilung Pflegeforschung wurde von Elisabeth Seidl geleitet. Diese Abteilung war ausschließlich aus Drittmitteln finanziert und hatte ihren Sitz in Wien (nicht zuletzt, weil Elisabeth Seidl ihren beruflichen Mittelpunkt weiterhin in Wien hatte).
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Die erste Etappe: Pflegewissenschaft als eine Ausnahmesituation Im Wintersemester 1999/2000 wurde erstmalig ein individuelles Diplomstudium (IDS) Pflegewissenschaft auf initiative der diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester, studierten Psychologin und habilitierten Soziologin Elisabeth Seidl (und späteren ersten Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Wien) eingerichtet. Zur damaligen Zeit die einzige Möglichkeit, Pflegewissenschaft überhaupt an die Universität zu bringen, denn über ein Regelstudium war noch keine Einigung zu erzielen. Ein IDS ist im universitären Kontext jedoch immer ein »Ausnahmekonstrukt«. Es hat zwar den grundsätzlichen Vorteil, dass man durch die Kombination von Lehrveranstaltungen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen einen sehr weiten Blickwinkel bekommt; das bezogen auf die Etablierung und Normalisierung eines neuen Wissenschaftszweiges jedoch auch einige Nachteile mit sich zieht: – Das Eigenständige, Originäre des neu zu etablierenden Wissenschaftszweiges geht verloren durch zu viel (oder ausschließliche) Entlehnung aus den anderen Fächern. – Es ist durch die starke individuelle Komponente keine Möglichkeit curricularer Steuerung (z. B. im Sinne eines sinnvollen Aufbaus von Inhalten) möglich. – Die individuellen Diplomstudiengänge ziehen erfahrungsgemäß viele Studierende an, was sich in hohen Studierendenzahlen äußert. – Für ein IDS gibt es keine eigenen Promotions- und Habilitationsmöglichkeiten. Individuelle Diplomstudiengänge verfügen im Allgemeinen auch über keine eigenen offiziellen universitären Forschungsschwerpunkte. Das IDS an der Universität Wien konnte von Wintersemester 1999 bis Sommersemester 2013 (als Zeitpunkt des endgültigen Auslaufens) studiert werden (wobei es im Sommersemester 2007 letztmalig inskribiert werden konnte) und war an der Fakultät für Sozialwissenschaften8 als Bestandteil des Studienprogramms Soziologie angesiedelt. Drei Studienpläne9 traten in dieser Zeit in Kraft, die schrittweise strukturierter und immer weniger »individuell« wurden. Die Studienpläne 1999 und 2002 richteten sich hauptsächlich an ein Zielpublikum, das ein Studium zusätzlich zur bzw. nach der beruflichen Qualifikation in der 8 Vormals Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät. 9 Obwohl es sich formal um ein individuelles Diplomstudium handelte wurde von Beginn an ein »Studienplan« erstellt, der von all den Studierenden »individuell« eingereicht wurde, die das IDS Pflegewissenschaft studieren wollten.
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Pflege absolvierte, und war daher auch als »Additivum« zum eigentlichen Gegenstandsbereich der Pflege gedacht (zum Erwerb ganz allgemeiner wissenschaftlicher Kompetenzen und als inhaltliche »Horizonterweiterung«). Es beinhaltete daher neben Qualifikationen in empirischer Forschung hauptsächlich weit definierte inhaltliche Felder aus den »Bezugswissenschaften« der Pflege (Soziologie, Pädagogik, Psychologie und Medizin) und war dementsprechend »offen« mit einigem Spielraum an Wahlmöglichkeiten gestaltet. Da aber bereits in den ersten Jahren sichtbar wurde, dass das Studium mehr und mehr für die »typischen Studierenden« – MaturantInnen ohne Ausbildung in der Pflege oder aus anderen therapeutischen Berufen – attraktiv wurde (schlussendlich machte diese Gruppe ca. 80 % der Studierenden aus), wurde 2005 ein Studienplan entwickelt, der mehr auf einheitlichen Kompetenzerwerb ausgerichtet war und der demnach mehr einem Regelstudium als einem individuellen Diplomstudium glich. Da das individuelle Diplomstudium immer mehr Studierende anzog und nicht mehr nur als Teil der Soziologie organisiert, administriert und inhaltlich verantwortet werden konnte, wurden zwei Maßnahmen gesetzt. Erstens wurde eine Stiftungsprofessur für Pflegewissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften eingerichtet. Diese wurde von vier Stifterorganisationen (Rotes Kreuz Österreich, Rotes Kreuz Landesverband Wien, Caritas Österreich, Caritas Erzdiözese Wien) für drei Jahre finanziert. Am 1. Oktober 2004 wurde die Stiftungsprofessur Pflegewissenschaft mit Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Seidl10 besetzt, befristet für drei Jahre. Zweitens wurde mit dem Institut für Pflegewissenschaft, das mit 1. Jänner 2005 eingerichtet wurde, ein institutioneller Rahmen seitens der Universität Wien geschaffen. Wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass die Stifter vermehrt einen Schwerpunkt in pflegwissenschaftlicher Forschung erwartet hatten, die Hauptaufgabe, mit der sich die Inhaberin der Professur jedoch konfrontiert sah, darin bestand, das Studium für eine immer größer werdende Zahl der Studierenden zu organisieren, zu administrieren und durchzuführen. Ebenso kritisch wurde seitens der Stifter das sich verändernde Profil der Studierenden sowie die Tatsache der unklaren Möglichkeiten, die Abgänger des Studiums (ohne berufsqualifizierenden Unterbau) im Berufsfeld der Pflege einzusetzen, gesehen. Betrachtet man die Zahlen, so kann das IDS Pflegewissenschaft durchaus als 10 Elisabeth Seidl ist ausgebildete Gesundheits- und Krankenschwester und studierte Psychologin und Soziologin. Sie war viele Jahre als Direktorin des Pflegedienstes und der Gesundheits- und Krankenpflegeschule des Rudolfinerhauses in Wien tätig, bis sie 1992 die Leitung der Abteilung Pflegeforschung Wien und des Institut für Pflege- und Gesundheitssystemforschung der Johannes Kepler Universität Linz übernahm. Sie verfasste ihre Habilitation 1995 an der Universität Linz in »Soziologie der Pflege«.
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Erfolg gewertet werden: Es inskribierten sich vom Wintersemester 1999/2000 bis zum Sommersemester 2007 1.438 Studierende – im Durchschnitt ca. 180 Studierende pro Studienjahr – wobei eine Steigerung von 45 Studierenden zu Beginn (Studienjahr 1999/2000) von 490 (Studienjahr 2006/07) zu verzeichnen ist. Davon haben insgesamt 617 Personen das Studium abgeschlossen, eine deutlich höhere Abschlussquote als die durchschnittliche an der Universität Wien.
Die zweite Etappe: Normalität kehrt ein – Pflegewissenschaft wird zum Regelstudium Eine Form der formalen »Normalisierung« bzw. formalen Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin stellt zum einen die Etablierung von ordentlichen Professuren (»Lehrstühlen«) an den öffentlichen Universitäten und zum anderen ein reguläres, im Sinne des Bologna-Prozesses dreiteiliges, Studienangebot dar. An der Universität Wien markiert die Überführung der Stiftungsprofessur Pflegewissenschaft in eine Vertragsprofessur (2007) den ersten Schritt dieses »Normalisierungsprozesses«. Somit wurde das Institut für Pflegewissenschaft in die formale Struktur der Universität Wien eingebunden, erhielt offiziellen Status, Zugehörigkeit zu einer Fakultät und deren Strukturen, verfügte über ein eigenes Budget und ähnliches. Trotzdem stellte die Befristung der Professur noch eine Einschränkung im Normalisierungsprozess dar. Diese ergab sich aus der Ungewissheit, ob es gelingen wird, das IDS in das Bolognasystem zu überführen. Die Etablierung einer unbefristeten Universitätsprofessur war an diese Bedingung geknüpft. Der zweite und zentrale Schritt auf dem Weg zur endgültigen Etablierung der Disziplin an der Universität Wien war die Einrichtung eines regulären Pflegewissenschaftsstudiums. Internationalen Standards gemäß erfolgt die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege auf dem Bachelor Niveau und bildet die Voraussetzung für ein Master- bzw. in weiterer Folge für ein Doktoratstudium Pflegewissenschaft. An der Universität Wien konnte diese Art eines sehr praxisbezogenen, berufsqualifizierenden Bachelorstudiengangs aus unterschiedlichen Gründen (u. a. auch durch den offenen Hochschulzugang) nicht realisiert werden, daher wurde als Regelstudium nur ein Masterstudium Pflegewissenschaft entwickelt. Da in Österreich berufsqualifizierende Bachelorstudiengänge für Pflege vor allem an den Fachhochschulen angeboten werden, gab es von Beginn des Entwicklungsprozesses an eine enge Kooperation mit Fachhochschulen (in erster Linie mit dem FH Campus Wien), um einen guten »Unterbau« im Bachelorbereich und einen lückenlosen Übergang zwischen den beiden Systemen zu gewährleisten. Diese Zusammenarbeit führte schlussend-
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lich auch zu einem Kooperationsvertrag zwischen Universität Wien und FHCampus Wien. Dieses Konstrukt folgt den internationalen Anforderungen an die wissenschaftliche Qualifizierung in der Pflege und setzt den Bologna Gedanken in geradezu idealer Weise um, da der Bachelorabschluss kein »künstlich« eingezogener ist (wie sonst häufig kritisiert wird), sondern zu einer klaren beruflichen Qualifikation führt, die wiederum die Voraussetzung für den wissenschaftlichen Aufbau ist – ein wichtiger Schritt, die Pflegewissenschaft zu normalisieren. Für die Universität Wien an sich stellt dies aber keineswegs den üblichen Weg dar : Ein Masterstudium, das zwar auf einem sehr klar definierten Bachelorstudium aufbaut, das aber nicht an der Universität, sondern in erster Linie im Fachhochschulbereich angeboten wird, ist ebenso ein Novum wie die damit einhergehende enge Kooperation mit dem Fachhochschulbereich (z. B. in der Curricularentwicklung). Das Masterstudium Pflegewissenschaft wird nun seit dem Wintersemester 2011/12 angeboten. Es ist eines der wenigen reinen pflegewissenschaftlichen Masterprogramme in Österreich (im Gegensatz zu den meist für bestimmte Funktionen im Gesundheitswesen qualifizierenden) und dient der Vertiefung und Erweiterung der in einem pflegerischen, berufsqualifizierenden Bachelorstudium oder in einem fachnahen Bachelorstudium erworbenen fachwissenschaftlichen und forschungsmethodischen Kenntnisse. Mit dem Studium sollen die Absolventinnen und Absolventen zur eigenständigen Planung, Organisation, Durchführung und Evaluierung von Pflegeforschungsprojekten sowie zu Projekten, welche auf die Umsetzung von Forschungsergebnissen abzielen, befähigt werden. Über den engeren Forschungskontext hinaus sollen Absolventinnen und Absolventen aufgrund einer erweiterten Expertise zur Tätigkeit in anderen akademischen Arbeitsfeldern der Pflege qualifiziert werden. Da nun eine Konstruktion für das Pflegewissenschaftsstudium gefunden wurde, die international anschlussfähig war, Nachhaltigkeit versprach, den Möglichkeiten der Universität Wien entsprach und durch den fließenden Übergang zwischen Fachhochschule und Universität Modell- und durchaus auch Vorbildcharakter aufwies, konnte nun der dritte Schritt zur »Normalisierung« gesetzt werden: die Einrichtung einer ordentlichen Professur, die mit 1. Oktober 2010 besetzt wurde. Mit der fixen institutionellen Verankerung der Pflegewissenschaft und Etablierung eines Regelstudiums war dann auch der Weg für den vierten Schritt geebnet, der den Normalisierungsprozess der Etablierung einer Disziplin an einer Universität finalisiert: die Promotionsmöglichkeit im Fachbereich Pflegewissenschaft. An der Universität Wien ist dies im Rahmen des Doktorats-
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programms an der Fakultät für Sozialwissenschaften seit dem Wintersemester 2009 möglich.
Pflegewissenschaft als Forschungsbereich – inhaltliche Besonderheit und Verortung an der Sozialwissenschaft Im Bereich der Lehre hat sich Pflegewissenschaft mit der Einrichtung des Regelstudiums als eigene Disziplin in den »Normalbetrieb« der Universität eingegliedert (auch wenn es sowohl von seiner Genese als auch von der Ausgestaltung nicht unbedingt dem »Normalfall« entspricht). Im Bereich der Forschung ist die Situation nicht unähnlich: der formale Rahmen ist durch das eigene Institut für Pflegewissenschaft und seine Verortung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät markiert. Dennoch stellt dies in mancherlei Hinsicht in diesem Kontext auch etwas Besonderes dar. Ganz allgemein kann Pflegewissenschaft als wissenschaftliche Grundlage der als Beruf ausgeübten Praxisdisziplin Pflege beschrieben werden. Sie ist daher die Wissenschaft, deren definierter Interessenbereich das Handlungsfeld Pflege ist. Das Handlungsfeld Pflege wiederum umfasst die gesamte Lebensspanne eines Menschen (vorgeburtlich bis hochbetagt), bezieht sich auf die verschiedenen Ebenen (Individuum – Familie – Gemeinde – Gesellschaft – Politik) und deckt das gesamte Versorgungskontinuum ab (gesundheitsförderlich – kurativ – rehabilitativ – langzeitpflegeorientiert – palliativ) (Hirschfelt 2000). Gegenstand der Pflegewissenschaft sind einerseits die Auswirkungen von Krankheit, Behinderung und Gebrechen auf die Alltagsgestaltung. Andererseits beschäftigt sich Pflegewissenschaft mit der Wirkungsweise pflegerischer Interventionen und fragt nach den Einflussfaktoren und Kontextbedingungen »guter« Pflege. Die Pflegewissenschaft ist an einem konkreten Berufsfeld orientiert. Ihre Existenz und Legitimation leitet sich von einem gesellschaftlichen Bedürfnis – dem nach Pflege – ab. Das zentrale Element, der Ausgangspunkt und das Ziel der Pflegewissenschaft, ist daher die Pflegepraxis, das pflegerische Handeln. Mit van Maanen gesprochen: »Das Verstehen der Pflegewissenschaft findet nicht in einem Vakuum statt, sondern im Kontext des Handelns« (van Maanen 1996, 147). Pflegewissenschaft wird daher oft als »Praxiswissenschaft« bezeichnet (Kirkevolt 2002; van Maanen 1996) und kennzeichnet sich durch ihre nahe Beziehung zu einem konkreten Praxis- oder Anwendungsfeld. Gemäß Moers (2000) zeichnen sich Praxiswissenschaften dadurch aus, dass es sich bei ihnen um Wissenschaften handelt, »deren Existenz ohne das Handeln des Menschen nicht
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denkbar ist und die einem vom Menschen gesetzten Zweck dienen« (Moers 2000, 22). Praxiswissenschaften unterscheiden sich von anderen Wissenschaften insofern, als sie nicht nur auf Erkenntnisgewinn ausgerichtet sind. Sie fragen nicht nur »Was ist wahr?«, sondern auch »Was ist zu tun?«. Sie beziehen sich also unter dem Gesichtspunkt der Veränderung auf ihren Gegenstand; das Erkennen oder Auffinden von universellen Gesetzmäßigkeiten ist nicht ihr oberstes Ziel. Diese Besonderheit hat auch Einfluss auf die Art der Wissensproduktion. Schrems (2009) bezieht sich bei ihrer Beschreibung der wissenschaftlichen Wissensproduktion in der Pflege auf Nowotny, Scott und Gibbons (2008), die eine neue Form der Wissenschaften beschreiben, die sie »Wissenschaften im Modus 2« nennen. Den Unterschied zu dem Modus der traditionellen Wissenschaften wird in erster Linie an deren spezifischen Anwendungsorientierung deutlich, den die Autoren als Kontextualisierung bezeichnen (Nowotny et al. 2008, zit. nach Schrems 2009). Die Wissensproduktion dieser Wissenschaften erfolgt im Kontext der Anwendung. Dies erfordert in der Regel – da das Anwendungsfeld selten monodiziplinär ist – eine höhere Transdisziplinarität und die stärkere Einbindung von Zielgruppen und AnwenderInnen. Daher werden Wissenschaften im »Modus 2« auch verstärkt von der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen und müssen sich gesellschaftlicher Verantwortung stellen. Diese Charakterisierung der »neuen Wissenschaften« stellen daher einen guten Rahmen dar, in dem sich das Besondere der Pflegewissenschaft deutlich machen lässt: – Das zentrale Element, der Ausgangspunkt und das Ziel der Pflegewissenschaft, ist die Pflegepraxis, das pflegerische Handeln, d. h. sie ist eine Wissenschaft mit grundsätzlich hoher Kontextbezogenheit (das bedeutet auch das Aufheben der Differenzierung zwischen Grundlagenforschung – als reine Wissensproduktion – und anwendungsorientierter Forschung). Die Forschung ist daher auch immer anwendungs- und lösungsbezogen, was wiederum Auswirkung auf die Art der Forschung und Forschungsmethoden hat und den Wissenstransfer zur und aus der Praxis als wesentlichen Faktor wissenschaftlicher Arbeit in den Mittelpunkt stellt. Institutionelle Grenzen zwischen Universität und Praxis/Gesellschaft werden damit aufgehoben. – Pflegewissenschaft dient damit nicht nur wie andere Wissenschaften der Theorie und Methodologieentwicklung, sondern auch gleichermaßen der Praxisentwicklung. – Pflegewissenschaft muss daher und aus ihrer eigenen »area of concern« auch eigene methodologische und methodische Schwerpunkte im Rahmen der klassischen sozial- und naturwissenschaftlichen Forschung entwickeln.
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Die notwendig hohe Sensibilität in Hinblick auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Folgen der Wissensproduktion – eine Folge der Kontextbezogenheit und der Nähe zu Zielgruppen und AnwenderInnen – bedeutet, dass soziale Verantwortung und ethische Fragestellungen zentral sind und oft vor dem Forschungsinteresse stehen, aber auch die Methodenmöglichkeiten wesentlich beeinflussen. In einem zentralen Positionspapier ausgehend von einer richtungsweisenden Fachtagung im Rahmen der Debatte um die Etablierung der Pflegewissenschaft an den Universitäten (im deutschsprachigen Raum) wurde die Positionierung der Pflegewissenschaft in Bezug auf andere Wissenschaftszweige diskutiert (Krüger et al. 1996). Die Pflegewissenschaft steht mit verschiedenen Wissenschaftszweigen in Beziehung, ohne jedoch in einem von ihnen völlig aufzugehen. Die Pflege teilt mit der Medizin die Anlässe ihres Handelns (wenn auch keineswegs immer), mit den Gesundheitswissenschaften die Ziele und mit den Sozialwissenschaften die Konzentration auf die Interaktionsprozesse, d. h. auf das zwischenmenschliche Handeln (Krüger et al. 1996). Sie ist daher eine Wissenschaft mit multidisziplinärem Charakter und die Einordnung in traditionelle Kategorien ist schwierig. Pflege ist wie viele der »neuen« wissenschaftlichen Disziplinen (z. B. die Umwelt-, die Frauen- oder die Gesundheitsforschung) ein problemorientierter Forschungszweig, der sich nur schwer in eines der bestehenden Wissenschaftsgebiete einordnen lässt (Schrems 2002). Es ist nämlich nicht nur der Forschungsgegenstand an sich, durch den sich die Pflegewissenschaft von den anderen Wissenschaften unterscheidet – entscheidend ist, unter welchem Blickwinkel man das zu untersuchende Phänomen betrachtet. Die Alltagsbewältigung mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Lebensqualität von Menschen, die direkt oder indirekt von Krankheit betroffen sich, steht im Zentrum der Pflegewissenschaft. Die Fokussierung auf diesen Aspekt findet sich in keiner anderen Disziplin in gleicher Weise und macht das Besondere der Pflegewissenschaft aus. Die Bezugswissenschaften wie die Medizin, die Soziologie, die Psychologie, die Pädagogik, die Ernährungswissenschaft oder die Philosophie, welche die Pflege hinzuziehen kann, sind vielfältig. Die Pflegewissenschaft baut zum Teil auf Basiswissen aus diesen Bezugswissenschaften auf, geht aber nicht darin auf, sondern formt durch ihren Fokus ihren eigenen Gegenstand. Das originäre der Pflegewissenschaft sind die Frage sowie die Interpretation und Bewertung der Antwort. International betrachtet ist die traditionelle Verortung der Pflegewissenschaft, wenn sie nicht eine eigene Fakultät darstellt, an medizinischen oder (wenn auch in weniger Fällen) an sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Auch in Wien gab es in den Anfängen eine Debatte um die Verankerung. Die ersten Schritte des IDS konnten jedoch (durchaus aus pragmatischen Gründen)
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leichter im Rahmen der Sozialwissenschaften gesetzt werden. Da sich die Pflegewissenschaft gerade dann in einer Zeit der Trennung der Medizin von der Universität Wien zu etablieren begann, war die letztliche Verankerung an der Fakultät für Sozialwissenschaft naheliegend. Inhaltlich ist dies insofern bestens vertretbar, als Pflegewissenschaft durchaus als Teil der Sozialwissenschaften verstanden werden kann, da sie mit diesen, wie oben bereits erwähnt, die Konzentration auf die Interaktionsprozesse, d. h. auf das zwischenmenschliche Handeln, teilt. Weiters greift die Pflegewissenschaft gesellschaftlich relevante Fragestellungen auf. Immer jedoch in Bezug auf Pflege als Handlungsfeld. Gerade aber in Bezug zum Verhältnis zu den Sozialwissenschaften muss auch noch vermerkt werden, dass Pflege, zusätzlich zu den gesellschaftlichen und psychosozialen Problemdefinitionen, ganz wesentlich durch unmittelbaren Körperkontakt, einen vielfach intimen Umgang mit dem Körper und der Einwirkung über die taktile Ebene charakterisiert ist. Die spezifischen Implikationen des pflegerischen Interaktionsgeschehens können deshalb nicht ausreichend in einen sozialwissenschaftlichen, sondern nur in einem genuin pflegewissenschaftlichen Bezugsrahmen geklärt werden. Resümierend kann also festgehalten werden, dass Pflegewissenschaft in einem traditionellen Verständnis von Wissenschaft in manchen Belangen eine Besonderheit darstellt. Dies ist vor allem ihrem Gegenstandsbereich, der eng mit einem definierten Handlungsfeld verknüpft ist, geschuldet. Das Verständnis des Modus der »neuen Wissenschaften«, so wie sie von Nowotny et al. definiert werden, als stark kontextbezogen, transdisziplinär und mit deutlichem Bezug zu Zielgruppen und AnwenderInnen, ist eines, das für die Pflegewissenschaft und deren Art der Wissensproduktion einen passenden Rahmen darstellt. Die Verortung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät ist einerseits eine passende, da sich über das gemeinsame Interesse an der Interaktion und gesellschaftlichen Problemstellungen gemeinsame Anknüpfungspunkte in der Forschung herstellen lassen. Auch das Methodenrepertoire ist im Wesentlichen ein gemeinsames. Jedoch kann Pflegewissenschaft nicht als Sozialwissenschaft per se bezeichnet werden, da hier der körperliche und funktionsbezogene Aspekt vieler Fragestellungen nicht berücksichtigt werden könnte. Gerade aber das nicht unbedingte Einordnen Können in die traditionellen Sozialwissenschaften stellt nicht nur ein Problem dar, sondern kann durchaus an der ohnehin vielfältigen Fakultät eine Bereicherung darstellen, neue Zugänge zu Problemstellungen eröffnen, neue Methoden einbringen und das Spektrum transdisziplinärer Forschungsmöglichkeiten innerhalb der Fakultät erweitern.
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Rudolf Müllner und Otmar Weiß*
Von der Turnlehrerausbildung zur Sportwissenschaft
Einleitung Die Sportwissenschaft ist gemessen an anderen Disziplinen relativ jung. Ihre Entwicklung an der Universität Wien begann Mitte des 19. Jahrhunderts und war über weite Strecken des 20. Jahrhunderts durch ein zähes Ringen um akademische Anerkennung geprägt. Im vorliegenden Beitrag wird die inhaltliche und organisatorische Entwicklung der Sportwissenschaft in ihrer Verschneidung und Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen dargestellt. Den theoretischen Hintergrund bilden jene Kriterien, die den Entwicklungsstand einer wissenschaftlichen Disziplin bestimmen: Besteht erstens ein allgemeines Begriffsschema und wie ist der Stand der systematischen Theorie bzw. ist eine Integration vorhandener Theoriestücke erfolgt; sind zweitens theoretische Erkenntnisse zur Lösung praktischer Probleme verwertbar ; wie ist drittens der Stand der Institutionalisierung einer Disziplin, also z. B. seine Berücksichtigung in Lehrprogrammen an Universitäten und Schulen; stehen viertens systematische Einführungen in die Disziplin oder andere Lehrbücher zur Verfügung1? Die Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft dauert bis zum heutigen Tag an. Entscheidend waren die Jahre 1970 bis 2000, die durch eine breite Welle der Kommerzialisierung, Professionalisierung und Mediatisierung des Sports gekennzeichnet waren. In der Sportlandschaft der Zweiten Republik wurden die Verhältnisse des Jahres 1918 tatsächlich fast auf den Kopf gestellt. Zum Beispiel werden heute die letzten Reservate der einstigen Adelsvergnügungen wie Reiten, Jagen, Tennisspielen oder Segeln von fast allen Schichten und Gruppen der Bevölkerung betrieben.2 Sport avancierte zu einem
* Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport der Universität Wien. 1 Hammerich/Heinemann 1979: Texte, 7. 2 Norden 1998: Breitensport, 67 f.
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der bedeutendsten soziokulturellen Phänomene und eine wissenschaftliche Durchdringung wurde immer wichtiger.
Turnen und Turnlehrerausbildung an der Universität Wien bis zum Ersten Weltkrieg Der Ursprung der Sportwissenschaft an der Universität Wien liegt in der Turnlehrerausbildung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese startete jedoch nicht voraussetzungsfrei. Waren Ausbildung und körperliche Erziehung jahrhundertelang ein Privileg des Adels gewesen, so entwickelte sich im Zuge der Aufklärung respektive des aufgeklärten Absolutismus auch in Österreich allmählich ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer allgemeinen (Schul-)Bildung für alle.3 Gymnastik- oder Turnunterricht waren anfangs noch nicht intendiert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machten sich jedoch immer mehr Stimmen bemerkbar, die pro Gymnastik beziehungsweise pro Leibeserziehung argumentierten. Der einflussreichste Proponent einer erzieherisch-gesundheitsorientierten Gymnastik war der an der Wiener Universität lehrende Pädagoge Vinzenz Eduard Milde.4 Er war Priester, später sogar Erzbischof von Wien, und verband die auf Jean Jacques Rousseau fußende Tradition der philanthropischen Aufklärungspädagogik mit seiner katholischen Sozialphilosophie. Der Ursprung einer systematischen, rational begründeten Umsetzung von Gymnastik bzw. Turnen an der Universität Wien basiert auf einer privaten Initiative. Der preußische Turner Albert von Stephany,5 der die Theorie und Praxis des Deutschen Turnens an seinem Ursprungsort in Berlin bei Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Eiselen gelernt hatte, begründete und betrieb ab dem Frühjahr 1838 eine private orthopädische Anstalt, an der »medizinische und allgemeine Gymnastik« unterrichtet wurden. Nach Alberts Tod 1844 übernahm sein Bruder Rudolf6 dessen Agenden und setzte darüber hinaus im Jahr 1848 die Initiative zur Gründung einer eigenen universitären Turnanstalt. Am 24. September 1848 wurde per Erlass des Unterrichtsministeriums7 erstmals an der Universität Wien ein versuchsweiser Turnunterricht eingeführt. Rudolf von Stephany stellte zu diesem Zweck die Räumlichkeiten seiner Privatturnanstalt zur Verfügung und
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Burk/Fahrner 2013: Einführung, 15 f. Strohmeyer 1999: Beiträge zur Geschichte, 275 – 281. Auch »Stephani«, es finden sich beide Schreibweisen. Weiler 1975: Grundbegriffe, 155. Ebd., 105. Lukas 1888: Universitätsturnanstalt, 7.
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unterrichtete im Studienjahr 1848/49 erstmals 150, vom Universitätskonsortium (entspricht dem heutigen Senat) ausgesuchte Studierende. Ein hoher Bedarf an Turnlehrern entstand durch die Einführung des freiwilligen Unterrichtsfaches Gymnastik an Gymnasien und Realschulen im Jahr 1848. Von Anfang an war es ein zentrales Anliegen Rudolf von Stephanys, dass die Turnlehrer, Frauen waren noch nicht berücksichtigt, nicht nur mit dem praktischen Repertoire an Turnübungen vertraut, sondern auch »soweit pädagogisch gebildet sein sollen, um die Wechselwirkungen der körperlichen und geistigen Erziehung richtig zu verstehen.«8 Ein inhaltlich durchaus hoher Anspruch, den Rudolf von Stephany bis knapp vor seinem Tod konsequent verfolgte. Inhaltlich und methodisch war die Turnlehrerausbildung noch gering ausdifferenziert. Im Mittelpunkt stand das praktisch turnerische Können. Methodisch-didaktisch lehnte man sich stark an das bereits etablierte System von Adolf Spieß an.9 In den folgenden Jahren wurde das Turnen an diversen Schultypen der Habsburgermonarchie nach und nach für obligat erklärt – ein Prozess, der sich letztlich über den Zeitraum von 1869 bis 191210 dahin zog und der eine verstärkte Nachfrage nach Turnlehrern evozierte. Die Anforderungen aus dem schulischen Bereich waren Auslöser für die Ausarbeitung von Prüfungsvorschriften für das »Lehramt des Turnens an Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten« sowie für die Einrichtung von speziellen Turnlehrerbildungskursen an der Universität Wien mit 3. November 1871.11 Die Ausbildung erstreckte sich über vier Semester zu jeweils sechs Wochenstunden. Der Schwerpunkt lag auf den turnpraktischen Übungen, welche sowohl die Erhöhung der »eigenen Turnfertigkeit« als auch deren methodische Umsetzung vorsahen. Ein eigens definierter Theoriebereich sollte den Kandidaten Basiswissen im medizinisch-physiologisch-anatomischen Bereich vermitteln. Geschichte der Leibesübungen, Ordnungs- und Bewegungslehre sowie Systemkunde (nach Spieß und Jahn) komplettierten die Trias der theoretischen Ausbildung.12 Die Prüfung umfasste sowohl einen eigenen schriftlich-theoretischen als auch einen praktischen Teil.13 Die Prüfungskommissionen wurden vom Unterrichtsministerium eingesetzt und bestanden aus zwei Universitätsprofessoren14 der Anatomie und der Physiologie sowie dem Lukas 1888: Universitätsturnanstalt, 6. Krüger 1993: Geschichte der Leibeserziehung, 98 – 104. Strohmeyer 1999: Beiträge zur Geschichte, 105. In Graz und Lemberg wurden die Turnlehrerbildungskurse erst 1873, in Prag 1878 und in Krakau 1894 eingeführt. Thaller 1973: Leibeserziehung, 119 f. 12 Bernett 1986: Entwicklungsgeschichte, 227. 13 Lukas 1888: Universitätsturnanstalt, 29 – 33. 14 So war etwa der spätere Nobelpreisträger Univ.-Prof. Julius Wagner-Jauregg von 1897 – 1899 Vorsitzender der Prüfungskommission. Strohmeyer 1999: Beiträge zur Geschichte, 1066.
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Leiter des Ausbildungskurses. Damit erfüllte die Turnlehrerausbildung in Wien etwa gegenüber ähnlichen staatlichen Ausbildungen in Deutschland eine Vorreiterrolle. Sie war umfassender, differenzierter, gab dem medizinischen Bereich eine relativ große Bedeutung und war, was vor allem für ihre spätere Entwicklung als Wissenschaftsdisziplin bedeutend ist, an einer Universität angesiedelt. Die allmählich aufkommenden allgemeinen reformpädagogischen Strömungen, wie etwa die Spiel-, Kunst- oder die Arbeitsschulbewegung, sowie der immer populärer werdende britische Sport veranlassten das Unterrichtsministerium, die Turnlehrerausbildung weiter zu adaptieren. Dies führte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zu mehreren Reformschritten, deren wichtigster der Erlass einer neuen Prüfungsvorschrift für das Lehramt des Turnens an Mittelschulen am 30. Oktober 1913 war. Dieser Erlass führte zu einer weiteren inhaltlichen Differenzierung und erhöhte die Anforderungen an die Absolventen und Absolventinnen massiv. Er sah zwar nach wie vor nur eine viersemestrige Ausbildung vor, hob aber die zu absolvierende Wochenstundenzahl von sechs auf 16 bis 17 an. Vor allem der theoretische Anteil an Lehrveranstaltungen wurde, etwa durch die Hinzunahme von Vorlesungen aus Pädagogik, Psychologie, Hygiene und Orthopädie, vertieft. Psychologie und Pädagogik lasen die Professoren der philosophischen Fakultät. Der Praxisbereich wurde etwa um die Jugendspiele, Leichtathletik und Schwimmen erweitert.15 Der Erlass von 1913 sah weiters die formale Teilnahme von Frauen an der Ausbildung sowie die Aufwertung des Lehramtsfaches Turnen zu einem gleichwertigen kombinationsfähigen Studienfach vor. Was den wissenschaftlichen Stand der Turnlehrerausbildung anbelangt, gab es mehr oder weniger ambitionierte Versuche, die »Turnkunde« mit Hilfe theoretischer Reflexion zum Status einer »Turnwissenschaft«16 weiter zu entwickeln. Diese Versuche waren jedoch alle noch zu wenig elaboriert, wie etwa auch der misslungene Habilitationsantrag des »bedeutendsten Turntheoretikers in Österreich bis zum Ersten Weltkrieg«17, Jaro(slaus) Pawel aus dem Jahr 1884. Ein nennenswerter eigenständiger Forschungskorpus konnte bis 1914 noch nicht erarbeitet werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Wiener Turnlehrerausbildung bis zum Ersten Weltkrieg, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten, durch eine enge organisatorische und teilweise auch inhaltliche Bindung an die Universität charakterisiert war. Sie erfüllte im Sinne der Entwicklung zu einem Wissenschaftsfach eine Vorreiterfunktion. Der Beginn des Ersten Weltkrieges verzögerte jedoch das Wirksamwerden vieler bereits 1913 eingeleiteter Initiativen. 15 Ebd., 108. 16 Bernett 1986: Entwicklungsgeschichte, 227. 17 Strohmeyer 1999: Beiträge zur Geschichte, 151.
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Das Institut für Turnlehrerausbildung in der Zwischenkriegszeit Der Zeitraum von 1919 bis zum Beginn des »Austrofaschismus« ist vor allem durch zwei Personen – Dr. Karl Gaulhofer und Dr. Margarete Streicher – geprägt. Ihr pädagogisches Reformwerk ging unter der Bezeichnung »Natürliches Turnen« in die österreichische und internationale Fachliteratur ein. Der ausgebildete Biologie- und Mathematiklehrer Karl Gaulhofer war der einflussreichste Reformator sowohl der österreichischen Leibeserziehung im 20. Jahrhundert als auch der wichtigste Erneuerer der universitären Turnlehrerausbildung. Zusammen mit Margarete Streicher,18 die ebenfalls Biologielehrerin war, etablierte er das Natürliche Turnen, das die österreichische Sportpädagogik und den Schulsport bis in die 1970er Jahre nachhaltig beeinflusste. Die radikale Neupositionierung der Turnlehrerausbildung an der Universität Wien im Studienjahr 1924/25 ist nur in engem Zusammenhang mit diesem ganzheitlichen Bildungs- und Erziehungsprojekt zu verstehen. Das Natürliche Turnen stellte ein, an den kindlichen Bedürfnissen ausgerichtetes, synkretistisches Konzept dar, welches die endgültige Überwindung der rigiden Ordnungsübungen des 19. Jahrhunderts brachte. Ein Hauptverdienst von Margarte Streicher in diesem Kontext bestand in ihrem steten Bemühen um die Gleichstellung der weiblichen Leibesübungen. Trotz all dieser Fortschritte und unbestreitbaren Verdienste wohnte dem Reformwerk auch eine gewisse Ambivalenz inne, die eine kritische wissenschaftshistorische und ideengeschichtliche Analyse, die bis heute aussteht, dringend notwendig machen würde.19 Welches Spannungsfeld sich dabei auftut, zeigt sich etwa an der Mitgliedschaft Gaulhofers in der NSDAP20 und in rezenten Untersuchungsergebnissen, die ihn als einen der führenden Eugeniker der Zwischenkriegszeit darstellen.21 Organisatorisch stellte das Studienjahr 1924/25 ein Schlüsseljahr dar. In 18 Größing 1991: Margarete Streicher Leibeserziehung; Grössinger 1990: Margarete Streicher und der Nationalsozialismus. 19 König 1989: Körper – Wissen – Macht, 105 – 113. Vgl. vor allem das Kapitel »Leiborganisation contra Körpermaschine- Die ›natürliche‹ Körperbewegung in der Reformpädagogik« von Gaulhofer und Streicher. Im Übrigen ist Natürliches Turnen künstlich. Es ist so wie Sport kein Naturprodukt, sondern ein Kulturprodukt. 20 Rechberger 1999: Karl Gaulhofer, 109 – 122. 21 Brezinka 2000: Pädagogik, 824; Meyer 2008: Gene; Rathkolb 2013: Straßennamen. Gaulhofer äußerte sich in seinen sportwissenschaftlichen Schriften äußerst selten explizit politisch. Unmittelbar nach dem »Anschluss« 1938 formulierte er jedoch in einem programmatischen Artikel die Notwendigkeit »politischer Leibeserziehung«, in der »Zucht und Typus« grundlegend seien (Gaulhofer 1938: Politische Leibeserziehung, 2). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass bereits der seit Wintersemester 1924/25 geltende Studienplan am Institut für Turnlehrerausbildung im sechsten Semester die unverbindliche zweistündige Vorlesung »Sozial- und Rassenhygiene« vorsah. Strohmeyer 1999: Beiträge zur Geschichte, 120.
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diesem erfolgte die Umwandlung des 1913 eingerichteten Turnlehrerbildungskurses in ein eigenständiges »Institut für Turnlehrerausbildung«.22 Damit einher ging eine Fülle von formalen und inhaltlichen Erweiterungen und Veränderungen. So glich man die Studiendauer auf die in den anderen wissenschaftlichen Lehramtsfächern üblichen acht Semester zu je sechs bis dreizehn Wochenstunden an. Dies bedeutete eine entscheidende Vertiefung und Professionalisierung der Ausbildung sowohl in den theoretischen Fächergruppen (medizinisch-biologische, pädagogische Grundlagen, Systemkunde, Übungslehre, Turngeschichte) als auch im Praxisbereich (hinzu kamen etwa waffenlose Selbstverteidigung, Rasenspiele, Eis- und Skilauf sowie Schießen). Weiters mussten die Studierenden eine praktische Aufnahmeprüfung sowie die für alle Lehramtskandidatinnen und -kandidaten verpflichtenden Vorlesungen in Pädagogik, Psychologie und Philosophie und zusätzlich eine abschließende sogenannte Hausarbeit absolvieren.23 Somit war ein wichtiger Schritt zur Gleichstellung mit den übrigen Lehramtsfächern und in Richtung akademischer Vollanerkennung des Institutes getan. Was noch fehlte, waren eine Professur und das Recht, Dissertationen zu verfassen. Der Bestand an wissenschaftlichem Wissen24 schien Ende der 1920er Jahre jedoch noch nicht ausreichend zu sein. Selbst der wichtigste Proponent des Kampfes um akademische Anerkennung, Karl Gaulhofer, bewertete die Chance auf Einrichtung eines eigenen Ordinariats für »Theorie und Technik der Gymnastik« noch skeptisch, »da hiefür die Entwicklung des Faches noch nicht weit genug fortgeschritten schien. Dem Ansehen einer Universität entsprechend kann eine Lehrkanzel wohl erst dann errichtet werden, wenn auf einem Fachgebiete reiche wissenschaftliche Arbeit vorliegt. Heute würde ein solcher Schritt noch dem Widerstand akademischer Kreise begegnen; er ist auch nicht der wichtigste.«25 Insgesamt ist das Institut für Turnlehrerausbildung in jener Phase vorwiegend an Aufgaben und Fragestellungen der schulischen Leibeserziehung und noch kaum am modernen Phänomen Sport orientiert. Obwohl der moderne »britische« Sport vor allem im urbanen Wien immer breitere soziale Schichten erfasste – zu denken ist etwa auch an die Arbeitersportbewegung oder den bereits die (männlichen) Massen mobilisierenden Wiener Fußball – , ist das Institut für Turnlehrerausbildung sowohl personell als auch inhaltlich immer noch überwiegend in den Traditionslinien der Deutschen beziehungsweise der Christlich-Deutschen Turnbewegungen verhaftet.26 22 23 24 25 26
In Innsbruck und Graz vollzog man die Umstellung erst im Studienjahr 1926/27. Strohmeyer 1999: Beiträge zur Geschichte, 110 – 112. Stichweh 2013: Wissenschaft, 17. Gaulhofer 1927: Turnlehrerausbildung, 21 f. Das zeigt sich sowohl im Studienplan, in dem der Begriff Sport im Gegensatz zu Turnen oder Leibesübungen noch keinerlei Erwähnung findet, also auch in den Biographien der ein-
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Der bald darauf folgende »Austrofaschimus« war auch nicht dazu angetan, die wissenschaftlich-theoretische Auseinandersetzung mit Bewegung und Sport entscheidend voranzutreiben. Im Gegenteil, mit dem Hochschulermächtigungsund dem Hochschulerziehungsgesetz 1935 wurden die Universitäten in den Dienst des Ständestaates gestellt. Die Studierenden sollten sich mit Hilfe eines »mit paramilitärischen und ideologischen Pflichtübungen durchsetzten Studienbetriebes«27 in die verordnete »vaterländische Gemeinschaft« einfügen. Im Wintersemester 1935/36 wurde die vormilitärische Jugenderziehung (für Männer) eingeführt. Die Sinnhaftigkeit dieser vormilitärischen Ausbildung im leibeserzieherischen Kontext wurde dabei weder von den deutschnationalen noch von den vaterländischen Institutsangehörigen hinterfragt. Stattdessen versuchte man sich, so scheint es, in der beflissenen Verwendung einschlägiger Begriffe wie »Wehrhaftigkeit«, »Opfermut«, »Sehnsucht nach Führertum«, »Abhärtung«, »Opferwille«, »Willensschulung«, »Zucht« usw. zu übertreffen.28 Konsequent daran anschließend erließ das Bundeministerium für Unterricht am 1. Juli 1937 eine Schießausbildung für die beiden obersten Klassen der mittleren Lehranstalten. Die Durchführung der Schießausbildung oblag den Turnlehrern. Die Schießausbildung der männlichen Lehramtskandidaten wurde am Wiener Institut eingerichtet. Die austrofaschistischen Hochschullager der Jahre 1936 und 1937 mit ihrer vormilitärischen Ausbildung und ihren politischen Disziplinierungs- und Militarisierungsmaßnahmen standen damit inhaltlich und ideologisch in engem Zusammenhang. Obwohl die »sportlich-militärische Grundausbildung« im Rahmen dieser Hochschullager eine bedeutende Funktion hatte, war das Institut für Turnlehrerausbildung der Universität Wien nicht mit der Durchführung dieser Kurse beauftragt. Es gab allerdings personelle und inhaltliche Verbindungen zu den austrofaschistischen Hochschullagern. So agierte etwa der am Wiener Institut für Turnlehrerausbildung mit der Lehrveranstaltung »Einführung in die vormilitärische Jugenderziehung (Männer) (abgehalten von Wintersemester 1935/36 bis Wintersemester 1937/38) beauftragte Offizier Oberleutnant29 Edwin Liwa als Lagerführer des Hochschullagers Stift Ossiach in Kärnten.30 Ebenfalls zu nennen ist in diesem Zusammenhang das richtungsweisende Standardwerk »Handbuch der vormilitärischen Jugenderziehung« (1936) der beiden Institutsangehörigen Wolfgang Burger und Hans Groll. Um
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flussreichen Lehrpersonen, die mit Ausnahme von Margarte Streicher durchgängig in einem der weltanschaulich ausgerichteten, turnerischen Lager sozialisiert wurden. Müllner 2011: Perspektiven, 124 – 212 und vor allem 134. Lichtenberger-Fenz 2004: Österreichs Universitäten, 74. Müllner 2011: Perspektiven, 142. Ab Wintersemester 1937/38 Hauptmann Liwa. Müllner 2011: Perspektiven, 141; Ehs 2013: Neue Österreicher, 257; Schlosser 2012: Institut für Turnlehrerausbildung, 107.
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allgemein eine Vorstellung von der Größe und Bedeutung des Institutes im Zeitraum von 1934 bis 1938 zu bekommen, seien zwei Zahlen angeführt: Die Zahl der Lehrbeauftragten pro Semester bewegte sich zwischen acht und dreizehn Personen;31 die durchschnittliche Zahl der Absolventinnen und Absolventen pro Semester betrug achtzehn.32
Das Hochschulinstitut für Leibesübungen 1938 – 1945 Der Nationalsozialismus vollzog eine bis dahin nicht bekannte radikale quantitative und qualitative Aufwertung des Sports. Im Schlagwort vom »Volk in Leibesübungen« verdichten sich die leitenden Ideologeme nationalsozialistischer Sportpolitik, die an rassistischen und militaristischen Vorgaben orientiert waren. Auf der Ebene der Sportpraxis dokumentiert sich die Aufwertung der Leibesübungen beispielsweis in einer starken Erhöhung der Unterrichtsstunden an Schulen. Den Hochschulinstituten für Leibesübungen kam in der Umsetzung der sportideologischen Vorgaben eine Schlüsselfunktion zu. Die Hochschullehrer und -lehrerinnen an den Instituten fungierten als zentrale Legitimationsinstanzen bei der pädagogisch-didaktischen Umsetzung des nationalsozialistischen Sports. Mit dem »Anschluss« 1938 wurde dementsprechend auch das Wiener Institut für Turnlehrerausbildung inhaltlich, organisatorisch und personell radikal umgestaltet und der Reichsdeutschen Hochschulsportordnung von 1934 unterworfen. Als kommissarischer Leiter des nunmehrigen »Hochschulinstituts für Leibesübungen« (HIfL) wurde der Mediziner und illegale Nationalsozialist Dr. Karl Schindl eingesetzt.33 Die Subgliederung sah fünf Abteilungen vor. Den größten Einschnitt stellte sicher die Einrichtung der Abteilung »1. Grundausbildung der Studierenden« dar, in der ein dreisemestriger Pflichtsportbetrieb für alle Studierenden der Wiener Hochschulen und Universitäten organisiert werden musste. Verpflichtender Sport war ein Basiselement der Ideologie des »Volkes in Leibesübungen«, dem sich niemand entziehen können sollte. »Sportpflicht muss aber wirklich das gesamt Volk erfassen. […] (sie, die Sportpflicht) geht weiter als die Ausbildung durch militärischen Dienst«, heißt es dazu in der im Nationalsozialismus stark rezipierten Pro31 In der Personalpolitik des Institutes vollzieht sich 1934 sofort ein deutlicher Schwenk in Richtung des christlich-konservativen Lagers. So werden mit Adalbert Slama, Ernst Hampel, Rudolf Otepka und Gottfried Lerch gleich vier neue Lektoren eingestellt, die eindeutig der vaterländischen Gesinnung verpflichtet sind. Müllner 2011: Perspektiven, 134. 32 Ebd., 135. 33 Zur komplexen Aktenlage die Illegalität Dr. Schindls betreffend sowie zu seinem Registrierungsverfahren nach 1945 vgl. ebd., 175 – 180.
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grammschrift »Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee«.34 Damit zählte das Wiener HIfL zu den größten im Deutschen Reich. Eine Besonderheit Wiens war es, dass der Pflichtsport – auch für die vielen Versehrten – radikal und konsequent bis zum Kriegsende durchgehalten wurde. Der Systemwechsel 1938 brachte neben dem Austausch eines großen Teils des Lehrpersonals35 das Boxen als neues Ausbildungsfach. In wissenschaftlicher Hinsicht ist die Habilitation Erwin Mehls 1941 mit der letztendlich heftig umstrittenen Veniabezeichnung »Pädagogik der Leibesübungen« zu erwähnen. Er, wie beinahe alle am HIfL tätigen Lehrbeauftragten, wurden vom Dienst enthoben.
Das Institut für Leibeserziehung Mit dem Beginn der Lehrerausbildung 1946 in Wien wurde das HIfL kurzfristig in das »Zentralinstitut für Körperbildung« umgewandelt. Daraus entstand die »Bundesanstalt für Leibeserziehung« (BAFL) mit sechs Abteilungen – Institut für Leibeserziehung der philosophischen Fakultät der Universität Wien, Lehrerfortbildung, Sportlehrerausbildung, Lehrwarteausbildung, Universitätsturnanstalt und sportärztliche Untersuchungsstelle. 1957/58 löste die Universitätsturnanstalt ihre nominelle Bindung von der BAFL, jedoch kamen mit der Dokumentations- und Informationsstelle (1953), dem Skilehrwesen (1957), mit Leistungssport und Trainerausbildung (1958) sowie Jugend und Sport (1966) weitere Abteilungen hinzu. Mit der Übersiedlung in das neu errichtete Universitätssportzentrum auf der Schmelz im Jahr 1973 wurden folgende voneinander unabhängige Institutionen eingerichtet: »Institut für Leibeserziehung der Universität Wien«, »Bundesanstalt für Leibeserziehung«, »Universitätsturnanstalt« und »Österreichisches Institut für Sportmedizin«. Die Genese des Instituts für Leibeserziehung ist untrennbar mit dem Wirken von Hans Groll verbunden. Er war nach dem Zweiten Weltkrieg der Mann der Stunde, wenn es darum ging, das Ansehen der Leibeserziehung neu zu begründen. Gegen das Misstrauen und die Ablehnung der bereits arrivierten traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen gelang es ihm gemeinsam mit Ludwig Prokop, eine neue, in Österreich noch nicht anerkannte, Disziplin zu etablie34 Malitz 1934: Leibesübungen, 53. 35 1938 wurde am HIfL in Wien zwei Drittel des Personals ausgewechselt. Lediglich vier Personen, nämlich Erwin Mehl, Margarete Streicher, Karl Kopp sowie Elise Dücker behielten ihre Anstellungen. Der wohl prominenteste »Abgang« war der, dem katholische Lager zugerechnete junge Assistent Hans Groll. Paradigmatisch vgl. dazu die Fallstudien über Erwin Mehl, Karl Schindl und über den »Protagonisten aus der zweiten Reihe« Karl Kopp. Müllner 2011: Perspektiven, 147 – 211.
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ren.36 Sein Habilitationsverfahren dauerte vier Jahre (1953 – 1957; Venia: »Pädagogik der Leibesübungen«).37 Groll war ab 1946 Leiter der BAFL und fachlicher Leiter des Instituts für Leibeserziehung.38 1968 wurde er zum außerordentlichen und 1969 zum ordentlichen Universitätsprofessor berufen. 1969 bis 1975 war er Institutsvorstand. Groll leistete immense Aufbauarbeit. Seine Persönlichkeit und der neue demokratische Zeitgeist ermöglichten ihm den Marsch durch die Institutionen in eigener Sache und für die Sache der Leibeserziehung. Er schuf wesentliche wissenschaftstheoretische und organisatorische Voraussetzungen, die für die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft in Wien notwendig waren. Zum Beispiel nahm er den Wechsel zum Terminus Sport vorweg und war maßgeblich an den Planungen des neuen Universitätssportzentrums beteiligt.
Sportwissenschaft Die Modernisierung Österreichs in den 1970er Jahren brachte den Wohlfahrtsstaat und umfassende Sicherheit. Die Freizeit vermehrte sich und die Rolle des Sports in der Gesellschaft wurde immer wichtiger. Der Ausbau und die Öffnung der Universitäten manifestierten sich ebenso im Bereich der Sportwissenschaft. Durch die Errichtung von Professuren in Graz, Innsbruck, Salzburg und Wien kam Sport auch in den Fokus der Wissenschaft. In Wien wurde das »Institut für Leibeserziehung« 1977 in »Institut für Sportwissenschaften« und 1999 in »Institut für Sportwissenschaft« umbenannt. Unter Sport verstand man ursprünglich den Englischen Sport. Dieser entstand im England des 18. und 19. Jahrhunderts. Er unterschied sich von den früheren und gleichzeitig praktizierten Formen der Leibesübungen und Spiele durch die Prinzipien (formale) Chancengleichheit, Leistung, Konkurrenz und Rekorde sowie, daraus folgend, durch wachsende Rationalisierung, präzise Normierung und Bürokratisierung. Damit entsprach er der entstehenden Industriegesellschaft. Gefördert durch die weltweite Präsenz des britischen Empire und die modernen Olympischen Spiele verbreitete sich der Englische Sport international. Dabei kam es zu einer von ihm dominierten Verschmelzung mit den beiden anderen Hauptsystemen moderner Leibesübungen, nämlich dem Deutschen Turnen (in Österreich auch mit dem Natürlichen Turnen) und der Schwedischen Gymnastik, und zu einer Ausweitung des Begriffsverständnis36 Prokop 1975: Konsens, 229. 37 Brezinka 2000: Pädagogik, 861. 38 Hier sei folgendes Kuriosum erwähnt: Institutsvorstand war von 1946 bis 1954 der Zoologe Wilhelm Marinelli und von 1954 bis 1969 der Philosoph Leo Gabriel.
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ses.39 So ist Sport in modernen Gesellschaften zu einem festen Bestandteil der Alltagskultur vieler Menschen geworden, sei es in Form der aktiven Teilhabe am immer vielfältigeren Sportangebot, sei es als Besucher von Sportveranstaltungen oder als Konsument des gewaltig angewachsenen Mediensports. Heute fasziniert Sport weltweit Milliarden Menschen und stellt für viele einen Religionsersatz dar. Er erscheint als Ideal der Gesellschaft, weil in ihm die Eigenleistung des Menschen sichtbar ist und zählt.40 Vor diesem Hintergrund entwickelten sich die Subdisziplinen der Sportwissenschaft, die ihren Ausgangspunkt in der jeweiligen Mutterwissenschaft hatten. Es wurden gegenstandsangepasste, also sportpädagogische, -physiologische, -biomechanische, -soziologische, -psychologische, -ökonomische etc. Methoden entwickelt, um zu empirisch abgesicherten Aussagen zu gelangen. Sportwissenschaft wurde zu einer auf Theoriebildung basierenden, empirischen Disziplin, die zunehmend als Querschnitts- und Integrationswissenschaft begriffen wurde und wird. Die Singularverwendung bezieht sich auf den projektiven Charakter des Begriffs Sportwissenschaft, nämlich die Sicht auf den Sport als einen Forschungsbereich, der unter den Aspekten verschiedener (Sub-) Wissenschaften untersucht wird.41 Ferner steht Sportwissenschaft für ein Programm im Sinne einer integrierenden Wissenschaft, in der relevante Erkenntnisse und Know-how anderer Disziplinen (Anthropologie, Medizin, Informatik etc.) einfließen und unter spezifischen Fragestellungen verarbeitet werden. Die Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft in Subdisziplinen ist deshalb so wichtig, weil dadurch die zunehmende Komplexität des Sports am besten darstellbar ist und seine Erforschung aus verschiedenen Perspektiven erfolgen kann.
Professionalisierung Nach dem plötzlichen Tod Grolls 1975 war bis 1991 der Doyen der österreichischen Sportmedizin, Ludwig Prokop, Institutsvorstand. Auch er hatte eine mühevolle akademische Laufbahn.42 Trotz der mangelnden Anerkennung des Sports im universitären Bereich43 gelang es ihm 1953, sich für Sportphysiologie 39 40 41 42 43
Strohmeyer 1983: Modernisierung, 8 f. Weiß 1990: Sport und Gesellschaft, 9. Grupe 1971: Einleitung, 17. Prokop 1975: Konsens, 229. Während der Sport im deutschsprachigen Raum seinen Platz mehr im Verein als im Schulund Universitätswesen gefunden hat (hauptsächlich aufgrund der neuhumanistischen Bildungstradition, die sportfeindlich war), ist er zum Beispiel in den USA ein zentraler Bestandteil des Bildungssystems und wird seit alters von den Colleges organisiert.
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zu habilitieren. 1974 wurde er ordentlicher Universitätsprofessor. Ab 1946 leitete er die sportärztliche Untersuchungsstelle der BAFL, deren Aufgaben in das 1969 von ihm gegründete Österreichische Institut für Sportmedizin übergingen. 1978 wurde das Studienangebot auf den außerschulischen Sport erweitert, die Studienzweige Sportmanagement, Prävention/Rekreation und Trainingswissenschaft wurden eingeführt. 1981 wurde Herbert Hatze auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Biomechanik berufen. Die vierte und bislang letzte Professur (1992 – 2000 Extraordinariat und seither Universitätsprofessur für Sportsoziologie) erhielt Otmar Weiß. Auf Grolls Lehrstuhl folgte 1975 Raimund Sobotka und nach diesem 1999 Michael Kolb. Norbert Bachl übernahm 1991 die Professur von Prokop und dessen Leitung des Österreichischen Instituts für Sportmedizin. Nachfolger Prokops als Institutsvorstand waren Sobotka von 1991 bis 1994, Bachl von 1994 bis 2010 und Arnold Baca seit 2010. Mit Baca erfolgte 2008 die Nachbesetzung der Professur von Hatze, der 2002 verstorben war. Die Einrichtung von Professuren sowie die Ausbildung von Studierenden für den außerschulischen Sport zog eine Aufwärtsdynamik der Absolventenzahlen nach sich (vgl. Abb. 1)44 und führte zu einer Intensivierung von Lehre und Forschung. »It has been noted above that staff are very energetic in their academic pursuits. They are clearly pressed by a complex teaching programme, yet manage to develop and sustain substantial research programmes.«45 Es kam zu einer regen Publikationstätigkeit, ebenso wurden Lehr- und Einführungsbücher verfasst. In Bezug auf die eingangs skizzierten Kriterien befindet sich die Sportwissenschaft noch im Stadium der Definition und Begriffsbildung. Sie hat zwar Theoriestücke integriert, aber noch nicht den Stand einer systematischen Theorie erreicht. Mit zunehmender Professionalisierung trägt sie vermehrt zur Lösung praktischer Probleme des Sports bei. Nicht zuletzt aufgrund der großen Bedeutung des Sports in der Gesellschaft ist es nicht ausreichend, nur auf bestehende sportwissenschaftliche Strukturen zu vertrauen. Die Sportwissenschaft befindet sich nach wie vor im Aufbruch sowie im Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung. Eine kontinuierliche und progressive weitere Ausdifferenzierung und Stärkung der Subdisziplinen der Sportwissenschaft in Kooperation und Vernetzung mit Institutionen der Wirtschafts- und Technikentwicklung sowie mit anderen Wissenschaftsdisziplinen erscheint notwendig, weil dadurch der Stellenwert und die Identität der Disziplin Sportwissenschaft nachhaltig geprägt werden würden. Die Rolle der Sportwissenschaft kann gar nicht wichtig genug eingeschätzt
44 Die Schwankungen resultieren aus den mehrfach geänderten Studienzweigen und -plänen. 45 Brandl-Bredenbeck et al. 2007: Evaluation, 4.
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werden, zumal Erfindungen und Innovationen im Sport mitunter weltweite Industrien und Entwicklungen beeinflussen.
Abbildung 1: Absolventinnen und Absolventen des Instituts für Sportwissenschaft46
Die sich dramatisch verändernde Sozialstruktur in Europa hat massive Auswirkungen auf den Sport in Zusammenhang mit Politik, Wirtschaft, Recht, Ethik usw. und bedarf der sportwissenschaftlichen Forschung, wobei größere Institute für Sportwissenschaft wie jenes an der Universität Wien besonders herausgefordert sind. Angesichts der Gleichzeitigkeit von Globalisierung und kultureller Differenzierung in Europa wäre es wichtig, die internationale Zusammenarbeit in der Sportwissenschaft besonders zu fördern und interkulturelle Vergleichsstudien, die für die Analyse des kulturellen und sozialen Phänomens Sport besonders gut geeignet sind, zu initiieren. Die Bedeutung der Sportwissenschaft steigt und fällt mit der Entwicklung ihrer Subdisziplinen. Je höher der Professionalisierungsgrad der einzelnen Subdisziplinen ist, umso besser können sie sich gegenseitig befruchten und Antworten auf Fragen und Probleme des Sports geben. Daher wird der künftige Stellenwert der Sportwissenschaft an der Universität Wien davon abhängen, inwieweit es gelingt, die Abteilungen (Subdisziplinen) des Instituts für Sportwissenschaft zu verstärken und auszubauen.
46 Quellen: Leibesübungen – Leibeserziehung 9/10 (1971); Österreichische Hochschulstatistik 1971 bis 2012; Datawarehouse Hochschulbereich des bmwf.
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Zusammenfassung Die Sportwissenschaft baut inhaltlich und institutionell auf der Turnlehrerausbildung des 19. Jahrhunderts auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich »Turnen« – im Sinne von Friedrich Ludwig Jahn – allmählich in den meisten Schulformen. Das erzeugte einen erhöhten Bedarf an der Ausbildung von Turnlehrern. 1871 wurde daher an der Universität Wien erstmals ein viersemestriger Turnlehrerbildungskurs eingerichtet. Den Frauen war die Ausbildung erst ab 1913/14 zugänglich. Mit der Gründung des »Instituts für Turnlehrerausbildung« 1924/25 gelang die quasi Gleichsetzung der akademischen Turnlehrerausbildung mit den übrigen Lehramtsfächern. Im März 1938 wurde die Turnlehrerausbildung nach den Vorgaben der Reichsdeutschen Hochschulsportordnung ausgerichtet. So wie der Umbruch 1938 einen harten Schnitt in der Personalstruktur und einen Elitenaustausch brachte, erfolgte 1945 ein personeller und inhaltlicher »Rückbruch« in die Erste Republik. Die eigentliche Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft erfolgte nach 1945 und verlief in den Jahren 1970 bis 2000, analog zur Differenzierung und Diversifikation des Sports, besonders rasant. Am »Institut für Sportwissenschaft« wurden vier Professuren eingerichtet. Mit der Errichtung des Universitätssportzentrums (USZ I 1974 und USZ II 1994) auf der Schmelz wurde der expansiven Entwicklung der neuen wissenschaftlichen Disziplin Sportwissenschaft auch baulich Rechnung getragen.
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Gilbert Norden, Christoph Reinprecht und Ulrike Froschauer*
Frühe Reife, späte Etablierung: Zur diskontinuierlichen Institutionalisierung der Soziologie an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis
Am 31. März 1946 wurde der gebürtige Wiener und promovierte Staatswissenschafter August M. Knoll (1900 – 1963) zum Extraordinarius für Soziologie an der Universität Wien ernannt1, nachdem er sich hier 1934 mit einer Studie »Der Zins in der Scholastik« für Sozialphilosophie habilitiert und als Privatdozent unterrichtet hatte. Die Dozententätigkeit inkludierte Vorlesungen zur »weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung«, deren Besuch für inländische Studierende aller Studienrichtungen gemäß dem Hochschulerziehungsgesetz 1935 verpflichtend war. Seine diesbezüglich letzte Vorlesung war vier Tage vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1938 dem Thema »Ideengeschichte des neuen Österreich« gewidmet, ehe er von der Universität fristlos entlassen wurde (Knoll 1996, 394). Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft 1945 als Privatdozent wiedereingestellt, ging Knoll mit Eifer sowohl an seine Lehrveranstaltungen »Philosophie und Gesellschaftslehre« und »Soziologische Übungen«, als auch an seine Forschungen im Bereich der Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit und seine Beteiligung am Wiederaufbau des Universitätsbetriebes wurden mit der besagten Ernennung zum Extraordinarius und schließlich am 24. Jänner 1951 zum Ordinarius für Soziologie an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien belohnt. Das für ihn geschaffene Ordinariat war das erste, ausschließlich der Soziologie gewidmete Ordinariat in Österreich überhaupt. Seiner – verglichen mit anderen Ländern – relativ späten Einrichtung war eine lange und wechselvolle Vorgeschichte des Faches an der Alma Mater Rudolphina vorausgegangen. Diese Vorgeschichte soll im Folgenden kurz dargestellt werden, bevor die weitere Entwicklung der Soziologie an der Wiener Universität skizziert wird.
* Institut für Soziologie der Universität Wien. 1 Personalakt J PA 335, Archiv der Universität Wien.
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Soziologie bis 1945: Entwicklungsstränge und historische Verwerfungen Soziologie meint die Lehre von der Gesellschaft oder vom sozialen Handeln. Als eigenständige Disziplin hat sie sich erst allmählich aus anderen Wissenschaften herausgelöst. Dabei lassen sich vor allem zwei Entwicklungsstränge unterscheiden: Zum einen die Herauslösung aus der Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaft, zum anderen die Ablöse von philosophischen Fächern. Beginnen wir mit dem ersten Entwicklungsstrang. Als Ausgangspunkt desselben könnte man die Errichtung einer Professur für Kameralwissenschaft an der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät 1763 wählen. Unter Kameralwissenschaft ist eine enzyklopädische Staatswissenschaft, eine umfassende Verwaltungs- und Wirtschaftslehre im Zeitalter des Absolutismus, zu verstehen. Die Vertreter dieser Lehre entwarfen in ihren Schriften nicht nur ein Wirtschafts-, sondern auch ein Gesellschaftsbild (Rosenmayr 1966, 271). In besonderem Maße traf dies auf den letzten Vertreter dieser Richtung, Lorenz v. Stein (1815 – 1890), zu. Der aus Norddeutschland stammende Gelehrte verfasste 1856 – ein Jahr nach seiner Berufung nach Wien – als zweiten Band seines »Systems der Staatswissenschaft« eine »Gesellschaftslehre«, die Überlegungen zur Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat sowie eine Theorie der sozialen Bewegung enthielt. Stein war im Zuge einer deutsche Gelehrte bevorzugenden Berufungspolitik auf den Lehrstuhl für Politische Ökonomie berufen worden (Knoll/Kohlenberger 1994, 50). In Weiterführung dieser Politik wurde 1868 auf einen gleichnamigen Lehrstuhl Albert Schäffle (1831 – 1903) aus Tübingen berufen. Schäffle befasste sich in Wien mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu stellte er zwei Gesellschaftsentwürfe vor, ein Organismusmodell und ein Organisationsmodell (ebd., 68). Dadurch wirkte er für die entstehende Soziologie in Wien anregend, obwohl er hier nur drei Jahre lehrte. Stein hingegen lehrte hier drei Jahrzehnte. Dementsprechend groß war die Zahl der Hörer, die er ausbildete. Einer davon, Eugen v. Philippovich (1858 – 1917), wurde sein indirekter Lehrstuhlnachfolger und entwickelte sich zu einem der wenigen »Katheder-Sozialisten« an der Wiener Universität. So führte er sozial engagierte Studien zu den Arbeits- und Lebensverhältnissen von Lohnarbeiterinnen und zum Wohnungselend in Wien durch. Dabei bediente er sich – wie es Stein für die Gesellschaftswissenschaft gefordert hatte – der Statistik und wurde so zu einem Vorläufer der quantitativen empirischen Sozialforschung in Österreich. Nach seinem Tod übernahm Max Weber (1864 – 1920), der »Gründervater« der deutschen Soziologie, probeweise den verwaisten Lehrstuhl für Politische Ökonomie. Im Rahmen des »Probekollegs« hielt er im Sommersemester 1918 eine Vorlesung »Wirtschaft und
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Gesellschaft«. Die Vorlesung, die den erläuternden Untertitel »Positive Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung« trug, hatte große Resonanz: »Seit den Tagen von Unger, Lorenz v. Stein und Jhering«, schrieb das Neue Wiener Tagblatt, »hat noch kein akademischer Lehrer an der Wiener juristischen Fakultät so viele Hörer um sich versammelt wie Max Weber«.2 Neben dieser Vorlesung vor großer Zuhörerschaft hielt Weber, der eine handlungstheoretische Fundierung der Soziologie vertrat und Ende des Semesters Wien wieder verlassen sollte, ein »Soziologisches Kolloquium mit Absolvierten und reiferen Hörern«.3 Die Lehrveranstaltungen Webers waren Teil einer ersten Serie fakultärer Lehrveranstaltungen, die im Titel eine soziologische Kennzeichnung enthielten. Den Anfang dieser Serie machte Edmund Bernatzik 1896, indem er seine Vorlesung »Geschichte der Rechtsphilosophie mit besonderer Berücksichtigung der politischen Theorien« im Titel um »soziale Theorien« erweiterte. Er wiederholte dann die Vorlesung bis zu seinem Tode 1919 jedes Sommersemester und las zudem ab 1907/08 jedes Wintersemester »Allgemeine Staats- und Gesellschaftslehre«. Sein Fachkollege Hans Kelsen las ab 1911/12 wiederholt »Allgemeine Staatslehre, mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie«; Fakultätskollege Josef Schumpeter 1909 »Die Entstehung und die bisherigen Leistungen der wissenschaftlichen Soziologie«. Schumpeters Lehrer, der Mitbegründer der »Wiener Schule der Nationalökonomie« Friedrich v. Wieser, bot ab 1907/08 wiederholt »Gesellschaft und Volkswirtschaft« an. Für derartige Angebote wurde im Vorlesungsverzeichnis ein eigenes Unterkapitel »Gesellschaftslehre« angelegt. Dieses Unterkapitel bestand zunächst aus jeweils nur einer oder zwei Eintragungen, bevor sein Umfang in der Zwischenkriegszeit deutlich zunahm. Die Zunahme war nicht zuletzt Folge des Vordringens der »Gesellschaftslehre« als nunmehr eigenständiges Fach in den staats- und rechtswissenschaftlichen Studienordnungen (ab 1926 bzw. 1935 Pflichtfach). In diesem Fach wurden soziologische Theorien gelehrt. Zu den frühen Lehrern zählte der Theoretiker des Austro-Marxismus Max Adler (1873 – 1937), dem es in der politischen Umbruchsituation 1919 gelungen war, sich für Gesellschaftslehre zu habilitieren. Dies mit Unterstützung von Hans Kelsen, gegen große Widerstände konservativer universitärer Kreise, die wiederum mit der Berufung Othmar Spanns (1878 – 1950) als Nachfolger von Philippovich auf dem nunmehrigen Lehrstuhl für Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre im selben Jahr eine nachhaltige Stärkung erfuhren. Während Adler als ab 1921 tit. ao. Professor universitär an den Rand gedrängt wurde, wirkte Spann schulbildend (Fleck 1987, 2 Neues Wiener Tagblatt, Jg. 52, Nr. 190, 16. Juli 1918, S. 3, vgl. Girtler 2013, 63 ff. Josef Unger und Rudolf von Jhering zählten zu den bedeutendsten Juristen des 19. Jahrhunderts. 3 Diese und die folgenden Angaben zum Lehrangebot stammen aus dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien. Die in der Frühzeit mitunter anzutreffende Schreibweise »Sociologie« wurde durch die heute gängige ersetzt.
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189 ff.). In seinen Lehrbüchern entwickelte er eine vom Katholizismus beeinflusste universalistisch-idealistische Gesellschaftslehre, die sich gegen Rationalismus, Liberalismus und Marxismus richtete. Dabei griff er auf organismustheoretische Überlegungen Schäffles zurück und forderte die Neuordnung des Staates auf berufsständischer Grundlage: Die Hierarchie der Stände ergebe den »wahren Staat«. Mit solchen Gedanken und seiner blendenden Rhetorik vermochte Spann zahlreiche Schüler um sich zu sammeln. Von diesen wurden unter seiner Ägide für Gesellschaftslehre habilitiert: Jakob Baxa 1923, Wilhelm Andreae 1925, Johann Sauter 1927, Erich Voegelin 1928 und Hermann Roeder 1933. Baxa, Sauter und Voegelin avancierten später zu tit. ao. Professoren, die beiden letztgenannten für Staatslehre und Soziologie, Sauter auch für Rechtsphilosophie. Alle drei zuletzt genannten wurden nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1938 aus dem Lehrkörper entfernt. Spann wurde durch Adolf Günther (1881 – 1958) ersetzt, der Ordinarius für Politische Ökonomie, Statistik und Soziologie an der Universität Innsbruck gewesen war. In Wien wurde Günther in seiner Lehrtätigkeit von Walther Schienerl unterstützt, der 1943 die Lehrbefugnis für Soziologie erlangte. Schienerl sollte seine Lehrtätigkeit nach 1945 fortsetzen, wohingegen Günther seines Amtes enthoben wurde; wie auch Arnold Gehlen (1904 – 1976), seit 1940 Professor für Philosophie in Wien und zugleich Vertreter einer durch Ergebnisse der philosophischen Anthropologie fundierten Soziologie. Damit sind wir bei der Entwicklung der Soziologie an der Philosophischen Fakultät. Hier waren es zunächst Philosophen, Historiker und Psychologen, die von ihren jeweiligen Arbeitsbereichen aus soziologische Perspektiven entwickelten und entsprechende Vorlesungen anboten. So boten in den letzten Jahrzehnten der Monarchie an: – Adolf Stöhr : »Psychologische Einleitung in das Studium der Soziologie« (Sommersemester 1892 und 1894), »Ausgewählte Capitel der Philosophie (… psychologische Grundlegung der Soziologie)« (von 1894/95 bis 1904/05 jedes Wintersemester), mit in Klammern gesetztem Zusatztitel »die methodisch wichtigsten Publikationen der soziologischen Literatur« (Wintersemester 1895/96); – Ludwig Hartmann: »Einleitung in eine historische Soziologie« (Sommersemester 1895 und Wintersemester 1903/04), »Einführung in die soziologische Geschichtsbetrachtung« (Wintersemester 1906/07), »Soziologische Grundlagen der Politik« (Wintersemester 1913/14), »Historisch-soziologische Zeitfragen« (Wintersemester 1914/15); – Emil Reich: »Herbert Spencer als Sociolog (sic!) und Ethiker« (Sommersemester 1897), »Grundzüge der Soziologie« (Sommersemester 1900), »Über psychologische und soziologische Ästhetik« (Sommersemester 1902), »So-
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ziologische Ästhetik erläutert an Ibsens Dramen« (Sommersemester 1907, später mehrfach wiederholt), »Soziologie in ihren Beziehungen zur Ästhetik, Ethik und Pädagogik« (Sommersemester 1909, später unter ähnlichem Titel wiederholt), »Zur Soziologie der neueren Kultur« (Sommersemester 1915), »Moral und Kunst in ihren soziologischen Beziehungen« (Sommersemester 1918); – Viktor Bibl: »Geschichte der politischen und sozialen Theorien« (Wintersemester 1910/11); – Wilhelm Jerusalem: »Einführung in die Philosophie der Gesellschaft (Soziologie)« (Sommersemester 1913), »Einführung in die Soziologie und Geschichtsphilosophie« (Sommersemester 1914, danach mehrfach wiederholt). Der Letztgenannte und Ludwig Hartmann boten in den frühen bzw. mittleren 1920er Jahren auch »soziologische Übungen« an. In diesen Jahren begründete der Professor für Ethnologie Wilhelm Schmidt (1868 – 1954) die »Wiener ethnosoziologische Schule« (Demarchi 1988, 240). Neben dieser entwickelte sich die »Wiener Schule der empirischen Sozialforschung«. Es handelte sich dabei um eine sozialpsychologische Forschungsgruppe, die 1931 – 1935 unter dem Namen »Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« vereinsmäßig organisiert und lose mit dem Institut für Psychologie verbunden war (Fleck 1990, 161 f.). Ihr Leiter war zunächst Paul F. Lazarsfeld (1901 – 1976), der als Assistent dem Institut angehörte. Von den unter seiner Leitung durchgeführten Studien der »Forschungsstelle« sollte jene über »Die Arbeitslosen von Marienthal« zu einem Klassiker der empirischen Sozialforschung werden. Der Erfolg dieser 1933 als »soziographischer Versuch« veröffentlichten Studie beruhte nicht zuletzt auf der Vielfalt und Kombination der angewandten Methoden (ebd., 172 f.). Die Weiterentwicklung der Methoden sowie der empirischen Sozialforschung in Österreich überhaupt wurde durch die bekannten politischen Ereignisse der folgenden Jahre und die dadurch bedingte Emigration gestoppt. Lazarsfeld ging 1933 als Stipendiat der Rockefeller Foundation in die USA, wo er sich schließlich entschied, dauerhaft zu bleiben. Er wirkte dort maßgeblich an der Etablierung der modernen Sozialforschung mit. Andere MitarbeiterInnen der »Forschungsstelle« verließen Österreich ebenfalls oder wurden ins Exil getrieben. Zu den Exilierten zählte schließlich auch Alfred Schütz (1899 – 1959), der die methodologische Wissenschaftskonzeption Max Webers weiterentwickelte und darüber 1932 das Buch »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« veröffentlicht hatte. Mit dieser für die phänomenologische Soziologie grundlegenden Veröffentlichung schien Schütz im Sommersemester 1933 im Titel einer Lehrveran-
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staltung des Rechtsphilosophen Felix Kaufmann auf.4 Chancen auf eine eigene Lehrtätigkeit eröffneten sich für Schütz aber erst im US-amerikanischen Exil.
1945 – 1999: Etablierung und organisationale Differenzierung Die Etablierung der Soziologie als akademisches Fach blieb zwischen der Ernennung von August M. Knoll zum Extraordinarius 1946 und der Einrichtung einer eigenen Studienrichtung Soziologie 1966 zwei Jahrzehnte lang einigermaßen in der Schwebe. Dazu muss man sich die damalige Situation des Faches vergegenwärtigen. Die meisten emigrierten SoziologInnen hatten sich im Exil etabliert. Das Bemühen um ihre Rückkehr hielt sich in Grenzen und nur wenige kehrten tatsächlich zurück (Fleck 1987, 201 ff.). Zu diesen zählte der AustroMarxist Leo Stern, der nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil vier Semester hindurch an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät marxistische Soziologie lehrte, ehe er bald darauf Österreich wieder verließ. Rückkehrer wie Stern waren oft nicht gern gesehen, außer es handelte sich um Personen aus dem Umfeld des ständestaatlichen Katholizismus (vgl. Rosenmayr 1988, 290). Der intellektuelle Wortführer des austrofaschistischen »Ständestaats« Othmar Spann, den seine Versuche, Ideologe des nationalsozialistischen »neuen Reiches« zu werden, in Misskredit gebracht hatten, bemühte sich erfolglos um seine universitäre Wiedereinsetzung und wurde schließlich 1949 pensioniert. Zwischen 1945 und 1955 gab es keine Habilitation in der Soziologie (vgl. Grandner 2005, 311). Empirische Sozialforschung etablierte sich im Wesentlichen erst 1954 mit der Gründung der »Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle« durch Leopold Rosenmayr (geb. 1925). Die Forschungsstelle war als Verein organisiert und Knoll deklarierte sie als »Veranstaltung« seines Lehrstuhls (Rosenmayr 1988, 287). Nach dem Tode von Knoll übernahm Rosenmayr, der sich 1955 mit einer philosophisch-theoretischen Arbeit über Wissenssoziologie habilitiert hatte, den Lehrstuhl für Soziologie. Zwei Jahre vor der Übernahme, 1961, war der zunächst dem Institut für Wirtschaftswissenschaften zugeordnete Lehrstuhl zu einem eigenen Institut erhoben worden. Für die weitere Etablierung des Faches an der Universität Wien erweisen sich nun drei Aspekte als von besonderem Interesse: – Zum Ersten ist, als Ausdruck der skizzierten historischen Bedingungen, die Etablierung der Soziologie an der Universität durch Brüche und teilweise Kontinuität gekennzeichnet. Trotz individuell variierender wissenschafts4 Der Titel dieser Lehrveranstaltung lautete: »Rechtsphilosophische Übungen in Anknüpfung an Max Weber : ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ und Alfred Schütz: ›Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt‹«.
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theoretischer Ausrichtung dominierte nach 1945 eine Anknüpfung an die katholische Soziologie bei teilweiser Würdigung gewisser sozial- und tiefenpsychologischer Ansätze der Zwischenkriegszeit, jedoch weitgehender Ausklammerung anderer bedeutsamer Traditionsstränge der österreichischen Soziologie. Zu Letzteren zählten insbesondere außeruniversitäre Traditionsstränge, deren ProponentInnen der politischen Linken nahestanden oder Juden waren. Deren Leistungen fanden erst mit großer Verzögerung Anerkennung. Für die Etablierung des Faches war so gesehen ein Akt der Verdrängung bedeutsam. Dieser Aspekt der Soziologiegeschichte an der Universität ist bis heute kaum aufgearbeitet. – Zum Zweiten ist die Etablierung der Soziologie als akademisches Fach nicht losgelöst von der Etablierung der außeruniversitären empirischen Sozialforschung zu sehen. In ab den 1950er Jahren gegründeten außeruniversitären sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften und Instituten (Institut für kirchliche Sozialforschung, Institut für Raumplanung etc.) wurde weniger eine konzeptuelle und methodologische Integration der Soziologie als Fach, sondern mehr eine den Gegebenheiten und aktuellen Themenstellungen angepasste, zweckmäßige empirische Sozialforschung betrieben. Die Themenfelder, die vielfach in enger Zusammenarbeit mit Verbänden, der katholischen Kirche und öffentlichen Auftraggebern festgelegt und bearbeitet wurden, waren: Wandel der Familie, Jugendprobleme, Religion und Kirche, Bildung, Beruf und Freizeit, Regional- und Raumplanung. Rosenmayr spricht rückblickend von »Interdisziplinarität und Praxisrelevanz« als gewählter Grundorientierung sowie von der Notwendigkeit einer »Aufbau-Forschung« (konträr zur »Aufarbeitungs-Forschung«, also zu einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Rolle des Faches in diesem; vgl. Rosenmayr 1988, 289 ff). – Zum Dritten ist die Etablierung der Soziologie an der Universität Wien eng mit der allgemeinen Entwicklung der Hochschul- und Universitätslandschaft im Nachkriegs-Österreich verbunden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die mit Ende der 1950er Jahre einsetzende Diskussion um einen Hochschulstandort Linz mit Schwerpunkt in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Für die dann 1966 eröffnete Hochschule waren laut Bundesgesetz über sozialund wirtschaftswissenschaftliche Studienrichtungen (BGBl. Nr. 179 vom 15. Juli 1966) sieben solche Studienrichtungen vorgesehen. Unter diesen befand sich erstmals auch Soziologie als eigenständiges Hauptfachstudium sowie als verpflichtendes Teilprüfungsfach für alle anderen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studienrichtungen (vgl. Bodzenta 1988, 345 f.). Auf dieser gesetzlichen Grundlage wurde noch im selben Jahr 1966 Soziologie auch an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien als Hauptfachstudium eingerichtet. Damit kann die erste Phase der Etablierung als abgeschlossen bezeichnet werden; es sollten zwei weitere folgen.
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Zum besseren Verständnis des Verlaufs der zweiten Etablierungsphase ist es notwendig, auf das Hauptfachstudium Soziologie und seine Einbettung im Fächerkanon der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften näher einzugehen. In dieser Verankerung, die sich übrigens auch in der wichtigsten postgradualen Ausbildungseinrichtung der Nachkriegszeit, dem 1963 auf Initiative von Paul F. Lazarsfeld und dem Ökonom Oskar Morgenstern gegründeten Ford-Institut (dem heutigen Institut für Höhere Studien), wiederfindet, manifestiert sich eine Konzeption von Sozialwissenschaften als Instrument gezielter gesellschaftlicher Planung, Steuerung und Modernisierung. Dementsprechend war auch das Hauptfachstudium Soziologie aufgebaut: Es umfasste acht Semester, unterteilt in zwei Studienabschnitte zu je vier Semestern, wobei insbesondere der erste Abschnitt eine enge Verflechtung mit Rechts- und Wirtschaftsfächern, ergänzt um Statistik und Mathematik, vorsah. Die fachlich-soziologische Ausrichtung wurde im zweiten Abschnitt vertieft, die Graduierung zum »Mag. rer.soc.oec.« erfolgte mit einer approbierten Diplomarbeit. Für diesen Studienaufbau waren keineswegs nur wissenschaftstheoretische Argumente ausschlaggebend; entscheidend war ein Berufsprofil, welches von SoziologInnen die Qualifikation zur sachlich informierten und methodisch einwandfreien Durchführung von empirischen Untersuchungen gesellschaftlicher Strukturen, Entwicklungen und Probleme verlangte. Soziologie sollte gesellschaftspolitisch relevantes Grundlagenwissen, etwa im Hinblick auf legistische Maßnahmen und politische Problemlösungen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene beisteuern. Die mit der Institutionalisierung der Soziologie an der Universität Wien einhergehende Etablierung der Soziologie als Berufsfeld orientierte sich so gesehen weniger an der wissenschaftlichen Grundlagenforschung, als an den Anforderungen einer anwendungsorientierten, empirischen Sozialforschung und am wachsenden Bedarf an einer juristisch, ökonomisch und soziologisch gleichermaßen geschulten Beamtenschaft im öffentlichen Dienst. Nicht zuletzt sollte die Ausbildung von SoziologInnen auch dazu beitragen, das »Juristenmonopol« in der öffentlichen Verwaltung zu brechen (Bodzenta 1988, 350). Aus dem Blickwinkel einer soziologisch geschulten Betrachtung der Geschichte des Faches lässt sich die Etablierung desselben an der Universität zugleich als nachholende wie vorwegnehmende Modernisierung dechiffrieren: nachholend im Hinblick auf die im internationalen Vergleich späte und zögerliche Etablierung des Faches an Österreichs größter Universität; vorwegnehmend in Bezug auf das Aufbrechen der in Österreich (auch an der Universität) besonders verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen im Kontext des sozialdemokratischen Jahrzehnts der 1970er Jahre sowie als »sekundärer Effekt der Studentenbewegung« (Pelinka 1993). Die Situation erwies sich allerdings als paradox, weil die Soziologie an der Universität Wien, im Kontrast zu ihrer Rolle an anderen europäischen und nordamerikanischen Universitäten, eine insge-
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samt eher zurückhaltende Haltung einnahm. Als kennzeichnend hierfür kann sicherlich eine sich auftuende Kluft zwischen einer wissenschaftstheoretisch und gesellschaftspolitisch durch eine Art konservativen Realismus charakterisierten Professorenschaft auf der einen Seite und einer zunehmend sozialkritisch und antiautoritär orientierten Studentenschaft auf der anderen Seite angesehen werden. Eine Quelle des Konflikts, der später sogar in studentischen Institutsbesetzungen seinen Ausdruck finden sollte, bildete die dominierende Ausrichtung der anwendungsorientierten empirischen Forschung (GsprRuppert 1988), die inzwischen professionell betrieben und auch sozialreformerisch orientiert war, aber mit der Forderung der Studierenden, Soziologie als Gesellschaftskritik zu betreiben, wenig anzufangen wusste. Dieses Spannungsfeld erscheint maßgeblich für die zweite Phase der Etablierung der Soziologie an der Universität Wien. Im Jahre 1971 wurde an der damaligen Philosophischen Fakultät ein Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet, auf den Erich Bodzenta (1927 – 1996) berufen wurde. Bodzenta hatte sich in Wien für Soziologie habilitiert und in Linz gelehrt. Sein neu errichteter Lehrstuhl war das dritte Ordinariat für Soziologie an der Wiener Universität, nachdem ein zweites an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 1966 mit Robert H. Reichardt (1927 – 1994) besetzt worden war. Mit dem Lehrangebot der beiden Lehrkanzeln an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät und dem soziologischen Studienplan überhaupt unzufriedene Studierende erkämpften nun ein eigenes soziologisches Studium an der Philosophischen Fakultät: Den zunächst befristet eingeführten, dann aber mehrmals verlängerten Studienversuch Soziologie. Dabei handelte es sich um ein kombinationspflichtiges achtsemestriges Diplomstudium, das in den Kanon der geisteswissenschaftlichen Fächer eingebettet war und mit einem »Mag. phil.« abgeschlossen wurde. Ab dem Jahr 1973 gab es somit an der Universität Wien zwei eigenständige Studienrichtungen für Soziologie an zwei unterschiedlichen Fakultäten. Bei der Entwicklung des Studienversuchs Soziologie wurde großer Wert auf eine anwendungsorientierte Ausbildung in den empirischen Forschungsmethoden gelegt. Da laut Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung beim Lehrangebot auf die an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät angebotenen Lehrveranstaltungen Bedacht genommen werden sollte, konnten Studierende des Studienversuchs aus einem vielfältigen Angebot ihre Lehrveranstaltungen wählen. Neben teilweise unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten, die sich im Umkreis der jeweiligen Lehrstühle herausgebildet hatten und auf diese Weise auch zur Erkennbarkeit der Studienangebote beitrugen, bestand der formale Unterschied zwischen beiden Studienrichtungen darin, dass das Diplomstudium der Soziologie an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen (ab 1975 Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen) Fakultät
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ein rechts- und wirtschaftswissenschaftlich eingebettetes Alleinstudium war, während der Studienversuch an der Philosophischen (ab 1975 Grund- und Integrativwissenschaftlichen) Fakultät mit einer zweiten Studienrichtung (aus der Fakultät) oder mit einem Bündel von Fächern kombiniert werden musste. In dieser Form koexistierten die Studienrichtungen elf Jahre lang. Erst 1984 kam es zu einer Neustrukturierung: Das Diplomstudium Soziologie an der nunmehrigen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und der Studienversuch Soziologie an der nunmehrigen Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät wurden in eine Studienrichtung zusammengefasst und gleichzeitig in zwei prüfungstechnisch angeglichene Studienzweige ausdifferenziert. Somit gab es ab 1984 an der Universität Wien eine Studienrichtung Soziologie mit zwei Studienzweigen: einem sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen und einem geisteswissenschaftlichen Studienzweig. Der sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Studienzweig orientierte sich inhaltlich entlang des früheren Hauptfachstudiums Soziologie, während der geisteswissenschaftliche Studienzweig an die (für Studienrichtungen an philosophischen Fakultäten charakteristische) Logik des kombinationspflichtigen Studienversuchs Soziologie anknüpfte. Beide Studienzweige schlossen mit einem »Mag. rer.soc.oec.« ab. Die teilweise Integration der beiden bisherigen Studienrichtungen änderte nicht die fakultäre Zuordnung der beiden Institute, die nun jeweils einen Studienzweig betreuten. Die zweite Phase der Etablierung bedeutete auch einen Prozess der disziplinären Festigung, Ausweitung und Differenzierung. So stiegen die Studierendenzahlen, insbesondere nach Einrichtung des Studienversuchs Soziologie, auf knapp eintausend Mitte der 1980er Jahre an. Gleichzeitig erhöhten sich Umfang und Sichtbarkeit der an der Universität verankerten, in zunehmendem Maße auch international ausgerichteten und vernetzten soziologischen Forschung. Auch wenn Anwendungs- und Praxisbezug nach wie vor leitgebend waren, wuchs – nicht zuletzt in Abgrenzung zur außeruniversitären und der Marktlogik gehorchenden Sozialforschung – das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Soziologie als akademisches Fach mit grundlagenwissenschaftlichem Anspruch in der Analyse sozialen Wandels. Dies zeigte sich in einer zunehmenden Zahl an auch international publizierten Forschungen zu Wertewandel und Milieudifferenzierung, den Auswirkungen von Modernisierung und Rationalisierung, sei es in Arbeit, Familie, Organisation, oder im Hinblick auf neue Aspekte von Armut und sozialer Ungleichheit. Themenbereiche wie Altern und Lebenslauf, Familie, Jugend, Erziehung oder Gesundheit wurden in zunehmend kritischer Distanzierung zu öffentlichen Auftraggeberinteressen, zu den marktförmigen Praktiken der Umfrageforschung sowie mit wachsenden Ansprüchen an eine theoretisch und methodologisch elaborierte Tiefenanalyse untersucht. Die Orientierung an der Bearbeitung praxisrelevanter Themen-
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stellungen unter Einsatz elaborierter Methodiken (im quantitativen wie auch qualitativen Paradigma), welche auch die Einrichtung von Ludwig BoltzmannInstituten (Gesundheit und Lebenslaufforschung) begründete, bildete oder bildet bis zu einem gewissen Grad noch heute ein Erkennungsmerkmal der Wiener Soziologie.
2000 bis heute: Organisationale Konzentration, Enttraditionalisierung und offene Fragen an die Geschichtsschreibung Die jüngste und dritte Phase der Etablierung der Soziologie an der Universität war – auf organisatorischer Ebene – mit tiefgreifenden, geradezu dramatischen Folgen verbunden: Aus zwei Instituten, die in Selbstbeschreibung und Fremdwahrnehmung an distinkte Traditionslinien angeknüpft und spezifische Institutskulturen ausgebildet hatten (etikettiert als gesellschafts- versus kulturwissenschaftliche, hermeneutisch-interpretative versus empirisch-analytische Soziologie etc.), wurde, auch räumlich zusammengelegt, ein Institut der neu geschaffenen Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften (ab 2004 der Fakultät für Sozialwissenschaften zugeordnet), jedoch um den in den frühen 1990er Jahren geschaffenen Lehrstuhl für Wirtschaftssoziologie, der in die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Informatik eingegliedert worden war, amputiert. Über diese mithin unvollständige institutionelle Konzentration hinaus erfolgte im Zuge der Implementierung des Bundesgesetzes über die Organisation der Universitäten und ihre Studien (Universitätsgesetz 2002 – UG, BGBl. I Nr. 120/2002) sowie unter dem Eindruck des »Bologna-Prozesses« eine vollständige Neuorganisation des Studienangebotes. Während in einem ersten Schritt die bisherige Architektur (eine Studienrichtung mit zwei Studienzweigen) in zwei konkurrierende Angebote umgewandelt wurde (auf der einen Seite ein dreijähriges geisteswissenschaftliches Bakkalaureatsstudium mit einem einjährigen Masterstudium; auf der anderen Seite ein rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Diplomstudium), kam es 2007 zu einer vollständigen Integration in ein dreijähriges Bachelorstudium und ein zweijähriges Masterstudium Soziologie. Nicht weniger dramatisch veränderte sich parallel dazu auch die personelle Situation am Institut – erst Stagnation oder sogar Schrumpfung, dann Expansion durch Neubesetzungen und die Rekrutierung von NachwuchswissenschaftlerInnen, durchgehend befristet und vielfach prekär beschäftigt. Fast einhundert Jahre nach Max Webers Bemühungen, an der Universität Wien Fuß zu fassen, scheint der Prozess der »nachholenden Modernisierung«,
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der die Etablierung der Soziologie an der Universität in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg charakterisiert hatte, abgeschlossen. Welche Aufgabe kommt der Soziologie an der Universität Wien heute zu, jenseits von curricular festgeschriebenen Studieninhalten? Macht es, angesichts der fortschreitend globalisierten Bedingungen der Wissensproduktion, von internationalisiertem Wettbewerb um Drittmittel und Publikationsscores, von quantitativen Optimierungsparametern unterliegenden Rekrutierungsverfahren, aber auch von forcierter inhaltlicher und methodologischer Ausdifferenzierung, überhaupt Sinn, nach den Charakteristika einer »Wiener Soziologie« zu fragen? Sind nicht die lokalen Bezüge längst weggeschliffen? Ist nicht der Bezug auf die Frühgeschichte des Fachs (Austro-Marxismus, katholische Gesellschaftslehre, »Die Arbeitslosen von Marienthal«) »folkloristisch« geworden? In der Tat hat sich die Soziologie, wie alle anderen Sozialwissenschaften, von den lokalen Gegebenheiten längst emanzipiert, mit positiven wie negativen Folgen. Auch dort, wo sie zu Themen- und Problemstellungen vor Ort forscht, arbeitet die Soziologie an der Universität Wien heute in Zusammenhängen, die den lokalen Kontext transzendieren; sie ist transnational vernetzt, in ihrer Forschung und Publikationstätigkeit international sichtbar, gewissermaßen in Fortschreibung jener Erfolgsgeschichte der österreichischen Soziologie, die mit der Emigration aus Wien begonnen hatte. Zu dieser Erfolgsgeschichte gehört in besonderer Weise die empirische Soziologie des Paul F. Lazarsfeld, dessen Nachlass im Lazarsfeld-Archiv (zusammen mit dem Nachlass von Paul M. Neurath) am Institut für Soziologie aufbewahrt und der Forschung zur Verfügung gestellt wird. Zu dieser Erfolgsgeschichte gehört aber auch die phänomenologische Soziologie des Alfred Schütz. Doch mit der versuchten Fortschreibung der Erfolgsgeschichte im transnationalen Rahmen löst sich die Soziologie ein Stück weit von ihrem konkreten gesellschaftlichen Umfeld ab: Auch wenn sie dessen Entwicklungen und Problemlagen weiterhin kritisch und in vergleichender Perspektive analysiert, büßt sie gleichzeitig an intervenierender Kraft ein. Dies genauer zu untersuchen, wäre eine Aufgabe zukünftiger Forschungen zur Geschichte der Soziologie an der Universität Wien. Zukünftige Forschungen sollten aber auch versuchen, jene verdrängt-vergessenen Kräfte, die in die Geschichte der Soziologie an der Universität Wien eingeschrieben sind, sichtbar zu machen und herauszufinden, inwieweit diese weiterwirken.
Literaturverzeichnis Bodzenta, Erich: Das Ende einer Affäre – 25 Jahre Studienreform Soziologie, in: Josef Langer (Hg.), Geschichte der österreichischen Soziologie. Konstituierung, Entwicklung und europäische Bezüge (Wien 1988) 345 – 356.
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Oliver Rathkolb*
Zeit- und Gegenwartsgeschichte und die Mühen der Institutionalisierung auf Fakultätsebene nach 1945
Eine der Gründungslegenden datiert den Beginn der wissenschaftlichen Befassung mit »Zeitgeschichte« in Österreich auf eine Diskussionsveranstaltung im Rahmen der »10. Internationalen Hochschulwochen des Österreichischen Colleges in Alpbach« in Tirol 1954. Der Wiener Militärhistoriker und spätere erste Ordinarius für Zeitgeschichte an der Universität Wien, Ludwig Jedlicka1, hatte dort gemeinsam mit Walter E. Rohn und dem italienischen Politiker und Politologen Altiero Spinelli eine Veranstaltung »Probleme der politischen Einigung Europas von Versailles bis heute«2 organisiert. Ob tatsächlich der ehemals prominente deutschnationale Historiker Heinrich Srbik, der aufgrund seiner engen politischen Nähe zum Nationalsozialismus nach 1945 nicht mehr an der Universität Wien lehren durfte, dazu den Anstoß gegeben hat, wie von Jedlicka in einer Selbstdarstellung behauptet, kann nicht verifiziert werden. Jüngste Forschungen von Maria Wirth zur Geschichte des Europäischen Forums Alpbach zeigen, dass bereits 1951 das von Otto Molden geleitete Forschungsinstitut für Europäische Gegenwartskunde Jedlicka gemeinsam mit Univ.-Prof. Hugo Hantsch und Min.a.D. Univ.-Prof. Eduard Ludwig zu einem Vortrag über die »Vorgeschichte des 13. März 1938« eingeladen hatte. Jedlicka setzte im Rahmen dieses Instituts auch Vorträge zum Zweiten Weltkrieg fort und etablierte Kontakte zum Münchner Institut für Zeitgeschichte. 1955 wird dieses Forschungsinstitut für Europäische Gegenwartskunde, in dem Jedlicka mehrere Seminar abgehalten hatte, aber aufgelöst.3 In diesem Beitrag kann keine umfassende zeitgenössisch angereicherte Begriffsgeschichte bezüglich der Zeitgeschichte in Österreich geleistet werden. Für die Wiener Schule der Zeitgeschichte um Jedlicka galt letztlich die Zeit ab dem Ersten Weltkrieg als Epochenbegrenzung für österreichische Zeitgeschichte, wobei zum Unterschied von der Defi* 1 2 3
Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/1, Curriculum vitae, 18. Jänner 1956, 2. Molden, 1981: Zauberberg, 78. Email Maria Wirth an den Verf., 17. April 2014, Forschungsnotizen.
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nition von Hans Rothfels in den 1950er Jahren die Zeitgeschichte nicht erst ab 1917 begann, sondern mit Beginn des Ersten Weltkriegs.4 Ein zweiter Unterschied zur bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung liegt auch in der Tatsache begründet, dass die »Wiener Zeitgeschichte« in ihrer Gründungs- und Aufbauphase bis Mitte der 1970er Jahre zwar noch den Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland 1938 thematisierte (hier vor allem Gerhard Botz), aber die restliche NS-Zeit nicht Teil einer staatspolitisch motivierten Auseinandersetzung war.5 Aus dieser Sicht standen die Konflikte der Ersten Republik, die Versäulung des politischen Systems, die Ursachen und Folgen des Bürgerkriegs 1934 sowie des NS-Putschversuchs 1934 im Zentrum der Debatten. Der Klagenfurter Zeithistoriker Michael Derndarsky hingegen zeigte anhand einer Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse, dass bereits in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 eine Reihe von zeitgeschichtlichen Lehrveranstaltungen im Rahmen der Philosophischen Fakultät an der Universität Wien angeboten wurden. Als erster Historiker beschäftigte sich der freie Osteuropa-Forscher Otto Forst-Battaglia 1949/50 mit »Mittel- und Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren historischen Voraussetzungen«6 – einem Thema, das nach heutiger Terminologie in die Gegenwartsgeschichte fiel. Ganz offensichtlich beeinflusste der Kalte Krieg die Osteuropa- und SowjetunionForschung und schuf einen Bedarf an Gegenwarts- und zeithistorischen Vorlesungen und Seminaren zur Geschichte des neuen kommunistischen »Ostblocks«. Hier ist auch Heinrich Felix Schmid zu nennen, 1938 als Ordinarius von den Nationalsozialisten entlassen und seit 1948 Universitätsprofessor für osteuropäische Geschichte in Wien sowie Leiter des Instituts für osteuropäische Geschichte und Südostforschung. Im Institut für Geschichte sollte es Hugo Hantsch sein, der – in Anknüpfung an seine Lehre vor dem Berufsverbot durch die Nationalsozialisten 1938 – beispielsweise 1950/51 über »Zwischen zwei Weltkriegen« Vorlesungen hielt und sich in Weltgeschichte ab 1952 versuchte. Auffallend bei der qualitativen Auswertung von Derndarsky ist die geringe Berücksichtigung Westeuropas oder westeuropäischer oder US-amerikanischer Geschichte, die nur vereinzelt von dem aus dem US-Exil zurückgekehrten Friedrich Engel-Janosi gelesen wurde. In dieser Distanz gibt es durchaus eine Tradition aus der Lehre der Zwischenkriegszeit. Immer stark zeitgeschichtlich unterfüttert waren die osteuropäische und russische Geschichte, und zunehmend von Ludwig Jedlicka betrieben wurde die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Während die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Habsburger Monarchie bis 1918 zunahm – so bei Richard 4 Derndarsky 1978: Zeitgeschichte. 5 Hanisch 2004: Österreich, 54. 6 Derndarsky 1978: Zeitgeschichte, 249.
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Georg Plaschka, Ludwig Jedlicka und dem aus dem US-Exil zurückgekehrten Juristen und Historiker Robert A. Kann –, blieb die jüngere politische Geschichte der Republik Österreich nach 1918 lange unbearbeitet. Erst 1956/57 begann Adam Wandruszka mit einer »Geschichte der politischen Parteien«, aber auch die Privatdozentin Erika Weinzierl und der Archivar Walter Goldinger reflektierten diesen Bereich. 1971/72 hatte sich der Fokus der zeitgeschichtlichen Lehrveranstaltungen eindeutig auf die »Republik Österreich 1918 – 1955« ausgerichtet, d. h. die Zeitgeschichtsdarstellungen an der Universität Wien endeten mit dem Staatsvertragsjahr 1955. Gerald Stourzh thematisierte dabei als Einziger stärker die internationale Geschichte und die Geschichte der Staatsvertragsverhandlungen 1945 – 1955. Auffallend ist, dass zeitgeschichtliche wirtschafts- oder sozialhistorische Themen nur vereinzelt und hier fast nur von Gustav Otruba angeboten wurden mit Schwergewicht auf Österreich nach 1918. Globalgeschichte (oder Weltgeschichte nach der Terminologie der 1960er–1970er Jahre) blieb – obwohl außerhalb Österreichs zunehmend im Trend der Zeit – nur GastreferentInnen vorbehalten, und erste Seminare zur »Entkolonialisierung im 20. Jahrhundert« fanden erst 1973 bzw. zum »Neoimperialismus und Dritte Welt« erst 1977 statt. In diesem Kontext wird im Folgenden die »Institutionalisierung« der Zeitgeschichte an der Universität Wien genauer rekonstruiert. Scheinbar unspektakulär erfolgte am 3. Juni 1966 auf Antrag des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät der Universität Wien vom Bundesministerium für Unterricht die Errichtung des Instituts für Zeitgeschichte. Dahinter standen aber viele Jahre von öffentlichkeitswirksamer Aufbauarbeit und intensivem »Networking« in Politik und Wissenschaft durch den 1958 habilitierten Militärhistoriker Ludwig Jedlicka. Ebenso prägend für die Ausformung der Zeitgeschichte in Lehre und Forschung waren inhaltliche Debatten um die Integration von Zeitgeschichte in die traditionelle Neuere Geschichte sowie ein »politisch« gescheitertes staatliches Großprojekt über österreichischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sein Geld verdiente Jedlicka, der aufgrund seiner NSDAP-Zugehörigkeit und Funktion in der Hitler-Jugend aus dem Heeresgeschichtlichen Museum im Rahmen der Entnazifizierung entlassen worden war, bis 31. Mai 1950 beim Universum-Verlag und dann bis 31. Oktober 1953 als Verlagssekretär bei der Firma Urban & Schwarzenberg. Ab 1. Jänner 1954 kehrte er – politisch amnestiert – wieder in den Personalstand des Heeresgeschichtlichen Museums zurück.7 Eine zweite Gründungslegende zur Etablierung des Faches Zeitgeschichte fokussiert auf eine Expertentagung in Reichenau 1960 unter der »Schirmherr7 ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465, Karton 1, Curriculum vitae, 18. Jänner 1956, 2.
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schaft« des damaligen ÖVP-Unterrichtsministers Heinrich Drimmel, wobei vor allem Fragen des Geschichtsunterrichts und der historischen Unterfütterung einer kleinösterreichischen Staatsidee im Zentrum der ministeriellen Zielvorgaben standen. Ein eher konservatives Österreich-Bewusstsein stand als Metaebene zur Diskussion, wie den Ausführungen der Experten auf dieser Tagung wie Hugo Hantsch oder Ludwig Jedlicka zu entnehmen ist. Zielstrebig arbeitete Jedlicka weiter an seiner eigenen universitären Karriere sowie an der Entwicklung eines breiten Kontaktnetzwerkes, das er für die Durchsetzung seiner universitätspolitischen Ziele einsetzte. Bereits 1955 erschien im Böhlau-Verlag seine 200 Seiten-Studie über »Ein Heer im Schatten der Parteien. Die militärpolitische Lage Österreichs 1918 – 1938«. Obwohl Jedlicka vor seiner Habilitation kaum publiziert hatte (nur neun Aufsätze lagen vor, darunter ein Artikel in der katholischen Wochenzeitung »Die Furche«, und die meisten nur wenige Seiten lang), genügte diese Studie, um von Hugo Hantsch und Heinrich Benedikt als Habilitationsschrift vorgeschlagen zu werden. Seine Hoch- und Deutschmeisterstudie8 aus der NS-Zeit führte er zwar – von 1943 auf 1944 vordatiert – an, aber gut versteckt in Mitten seiner Nachkriegspublikationen, aus denen primär eine 68 Seiten umfassende Edition herausragte, »Maria Theresia in ihren Briefen und Staatsschriften«, die ebenfalls 1955 erschienen ist. In späteren Publikationslisten taucht die Hoch- und Deutschmeisterstudie nicht mehr auf. Zu Hugo Hantsch hatte er übrigens bereits im Rahmen seiner Tätigkeit in der Katholischen Akademie enge Kontakte aufgebaut. Heinrich Benedikt, der aus dem Exil in Großbritannien 1946 zurückgekommen war, feierte Jedlicka in einem Vorwort 1974 und stellte ihn an »die Spitze der Österreichischen Zeitgeschichte als Lehrfach«. Darin schilderte er ihn als Kenner des Heeres in der Monarchie und des 20. Jahrhunderts sowie als einfühlsamen Biographen von »Männern, die Geschichte machten« wie Radetzky, Theodor Körner oder dem letzten Kaiser Karl I.9 Über seine Habilitation hatte es aber eine intensive Kontroverse gegeben. Vor allem der Osteuropa-Ordinarius Heinrich Felix Schmid kritisierte in einem umfangreichen Gutachten, dass »dem genannten so gut wie jede Kenntnis der Organisation und Leistungen der zeitgeschichtlichen Forschung außerhalb des deutschen Sprachgebietes fehlt«10. Seine Abhandlung über »Friedensversuche im Zweiten Weltkrieg«, die Jedlicka auf Aufforderung als zweite Schrift nachreichen musste, weise – so Schmid – schwere methodische und inhaltliche Mängel auf; er fordere daher eine Überarbeitung und Beschränkung der Lehr8 Im österreichischen Gesamtbibliotheksverzeichnis in der Internetfassung ist das Buch falsch mit »ca. 1930« datiert worden. 9 Jedlicka 1975: Fallstudien, 5 f. 10 Archiv der Universität Wien, Philosophische Fakultät, Habilitationsakt Ludwig Jedlicka.
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befugnis auf »Geschichte Österreichs und Deutschland seit 1918«. In weiterer Folge zog sich Schmid aber aus dem Habilitationsverfahren zurück. Hantsch und Benedikt konnten letztlich die Kommission überzeugen, Jedlicka uneingeschränkt für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte zu habilitieren. Seine NS-Vergangenheit wurde erst kurz bei der Verleihung des a.o Univ.-Prof. Titels 1965 thematisiert; ob bei Schmid Vorbehalte gegen Jedlicka durch dessen frühere NSDAP-Mitgliedschaft ausgelöst wurden, kann nicht verifiziert werden. Tatsache bleibt aber, dass – wie von Schmid kritisiert – die Wiener Zeitgeschichte in dieser Zeit mit Ausnahme der Beschäftigung mit Italien, Südtirol und Teilen Jugoslawiens stark auf österreichische Nationalgeschichte ausgerichtet blieb. Gleichzeitig mit seiner externen Dozententätigkeit an der Universität Wien baute Jedlicka auch weitere Kontakte in die Bundesrepublik Deutschland auf, die er in einem frühen Lebenslauf vom 18. Jänner 1956 mit der Ernennung zum »Repräsentanten« für Österreich am Instituts für Zeitgeschichte München wohl übertrieb. Ebenso wusste er geschickt seine Mitarbeit an der »Neuen Deutschen Biographie« der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hervor zu heben. Jedlicka war sich aber darüber bewusst, dass er trotz seiner Habilitation ein Außenseiter an der Universität bleiben würde, wenn es ihm nicht gelingen sollte, eine institutsähnliche eigene Infrastruktur zu schaffen. Daher gründete er im Dezember 1960 einen privaten Verein, die »Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte«, unter dem Vorsitz von Universitätsprofessor Alfons Lhotsky, und übernahm die Funktion eines Generalsekretärs. Bereits im Februar 1961 errichtete dieser Verein das »Österreichische Institut für Zeitgeschichte«. Jedlicka erfreute sich dabei nicht nur der Unterstützung der Universitätsprofessoren Lhotsky (1903 – 1968), Hugo Hantsch (1895 – 1972) oder des zurückgekehrten Exilanten Friedrich Engel-Janosi (1893 – 1978), sondern vor allem auch des damaligen ÖVP-Unterrichtsministers Heinrich Drimmel. Die zentrale erste wissenschaftliche Projektaufgabe war dann auch ein »Staatsprojekt«, die »Herausgabe einer geschichtlichen Darstellung über den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung im Sinne der Moskauer Deklaration«, die auf Antrag von SPÖ-Außenminister Bruno Kreisky am 27. Februar 1962 im Ministerrat als Beitrag zu den Jubliäumsfeiern 1965 (20. Jahrestag der Befreiung 1945) beschlossen worden war.11 Ganz offensichtlich sollte zu diesem Jahrestag die Opferrolle Österreichs im Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus durch eine aktive Komponente, die Hervorhebung aller möglichen Formen des Widerstandes und der politischen Verfolgung, erweitert werden. Aufgrund des 11 Vgl. dazu die präzise Darstellung von Oberkofler 2003: Regierungsprojekt, 7 – 17; auch unter [www.klahrgesellschaft.at] (2. Dezember 2014) einsehbar.
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hohen Anteils von Kommunisten unter den Widerstandskämpfern waren SPÖ und ÖVP trotz antikommunistischer Grundtendenz in dieser Frage bereit, den antifaschistischen Geist des Jahres 1945 wiederzubeleben. Im Zuge dieses Akteneditionsprojekts, mit dessen Durchführung auf Vorschlag des Unterrichtsministeriums Ludwig Jedlicka ad personam mit seinem neuen Institut beauftragt wurde, arbeitete dieser auch mit dem der SPÖ zuzuzählenden Konsulenten und aus dem Exil in Großbritannien zurückgekehrten Historiker Karl R. Stadler und dem 1963 gegründeten »Österreichischen Dokumentationsarchiv der Widerstandsbewegung« und dessen Vizepräsident Herbert Steiner, einem überzeugten Kommunisten, zusammen. Dadurch verbreiterte Jedlicka seine politischen Netzwerke in Richtung SPÖ und hatte auch Kontakte vor allem mit SPÖJustizminister Christian Broda und am Rand auch mit Bruno Kreisky. Dieses »Großprojekt« im Dienste einer neuen österreichischen Identität (noch ganz beseelt von der Doktrin, Opfer des preußischen Nationalsozialismus gewesen zu sein) ermöglichte die rasche Erweiterung der Infrastruktur, die in einem finsteren Hinterzimmer beim Audi Maximum der Universität Wien (»Besenkammerl«12) begann und dann zu zwei Räumen im Österreichischen Institut für Geschichtsforschung – ebenfalls im Hauptgebäude der Universität – führte. Geschickt verknüpfte Jedlicka die Errichtung des »Widerstandsarchivs« in der Castellizgasse mit Arbeiten seiner StudentInnen und nützte die Synergieeffekte aus dieser Kooperation, um sein Ziel eines eigenen Instituts schneller erreichen zu können. Dazu gehörte auch das politische Lobbying, das in Politikerbesuchen am Österreichischen Institut für Zeitgeschichte wie jenem von ÖVP-Unterrichtsminister Piffl-Percˇevic´ oder SPÖ-Justizminister Broda ihren symbolischen Ausdruck fand. Parallel zum Institutsinfrastrukturaufbau mit Bibliothek, Archiv und Fotosammlung verfolgte Jedlicka seine berufliche Karriere weiter, und diesmal mit mehr Erfolg als vor 1945. So intervenierte Lhotsky bei Drimmel Mitte 1963, um Jedlicka zumindest in eine höhere Gehaltsstufe zu bringen13. Argumentiert wurde dabei, dass Jedlicka bei einer Berufung für einen Zeitgeschichte-Lehrstuhl an der Universität Darmstadt an zweiter Stelle stand.14 Seit 1. Jänner 1961 war Jedlicka nicht mehr als wissenschaftlicher Beamter beim Heeresgeschichtlichen Museum angestellt, sondern beim Österreichischen Institut für Zeitgeschichte.
12 Kurier, 25. Mai 1976, 3, so die Bezeichnung durch Jedlicka. 13 ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/1, Lhotsky an Drimmel, 30. Juli 1963. Hugo Hantsch hingegen sah Jedlicka nicht als ordentlichen Professor, sondern nur als tit. ao. Professor, da er wenig publiziere (Holechofsky 2012: Hantsch, 158). 14 ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/1, Hellmuth Rößler an Jedlicka, 5. August 1963. An erster Stelle war Univ.-Doz. Dr. Frh. von Aretin aus Göttingen gereiht, an dritter Stelle Prof. Herbert Michaelis aus Berlin.
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Am 12. Juli 1965 wurde er überdies zum tit. »außerordentlichen Universitätsprofessor« ernannt. Obwohl – offensichtlich aufgrund des konfliktträchtigeren Koalitionsklimas – die überdies zu spät im Juni 1965 mit einem ersten Band fertiggestellte Aktenedition zur Geschichte des österreichischen Widerstandes nicht veröffentlicht wurde, nützte Jedlicka die Arbeit seiner Studenten und Studentinnen15 als Basis für einen weiteren Karrieresprung, aber auch für eine Verbreiterung von Literatur zur österreichischen Zeitgeschichte. Am 15. März 1966 genehmigte der Ministerrat seine Ernennung zum außerordentlichen Universitätsprofessor mit besonderer Berücksichtigung der Neuesten Geschichte an der Universität Wien,16 nachdem er vom Professorenkollegium primo loco gereiht worden war, vor den Archivaren und tit a.o Professoren Walter Goldinger und Hanns Leo Mikoletzky. Am 7. Juni 1966 wurde überdies das Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien errichtet und Jedlicka zum Vorstand bestellt.17 Geschickt setzte Jedlicka hier seine Verhandlungen mit dem Freiburger Militärwissenschaftlichen Forschungsamt ein, da ihm mit Unterstützung von zwei deutschen Honoratioren, dem Bundesminister für Justiz Richard Jaeger, und dem Präsidenten des Deutschen Bundesarbeitsgerichts, Gerhard Müller, aus Freiburg ein großzügiges Angebot als wissenschaftlicher Direktor und Abteilungsleiter gemacht worden war.18 Bereits im März 1966 hatte noch das Österreichische Institut für Zeitgeschichte in der Rotenhausgasse 6 neue Räume, die bisher vom Auslandsstudentendienst benützt worden waren, bezogen. Die deutsche Lobby zugunsten Jedlickas sollte letztlich den Ausschlag geben, dass er trotz ausdrücklicher Ablehnung der Hebung seines Extraordinariats (wegen anderer früher gereihter Ernennungen und mangels Budget) durch eine universitäre Kommission19 und nach Intervention Gerhard Müllers bei Bundeskanzler Josef Klaus im März 1969 schließlich zum Ordinarius ernannt wurde.20 1966 umfasste das neu etablierte Universitätsinstitut außer dem Professor 15 So nahmen aus dieser Gruppe Edda Pfeifer und Anton Staudinger am 12. März 1965 auch an einer offiziellen Ministerkomit¦essitzung teil. Die Arbeit der wissenschaftlichen Hilfskräfte war relativ gut bezahlt, 600 S monatlich, und neben den Genannten arbeiteten auch Magdalena Koch, Christine Nokratnik, Angela Feldmann u. a. an der Aktensammlung mit (ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/2 Magdalena Duchateau, Reminiszenzen oder Der Beginn des Instituts für Zeitgeschichte, 21. Dezember 1996, 1). 16 ÖSTA, Ministerratsprotokolle, Zl. 2448 Pr.M/66. 17 Universitätsarchiv Wien, Dekanat der Philosophischen Fakultät, Zl. 101/1 – 1965/66, 7. Juni 1966. 18 ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/ 1, Jedlicka an Hoyer, 3. Feb. 1966. 19 ÖSTA, Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/ 1, Hanslik an Brunner, 12. März 1969. 20 Ebd., Klaus an Müller, 27. März 1969, Müller an Klaus, 27. Februar 1969 sowie Müller an Jedlicka, 20. Juni 1969. Jedlicka hatte überdies bereits die Vorziehung seiner Ernennung vor anderen vor ihm gereihten Ernennungen mit der Universitätsbürokratie, Senatsrat Dr. Drischel, paktiert.
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Ludwig Jedlicka kaum Personal- oder Sachresourcen – nur einen Assistenten und einen Bibliothekar. 1972 hingegen hatte Jedlicka die Planstellen auf insgesamt sechs verdoppelt. Inhaltlich hatte das Institut die Themen der ersten ministeriellen Auftragsarbeit – Widerstandforschung – nicht fortgesetzt, sondern dem außeruniversitären Forschungsinstitut des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes überlassen. Es konzentrierte sich auf »Geschichte der Republik Österreich, aber auch der Zeit des Zweiten Weltkrieges, wobei versucht wird, sukzessive auch die Analyse der Zeit nach 1945 auszubauen«21. Die besondere Stärke des Instituts lag in der systematischen Vergabe und Betreuung von Dissertationen. Zwischen 1966 und April 1972 wurden insgesamt 78 Dissertationen approbiert und 11 davon auch als Monographien publiziert sowie 16 mit Preisen ausgezeichnet. Die Assistenten des Instituts setzten besondere Schwerpunkte: Anton Staudinger zur Geschichte der christlichsozialen Partei, Gerhard Jagschitz zur Biographie des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß sowie zum NS-Juli-Putschversuch 1934 und Karl Stuhlpfarrer zum Thema Option und Umsiedlung in Südtirol und NS-Germanisierungspolitik in der »Untersteiermark«, Kärnten und »Krain«. Die Zeit nach 1945 wurde vor allem durch Dissertationen abgedeckt zu Themen wie US-Propaganda nach 1945 oder die USIA-Betriebe, beschlagnahmte und von der sowjetischen Militäradministration verwaltete ehemals deutsche Unternehmen. Höchst aktuell war der Versuch, neben schriftlichen Quellen auch historische Interviews auszuwerten, ein Ansatz, der durch eine Befragungsserie in der niederösterreichischen Ortschaft Ottenschlag zur Situation um das Kriegsende 1945 begonnen, aber nie wissenschaftlich ausgewertet wurde. Von allem Anfang an stand auch eine umfassende Sammlungstätigkeit von Privatnachlässen, Dokumenten, Bild- und Tonquellen im Zentrum der Aktivitäten des Instituts. Ansätze zu einem österreichweiten Schwerpunktprogramm Zeitgeschichte – ausgehend von Gesprächen mit dem Linzer Ordinarius Karl R. Stadler im Februar 1972 – blieben in der Planungsphase stecken. Hier hätten international Archivrecherchen in Großbritannien und vor allem in Italien forciert werden sollen. Im Fokus dieser Planungen standen österreichische Außen- und Innenpolitik im Spiegel italienischer, deutscher, ungarischer und vielleicht auch tschechoslowakischer Quellen. Das Oral History Projekt Ottenschlag (ein Ort im niederösterreichischen Waldviertel) sollte bundesländerweise fortgesetzt werden – erste Doktorarbeiten zu 1944/45 für Oberösterreich und Vorarlberg waren bereits vorhanden. 21 Archiv, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien (AIfZG), Korrespondenz Jedlicka, Schreiben an Vogelsang, 20. April 1972, Beilage 2.
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Weitere Schwerpunkte könnte – so Jedlicka – eine Geschichte der politischen Wehrverbände und der politischen Parteien sowie Verwaltungsgeschichte 1939 – 1945 bilden. Warum dieses Gesamtkonzept rudimentär blieb und nicht einmal ansatzweise umgesetzt werden konnte, hing wohl auch damit zusammen, dass eine größere Gruppe von AkteurInnen im Feld der Zeitgeschichte wie Erika Weinzierl und Fritz Fellner an der Universität Salzburg hier nicht wirklich in eine funktionieren Kooperation eingebunden wurde. Während durch die Gründung eines Universitätsinstitutes 1966 und das Ordinariat von Jedlicka sowie die Aktivitäten im Rahmen der großkoalitionär besetzten außeruniversitären und staatlich finanzierten Körner-KunschakKommission22 den jüngeren HistorikerInnen durchaus auch die Möglichkeit geboten wurde, sich von den politischen Vorgaben einer kontrollierten Zeitgeschichte zu entfernen, blieb noch Anfang der 1970er Jahre das Odium der nicht objektiven Zeitungswissenschaft bestehen. Deutlich wurde dies in der Diskussion in der in Salzburg von Erika Weinzierl herausgegebenen Zeitschrift »zeitgeschichte«: So meinte Robert A. Kann, dass die Gefahr der persönlichen Parteinahme nur durch den Abstand zum eigenen Erlebniszeitraum gewährleistet sei, worauf junge Historiker wie Robert Hoffmann und Rudolf G. Ardelt dieser These heftig widersprachen.23 Einen wirklichen HistorikerInnenstreit hat aber diese punktuelle Debatte nicht verursacht, zu modern und zu politisch gefördert wurde die Zeitgeschichtsforschung in den 1970er Jahren. Nachfolgerin des 1974 unerwartet verstorbenen »Papstes« der österreichischen Zeitgeschichte, Ludwig Jedlicka, am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien wurde 1979 Erika Weinzierl. Sie hatte zuerst außerhalb des universitären Bereichs als Leiterin des Instituts für Kirchliche Zeitgeschichte in Salzburg 1962 und als Ordinaria für Österreichische Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Salzburg (das dritte universitäre Zeitgeschichtszentrum neben Wien und Linz) begründet. Eine biographische Darstellung in Band II dieser Reihe wird auch die inhaltlich/ methodische Ausrichtung der Zeitgeschichte in den 1980er und 1990er Jahren thematisieren.
22 Wissenschaftliche Kommission des Theodor Körner-Stiftungsfonds und des Leopold Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938, 1972 gegründet. 23 zeitgeschichte 1973/1974: 77 – 81.
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Conclusio Die Wiener Schule der Zeitgeschichte ist in ihrer Gründungsphase eng mit staatspolitischen Überlegungen zur Konstruktion einer österreichischen Identität in klarer Abgrenzung von Deutschland verbunden gewesen. Während frühere Initiativen auf Vereinsbasis ab 1951 in Alpbach nicht nachhaltig erfolgreich waren, brachte ab 1962 ein Großkoalitionäres Editionsprojekt den notwendigen finanziellen Rahmen und das konkrete Interesse von Entscheidungsträgern aus der Bundesregierung. Zwar wurden zahlreiche Widerstandskämpfer dokumentiert, aber die Frage nach dem politisch erhofften größeren Widerstand von ÖsterreicherInnen im Vergleich mit »Reichsdeutschen« wurde gar nicht gestellt. Das dokumentierte Sample des Widerstandes ließ sich nicht eindeutig auf die beiden Parteien der Großen Koalition umlegen, und es waren auch zu viele Kommunisten und Monarchisten sowie parteipolitisch nicht einordenbare Personen darunter, sodass die Edition unterblieb. Jedlicka erhielt aber die notwendigen Mittel und die notwendigen Kontakte, um 1965 zum außerordentlichen Professor bestellt zu werden. Trotz dieses von der Bundesregierung gewünschten Widerstandsprojekts blieb die Wiener Zeitgeschichte bis in die frühen 1970er Jahre auf die Zeit vor 1938 konzentriert – abgesehen von der Anschluss-Phase 1938/39. Schwerpunkt blieb – ausgehend von Jedlickas Interesse am Ersten Weltkrieg und an Militärgeschichte – die Auseinandersetzung mit politischen Akteuren und Parteien der Ersten Republik. Zunehmend wurden dabei auch vorsichtig politische umstrittene Geschichtsinterpretationen des Bürgerkriegs im Februar 1934 thematisiert. Methodisch gesehen dominierte die Politikgeschichte und Biographieforschung. Internationale Geschichte stand nicht im Zentrum des Interesses – abgesehen von ersten Dissertationen nach 1970 zur US-Besatzungspolitik und der sowjetischen Politik nach 1945. Auch erste kritische Studien zum Antisemitismus endeten 1938 mit Ausnahme der Studien von Gerhard Botz zu Wien 1938/39. Die NS-Zeit kommt daher – im Unterschied zur Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland oder in den USA und Großbritannien – erst im Laufe der 1980er Jahre ins Zentrum der Lehr- und Publikationstätigkeit der Wiener Zeitgeschichte. Teilweise hängt dies mit der Bestellung von Erika Weinzierl als Nachfolgerin des verstorbenen Jedlickas zusammen, teilweise gab es aber auch schon auf Ebene von Forschung und Lehre sowie bei Nachwuchsarbeiten diesen Trend. Diese Entwicklung wurde durch die heftige gesellschaftspolitische Debatte um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Wehrmachtsgeneration 1985/86 mit dem Höhepunkt in der auch internationalen Diskussion um die Kriegsvergangenheit des ehemaligen UN-Generalsekretärs und späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim beschleunigt. Gerade
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in dieser Phase zeigten sich die großen Lücken in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust sowie dem Zweiten Weltkrieg 1938 – 1945 durch die institutionalisierte Zeitgeschichtsforschung in Wien. So sollte es bis 1988 dauern, ehe die erste umfassende kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Universitätsgeschichte in einer Ringvorlesung und nachfolgenden Publikation veröffentlicht wurde; nur zwei der fünf HerausgeberInnen arbeiteten am Institut für Zeitgeschichte.24 Zwar konnte dieser zeitliche »Rückstand« bezüglich der NS-Zeit inzwischen aufgearbeitet werden, aber gerade in der Gegenwartsgeschichte und deren internationaler und europäischer Kontextualisierung in den 1960er/1970er Jahren gibt es im Forschungsbereich deutlichen Handlungsbedarf.
Literaturverzeichnis Archiv Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien (AIfZG): Korrespondenz Jedlicka, Schreiben an Vogelsang, 20. April 1972, Beilage 2. Derndarsky, Michael: Die Berücksichtigung der Zeitgeschichte im Lehrbetrieb der Wiener Universität. Ein Versuch, in: Austriaca. Deux Fois L’Autriche AprÀs 1918 et aprÀs 1945, Num¦ro Special (Juli 1978) 235 – 284. Hanisch, Ernst: Österreich – Die Dominanz des Staates. Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft, in: Wolfgang Schieder und Alexander Nützenadel (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa (Göttingen 2004) 54. Heiss, Gernot / Mattl, Siegfried / Meissl, Sebastian / Saurer, Edith / Stuhlpfarrer, Karl (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945 (Wien 1989). Holechofsky, Johannes: Hugo Hantsch, Dissertation, Universität Wien. Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät 2012. Jedlicka, Ludwig: Vom alten zum neuen Österreich. Fallstudien zur österreichischen Zeitgeschichte 1900 – 1975 (Wien 1975) 5 f. Molden, Otto: Der andere Zauberberg. Das Phänomen Alpbach (Wien 1981) 78. Oberkofler, Gerhard: Das Regierungsprojekt einer Dokumentation über den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung, in: Alfred Klahr Gesellschaft, Mitteilungen, 10. Jg./3 (September 2003) 7 – 17; auch unter [www.klahrgesellschaft.at] (2. Dezember 2014) einsehbar. ÖSTA: Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/1, Curriculum vitae, 18. Jänner 1956, 2. ÖSTA: Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/1, Lhotsky an Drimmel, 30. Juli 1963. ÖSTA: Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/1, Hellmuth Rößler an Jedlicka, 5. August 1963. ÖSTA: Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/ 1, Jedlicka an Hoyer, 3. Februar 1966. ÖSTA: Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/ 1 Hanslik an Brunner, 12. März 1969. 24 Heiss et al. 1989: Wissenschaft.
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ÖSTA: Nachlaß Jedlicka, Karton 1465/2 Magdalena Duchateau, Reminiszenzen oder Der Beginn des Instituts für Zeitgeschichte, 21. Dezember. 1996, 1. ÖSTA: Ministerratsprotokolle, Zl. 2448 Pr.M/66. Universitätsarchiv Wien, Dekanat der Philosophischen Fakultät, Zl. 101/1 – 1965/66, 7. Juni 1966. Zeitgeschichte, 1. Jg. (1973/1974) 77 – 81.
Wolfgang L. Reiter*
Von Erdberg in die Boltzmanngasse – 100 Jahre Physik an der Universität Wien
Im zeitlichen Umfeld der Märzrevolution des Jahres 1848 wurde das Tor für eine Erneuerung der Physik an den österreichischen Universitäten aufgestossen. Die wachsende Bedeutung der industriellen Produktionsweise und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen erforderten nicht zuletzt auch eine verbesserte Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Disziplinen. Eine tiefgreifende Reform des Hochschul-, Unterrichts- und Wissenschaftswesens trug diesen neuen Anforderungen Rechnung: Lehr- und Lernfreiheit und die Verbindung von Forschung und Lehre zusammen mit institutionellen Neuerungen waren die Eckpfeiler der Thun-Hohensteinschen Studien- und Unterrichtsreform. Die Förderung der Naturwissenschaften und insbesondere der Physik ab 1850 orientierte sich weniger an der innerdisziplinären autochthonen Dynamik der Disziplin, sondern folgte vielmehr politischen und ökonomischen Randbedingungen – staatlichen Maßnahmen der Modernisierung von überkommenen Strukturen im Bildungsbereich als politischer Aufgabe der Entwicklung von menschlichen Ressourcen. Im folgenden wird versucht, die institutionellen Randbedingungen für die physikalische Lehre und Forschung mit den individuellen Forschungsleistungen ins Verhältnis zu setzen.
Die heroische Phase 1850 – 1875 Nach ersten konzeptiven Vorarbeiten 1848 für eine Reform des Unterrichts- und Hochschulwesens schlug 1850 mit der kaiserlichen Entschließung vom 17. Jänner die Geburtsstunde der »modernen« Physik in Wien. Die praktische experimentelle Ausbildung, die bisher weitgehend vernachlässigt wurde und daher den veränderten ökonomischen und bildungspolitischen Zielsetzungen nicht mehr entsprach, erhielt nunmehr Priorität; dies betraf vor allem das Studium * Internationales Erwin Schrödinger Institut für mathematische Physik und Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.
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des Lehramts für Physik an Gymnasien, da praktische Übungen im Unterricht ein vorrangiges Ziel dieser Reform waren. Als Direktor und Ordinarius der Experimentalphysik wurde Christian Doppler an das neu gegründete Physikalische Institut an der Universität Wien berufen. Doppler steckte alle seine durch eine schwere Lungenkrankheit schwindende Energie in den Aufbau des Instituts (Erstellung eines Statuts, Inventarisierung und Neuordnung der Instrumentensammlung, Aufbau einer Bibliothek), das mit einem Assistenten, einem Laboranten, einem Mechaniker und sechs Stipendien 30 Gulden pro Semester gut ausgestattet war. Im April 1851 konnten neue Räumlichkeiten in einem Mietshaus Landstrasse 104 in der Wiener Vorstadt Erdberg bezogen werden. Krankheitsbedingt musste Doppler ein Jahr vor seinem frühen Tode 1853 die Direktion abgeben; sein Nachfolger von 1852 bis 1866 wurde Andreas von Ettingshausen. Ettingshausen, der, ohne neue Initiativen zu setzen, eher der Verwaltung der Institutsagenden zugetan war, konnte zwar die Sammlung mit neuen Instrumenten ergänzen, doch insgesamt war die Ausstattung für eine nachhaltige Förderung der physikalischen Forschung unzureichend. In den Jahren 1852 und 1854 studierten am Institut 40 »Zöglinge«; die Ausbildung umfasste drei Semester Übungen in experimenteller Physik, inklusive praktischer Chemie. Ettingshausens Schwiegersohn, der Mineraloge und Kristallograph Wilhelm Josef Grailich, initiierte am Institut Arbeiten zur Kristallphysik und forschte insbesondere im Bereich der Fluoreszenzerscheinungen. Seit 1863 war Josef Stefan am Institut tätig, und nachdem Ettingshausens Vorschlag, neben den »Zöglingen« auch »Mitglieder« am Institut aufzunehmen, angenommen worden war, finden wir dort die jungen Dozenten Victor von Lang und Ernst Mach. Mit der Pensionierung Ettingshausens übernahm Josef Stefan im Oktober 1866 die Direktion des Instituts. Lang, der 1865 die nach August Kunzek von Lichton vakante 1. Lehrkanzel übernommen hatte, bot eine zweisemestrige Vorlesung der Experimentalphysik und widmete sich der Kristallphysik. Er gilt mit seinen Untersuchungen der optischen, magnetischen, thermischen und mechanischen Eigenschaften von Kristallen als einer der Begründer dieser Forschungsrichtung. Hervorzuheben sind Langs frühe und weit verzweigte persönliche Kontakte zu Forschern in ganz Europa, sehr zum Unterschied zu Stefan und Loschmidt, die internationale Kontakte völlig vernachlässigten, wie Ludwig Boltzmann klagend feststellte: »Weder Stefan noch Loschmidt machten meines Wissens eine Reise außerhalb des österreichischen Vaterlandes. Jedenfalls besuchten sie nie eine Naturforscherversammlung [Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte, Anm. d. V.], traten nie mit fremden Gelehrten in innigere persönliche Beziehungen. Ich kann dies nicht billigen; ich glaube, daß sie bei geringerer Abgeschlossenheit noch mehr hätten leisten können. Wenigstens hätten sie ihre Leistungen rascher bekannt und daher fruchtbringender
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gemacht.«1 Zu Langs Schülern zählten Franz Serafin Exner, Johann Puluj, Ernst Lecher, Anton Lampa und Felix Ehrenhaft. Boltzmann konnte von Stefans Initiative profitieren, für Absolventen mit Studienabschluss ein Stipendium (600 Gulden pro Jahr) für die höhere Ausbildung in Physik im Ausland bereit zu stellen, womit 1868 an der Universität Wien ein erstes Postdoc-Programm eingerichtet wurde. Das Jahr 1868 und die Folgejahre brachten für die Physik an der Universität Wien sowohl institutionelle Neuerungen als auch räumliche Veränderungen. Mit der Ernennung Josef Loschmidts zum Extraordinarius der Physik 1868 und drei Jahre später (1872) zum Ordinarius am neu geschaffenen »Physikalisch-chemischen Universitäts-Laboratorium«, das dem Bereich der »chemischen Physik« gewidmet war und vornehmlich photographische und elektrochemische Untersuchungen vornahm, wurde eine 3. Lehrkanzel geschaffen, die der Einsicht entsprang, dieses Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie, das durch die industriellen Entwicklungen an Bedeutung gewonnen hatte, zu fördern. Die Zeit von 1850 bis 1875 zählte zu den fruchtbarsten Perioden der »modernen« Physik in Österreich, die allerdings aufgrund unzulänglicher räumlicher und apparativer Ausstattung der Institute in überwiegendem Ausmass der theoretischen Physik zugewandt war.2 Die Leistungen Stefans lagen überwiegend auf dem Gebiet der theoretischen Physik; sein Name ist mit dem Stefan-Boltzmannschen-Gesetz, das erstmals eine genaue Abschätzung der Oberflächentemperatur der Sonne erlaubte, verbunden. Er war – neben Hermann von Helmholtz – der erste auf dem europäischen Festland, der mit seinen Arbeiten der Maxwellschen Theorie zu breiter Anerkennung verhalf. Und er war es, der seinen Schüler Boltzmann an die molekulare Gastheorie heranführte. Als Experimentator zeigte er mit der Konstruktion des Diathermometers seine Meisterschaft bei der Bestimmung der spezifischen Wärmeleitfähigkeit von Gasen.3 Loschmidt gab mit seiner theoretischen Abschätzung der Grösse des Durchmessers der Luftmoleküle auf der Grundlage der kinetischen Gastheorie einen wichtigen Hinweis auf die atomare Struktur der Materie.4 1861 gelang Loschmidt noch vor dem deutschen Chemiker August Kekul¦ die Aufklärung der Struktur aromatischer Verbindungen; er publizierte seine Erkenntnisse im Eigenverlag in einer völlig unbeachtet gebliebenen Schrift, bis Richard Anschütz dieser 1913 zu wissenschaftlicher Anerkennung verhalf.5 In der breiteren, durchaus auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit gilt 1 Boltzmann 1905: Schriften, 102. 2 In diese Periode fällt auch die Gründung der Chemisch Physikalischen Gesellschaft 1869 in Wien durch Heinrich Hlasiwetz, Josef Loschmidt, Jûzeph Pezval und Josef Stefan. 3 Reiter 2013: Jozˇef Stefan, 18 – 36. 4 Loschmidt 1866: Zur Grösse der Luftmoleküle. 5 Loschmidt 1913: Konstitutions-Formeln.
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Kekul¦ nach wie vor als »Entdecker« des Benzolrings, für dessen Formulierung jedoch Loschmidt Priorität zukommt.
Konsolidierung als dauerhaftes Provisorium 1875 erfolgte die Übersiedlung der – nunmehr – drei Institute in die Türkenstraße 3 in Wien 9 (Alsergrund), eine Maßnahme, für die die Bezeichnung »Provisorium« ein Euphemismus ist, da dieses Mietshaus weder durch seine räumliche Ausstattung, viel weniger noch aufgrund seiner desolaten Bausubstanz für Zwecke eines Institutsgebäudes geeignet war. Es zählt zu den Kuriositäten des Landes, wer alles in diesem Haus zwischen 1875 und 1913 lehrte, forschte und studierte. Eine Gedenktafel erinnert dort seit dem Jahr 2000 an Josef Loschmidt, Joseph Stefan, Ludwig Boltzmann, Franz S. Exner, Stefan Meyer, Egon von Schweidler, Friedrich Hasenöhrl, Lise Meitner, Victor F. Hess, Fritz Kohlrausch und Erwin Schrödinger ; und diese Liste lässt sich um Hans Benndorf, Paul Ehrenfest, Felix Ehrenhaft und Hans Thirring erweitern. 1891 übernahm Franz S. Exner, ab 1874 Assistent bei Lang, die 3. Lehrkanzel und auf sein Ordinariat wurden 1894/95 die Agenden der praktischen Ausbildung (physikalisches Praktikum für Anfänger und Lehramtskandidaten) und die Aufgaben des Physikalischen Instituts (2. Lehrkanzel) übertragen, das in den letzten Jahren des Wirkens Stefans nur mehr formal existierte und 1901 auch de facto aufgelöst wurde. Wiederholt wurde von den Professoren auf die desolaten baulichen Verhältnisse in der Türkenstrasse, den völlig unzureichenden Platzbedarf und die dringende Notwendigkeit eines Neubaus, mit dessen ersten Planungen schliesslich 1904 – nach 30 Jahren Provisorium – begonnen wurde, hingewiesen. 1894 kam Boltzmann als Nachfolger von Stefan aus München als Ordinarius und Direktor des Physikalischen Institus nach Wien. Zwar behielt Boltzmann einen Teil der Apparatesammlung zum eigenen Gebrauch, die Orientierung seines Instituts verschob sich aber deutlich in Richtung theoretische Physik. Der unstete Boltzmann, der sich über die mangelnde Qualität seiner Wiener Studenten im Vergleich zu jener in München bitter beklagte, blieb nur kurz in Wien. Schon 1900 ging er nach Leipzig, von wo er zwei Jahre später nach Wien – und nunmehr endgültig – zurückkehrte. Eine ministerielle Verordnung des Jahres 1897 eröffnete endlich die Zulassung von Frauen zum Studium an der philosophischen Fakultät. Olga Steindler, die spätere Ehefrau von Felix Ehrenhaft, promovierte 1903 als erste Frau im Hauptfach Physik. Als zweite Frau promovierte in diesem Fach 1906 Lise Meitner. Meitner arbeitete am II. Physikalischen Institut gemeinsam mit Selma Freud, die bei Exner als dritte Physikerin promovierte.
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Mit der Rückkehr Boltzmanns nach Wien 1902 erfolgte auf Vorschlag von Exner und Lang eine Neuordnung der Institute: Das alte Kabinett verlor endgültig seinen Namen und wurde zum I. Physikalischen Institut, das Physikalische Institut wurde zum Institut für theoretische Physik. Das ehemals Loschmidtsche Institut wurde zum II. Physikalischen Institut; ihm oblagen die Lehrveranstaltungen für das Hauptfach Physik und für Pharmazeuten. Durch die Neuordnung des Jahres 1902 war für die nächsten zwanzig Jahre der organisatorische Rahmen für die Physik an der Universität Wien festgeschrieben.
Exner und seine Schüler Es ist im Rahmen dieser kurzen Darstellung kaum möglich, den wissenschaftlichen, wissenschaftspolitischen und organisatorischen Leistungen Franz S. Exners auch nur annähernd gerecht zu werden. Die Breite seiner wissenschaftlichen Arbeiten und deren prägende Wirkung auf seine Schüler, seine organisatorischen Fähigkeiten, die in der Konzeption des Neubaus der Physikalischen Institute in der Boltzmanngasse/Strudelhofgasse (hierbei unterstützt durch Eduard Haschek und Ernst Lecher) ihren prägnanten Ausdruck fanden, sind beeindruckend. Die Summe aller seiner Tätigkeiten läßt von einer »Ära Exner« sprechen, die über Exners aktive Zeit hinausgriff, da seine Schüler die überwiegende Anzahl von Lehrstühlen, Ordinariaten und Extraordinariaten in Österreich (in den Grenzen vor 1918) inne hatten.6 Neben frühen experimentellen Untersuchungen, u. a. zur Kristallphysik, orientierten sich Exners Arbeiten an vier umfassenden Teilgebieten: Elektrochemie, atmosphärische Elektrizität, Spektralanalyse und Farbenlehre; ab 1899 erweitert sich das Forschungsprogramm der Exner-Schüler um die Radioaktivitätsforschung. Besondere Beachtung verdienen Schrödingers Beiträge zur Farbenlehre (-metrik) und nicht zuletzt hat die Entdeckung der kosmischen Strahlung 1911/12 durch Victor F. Hess ihre Wurzeln in Exners Forschungsinteressen zur Luftelektrizität und Radioaktivitätsforschung. Exners epistemologische Überlegungen zum statistischen Charakter der Naturerscheinungen und der Naturgesetze, auf die von Schrödinger im Zusammenhang mit Fragen der Interpretation der Quantentheorie verwiesen wurde, werden auch heute noch lebhaft diskutiert.7 Mit Boltzmanns tragischem Tod 1906 in Duino und der Emeritierung Langs 1909 ging eine erste, lange und fruchtbare Periode der Physik an der Universität 6 Karlik/Schmid 1982: Exner. An folgenden Universitäten finden wir Schüler von F. S. Exner : 11x in Wien, 4x in Brünn, 3x in Graz, 3x in Innsbruck, 2x in Prag, 1x in Czernowitz, 1x in Krakau; Schrödinger und Meitner wurde hier nicht berücksichtigt. 7 Exner 1919/1922: Vorlesungen; Schrödinger 1929: Naturgesetz; Coen 2007: Uncertainty.
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Wien zu Ende. Nun galt es den vakanten Lehrstuhl Boltzmanns nachzubesetzen. Die Reihung des Berufungsvorschlags lautete: Wilhelm Wien, Max Planck, Friedrich Hasenöhrl. Nach Absagen von Wien und Planck erfolgte 1907 Hasenöhrls Ernennung zum Ordinarius für theoretische Physik. Zu Hasenöhrls bleibenden wissenschaftlichen Leistungen gehören seine Untersuchungen zur Energie-Masse-Beziehung, unter welchen seine 1904 publizierte Arbeit »Zur Theorie der Strahlung bewegter Körper« noch heute Interesse, wenn auch lediglich historischer Natur, im Zusammenhang mit der von Einstein 1905 allgemein gezeigten Beziehung E=mc2 findet.8 Das wissenschaftliche Ansehen Hasenöhrls zeigen die Einladungen zur Teilnahme an den Solvay-Konferenzen der Jahre 1911 und 1913. Im 41. Lebensjahr stehend wurde Hasenöhrl an der Südtiroler Front 1915 tödlich verwundet. Seine wichtigsten Schüler waren Erwin Schrödinger, Paul Ehrenfest und Karl Ferdinand Herzfeld. 1909 übernahm Ernst Lecher – als Nachfolger Machs von der deutschen Universität Prag kommend – die Leitung des I. Physikalischen Instituts, die er bis 1925 beibehielt. Lechers Arbeit von 1889 zur exakten Messung der Wellenlängen und Frequenzen der elektromagnetischen Strahlung – im Zusammenhang mit der experimentellen Überprüfung der Maxwellschen Theorie des Elektromagnetismus – und der nach ihm benannten Messanordung (»LecherLeitung«) halten seinen Namen als einen der Begründer der Hochfrequenzmesstechnik präsent. Mit Lecher, der sich vehement für den Neubau der Physikalischen Institute beim damaligen Unterrichtsminister Karl Graf Stürgkh einsetzte und die Planungen vorantrieb, übersiedelten nach Fertigstellung des Neubaus der Physikalischen Institute im Sommer 1913 auch Exner und Hasenöhrl in das neue Gebäude, ausgestattet mit moderner elektrischer Infrastruktur, einer Luftverflüssigungsanlage und einem grosszügigem Raumangebot an Arbeits- und Praktikumsräumen; immerhin zählte die sechsstündige Lehrveranstaltung »Physikalische Demonstrationen für Mittelschulen« 1914 ca. 600 Studierende der verschiedenen Richtungen. Die räumliche Ausstattung des neuen Institutsgebäudes, das damals als das größte für Physik in Europa galt, war äußerst großzügig dimensioniert. Dies traf auf die wissenschaftliche Ausrüstung und apparative Ausstattung jedoch nicht zu: Wurden 1911 für die Ausrüstung des I. Physikalischen Instituts 133.918 Kronen 80 Heller und für das II. Physikalische Institut 91.960 Kronen in Voranschlag gebracht, so beliefen sich die Kosten für die wissenschaftliche Ausrüstung schließlich auf lediglich 86.000 Kronen, also eine Kürzung gegenüber den Planungen von ca. 40 %. Raum- und apparative Ausstattung standen also in eklatantem Gegensatz.9 8 Hasenöhrl 1904: Strahlung; Einstein 1905: Trägheit, 639 – 641; Ball 2011: Hasenöhrl; Boughn/ Rothman 2011: Hasenöhrl. 9 Höflechner 1992: Universität Wien, 194 – 195.
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Radioaktivitätsforschung Unmittelbar nach Entdeckung der Radioaktivität gelang 1899 Stefan Meyer und Egon von Schweidler die Ablenkung der »Becquerel-Strahlen« im Magnetfeld und damit ein für die Natur der radioaktiven Strahlung fundamentaler Nachweis, der »zur Erkenntnis der korpuskularen Natur dieser Strahlen und Charakteristik der verschiedenen Strahlengattungen führte«10. Auf der Basis der seit 1905 in Wien zur Verfügung stehenden beachtlichen Menge an radioaktivem Material (ca. 4 Gramm Radiumchlorid) wandten sich Meyer und Schweidler der Aufklärung der Zerfallsprodukte des Radiums und der Radiumzerfallsreihen zu und wiesen nach, dass es sich bei vielen der neu entdeckten radioaktiven Stoffe um Glieder schon bekannter Zerfallsreihen handelte.11 Im Jahre 1905 formulierte Schweidler eine entscheidende Einsicht in das Verständnis des Phänomens der Radioaktivität, die zum Vorbild aller späteren statistischen Interpretationen atomarer Vorgänge wurde: die Theorie der radioaktiven Schwankungen als einer fundamentalen und inhärent probabilistischen Eigenschaft der Radioaktivität. Die von Schweidler postulierte statistische Natur des radioaktiven Zerfallsprozesses konnte wenig später von Fritz Kohlrausch am Exnerschen Institut experimentell bestätigt werden. Die Zeit bis zur Eröffnung des neuen Instituts für Radiumforschung in der Boltzmanngasse 3 im Jahre 1910 war der intensiven Beschäftigung einer jungen Forschergruppe um Meyer mit der Radioaktivität gewidmet, zu der auch Lise Meitner zählte. Aus der Vielzahl der damals entstandenen Arbeiten sei hier nur eine herausgegriffen: der Nachweis, dass Polonium (210Po) kein stabiles Element ist und die Bestimmung der Halbwertszeit von 140 Tagen durch Meyer und Schweidler 1904 (fast gleichzeitig mit Marie Curie). Nur schlaglichtartig können hier die Forschungsleistungen des neuen Instituts gewürdigt werden: Die Entdeckung der kosmischen Strahlung 1911/12 durch Hess, für die er den Nobelpreis für Physik 1936 erhielt, die Vorarbeiten von Friedrich Paneth und Georg von Hevesy 1912/13 zur Entwicklung der Radioindikatormethode12, strahlenchemische Arbeiten, methodische Entwicklungen, Untersuchung und Anwendung der Wirkungen radioaktiver Strahlung in der Medizin und in der Kristallphysik. Die von Otto Hönigschmid am Institut ausgeführten ultragenauen Atomgewichtsbestimmungen des Radiums und die Herstellung und die Eichung von Radiumstandards trugen wesentlich zur Etablierung des internationalen Ranges des Instituts bei und erschlossen der Physik und Chemie eine Reihe neuer Arbeitsgebiete. 10 Meyer 1950: Vorgeschichte. 11 Reiter 2001: St. Meyer. 12 Georg de Hevesy, Nobelpreis für Chemie 1943 »… für seine Arbeiten über die Anwendung der Isotope als Indikatoren bei der Erforschung chemischer Prozesse …«.
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Das Jahr 1912 markiert den Beginn von Karl Przibrams Tätigkeit am Radiuminstitut. Auf Anregung von Meyer wandte er sich den Erscheinungen der Verfärbungen und Lumineszenzen fester Körper, hervorgerufen durch radioaktive Strahlung, zu. Hier wurde er zum Pionier der Forschungen auf dem Gebiet der Beeinflussung von Festkörpern durch Strahlung. 1921 gelang ihm die Entdeckung der Radiophotolumineszenz, die heute in der Dosimetrie radioaktiver Strahlungen praktische Anwendung gefunden hat. Zusammen mit der bulgarischen Physikerin Elisabeth Kara-Michailowa und seinem Schüler Franz Urbach erarbeitete Przibram weitere grundlegende Erkenntnisse zur Radiothermolumineszenz, die von der Gruppe um Przibram erstmals untersucht wurde. Methodische und apparative Entwicklungen bildeten einen Forschungsschwerpunkt, unter denen die systematischen Arbeiten zur photographischen Methode von Marietta Blau ab 1925, später zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Herta Wambacher, zu den bleibenden Forschungsleistungen des Radiuminstituts zählen.13 Der mit dieser Methode 1937 erbrachte Nachweis von Spallationsreaktionen an schweren Kernen in photographischen Emulsionen, ausgelöst durch kosmische Strahlung, gilt als eine der Pionierarbeiten der hochenergetischen Kernphysik. Die ambitionierten, in Konkurrenz zu einer Arbeitsgruppe am Cavendish Laboratory in Cambridge stehenden Untersuchungen der sog. »Kernzertrümmerungs-Gruppe« um den schwedischen Ozeanographen Hans Pettersson und Gerhard Kirsch zu Kernreaktionen an leichten Elementen, führten 1927 zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse zwischen Wien und Cambridge.14 Die allzu unkritische Verwendung der klassischen Szintillationsmethode und falsche Interpretation der Messdaten beschädigte den Ruf des Instituts, förderte in der Folge jedoch auch die Entwicklung elektronischer Nachweismethoden in der Kernphysik (Röhrenelektrometer zur quantitativen Messung kleiner Ionenmengen). Zur weiteren Entwicklung der Kernphysik ab 1932, seit der Entdeckung des Neutrons, vermochte das Radiuminstitut allerdings keine wesentlichen Beiträge zu liefern. Die Wiener Arbeiten verblieben dem Paradigma der phänomenologischen Bearbeitung der radioaktiven Naturstoffe und der von Meyer initiierten Aufklärung der natürlichen Zerfallsreihen verhaftet. Mit dem Nachweis des natürlichen Vorkommens der Isotope 215, 216 und 218 des Elements 85 (Astat) als Zwischenglieder der drei Zerfallsreihen durch Berta Karlik und Traude Bernert wurden 1943 die letzten Lücke im periodischen System der natürlichen Elemente geschlossen.
13 Rosner/Strohmeier 2003: Blau. 14 Stuewer 1985: Cambridge-Vienna Controversy, 239 – 307.
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Die Neuordnung der physikalischen Institute 1920 und der Kleinkrieg der Ordinarien 1918 übernahm Gustav Jäger die Leitung des Instituts für theoretische Physik und wurde zwei Jahre später im Zuge der tiefgreifenden Neuordnung aller Institute Vorstand des II. Physikalischen Instituts. Jäger beschäftigte sich mit der Anwendung der kinetischen Gastheorie auf die innere Reibung hoch komprimierter Gase in Rohrleitungen, ein für die chemische Industrie relevantes Problem, sowie mit Fragen der Raumakustik, insbesondere des Nachhalls (SabineFränkel-Jäger-Theorie). Mit der Neuordnung der physikalischen Institute 1920 wurde dem I. Physikalischen Institut (Lehrkanzel für Experimentalphysik) die Ausbildung der MedizinerInnen und der naturwissenschaftlichen LehramtskandidatInnen zugeordnet; das II. Physikalische Institut hatte die Lehrveranstaltungen für das Hauptfach Physik zu besorgen. Ein neu gegründetes III. Physikalisches Institut übernahm vom Exner-Institut die Vorlesungen für PharmazeutInnen und Felix Ehrenhaft wurde dort zum Ordinarius ad personam ernannt. Im Zuge dieser Neuregelung des physikalischen Unterrichts an der Universität Wien und im Zuge der Ernennungen von Jäger, Ehrenhaft und Meyer zu Ordinarien wurde für die Aufteilung der Lehrverpflichtungen festgehalten, dass jeder der drei Genannten »das Gesamtgebiet der Physik in theoretischer und experimenteller Richtung sowohl lehramtlich […] als auch in seiner Forschungstätigkeit pflegen könne«15. Diese aus heutiger – und wohl auch damaliger – Sicht mehr als problematische (Neu-)Regelung musste implizit die Position des Instituts für theoretische Physik insofern schwächen, da mit dieser Maßnahme die theoretischen Physik in Ausbildung und Forschung ihre Sichtbarkeit und Selbständigkeit verlieren musste. Für das Institut für theoretische Physik gab es denn auch 1920 Pläne zu dessen Auflösung. Der die Auflösung ansprechende Erlass des Staatsamts für Unterricht aus 1920 wurde zwar nicht rückgängig gemacht, jedoch 1926 und vollends mit der Ernennung von Hans Thirring zum Ordinarius stillschweigend aufgehoben – eine für die österreichische Verwaltung nahezu paradigmatische Problemlösung. 1921 übernahm Hans Thirring, vorerst als Extraordinarius, die Leitung des Instituts für theoretische Physik in der Nachfolge von Hasenöhrl. 1927 erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Professor. Im Studienjahr 1923/24 zählte das Institut 24 Studierende. Nach der Emeritierung Lechers 1925 übernahm Schweidler 1926 das I. Physikalische Institut bis zu seiner Entpflichtung Ende März 1938. Mit der Pensionierung Jägers 1934 wurde seitens des Ministeriums als Einsparungsmaß-
15 Höflechner 1992: Universität Wien, 173.
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nahme die Zusammenlegung des II. mit dem I. Physikalischen Institut verlangt. Ehrenhafts Vorschlag auf Zusammenlegung mit seinem Institut stieß auf erbitterten Widerstand seiner Kollegen. Schließlich fügte sich im Oktober 1935 das Ministerium weitgehend den Vorstellungen der Fakultät und genehmigte die Zusammenführung der beiden Institute als »Vereinigtes I. und II. Physikalisches Institut« und beauftragte Karl Przibram mit der Fortsetzung der von Jäger gehaltenen viersemestrigen allgemeinen Vorlesung über Physik für Lehramtskandidaten im Hauptfach.16 Die Zeit von 1920 bis zum Jahr 1938 ist von heftigen Auseinandersetzungen über die Verteilung von Räumlichkeiten und Ressourcen (Dotationen) zwischen Ehrenhaft und Exner, Lecher, Jäger, Schweidler gekennzeichnet, ein Kräfte bindender Kleinkrieg Ehrenhafts »gegen Alle« und umgekehrt. All dies angesichts der sich zuspitzenden sozialen und wirtschaftlichen Konflikte, einer ab 1928 einsetzenden Weltwirtschaftskrise, die mit dem Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt am 11. Mai 1931 Mitteleuropa in eine Finanzkrise schlittern ließ. Die Kommissions- und Fakultätsbeschlüsse aus den Jahren 1920 bis 1938, Anträge an das Ministerium, dessen – zumeist – gescheiterte Schlichtungsversuche, vota und vota seperata (durch Ehrenhaft), zu Fragen der Aufteilung der Werkstätten, der Hörsäle, der Räume, der Sammlungsbestände für die Experimentalvorlesungen, weiters Ehrenhafts Expansionsbestrebungen und die Eindämmungsstrategien seiner Gegner bleiben eine bizarre, allzu lange Episode der Physik in Wien. Von Forschung war in diesem Kleinkrieg nie die Rede, wenn auch die Ablehnung der wissenschaftlichen Arbeiten Ehrenhafts durch seine Wiener Kollegen und die Verhinderung seines Einflusses auf die wissenschaftliche Ausbildung wesentliche Elemente der Querelen waren. Mit dem März 1938 fand all dies ein abruptes Ende. »Erledigungsentwürfe gestrichen, da durch den Abgang des Prof. Ehrenhaft (Jude) der ganze Streit gegenstandslos geworden ist. […] In welcher Weise die physikalischen Institute umoder ausgestaltet bzw. teils neu besetzt werden sollen, wird letzten Endes […] das Reicherziehungs-Ministerium entscheiden«17, so das Ministerium am 10. Mai 1938.
16 Die Personalsituation der fünf (d. h. unter Einschluss des Radiuminstituts) physikalischen Institute stellt sich 1924 wie folgt dar : vier ordentliche, drei außerordentliche Professoren, zwei ordentliche, elf außerordentliche Assistenten, drei wissenschaftliche Hilfskräfte, neun sonstige Hilfskräfte. 17 Höflechner 1992: Universität Wien, 194 – 195.
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Der Einbruch der Barbarei Schon in den ersten Tagen nach dem 13. März 1938 kam es in Wien zu Hausdurchsuchungen bei Professoren, die die Nationalsozialisten aus »rassischen« oder politischen Gründen verfolgten. Kurz nach dem Einmarsch der Hitlertruppen wurde Ehrenhaft in seiner Wohnung von nationalsozialistischen Studenten, die ihn zusammen mit Georg Stetter schon zuvor am Institut drangsaliert hatten, nunmehr unter Führung von Franz Aigner, überfallen und beraubt.18 Die »Beurlaubung« Ehrenhafts wurde sodann am 21. März verfügt. Ich beschränke mich hier auf eine kurze Darstellung der Auswirkungen der politisch und rassistisch motivierten Säuberungen durch die Nationalsozialisten an den physikalischen Instituten der Universität Wien insoweit sie unmittelbar Personen betrafen, die hier genannt wurden.19 Erwin Schrödinger (Honorarprofessor an der Universität Wien) wurde wegen »politischer Unzuverlässigkeit« am 1. September 1938 aufgrund der »Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums« nach § 4, Abs. 1 aus seiner Position an der Universität Graz fristlos entlassen; Hans Thirring (wegen seiner »politischen Unzuverlässigkeit«), Karl Przibram und Stefan Meyer wurden schon im April 1938 entlassen; weiters (aus politischen Gründen) Fritz Hauer. Aus rassistischen Gründen wurden entlassen: David Kurt Konstantinovsky, Friedrich Kottler und Johann Friedrich Ludloff; Eduard Haschek bekam »Hausverbot«. Insgesamt wurden im Bereich der Physik ein Drittel der Professoren bzw. Dozenten entlassen (Chemie ca. 50 %, Mathematik ca. 36 %). Das Institut für Radiumforschung mussten unmittelbar nach dem »Anschluss« oder in Folge der »Säuberungsmaßnahmen« der Nationalsozialisten ein Viertel der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen verlassen, unter ihnen Marietta Blau, Elisabeth Rona, Franz Urbach, Annie Urbach, Eduard Jahoda, Gustav Kürti und Stefan Pelz. Betrachtet man die wissenschaftliche Produktivität (Anzahl der Publikationen in den Mitteilungen der Wiener Akademie der Wissenschaften) aller MitarbeiterInnen am Radiuminstitut der Jahre zwischen 1910 und 1938, so ergibt sich folgendes Bild: Zehn Prozent verloren 1938 ihre Positionen; genau diese zehn Prozent produzierten fünfzig Prozent der wis-
18 Franz Aigner dissertierte bei E. von Schweidler, Assistent bei G. Jäger, an der Technischen Hochschule Wien, Arbeiten zur Raumakustik und Hochfrequenztechnik; 1925 a. o. Professor, ab 1930 o. Professor für technische Physik (Hochfrequenztechnik) an der Technischen Hochschule Wien. Bericht Ehrenhaft an den Bundesminister für Unterricht, Dr. Felix Hurdes, Schreiben betreffend eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Wien, Hans Leitmeier, vom 5. Juni 1950. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, BMU, Personalakt Felix Ehrenhaft. 19 Reiter 1988: Das Jahr 1938.
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senschaftliche Arbeiten. Mit anderen Worten: Die wissenschaftlich produktivste Kohorte wurde vertrieben. Mit dem 13. März 1938 schlug die Stunde der Profiteure der Entlassungen und Vertreibungen. Die 4. Lehrkanzel (III. Physikalisches Institut) wurde nach der Entlassung Ehrenhafts von Gerhard Kirsch vorerst kommissarisch geleitet, dann jedoch aufgelöst, als sich Kirschs Pläne, eine Forschungsstätte für geologischradiologische Arbeiten einzurichten, als unrealistisch erwiesen hatten; 1941 wurde er zum Vorstand des I. Physikalischen Instituts ernannt. Die 3. Lehrkanzel (II. Physikalisches Institut) wurde unter der Leitung von Georg Stetter im Dezember 1938 reaktiviert. Gustav Ortner übernahm 1939 die Direktion des Instituts für Radiumforschung. Damit waren die vakant gewordenen Leitungsfunktionen mit Mitgliedern der NSDAP besetzt. Am 24. April 1938 musste Hans Thirring die Leitung des Instituts für theoretische Physik an Ludwig Flamm, Professor für Physik an der Technischen Hochschule Wien, übergeben. Ab 1. Dezember 1938 bis zum Ende des Kriegs leitete Stetter das II. Physikalische Institut als Direktor und Professor für höhere Physik; zugleich war er Leiter des im Rahmen des deutschen »Uranvereins« 1942/43 gegründeten und vom Reichsamt für Wirtschaftsausbau finanzierten »Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung«. Stetter und seine Mitarbeiter Josef Schintlmeister, Willibald Jentschke, Richard Herzog und Friedrich Prankl befassten sich im Rahmen des »Uranvereins« mit der Messung von Spalt- und Absorptionsquerschnitten und Bestimmungen zur Resonanzabsorption von neutronenindizierten Kernreaktionen und stellten experimentelle Untersuchen zur Klärung der Energiebilanz der Spaltbruchstücke an. 1939 bestimmten Stetter und Jentschke die Bindungsenergie des Deuterons und die Masse des Neutrons und Jentschke und Prankl wiesen auch die asymmetrische Massenverteilung der Spaltbruchstücke nach Spaltung des Urans mit thermischen Neutronen nach. Mit dem Nachweis der Kernspaltung des Ioniums und der Messung der Reichweitenverteilung von Kernbruchstücken konnten die Wiener Kernphysiker weitere durchaus beachtenswerte Beiträge zur Spaltungsphysik liefern. Die Produktivität des »Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung« um Stetter und Ortner ist insgesamt als eher gering zu bewerten; innerhalb des gesamten »Uran-Vereins« waren die Aktivitäten der Wiener Gruppe von marginaler Bedeutung.
Zukunft mit Altlasten: 1945 – 1970 Die Maßnahmen der Entnazifizierungskommission an der Universität Wien hatten eine tiefgreifende Veränderung in den Leitungsfunktionen der physikalischen Institute zur Folge. Die Direktoren aller physikalischen Institute wurden
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aufgrund § 14 des Verbotsgesetzes mit Juli 1945 entlassen: Kirsch, Stetter und Ortner. Der Sommerfeld-Schüler Erwin Richard Fues, Direktor des Instituts für theoretische Physik ab 1943, war als »Reichsdeutscher« durch Wiedereinstellung von Hans Thirring im Mai 1945 »entbehrlich« geworden.20 Weiters wurden vier PrivatdozentInnen (Richard Herzog, Jentschke, Schintlmeister, Wambacher) aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft bzw. -anwärterschaft enthoben. Theodor Sexl, Privatdozent am Institut für theoretische Physik, als Parteimitglied im August 1945 gleichfalls seiner Funktion enthoben, obwohl sich die Kommission zuvor für seine weitere Lehrtätigkeit aus Gründen des Unterrichtsbedarfs ausgesprochen und »besondere persönliche Verhältnisse« ins Treffen geführt hatte, wurde wieder eingestellt. Sexl führte einen viersemestrigen fünfstündigen Vorlesungszyklus aus klassischer theoretischer Physik, vornehmlich für LehramtskandidatInnen und StudentInnen mit Experimentalphysik als Hauptfach.21 Erwin Schrödinger kehrte 1956 nach Österreich zurück und lehrte wieder an der Universität Wien als Extraordinarius, ein Status, der für ihn mit Beginn 1. Jänner 1956 geschaffen wurde. Sein Assistent war 1956 – 1959 Leopold Halpern, der 1947 aus Palästina zurückgekommen war, um in Wien Physik zu studieren. Schrödingers Einfluss auf das Institutsleben war gering, da er sich mit Problemen beschäftigte, die – wie er selbst bekannte – dem Fortkommen junger Theoretiker mehr hinderlich als nützlich sein mussten; seine Überlegungen zu einer vereinheitlichten Feldtheorie und zur allgemeinen Relativitätstheorie galten zur damaligen Zeit als Außenseiterthemen. Ehrenhaft kehrte im April 1947 nach Wien als US-Guest Professor zurück und übernahm im Herbst 1947 die Leitung des I. Physikalischen Instituts, dem das III. Physikalische Institut eingegliedert worden war. Bis zu seiner Übernahme der Leitung des I. Physikalischen Instituts leitete seit 1945 Franziska Seidl interimistisch das Institut.22 Ehrenhaft begann sofort mit seiner Vorlesungstätigkeit und wählte als physikalisch provokantes Thema »Der einzelne Magnetpol und dessen Bedeutung für die Naturwissenschaften«. Im Juni 1951 erlitt Eh20 Zimmel/Kerber 1992: Thirring. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, BMU, GZ 4111/III/4 – 45 vom 22. August 1945. 21 Theodor Sexl, Studium der Physik an der Universität Wien, Promotion 1923. Zusammenarbeit mit Felix Ehrenhaft über Radiometerkräfte sowie mit Theodor von Krmn und Ludwig Hopf an der Technischen Hochschule Aachen bei hydrodynamischen Problemen (laminare Poiseuillesche Strömung). Assistent am Institut für theoretische Physik in Wien bei Hans Thirring; Arbeiten zur Streutheorie zusammen mit Eugen Guth (1905 – 1990); Habilitation 1930. Ab 1931 Vorlesungen über Kernphysik aus wellenmechanischer Sicht. Ernennung zum a.o. Professor für Theoretische Physik 1955 und zum Ordinarius 1963. 22 Franziska Seidl, Promotion bei Lecher 1923, Habilitation 1933, 1942 Ernennung zum außerplanmäßigen Professor für Experimentalphysik, Ernennung zum a.o. Professor 1958 und 1963 zum tit. o. Professor. Seidls Hauptarbeitsgebiet waren Experimente mit Ultraschall und die Ausbildung von LehramtskandidatInnen in Physik sowie der Ausbau des Schulversuchspraktikums.
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renhaft einen Schlaganfall, der ihn im 72. Lebensjahr knapp vor seiner Pensionierung stehend aus seinen mit Leidenschaft betriebenen Experimenten riss. Felix Ehrenhaft verstarb an den Folgen des Schlaganfalls am 4. März 1952 in Wien. Mit der Vakanz des Ordinariats nach Ehrenhaft schlug Stetters Stunde. Er konnte 1948 erreichen, dass seine 1945 aufgrund des § 14 des Verbotsgesetzes ausgesprochene Entlassung als ordentlicher Professor rückwirkend mit 18. Februar 1947 aufgehoben wurde. Zudem beschied die Bezirkshauptmannschaft Zell am See im Oktober 1950, Stetter aus der Registrierungsliste als Mitglied der NSDAP zu streichen, da er den Beweis erbringen konnte, »dass ihm die Mitgliedskarte der NSDAP nicht ausgefolgt wurde und er somit im Sinne der Satzungen der NSDAP nicht Mitglied dieser Partei gewesen sei.«23 Stetter steht für jene in ihrem Selbstverständnis »deutschnationale Elite« von Akademikern, die sich nach 1945 aus ihrer Verantwortung und ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus herausgelogen hat. Nicht zuletzt waren sie Nutznießer des »Kalten Kriegs«, in einer Situation, in der wissenschaftliche Kompetenz unabhängig von der Involvierung in den Nationalsozialismus gefragt war, gepaart mit einer reaktionären Politik der Restrukturierung der Universitäten durch die österreichischen Regierungen. Für Stetter war nun der Weg zurück nach Wien frei: 1953 wurde er als Ordinarius und Vorstand des I. Physikalischen Instituts berufen. Als fähiger Experimentator hatte er bis 1945 auf dem Gebiet der Kernreaktionen gearbeitet. Bedingt durch die dann private Erwerbstätigkeit, v. a. in der Industrie, änderte Stetter nach dem Krieg sein Arbeitsgebiet und widmete sich nun der Physik der Stäube und Aerosole, sowie des CO2-Gehalts der Atmosphäre und dessen Schwankungen. Stetter initiierte damit am I. Physikalischen Institut eine neue – anfangs eher belächelte – Forschungsrichtung der Umweltphysik, die zunehmend auch von öffentlicher Relevanz im Zusammenhang mit Immissionen und Emissionen von Luftschadstoffen wurde. Stetter war Obmann der ÖAW-Kommission für Reinhaltung der Luft und beratend an den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen zur Reinhaltung der Luft beteiligt. Stetter emeritierte 1967. Peter Weinzierl, der 1949 bei Herzog am I. Physikalischen Institut promovierte, trat die Nachfolge von Stetter als Ordinarius und Vorstand des I. Physikalischen Instituts 1967 an. Seine Arbeitsrichtung betraf Kernphysik, kernphysikalische Elektronik, sowie die Struktur von Flüssigkeiten und Festkörpern. Weinzierl wurde 1993 emeritiert. Othmar Preining, der 1951 bei Ehrenhaft promovierte, wurde 1968 zum a.o. Professor und 1971 zum o. Professor für Physik am I. Physikalischen Instituts, das 1977 seine Bezeichnung in Institut für Experimentaphysik änderte, ernannt. Preining wurde – im Anschluss an die 23 Archiv der Universität Wien, Personalakt Georg Stetter.
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Arbeiten Ehrenhafts und Stetters – zu einem der Pioniere der modernen Aerosolforschung, die er mit einer Arbeitsgruppe am Institut dauerhaft etablierte. 1995 wurde Preining emeritiert. Weiters wirkten an diesem Institut im Bereich Aerosol- und Umweltphysik Ernst Reeger in den Jahren 1971/72, Hans Warhanek von 1971 bis 1995 und Michael J. Higatsberger von 1971 bis 1994, der sich verstärkt der Physikdidaktik zuwandte, als ordentliche Professoren. Przibram gelang im Frühjahr 1940 die Flucht aus Wien nach Belgien, wo er in Bruxelles, befasst mit Arbeiten für die Bergbaugesellschaft »Union MiniÀre du Haut Katanga«, die Kriegsjahre überleben konnte. Nach seiner Rückkehr nach Wien trat Przibram am 1. Juni 1946 wieder seinen Dienst als Extraordinarius am Radiuminstitut an; die Ernennung zum Ordinarius und Vorstands des II. Physikalischen Instituts erfolgte zum 17. März 1947. Neben einem viersemestrigen Vorlesungszyklus und mit dem physikalischen Praktikum für Anfänger und Fortgeschrittene oblag Przibram und dem Institut ein wesentlicher Teil der Ausbildung der StudentInnen. Nach Przibrams Emeritierung im September 1950 übernahm 1951 der Metallphysiker und Verfahrenstechniker Erich Schmid die Leitung des Instituts, weiterhin mit dem Hauptarbeitsgebiet Festkörperphysik, nunmehr an metallischen Einkristallen und technischen Vielkristallen.24 Karl Lintner, der bei Stetter 1940 sein Doktorat machte und im Rahmen des Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung über inelastische Streuung von schnellen Neutronen an Uran arbeitete und nach 1945 am II. Physikalischen Institut als Assistent wirkte (Habilitation 1949, tit. ao. Prof. 1959, a.o. Prof. 1964), brachte seine Kenntnisse der Kernphysik in die festkörperphysikalisch orientierte Richtung des Instituts ein und zusammen mit Untersuchungen der Wirkung des Ultraschalls auf Metalle entstand so am II. Physikalischen Institut ein integriertes Forschungsprogramm der Festkörperphysik.25 Nach der Emeritierung von Schmid 1967 übernahm Lintner die Leitung des Instituts (Ernennung zum o. Prof. und Vorstand des II. Physikalischen Instituts 1968), das 1971 mit zusätzlichen drei ordentlichen Professuren (für Halbleiterphysik, theoretische Festkörperphysik und Tieftemperaturphysik) ausgestattet und 1977 in Institut für Festkörperphysik umbenannt wurde.26 Die Tieftemperaturphysik hielt mit der Errichtung eines eigenen Zubaus und der Installation einer Anlage zur Verflüssigung von Helium 1964 Einzug in die Boltzmanngasse 24 Promotion bei F. Ehrenhaft 1920. Erich Schmid ist bekannt durch das »Schmidsche Schubspannungsgesetz«. 25 Vgl. Lintner/Schmid 1962: Werkstoffe. 26 Das Ludwig-Boltzmann-Institut für Festkörperphysik wurde 1965 als außeruniversitäre Forschungeinrichtung der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft gegründet. Karlheinz Seeger (1927 – 2008), ordentlicher Professor für angewandte Physik am II. Physikalischen Institut ab 1971 und Begründer der modernen Halbleiterphysik in Österreich, leitete das Institut in den Jahren von 1968 bis zum Jahr seiner Emeritierung 1995.
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und Ferdinand Stangler (Promotion bei Schmid 1952, Habilitation 1963, Ernennung zum o. Professor 1971) baute die Tieftemperaturphysik zu einem neuen, dynamischen Arbeitsgebiet des Instituts aus. Lintner emeritierte 1983. Gero Vogl, der 1965 bei Schmid promovierte, wurde 1985 als o. Professor an das Institut berufen, wo er den Schwerpunkt »Nukleare Festkörperphysik« aufbaute.27 1996 wurde das Institut für Festkörperphysik in Institut für Materialphysik umbenannt. Meyer wurde unmittelbar nach Kriegsende wieder in seine frühere Position als Direktor des Radiuminstituts eingesetzt, übte diese Funktion jedoch nicht aus.28 Karlik übernahm 1945 die provisorische Leitung und wurde zwei Jahre später mit der definitiven Leitung des Instituts der Akademie betraut, als Meyer aus Altersgründen in Pension ging. Im Jahr 1950 wurde Karlik zur außerordentlichen Professorin für Kernphysik und 1956 zur ersten Ordinaria der Universität Wien, ja überhaupt einer österreichischen Universität, ernannt und mit der Leitung des Instituts für Radiumforschung betraut. Mitte der 1950er Jahre wurde mit dem Bau eines ersten Teilchenbeschleunigers zur Erzeugung von hochenergetischen Neutronen begonnen und 1965 ein leistungsfähiger Cockcroft-Walton-Neutronengenerator in Betrieb genommen. Karliks Forschungsprogramm der Untersuchung von Kernreaktionen sowie das Studium von Kernmodellen (u. a. mit Hilfe von Computeralgorithmen für die Berechnung von Reaktionsparametern nach dem statistischen Kernmodell) erwies sich für die nächsten Jahre als tragfähiges Konzept für ein Institut dieser Größe und materiellen Ausstattung. Der geänderten Ausrichtung der Forschung wurde 1955 durch die Änderung des Namens in »Institut für Radiumforschung und Kernphysik« Rechnung getragen. Walter Thirring folgte seinem Vater Hans Thirring, der 1958 emeritierte, als Ordinarius am Institut für theoretische Physik 1959 nach. Mit der Berufung von Walter Thirring fand das Institut bald Anschluss an die internationalen Entwicklungen und errang über die Grenzen Österreichs hinaus wissenschaftliche Sichtbarkeit. In einem Rückblick auf sein Forscherleben benennt Thirring eine Reihe von Problemen, mit denen er bei seiner Berufung konfrontiert war und die für ihn unabdingbare Programmpunkte für seine Tätigkeit in Wien darstellten: Erneuerung des Vorlesungs-Curriculums (Berücksichtigung moderner Gebiete, insbesondere Quantenmechanik), Internationalisierung, Aufbau einer experimentellen Hochenergiephysik im Zusammenhang mit dem 1959 erfolgten Beitritt Österreichs zum CERN.29 Das Zentrum der Lehrtätigkeit Thirrings bildete 27 [http://www.oepg.at/uploads/882ce2ea7b9648ae6160991f736b2117.pdf.] (1. August 2013). Vogl emeritierte 2009. 28 Reiter 2000: Meyer, 105 – 143. 29 Thirring 2008: Lebenswege, 151.
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ein achtsemestriger fünfstündiger Vorlesungszyklus über das Gesamtgebiet der theoretischen Physik, dessen Charakter sich ab Beginn der 1970er Jahre der sich herausbildenden neuen Richtung einer »mathematischen Physik« zunehmend öffnete. Im Rahmen des Instituts für theoretische Physik wurde von Thirring eine Gruppe zur Auswertung von Fotoemulsionen und Blasenkammerfotos, die am CERN produziert worden waren, installiert, deren DissertantInnen von Marietta Blau, die 1960 nach Wien zurückgekehrt war, betreut wurden. Die Institutionalisierung der Kooperation österreichischer ForscherInnen mit CERN konnte schließlich 1966 mit der Gründung des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erreicht werden. Herbert Pietschmann, dessen Arbeitsgebiet vornehmlich der phänomenologischen Hochenergiephysik galt, wurde 1971 als Ordinarius an das Institut berufen (Emeritierung 2004), ebenso wie im gleichen Jahr Roman Ulrich Sexl, der das Gebiet der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Kosmologie vertrat und sich der Didaktik der Physik widmete. 1973 erfuhr das Gebiet der theoretischen Hochenergiephysik eine weitere Stärkung durch die Berufung von Alfred Bartl (Emeritierung 2006). Das Forschungsprogramm des Instituts für theoretische Physik entsprach mit den Neuberufungen und dem Ausbau von Arbeitsgruppen in den Bereichen der mathematischen Physik, der phänomenologischen Hochenergiephysik und der Kosmologie und allgemeinen Relativitätstheorie dem breiten Spektrum der Forschungsinteressen von Walter Thirring, dessen Persönlichkeit das Institut nachhaltig prägte. Walter Thirring emeritierte 1995; er verstarb am 18. August 2014 im Alter von 87 Jahren. Dieser kurze Überblick über 100 Jahre Physik an der Universität Wien bietet mit seiner diachronen Fortschreibung der Entwicklung dieser Disziplin, ihrer organisatorischen Gestaltung im Kontext wechselnder politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse ein recht vereinfachtes und komprimiertes Bild des komplexen Geschehens zu Lasten einer stärkeren Betonung der Forschungsleistungen und ihrer epistemischen Leitfäden. Die organisatorischen Strukturen einer »Ordinarien-Universität«, die bis in die 1970er Jahre und bis zum UOG 1975 dominierten, prägen hier die historische Darstellung. Für die Zeit nach 1945 wurden nur jene Angehörigen der Universität Wien im Fach der Physik in die Betrachtungen einbezogen, die ihre akademische Karriere mit der Emeritierung (bzw. Pensionierung) beschlossen haben oder nicht mehr unter den Lebenden weilen. Der Aufbruch, den die Physik an der Universität Wien ab den 1990er Jahren erfuhr, bleibt hier demgemäß völlig unberücksichtigt.
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Wolfgang L. Reiter
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Zweifellos spiegelt sich die Sonderstellung der Chemie in der Reihe der Naturwissenschaften in einer spät erfolgten Verankerung innerhalb der Universität wider. Dahinter steht die über Jahrhunderte ungeklärte Frage des Status dieser Disziplin. Während im Mittelalter die Alchemie als ars (als Kunst) galt, wurde sie im 16. Jahrhundert als magia naturalis begriffen. Es hat in Wien schon sehr früh bemerkenswerte Ansätze gegeben, im Rahmen der Ausbildung von Medizinstudenten, chemisches Wissen zu systematisieren. Die Werke der Professoren Konrad von Megenberg im 14. und Michael Puff im 15. Jahrhundert waren von großem Einfluss auf dem Weg der Chemie zur Verwissenschaftlichung. Die Ideen der Aufklärung, die den Naturwissenschaften wachsende Bedeutung zumaßen, konnten allerdings nur sehr verzögert Fuß fassen.
Die gemeinsame Lehrkanzel für Botanik und Chemie an der medizinischen Fakultät Die erste Lehrkanzel, an der systematischer Chemieunterricht stattfand, war die im Jahre 1749 an der medizinischen Fakultät gegründete Lehrkanzel für Botanik und Chemie. Ihre Gründung geht zurück auf den Vorschlag des kaiserlichen Leibarztes und Boerhaaveschülers Gerard van Swieten, der 1745 im Gefolge von Franz Stefan von Lothringen nach Wien gekommen war. Robert FranÅois Laugier, Sohn eines Apothekers aus Nancy, war der erste Professor auf dem neuen Lehrstuhl. Laugier richtete in jenem Universitätsgebäude, in dem sich heute die Akademie der Wissenschaften befindet, ein kleines Laboratorium für den Lehrbetrieb ein. 1758 war Rugjer Josip Bosˇkovic´, einer der bedeutendsten Gelehrten des 17. Jahrhunderts, Gast der Universität. Hier in Wien ließ er sein Hauptwerk, die »Philosophiae naturalis theoria« drucken, worin er die Ansicht * Institut für Anorganische Chemie der Universität Wien.
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vertrat, dass die Atome nichts als massenbehaftete Punkte im Raum sind, von denen Kraftfelder ausgehen. Bosˇkovic´ gilt heute als Urheber des Feldbegriffs. 1768 wurde Nikolaus Joseph von Jacquin zum Professor für Botanik und Chemie ernannt. Jacquin erweiterte den Chemieunterricht um Mineralogie und Dokimasie. Jacquin war seit 1775 mit dem 1768 nach Wien berufenen kaiserlichen Leibarzt und Naturforscher Jan Ingenhousz verschwägert, der die Bedeutung des Lichts für das Wachstum der Pflanzen und die Sauerstoffproduktion entdeckte. Ingenhousz’ engster Mitarbeiter war Johann Andreas Scherer, der 1806 zum Professor für Spezielle Naturgeschichte an der Universität Wien berufen wurde.1 Scherer war ein Vorkämpfer für die von Antoine de Lavoisier vorgeschlagene neue chemische Nomenklatur und bekämpfte die Positionen der deutschen Phlogistoniker. Nikolaus Jacquins bedeutendster Schüler war sein Sohn Joseph Franz von Jacquin, der sich so wie Scherer den Ideen Lavoisiers verpflichtet fühlte. Während die Chemie in den viereinhalb Jahrzehnten, die Joseph Franz von Jacquin im Amt war, international eine stürmische Entwicklung durchlebte, zeigte sich, dass eine Teilung der Lehrkanzel in Botanik und Chemie erforderlich war. Die Teilung erfolgte 1838 mit der Berufung des Prager Professors Adolf Pleischl. Der berühmte deutsche Chemiker Justus von Liebig, der selber als Jacquin-Nachfolger im Gespräch gewesen war, äußerte sich öffentlich über Pleischl in vernichtender Weise, da dieser zwar Erfolge in der Analyse von Mineralwässern und der Herstellung von Email aufweisen konnte, sonst aber den Anschluss an die Entwicklung der Chemie in Europa verpasst hatte.
Die Gründung und die ersten Jahrzehnte des I. Chemischen Instituts an der philosophischen Fakultät Wesentliche neue Rahmenbedingungen wurden 1849 durch die Thun-Hohensteinsche Hochschulreform geschaffen. Eine der Maßnahmen war die Errichtung von selbstständigen Lehrkanzeln für Chemie an den philosophischen Fakultäten aller Universitäten des Kaiserreiches. Josef Redtenbacher, ein Schüler Jacquins, der auch bei Liebig in Gießen studiert hatte und Professor für Chemie an der Karls-Universität in Prag geworden war, übernahm den Aufbau des neuen chemischen Instituts in Wien. Redtenbacher hatte in Gießen die neuesten Lehrund Analysemethoden kennen gelernt. Redtenbachers Schüler konzentrierten sich in der Folge mehr und mehr darauf, mit den neuen Analyseverfahren die Inhaltsstoffe verschiedenster Pflanzen zu erforschen. 1 Svojtka 2010: Naturgeschichte an der Universität Wien, 51.
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Das Laboratorium für die praktischen Übungen der Studenten wurde zunächst provisorisch im Theresianum eingerichtet. Kurz vor seinem Tod plante Redtenbacher gemeinsam mit dem Architekten Heinrich von Ferstel ein eigenes Gebäude für ein neues chemisches Universitätslaboratorium in der Währingerstraße Nr. 10. Nachfolger Redtenbachers am I. Chemischen Institut war 1870 sein ehemaliger Mitarbeiter in Prag Franz Coelestin Schneider. Schneider, der sich im Revolutionsjahr 1848 als Hauptmann der Akademischen Legion exponiert hatte, gilt als Begründer der forensischen Toxikologie in Österreich. Nach der Emeritierung Schneiders 1876 übernahm Ludwig Barth zu Barthenau, der bei Heinrich Hlasiwetz und bei Liebig studiert hatte, die Leitung des I. Chemischen Instituts. Barth war einer der beiden Gründer der bis heute erscheinenden »Monatshefte für Chemie«.
Die Lehrkanzel für Angewandte Medizinische Chemie an der medizinischen Fakultät Nach 1849 war die Frage der chemischen Ausbildung angehender Ärzte strittig: Sollte ein promovierter Chemiker oder ein Mediziner das sich langsam etablierende neue Fach einer physiologischen Chemie vertreten? Bereits 1842 hatte der Chemiker Johann Florian Heller2 auf eigene Kosten ein bescheidenes pathologisch-chemisches Laboratorium in unmittelbarer Nähe zum Allgemeinen Krankenhaus eingerichtet. In diesem Laboratorium wurden Harn- und Blutproben analysiert. Der bedeutendste Assistent Hellers war der Harnanalytiker Vincenz Kletzinsky, der in seinem Lehrbuch 1858 erstmals den Begriff »Biochemie« verwendete.3,4 1874 wurde der Chemiker Ernst Ludwig, Schüler Redtenbachers und Bunsens, an die neu errichtete Lehrkanzel für Angewandte Medizinische Chemie berufen. Der Chemieunterricht für die Studenten der Medizin wurde nun an die Fakultät für Medizin verlegt, was zu einer wesentlichen Entlastung der Professoren an der philosophischen Fakultät beitrug. Ludwig verfeinerte die Methoden der Mineralwasseranalyse sowie der forensischen Chemie. Von 1878 bis 1883 arbeitete am Institut Ludwigs Jan Horbaczewski, der von 1917 bis zum Untergang der Monarchie Minister für Volksgesundheit war und nach dem Krieg als Professor an der Ukrainischen Universität in Prag wirkte. Von 1888 bis 1890 war der als Begründer der biochemischen Krebsforschung bekannte Ernst Freund Assistent am chemisch-pathologischen Laboratorium und um 1891 arbeitete 2 Kernbauer 2002: Klinische Chemie, 16. 3 Haswell 1882: Vinzenz Kletzinsky, 3310. 4 Angerer 2008: Chemisch-pathologisches Laboratorium, 65.
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dort der Entdecker der Blutgruppen Karl Landsteiner.5 Nach Ludwigs Emeritierung supplierte dessen ehemaliger Assistent Julius Mauthner, der 1896 für seinen Beitrag zur Strukturaufklärung des Cholesterins bekannt geworden war, die Wiener Lehrkanzel. Von 1919 bis 1921 war der spätere Nobelpreisträger Hans Fischer Institutsvorstand. Fischers wesentliche wissenschaftliche Leistung war die Konstitutionsaufklärung und Synthese wichtiger Pyrrolfarbstoffe. 1921 wurde der organische Chemiker Emil Fromm Fischers Nachfolger. Unter Fromm bezog das Institut seinen heutigen Standort in der Währingerstraße 10. Mit Otto von Fürth wurde 1929 erstmals ein Mediziner Vorstand des Instituts für Medizinische Chemie. Fürth bearbeitete zahlreiche wichtige Themen der Biochemie. Es gelang ihm die Isolierung von L-Adrenalin aus der Nebenniere, er erforschte den Tryptophangehalt des Blutserums und befasste sich mit Mikromethoden zur Fettsäurebestimmung. 1937 vermittelte Otto von Fürth in vorausschauender Weise seinem Doktoranden von 1936, Samuel Mitja Rapoport, ein Stipendium am Cincinnati Children’s Hospital in Ohio. Dort stieg Rapoport 1946 zum Chef der physiologischchemischen Abteilung des Kinderspitals auf. Er kehrte 1950 nach Wien zurück und reichte im August 1951 an der medizinischen Fakultät um Aufnahme des Habilitationsverfahrens ein, was abgelehnt wurde.6 Ein weiterer Mitarbeiter Fürths war Fritz Lieben, Sohn des Chemikers Adolf Lieben, der 1935 ein über 700 Seiten starkes Buch über die »Geschichte der physiologischen Chemie« publiziert hatte. Fritz Lieben wurde 1938 die Venia entzogen. Er konnte – zum Unterschied zu seinem jüngeren Bruder Heinrich, der 1945 im KZ Buchenwald ermordet wurde – rechtzeitig in die USA emigrieren. Ganz anders verlief die Karriere des Fürth-Schülers Theodor Leipert,7 der durch seine Iodbestimmung in Körperflüssigkeiten bekannt war. Leipert wurde 1937 Dozent, trat 1938 der NSDAP und 1944 der SS bei. Er wurde 1954 tit.ao. Professor in Wien und Laborleiter der Wiener Gebietskrankenkasse.8 1941 wurde Fürths Mitarbeiter Karl Hermann Barrenscheen Ordinarius am Institut. Barrenscheen war seit 1933 illegales Mitglied der NSDAP und seit 1934 Mitglied der SA. Barrenscheens 1932 vorgeschlagene Formel für Adenosintriphosphat wurde bereits 1935 falsifiziert. Nach dem Krieg leitete der 1938 seiner Lehrtätigkeit in Graz enthobene Mikroanalytiker Michael Zacherl das Geschick des Instituts für Medizinische Chemie. 1949 folgte der Krebsforscher Franz Seelich. 1963 wurde Hans Tuppy 5 6 7 8
Wyklicky 1990: Vertreter der Klinischen Chemie, 1245. Hofmann 2002: Rapoport, 728. Kaiser 1994: Clinical Chemistry, 580. Pfeifer 2005: Bedenkjahr.
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Ordinarius. 1973 wurde am Institut eine Abteilung für Klinische Chemie und Biochemie eingerichtet. Im gleichen Jahr wurde Erich Kaiser, dessen Spezialgebiet die Tiergifte waren, zum ordentlichen Professor für Medizinische Chemie ernannt. Im Jahre 2000 wurde nach etlichen Jahren eines Provisoriums Hans Goldenberg Ordinarius. Zu Goldenbergs Forschungsthemen zählten der Eisenmetabolismus und Redoxprozesse in Zellmembranen.
Die Gründung des II. Chemischen Instituts an der philosophischen Fakultät Weil auch für Pharmaziestudenten die Absolvierung eines chemischen Praktikums vorgeschrieben wurde und damit die Zahl der Studenten in die Höhe geschnellt war, erwies sich 1870 eine Teilung des Chemischen Instituts an der philosophischen Fakultät in zwei Lehrkanzeln als notwendig. Der erste Professor des neu gegründeten II. Chemischen Instituts war Friedrich Rochleder, der – wie sein Lehrer Redtenbacher – nach einer Ausbildung bei Liebig die chemische Lehrkanzel in Prag geleitet hatte. Der Forschungsschwerpunkt lag auf der organischen Chemie. Rochleder hatte bereits in Prag etliche Arbeiten auf dem Gebiet der Phytochemie veröffentlicht. Die Isolierung und Aufklärung der Konstitution von Naturstoffen, besonders von Alkaloiden, war zentrales Thema im Forschungsprogramm der Universität Wien. Nachfolger Rochleders wurde Adolf Lieben, der zuvor die Lehrkanzel in Prag geleitet hatte. Lieben war vor der Gleichstellung der Juden durch die Verfassung von 1867 von der Ausübung einer Professur an einer österreichischen Hochschule ausgeschlossen gewesen. Er hatte bei Bunsen in Heidelberg, bei Wurtz in Paris, bei Cannizzaro in Palermo und schließlich in Turin gearbeitet, bevor er 1871 nach Prag und 1875 nach Wien berufen wurde. Lieben leitete das II. Chemische Institut, das größte chemische Institut Österreichs, einunddreißig Jahre lang und übte alleine dadurch einen großen Einfluss auf die Ausbildung der österreichischen Chemiker im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus. Die Zahl der promovierten Chemiker wuchs damals sprunghaft. Wurden von 1870 bis 1879 bloß drei Dissertationen approbiert, so waren es zwischen 1880 und 1889 schon dreißig. In den Jahren 1890 bis 1899 promovierten 94 Chemiker an der Universität Wien, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der Chemiker, die ihr Studium mit einem Doktorat abschlossen, auf 243 – darunter befanden sich sieben Frauen.
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Entwicklungen am I. Chemischen Institut und die Gründung des Instituts für Pharmazeutische Chemie Bei der Nachfolgebesetzung Barths kam es 1890 zu Problemen wegen des bereits zu dieser Zeit an der Universität vorhandenen Antisemitismus. Der Naturstoffchemiker Guido Goldschmiedt wäre an der Reihe gewesen, aber das Unterrichtsministerium zögerte, einen Juden mit der Leitung des I. Chemischen Instituts zu betrauen, so lange Adolf Lieben Vorstand des II. Chemischen Instituts war. So wurde dem Naturstoffchemiker Hugo Weidel, der 1880 für seine Arbeiten über die aus dem animalischen Teer gewonnenen Pyridine mit dem Lieben-Preis ausgezeichnet worden war, die Leitung des I. Chemischen Instituts übertragen. Nachdem Hugo Weidel 1899 gestorben war, konnte sein engster Mitarbeiter Josef Herzig, ein Jude aus Galizien, die Leitung des I. Chemischen Instituts wegen seiner Religionszugehörigkeit zunächst nur provisorisch übernehmen. 1913 erfolgte dann doch Herzigs Ernennung zum Professor am neu geschaffenen Lehrstuhl für Pharmazeutische Chemie. Auf Josef Herzig folgte 1923 der Alkaloidforscher Franz Faltis. Dessen Nachfolger war Franz Vieböck. Vieböck, der unter anderem die Pathophysiologie in das Forschungsprogramm integrierte, leitete das Institut von 1954 bis 1970. Von 1970 bis 1979 waren die Geschicke des Instituts Matthias Pailer anvertraut, der zahlreiche hervorragende Arbeiten zur Strukturaufklärung und Synthese komplexer Naturstoffe durchführte. Nach Pailers Emeritierung wurde Wilhelm Fleischhacker Direktor. In Fleischhackers Zeit, die durch vollsynthetisch hergestellte Arzneistoffe charakterisiert ist, fällt die Übersiedlung des Instituts von der Währingerstraße in das Pharmaziezentrum in der Althanstraße. Von 1999 bis 2004 war der bedeutende Arzneimittelforscher mit den Schwerpunkten Nukleinsäurechemie, membranständige Rezeptoren und Stereochemie, Christian Noe, Vorstand des Instituts für Pharmazeutische Chemie, das 2005 in die Departments für Arznei- und Naturstoffsynthese (Helmut Spreizer), Klinische Pharmazie und Diagnostik (Walter Jäger), Medizinische Chemie (Ernst Urban), Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie (Helmut Viernstein), Pharmakognosie (Verena Dirsch) und schließlich Pharmakologie und Toxikologie (Steffen Hering) aufgespalten wurde.
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Neue Ziele der Forschungen am I. und II. Chemischen Institut in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Nach seiner Bestellung zum Direktor des I. Chemischen Instituts im Jahre 1902 verließ Barths Schüler Rudolf Wegscheider bald die rein organischen Fragestellungen und wandte sich einer physikalisch-chemischen Betrachtungsweise zu. Wegscheider setzte sich vehement für den Bau eines großzügig konzipierten Chemiegebäudes in der Währingerstraße 38 bis 42 ein. Wegen des Ersten Weltkriegs konnten die Laboratorien in den neuen Institutsgebäuden allerdings erst Anfang der Zwanzigerjahre den Betrieb aufnehmen. Eine Auswirkung des Krieges war ein ungeahnter Aufschwung des Frauenstudiums. Die erste Dissertantin aus Chemie war 1902 Margarete Furcht, die sowohl mit Wegscheider als auch mit Lieben publizierte und nach dem Studium am Technischen Gewerbemuseum arbeitete. Insgesamt promovierten von 1902 bis 1913 achtzehn Frauen aus dem Fach Chemie, während allein im Jahre 1919 zehn Frauen das Chemiestudium mit einem Rigorosum beendeten.9 Damit betrug in diesem Jahr der Frauenanteil an der Gesamtzahl von Promotionen im Fach Chemie ausnahmsweise 55,6 %.10 Nachfolger Wegscheiders wurde 1932 der Makromolekularchemiker Hermann Mark, der sich durch seine Arbeiten über Polymere bei der I.G. Farbenindustrie in Ludwigshafen einen Namen gemacht hatte. Mark, der einen jüdischen Vater hatte, musste 1938 die Universität verlassen. Nach seiner Flucht in die USA konnte er dort das Institute of Polymer Research gründen, das in der Entwicklung der Polymerchemie eine führende Rolle einnehmen konnte. 1940 wurde Ludwig Ebert zum Vorstand des I. Chemischen Instituts berufen. Ebert befasste sich mit Problemen der physikalischen Chemie wie dem Zusammenhang von dielektrischer Polarisation und Molekülbau, Thermodynamik von Flüssigkeitsgemischen und der Theorie des Schmelzpunkts. Am II. Chemischen Institut hatte Carl Auer von Welsbach bereits 1882 einen Akzent gesetzt. Nach seiner Rückkehr vom Labor Bunsens in Heidelberg mietete Auer von Welsbach Laborplätze am II. Chemischen Institut. Hier gelang es ihm das Didym in die neuen Elemente Neodym und Praseodym zu trennen. In der Folge konnte Auer von Welsbach ein großes Unternehmen zur Erzeugung von Glühkörpern aufbauen. Wesentlichen Anteil am Aufbau von Auers Fabriken hatte Ludwig Camillo Haitinger, dessen Karriere 1885 als Aushilfsassistent unter Adolf Lieben begonnen hatte. Auch Auers Mitarbeiter Anton Lederer, dem es um 1905 gelungen war, das Auersche Pasteverfahren auf das Metall Wolfram anzuwenden, war ein Dissertant Liebens gewesen. 9 Rosner 2012: Frauen in den Naturwissenschaften, 141. 10 Pesˇek et al. 2009: Mitteleuropäische Forschungslandschaft, 69.
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Nach der Emeritierung Adolf Liebens 1906 wurde sein Schüler Zdenko Hans Skraup sein Nachfolger. Skraup hatte zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiet der stereoisomeren Chinarindenalkaloide wie Chinin und Chinidin veröffentlicht. Durch die nach ihm benannte Chinolinsynthese hatte sich Skraup international großes Ansehen erworben. Skraup starb 1910, wenige Jahre nachdem er die Leitung des II. Chemischen Instituts übernommen hatte. Sein Nachfolger wurde 1911 der mittlerweile sechzig Jahre alt gewordene Guido Goldschmiedt, der durch seine Alkaloidforschungen bekannt geworden war. Das Unterrichtsministerium hat stets gezögert, ausländische Chemiker mit der Leitung eines Instituts zu betrauen. 1916 wurde nun doch der aus Bayern stammende Wilhelm Schlenk berufen, das II. Chemische Institut zu leiten. Schlenk leistete Pionierarbeit auf den Gebieten der metallorganischen Verbindungen und der organischen Radikale. 1921 folgte Schlenk einem Ruf auf die Emil-Fischer-Lehrkanzel in Berlin. Ernst Späth, ein Schüler Wegscheiders, setzte 1924 – nach drei Jahren provisorischer Leitung durch Adolf Franke – die Tradition des Instituts mit Forschungen auf dem Gebiet der Alkaloide (insbesondere der Tabakalkaloide) fort. Späth spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Chemiestudiums in der schwierigen Zeit ab den Dreißigerjahren. Damals wanderten viele Absolventen der chemischen Fakultät aus, da sie in Österreich keinerlei Möglichkeit für eine wissenschaftliche Laufbahn sahen. Der Naturstoffchemiker Edgar Lederer war 1930 postdoc bei Richard Kuhn in Heidelberg; er emigrierte 1933 von dort nach Frankreich. 1935 emigrierte Erwin Chargaff. Chargaff gelang an der ColumbiaUniversity die Entdeckung der für die Genetik bedeutenden, später nach ihm benannten Regeln. Max Perutz, dem für die Strukturaufklärung des roten Blutfarbstoffes der Nobelpreis des Jahres 1962 zugesprochen wurde, ging 1936 nach Cambridge.
Die kurze Geschichte des III. Chemischen Instituts Der bereits als Professor für Medizinische Chemie vorgestellte Ernst Ludwig war von 1871 bis 1874 Vorstand eines III. Chemischen Instituts, das zunächst Räumlichkeiten der Handelsakademie am Karlsplatz benutzte, an der Ludwig seit 1869 lehrte. Als Ludwig an die Medizinische Fakultät berufen wurde, erhielt der Bunsenschüler Eduard Lippmann die Stelle des Vorstands des III. Instituts. Nachdem 1882 Lippmanns Anstellung an der Handelsakademie zu Ende gegangen war, sah er sich zu einer Verlegung des Laboratoriums in das Konviktsgebäude der alten Universität in der Bäckerstraße gezwungen. Im Sommer 1884 konnten bisher vom Institut für Gerichtsmedizin benutzte Räume in einer ehemaligen Gewehrfabrik in der Währingerstraße bezogen werden. Lippmann
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untersuchte zahlreiche aromatische Verbindungen, insbesondere das Anthrazen und dessen Derivate. Adolf Franke fiel 1909 die Aufgabe zu, das III. Chemische Institut aufzulösen und in das II. Institut zu integrieren. Franke, der 1924 Professor für Analytische Chemie wurde, befasste sich mit Alkoholen und anderen organischen Verbindungen, weniger mit rein analytischen Themen. Einer von Frankes Assistenten war ab 1910 Ernst Philippi, dessen Forschungsthemen die Pentacene und die Porphyrine waren; Philippi wurde 1924 Professor in Graz und 1926 in Innsbruck. 1929 dissertierte der spätere Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti bei Franke.
Geschehnisse während der NS-Zeit Das Jahr 1938 ist durch die Vertreibung zahlreicher bedeutender Mitarbeiter gekennzeichnet. Fritz Feigl, dessen Habilitation an der TH Wien wegen seiner jüdischen Abstammung hintertrieben wurde und der sich Dank der Unterstützung durch Späth und Wegscheider 1924 an der Universität Wien für »Anorganische Experimental- und Analytische Chemie« habilitieren konnte, gelang 1938 die Flucht vor den Nazis über die Schweiz, Belgien und Frankreich nach Brasilien. Feigl hat wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Tüpfelanalyse. Am 22. April 1938 wurde Jean Billiter die Venia entzogen. Billiter hatte vor dem Ersten Weltkrieg das nach ihm benannte elektrochemische Verfahren zur Herstellung von Natronlauge und Chlor entwickelt. Während des Ersten Weltkriegs war er als Reserveoffizier Mitglied einer Abteilung des k.u.k. Kriegsministerium gewesen, die sich mit der Fabrikation von Gasmunition befasste.11 Billiter emigrierte nach Beaulieu sur mer. Nachdem ihm ebenfalls 1938 die Lehrtätigkeit untersagt worden war, wurde der Professor für Chemische Technologie Jacob Pollak 1942 in das Lager Theresienstadt deportiert, wo er alsbald verstarb. Entlassen wurden Philipp Gross, der nach Eton in England flüchtete, Moritz Kohn, dem die Flucht nach Cuba und von dort nach New York gelang, und Ernst Zerner, der zunächst nach London emigrierte und von dort nach Connecticut in die USA.12 Richard Weiß, Assistent am I. Chemischen Institut, ging Ende 1938 nach Istanbul. Ein Beispiel für die Verfolgung politisch Andersdenkender unter den Studierenden ist die Enthauptung der zweiundzwanzigjährigen Chemiestudentin Elfriede Hartmann im November 1943.13 Kurz vor Kriegsende spitzten sich die Ereignisse an den Instituten zu. Pro11 Soukup 2014: Technisches Militärkomitee, 317. 12 Müller 2002: Flüchtlinge in Großbritannien, 72. 13 Kanzler o. J.: Biografische Datenbank.
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fessor Ebert konnte im Dezember 1944 die Erlaubnis für die Verlagerung der Forschungsarbeiten von Wien nach Hohenems erlangen. Der fanatische Nationalsozialist Prof. Jörn Lange, der in Wien geblieben war, tötete am 5. April 1945 mit seiner Pistole den Assistenten Dr. Hans Vollmar und den Leiter des Mikrochemischen Laboratoriums Dr. Kurt Horeischy, weil diese versuchten, das Elektronenmikroskop vor der Zerstörung zu bewahren. Lange wurde im September 1945 von einem Volksgerichtshof zum Tod verurteilt, konnte aber kurz vor Vollstreckung des Urteils Selbstmord begehen. Trotz positiver Beurteilung durch den kommissarischen Leiter des II. Chemischen Instituts Ebert, wurde der Flechtensäurespezialist Georg Koller nach seiner Entlassung 1945 nicht mehr eingestellt. Koller war 1944 der Verbindungsmann der Universität Wien zur NSDAP gewesen.
Die Auffächerung in zahlreiche Institute nach dem Zweiten Weltkrieg Eine der ersten Habilitationen nach dem Krieg war die des Holzchemikers Karl Kratzl. 1948, in einer Zeit, in der es an allen Ecken und Enden an Rohstoffen fehlte, war die Nutzung von Abfallprodukten des Holzaufschlusses von großer Bedeutung. 1947 kehrte Engelbert Broda aus seinem englischen Exil ans I. Chemische Institut zurück. Broda befasste sich in seiner Abteilung für Radiochemie mit der Chemie der Transurane und dem Neutroneneinfang. Vor einigen Jahren wurde Dokumente publiziert, wonach Broda in den Vierzigerjahren der UdSSR Informationen über die Kernforschung in England übermittelt haben soll.14 1948 wurde Friedrich Wessely zum Leiter des II. Chemischen Instituts berufen. Während sich Wessely speziell mit organometallischen Verbindungen befasste, wurde an seinem Institut die Naturstoffchemie unter anderem von Friedrich Galinovsky fortgeführt. Einer von Galinovskys Dissertanten war Hans Tuppy. Tuppy arbeitete ab 1948 mit Frederick Sanger in Cambridge an der Sequenzaufklärung des Insulins, kehrte 1951 nach Wien ans II. Chemische Institut zurück und wurde 1963 Ordinarius am Institut für Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Sanger erhielt 1958 für diese Arbeiten den Nobelpreis. 1955 bestimmte Tuppy Aminosäuresequenzen am Cytochrom C. Von 1987 bis 1989 war er Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. 1959 wurden die alten Bezeichnungen der chemischen Institute an der phi14 Broda 2011: Scientist Spies.
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losophischen Fakultät – der damals international üblichen Auffächerung der Chemie folgend – aufgelassen und das »Anorganisch-Physikalisch-Chemische Institut«, das »Organisch-Chemische Institut« sowie das »Analytische Institut« gebildet. Bereits ein Jahr später wurde das Anorganisch-Physikalisch-Chemische Institut in das »Institut für Physikalische Chemie« und das »Institut für Anorganische Chemie« geteilt. 1968 ging das »Institut für Theoretische Chemie« aus der zum Institut für Organische Chemie zählenden Lehrkanzel für Theoretische Organische Chemie hervor. 1967 wurde der Peptidchemiker Ulrich Schmid Ordinarius am Institut für Organische Chemie. Von 1971 bis 1990 war der Pionier auf dem Gebiet der Stereochemie, Karl Schlögl, Institutsvorstand. Schlögls Nachfolger war Udo Brinker, der sich Verdienste um die Erforschung der Carbene, Aziadamantane, Ylide etc. erwarb. Johann Mulzer mit seinem Forschungsschwerpunkt der Totalsynthese biologisch aktiver Naturstoffe folgte Erich Zbiral, der sich unter anderem mit Nukleotiden, phosphororganischen Verbindungen und Vitamin D3-Derivaten befasst hatte. Dank der Bemühungen von Otto Hoffmann-Ostenhof, der im Juli 1943 von einem Volksgerichtshof wegen Wehrkraftzersetzung verurteilt worden war,15 konnte 1972 das Institut für Allgemeine Biochemie gegründet werden. Hoffmann-Ostenhofs Nachfolger wurde 1984 Helmut Ruis. 1992 erfolgte die Umbenennung in »Institut für Biochemie und Molekulare Zellbiologie«. Das Forschungsgebiet des ersten Professors für Anorganische Chemie, Alfred Brukl, war die Chemie der Seltenen Erden. Die Arbeiten wurden von Kurt Rossmanith fortgeführt. Kurt Komarek setzte einen Akzent auf dem Gebiet der Festkörperchemie. Nachdem Komarek 1966 die Lehrkanzel übernommen hatte, wurde von ihm und Thomas Schönfeld das Grundpraktikum modernisiert, um den jungen Studenten einen besseren Überblick über die Chemie zu geben. Die Erforschung der Radiochemie wurde in der Zeit, als Schönfeld Ordinarius war (1972 bis 1993), fortgeführt. Mit der Berufung von Bernhard Keppler im Jahre 1996 wurde der Schwerpunkt auf das Gebiet der bioanorganischen Chemie verlagert. 1998 wurde Herbert Ipser zum Professor für Anorganische Chemie ernannt. Er leitet heute – nach der Teilung des Instituts 2004 – das Institut für Anorganische Chemie/Materialchemie. Der erste Vorstand des Instituts für Physikalische Chemie war Hans Nowotny. Nowotny befasste sich vor allem mit Siliziumlegierungen. Johann Breitenbach und Oskar Friedrich Olaj griffen das von Hermann Mark begonnene Forschungsgebiet der Makromoleküle auf. Adolf Neckel forcierte die quantenchemische Berechnung von Festkörpern. Roland Stickler folgte 1996. Die vakante Lehrkanzel für Analytische Chemie hätte zunächst mit Fritz Feigl 15 Oberkofler 1997: Eduard Rabofsky, 74.
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besetzt werden sollen. Feigl lehnte jedoch ab, weil ihm nur eine halbjährige Gastprofessur angeboten wurde. Darauf hin wurde Friedrich Hecht, der wegen seiner Mitgliedschaft bei der SS als belastet galt, 1959 zum ordentlichen Professor für Analytische Chemie ernannt. Hecht war Feigl 1938 als Herausgeber der Zeitschrift Microchimica Acta gefolgt. Dennoch war das Verhältnis zwischen Hecht und Feigl nach dem Krieg ein durchaus kollegiales.16 Hecht befasste sich hauptsächlich mit mikroanalytischen Methoden wie der Neutronenaktivierungsanalyse. 1974 wurde der aus Salzburg stammende Josef Franz Karl Huber als Nachfolger Hechts von Amsterdam nach Wien berufen. Huber – ein Schüler Erika Cremers – gilt als einer der Pioniere der modernen High Performance Liquid Chromatography.17 1971 wurde Gerald Kainz Lehrstuhlinhaber für »Spezielle Analytische Chemie«. Kainz konzentrierte sich auf instrumentelle Methoden, nämlich Massenspektrometrie, optische Spektroskopie, Voltametrie und Chromatographie. Auf Prof. Kainz folgte 1994 Franz Dickert mit dem Spezialgebiet Chemosensorik, auf Prof. Huber 1996 Wolfgang Lindner, der leistungsfähige chromatographische Materialien und Methoden zur Enantiomerentrennung entwickelte. Am Institut für Theoretische Organische Chemie wurden unter Oskar E. Polansky zunächst Berechnungen von Strukturen und Funktionen organischer Moleküle durchgeführt. Peter Schuster dehnte das Forschungsgebiet auf die Dynamik komplexer Systeme, wie die Modellierung der molekularen Evolution, aus. Ab 1973 leitete Nikola Getoff abwechselnd mit Peter Schuster das Institut. Von 1992 bis 1996 war Hans Lischka Institutsvorstand.
Jüngste Entwicklungen Nach der Teilung der Formal- und Naturwissenschaftlichen Fakultät im Jahr 2004 begann die eigenständige Entwicklung der Fakultät für Chemie in den Themenfeldern Materialchemie, Biologische Chemie und Computergestützte Chemie. Derzeit besteht die Fakultät für Chemie aus zwölf wissenschaftlichen Einheiten – ein Ausdruck für die Diversifizierung der heutigen Chemie. 2004 wurden Wolfgang Kautek an das Institut für Physikalische Chemie und Walther Schmid an das Institut für Organische Chemie berufen. Kauteks Forschungsschwerpunkt sind Wechselwirkungen von gepulsten Laserstrahlen mit Grenzflächen; Schmids Arbeitsgruppe befasst sich hauptsächlich mit der Synthese von Verbindungen, die in der Medizin Anwendung finden. Mit Annette Rompel wurde 2008 erstmals eine Frau mit der Leitung eines 16 Oberkofler et al. 1994: Fritz Feigl, 38. 17 Gehrke et al. 2001: Chromatography, 248.
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Instituts betraut; Rompel erhielt die Professur für Biophysikalische Chemie. 2007 spaltete sich das Institut für Computergestützte Biologische Chemie mit dem Vorstand Othmar Steinhauser vom Institut für Biomolekulare Strukturchemie ab. Am Institut für Theoretische Chemie übernahm 2010 Ivo Hofacker die Professur Biochemische Modellierung, ein Jahr danach wurde Leticia Gonzalez auf die Professur für Computergestützte Chemie berufen. Seit 2009 ist Doris Marko Professorin am Institut für Lebensmittelchemie und Toxikologie. Veronika Somoza leitet seit 2011 das Institut für Ernährungsphysiologie und Physiologische Chemie. Im Jahre 2011 wurde das Institut für Biologische Chemie gegründet und Christian Becker, der sich unter anderem mit synthetischen Antikörpern für therapeutische und diagnostische Zwecke befasst, mit der Leitung des Instituts betraut. Christopher Gerner hat seit 2012 die Professur Trenntechniken und Bioanalytik am Institut für Analytische Chemie inne. 2012 wurde Alexander Bismarck auf die Professur Synthetische Materialchemie berufen. 2013 erhielt Nuno Maulide den Ruf auf den Lehrstuhl für Organische Synthese.
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Birgit Sauer und Eva Flicker*
Modernisierung der Universität Wien? – Sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis
Ein neues Forschungs- und Lehrfeld. Einleitung Ein Artikel über Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Wien könnte eigentlich bei der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 beginnen, obgleich zu diesem Zeitpunkt weder das Thema noch Frauen Zugang zu den »heiligen Hallen« der Alma Mater hatten. Allerdings entstammen erste frauenbewegte Analysen und Forderungen über den gleichen Zugang von Frauen zu höherer Bildung dem Geist und Kontext dieser bürgerlichen Revolution, auch wenn es bis zum Jahr 1897 dauerte, bis die erste Studentin an der Universität Wien inskribieren konnte. Während also der Erfolg der ersten Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts die Öffnung der österreichischen Universitäten für Frauen war, so kann die Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung als Erfolg der zweiten österreichischen Frauenbewegung gewertet werden. Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hatte auch in Österreich politischen Wandel angestoßen und die berufliche und ausbildungsbezogene Gleichstellung der Geschlechter sowie die Themen Abtreibungsrecht, partnerschaftliches Familienrecht, Gewalt gegen Frauen und ihr Ausschluss aus demokratischen Institutionen und Verfahren trotz formal gleicher Rechte auf die politische Agenda gesetzt. In diesem Kontext etablierten sich in Wien einerseits außeruniversitäre Institutionen, die das notwendige »Bewegungswissen« zur Verfügung stellen.1 Andererseits entstanden in den 1970er Jahren auch innerhalb der Universität Wien erste Inseln der Frauenforschung, die den politischen Impuls der Frauenbewegung in die Universität hineintragen wollten. Frauenforschung entstand also als »Bewegungsforschung«, die sich im Lauf der Jahre professionalisierte * Sauer : Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien; Flicker : Institut für Soziologie der Universität Wien. 1 Wie beispielsweise [http://www.frauensolidaritaet.org/] (26. März 2014), [http://www.widenetzwerk.at/] (26. März 2014), [http://www.vhs.at/rmc] (Rosa-Mayreder-College) (26. März 2014), [http://www.frida.at/] (26. März 2014), [http://www.ifaust-online.de/stichwort] (26. März 2014) und [www.vfw.or.at] (26. März 2014).
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und akademisierte. Diese Entstehungsgeschichte begründete den gesellschaftlichen Anwendungsbezug und die Transdisziplinarität der Frauenforschung sowie ihre Interdisziplinarität, brauchte doch die Lösung geschlechtsspezifischer Ungleichheitsfragen den Beitrag vieler Disziplinen. Im Zuge der Akademisierung erfuhr die Frauenforschung eine begriffliche und inhaltliche Erweiterung. Zielte die frühe Frauenforschung auf die Erforschung und Kritik der benachteiligten gesellschaftlichen Situation von Frauen, so bürgerte sich am Beginn der 1990er Jahre der Begriff der Geschlechterforschung ein, um deutlich zu machen, dass die Erforschung der Situation von Frauen auch eines relationalen Blicks bedarf: nämlich die Analyse von Geschlechterverhältnissen innerhalb gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse2 und mithin auch Männerforschung als Analyse von Männern und gesellschaftlichen Männlichkeitsvorstellungen. Geschlechterforschung3 stellte einerseits neues Wissen über Geschlechterverhältnisse zur Verfügung, sie leistete einen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, indem sie Geschlecht als eine wissenschaftliche Kategorie etablierte, und sie schlug neue Formen der Wissensgenerierung vor. In der Tradition der Kritischen Theorie besitzt Geschlechterforschung eine normative Perspektive – nämlich Gerechtigkeit im Geschlechterverhältnis zu realisieren. Der Anspruch sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung ist es zudem, die Geschlechterperspektive in alle Fächer bzw. Disziplinen zu integrieren – in die Themenstellungen, die Theorien, Ansätze und Methoden. Jede Disziplin sollte »engendered« werden – und fächerübergreifend sollte dann in interdisziplinärer Auseinandersetzung die Geschlechtertheorie verfeinert, erweitert und präzisiert werden. Unser Beitrag wird zentrale Meilensteine der Geschlechterforschung an der Universität Wien entlang der analytischen Drei-Ebenen-Struktur von Makroebene, also den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und dem gesellschaftlichen Umfeld, organisationeller Mesoebene der Organisation Universität Wien sowie der Mikroebene der Pionierinnen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen skizzenhaft rekonstruieren. Unser Ziel ist es, das Potenzial der Gender Studies als kritische Wissenschaft und als Vorreiterin interdisziplinären Forschens und Lehrens herauszuarbeiten, die gesellschaftliche Bedeutung und Verortung, also die Transdisziplinarität der Geschlechterstudien sichtbar zu machen sowie die Unwägbarkeiten ihrer universitären Institutionalisierung sowie Prozesse der De-Institutionalisierung aufzuzeigen. Die Frage, die uns 2 Gehmacher/Singer 1999: Feministische Forschung in Österreich. 3 Die Bezeichnungen »Frauen-/Männer-/Geschlechterforschung«, »Gender Studies« und »Genderforschung« werden trotz differenzierter Bedeutungen für den vorliegenden Überblickstext weitgehend synonym verwendet.
Modernisierung der Universität Wien?
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bewegt, ist, ob sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung an der Universität Wien so etabliert, institutionalisiert und abgesichert ist, dass man von einer Modernisierung des sozialwissenschaftlichen Fächerkanons sprechen kann. Zwei Einschränkungen bzw. Klarstellungen scheinen uns vorab noch notwendig: Unser Text beschäftigt sich nicht mit der Entwicklung der Frauenförderung, eine Aufgabe der Organisation sowie ein wichtiger Bestandteil des universitären Leitbilds der Universität Wien, deren Selbstverständlichung ohne Frauen- und Geschlechterforschung nicht denkbar gewesen wäre. Zudem werden wir uns ausschließlich mit der Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung seit den 1970er Jahren beschäftigen.4 Diese ist an der Universität Wien von 1975 bis 2000 an den damaligen Fakultäten für »Sozialund Wirtschaftswissenschaften« und »Grund- und Integrativwissenschaften« (GRUWI) entstanden, von 2000 bis 2004 in der »Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät« (UOG 93) mehr oder weniger etabliert worden und seit 2004 in der »Fakultät für Sozialwissenschaften« (seit UG 02) vor allem in den Disziplinen Soziologie, Politikwissenschaft, Kultur- und Sozialanthropologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft angesiedelt.
Beginn und erste Verstetigung. Ein Fuß in der Tür Zu den Pionierinnen der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung der Universität Wien zählen Wissenschaftlerinnen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften sowie der Philosophie.5 Sie fungierten zwischen Ende der 1970er Jahre bis in die frühen 1990er Jahre gewissermaßen als policy entrepreneurs und trugen – wenngleich auch mit unterschiedlicher Fokussierung – die Themen der Frauenforschung teilweise auch fakultätsübergreifend mit Kolleginnen anderer Disziplinen als Innovationsmotoren in die universitäre Lehre hinein. War es für die Pionierinnen schwierig, einen bezahlten Lehrauftrag für Frauenforschung zu erhalten, so ist heute die Vielfalt der Geschlechterperspektive an allen sozialwissenschaftlichen Instituten durch GeschlechterforscherInnen sichtbar. Der Frauen- und Geschlechterforschung wurde in ihrem Kampf um Akzeptanz und Ressourcen, wie allen late comers, von Beginn an mit äußerster Skepsis begegnet. In den 1970er und frühen 1980er Jahren bot sich allerdings ein window 4 Wir möchten auf den Beitrag von Christa Hämmerle und Gabriella Hauch zur »Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien« in diesem Band der vorliegenden Jubiläumsschrift verweisen. 5 In alphabetischer Reihenfolge: Cheryll Benard, Eva Cyba, Dorothea Gaudart, Christine Goldberg, Hanna Hacker, Gudrun Hauer, Eva Kreisky, Margarete Maurer, Herta Nagl-Docekal, Brita Neuhold, Renate Retschnig, Sieglinde Rosenberger, Edith Saurer, Edith Schlaffer, Lisbeth N. Trallori, Ruth Wodak u. a.
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of opportunity: Die Expansion der Universitäten im Rahmen der sozialdemokratischen Öffnung und Demokratisierung ermöglichte frauenbewegten Aktivistinnen innerhalb der Universität Wien, Ressourcen für Lehre zur Frauenforschung zu erhalten. Ministerin Hertha Firnberg war in den 1970er Jahren eine der central key player, die erste Initiativen feministischer Wissenschaftlerinnen unterstützte, die schließlich von Frauenministerin Johanna Dohnal ebenso wie von femocrats in der Wissenschaftsverwaltung fortgeführt wurden. Die Einrichtung eines eigens für Frauen- und Geschlechterforschung gewidmeten Lehrbudgets, der umgangssprachlich so genannte »Frauentopf«,6 ermöglichte einerseits kontinuierliche Lehre aus der Geschlechterforschung, hielt sie aber zugleich in einer Extra-Nische und die vor allem externen Lehrenden im Prekariat. Im Bemühen um transparente Vergabeentscheidungen des knappen Lehrbudgets wurden semi-formale Routinen entwickelt; beim Vizerektorat für Lehre wurde ein Beirat für Gender Studies eingerichtet, der mit »internen« Wissenschaftlerinnen und »externen« Lehrenden unterschiedlichster Disziplinen und Fakultäten besetzt war und als beratende Steuerungsgruppe fungierte. So wurde aus provisorischen Verhältnissen über die Jahre eine Art von verstetigter Struktur geschaffen, die nie in die formale Lehrbudgetstruktur der Universität übergeleitet wurde.7 Das Budget des »Sonderkontingents Frauen- und Geschlechterforschung« blieb in der »Hoheit« des Vizerektorats für Lehre, was in jüngsten Zeiten ökonomisierter Universitätspolicy für die scientific community der GenderforscherInnen eine ambivalente Situation zwischen »Protektorat« und Abhängigkeit vom Wohlwollen der jeweiligen Funktionsträgerin/des jeweiligen Funktionsträgers zur Folge hat.
Gender studieren: Doppelgleisigkeit der Institutionalisierung Sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung ist keine Disziplin in der »alten« Logik akademischer Disziplinen, sondern eine vergleichsweise neue Perspektive, die Forschung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen betreibt und auch jedes sozialwissenschaftliche Fach kritisch durchleuchten und transformieren will. Ihre Verankerung in Curricula musste daher in eine wenig flexible universitäre Organisationsmatrix eingeflochten werden und einerseits dafür sor6 Diese Finanzierung entstand Ende der 1970er Jahre als Idee im Ministerium von Hertha Firnberg (Eva Knollmayer). Der umgangssprachliche Terminus »Frauentopf« wurde von den Proponentinnen stets als pejorativ bekämpft; heute lautet die Bezeichnung »Stundenkontingent Frauen- und Geschlechterforschung«. 7 Im Zuge der Neu-Organisation der Universität nach UG 02 und der Stärkung monokratischer Entscheidungsstrukturen wurde top down zunächst die Beteiligung externer Lehrender beendet und dann auch der ganze Beirat aufgegeben.
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gen, dass jedes Studium für Lehre mit Geschlechterperspektive geöffnet wurde. Andererseits war das Ziel, wie in anderen Ländern auch, ein eigenes fakultätsübergreifendes Studium der Gender Studies zu etablieren. Ein Satzungsbeschluss aus dem Jahr 1999 empfahl der Universität Wien eine verstärkte Berücksichtigung von Frauen- und Geschlechterforschung in den Studienplänen.8 Zumindest ein inhaltlicher Minimalstandard sollte im (Wahl-) Pflichtbereich der Curricula errungen werden. Für die dafür eingerichtete beratende Arbeitsgruppe sowie alle Beteiligten bestand die Herausforderung darin, so manches Missverständnis und Informationsdefizit in Bezug auf Frauen- und Geschlechterforschung, simples Alltagswissen und – auch in der academia – tief verankerte antifeministische Vorurteile und Geschlechterstereotype zu überwinden und eine Implementierung feministischer Wissenschaftskritik und disziplinspezifischer Reflexion der sozialen Kategorie Geschlecht in der Lehre als state of the art zu akzeptieren. In den sozialwissenschaftlichen Fächern Kultur- und Sozialanthropologie, Politikwissenschaft, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Soziologie wurden seit Ende der 1990er Jahre teils verpflichtende Curriculumsmodule zur Feministischen Theorie und/oder Geschlechterforschung eingerichtet,9 teils als Wahlmöglichkeit ins jeweilige Curriculum integriert. Der Werdegang derartiger Entscheidungen ist eng verknüpft mit der universitären Personalstruktur : Nur wenn engagierte feministische WissenschaftlerInnen in die Prozesse der Curricula-Entwicklung involviert sind, können Inhalte der Frauen- und Geschlechterforschung auch Eingang in die jeweiligen Lehrpläne finden. Der Zufall der Personalstruktur führte daher teilweise ebenso stark Regie wie die strategische Zusammensetzung von Curricularkommissionen. Nur wer zur gegebenen Zeit eine Stelle an der Universität hatte und/oder Mitglied eines formaldemokratisch handlungsfähigen Gremiums war, konnte überhaupt Einfluss nehmen. Und so zeigte sich die Paradoxie zwischen Beschluss und Umsetzung; die Verankerung von Frauen- und Geschlechterforschung in der Lehre blieb unsystematisch, ja man könnte sogar den Eindruck gewinnen eher ein »Lippenbekenntnis«. Nach langer Vorarbeit wurde schließlich 2006 das überfakultäre und interdisziplinäre MA-Studium Gender Studies eingerichtet,10 in dem geistes- und 8 Mitteilungsblatt der Universität Wien, 21. Dezember 1999, zit. nach Ernst 2001: Verankerung, 13. 9 Z. B. Soziologie-Bakkalaureat, gültig von 2002 bis 2011, hatte »Feministische Theorie« als Pflichtelement in der Theorie-Lehre und »Frauenforschung« und »Geschlechterverhältnisse« als verpflichtende Lehrangebote in den Soziologischen Praxisfeldern: [http://soziologie. univie.ac.at/fileadmin/user_upload/spl_sowi/BAKK_613_813/Studienplan_Bakk_Mag.pdf] (26. März 2014). 10 Curricularänderungen 2009 und 2013.
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kulturwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche sowie sozialwissenschaftliche Perspektiven und Abschlussarbeiten einen starken Anteil haben.11 Strukturell stellen der Mangel an zugeordnetem Personal und die eher zufällig erfolgte Anbindung an die sozialwissenschaftliche Fakultät in der Organisationsmatrix der Universität so manchen Nachteil dar. 2008 wurde das Erweiterungscurriculum (EC) Gender Studies eingerichtet, das – ähnlich einem Wahlfach – Studierenden aller Studienrichtungen der Universität Wien Theorien und Methoden der Gender Studies vermittelt. Darüber hinaus informiert das Frauenreferat der Österreichischen HochschülerInnnenschaft (ÖH) jedes Semester im eigenen Vorlesungsverzeichnis, der Frauenforscherin, über feministische_queer_gender Lehre.12
Sichtbarkeit und erste Institutionalisierung der Geschlechterforschung an der Peripherie der Universität Die Genese der Dienstleistungseinrichtung »Referat Genderforschung« reicht bis in die späten 1980er Jahre zurück.13 Die Wiener »Initiative für eine Stärkung der Frauenforschung und ihrer Verankerung in der Lehre« führte nach langen Bemühungen 1993 zur österreichweiten Gründung von interuniversitären Koordinationsstellen (KOST) in Graz, Linz und Wien. Mit dem späten »Kippen« der Universität Wien in das UOG 93 im Jahr 2000 konnte unter Vizerektorin Gabriele Moser die vormalige KOST als Teil des Zentrums für Überfakultäre Forschung (ZÜF) in das »Projektzentrum Frauen- und Geschlechterforschung« überführt werden.14 2004 wurde das Projektzentrum als »Referat Genderforschung«, unter Fachaufsicht des Vizerektorats für Lehre, als Dienstleistungseinrichtung ohne wissenschaftliche bzw. forschende Funktion in die Organisationseinheit Studien- und Lehrwesen eingegliedert. Aufgabe des Referats Genderforschung ist, Genderforschung an der Universität zu vernetzen und sichtbar zu machen sowie den MA-Studiengang Gender Studies zu organisieren. In den 1990er Jahren förderte das Wissenschaftsministerium Frauen- und 11 Das MA-Studium war, im Gegensatz zu manchen anderen Universitäten, von Beginn an mit einem eigens ausgewiesenen Budget ausgestattet. 12 [http://www.oeh.univie.ac.at/arbeitsbereiche/frauen/archiv/frauenforscherin/] (28. März 2014). 13 Da die Geschichte einer Frauenforschungseinrichtung immer auch eine Geschichte von engagierten Frauen ist, seien hier erwähnt: Anette Baldauf, Margit Baier, Ingvild Birkhan, Sylwia Bukowska, Andrea Eckhart, Eva Erkinger-Rausch, Waltraud Ernst, Therese Garstenauer, Evi Genetti, Michaela Hafner, Brigitta Keintzel, Sabine Kock, Katharina Miko, Elisabeth Mixa, Renate Retschnig, Susanne Rieser, Barbara Schiestl, Sabine Strasser, Ursula Wagner und Karin Wozonig. 14 Parallel dazu entstand das »Projektzentrum für Frauenförderung«.
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Geschlechterforschung mit zahlreichen Projekten und Workshops, Buchprojekten und die Buchreihen.15 So können die 1990er und frühen 2000er Jahre als das goldene Zeitalter der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung bezeichnet werden, das zu ihrer Sichtbarkeit und Wirkung weit über die österreichischen Grenzen führte.
Planstellen als Nadelöhr und die Unsichtbarkeit der Frauen- und Geschlechterforschung Dem geschlechterforscherischen Unterfangen war an der Universität Wien im »Streit der Fakultäten« nicht unbedingt Glück beschieden, braucht es dafür doch Ressourcen, die den etablierten Fächern – unter dem paradoxen ökonomischen Paradigma der »Kostenneutralität« – gekürzt werden müssten. An der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien forschen seit den 1980er Jahren zahlreiche Assistentinnen, Dozentinnen und Professorinnen auch ohne explizite Genderforschungsdenomination in Bereichen der Geschlechterthematik, und einige Frauen wurden mit einem Geschlechterthema habilitiert,16 doch die Einrichtung einer Professur für Frauen- oder Geschlechterforschung blieb eine umstrittene Angelegenheit. Die Politikwissenschaft war das erste (und bisher einzige) sozialwissenschaftliche Fach, an dem eine als Geschlechterforschung denominierte Professur besetzt werden konnte – die zusätzliche Sonderprofessur, die vom Wissenschaftsministerium für die Dauer von fünf Jahren finanziert wurde. Eva Kreisky nahm 1994 den Ruf auf diese Professur an, die dann 1996 bis 1998 Sieglinde Rosenberger innehatte. Eva Kreisky übernahm 1995 die Professur für Politische Theorie, verstand diese aber stets auch als feministische politische Theorie. Nach Eva Kreiskys Emeritierung im Jahr 2012 gelang es nicht, die Professur mit einer feministischen/Gender Denomination auszuschreiben. Seit 2006 gibt es mit Birgit Sauer am Institut eine Professorin für »Gender and Governance« – auch diese teilweise aus Zusatzmitteln der Universität und somit außerhalb universitärer und fakultärer Planungsroutinen. 15 Die Buchreihe »Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft« widmet sich seit 1992 in 21 Bänden der systematischen und kritischen Analyse von Gender Studies und Frauenförderung an Österreichischen Universitäten: [http://wissenschaft.bmwfw.gv.at/ bmwfw/ministerium/veranstaltungenpublikationen/publikationen/wissenschaft/publikatio nen-gleichstellung-und-frauenfoerderung/materialien-foerderung-von-frauen/] (18. Dezember 2014). Buchreihe »Gendered Subjects« des Referats Genderforschung, 6 Bände, Studienverlag [gender.univie.ac.at/publikationen/reihe-gendered-subjects] (2. April 2015). 16 Beispielsweise Eva Cyba, Irmgard Eisenbach-Stangl, Eva Flicker, Hanna Hacker, Christine Goldberg, Eva Kreisky, Elke Mader, Birgit Sauer und Sabine Strasser.
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Am Institut für Soziologie wurde über mehrere Jahre eine Gastprofessur für Feministische Theorie und/oder Frauen- und Geschlechterforschung vergeben,17 am Institut für Publizistik waren es Gastprofessuren für Feministische Medienwissenschaft und Gender & Medien.18 Während es an deutschen Universitäten zahlreiche sozialwissenschaftliche Professuren mit der Denomination Geschlecht gibt, war in Wien lediglich das Instrument der Gastprofessur eine Möglichkeit, die Lehre, die vom feministischen Mittelbau angeboten wurde, auf der ProfessorInnenebene, freilich immer prekär, zu etablieren. Am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie lehren und forschen seit vielen Jahren ProfessorInnen und Wissenschaftlerinnen aus dem Mittelbau im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung.19 Am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft wurden Gender-Lehre und -Forschung jahrzehntelang von wissenschaftlichen Mittelbaukolleginnen und externen Lehrenden getragen.20 Im März 2010 wurde dem überfakultären MA-Studium Gender Studies als einzige dem MA zugeordnete Stelle eine Professur zuerkannt und mit der sozialwissenschaftlich geschulten Biologin Sigrid Schmitz, zunächst auf zwei, dann auf weitere drei Jahre befristet, besetzt.21 Derzeit ist eine Neuausschreibung ungewiss.
Prekäre Verstetigungen oder verstetigtes Prekariat: die Vielfalt der Initiativen für ein Doktoratsstudium Gender Studies Mitte der 1990er Jahre hatte an der Universität Wien eine kritische Masse an feministischen WissenschaftlerInnen in unterschiedlichen Disziplinen mit Professuren und Dozenturen Planstellen errungen, die aus mehreren Gründen strategisch wichtig waren, auch wenn sie keine explizite Geschlechterforschungsdenomination trugen. Aus dieser informell koordinierten Gruppe 17 In alphabetischer Reihenfolge: Regina Becker-Schmidt, Hanna Hacker, Stefan Hirschauer, Ursula Holtgrewe, Lena Inowlocki, Gudrun-Axeli Knapp, Hilge Landweer, Michael Meuser, Ursula Müller, Mechthild Oechsle, Marlene Stein-Hilbers, Gerburg Treusch-Dieter, Angelika Wetterer u. a. 18 In alphabetischer Reihenfolge: Marie-Luise Angerer, Waltraud Corneließen, Elisabeth Klaus, Margreth Lünenborg, Irene Neverla, Senta Trömel-Plötz, Eva Warth u. a. 19 In alphabetischer Reihenfolge: Andre Gingrich, Elke Mader, Herta Nöbauer, Gertraud Seiser, Sabine Strasser, Patricia Zuckerhut u. a. 20 In alphabetischer Reihenfolge: Doris Allhutter, Monika Bernold, Andrea Braidt, Burgl Czeitschner, Johanna Dorer, Waltraud Ernst, Brigitte Geiger, Gabriele Jutz, Susanne Lummerding, Ruth Noak, Susanne Rieser, Johanna Schaffer, Ulli Weish, Irmtraud Voglmayr u. a. 21 Die Professur ist mehr als Organisationsartefakt denn aus einer fachlichen Logik an der Studienprogrammleitung (SPL) Kultur- und Sozialanthropologie angesiedelt.
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von Gender-ForscherInnen verfolgten Mitte der 1990er Jahre einige die Idee der Bündelung der Geschlechterforschung in einem vom FWF22 finanzierten Doktorats-Kolleg für Genderforschung: Christine Goldberg (Soziologie), Eva Kreisky (Politikwissenschaft), Ulrike Felt (Wissenschaftsforschung) und Andre Gingrich (Kultur- und Sozialanthropologie), Herta Nagl-Docekal (Philosophie), Edith Saurer (Geschichte), Ruth Wodak (Linguistik), Friederike Hassauer (Romanistik). Da der Antrag im Jahr 1998 abgelehnt worden war, suchten die InitiatorInnen Um- und Auswege, Geschlechterforschung dennoch in der universitären Graduiertenausbildung zu etablieren. Der Wittgenstein-Preisträger des Jahres 2000, Andre Gingrich, investierte einen Teil seines Preisgeldes in das »Gender Kolleg« an der Universität Wien, und auch das Wissenschaftsministerium förderte das Projekt, sodass regelmäßig eine Gastprofessur besetzt werden und eine wissenschaftliche Administratorin die Forschungsarbeit des »Gender Kollegs« koordinieren konnte. Das Gender Kolleg organisierte interdisziplinäre Ring-Vorlesungen, publizierte Sammelbände und konnte im Forschungsprojekt »Rupturen – Brüche« den Blick auf die Transformationen in Ost- und Mitteleuropa weiten. Im Jahr 2006 waren die Mittel erschöpft und die Sozialwissenschaftliche Fakultät übernahm die Finanzierung der Gastprofessur, die in den folgenden Semestern interdisziplinär besetzt wurde. Als dann aber 2010 die befristete Gender-Professur für das MA-Studium besetzt war, stellte die Fakultät die Gastprofessur des Gender Kollegs ein. Dies bedeutete mit dem endgültigen Aus für das Gender Kolleg auch einen schmerzlichen Verlust in der genderforscherischen Graduiertenausbildung. 2005 entwickelte das Rektorat der Universität Wien die Idee der »Initiativkollegs«23 : dreijährige DoktorandInnen-Kollegs als Anschubfinanzierung für einen Antrag beim FWF für ein 12-jähriges Doktoratskolleg. Aus der Gruppe der alten faculty des Gender Kollegs entstand die Idee, ein solches Gender-Initiativkolleg zu beantragen. Im zweiten Anlauf wurde das Kolleg »Gender, Violence and Agency in the Era of Globalization« nach einer internationalen Begutachtung 2009 durch die Universitätsleitung genehmigt. Das »GIK« (Gender Initiativkolleg)24 lief von 2010 bis 2013 mit zwölf KollegiatInnen25 und einer interdisziplinären faculty26, der nicht nur Wissenschaftlerinnen der sozialwissenschaftlichen, sondern auch KollegInnen aus der juridischen, historisch-kulturwissenschaftlichen, philologisch-kulturwissenschaftlichen und philosophischen Fakultät angehörten. Dies war die erste (und bisher einzige) Institutio22 Seinerzeit »Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung«, heute »Der Wissenschaftsfonds«: [http://www.fwf.ac.at/] (28. April 2014). 23 Forschungsnewsletter der Universität Wien 03, September/Oktober 2005. 24 [http://gik.univie.ac.at/] (26. März 2014). 25 [http://gik.univie.ac.at/home/kollegiat-innen/] (26. März 2014). 26 [http://gik.univie.ac.at/home/faculty/] (26. März 2014).
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nalisierung der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung an der Universität Wien, die zugleich einen interdisziplinären Anspruch hatte. Die Arbeit im GIK reflektierte die an der Universität Wien und auch international entstandenen »queer studies«, die mehrere Forschungsperspektiven in die Analyse von Geschlecht integrieren: Fragen der Sexualität, die postkoloniale Perspektive sowie eine intersektionale Sicht, die Geschlecht als eine Kategorie begreift, in der vielfältige Ungleichheitsachsen interagieren, z. B. Ethnizität, Alter und Klasse. 2012 stellte eine interdisziplinäre Gender faculty der Universität Wien einen dem befristeten GIK folgenden Antrag für ein vom FWF finanziertes Doktoratskolleg (DK), der zwar in die Endrunde gelangte, aber doch abgelehnt wurde. Auch ein neuerlicher, von einer veränderten faculty eingereichter Antrag wurde 2014 abgelehnt, zeitgleich mit einem Einfrieren des DK-Programms des FWF wegen Nichtfinanzierbarkeit.27
Forschungscluster – innovativ und interdisziplinär Im Rahmen der Re-Organisation der Universität Wien nach dem UG 02 wurden auch an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät Forschungsschwerpunkte gebildet; einer davon ist »Gender and transformation«.28 Der Schwerpunkt bringt GeschlechterforscherInnen zu aktuellen Fragen, die an Brennpunkten gesellschaftlicher Konflikte angesiedelt sind, zusammen. Fragen sozialer Ungleichheit, von politischem Ausschluss und kultureller Marginalisierung, der gesellschaftlichen Reproduktion sowie von Gewalt, medialer Repräsentation und visueller Kultur stehen im Zentrum des gemeinsamen Forschungsinteresses. Da der Atem der genderforscherischen KollegInnen an der Universität Wien und der sozialwissenschaftlichen Fakultät lang ist, gelang es der DK-faculty den Forschungsverbund »Gender and Agency«/»Geschlecht und Handlungsmacht«29 am 1. Januar 2014 aus der Taufe zu heben. Er ist an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt, da hier eine große Zahl der ProtagonistInnen und seine Sprecherin beheimatet sind, wird aber auch von der rechtswissenschaftlichen, historisch-kulturwissenschaftlichen, philologisch-kulturwissenschaftlichen, bildungswissenschaftlichen und philosophischen sowie lebenswissenschaftlichen Fakultät finanziell mitgetragen. Das Ziel des auf drei Jahre eingerichteten Forschungsverbundes ist, WissenschaftlerInnen und Studierende der Genderforschung zusammen zu bringen, ihre Forschungsprojekte zu ver27 [http://www.fwf.ac.at/de/projects/doktoratskollegs.html] (28. März 2014). 28 [http://sowi.univie.ac.at/forschung/forschungsschwerpunkte/gender-and-transformation/] (26. März 2014). 29 [http://genderandagency.univie.ac.at/] (26. März 2014).
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knüpfen und zu gemeinsamen Aktivitäten zu bündeln (siehe auch Hauch und Hämmerle in diesem Band). Die lange Geschichte der Institutionalisierung der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung ist so von einem neuerlichen – wenn auch wieder prekären – Erfolg gekrönt.
Fazit: Gefangen in der Organisation? Oder: zwei Schritte vor, einer zurück Die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Frauen-, Männer- und Geschlechterforschung an der Universität Wien war und ist als wichtiger Forschungs- und Lehrbereich beachtlich. Hierfür gibt es auf der Makroebene längst international sichtbare Anerkennung, auf der Mikroebene ausgewiesene Qualifikationen und Forschungskooperationen; allein auf der Mesoebene, der Organisation der Universität Wien, fehlen nachhaltige Institutionalisierungsbestrebungen. Auch in den Sozialwissenschaften an der Universität Wien blieb die Genderforschung ein innovatives Fach am Rande im doppelten Sinne. So fanden die Inhalte dieses Faches kaum Eingang in den mainstream der Disziplinen; vor allem aber blieb eine gesicherte Institutionalisierung an der Universität Wien aus, auch wenn es im Laufe der 40-jährigen Geschichte zahlreiche Chancen dazu gegeben hätte. Als größtes Handicap in der Etablierung erwiesen sich fehlende Stellen für Professuren und den Mittelbau. Frauen- und Geschlechterforschung begreift sich als genuin interdisziplinär ; dies macht eine universitäre Institutionalisierung und Verstetigung nicht immer einfach. Zudem ist die Entwicklung der Geschlechterforschung – so wie aller Disziplinen – durch interne Differenzierung, aber auch durch Spezialisierung und Disziplinenorientierung gekennzeichnet – eine weitere Barriere für die Institutionalisierung. Rückblickend zeigen sich die 1990er Jahre als das Jahrzehnt der beginnenden Institutionalisierung und gemäßigten Expansion sowie des entstehenden Selbstbewusstseins der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung an der Universität Wien. Ein Bruch dieser hoffnungsvollen Entwicklung setzte mit dem UG 02 ein, das die Organisation und Finanzierung der Universität unter dem Stichwort Autonomie neu regelte. Das Wissenschaftsministerium gab seinen direkten Einfluss auf Organisationsentscheidungen der Universitäten auf und so verlor die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung trotz engagierter Frauen im Ministerium wesentlichen gesellschaftspolitischen Rückhalt und wissenschaftspolitische Finanzierung. (Inzwischen gingen zudem viele der Ministeriums-Protagonistinnen in Pension.) Der Bestand an Lehrstunden aus dem »Frauentopf« konnte zwar gehalten werden, doch im unternehmerischen Paradigma zunehmenden Wettbewerbs an der Fakultät für Sozialwissenschaften
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wurde die Geschlechterforschung nicht als Vorteil gesehen oder gar genützt. An der Universität Wien gibt es an allen Fakultäten – im Vergleich zum Studienangebot und zu den Forschungsaktivitäten – eine nur geringe Anzahl von Professuren mit Geschlechterdenomination, und es gibt auch kein gesichertes Institut für Geschlechterforschung mit zugeteiltem wissenschaftlichem Personal. An deutschen und auch an anderen österreichischen Universitäten ist die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung klarer verankert und komfortabler etabliert – mit eigenen Professuren, meist aus ministeriellen Zusatzmitteln, oder als Forschungsplattformen. Tragisch war für die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung im inneruniversitären Zusammenhang die Auslagerung in das Referat Genderforschung. Was als wichtige überfakultäre und interdisziplinäre Parallelstruktur begann, führte letztlich zur massiven Aushöhlung der sozialwissenschaftlichen Geschlechterlehre und -forschung. Dieser Prozess des Gegeneinanderausspielens von Geschlechterforschung nahm in den vergangenen Jahren allerdings eine vorsichtige Umkehr. Trotz fehlender »Geschlechterstellen« ist der sozialwissenschaftlich-geschlechterforscherische Output markant, und dennoch blieb die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung tendenziell gefährdet und prekär. So wechseln sich über die Jahrzehnte Institutionalisierung und De-Institutionalisierung sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung im schwer durchschaubaren Prozess von Umstrukturierungen (UOG 75, UOG 93, UG 02) und im permanenten Aufreiben zwischen formalen Strukturen und informellen Organisationspraxen ab. Kaum schien an einer Stelle Land gewonnen, ging an anderer Stelle welches verloren. Insgesamt kann an der Universität Wien nur von einer symbolischen Modernisierung durch sozialwissenschaftliche Genderforschung gesprochen werden. Zahlreiche Organisationsentscheidungen an der Universität Wien gingen immer wieder zum Nachteil der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung aus. Initiativen zur Etablierung, Institutionalisierung und zum Ausbau kamen stets von unten als bottom up-Initiativen, die dem Engagement und der Expertise von Akteurinnen zuzuschreiben sind. In der Community entstand so ein Gefühl des Abtrotzens, der mühsamen Expansion bei stetem Risiko der erneuten Eingrenzung, der Beschneidung und des Aushungerns. Geschlechterforschung wird noch immer nicht als ein Markenzeichen der Universität Wien gesehen, nicht als eine unique selling position. Vielleicht aber reißt der neue Forschungsverbund das Ruder herum!
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Kock, Sabine: Wechselvolle Wende in Wien: Von der Interuniversitären Koordinationsstelle für Frauenforschung zum Projektzentrum Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Wien, in: Information. Zeitschrift der Koordinationsstellen Österreichs für Frauen- und Geschlechterforschung sowie Frauenförderung 01 (2001) 4 – 5. Kock, Sabine: Gender Studies – Work in Progress, in: Sabine Kock und Gabriele Moser (Hg.), Projektzentrum Genderforschung. Gender Studies. Perspektiven von Frauenund Geschlechterforschung an der Universität Wien. Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, Bd. 18 (Wien 2005) 285 – 311. Lutter, Christina: Einleitung, in: Christina Lutter und Elisabeth Menasse-Wiesbauer (Hg.), Frauenforschung, feministische Forschung, Gender Studies: Entwicklungen und Perspektiven. Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, Bd. 8 (Wien 1999) 7 – 15. Ranftl, Edeltraud: Soziologische Frauenforschung: The way she moves, in: Ingvild Birkhan, Elisabeth Mixa, Susanne Rieser und Sabine Strasser (Hg.), Innovationen 1: Standpunkte feministischer Forschung und Lehre. Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, Bd. 9/Teilband 1 (Wien 1999) 55 – 71. Retschnig, Renate: Wer fürchtet sich vor dem Ghetto – oder warum ist die Peripherie genauso wichtig wie das Zentrum?, in: Ingvild Birkhan (Hg.), Feministische Kontexte. Institutionen Projekte Debatten und der neue Frauenförderungsplan. Zeitschrift für Hochschuldidaktik. Beiträge zu Studium, Wissenschaft und Beruf, 19. Jg., Heft 2 (1995) 58 – 65. Rosenberger, Sieglinde: Politikwissenschaft – eine feministische Verortung, in: Barbara Hey (Hg.), Innovationen. Standpunkte feministischer Forschung und Lehre. Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, Bd. 9/Teilband 2 (Wien 1999) 131 – 150. Zach, Astrid et al.: Lokale Differenzierung – Globale Integration. Feministische Ethnologie/Kultur- und Sozialanthropologie in Wien, in: Ingvild Birkhan, Elisabeth Mixa, Susanne Rieser und Sabine Strasser (Hg.), Innovationen 1: Standpunkte feministischer Forschung und Lehre. Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft, Bd. 9/Teilband 2 (Wien 1999) 15 – 37.
Mary Snell-Hornby und Gerhard Budin*
Translationswissenschaft in Wien – Zur Pionierrolle einer altehrwürdigen Universität
Obwohl Übersetzen und Dolmetschen zu den ältesten Tätigkeiten der Menschheit gehören, ist die Translationswissenschaft eine junge Disziplin, die sich erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von der Angewandten Linguistik einerseits und der vergleichenden Literaturwissenschaft andererseits emanzipiert hat. Das Verhältnis der Theorie zur Berufspraxis hat sich dabei als schwierig, in der Entwicklung des Faches und dessen Institutionalisierung an der Universität aber als überaus wichtig erwiesen.
Sprachknaben, Gerichtsdolmetsche und Translatoren Auch die gezielte Ausbildung von Berufstranslatoren (Übersetzern und Dolmetschern) blickt auf eine überschaubare Geschichte zurück. Eine Pionierrolle spielte hier das alte Österreich mit der Gründung der Orientalischen Akademie (Vorläuferin der späteren Konsularakademie und der heutigen Diplomatischen Akademie) unter Kaiserin Maria Theresia im Jahr 1754. Dort wurden sogenannte »Sprachknaben« für den diplomatischen Dienst ausgebildet, die Kenntnisse in Türkisch (allenfalls auch Arabisch und Persisch) für eine Tätigkeit als »orientalische Dolmetsche« bei der österreichischen »Internuntiatur« (so hieß die österreichische konsularische Vertretung) im damaligen Konstantinopel erwarben. Institutionalisiert wurde der Beruf, wenn nicht die Ausbildung der Translatoren, auch in der multiethnischen, multilingualen Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts. Dort existierte ein immenser Übersetzerbetrieb, der aber erst vor relativ kurzer Zeit von der Forschung entdeckt wurde (Petioky 1997; Wolf 2005 und 2012). Dieser erinnert stark an den Sprachendienst der heutigen Europäischen Union, vor allem in der Frage des sprachlichen Gleichberechtigungsprinzips, und wird von Petioky wie folgt beschrieben: * Institut für Translationswissenschaft der Universität Wien.
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»Denn natürlich wurde im alten Österreich allenthalben Tag und Nacht übersetzt; man musste sich einfach trotz – und auch wegen – des stetigen Bemühens, die staatsgrundgesetzliche Zusicherung, die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen zu verwirklichen, dauernd mit schriftlicher und oft auch mündlicher Sprachmittlung behelfen.« (Petioky 1997, 351)
Übersetzt wurden die verschiedensten Textsorten aus allen möglichen Bereichen: Petioky (1997) geht insbesondere auf Lehrbücher (für Geschichte, Mathematik und Naturkunde, aber auch Sprachlehrbücher) sowie auf die Übersetzungstätigkeit in Rechtsprechung und Verwaltung ein. Im ersten Bereich waren die Übersetzer hauptberuflich meist Fachleute, prominente Lehrer oder Universitätsprofessoren, im zweiten waren es zum großen Teil Beamte, die offiziell zum »Dolmetsch«, etwa als »ständig beeideter Gerichtsdolmetsch«, oder »Translator« 1 ernannt wurden. Einen Einblick in die Bürokratie, aber auch in die sprachliche Vielfalt mit dem Gleichberechtigungsprinzip der Sprachen in der Donaumonarchie, gibt eine kompakte Studie zum habsburgischen Translator im 1849 errichteten »Redaktionsbureau des Reichsgesetzblattes« (Wolf 2005, 42). Das Reichsgesetzblatt sollte in zehn Ausgaben in den folgenden »landesüblichen« Sprachen erscheinen, wobei die heikle Frage der Authentizität der verschiedenen Fassungen dadurch gelöst wurde, dass die Texte in allen zehn verschiedenen Landessprachen als gleich authentisch erklärt wurden – »in deutscher Sprache, in italienischer, in magyarischer, in böhmischer (zugleich mährischer und slovakischer Schriftsprache), in polnischer, in ruthenischer, in slovenischer (zugleich windischer und krainerischer Schriftsprache), in serbisch-illirischer Sprache mit serbischer Civil-Schrift, in serbisch-illirischer (zugleich croatischer) Sprache mit lateinischen Lettern, in romanischer (moldauisch-wallachischer) Sprache.« (zit. nach Stourzh 1985, 35) Es entstand naturgemäß ein immenser Arbeitsaufwand für die Redakteure bzw. Translatoren, mit entsprechenden Begleiterscheinungen wie Zeitdruck, Finanzproblemen und ständigem Personalwechsel. Mit kaiserlichem Patent vom 27. Dezember 1852 wurde dann der deutsche Text zum allein authentischen erklärt, was zur Folge hatte, dass das Reichsgesetzblatt nur mehr in deutscher Sprache erschien (Wolf 2005, 43). Allerdings wurden die dort erscheinenden Gesetze und Verordnungen übersetzt, und zwar in die landesüblichen Sprachen der Länder, in denen sie Wirksamkeit hatten. Der große Bedarf an translatorischer Arbeit bestand also 1 »Unter ›Dolmetsch‹ verstand man Dolmetscher und Übersetzer, also sowohl den der mündlichen Verständigung im Prozess dienenden Dolmetscher, als auch den Urkunden übersetzenden und beglaubigenden Übersetzer« (Petioky 1997, 365). »Zum ›Translator‹ wurde jemand in der Regel durch Ernennung durch eine leitende Behörde, die ihn dann laufend mit Übersetzungen von offiziellen Texten betraute« (ebd., 367).
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weiterhin, es wurden auch externe »Leiharbeiter« beauftragt, wobei sich die Frage der Qualifikationen der Translatoren aufdrängt. In den ersten Jahren wurden von den Angestellten und pragmatisierten Beamten neben guten Sprachkenntnissen insbesondere Rechtskenntnisse verlangt (ebd., 42), es wurden also absolvierte Juristen aus dem Justizministerium ausgewählt. Ab 1856 waren bei Ausschreibungen vor allem die nachweisbaren sprachlichen Kenntnisse entscheidend, zudem waren auch ein allgemeiner »Nachweis der Studien« und das »politisch einwandfreie Vorleben der Bewerber« (ebd., 48) ausschlaggebend. 1869 wurde schließlich auch translatorische Eignung (»Befähigung für das Übersetzungsgeschäft«) verlangt, die in einer aus mehreren Übersetzungen schwieriger Rechtstexte bestehenden »Concursarbeit« nachzuweisen war (ebd., 49). Es verwundert nicht, dass die tatsächlichen Qualifikationen der Bewerber den heutigen professionellen Kriterien kaum entsprechen konnten: sprachliche Kompetenz wurde meist im Selbststudium erworben, etwaige translatorische Fähigkeiten entstanden einfach durch praktische Erfahrung. Bis zum Ende der Monarchie herrschte Unklarheit über die Qualitätskriterien der Translatoren des Redaktionsbureaus: eine Aufstellung der diversen Berufsfelder der Translatoren zwischen 1849 und 1918 weist eine erstaunliche Vielfalt auf (vgl. ebd., 51 – 52), wobei sachliche Kompetenz, offenbar vor translatorischer Kompetenz, den Vorrang hatte.
Die Gründung des Instituts für Dolmetschausbildung an der Universität Wien 1943 Bereits 1887 wurde mit der Gründung des Seminars für orientalische Sprachen an der damaligen Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin (u. a. nach dem Vorbild der Orientalischen Akademie in Wien) eine universitäre Übersetzer- und Dolmetscherausbildung in Ansätzen ermöglicht. Allerdings wurden auch hier »Sprachkundige« für das Auswärtige Amt anvisiert, denen ein praxisbezogenes Studium im Gegensatz zur wissenschaftlichen Tätigkeit der Philologen angeboten werden sollte. Die Entwicklung der internationalen Diplomatie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – etwa durch den 1920 gegründeten Völkerbund – war ein entscheidender Faktor in der Konstituierung des Dolmetschers, vor allem des Konferenzdolmetschers, als eigenem Beruf, der nicht mehr primär Adeligen bzw. Diplomaten vorbehalten war. Genauso entscheidend war aber der Ausbau internationaler Handelsbeziehungen mit dem wachsenden Bedarf an kompetenten Übersetzern in den Bereichen der Industrie, der Politik und des Gerichtswesens. An der Handelshochschule der Stadt Mannheim entstand 1930 auf Anregung des Schweizer
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Romanisten Charles Pierre Glauser (1868 – 1937) ein Institut zur sprach- und wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung von Dolmetschern und Übersetzern als Studienzweig der Abteilung für moderne Sprachen. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde das Institut im Herbst 1933 auf »Führerbefehl« an die Universität Heidelberg verlegt und war somit die erste universitäre Ausbildungsstätte für Übersetzer und Dolmetscher im deutschsprachigen Raum (Forstner 1995, 193; Ahamer 2005, 24). 1937 wurde dann an der Handels-Hochschule in Leipzig ein ähnliches »Dolmetscher-Institut« gegründet, während das Seminar in Berlin 1940 der Auslandwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-WilhelmsUniversität gehörte (Ahamer 2005, 18). Die drei Institutionen in Berlin, aber vor allem in Heidelberg und Leipzig, sollten als Modell für das Wiener Institut dienen. Im Gegensatz zu diesen war das Institut in Wien jedoch nicht das Ergebnis äußerer Bedürfnisse bzw. Verordnungen, sondern es entstand auf das aktive Betreiben einiger Professoren der Philosophischen Fakultät hin.2 Einzelne Lehrveranstaltungen zur »Dolmetscherausbildung« waren schon 1940 vorhanden, und bereits im Oktober 1939 hatte sich der Dekan der Philosophischen Fakultät an die Rektorate der Universitäten Heidelberg, Berlin und Leipzig mit der Bitte gewandt, »einen Prospekt über den an Ihrer Universität bestehenden Lehrgang für das Dolmetscherwesen« (zit. nach ebd., 48) zu übersenden. Anschließend wurde vom Altphilologen Richard Meister ein Gutachten erstellt; es folgten Sitzungen eines Fakultätsausschusses zur anvisierten Prüfungs- und Studienordnung und es entwickelte sich eine rege Korrespondenz mit Ansuchen des Dekans an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung um Genehmigung der jeweiligen Änderungsanträge (ebd., 71 – 75). Schließlich wurde am 27. Mai 1943 »von einer Kommission der Philosophischen Fakultät der Universität Wien der Beschluss gefasst, auf der Grundlage der damals bereits bestehenden Lehrgänge zur sprachmittlerischen Ausbildung und der hierzu gehörenden ›Prüfungsordnung für akademisch geprüfte Übersetzer und Diplom-Dolmetscher‹ ein Ausbildungsinstitut für Übersetzer und Dolmetscher zu errichten.« (zit. nach Forstner 1995, 39). Aus dem handschriftlichen Sitzungsprotokoll des Dekans Arthur Marchet (1892 – 1980) ging hervor, dass »ein Antrag auf Errichtung eines Dolmetschinstituts mit kl. Etat […] eingebracht werden [sollte]. Hiefür [war] ein Direktor (Wild) und ein wiss. Assistent (Paulovsky) notwendig« (zit. nach Ahamer 2005, 76). Fragen zur Existenzberechtigung, zum Sinn und Zweck eines solchen Instituts gerade in Wien unter 2 In der Zeit der NS-Herrschaft wurden an der Universität Wien neun Institute gegründet: 1938 das Hochschulinstitut für Leibesübungen, 1940 die Institute für Rechtsvereinheitlichung und Lebenswirtschaftskunde, 1941 das Institut für spezielle Dogmatik, 1942 die Institute für Zeitungswissenschaft und Rassenbiologie, 1943 die Institute für Theaterwissenschaft, für Germanisch-deutsche Volkskunde und für Dolmetschausbildung (Ahamer 2005, 29).
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der Diktatur der Nationalsozialisten, zu Zeiten eines Weltkriegs mit den daraus resultierenden extremen Sparmaßnahmen wären berechtigt: Ahamer kommt zum Schluss, es »kann im Falle der Institutsgründung sicherlich von einem Prestigevorhaben die Rede sein, die wohl den Gründern zum Nutzen gereichte.« (ebd., 103) Wer waren aber diese Gründer? Aus dem Sitzungsprotokoll vom 27. Mai 1943 geht hervor, dass neben dem bereits erwähnten Altphilologen Richard Meister und dem oben genannten Anglisten Friedrich Wild (1888 – 1966) mit seinem Assistenten Louis Paulovsky (1904 – 1952) auch der Anglist Georg Weber (1894 – 1957), der Romanist Joseph Huber (1884 – 1960), der Slawist Ferdinand Liewehr (1896 – 1985) und der Germanist Dietrich Kralik (1884 – 1959) offiziell an der Gründung beteiligt waren (ebd., 91). Da in diesen Jahren alle, die im Staatsdienst tätig sein wollten, den Diensteid auf Hitler leisten mussten, ist es nicht verwunderlich, wie Ahamer aus den Personalakten eruiert hat, dass die hier Beteiligten im nationalsozialistischen System aktiv involviert waren (ebd., 91 – 100). Bemerkenswert ist die Karriere des damaligen Assistenten und späteren Institutsleiters Louis H. Paulovsky, der mit einer Fachausbildung in der Elektrotechnik und nach intensiven Englischstudien laut eigenen Angaben als Fachübersetzer, Dolmetscher, Prüfer, Lehrer und »seit 1939 als Leiter des Englischen Dolmetschseminars bei der Reichsfachschaft« (zit. nach ebd., 99) intensiv im System engagiert war. Er kam 1940 aufgrund seiner unbestreitbaren Fachkompetenz auf Empfehlung von Professor Wild und mit Unterstützung des Dekans als Englischlektor zur Abhaltung von Dolmetscherkursen an die Universität und erwarb 1943 das Doktorat der Philosophie (Petioky 1983, 11; Ahamer 2005, 99).
Die Aufbaujahre des Instituts »Vor allem hat […] Österreich auf diesem Gebiet die Verpflichtung einer neuen Zeit wahrgenommen und den Weg in die Zukunft gezeigt. Besonders an ihrer größten Universität Wien hat die kleine Republik in wenigen Jahren gewaltige Pionierarbeit geleistet. Mit wahrhaft mehr als europäischem, mit globalem Weitblick wurde hier erstmalig in Österreich […] ein Institut gegründet, von dem im folgenden eingehend die Rede sein […] soll. Bedenkt man, daß es gerade die schwersten und entbehrungsreichsten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren, in denen mit größter Anstrengung […] am Wiederaufbau einer fast vollständig zerstörten […] Wirtschaft in einem schwergeprüften […], entmündigten Lande in verzweifeltem Ringen um die bloße Existenz von einem Tag zum anderen gearbeitet wurde, so wird man das Unerhörte dieses in die Tat umgesetzten zukunftsträchtigen Entschlusses ermessen und die richtungweisenden Ergebnisse dieser Neuerung umso besser zu werten wissen.« (Paulovsky 1983, 140)
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Diese Zeilen entstammen einem Manuskript von Louis Paulovsky aus dem Jahr 1949, aus dem einige Auszüge erst 1983 in einer Festschrift zum 40-jährigen Bestehen des Wiener Instituts veröffentlicht wurden. Er war bis zu seinem frühen Tod im März 1952 Institutsleiter, vor allem aber war er der Mann der ersten Stunde, der die notwendigen Grundlagen für das neue Institut besorgte. Dieses war zunächst in den Räumen des damaligen Englischen Seminars untergebracht: Paulovsky erwirkte die Zuweisung eigener Räume im Hauptgebäude der Universität und ließ bereits Anfang der 1950er Jahre, z. T. aus Spenden der Rockefeller-Stiftung, Simultandolmetschanlagen einrichten. Unter seiner Leitung erreichte die Institutsbibliothek bereits einen Bestand von 20.000 Bänden (Petioky 1983, 12). Zum Zeitpunkt der Gründung bestanden am Institut fünf Sprachsektionen (Deutsch für Nichtdeutsche, Englisch, Französisch, Italienisch und Russisch). In der sprachlichen Ausbildung drängte Paulovsky auf Perfektion in der Fremdsprache, aber auch Vervollkommnung in der eigenen Muttersprache; in der translatorischen Leistung lag ihm die höchstmögliche Präzision und das dazu notwendige Sachwissen am Herzen (ebd., 12). Und nicht zuletzt interessierten ihn Fragen der Berufsethik: In seinem Manuskript des Jahres 1949 entwarf er einen umfangreichen Katalog der charakterlichen Eigenschaften, die ein Kandidat für die Abschlussprüfung unter Beweis zu stellen hatte (Paulovsky 1983, 143 – 145; vgl. Snell-Hornby 2008, 47 – 48). Das anfängliche Organisationsmodell des Instituts mit einem Leiter für administrative, organisatorische und didaktische Angelegenheiten (Paulovsky) und über diesem (als Vertreter vor der Fakultät) einem Professor aus einem philologischen bzw. verwandten Fach als Institutsvorstand (Wild) wurde beibehalten. So waren auch in den nächsten Jahrzehnten Wissenschaftler aus verschiedenen (meist philologischen) Fächern neben einem internen Leiter am Institut tätig. Großen Respekt gewann Wilhelm Matejka (1904 – 1988), der von 1954 bis 1965 die Institutsleitung innehatte und sowohl räumliche Verbesserungen als auch einen großzügigen Ausbau des Lehrangebots erwirkte. Sein Fachgebiet war die Romanistik und neben der administrativen Tätigkeit bestritt er selbst den Großteil der Ausbildung in der französischen Sprachsektion. Sein besonderes Interesse galt den Fachsprachen, der Fachterminologie und dem Fachübersetzen: Für alle Sprachen wurde eine Zyklus-Vorlesung eingerichtet, die auf den Gebieten Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Technik und Medizin jahrzehntelang ein fester Bestandteil des Lehrangebots war. Auf die Initiative Matejkas wurde 1954 der Österreichische Übersetzer- und Dolmetscherverband »Universitas« gegründet und 1955 begann das bereits von Paulovsky angestrebte Fulbright-Programm mit einem Gastprofessor aus den USA in der Amerika-Abteilung der englischen Sprachsektion – auch diese war für die damalige Zeit ein Novum. 1961 wurde das Institut Mitglied des internationalen
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Dachverbandes universitärer Institute für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung (CIUTI).3 1965 übernahm der bereits zitierte Viktor Petioky (1923 – 2007) die Institutsleitung. In seine Zeit (bis 1985) fiel sowohl eine Lösung der chronischen Raumnot durch die Übersiedelung des Instituts in die Gymnasiumstraße 1984 als auch eine völlige Neustrukturierung des Curriculums durch Neuordnungen im Hochschulbereich, vor allem das Allgemeine Hochschulstudiengesetz (AHStG) 1966 und das Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975. Ab den 1970er Jahren bestanden am Institut, das inzwischen den Namen »Institut für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung« trug, dreizehn Sprachsektionen (Deutsch für Nichtdeutschsprachige, Englisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Serbokroatisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch) und aus dem anfänglich überschaubaren Betrieb war inzwischen ein verwaltungsintensives Masseninstitut geworden.4 Die Ausfallquote betrug etwa 90 % (vgl. Petioky 1983, 19 – 20, Fn. 8), nicht zuletzt, weil dieses recht anspruchsvolle Studium vielfach als reines Sprachstudium missverstanden wurde. Mit der Studienreform wurde das Curriculum5 den Strukturen der anderen geisteswissenschaftlichen Studienrichtungen angeglichen und bestand, wie auch in den beiden anderen österreichischen »Dolmetschinstituten« in Innsbruck (gegründet 1945) und Graz (gegründet 1946), aus zwei Studienabschnitten nach einem sogenannten »Y-Modell«, d. h. mit einer Gabelung in zwei viersemestrige Studienzweige »Übersetzerausbildung« und »Dolmetscherausbildung« im zweiten Studienabschnitt. Hinzu kam eine verpflichtende zweite Fremdsprache (C-Sprache6). Das Kurzstudium für Übersetzer (vgl.
3 CIUTI: Conf¦rence Internationale Permanente d’Instituts Universitaires de Traducteurs et InterprÀtes (Forstner 1995). 4 »In den Jahren 1943 – 1946 [lag] die Zahl der […] Inskribierten zwischen 100 und 200 und in den Jahren 1975 – 1983 zwischen 1000 und 2000 […]. (Sehr starker Zuwachs war Mitte der fünfziger Jahre und dann wieder Anfang der siebziger Jahre zu beobachten.) Die Zahl der Lehrveranstaltungen […] stieg von etwa 50 im Jahre 1943 auf 250 im Jahre 1983; die Zahl der in der Ausbildung tätigen Personen wuchs von 20 in 1943 auf 80 in 1983. (Von diesen 80 sind 20 Bundeslehrer (L/1) mit voller Lehrverpflichtung.)« (Petioky 1983, 19, Fn. 3) 5 »Die Studienordnung aus 1945 sah ein nach bestandener Eignungsprüfung mindestens fünfsemestriges Studium vor, das nach erfolgreich abgelegter mehrtägiger schriftlicher und mündlicher Fachprüfung zur Tragung des Berufstitels »Akademisch geprüfter Übersetzer« berechtigte. Nach mindestens zwei weiteren Semestern wurde dem Kandidaten nach sechstägiger schriftlicher und mehrstündiger mündlicher Prüfung der akademische Grad »Diplomdolmetsch« verliehen.« (Raetz 1993, 5) 6 Laut CIUTI-Richtlinien: A language – native language; B language – active foreign language; C language – passive working language. (Forstner 1995, XXIX)
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Endnote 4) wurde beibehalten.7 Der akademische Titel nach Abschluss des achtsemestrigen Studiums lautete »Magister der Philosophie« (»Mag.phil.«). Ein Problem der neuen Studienordnung bestand in der nunmehr erforderlichen Diplomarbeit, die als Nachweis der Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit dienen sollte und nur von Habilitierten betreut werden durfte. Diese waren aber wegen der noch fehlenden Professuren am Institut nicht vorhanden: in der neuen Struktur fungierte weiterhin ein Vertreter einer anderen (philologischen) Fachrichtung als Institutsvorstand, für die Institutsgremien waren weitere Philologen (aus der Anglistik, der Romanistik bzw. der Slawistik) dem Institut zugeordnet. Zur Betreuung ihrer Diplomarbeit mussten die Studierenden diese oder andere fachverwandte Habilitierte in Anspruch nehmen. Mit dieser Problematik hing die Frage der Wissenschaftlichkeit, der theoretischen Fundierung des Studiums und dessen Identität gegenüber den philologischen Studiengängen zusammen. Bereits Paulovsky hatte die »neue akademische Disziplin als Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft« definiert sowie »die Errichtung von Lehrkanzeln und die Möglichkeit von Habilitationen in diesem Fach« (Raetz 1993, 9) gefordert und in Ansätzen waren Bereiche einer solchen Disziplin durchaus vorhanden. Es entstanden kurze, aber wegweisende Arbeiten, etwa zur Geschichte des Dolmetschens (Kurz 1986), sowie erste empirische Studien zum Konferenzdolmetschen (Bühler 1986). Die Festschrift zum 40-jährigen Bestehen des Instituts (Petioky 1983) – zugleich die Akten eines Symposiums, das neben einer Jahresversammlung der CIUTI und einem Festakt im Großen Festsaal der Universität Wien das Ereignis feiern sollte – bietet einen recht typischen Querschnitt der Themen dieser Jahre. 1984 wurde dann der X. Weltkongress der F¦d¦ration Internationale des Traducteurs in Wien veranstaltet, dessen Akten einige international wegweisende Beiträge beinhalten (Bühler 1986). Das Institut war arriviert. Der Aspekt der Fachterminologien, ihre Vermittlung insbesondere im Fachsprachenunterricht und ihre wissenschaftliche Dimension im Sinne der Allgemeinen Terminologielehre (Wüster 1974) waren frühzeitig am damaligen Institut für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung präsent. Für Eugen Wüster (1898 – 1977) – Begründer einer systematischen Terminologiewissenschaft, wie wir sie heute verstehen (vgl. Budin 2001) – waren Übersetzer und Dolmetscher wichtige Anwender terminologischer Grundprinzipien sowie Hauptnutzer der Ergebnisse der mehrsprachigen Terminographie mit deren Hauptprodukten der Fachwörterbücher und, ab den 1960er Jahren, auch der Terminologiedatenbanken in den großen Sprachendiensten. Am 12. Dezember 1968 hielt Eugen Wüster einen Vortrag am damaligen Institut für Dolmetschausbildung über 7 Der Verordnungstext des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung vom 3. Oktober 1972 mit der (leicht gekürzten) Studienordnung ist in Petioky 1983, 20 – 28 abgedruckt.
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»offene terminologische Fragen« (Wüster 1969). 1972 wurde er Honorarprofessor am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. An seinen Vorlesungen nahmen (naturgemäß) nicht nur Studierende der Linguistik, sondern auch Studierende der Dolmetschausbildung teil (das Vorlesungsskriptum wurde posthum unter Wüster 1979 veröffentlicht). Damit beginnt der Terminologieunterricht an der Universität Wien in einem interdisziplinären Kontext, woraus schnell eine Tradition wurde, die bis heute ohne Unterbrechung anhält: Auf Wüster folgten Hildegund Bühler, die 1987 im Fach Übersetzungswissenschaft und Terminographie (kumulativ) habilitierte, und Gerhard Budin, der 1997 für Terminologiewissenschaft und Wissenstechnik habilitierte (Budin 2010).
Translationswissenschaft als Interdisziplin Im Laufe der 1980er Jahre wurden jene Theorien entwickelt, mit denen sich die Übersetzungswissenschaft von der Sprach- bzw. Literaturwissenschaft emanzipieren und sich als eigenständige Disziplin etablieren konnte. Für die Ausbildungsinstitute waren vor allem die zieltextorientierten funktionalen Ansätze, die sich nicht mehr nach dem Wortlaut des Ausgangstextes, sondern nach dem Zweck des Translats bzw. der Übersetzung in der Zielkultur richteten, wesentlich. Diese galten nicht nur für die Übersetzungs-, sondern auch für die bislang eher unterwickelte Dolmetschwissenschaft: Gemeinsam bildeten sie die neue Disziplin der Translationswissenschaft (vgl. Reiß/Vermeer 1984). Diese war keineswegs nur sprachorientiert, sondern etablierte sich bereits im ausgehenden 20. Jahrhundert als »Interdisziplin« im Spannungsfeld zwischen Soziologie, Kognitionswissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft, den Philologien und Kulturwissenschaften und schließlich auch der Informatik.8 In den Jahren dieser fachlichen Neuorientierung wurden an allen drei Instituten in Österreich die lange geforderten Ordinariate – für jedes Institut vorerst nur eines – geschaffen. Die Ernennung von Mary Snell-Hornby zur Ordinaria am Wiener Institut erfolgte im Wintersemester 1989/90 und fiel somit mit jenen politischen Umwälzungen zusammen, die für die ganze Welt, aber insbesondere 8 Die Benennung der Translationswissenschaft (bzw. Translation Studies) als »interdiscipline« geht auf den israelischen Wissenschaftler Gideon Toury zurück (vgl. Snell-Hornby 2008, 43). Über das Wiener Institut (vgl. Snell-Hornby et al. 1994) wurde der Begriff »Interdisziplin« auch in der deutschsprachigen scientific community bekannt, wobei Sprache nicht – wie etwa in der Linguistik – Gegenstand der Untersuchung, sondern Ausdrucksmittel bzw. Werkzeug ist und daher als Bindeglied mit den jeweiligen Nachbardisziplinen fungiert (vgl. SnellHornby 2008, 43). Gute Beispiele wären das Gerichtsdolmetschen (vgl. Kadric 2001) oder die Opernübersetzung (vgl. Kaindl 1995).
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für Europa, eine grundlegende Neuordnung brachte: der Zerfall des Ostblocks und somit das Ende des Kalten Kriegs.9 Plötzlich lag Wien nicht mehr am östlichen Zipfel Westeuropas, sondern wieder mitten im Zentraleuropa, und für die Disziplin der Translationswissenschaft, die ganz wesentlich vom Zeitgeist und von den jeweils herrschenden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt wird, bedeutete das ein gewaltiges Potenzial für die Zukunft, das mit der späteren Beitritt Österreichs zur Europäischen Union noch erhöht wurde (vgl. Snell-Hornby 2008, 13). Die Zeichen standen also auf Neuorientierung auf allen Ebenen, was keineswegs eine Negierung der bisher geleisteten Aufbauarbeit bedeuten sollte: im Gegenteil, die Ansätze künftiger Entwicklungen waren, wie oben erwähnt, auch in den früheren Phasen der Institutsgeschichte vorhanden,10 insbesondere waren durch namhafte Praktiker im Lehrkörper des Instituts die Grundlagen der erwünschten Verbindung von Theorie und Praxis schon gegeben: Einige Wiener Dolmetscher waren z. B. bei historischen politischen Ereignissen bzw. deren Übertragung im den Medien tätig und waren somit in der Öffentlichkeit bekannt.11 Zu den Hauptanliegen des neuen Ordinariats gehörte die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, wobei nicht nur Diplomarbeiten, sondern auch Dissertationen und Habilitationen im Fach Translationswissenschaft am Institut betreut werden sollten. Zu diesem Zweck wurden drei wissenschaftliche Assistentenstellen geschaffen. Das Vorhaben sollte reiche Früchte tragen: es entstanden im Laufe der 1990er Jahre insbesondere im Fach Dolmetschwissenschaft wegweisende empirische Studien, nicht nur im Bereich des Konferenzdolmetschens, sondern auch im damals wenig erforschten »Community Interpreting« (z. B. Pöchhacker 2000) sowie im Bereich des Gerichtsdolmetschens (Kadric 2001). Aber auch in der Übersetzungswissenschaft wurde Pionierarbeit geleistet, es wurden bisher kaum erschlossene Gebiete erforscht: Ein markantes Beispiel ist das multimediale Übersetzen für Bühne (z. B. Kaindl
9 Die Euphorie war unbeschreiblich, und zur Antrittsvorlesung der Ordinaria am 19. Jänner 1990 (vgl. Snell-Hornby 2008, 33 – 48) wurden als Zeichen der Verbundenheit die Botschafter aller neuen Demokratien des ehemaligen Ostblocks eingeladen. 10 Die Interdisziplinarität wurde z. B. bereits durch den Sprachpsychologen Friedrich Kainz (1897 – 1977) gegeben, der 1952 – 1969 Institutsvorstand war und »zu dessen weitgespannten Forschungen auch Themen der Übersetzungstheorie und des Dolmetschwesens gehörten« (Petioky 1983, 11). 11 Wie etwa 1955 bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags oder 1961 beim Treffen von Kennedy und Chruschtschow, als der künftige Institutsleiter Petioky als Russisch-Dolmetscher engagiert wurde; später machte sich Ingrid Kurz als regelmäßige Dolmetscherin im Fernsehen einen Namen.
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1995), Film und Fernsehen, das inzwischen als »Audiovisual Translation« (AVT) in der internationalen scientific community eine gewichtige Rolle spielt.12 Das zweite Hauptanliegen des Ordinariats war der Ausbau internationaler Kontakte. Das ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit, aber zu jenem Zeitpunkt mussten erst Verbindungen mit Institutionen aufgenommen werden, die durch den Eisernen Vorhang vierzig Jahre von der westlichen Welt isoliert worden waren. Für die notwendigen Kontaktreisen wurde von der österreichischen Bundesregierung der sogenannte »Osttopf« zur Verfügung gestellt, der vom Institut eifrig in Anspruch genommen wurde: nach Reisen in zahlreichen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurde im November 1991 ein »Mitteleuropäisches Symposium« am Institut veranstaltet, zu dem Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Demokratien eingeladen wurden (vgl. Snell-Hornby 2008, 49 – 53). Darüber hinaus fanden zwischen der Antrittsvorlesung der Ordinaria und den Feierlichkeiten zum 50. Bestehen des Instituts 1993 fünf Expertentreffen aus verschiedenen Instituten im deutschsprachigen Raum zu Themen des Faches und der Ausbildung statt, die sich als »Wiener Translationsgipfel« einen Namen machten. Höhepunkt solcher Aktivitäten war der internationale »Translation Studies Congress« im September 1992 mit der Gründung der European Society for Translation Studies (EST), die bis 1998 vom Wiener Institut aus von Präsidentin Snell-Hornby und Generalsekretär Pöchhacker verwaltet wurde.13 Mit der Publikation der Kongressakten »Translation Studies – An Interdiscipline« (Snell-Hornby et al. 1994), die auch als Festschrift zum Institutsjubiläum diente, wurde die renommierte Reihe »Benjamins Translation Library« (BTL) des John Benjamins Verlags ins Leben gerufen. Wie auch zehn Jahre zuvor wurde das 50-jährige Bestehen des Instituts mit einer Konferenz (und der dazugehörenden Festschrift), einem Expertentreffen (in diesem Fall dem »5. Translationsgipfel«) und einem Festakt im Großen Festsaal der Universität gefeiert. Aus der Rede der Ordinaria, bis 1994 noch Institutsvorstand (Snell-Hornby 2008, 55 – 58), geht hervor, dass ihr drittes Hauptanliegen, die wieder fällige Studienordnungsreform, sehr viel zäher vorankam als die beiden anderen Vorhaben. Es war seit langem klar, dass das unter der Leitung Petiokys (Petioky 1983, 16 – 18) ebenfalls jahrelang erkämpfte Curriculum nicht mehr zeitgemäß war : dabei ging es nicht nur um die man12 Zu dieser Thematik lief am Wiener Lehrstuhl bereits 2000 – 2002 ein vom FWF finanziertes Forschungsprojekt zum Thema »Literaturübersetzen als multimediale Kommunikation. Empirische Untersuchungen der translatorischen und technischen Probleme beim Kulturtransfer in Film und Fernsehen, mit besonderer Berücksichtigung der Situation in Österreich«. 13 2012 wurde dann ebenfalls am Institut mit einem Symposium zum Thema »Same Place, Different Times« das 20-jährige Bestehen dieser immer noch äußerst aktiven Gesellschaft gefeiert.
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gelhafte wissenschaftliche Fundierung, sondern vor allem darum, dass die Studierenden auf die Realität ihres künftigen Berufs nicht genügend vorbereitet wurden. Bereits im Jänner 1990 wurden Arbeitsgruppen für alle interessierten Lehrenden eingesetzt: bis die Reform verwirklicht wurde, sollte es jedoch Jahre mit langwierigen Sitzungen und Verhandlungen dauern. Den entscheidenden Schub gab schließlich der 1999 beschlossene »Bologna-Prozess«; hier war ein Modell vorgesehen, dessen zweistufiger, modularer Aufbau für das Fach grundsätzlich gut geeignet war : auf ein dreijähriges Bachelor-Studium »Transkulturelle Kommunikation«, in dem vor allem Sprach-, Kultur- und Textkompetenz erworben werden sollte, folgt nun ein zweijähriges Master-Studium im Bereich Übersetzen oder Dolmetschen, wobei letzteres nicht mehr nur nach Sprachen definiert wird, sondern zum Teil sprachübergreifend nach Schwerpunkten wie Konferenz-, Gerichts- und Dialogdolmetschen bzw. Fachübersetzen, Lokalisierung, Terminologiearbeit, Maschinen- und Computergestütztes Übersetzen und als Neuigkeit das früher nur punktuell vorhandene Literaturübersetzen. Dieses Curriculum wurde erst nach dem neuen Universitätsgesetz 2002 eingeführt, weist aber eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem bereits 1991 entworfenen Modell eines modularen Curriculums auf (vgl. Snell-Hornby 2008, 54). Berücksichtigt wurden in der neuen Studienordnung jedoch auch Entwicklungen, die während der 1990er Jahre mit der zunehmenden Globalisierung und dem atemberaubenden Siegeszug elektronischer Medien verbunden waren: die Weichen für das 21. Jahrhundert waren gestellt.
Fazit und Ausblick Von Beginn an waren die translatorische Tätigkeit, das spätere Institut für Dolmetschausbildung und das Fach Translationswissenschaft in Wien auf die Zukunft ausgerichtet. Inzwischen ist aus dem Institut das Zentrum für Translationswissenschaft geworden, wobei nicht nur die Ausbildung, sondern auch die wissenschaftliche Disziplin und deren Forschungsgebiete im Mittelpunkt stehen. Geblieben ist das Massenstudium, dessen Probleme zunehmend elektronisch verwaltet werden, aber keineswegs bewältigt sind. Hinzugekommen sind drei Professuren – für Translatorische Terminologiewissenschaft und Übersetzungstechnologie (eingerichtet 2003, seit 2005 mit Gerhard Budin besetzt), Transkulturelle Kommunikation (eingerichtet 2008, seit 2010 besetzt mit Larisa Schippel) und Dolmetschwissenschaft und Translationsdidaktik (seit 2012 besetzt mit Mira Kadric-Scheiber). Die Curricula für die Ausbildung auf den Ebenen des B.A. (Transkulturelle Kommunikation), des M.A. (Übersetzen sowie Dolmetschen) und des Doktorats werden laufend an neue Entwicklungen und Erfordernisse des dynamischen, globalen Arbeitsmarktes angepasst. In
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diesem Zentrum für Translationswissenschaft ist reiches menschliches und fachliches Potenzial vorhanden, das für die Zukunft der forschungsgeleiteten Lehre und der translationswissenschaftlichen Forschung in einem internationalen Kontext entscheidend sein wird.
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Maria Wirth*
Die molekularen Biowissenschaften der Universitäten am Campus Vienna Biocenter und die Gründung der Max F. Perutz Laboratories
Das Jahr 1992 markiert ein zentrales Datum in der jüngeren Geschichte der Biowissenschaften an der Universität Wien. In diesem Jahr wurde nicht nur ein neues Universitätsgebäude in der Dr. Bohr-Gasse eröffnet, das fünf Institute unter einem Dach vereint. Es stellt auch den Ausgangspunkt für die Ansiedlung weiterer Universitätseinrichtungen am Campus Vienna Biocenter, die Etablierung der Max F. Perutz Laboratories (MFPL) im Jahr 2005 und die Bildung des Zentrums für Molekulare Biologie 2007 dar.
Der Weg zum Wiener Biozentrum Die Ansiedlung von fünf Universitätsinstituten in der Dr. Bohr-Gasse ist eng mit der Gründung des Instituts für Molekulare Pathologie (IMP) als Grundlagenforschungsinstitut des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim (und anfangs des Biotech-Unternehmens Genentech) verbunden.1 Da die Verbindung zur Universität eine wichtige Voraussetzung für die Errichtung ihres Instituts in Wien war, wurde zunächst ein Standort in Universitätsnähe gesucht. Als kein solcher gefunden werden konnte und von der Stadt Wien das ehemalige »HornyphonGelände« in Wien-St. Marx (Wien III.) angeboten worden war, kam die Idee einer Übersiedlung von thematisch verwandten Universitätsinstituten dorthin auf.2 Zugleich wurde die Forderung nach der Einrichtung von zwei neuen Lehrstühlen aufgestellt, um die akademische Dichte im Umfeld des zu gründenden Instituts zu erhöhen. Von Seiten der Politik wurden diese Forderungen – vor dem Hintergrund, dass die aufstrebenden Biowissenschaften in jenen Jahren * Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 1 Seit 1993 wird das IMP ausschließlich von Boehringer Ingelheim getragen. 2 Auf dem Gelände der ehemaligen »Marxer Brauerei« hat sich nach 1945 der Philips-Konzern niedergelassen und im so genannten »Hornyphon-Werk« zunächst Radio- und später Fernseh- bzw. Videogeräte hergestellt. Ende der 1970er Jahre wurde der Betrieb eingestellt. Vgl. zur Geschichte des Geländes Wirth 2013: Campus Vienna Biocenter, 13 ff.
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erstmals zu einem wichtigen Förderbereich erklärt wurden – unterstützt. In der offiziellen Förderzusage von Seiten der Stadt Wien, dem Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr und dem Wissenschaftsministerium vom 13. Juni 1985 wurde daher nicht nur die Zurverfügungstellung des Geländes und eine finanzielle Unterstützung für den Aufbau des IMP, sondern auch die Einrichtung von zwei neuen Lehrstühlen angekündigt.3 Hinzu kam die Bereitschaft, über die Errichtung eines neuen Universitätsgebäudes in räumlicher Nähe des Grundlagenforschungsinstituts zu verhandeln, dessen Vertragswerk im April 1989 unterzeichnet wurde. Die Grundsteinlegung für das neue Gebäude, das gemeinsam mit dem 1988 eröffneten IMP das Wiener Biozentrum bilden sollte,4 erfolgte im November 1989.5
Die beteiligten Universitätsinstitute Welche Institute der Universität Wien Teil des neuen Zentrums sein sollten, war zunächst nicht definiert, stand aber spätestens im Frühsommer 1986 fest. Ihm sollten das Institut für Biochemie (Medizinische Fakultät), das Institut für Allgemeine Biochemie (Naturwissenschaftliche Fakultät), das Institut für Molekularbiologie (Medizinische Fakultät) und das Institut für Mikrobiologie und Genetik (Naturwissenschaftliche Fakultät) angehören. Das Institut für Biochemie an der Medizinischen Fakultät war bereits 1958 gegründet worden. Seine Etablierung hing einerseits damit zusammen, dass es für die Biochemie als Grenzgebiet zwischen Chemie, Biologie und Medizin bis dato kein eigenes Institut an der Universität Wien gegeben hatte. Andererseits stand mit dem späteren Wissenschaftsminister Hans Tuppy ein junger, international ausgebildeter Nachwuchswissenschaftler zur Verfügung, dem eine angemessene Position an der Universität angeboten werden sollte. So heißt es in den Unterlagen zur Schaffung eines Extraordinariats für Biochemie, das mit der Errichtung eines Instituts verbunden sein sollte, nicht nur, dass die Biochemie in zunehmendem Maße für die weitere Entwicklung sämtlicher Fachgebiete der Medizin »von grundlegender Bedeutung« sein werde. Festgehalten wurde auch, dass Tuppy durch mehrere Forschungsaufenthalte im Ausland »modern« ausgebildet sei und er für die Universität Wien »gesichert« werden müsse. Nach der Genehmigung des Extraordinariats durch das (damalige) Unterrichtsministe-
3 Ebd., 36 f. 4 Ebd., 57. 5 Kopper 1992: Biozentrum Dr. Bohrgasse sowie Schübl 2005: Universitätsbau, 170 f.
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rium Ende 1957 wurde dieses daher mit Hans Tuppy besetzt und dieser selbst mit 16. September 1958 zum Vorstand des Instituts ernannt.6 Das Institut für Allgemeine Biochemie wurde 1972 eingerichtet. Ihm war die Schaffung eines Extraordinariats im Jahr 1967 vorausgegangen, das 1968 mit Otto Hoffmann-Ostenhof, einem international anerkannten Enzymologen, besetzt wurde. Angesiedelt waren sowohl dieses, als auch das spätere Institut, zunächst an der Philosophischen Fakultät, da eine eigene Formal- und Naturwissenschaftliche Fakultät erst mit dem Universitätsorganisationsgesetz 1975 geschaffen wurde.7 Der Ausbau zum Institut erfolgte nicht nur vor dem Hintergrund, dass die Biochemie 1971 als eigener Studienzweig im Rahmen der Studienrichtung Chemie etabliert worden war.8 Wesentlich war auch, dass an fast allen deutschsprachigen Universitäten bereits eigene Institute für Biochemie im Rahmen der dort ebenfalls bereits vorhandenen Naturwissenschaftlichen Fakultäten bestanden. War 1967 in Zusammenhang mit der Schaffung des Extraordinariats noch davon die Rede, dass in Zukunft ein großes Biochemisches Institut errichtet werden sollte, in dem das an der Medizinischen Fakultät bestehende Institut und das Extraordinariat vereint werden sollten, bestand nun somit ein zweites Institut für Biochemie an der Universität Wien.9 Geleitet wurde dieses ab Mitte der 1980er Jahre von Helmut Ruis, der eine zentrale Rolle bei der Planung und Errichtung des neuen Universitätsgebäudes spielte. Die Einrichtung des Instituts für Molekularbiologie an der Medizinischen Fakultät datiert ins Jahr 1975. Damals wurde in Zusammenhang mit der Besetzung eines zweiten Lehrstuhls für Medizinische Chemie die Frage aufgeworfen, ob dies nicht mit der Einrichtung eines zweiten Instituts für Medizinische Chemie verbunden werden sollte. Maßgeblich waren hierfür ein Anstieg der Studierenden an der Medizinischen Fakultät und die durch das neue Studiengesetz für Medizin vorgenommene Aufteilung des medizinisch-chemischen Lehrgebiets in ein Lehr- und Prüfungsfach »Chemie für Mediziner« und ein ebensolches für »Biochemie«.10 Ein entsprechender Antrag wurde vom Wissenschaftsministerium noch im Frühjahr 1975 positiv beschieden. Als die seit 1974 laufenden Berufungsverhandlungen mit Erhard Wintersberger positiv abgeschlossen werden konnten, wurde dieser im August 1976 daher nicht nur 6 Archiv der Universität Wien, Dekanat der Medizinischen Fakultät, GZ 132 – 1956/57; ÖStA/ AdR, BMU, Personalakt Tuppy, Hans (22. Juli 1924). 7 Bundesgesetz vom 11. April 1975 über die Organisation der Universitäten (UniversitätsOrganisationsgesetz – UOG), BGBl. 258/1975. 8 Bundesgesetz vom 30. Juni 1971 über geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Studienrichtungen, BGBl. 326/1971. 9 Archiv der Universität Wien, Dekanat der Philosophischen Fakultät, GZ 125 – 1966/67, GZ 106 – 1971/72, GZ 115 – 1971/72 sowie ÖStA/AdR, BMU, Personalakt Hoffmann-Ostenhof, Otto (18. Oktober 1914). 10 Bundesgesetz vom 14. Februar 1973 über die Studienrichtung Medizin, BGBl. 123/1973.
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zum ordentlichen Professor für Medizinische Chemie ernannt, sondern gleichzeitig auch zum Vorstand des neuen II. Medizinisch-Chemischen Instituts bestellt. Aufgrund seiner thematischen Ausrichtung und der Intention, die Molekularbiologie, für die es mittlerweile an vielen europäischen Universitäten eigene Institute gab, auch nach außen als Arbeitsgebiet der Fakultät aufscheinen zu lassen, wurde die Umbenennung des Instituts jedoch bereits 1977 beantragt und auch durchgeführt.11 Das Institut für Mikrobiologie und Genetik, das die im Geistes- und Naturwissenschaftlichen Studiengesetz 1971 bereits existierenden Studienzweige Mikrobiologie und Genetik in der Lehre vertreten sollte,12 wurde 1985 mit der Bestellung von Rudolf Schweyen zum ordentlichen Professor für Genetik errichtet.13 Bestrebungen, zwei Lehrstühle für Genetik und Mikrobiologie zu errichten, reichen zwar bis in die 1970er Jahre zurück, als im Zusammenhang mit zwei 1977 freiwerdenden und nicht nachbesetzten Professuren im Bereich der Chemie beschlossen wurde, diese in zwei Stellen im Bereich der expandierenden molekularen Biologie umzuwandeln. Die zunächst ausgeschriebene Professur für Genetik konnte (vor allem aufgrund langwieriger Berufungsverhandlungen) jedoch erst acht Jahre später besetzt werden. Die Besetzung des Lehrstuhls für Mikrobiologie erfolgte sogar noch später.14 Der Lehrstuhl wurde 1993 von Alexander von Gabain übernommen,15 nachdem für die Mikrobiologie (ebenso wie wenig später für die Pflanzengenetik) zunächst eine außerordentliche Professur eingerichtet worden war.16 Ausschlaggebend für die Unterstützung des Wiener Biozentrums durch die beteiligten Institute war die Absicht, ein Zentrum der Biowissenschaften zu schaffen, das die bislang über mehrere Gebäude verteilten Institute über die Fakultätsgrenzen hinweg in einem Haus zusammenführen und ihnen eine Kooperation mit dem IMP erlauben würde.17 Zugleich spielten aber auch die Raumnot an den Instituten, die Hoffnung, dass es mit dem neuen Gebäude leichter sein würde, WissenschaftlerInnen aus dem Ausland anzusprechen, 11 Archiv der Universität Wien, Dekanat der Medizinischen Fakultät, GZ 69 – 72/1973. 12 Archiv der Universität Wien, Dekanat der Naturwissenschaftlichen Fakultät, GZ 86 – 1985/ 86. 13 Universitätsdirektion 1986: Personalstand für das Studienjahr 1985/86, 171. Vor der Berufung von Schweyen gab es die Genetik als Teilgebiet der Botanik bereits am Institut für Botanik. 14 Interview mit Univ.-Prof. Dr. Peter Schuster am 22. November 2013. 15 Universitätsdirektion 1994: Personalstand für das Studienjahr 1993/94, 250. 16 Universitätsdirektion 1992: Personalstand für das Studienjahr 1991/92, 230. 17 Das Institut für Biochemie war in der Währinger Straße 17, jenes für Allgemeine Biochemie in der Währinger Straße 38, jenes für Molekularbiologie in der Währinger Straße 10/ Wasagasse 9 angesiedelt. Das Institut für Mikrobiologie und Genetik befand sich in der Althanstraße 14.
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sowie die Ankündigung, dass zwei neue Lehrstühle eingerichtet werden sollen, eine wichtige Rolle.18
Zwei neue Lehrstühle und ein neues Institut Welche thematische Ausrichtung die neuen Lehrstühle haben und wo diese angesiedelt werden sollten, stand zunächst ebenso wenig fest, wie welche Institute das Wiener Biozentrum bilden sollten. So hieß es auch in der Förderzusage vom 13. Juni 1985 nur, dass sie »für die Bereiche Biotechnologie und Gentechnik eingerichtet werden« und dem »Arbeitsgebiet des Forschungsinstitutes verwandt [sein sollen] (Präferentiell: Proteinchemie, Humangenetik, Immunologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Membranbiochemie)«.19 Bis spätestens Juni 1986 kristallisierte sich jedoch heraus, dass das Institut für Allgemeine Biochemie an der Naturwissenschaftlichen Fakultät ein zweites Ordinariat für Biochemie bzw. Molekulare Entwicklungs- und Zellbiologie erhalten und an der Medizinischen Fakultät ein Lehrstuhl für Molekulare Genetik eingerichtet werden soll. Als der Akademische Senat der Übersiedelung der genannten Institute am 4. Dezember 1986 zustimmte, umfasste dies bereits auch das zu gründende Institut für Molekulare Genetik.20 Der neue Lehrstuhl am Institut für Allgemeine Biochemie wurde Ende 1991 mit Gerhard Wiche besetzt und das Institut in Folge in »Institut für Biochemie und Molekulare Zellbiologie« umbenannt, um das neue Ordinariat auch in der Institutsbezeichnung wiederzugeben.21 Der Lehrstuhl für Molekulare Genetik wurde ebenfalls 1991 mit der Ernennung von Wolfgang Schneider zum Professor für Molekulare Genetik besetzt.22 Eine erste provisorische Unterkunft fand das neue Institut im Anatomischen Institut, bis es – nach der Übergabe des Universitätsgebäudes in der Dr. Bohr-Gasse an die einzelnen Institute am 22. Mai 1992 – in das neue Wiener Biozentrum übersiedelte.
18 Wirth 2013: Campus Vienna Biocenter, 66. 19 Ebd., 36 f. 20 Auszug aus dem Protokoll über die 2. Sitzung des Akademischen Senats vom 4. Dezember 1986. Universität Wien, RRM, GZ 37/7/1 – 1985/86. 21 Mit der neuen Bezeichnung scheint das Institut erstmals im Personalstandsverzeichnis der Universität Wien im Studienjahr 1992/93 auf. Universitätsdirektion 1993: Personalstand für das Studienjahr 1992/93, 379. 22 Wirth 2013: Campus Vienna Biocenter, 69.
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Vom Wiener Biozentrum zum Campus Vienna Biocenter Mit der Transformation des Wiener Biozentrums zum »Campus Vienna Biocenter«, d. h. der Entstehung und Ansiedlung neuer Akteure und Gebäude auf dem vormaligen Hornyphon-Gelände (bzw. später auch dem angrenzenden ehemaligen Viehmarkt- und Schlachthof-Areal in St. Marx) kamen weitere biowissenschaftlich ausgerichtete Abteilungen der Universität Wien hinzu. Nachdem 1999 bereits ein Lehrstuhl für Immunbiologie (Thomas Decker) im Universitätsteil des Wiener Biozentrums angesiedelt worden war,23 waren dies nach der Fertigstellung eines dritten Gebäudes am entstehenden Campus Vienna Biocenter im Jahr 2000 die strukturbiologischen Abteilungen des Instituts für Theoretische Chemie und Molekulare Strukturbiologie. Im konkreten bedeutete dies, dass einerseits zwei neu besetzte Lehrstühle für Strukturbiologie, die Kernspinresonanzspektroskopie für Biopolymere (Robert Konrat) und die Kristallographie von Biomolekülen (Kristina Djinovic-Carugo), ihre erste Unterkunft am Campus Vienna Biocenter fanden.24 Andererseits übersiedelte die bisher in der Althanstraße ansässige Spektroskopie (Gottfried Köhler und Gottfried Grabner) nach St. Marx. Die Errichtung der sogenannten »Vienna Life Sciences Laboratories« (heute: »Campus Vienna Biocenter 5«) ist eng mit der Gründung der Biotech-Firma Intercell durch ehemalige Mitarbeiter des IMP (Max Birnstiel, Walter Schmidt, Michael Buschle) und der Universität Wien (Alexander von Gabain) verbunden.25 Dass das neue Gebäude nicht nur Intercell, sondern auch die Universität beheimaten sollte, war jedoch von Anfang an geplant und machte die Etablierung der Strukturbiologie mit ihren spezifischen Raumanforderungen (vor allem was die Raumhöhe für die Aufstelllung eines Hochleistungskernresonanzspektrometers betrifft) erst möglich.26 Nach der Fertigstellung eines vierten Gebäudes im Jahr 2004 übersiedelten dann auch die Abteilung für Cytologie und Genetik bzw. das Ordinariat von Dieter Schweizer und siebeneinhalb weitere Planstellen vom Institut für Botanik (Rennweg 14) an den Campus Vienna Biocenter. Gemeinsam bildeten sie das spätere Department für Chromosomenbiologie.27 Wie die Vienna Life Sciences Laboratories sollte auch der sogenannte »Campus Vienna Biocenter 2« nicht nur 23 [http://www.mfpl.ac.at/de/ueber-uns/die-mfpl/geschichte-der-mfpl.html?a=1] (9. November 2013). 24 Der 2001 besetzte Lehrstuhl für Strukturbiologie/Kernspinresonanzspektroskopie für Biopolymere war ein neu geschaffener Lehrstuhl. Beim 2004 besetzten Lehrstuhl für Kristallographie von Biomolekülen handelte es sich um das ehemalige Ordinariat für Strahlenchemie von Nikola Getoff. 25 Vgl. zum Gebäude: ARWAG Holding AG o. J.: Biocenter. 26 Interview mit Univ.-Prof. Dr. Peter Schuster am 21. November 2013. 27 Interview mit Univ.-Prof. Dr. Dieter Schweizer am 3. Dezember 2013.
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Platz für die Universität Wien (bzw. ein anfangs diskutiertes, aber nicht verwirklichtes Pflanzenmolekularbiologiezentrum) bringen. Er sollte auch Raum für einen Fachhochschullehrgang für Biotechnologie bieten, vor allem aber als »Inkubator« für neue Biotech Start-ups dienen.28 Wesentlich ist hierfür, dass die Biowissenschaften – nach einer ersten Schwerpunktsetzung in den 1980er Jahren – um die Jahrtausendwende zu einem wichtigen Wissenschafts- und Fördergebiet erklärt wurden. Hierzu gehörte nicht nur die Gründung des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) und des (ebenfalls von Dieter Schweizer aufgebauten) Gregor Mendel-Instituts für Molekulare Pflanzenbiologie (GMI) durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Teil dieser Entwicklung war auch, dass die Gründung von Start-ups durch die Bereitstellung entsprechender Räumlichkeiten am Campus Vienna Biocenter unterstützt werden sollte – trug der Campus doch wesentlich dazu bei, dass sich Wien in jenen Jahren als »Life Sciences – Standort« erklärte.29
Die Gründung der Max F. Perutz Laboratories und des Center for Integrative Bioinformatics Vienna (CIBIV) Die Aussicht, dass durch das neue Universitätsgebäude eine bessere Zusammenarbeit unter den Universitätsinstituten möglich sein würde, bildete eine wichtige Motivation für die Übersiedlung der Universitätsinstitute in den dritten Wiener Gemeindebezirk. Um diese Kooperation zu stärken, begannen VertreterInnen des Mittelbaues (Andrea Barta, Tim Skern, Karl Kuchler, Gustav Ammerer und Ren¦e Schroeder) mit der Unterstützung einiger Professoren (Helmut Ruis, Ernst Küchler und Rudolf Schweyen) schon bald nach der Übersiedlung in die Dr. Bohr-Gasse, über eine Strukturreform nachzudenken, die verschiedene Ziele verfolgte. Neben einer verbesserten Verwaltung von Ressourcen sollten raschere, das Gesamtwohl der Institute berücksichtigende Entscheidungen ebenso ermöglicht werden, wie ein gemeinsamer Außenauftritt und eine bessere Position, um Forschungsgelder einwerben zu können. Desgleichen sollte eine Strukturreform bzw. eine neue Organisationseinheit, für die schon bald eine GmbH erwogen wurde,30 auch dazu beitragen, mit dem IMP (und den anderen am Campus Vienna Biocenter entstehenden Forschungseinrichtungen) zu kooperieren, aber – etwa im Wettbewerb um Fördergelder – auch konkurrieren zu 28 Vgl. zum Gebäude: PRISMA o. J.: Vienna Bio Center 2. 29 Die Strukturbiologie ist noch heute im Campus Vienna Biocenter 5 untergebracht, die Chromosomenbiologie übersiedelte inzwischen in das 1992 eröffnete Universitätsgebäude. 30 Wesentlich war hierfür, dass sie Durchgriffsrechte der Gesellschafter auf die Geschäftsführung ermöglicht. Interview mit Univ.-Prof. Dr. Georg Winckler am 11. Dezember 2013.
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können. Erste Besprechungen mit dem Rektorat reichen bis zur Jahrtausendwende zurück und kreisten zunächst um die Frage der Forschungsinfrastrukturfinanzierung bzw. -entwicklung. Im Jahr 2002 wurden unter Einbeziehung eines Wirtschaftsprüfers auch bereits konkrete Modelle diskutiert, die schon damals mit dem Namen von Max F. Perutz, einem aus Österreich stammenden Nobelpreisträger für Chemie, verbunden waren.31 Zur Diskussion standen damals sowohl die Etablierung einer Forschungs-GmbH, in die der Drittmittelbereich, aber auch Aufgaben der Bewirtschaftung (Gebäudeverwaltung, Instandhaltung, Wartung) eingebracht werden sollten, als auch die Errichtung einer reinen Betriebsführungs-GmbH.32 Zugleich wurde von Rektor Georg Winckler auch ein Gutachten über den Universitätsteil des Campus Vienna Biocenter bei Kim Nasmyth und Gottfried Schatz in Auftrag gegeben,33 das mit Ende Oktober 2003 vorlag und vor allem Folgendes vorschlug: die Zusammenführung der einzelnen Institute zu einer möglichst umfassenden Einheit mit einem wissenschaftlichen Direktor an der Spitze, eine Zentralisierung der technischen Ressourcen sowie eine neue Personalentwicklung, die gezielt in junge WissenschaftlerInnen investieren sollte.34 Als mit 1. Jänner 2004 das neue Universitätsgesetz (UG 2002) voll wirksam wurde, brachte dies nicht nur die Autonomie und Vollrechtsfähigkeit der Universitäten. Es brachte auch die Umwandlung der Medizinischen Fakultät in eine eigene Universität, die eine Klärung der Situation in der Dr. Bohr-Gasse notwendig machte. Maßgeblich war hierfür, dass die »universitäre Trennlinie« durch das Gebäude verlief und eine klare Zuteilung der Infrastruktur nicht immer möglich war. Eine Lösung, wer hierfür in Zukunft zuständig sein sollte, war vordringlich. Hinzu kam, dass ebenfalls entschieden werden musste, wo eine vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) ausgeschriebene Stiftungsprofessur für Bioinformatik angesiedelt werden sollte. Das »Konsortium Dr. Bohrgasse«, geleitet von Andrea Barta und Karl Kuchler, an dem neben der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien auch die Veterinärmedizinische Universität Wien (sowie weitere Institutionen des Campus als assoziierte Unterstützer) beteiligt waren, hatte sich im April 2004 31 Ferry 2007: Max Perutz. 32 Moore Stephens Austria/Dkfm. Leopold Wundsam, Konzept zur Ausgliederung der Forschungstätigkeit von Universitätsinstituten in die Max F. Perutz Laboratories GmbH vom 21. November 2002; Dkfm. Leopold Wundsam, Aktenvermerk über die Ausgliederung der Max F. Perutz Laboratories GmbH vom 17. Dezember 2002, Unterlage »Max F. Perutz Laboratories GmbH an der Dr. Bohr-Gasse«, o. J., Universität Wien, Rektorat, o. GZ. 33 Entscheidend hierfür war, dass beide die Situation am Campus gut kannten. Gottfried Schatz war bereits in die Gründung des IMP involviert. Kim Nasmyth gehörte zu dessen ersten Mitarbeitern und war später wissenschaftlicher Direktor des IMP. 34 The Future of the Vienna Biocenter. A Report by Kim Nasmyth and Gottfried Schatz. Universität Wien, Rektorat, o. GZ.
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erfolgreich um die Stiftungsprofessur (Arndt von Haeseler) und die damit verbundene Etablierung eines Center for Integrative Bioinformatics Vienna (CIBIV) beworben. Wesentlich war hierfür, dass es im Gegensatz zu anderen österreichischen Städten in Wien keinen Lehrstuhl für Bioinformatik gab. Die Stiftungsprofessur bot somit eine zusätzliche Unterstützung für die Gründung der MFPL,35 die mit der Zustimmung der Universitätsräte vom 21. Dezember 2004 (Medizinische Universität Wien) und 18. Februar 2005 (Universität Wien) am 23. März 2005 erfolgte.36 Wie im Gesellschaftsvertrag festgehalten wurde, beteiligten sich die Universität Wien mit 60 Prozent und die Medizinische Universität mit 40 Prozent an der neuen GmbH, die ausschließlich gemeinnützige Zwecke verfolgen sollte. Als Aufgaben wurden – nachdem zunächst verschiedene Modelle überlegt worden waren und nun eine möglichst umfassende Lösung mit der Medizinischen Universität umgesetzt werden sollte37 – die Forschungstätigkeit sowie der Betrieb und die Verwaltung jener der MFPL zugeordneten Gebäude und Raumressourcen einschließlich der dazugehörenden Sonderausstattung wie Labore genannt. Desgleichen sollte sie auch für den Aufbau des Forschungsbereichs Bioinformatik und die Etablierung des CIBIV (im Campus Vienna Biocenter 5) zuständig sein.38 Was den Aufbau der GmbH betrifft, wurden ebenfalls 2005 zunächst ein administrativer Leiter, ein Übergangsdirektorium und ein Scientific Advisory Board installiert. 2007 folgte die Berufung von Graham Warren zum wissenschaftlichen Direktor der MFPL, die mit der Übernahme einer Professur an beiden Universitäten sowie der Leitung des Departments für Medizinische Biochemie (Medizinische Universität Wien) und des Zentrums für Molekulare Biologie (Universität Wien) verbunden war. Auf personeller Ebene war die Berufung von Warren – ähnlich wie es im zitierten Gutachten empfohlen worden war – mit der Etablierung von zehn jungen Forschergruppen durch die Universität Wien und die Medizinische Universität verbunden.39
35 Die 2005 eingerichtete Stiftungsprofessur für Bioinformatik (Arndt und Haeseler) wurde 2010 in eine ordentliche Professur an der Universität Wien und an der Medizinischen Universität Wien übergeführt: [http://medienportal.univie.ac.at/uniview/professuren/ detailansicht/archiv/2010/october/artikel/univ-prof-dr-arndt-von-haeseler] (7. Dezember 2013). 36 Wirth 2013: Campus Vienna Biocenter, 139. 37 Interview mit Univ.-Prof. Dr. Georg Winckler am 11. Dezember 2013. 38 Handelsgericht Wien, FN 4377105p. 39 Hiervon werden sechs Positionen von der Universität Wien und vier Stellen von der Medizinischen Universität Wien finanziert.
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Das Zentrum für Molekulare Biologie Nachdem sich die der Medizinischen Fakultät angehörenden Institute in der Dr. Bohr-Gasse bereits im Jänner 2000 zu einem »Institut für Medizinische Biochemie« zusammengeschlossen hatten und diese mit 1. Jänner 2004 in das »Department für Medizinische Biochemie« übergeleitet worden waren, wurden mit 1. Jänner 2007 auch die molekularbiologisch arbeitenden Gruppen der Universität Wien am Campus Vienna Biocenter im »Zentrum für Molekulare Biologie« zusammengeführt. Die Schaffung einer eigenen Organisationseinheit war bereits im Zuge der Implementierung des UG 2002 diskutiert worden, konnte damals aber nicht verwirklicht werden. Der neue Organisationsplan der Universität Wien trat deshalb zunächst ohne eigene Organisationseinheit in der Dr. Bohr-Gasse in Kraft und führte durch die Auflösung der früheren Naturwissenschaftlichen Fakultät dazu, dass die hier versammelten Institute der Universität Wien nun auf zwei Departments aufgeteilt waren.40 So gehörten die Biochemie, Molekulare Zellbiologie, Mikrobiologie und Immunbiologie, Genetik, Pflanzenmolekularbiologie und Chromosomenbiologie nun zum »Department für Lebenswissenschaften« und die MitarbeiterInnen der Abteilung für Molekulare Strukturbiologie zur Fakultät für Chemie. Da sowohl im Zuge der Schaffung der MFPL mehrfach eine neue Organisationseinheit für die in der Dr. Bohr-Gasse versammelten Institute der Universität Wien angesprochen worden war und auch in den »Erläuternden Bemerkungen zum Organisationsplan der Universität Wien« im Falle einer Einigung mit der Medizinischen Universität eine Strukturreform in Aussicht gestellt worden war, wurden jedoch bereits im Sommer 2006 neuerlich Verhandlungen aufgenommen und diese noch im selben Jahr abgeschlossen. Das neue Zentrum für Molekulare Biologie, das mit der Etablierung eines eigenen Departments für Strukturbiologie einhergehen sollte, wurde mit der Genehmigung des Universitätsrates vom 13. Oktober 2006 mit 1. Jänner 2007 eingerichtet. Die Universität Wien verfügte damit nun über 15 Fakultäten und drei Zentren.41 Heute umfasst das Zentrum für Molekulare Biologie die Departments für Biochemie und Zellbiologie, Strukturbiologie und Computational Biology, Chromosomenbiologie und Mikrobiologie, Immunbiologie und Genetik.42 Ausgehend von der Ansiedlung von fünf Universitätsinstituten der vormaligen Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät im Jahr 1992 wurden 40 Universität Wien 2004: Organisationsplan. 41 Neue Organisationseinheit: Zentrum für Molekulare Biologie, in: [http://www.dieuniver sitaet-online.at/beitraege/news/neue-organisationseinheit-zentrum-fur-molekulare-bio logie/10/neste/210.html] (12. Mai 2011) Redaktion 23. Oktober 2006. 42 [http://molekularebiologie.univie.ac.at/research-max-f-perutz-laboratoriesmfpl/] (15. Dezember 2013).
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in den letzten Jahren somit mehrfach Strukturreformen für den Universitätsteil des heutigen Campus Vienna Biocenter vorgenommen. Diese sollen nicht nur dazu dienen, die zwischenuniversitäre Kooperation zwischen der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien zu unterstützen. Sie sollen auch die Zusammenarbeit mit den nicht-universitären Forschungseinrichtungen am Campus Vienna Biocenter erleichtern und eine bessere Partizipation an den aktuellen Förderprogrammen ermöglichen. Die MFPL als institutionell abgesicherter Joint Venture bzw. gemeinsame Gründung zweier Universitäten sind in Österreich nach wie vor einzigartig.
Literaturverzeichnis ARWAG Holding AG / Bundesimmobiliengesellschaft (Hg.): Biocenter (Wien o. J.). Ferry, Georgina: Max Perutz and the Secret of Life (London 2007). Kopper, Ernst Michael (Hg.): Universität Wien. Biozentrum Dr. Bohrgasse (Wien 1992). PRISMA / Zentrum für Innovation und Technologie (ZIT): Vienna Bio Center 2, Die Mitte der Zukunft (Wien o. J.). Schübl, Elmar : Der Universitätsbau in der Zweiten Republik. Ein Beitrag zur Entwicklung der universitären Landschaft in Österreich (Wien 2005). Universitätsdirektion der Universität Wien (Hg.): Personalstand der Universität Wien für das Studienjahr 1985/86 nach dem Stande vom 1. Jänner 1986 (Wien 1986). Universitätsdirektion der Universität Wien (Hg.): Personalstand der Universität Wien für das Studienjahr 1991/92 nach dem Stande vom 1. Jänner 1992 (Wien 1992). Universitätsdirektion der Universität Wien (Hg.): Personalstand der Universität Wien für das Studienjahr 1992/93 nach dem Stand vom 1. Jänner 1993 (Wien 1993). Universitätsdirektion der Universität Wien (Hg.): Personalstand der Universität Wien für das Studienjahr 1993/94 nach dem Stande vom 1. Jänner 1994 (Wien 1994). Universität Wien: Der Organisationsplan der Universität Wien nach UG 2002 (Wien 2004). Wirth, Maria: Der Campus Vienna Biocenter. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung für den Life Sciences-Standort Wien (Innsbruck/Wien/Bozen 2013).
II. Disziplinäre Paradigmen im Wandel
Gerhard Benetka und Thomas Slunecko*
Desorientierung und Reorientierung – Zum Werden des Faches Psychologie in Wien
Wie jede junge Wissenschaft verdankt auch die Psychologie ihre Herkunft einer Abgrenzung: Ihr diffuses Enthaltensein in den alten Wissensbeständen, aus denen sie hervorgegangen ist, steht der Entwicklung einer eigenständigen Identität entgegen. Von daher kommt ihre Grundspannung, wenn nicht gar Gegnerschaft zur Philosophie. Als Karl Bühler (1879 – 1963), der Gründer des Wiener Psychologischen Instituts, 1922 nach Wien kam, war die Verbindung zur Philosophie allerdings noch eng. Seine Hauptvorlesung – im Winter zum Thema der Allgemeinen Psychologie, im Sommer der Umschreibung seines Lehrfachs gemäß Spezialgebieten aus der Philosophie gewidmet – war in den 1920er und 1930er Jahren, wie Charlotte Bühler sich erinnerte, ein »gesellschaftliches Ereignis« (Bühler 1984, 32). Im Kleinen Festsaal der Universität drängten sich bisweilen mehr als tausend Hörer – nur wenige davon studierten damals das noch kaum etablierte Fach Psychologie. Offenbar hat Bühlers Denken über die Mauern der Universität hinweg zumindest etwas vom Leben in dieser Stadt zu affizieren vermocht. Und umgekehrt ließ sich psychologisches Forschen vom politischen und sozialen Leben berühren. Die enge Bindung zur Stadt spiegelt sich in der Verortung des 1922 gegründeten Psychologischen Instituts wider : Es lag eben außerhalb der Mauern der Universität, untergebracht direkt neben dem Parlament, im Palais des Stadtschulrats für Wien. Um Bühlers Berufung an die Wiener Universität, die an der Frage der Einrichtung eines Psychologischen Instituts zu scheitern drohte, zu ermöglichen, kam zwischen dem sozialdemokratischen Stadtschulrat und dem christlichsozialen Unterrichtsministerium ein erstaunlicher Kompromiss zustande. Die Stadt stellte der Universität ein psychologisches Laboratorium zur Benutzung zur Verfügung. Im Gegenzug erklärte sich Karl Bühler dazu bereit, am neu errichteten Pädagogischen Institut der Stadt Wien – der Zentrale der sozialde* Benetka: Department für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien; Slunecko: Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden der Universität Wien.
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mokratischen Schulreform – für angehende Grundschullehrer Kurse aus Psychologie abzuhalten. Das Psychologische Institut »gehörte« also nicht der Universität, sondern der Gemeinde Wien, die für Räumlichkeiten, Ausstattung mit Apparaten, Betriebskosten, Institutsdiener, ja selbst für das Gehalt von Karl Bühlers Frau Charlotte aufkam. Diese ungewöhnliche Konstruktion erwies sich für die Entwicklung einer an praktischen und auch politisch relevanten Problemen orientierten Psychologie als vorteilhaft: Das enge Naheverhältnis zur Stadtverwaltung machte es möglich, dass Schulen, Kindergärten und – für die Arbeit von Charlotte Bühler (1893 – 1974) von großer Bedeutung – die Städtische Kinderübernahmsstelle zu Orten der psychologischen Forschung wurden. Innerhalb nur weniger Jahre gelang es Karl und Charlotte Bühler, am Wiener Psychologischen Institut einen international renommierten Forschungs- und Ausbildungsgroßbetrieb zu etablieren. Gelder der Rockefeller-Stiftungen erlaubten die Beschäftigung eines ständigen wachsenden Stabes von Institutsassistenten, die unabhängig vom offiziellen Stellenplan in die universitäre Lehre und Forschung integriert wurden. Die Forschungsarbeit, die während der Zwischenkriegszeit am Wiener Psychologischen Institut geleistet wurde, beeindruckt nicht nur durch ihre Produktivität, sondern vor allem auch durch ihre interdisziplinäre und internationale Ausrichtung. Allen Studien gemeinsam war der Bezug auf einen Methodenpluralismus, den Karl Bühler in seinem berühmten Buch »Die Krise der Psychologie« (Bühler 1927) wissenschaftstheoretisch begründet hatte. Eine von Charlotte Bühler geleitete Forschergruppe beobachtete an der Städtischen Kinderübernahmsstelle Säuglinge und Kleinkinder, um aus deren Verhalten Kriterien für die Festlegung des »normalen« Verlaufs von Reifungsprozessen abzuleiten. Eine andere Gruppe sammelte und interpretierte Tagebücher von Schülern, um Einblicke in das Seelenleben pubertierender Jugendlicher aus »gutem Haus« zu erhalten. Der Mathematiklehrer Paul F. Lazarsfeld (1901 – 1976), der am Ende der zwanziger Jahre an das Wiener Psychologische Institut gekommen und über ein Stipendium aus den Mitteln der Rockefeller-Stiftung als Assistent beschäftigt worden war, stellte mit seinen Studenten Fragebögen zusammen, um das psychische Erleben »proletarischer Jugend« kennen zu lernen – ein psychisches Erleben, das sich eben nur in Ausnahmefällen in Form von schriftlichen Selbstdarstellungen zu äußern pflegte (Lazarsfeld 1931). Unter der Leitung des Institutsassistenten Egon Brunswik (1903 – 1955) wurde vor allem experimentelle Wahrnehmungspsychologie betrieben. Während Karl Bühler (1934) an seiner viele Entwicklungen der modernen Semiotik vorwegnehmenden Sprachtheorie und damit seinem Selbstverständnis nach auch an der theoretischen Grundlegung der Psychologie arbeitete, versuchte Charlotte Bühler viele der in Dissertationen erarbeiteten Befunde zunächst zu einer einheitlichen Theorie der psychischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter (Ch. Bühler 1928), später dann mit Hilfe von biogra-
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phischen Studien zu einer Psychologie des menschlichen Lebenslaufes, auszubauen (Ch. Bühler 1933). Karl Bühlers paradigmatische Grundlegung der Psychologie ist durchgängig durch das Bemühen um eine strenge Fundierung in der Biologie charakterisiert. Dennoch interessieren in seiner Konzeption vor allem »Bedeutungen«, d. h. die sinnhafte Verfasstheit des menschlichen Benehmens: Anders als im Behaviorismus liegt Bühlers Psychologie also eine Differenzierung zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ zugrunde. Beides bleibt darin eingeschlossen: die Beschäftigung mit den natürlichen, außerhalb des menschlichen Erlebens liegenden Bedingungen und Einflüssen ebenso wie die Hervorbringung und Formung menschlichen Handelns durch symbolische Artikulation. Daher Bühlers Interesse an der Sprache: Die von ihm entwickelte Theorie von der dreifachen Leistung der Sprache – in der Sprache drückt ein Sender seine Gedanken aus (»Ausdruck«), er appelliert an einen Empfänger (»Appell«) und stellt in seiner Mitteilung einen Sachverhalt dar (»Darstellung«) – und die damit verbundene Theorie von der dreifachen Funktion der Sprachzeichen – »Symptom« (Ausdruck), »Signal« (Appell) und »Symbol« (Darstellung) – zählen heute zum gefestigten Wissensbestand der Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Wie haben die Sozialdemokraten von der Arbeit des Wiener Psychologischen Instituts profitiert? Zunächst einmal hatte das institutionelle Nahverhältnis zur Psychologie für die »rote« Stadtverwaltung eine legitimatorische Funktion: Bildungs- und sozialpolitische Maßnahmen konnten als wissenschaftlich fundiert ausgegeben werden. Gelegentlich kam diesem Gestus mehr als bloß eine propagandistische Bedeutung zu. 1923 z. B. führte Charlotte Bühler eine Erhebung über die Lesevorlieben an 8000 Wiener Schulkindern durch. Die Daten, die dabei zusammengetragen wurden, dienten zur Entwicklung eines »Leseplans«, in dem die für jede Unterrichtsstufe am besten geeigneten – d. h. dem jeweiligen psychischen Entwicklungsstand der Kinder entsprechenden – Lektürestoffe für alle Wiener Schulen verbindlich festgelegt wurden (vgl. dazu ausführlich Benetka 1995, 187 – 188). Auch die Einbindung der Psychologie in die städtische Jugendwohlfahrt führte zu praktisch verwertbaren Ergebnissen. 1926 öffnete Stadtrat Julius Tandler diese Einrichtung für die psychologische Forschung. Unter der Leitung von Charlotte Bühler und ihrer Mitarbeiterin Hildegard Hetzer (1899 – 1991) konnten Verhaltensbeobachtungen an Säuglingen und Kleinkindern durchgeführt werden. Ziel war es, sogenannte Verhaltensinventare für die verschiedenen Lebensalter zu erstellen. Als praktisch verwertbares Resultat dieser Untersuchungen entstand ein neues Testsystem: die Wiener Kleinkindertests, mit Testreihen für die ersten Lebensmonate bis hinauf zum sechsten Lebensjahr (Bühler/Hetzer 1932). Psychologen halfen in der Folge im Rahmen der öffentlichen Kinder- und Jugendwohlfahrt durch solche Entwicklungsprüfungen mit,
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Problemkinder zu identifizieren; diese wurden aus dem System der Abgabe an Pflegeeltern ausgeschlossen und in verschiedenen Heimen der Stadt Wien untergebracht. Die bekannteste Studie aus dem Umkreis des Wiener Psychologischen Instituts der Zwischenkriegszeit ist der von Paul Lazarsfeld organisierte »soziografische Versuch« über die Arbeitslosen von Marienthal (Jahoda/Zeisl 1933), der im Rahmen der von ihm 1931 unter der Schirmherrschaft Karl Bühlers gegründeten Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle durchgeführt wurde. Die Untersuchung behandelte eine Fragestellung, die typisch war für die Anliegen des Austromarxismus: Führt die ökonomische Krise zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung? Oder bringt die mit der großen Wirtschaftsdepression einhergehende Massenarbeitslosigkeit Apathie und letztlich eine Affizierbarkeit für reaktionäre Propaganda mit sich? Finanziert wurde die Studie von der Arbeiterkammer und aus Geldern der RockefellerFoundation. Politik-relevante Studien waren damals für diese amerikanische Stiftung von grundsätzlichem Interesse, weil man sich von den Sozialwissenschaften konkrete Anleitungen zu umfassenden Wirtschafts- und Sozialreformen in der Ära des New Deal versprach. Die Marienthal-Studie gilt heute als beispielgebend für die gelungene Verschränkung von qualitativen und quantitativen Forschungsstrategien. Nichts an den zum Einsatz gebrachten Methoden war neu, sie waren in verschieden Studien zuvor am Wiener Psychologischen Institut erprobt worden. Das Ergebnis der Untersuchung ließ sich zu der Formel von der »müden Gemeinschaft« verdichten: Langandauernde Arbeitslosigkeit lässt das Kollektiv resignieren, jede Art von Interesse – gerade auch das politische – geht verloren, das Dorf wird träge, selbst das Tempo, in dem die Bewohner sich auf der Straße bewegen, ist reduziert; der soziale Zusammenhalt beginnt sich aufzulösen. Über die politische Zäsur der Jahre 1933/34 hinweg war das hohe wissenschaftliche Niveau von Forschung und Ausbildung am Wiener Psychologischen Institut nicht aufrechtzuerhalten. Mit der Zerschlagung des Roten Wien war der Fortbestand der Zusammenarbeit mit städtischen Einrichtungen unsicher geworden. Der Abgang wichtiger Mitarbeiter – Hetzer war nach Deutschland übersiedelt, Lazarsfeld aus politischen Gründen von einem von der RockefellerFoundation gewährten USA-Stipendienaufenthalt nicht mehr zurückgekehrt, Brunswik an die University of California nach Berkeley berufen worden – konnte nicht wettgemacht werden. 1935 begann sich zudem die Rockefeller-Foundation aus der Finanzierung des Instituts zurückzuziehen. Angesichts der sich verschlechternden Rahmenbedingungen und der politischen Bedrohung durch den Nationalsozialismus begannen sich Karl und Charlotte Bühler um Alternativen umzusehen. Im Jänner 1938, zwei Monate vor dem »Anschluss«, nahmen sie für
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Herbst desselben Jahres Professuren an der katholischen Fordham University in New York an. Die Pläne des Ehepaars Bühler wurden jäh durchkreuzt. Wenige Tage nach dem Anschluss, am 23. März 1938, wurde das Institut nach einer Hausdurchsuchung von der Gestapo geschlossen und Karl Bühler in »Schutzhaft« genommen. Seine Frau befand sich damals gerade auf einer Vortragsreise in Norwegen. Von Oslo aus gelang es ihr, nach sechs Wochen die Freilassung ihres Mannes zu bewirken. Über Norwegen emigrierten Karl und Charlotte Bühler in die Vereinigten Staaten. Nach der Entlassung Karl Bühlers wurde zunächst mit dem Grazer Pädagogen und Jugendkundler Otto Tumlirz (1890 – 1957) ein Nationalsozialist zur Supplierung der Lehrkanzel nach Wien geholt. Der Ruf erging aber dann mit 1. April 1939 an den Königsberger Volkskundeprofessor Gunther Ipsen. Somit war der Lehrstuhl für die Psychologie verloren gegangen. Allerdings hat Ipsen – er war vom Frühsommer 1939 an als Offizier zur Wehrmacht eingerückt – in Wien nie unterrichtet. Nach Kriegsbeginn lotste er von der Front aus seinen früheren Königsberger Kollegen Arnold Gehlen nach Wien. Dem an einer biologisch fundierten philosophischen Anthropologie arbeitenden Gehlen wurde schließlich in Vertretung Ipsens die kommissarische Leitung des Wiener Psychologischen Instituts übertragen. Ein Psychologe war allerdings auch Gehlen nicht. Der Unterricht in Psychologie wurde in diesen Jahren von dem Institutsassistenten Norbert Thumb (1903 – 1993) aufrechterhalten. Thumb, der noch bei Karl Bühler dissertiert hatte, war im Frühjahr 1938 zum Nachfolger Egon Brunswiks bestellt worden. 1941 konnte er sich für Psychologie habilitieren. Als Thumb immer wieder für geraume Zeit als Wehrmachtspsychologe eingezogen war, wurde zu seiner Vertretung die ehemalige Brunswik-Schülerin und Hauptschullehrerin Sylvia Klimpfinger (1907 – 1980) bestellt. Nach ihrer Habilitation 1943 erhielt sie am Wiener Psychologischen Institut eine Assistentenstelle. Für die deutschsprachige Psychologie war die Ära des Nationalsozialismus in institutioneller Hinsicht eine Zeit des Wachstums. In der Offiziers- und Spezialistenauslese im Rahmen der Wehrmacht hatte das noch junge Feld ein erstes, rasch expandierendes Berufsfeld gefunden. 1942, so schätzt man, waren nicht weniger als 450 Stellen für Psychologen bei Heer, Luftwaffe und Marine eingerichtet. Um die von ihr beschäftigten Psychologen ordnungsgemäß zu verbeamten, drängte die Wehrmacht auf die Einführung eines den allgemeinen rechtlichen Anforderungen für den Eintritt in die Laufbahn des höheren Dienstes entsprechenden staatlichen Examens. Die Psychologen wussten die Gunst der Stunde zu nutzen: Eine Kommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie arbeitete einen Entwurf zu einer Diplomprüfungsordnung aus, der das künftige Fachstudium ganz auf die Bedürfnisse der Diagnostik in der
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Wehrmacht abstellte (vgl. Geuter 1984). Der Erlass der Diplomprüfungsordnung – sie trat mit April 1941 in Kraft – führte dazu, dass an einigen Universitäten des Reichs neue Psychologie-Professuren geschaffen bzw. vakante Ordinariate wiederbesetzt wurden; so auch an der Universität Wien. Im Mai 1942 wurde in der Philosophischen Fakultät die Einrichtung eines Extraordinariats für Psychologie beschlossen und im Sommer desselben Jahren Hubert Rohracher (1903 – 1972) – an zweiter Stelle gereiht – in den Berufungsvorschlag aufgenommen. Die Nominierung Rohrachers, der sich 1932 an der Universität Innsbruck für Psychologie habilitiert und dort am Institut für experimentelle Psychologie eine Assistentenstelle innegehabt hatte, ist bemerkenswert: Er war nach März 1938 aus politischen Gründen aus dem Universitätsdienst entlassen und zur Wehrmachtspsychologie eingezogen worden. Aufgrund mehrerer Briefe an seinen Vater, in denen er seine Überzeugung und Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass Deutschland den Krieg verlieren werde, forderte im Spätherbst 1940 die Gestapo, die seine Korrespondenz überwacht hatte, seine Entlassung aus der Wehrmacht und die Überstellung in ein Konzentrationslager. Rohracher entzog sich dem Zugriff, indem er sich »freiwillig« zu einer Ausbildungstruppe für den Frontdienst meldete. Nach einem Monat wurde er zu einem Reserve-Bataillon versetzt. Die Erhebungen gegen ihn wurden damals offenbar eingestellt. Erfolgreich konnte er in den Folgemonaten die Aufhebung seiner Suspendierung vom Universitätsdienst und die Wiedererteilung seiner Lehrbefugnis an der Universität Innsbruck betreiben (Rohracher 1972). Dass Rohracher trotz seiner amtsbekannten Ablehnung des Nationalsozialismus im April 1943 dann tatsächlich nach Wien berufen wurde, lag daran, dass sich Kreise der Wehrmacht von seinen EEG-Untersuchungen, die er noch in seiner Innsbrucker Zeit begonnen hatte, kriegstechnisch verwertbare Ergebnisse versprachen. Zur Fortführung seiner Forschungen erhielt er vom Berliner Reichsministerium jährlich 10.000 Reichsmark zugewiesen – eine Forschungssubvention, die für die Verhältnisse der damaligen Psychologie außergewöhnlich hoch war. Dem Nimbus der potentiellen Kriegswichtigkeit lagen Rohrachers Publikationen über die Ableitung von Gehirnströmen zugrunde. Er hoffte, spezifische elektrische Potentiale für verschiedene Erlebnisinhalte zu finden und ging dabei von einem strikten psychophysischen Parallelismus aus, demzufolge jeder psychische Vorgang an eine bestimmte Erregungskonstellation im Gehirn gebunden ist. 1939 erschien sein Buch »Die Vorgänge im Gehirn und das geistige Leben« (Rohracher 1939), das seine eigenen Forschungen und programmatisch seine Auffassungen zu einer streng naturwissenschaftlich-experimentell orientierten Psychologie zusammenfasste. Mit der neuen Professur war auch die Übernahme der Leitung des Psycho-
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logischen Instituts verbunden. Seine wissenschaftlichen Mitarbeiter konnte sich Rohracher allerdings nicht selbst aussuchen. Sowohl Nobert Thumb als auch Silvia Klimpfinger musste er als Assistenten übernehmen. Beide waren nicht mit Grundlagenforschung, sondern mit der Bearbeitung unmittelbar praxisrelevanter Fragen beschäftigt: Sie hielten Schulungskurse in den verschiedenen Ausund Weiterbildungseinrichtungen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) ab und führten psychologische Begutachtungen so genannter ›schwieriger‹ Erziehungsberatungsfälle in den Räumen des Instituts durch. Klimpfinger war zudem mit der Anpassung der Wiener Kleinkindertests an die Selektionsaufgaben der NSV – es ging um die Auswahl ›aufwandswürdiger‹ Kinder und Jugendlicher – beschäftigt. Die Testmaterialien wurden am Institut hergestellt und Verzeichnisse der lieferbaren Bestände an InteressentInnen verschickt. Hauptabnehmer waren die reichsweit aufgebauten Erziehungsberatungsstellen der NSV. Thumb ging neben seiner Tätigkeit für die NSV auch arbeitswissenschaftlichen Interessen nach. Im Zuge des Auf- und Ausbaus großer Produktionsstätten für die Rüstungsindustrie im Süden von Wien bot er seine Dienste im Namen des Instituts für die Lösung praktischer Probleme des Zwangsarbeitereinsatzes an. Ab 1943 zählten u. a. die Flugzeugwerke Heinkel, die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, die Flugmotorenwerke Ostmark und die Semperit-Gummiwerke zu den Kunden des Instituts. Auf der Grundlage von Arbeitsplatzanalysen wurden rasch durchführbare psychotechnische Methoden zur Grobauslese entwickelt und leitende Firmenmitarbeiter in die Handhabung der Testverfahren eingeschult. Neben studentischen Hilfskräften war nahezu die gesamte Institutsbelegschaft – von der Bibliothekarin über die Schreibkraft bis zum Institutsmechaniker – in die Kooperation mit den Rüstungsbetrieben eingebunden. Die derart demonstrierte »Kriegstauglichkeit« der Psychologen wusste Rohracher zu nutzen, um auch nach Ausrufung des »totalen Kriegs« das Institut vor einer vorzeitigen Schließung zu bewahren. Wie in vielen anderen Disziplinen, so ist auch in der Psychologie nach 1945 eine Rückholung emigrierter Fachvertreter unterblieben. An Rohracher war das nicht gelegen: Im Frühjahr 1946 kontaktierte er Karl Bühler, um ihm eine Rückkehr an die Wiener Lehrkanzel anzubieten. Bühler zeigte sich durchaus interessiert. Er fragte an, ob er sich im Rahmen einer Gastprofessur selbst ein Bild von den Zuständen im Wien der Nachkriegszeit machen könnte, ob ihm die Übersiedelungskosten rückerstattet würden und ob ein Anspruch auf Nachzahlung des für die Jahre 1938 bis 1945 ausständigen Gehalts bestünde. In allen drei Punkten erhielt er von Seiten der österreichischen Unterrichtsverwaltung eine abschlägige Antwort (vgl. Fleck 1987). Aufgrund seiner politischen Integrität – und wohl auch aufgrund des Umstands, dass er auch promovierter Jurist war – wurde Rohracher nach 1945 zu einer Schlüsselfigur bei den an der Wiener Universität durchgeführten Maß-
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nahmen zur Entnazifizierung des Lehrkörpers (vgl. Benetka 1998). Dies galt auch für das eigene Haus: Dem ehemaligen Parteimitglied Norbert Thumb legte er die Quittierung des Dienstes nahe; auch dass Sylvia Klimpfinger – wie Thumb Mitglied der NSDAP – nach Kriegsende am Pädagogischen Seminar und nicht am Psychologischen Institut eine Weiterverwendung fand, war ihm alles andere als unrecht. Die freigewordenen Stellen besetzte er mit Lambert Bolterauer (1903 – 2000) und Walter Toman (1920 – 2003). Beide blieben aber dem Institut nicht lange erhalten, Bolterauer bis 1949, Toman bis 1953. Grund für ihre Entlassung war ihr öffentliches Eintreten für die Psychoanalyse. Zu Bühlers Zeiten hatte es für die Freudsche Lehre zwar wenig Sympathie, aber doch eine inhaltliche Auseinandersetzung gegeben. Bei Rohracher gab es nur mehr Abwehr: »Die außerordentlich große Wirkung Freuds in Laienkreisen […] darf nicht so sehr als wissenschaftlicher Erfolg gewertet werden, sondern […] mehr als psychologisch interessante Kulturerscheinung« (Rohracher 1965, 421). Während für Bühler Freud noch Teil der wissenschaftlichen Psychologie war, wurde er bei Rohrarcher – angesichts des Umgangs mit seinen Assistenten im buchstäblichen Sinn – aus der Wissenschaft ausgemeindet. Lambert Bolterauer, der in den fünfziger Jahren eine psychoanalytische Beratungsstelle für Mittelschüler in Wien gründete, wurde 1949 durch Erich Mittenecker (geb. 1922) ersetzt. Gemeinsam mit Toman forcierte Mittenecker die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Psychologie. Den beiden war es auch zu verdanken, dass ab dem Studienjahr 1949/50 am Psychologischen Institut für Studierende der höheren Semester drei neue Lehrveranstaltungen angeboten wurden: Übungen im Gebrauch von Persönlichkeitstests, Übungen in der Anwendung statistischer Auswertungsverfahren sowie ein Seminar für Fachliteratur, das vor allem der Aufarbeitung des Forschungsstandes der USamerikanischen Psychologie diente. Gefördert wurde die Rezeption amerikanischer Psychologie durch das Re-Orientation-Programm der US-Besatzungsbehörden. Die wichtigsten amerikanischen Fachzeitschriften waren unmittelbar nach Kriegsende von der American Psychological Association dem Wiener Institut zunächst umsonst, dann zu günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt worden. Ging es im Seminar für Fachliteratur um die Auseinandersetzung mit Theorien und Forschungstrends, so hatten die Übungen im Gebrauch von Persönlichkeitstests vor allem eine praktische Bedeutung. Die darin vorgestellten, in den USA zur Verhaltens- und Leistungsanalyse entwickelten ›objektiven‹ Papier-und-Bleistift-Verfahren stellten eine völlige Abkehr von der bis dahin im deutschen Sprachraum – auch in den Ausleseverfahren der Wehrmachtspsychologen – vorherrschenden ›ganzheitlichen‹ Charakter- bzw. Persönlichkeitsbeurteilung dar, bei der die Intuition des Psychologen im psychodiagnostischen Prozess eine entscheidende Rolle spielt. Toman und Mittenecker
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leisteten auf diesem Gebiet selbst Pionierarbeit: Ihr in Anlehnung an das Minnesota Multiphasic Personality Inventory für das Wiener Arbeitsamt entworfener Persönlichkeits-Interessen-Test (Mittenecker/Toman 1951) stellte einen ersten selbständigen Beitrag zur praktischen Anwendung quantitativer Testdiagnostik im deutschen Sprachraum dar. Die Beschäftigung mit solchen ›objektiven‹ Testverfahren setzt Grundkenntnisse in Statistik voraus. Die von Mittenecker angekündigte Übung zur Anwendung statistischer Auswertungsverfahren sollte die Studierenden mit der für Psychologen damals noch recht unüblichen Materie vertraut machen. Das Lehrbuch, das Mittenecker eigens für diese Lehrveranstaltung schrieb (Mittecker 1952), war der erste derartige Lehrbehelf in deutscher Sprache. Es fand später im Zuge der den übrigen deutschen Sprachraum erfassenden Neuorientierung der Psychologie an den in den USA entwickelten Forschungsstandards entsprechende Verbreitung. Rohracher hat diese Wende nicht mitvollzogen. Zeit seines Lebens setzte er sich – wie fast alle deutschen Psychologen seiner Generation – für eine Stärkung der europäischen gegenüber der US-amerikanischen Tradition ein. Anders als seine Assistenten interessierte ihn die zeitgenössische amerikanische Psychologie wenig. Trotz aller Kritik an Ganzheits-, Gestalt- und geisteswissenschaftlicher Psychologie stand für ihn die positive Bezugnahme auf eine genuin deutsche Tradition außer Frage. Erstens hielt er – nicht zuletzt auf Grund der eigenen Erfahrungen in der Wehrmacht – an den ausdrucksdiagnostischen und charakterologischen Verfahren fest, für die eine persönlichen Beziehung zwischen dem ›Prüfling‹ und dem Psychologen unumgänglich ist, weil sich dabei »oft Eindrücke von Persönlichkeitsmerkmalen und Entwicklungsmöglichkeiten [ergeben], die mit Tests nicht erfassbar sind« (Rohracher 1972, 274). Zweitens fasste er das »bewusste Erleben« als den eigentlichen Gegenstand der Psychologie auf, woraus sich im Gleichklang mit seinen deutschsprachigen Weg- und Altersgefährten sowohl die Ablehnung der Psychoanalyse wie auch des USamerikanischen Behaviorismus ergibt. Drittens fußte seine experimentelle Arbeit ganz in der europäischen Tradition, die an Einzelfällen und nicht an Gruppendaten (d. h. an letztlich auf statistische Auswertungsverfahren ausgerichteten Untersuchungsdesigns) orientiert war. Es ist zum einen wohl den schon damals als zu hoch beklagten Studierendenzahlen geschuldet, dass Rohracher seine Mitarbeiter ihren eigenen Interessen nachgehen ließ, solange sie den Studierenden eine naturwissenschaftliche Grundeinstellung vermittelten. Die aus den Sozialwissenschaften und der Logistik entnommene Statistik war mit dieser Einstellung kompatibel – auch wenn sie ihn persönlich nicht sonderlich interessierte. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang auch die Studienarchitektur zu nennen: Im Gegensatz zu Deutschland, wo die im Nationalsozialismus geltende und an praktischen Fra-
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gestellungen orientierte Diplomprüfungsordnung 1947 bzw. 1948 in den Westzonen wieder in Kraft gesetzt worden war, wurde in Österreich die alte, d. h. vor 1941 gültige Rigorosenordnung wieder eingeführt, die aufgrund ihrer streng wissenschaftlichen und eben nicht berufspraktischen Ausrichtung Lehrenden und Studierenden große Spielräume bot, um sich mit Neuem zu befassen – dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es keinen fixen Studienplan gab. Aus diesen Rahmenbedingungen in Bezug auf Studienplan und Studierendenzahlen ergibt sich im Verein mit Rohrachers gewährendem Führungsstil das Besondere der Nachkriegsentwicklung am Wiener Psychologischen Institut: dass hier relativ bald nach Kriegsende und gut ein Jahrzehnt früher als im übrigen deutschen Sprachraum mit einer systematischen Rezeption der US-amerikanischen Psychologie begonnen wurde – und das, obwohl der Leiter dieses Instituts, Hubert Rohracher, der amerikanischen Psychologie mit großer Skepsis gegenüberstand: »Den sehr starken Einfluss der amerikanischen Psychologie«, so schrieb er etwa am 28. Juni 1951 an seinen früheren Förderer, Agostino Gemelli, nach Mailand, »halte ich für ein Unheil«. Die Vorreiterrolle der Wiener Psychologie in Sachen »Amerikanisierung« der deutschsprachigen Psychologie zeigt sich im Nachhinein an der erstaunlich großen Zahl von Absolventen des Wiener Instituts, die im Zuge der raschen Expansion des deutschen Universitätssystems akademische Karrieren machen konnten. Entscheidend dafür war ihre Positionierung im sogenannten »Methodenstreit« (vgl. M¦treaux 1985). Als zu Beginn der 1960er Jahre die junge Nachkriegsgeneration sich gegen ihre Lehrer von den traditionellen deutschen Diagnostik-Modellen ab- und der objektiven Psychometrie im Sinne der amerikanischen Psychologie zuzuwenden begann, war ein Studium bei Hubert Rohracher in Wien offenbar eine gute Visitenkarte. Denn die Wiener Psychologen waren von beiden Seiten als Kompromiss-Kandidaten zu akzeptieren. Für die ältere Generation bürgte der Name Rohracher für die Fortführung deutschsprachiger Traditionen. Die fachliche Ausrichtung der Wiener Absolventen vermochte aber auch die ganz von der US-amerikanischen Psychologie eingenommene junge Generation deutscher Psychologen zu überzeugen. Der Erfolg der »Wiener Schule« war nicht zu übersehen: In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sollen an mehr als einem Drittel der bundesdeutschen Institute Psychologen mit einem Studienabschluss in Wien in Professoren- oder vergleichbaren Stellen gewesen sein (Pawlik 1985, 108). Aber hat es so etwas wie eine ›Wiener Schule‹ tatsächlich gegeben? Für die Vorkriegszeit ist die Antwort völlig unproblematisch: Karl und Charlotte Bühler haben der Forschung und der Lehre an ihrem Institut ein klar ausformuliertes theoretisches Programm vorgegeben. Für die Nachkriegszeit ist nach den bisherigen Ausführungen Skepsis angebracht. Rohracher erscheint als ein Lehrer ohne Schüler : Seine Mitarbeiter standen eben nicht für jene Tradition ein, die er
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fortzusetzen versuchte. Mag sein, dass von Rohrachers Festlegung der Psychologie auf Experiment und Naturwissenschaft eine irgendwie einheitsstiftende Wirkung ausgegangen ist – für die Begründung einer wissenschaftliche Schule war das zu wenig. Es fehlte, was eine wissenschaftliche Schule eigentlich ausmacht: die Integration der Mitglieder über ›kognitive Leistungen‹ des Schulenoberhaupts, die als grundlegende Innovationen wahrgenommen werden. Bis auf den heutigen Tag hält sich dieses merkwürdige ›Irgendwie‹. Wenn man in Wien und anderswo die Psychologie als Naturwissenschaft bestimmt, meint man zumeist mehr und anderes als Rohracher : nicht nur den von Rohracher tatsächlich vertretenen materialistischen Reduktionismus – also die Vorstellung, dass sich Psychisches auf Hirnvorgänge reduzieren lässt (eine Vorstellung, die heute in einem modernisierten neurowissenschaftlichen Gewand auftritt) –, sondern auch alles, was irgendwie mit Experiment und Statistik zu tun hat. Bühler hingegen – ein in der Geschichte seines Faches geschulter Philosoph, für den jeder Rückgriff auf vulgärmaterialistische Positionen logisch unhaltbar war – hatte die eigentliche Bedeutung einer naturwissenschaftlichen Orientierung für die Psychologie noch klar erfasst: Von einem streng (evolutions-)biologischen Standpunkt ausgehend, mündet die psychologische Forschung notwendig ein in die Erkenntnis, dass menschliche Lebensverhältnisse sinnstrukturiert sind; denn diese Sinnstrukturiertheit ist konstitutiv für das menschliche Handeln und Erleben. Eine im evolutionsbiologischen Sinn naturwissenschaftliche Psychologie muss daher – auf das Gros menschlicher Lebensäußerungen bezogen – kulturwissenschaftlich orientiert sein (Slunecko/Benetka, in Vorbereitung).
Epilog Wo es dem Lehrer an innovativem Geist und/oder Willen zur Durchsetzung fehlt, muss der Weltgeist rettend einspringen. Wie bei Hegel eine napoleonische, so trug er im Fall der Wiener Psychologie eine amerikanische Uniform: Ein wichtiger Aspekt ist in der bisherigen Darstellung noch völlig ausgespart geblieben: der Umstand, dass diese frühe Rezeption der amerikanischen Psychologie in Wien auch der Propagandaoffensive der US-amerikanischen Militärbehörden geschuldet war. Zumindest die Amerikaner waren sich dessen wohl bewusst. In einer – nicht datierten, jedenfalls aber aus 1948 oder 1949 stammenden – Presse-Aussendung des Public Information Office des Hauptquartiers der United States Forces in Austria stand Folgendes zu lesen: »Twenty-eight years old Doctor Walter Toman of Vienna, graduate of the University of Vienna, won a one-year scholarship (1947 – 48) to study modern American psycho-
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logical testing and child-counselling techniques. He was the first USFA-sponsored student to complete the round trip to the States. Today, in his capacity as Instructor of Psychology at the University of Vienna, a position attained since his return from the States, Dr. Toman has virtually revolutionized psychology study in Vienna as well as the working methods and aspects of psychological testing and child guidance. […] Not content to apply the US brand of psychological testing (which includes vocational aptitude and personality development tests), Toman has adapted them for particular applicability to the Austrian situation. These »Austrian-type« tests are administered to Austrian elementary and secondary school children by youth counselling specialists. […] Dr. Toman is the end product of the Education Division, USACA’s, long-range plan to bring about the […] modernisation and »rehabilitation« of Austria’s school system, long-suffering from its […] retirement from the progressive elements of the outside world during the war years.«1
Nun ist dieser Text natürlich selbst nichts anderes als Propaganda. Er zeigt aber, dass in den Überlegungen zur US-amerikanischen Re-Orientation-Politik in Österreich das Fach Psychologie – offenbar in Bezug auf die angestrebte Demokratisierung des Grundschulunterrichts – eine Rolle gespielt hat; zweitens spiegelt sich darin eine maßgebliche Taktik der Propaganda-Offensive der USBehörden wider : Über die individuelle Förderung des intellektuellen Nachwuchses – z. B. durch USA-Reisestipendien und Austauschprogramme – wollte man künftige österreichische »Opinion Leaders« für Politik, Wirtschaft und Kultur der Vereinigten Staaten einnehmen und so den allenthalben mit Besorgnis beobachteten restaurativen Tendenzen im österreichischen Kultur- und Geistesleben entgegenwirken (Wagleitner 1991, 194 – 195). Am Ende ergibt sich eine interessante wissenschaftsgeschichtliche Hypothese: dass in der Nachkriegszeit die Öffnung einer universitären Disziplin hin zu einer Rezeption des außerhalb der Einflusssphäre der Nationalsozialisten entwickelten Forschungsstands u. a. auch davon abhing, wie kohärent sich eine lokale Forschungscommunity als wissenschaftliche Schule zu konstituieren vermochte. Umso enger der Schulzusammenhang, desto schwerer tut sich der Zeitgeist in seinem Walten. So aber reichten ein paar Bücherkisten und Stipendien aus, um das Fach in Wien – und von da aus nach ganz Deutschland ausstrahlend – auf den amerikanischen Weg zu ›reorientieren‹.
1 Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien; Headquarters United States Forces in Austria, Public Information Office, APO 777. USACA steht für »United States Element of the Control Council for Austria«, für den zivilen Zweig der United States Forces of Austria.
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Rohracher, Hubert: Einführung in die Psychologie (Wien 1965). Rohracher, Hubert: Selbstdarstellung, in: Ludwig Pongratz et al. (Hg.), Psychologie in Selbstdarstellungen (Bern 1972) 256 – 287. Slunecko, Thomas / Benetka, Gerhard: Zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Karl Bühlers Grundlegung der Psychologie (= Schriftenreihe Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Wien, in Vorbereitung). Wagleitner, Reinhold: Coca-Kolonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg (Wien 1991).
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Botanik und Biodiversitätsforschung am Standort Rennweg der Universität
Im Jahr 1754 erfolgte die Gründung einer »Lehrkanzel für Botanik und Chemie« an der alten Universität in der Innenstadt und im selben Jahr auch des »Botanischen Gartens« der Universität am Rennweg. Dieser »Botanische Garten« ist damit die älteste, durchgehend bestehende Einrichtung der heutigen »Fakultät für Lebenswissenschaften«. Bis Ende 2004 war die traditionelle Bezeichnung für beide Bereiche »Institut für Botanik und Botanischer Garten«, dann »Fakultätszentrum für Biodiversität«. 2011 wurde der Botanische Garten eine eigenständige »Core Facility« der Fakultät für Lebenswissenschaften. Das traditionelle »Institut für Botanik« heißt seit 2014 »Department für Botanik und Biodiversitätsforschung« und umfasst derzeit vier »Divisionen«: 1) Botanische Systematik und Evolutionsforschung, 2) Strukturelle und Funktionelle Botanik, 3) Naturschutzbiologie, Vegetations- und Landschaftsökologie sowie 4) Tropenökologie und Biodiversität der Tiere. Die Bereiche 3) und 4) wurden erst 2008 vom Biologiezentrum Althanstraße an den Rennweg transferiert; dagegen entsprechen die beiden anderen dem Arbeitsbereich des ursprünglichen »Instituts für Botanik«. Nur ihre disziplinäre Ausdifferenzierung und wissenschaftliche Entwicklung wird im ersten Kapitel dieses Beitrags behandelt, wobei die Amtszeiten der jeweiligen Institutsvorstände den Rahmen bilden.1 Dem »Botanischen Garten« der Universität Wien ist das zweite Kapitel gewidmet.
* Department für Botanik und Biodiversitätsforschung und Botanischer Garten der Universität Wien. 1 Grundlagen für die folgende Darstellung sind vor allem der von W. Morawetz herausgegebene Band »Die Botanik am Rennweg« (Abh. Zool.-Bot. Ges. Österreich 26, 1992) sowie die im Dekanat für Lebenswissenschaften und im ehemaligen Institut für Botanik aufliegenden Jahresberichte und Publikationslisten für die Jahre 1992 bis 2013.
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Tradition und Fortschritt – ein Forschungsprofil des Instituts für Botanik von 1849 bis heute Im Zusammenhang mit den Reformen der Universität Wien seit 1849 wurde der Fachbereich Botanik von der medizinischen zur philosophischen Fakultät überstellt und mit zwei Professuren ausgestattet: Während Franz Unger an der alten Universität in der Innenstadt als Professor für die damals aktuell gewordene »Physiologische Botanik« wirkte, übernahm Eduard Fenzl am Rennweg das »Botanische Hof-Cabinet« samt dem Botanischen Garten als »Professor für Botanik« (1849 – 1878). Hier war er mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie schon seine Vorgänger: Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also im Gefolge der bahnbrechenden Arbeiten Linn¦s, hatte die Aufsammlung neuer, bisher unbekannter Arten von Pflanzen und Pilzen besonders außerhalb Europas rasant zugenommen. Die rasche Analyse riesiger Mengen neuer Herbarbelege war eine wissenschaftliche Herausforderung. Mit einfachsten optischen Mitteln wurden unzählige neue Arten anhand auffälliger morphologischer Differentialmerkmale beschrieben und zu vielfach neuen Gattungen und Familien gruppiert. Dieser Aufgabe einer fortschreitenden Erfassung und Ordnung pflanzlicher Biodiversität widmeten sich Fenzl und seine Mitarbeiter mit großer Hingabe. Dagegen machte Unger als Pflanzenphysiologe mit einfachen Lichtmikroskopen bereits wichtige Entdeckungen über Bau und Fortpflanzung von Gefäßpflanzen, Moosen, Algen und Pilzen und vermutete aufgrund seiner Studien an Pflanzenfossilien (1852) noch vor Darwin: »eine Pflanzenart muss aus der anderen hervorgehen«. Anton Kerner von Marilaun (1878 – 1898) wurde als Nachfolger von Fenzl von der Universität Innsbruck nach Wien berufen, wo er prägende Bedeutung für die Entwicklung der Botanik an der Wiener Universität erlangte und mit seinen bahnbrechenden Arbeiten bis heute weltweit nachwirkt. Seine kritischen Analysen zahlreicher polymorpher Formenkreise von Blütenpflanzen berücksichtigen neben Unterschieden der Einzelsippen hinsichtlich Morphologie und Anatomie auch solche der Standortwahl und geographischen Verbreitung (Arealkarten!). Erstmals bewies er, dass nah verwandte, noch kreuzbare Sippen in ökologischer bzw. geographischer Hinsicht meist isoliert auftreten und vikariieren, also »allopatrisch« sind. Dagegen können bereits durch Kreuzungsbarrieren voneinander getrennte Sippen auch gemeinsam, also »sympatrisch« leben. Dass es dabei trotzdem auch zur Bastardierung, zur Entstehung von sterilen Hybriden und sogar zur hybridogenen Artbildung kommen kann, hatte Kerner bereits 1871 erkannt (»Können aus Bastarden Arten werden?«). Erst viel später wurde nachgewiesen, dass eine solche hybridogene Artbildung aufgrund von Verdopplung der Hybridgenome (Allopolyploidie) und teilweise auch ungeschlechtlicher Fortpflanzung (Apomixis) weit verbreitet ist. Im Experimen-
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talgarten kultivierte Kerner nebeneinander unterschiedlich angepasste Individuen der gleichen Art aus Tieflagen und von Gebirgsstandorten. Dabei stellte er fest, dass solche Anpassungsmerkmale in der Kultur entweder verschwinden, oft aber auch erblich fixiert sind und an die Nachkommenschaft weitergegeben werden. Erstmals angesprochen werden damit Themen wie »Phänotyp versus Genotyp« oder genetisch verschiedene »Ökotypen« innerhalb von Arten. Mit seinen Beobachtungen über die Blütenbestäubung und Samenausbreitung ebnete Kerner den Weg zu einer funktionellen Analyse morphologischer Merkmale, mit seinem Standardwerk »Das Pflanzenleben der Donauländer« wurde er zu einem der Begründer der Vegetationskunde. Aufgrund neuer Sammlungsbestände und zunehmender Studentenzahlen war das alte »Botanische Museum« am Rennweg inzwischen längst zu eng geworden. Der Bau eines neuen Institutsgebäudes war daher das dringendste Anliegen des nachfolgenden Professors für Botanik, Richard von Wettstein (1899 – 1931). Dieser Neubau entstand 1903/04 am Rennweg, der damals hinsichtlich Einrichtung und technischer Ausstattung richtungsweisend war, aber wegen der Vorlesungen im neuen Universitätsgebäude an der Ringstraße keinen Hörsaal hatte. Das neue botanische Institutsgebäude konnte bereits 1905 eröffnet werden – rechtzeitig vor Beginn des 2. Internationalen Botanischen Kongresses in Wien, den Wettstein organisierte. Wettsteins Forschungsbereich war sehr breit und reichte von Paläobotanik und Mykologie bis zu der bereits von Kerner begründeten geographisch-morphologischen Analyse formenreicher Gattungen der Blütenpflanzen als Muster für das Evolutionsgeschehen. Im einflussreichen »Handbuch der Systematischen Botanik« (1901 – 1908, weitere Auflagen 1911, 1923/24 und 1935) versuchte Wettstein erstmals eine phylogenetische Gesamtdarstellung des Pflanzenreiches. Seine Interpretation der Entwicklungslinie von den Grünalgen über Moose, iso- und heterospore Farnpflanzen hin zu den nacktsamigen (Gymnospermen) und zuletzt zu den seit der späteren Kreidezeit weltweit dominierenden bedecktsamigen Blütenpflanzen (Angiospermen) wird durch heutige DNA-analytische Befunde glänzend bestätigt. Diese Evolutionsabfolge war gekennzeichnet durch eine fortschreitende morphologische, anatomische und physiologische Emanzipation vom wässrigen Milieu und hat damit die Eroberung der terrestrischen Lebensräume unseres Planeten durch alle anderen Lebewesen ermöglicht. Darüber hinaus hat Wettstein, zusammen mit zahlreichen Schülern, Mitarbeitern und Fachkollegen, wesentlich zur Verbreiterung der methodischen Analyse und zur weltweiten Erforschung der Formenfülle unserer Biosphäre beigetragen. Fritz Knoll (1933 – 1945)2 trat die Nachfolge Wettsteins am Institut für Bo2 Zu Fritz Knoll, der in der Zeit von 1938 – 1943 auch Rektor der Universität Wien war, vgl. Taschwer 2013.
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tanik an. Otto Porsch und er erweiterten die schon von Kerner begonnene blütenökologische Forschungstradition. Porsch erkannte die entscheidende Rolle der Vogelbestäubung in den Tropen, während Knoll den Typ der »Gleitfallenblumen« entdeckte und durch Freiland- bzw. Laborexperimente Wesentliches zum Farb- und Geruchssinn der Blütenbesucher beitragen konnte. Zusammen mit Karl von Frisch wurde er damit zum Begründer der experimentellen Blütenökologie. Lothar Geitler (1946 – 1969) übernahm nach den durch Nationalsozialismus und Krieg bedingten Problemjahren die Rolle des Institutsvorstands und Gartendirektors. Seine bahnbrechenden Forschungsarbeiten am Rennweg gehen bis auf die 1920er Jahre zurück. Er schuf die Grundlagen für unsere Kenntnisse von Bau und Diversität der erdgeschichtlich ältesten und noch heute weltweit verbreiteten Organismengruppe mit Photosynthese: die prokaryotischen Blaualgen, heute besser bekannt als Cyanobakterien. Dass sie als Endosymbionten gelegentlich auch in eukaryotischen Einzellern (Glaucocystis und Gloeochaete) vorkommen, hat Geitler als wesentlich für die heute allgemein akzeptierte These von der Entstehung der Chloroplasten bei allen eukaryotischen pflanzlichen Organismen erkannt. Darüber hinaus entstanden in Zusammenarbeit mit seiner kongenialen Fachkollegin Elisabeth Tschermak-Woess viele weitere wesentliche Beiträge, so z. B. zur Symbiose von Pilzen und Algen in der weltweit höchst erfolgreichen Gruppe der Flechten sowie im Bereich der Chromosomenforschung und Karyologie. Bedeutsam war dabei seine Erkenntnis, dass die Verdopplung der DNA nicht nur als Voraussetzung für die Teilung der Chromosomen und des Zellkerns im Verlauf normaler Mitosen erfolgen kann. Infolge von »Endomitosen« können vielmehr auch Riesenchromosomen und auch ohne die Individualisierung von Chromosomen endopolyploide Riesenkerne entstehen. Die weiterführende Entdeckung, dass solche Vorgänge im Laufe der Individualentwicklung sowie der Gewebe- und Organdifferenzierung von Pflanzen, Tieren und beim Mensch vielfach eine große Bedeutung haben, führte zur Etablierung der Fachrichtung »karyologische Anatomie«. Zahlreiche SchülerInnen und MitarbeiterInnen von Geitler und Tschermak-Woess haben in den erwähnten, aber auch in anderen Fachbereichen wie z. B. Morphologie, Systematik und Palynologie geforscht. Die von Geitler ausgearbeiteten Schnellmethoden der Kern- und Chromosomenfärbung stimulierten zahlreiche weiterführende karyologische und karyosystematische Untersuchungen. 1965 war dann die Aufstellung des ersten Transmissions-Elektronenmikroskops als Spende der deutschen Bundesregierung zur 600-Jahr-Feier der Universität Wien von großer Bedeutung für die zukünftige Forschungsarbeit. Spätestens zu Ende der 1960er Jahre hatte sich das Institutsgebäude am Rennweg in vieler Hinsicht als veraltet und vor allem für moderne, technisch anspruchsvolle Forschungsrichtungen als viel zu klein erwiesen. Friedrich Eh-
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rendorfer erhielt als nächster Institutsvorstand und Gartendirektor (1970 – 1990) die Berufungszusage für einen Zubau und die Generalsanierung des Altbaus; sie konnte allerdings erst 1983 – 1992 realisiert werden. Während dieser langen Bauzeit musste der Vollbetrieb von Forschung und Lehre so gut wie möglich weitergeführt werden. Trotz großer Schwierigkeiten für Bauausführende und Institutspersonal war das Endresultat aber sehr zufriedenstellend, das Raumangebot hatte sich im Vergleich mit dem ursprünglichen Bau auf mehr als das Doppelte erhöht (Hesse 1992). In diesem Zeitraum stieg die Zahl der Studienanfänger der Biologie an der Universität Wien von etwa 50 auf über 300. Erfreulicherweise konnte gleichzeitig auch die Zahl der in einem Dienstverhältnis stehenden wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Botanik von zwölf auf mehr als 35 erhöht werden. Die folgende knappe Darstellung berücksichtigt auch die kurze Amtszeit (1990 – 1992) des folgenden Institutsvorstands Anton Weber und beschränkt sich auf die wichtigsten Forschungsergebnisse der acht nunmehr eingerichteten und apparativ gut ausgestatteten informellen Abteilungen bzw. Arbeitsgruppen. Der Bericht veranschaulicht die zunehmende Breite und den Wandel in der botanischen Diversitäts- und Evolutionsforschung jener Jahre. In der »Abteilung für vergleichende Phytochemie« (Harald Greger u. a.) konnte aufgrund der Analyse vieler bioaktiver Inhaltsstoffe (z. B. Alkamide, Polyacetylene, Sesquiterpene etc.) bei Körbchenblütlern (z. B. Achillea oder Artemisia), Zitrusgewächsen (Rutaceae) und auch anderen deren Bedeutung als Verwandtschaftszeiger, aber auch als ökologische »Kampfmittel« gegen Schädlinge und Konkurrenten nachgewiesen werden, was eine Nutzung in Landwirtschaft und Pharmazie möglich macht. Ein zentrales Forschungsthema in der »Abteilung für Ultrastrukturforschung und Elektronenmikroskopie« (Michael Hesse u. a.) war die Entwicklung des Pollens in den Staubblättern und seine Diversität bei den Samenpflanzen. Erstmals konnte gezeigt werden, dass auch windbestäubte, früher als ursprünglich beurteilte Angiospermen (etwa Buchengewächse oder Platanen), noch Ansätze zur Bildung von Pollenklebstoffen zeigen, wie sie für die Übertragung des Blütenstaubs durch Insekten notwendig sind. Das beweist, dass Windbestäubung bei diesen jüngeren Samenpflanzen eine sekundäre, abgeleitete Anpassung ist. Bei den älteren Gymnospermen (also z. B. unseren Nadelhölzern) ist sie hingegen ursprünglich, weil dort von vornherein kein Pollenkitt gebildet wird. Auch sonst haben sich unterschiedliche Pollenstrukturen als Verwandtschafts- und Evolutionskriterien innerhalb aller Samenpflanzen sehr bewährt. Um die internationale Zusammenarbeit an rezenten und fossilen Pollen und Sporen zu erleichtern, wurde eine Datenbank »PalDat« eingerichtet. In der »Abteilung für Cytologie und Genetik« (Dieter Schweizer u. a.) ermöglichten vor allem die Weiterentwicklung der Technik des Chromosomenbänderns und die Verwendung spezifischer DNA-Sonden we-
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sentliche Fortschritte beim Verständnis des Zellkern- und Chromosomenbaus sowie seiner Veränderungen im Verlauf der Evolution. Ein wesentlicher Durchbruch gelang mit der erstmaligen elektronenmikroskopischen Darstellung gepaarter Meiose-Chromosomen bei der Hefe und bei einer experimentellen 5x-Hybride von Schafgarben. Erstmals konnten mit Hilfe der damals neuartigen Methode der DNA-Sequenzierung ribosomaler Gene bei der kurzlebigen, heute weltweit verwendeten Experimentalpflanze »Arabidopsis« analysiert werden. In der »Abteilung für systematische Embryologie und Karyologie« (Johann Greilhuber u. a.) wurde die Messtechnik für die Bestimmung der Genomgröße verbessert und breit anwendet: Gegenüber der Stabilität innerhalb der Arten ergeben sich diesbezüglich erstaunlich große Unterschiede zwischen verschiedenen Arten und Verwandtschaftsgruppen. Zumindest teilweise hängen diese Unterschiede auch mit der Zellteilungsgeschwindigkeit, der Wuchsform und damit auch der Sippenökologie zusammen. Studien aus dem Fachbereich der »Vergleichenden Embryologie der Angiospermen« (bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Karl Schnarf am Institut begründet) verdanken wir u. a. den Hinweis, dass Theligonum (seinerzeit »Familie« der Theligonaceae) in Wirklichkeit »nur« eine aberrante Gattung der Kaffeegewächse (Rubiaceae) ist. Im Arbeitsbereich der »Abteilung für Niedere Pflanzen« führte Lothar Geitler seine bahnbrechenden Untersuchungen über die höchst unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien bei den Kieselalgen auch nach seiner Emeritierung weiter. Die Einrichtung einer mykologischen Arbeitsgruppe ermöglichte unter anderem den Aufbau einer Datenbank zur Erfassung der ökologisch besonders bedeutsamen Großpilze Österreichs (Irmgard Krisai-Greilhuber). In der »Abteilung für Morphologie der Höheren Pflanzen« (Walter Leinfellner, Stefan Vogel, Anton Weber u. a.) wurden zahlreiche Arten verschiedener Familien der Angiospermen aus allen Lebensräumen der Erde vergleichend, funktionell und teilweise auch experimentell analysiert. Dabei ergaben sich immer wieder neue Einblicke in die erstaunliche Diversität hinsichtlich Wuchsform, Wurzel- und Sprossbereich, Blüten-, Frucht- und Samenbau sowie hinsichtlich der Blütenökologie. Vielfach lässt sich diese Diversität im Sinn verschiedener Strategien der An- und Einpassung in die unterschiedlichsten Ökosysteme deuten. In der »Abteilung für Systematik der Höheren Pflanzen und Evolutionsforschung« (Friedrich Ehrendorfer u. a.) wurde, vielfach mit den anderen Abteilungen im Haus, aber auch mit der internationalen Kollegenschaft, an diversen Großprojekten zusammengearbeitet. Nur so waren vielseitige Darstellungen der phylogenetischen, raum-zeitlichen Entfaltung ausgewählter größerer Verwandtschaftsgruppen der Höheren Pflanzen möglich. Berücksichtigt wurden dabei u. a. die Veränderung von alten zu neuen Merkmalsausbildungen, die divergente ökogeographische Einnischung aller Sippen sowie die cytogenetischen Evolutionsmechanismen (besonders Chromosomen-Umbau-
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ten, Polyploidie und Kreuzungsbarrieren). Obwohl bis 1992 noch keine DNASequenzdaten verfügbar waren, trugen die multidisziplinären Studien an Schafgarben und Wermut-Arten (Achillea und Artemisia), an Gold- und Silberdisteln (Carlina), an der Gattungsgruppe der Blausterne (Scilla etc.) sowie an verschiedenen tropischen Familien (Annonaceae, Gesneriaceae und Rubiaceae) damals beispielhaft zum Fortschritt der systematischen Forschung bei. Vielfach konnten dabei durch vergleichende Analysen auch charakteristische Evolutionsmuster aufgedeckt werden. Im Bereich der Dokumentation floristischer Diversität entstanden die erste Exkursionsflora für das heutige Staatsgebiet Österreichs (Manfred A. Fischer) sowie spezielle Beiträge für internationale Florenwerke, wie z. B. Flora Europaea, Flora Iranica etc. An der »Abteilung für Areal- und Vegetationskunde« (Harald Niklfeld u. a.) wurde im Rahmen wachsenden Interesses an Biodiversitätsfragen das Projekt »Floristische Kartierung Mitteleuropas« initiiert, dessen Leitung in Wien lag. Eine der erforderlichen Basisarbeiten war die Erstellung einer aktualisierten »Liste der Gefäßpflanzen Mitteleuropas«. Das Teilprojekt »Floristische Kartierung Österreichs« ist auf die Erhebung der etwa 3000 in Österreich wildwachsenden Arten von Farn- und Blütenpflanzen ausgerichtet. Die gewonnenen Daten werden in Rasterverbreitungskarten dargestellt und bilden eine wichtige Grundlage für die Erstellung der »Roten Liste gefährdeter Farn- und Blütenpflanzen Österreichs«, die von Mitarbeitern des Projekts erstellt werden. Vielfach verdeutlicht diese »Rote Liste« den erschreckenden Rückgang naturnaher Vegetation und des Aussterben heimischer Arten. Über verschiedene Naturschutzanwendungen hinaus wurden und werden die über zwei Millionen Datensätze der Floristischen Kartierung für zahlreiche wissenschaftliche Projekte genutzt, zum Beispiel in einem EU-Projekt, in dem die genetische Vielfalt als wichtiges Maß für die Biodiversität bei Alpenpflanzen erhoben wurde. Während der Wirkungsperioden des letzten Institutsvorstands Michael Hesse (1992 – 2004) und des Department-Leiters für Systematische und Evolutionäre Botanik Tod F. Stuessy (1997 – 2012) wurden viele der bisherigen Arbeitsgruppen bzw. Abteilungen reorganisiert. Der größte Einschnitt war 2005/06 die Übersiedlung der Arbeitsgruppe »Cytologie und Genetik« mit Dieter Schweizer in die neugegründeten »Max F. Perutz-Laboratorien« der Wiener Universitäten im Campus Vienna Biocenter. Seit Beginn des Studienjahres 2009/10 leitet Jürg Schönenberger am Standort Rennweg das Department »Strukturelle und Funktionelle Botanik« (seit 2014 Division innerhalb des Groß-»Departments für Botanik und Biodiversitätsforschung«). Im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben Allozymund bald darauf vor allem DNA-Analysen als Mittel der Verwandtschaftsforschung herausragende Bedeutung erlangt. Im Institut am Rennweg wurde dieser Entwicklung Rechnung getragen, indem, zuerst noch im Rahmen der Abteilung
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»Cytologie und Genetik«, ein eigenes molekular-biologisches Labor unter Leitung von Mary Rosabelle Samuel eingerichtet wurde. So konnten 1992 Allozymanalysen bei tropischen Annonaceae und 1994 erste Beiträge zur DNAgestützten Phylogenie bei Gattungen der Rubiaceae, Gesneriaceae und Fagaceae publiziert werden. In den folgenden Jahren wurden DNA-gestützte und multidisziplinär erweiterte Analysen unter Anwendung immer neuer Methoden fortgeführt, z. B. bei verschiedenen Gruppen der Pilze, besonders aber bei Blütenpflanzen wie etwa den Zitrusgewächsen (Rutaceae), bei der weltweit verbreiteten Gattung Hahnenfuß (Ranunculus), bei südamerikanischen Bromelien (Tillandsia, etc.), bei der pantropischen Orchideengattung Polystachya und bei verschiedenen Körbchenblütlern, z. B. bei Achillea, Leontodon, Carlina, Senecio, Melampodium und, besonders interessant, bei Hypochaeris: Hier ist aus einer kleinen und alten Gruppe mediterran zentrierter Arten, als Folge einer transatlantischen Fernverbreitung, in Südamerika eine junge, sehr artenreiche Tochtergruppe entstanden, die sich explosionsartig in die verschiedensten Lebensräume ausgebreitet hat. Wesentliche neuere Beiträge betreffen auch die Entstehung der Flora ozeanischer Inseln (z. B. der Juan-Fernandez-Inseln oder der Hawaii-Inseln). Jüngste DNA-Sequenzierungsmethoden (NGS, RAD etc.) und computergestützte Auswertungen eröffnen heute weiterreichende Möglichkeiten der Evolutionsforschung sowie der Rekonstruktion der Phylogenie und erdgeschichtlichen Expansion verschiedenster Organismengruppen. Sie werden derzeit am Rennweg für den Nachweis der fortschreitenden Reduktion der Plastidengenome beim allmählichen Wandel von Halb- zu Voll-Parasiten bei der Familie der Orobanchaceae verwendet sowie bei der Dokumentation epigenetischer Phänomene in der Phylogenie von europäischen Orchideen der Gattung Dactylorhiza. 100 Jahre nachdem der Internationale Kongress für Botanik erstmals in Wien getagt hatte, fand der 17. International Botanical Congress 2005 erneut in Wien statt. Zahlreiche Mitarbeiter vom Standort Rennweg waren an der Organisation des Kongresses beteiligt, der bei den weit über 3000 FachkollegInnen aus aller Welt ein äußerst positives Echo fand. An die naturwissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit wendet sich das Werk »Ökosystem Wien« (2011), das nach maßgeblicher Initiative von Mitarbeitern des Rennweg-Standorts verwirklicht wurde. Es enthält eine vielseitige Darstellung der Wiener Naturräume und entstand in Zusammenarbeit zahlreicher Biologen und fachnaher Kollegen.
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Der Botanische Garten der Universität Wien als Spiegel botanischer Forschung im Wandel der Zeit Während die bisherigen Ausführungen die Entwicklungen des Fachbereichs Botanik am Rennweg und ihre wissenschaftlichen Bedeutungen skizziert haben, soll im Folgenden der Botanische Garten (Hortus Botanicus Vindobonensis – HBV) genauer betrachtet werden. Seine Veränderungen (im Laufe einer über 260-jährigen Geschichte) sind durch Pläne, Samenkataloge und Pflanzlisten ausgezeichnet belegt. Daher ist es möglich, den HBV gleichsam als Fenster in die Vergangenheit zu nutzen. Dabei ist es spannend herauszuarbeiten, welche wissenschaftlichen Entwicklungen wann in den HBV neu eingebracht wurden und ob die botanische Forschung in Wien an diesen neu gezeigten Entwicklungen beteiligt war. An der Universität Wien bestand durch die Personalunion zwischen dem Lehrstuhlinhaber für (systematische) Botanik und dem Direktorat des HBV, die erst in den 1990er Jahren aufgelöst wurde, eine enge Beziehung zwischen botanischer Forschung (besonders der botanischen Systematik) und dem Garten. Daher kann erwartet werden, dass die Umsetzung von neuen Wissenschaftskonzepten im Botanischen Garten zum Teil auch mit Forschungsinteressen der jeweiligen Gartenverantwortlichen gekoppelt waren. Neben wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnissen sind die dokumentierten Veränderungen im HBV aber auch potentielle Indikatoren für das gesellschaftspolitische Umfeld, in dem die jeweiligen Neuerungen vorgenommen wurden. An wenigen Beispielen sollen einige dieser wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen illustriert und analysiert werden. Carl von Linn¦ führte in seinem 1753 erschienen Werk »Species Plantarum« ca. 7.300 Arten an. Diese Zahl kann als oberstes Maß für Angaben zu Artenzahlen zur Zeit der Gründung des HBV im Jahr 1754 angesehen werden. Die ersten für den HBV verfügbaren Daten (Jacquin 1825) nennen einen Bestand von ca. 8.000 Arten. Stephan L. Endlicher (Direktor 1839 – 1849) führt in seinem 1843 erschienenen »Catalogus horti academici Vindobonensis« namentlich 8.186 Arten an. Diese Artenzahl ist insoweit bemerkenswert, da große Gewächshausanlagen zu dieser Zeit noch nicht existierten. Die umfangreiche Sammlung historischer Samenkataloge in der Fachbibliothek Botanik der Universität Wien belegt den Schwerpunkt der Sammlungsakzessionen in der Mitte bzw. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kataloge stammen großteils von Gärten aus temperaten Klimazonen. Sie wurden oft als »Bestellformulare« für Pflanzen verwendet. Die jährlichen Zuwächse zu den Sammlungen waren beachtlich: Eine handschriftliche Eintragung im Samenkatalog des Botanischen Gartens Halle von 1819 (Semina in horto botanico halensi 1819 collecta) in der
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Fachbibliothek für Botanik der Universität Wien (Signatur S17/11) besagt, dass aus diesem Katalog 568 Positionen bestellt wurden und davon 166 aufgegangen waren. Der Bau der Gewächshausanlagen (1890 – 1893) auf Initiative von Anton Kerner von Marilaun ermöglichte erstmals den Aufbau umfangreicherer Sammlungen tropischer und subtropischer Arten. Als einer der Begründer der vegetationskundlichen Forschung hatte Kerner auch großes wissenschaftliches Interesse an der Wechselwirkung zwischen Arten und ihrer Verbreitung. Außerdem trugen seine botanischen Untersuchungen wesentlich zur Entwicklung der damals noch jungen Evolutionsforschung bei (vgl. Ehrendorfer 2004). Für Kerner war es zudem »eine Pflicht der Gelehrten […] die Resultate ihrer Forschungen auf jede mögliche Weise zum Gemeingute Aller zu machen« (Kerner von Marilaun 1874, 36). So kann man die in dem umfassenden Pflanzplan und der zugehörigen Pflanzenliste der krautigen Arten von 1894 – 1897 (Abbildungen 1 und 2) zu erkennende Zunahme der Sammlungsobjekte zu Kerners Zeit in direktem Zusammenhang mit seinen Interessen an Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit sehen. Heute werden im Botanischen Garten ca. 11.500 Arten kultiviert, davon knapp die Hälfte im Freiland (vgl. Homepage des HBV: [http://www.botanik. univie.ac.at/hbv/] 14. Oktober 2014). Das bedeutet, dass die rezente Zunahme der im Botanischen Garten vorhandenen Arten vor allem tropische und subtropische Herkünfte betrifft, ein Hinweis darauf, dass Arten dieser Lebensräume in der universitären Forschung und Lehre heute einen großen Stellenwert besitzen. Dagegen hat die Zahl der im Freiland kultivierten Arten im Vergleich zur Zeit Kerner von Marilauns sogar abgenommen. Ursachen dafür sollen im Folgenden diskutiert werden. Zahlreiche Pläne dokumentieren die Anlage und Gestaltung der Freilandflächen des HBV seit seiner Gründung bis heute (vgl. Kiehn/Petz-Grabenbauer 2004). Ebenso existieren Dokumente zu den jeweiligen Bepflanzungen der Flächen. Besonders aussagekräftig ist hierbei der schon oben erwähnte Pflanzplan der krautigen Arten aus der Zeit 1894 – 1897 (Direktorat Anton Kerner von Marilaun), dessen Original sich im Archiv der Universität Wien befindet. Beispielhaft soll hier die »Gruppe 8« in Bezug auf die Artenzahl und auf die gärtnerische Präsentation mit der heutigen Situation verglichen werden. Im Pflanzplan von 1894 – 1897 sind Rundbeete zu erkennen, die in zwei Reihen angeordnet sind. 211 Nummern sind für die Beete der Gruppe 8 vergeben (Abbildung 1). Die zugehörige Pflanzenliste (Auszug in Abbildung 2) führt die in den Beeten gepflanzten Arten an; pro Rundbeet ist eine Art genannt. Die allermeisten davon sind krautig. Wenn diese Situation mit der aktuellen Bepflanzung (2014) verglichen wird, so fällt auf, dass sich an den hauptsächlich vertretenden Familien fast nichts geändert hat. Allerdings beläuft sich die Zahl
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Abbildung 1: Pflanzplan der Gruppe 8 im HBV aus der Zeit 1894 – 1897. Original im Archiv der Universität Wien.
der krautigen Arten in Gruppe 8 derzeit auf nur noch 85; inklusive aller Gehölze werden in der Gruppe heute 109 Arten kultiviert. Die Form der Beete ist nicht mehr rund, sondern rechteckig. Bis zu vier Arten wachsen in einem rechteckigen Beet nebeneinander. Welche Ursachen könnten diese Veränderungen bewirkt haben? Hier spielen nicht wissenschaftliche, sondern wirtschaftliche Aspekte die entscheidende Rolle: Zur Zeit Kerners waren die Lohnkosten relativ niedrig. Damit waren der Zeitaufwand für viele Einzel-Anzuchten und für das Mähen von Hand für den Garten leistbar und eine personalintensive Betreuung der Freiland-Gruppen möglich. Zunehmende Lohnkosten erzeugten einen Druck in Richtung effektiverer Pflege: Rechteckige Beete erlauben ein Mähen mit den jetzt verfügbaren Rasenmähern, während es vergleichsweise aufwändig wäre, die
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Abbildung 2: Auszug aus der Pflanzenliste der Gruppe 8 zum Pflanzplan 1894 – 1897 des HBV. Original im Archiv der Universität Wien.
runden Beete weiterhin (von Hand) zu pflegen. So wurden die Beete sukzessive umgestaltet – in den neuen Beeten konnten aber weniger Arten untergebracht werden. Außerdem musste man die jährlichen Anzuchten (ebenfalls arbeits- und damit lohnkostenintensiv) für das Freiland reduzieren und zu ausdauernden Arten übergehen. Die Entstehungszeiten einiger thematischer Gruppen im HBV lässt einen direkten Bezug zu sich zeitgleich entwickelnden innovativen botanischen Forschungsansätzen und wissenschaftlichen Erkenntnissen erkennen. Auch Zusammenhänge mit der botanischen Forschung am Rennweg zur jeweiligen Zeit werden deutlich. Beispielhaft sollen hier angeführt werden: – Experimentalgarten und weltweit erste »pflanzengeographische Gruppe« unter Anton Kerner von Marilaun (zwischen 1880 und 1890). Wie schon oben erwähnt sah Kerner den botanischen Garten als Fenster der Forschung für ein interessiertes Publikum: »… ›Semper aliquid haeret‹ […] Wenig wissen, ist am Ende doch noch immer besser, als nichts wissen.« (Kerner von Marilaun 1874, 36). Damit war es nur konsequent, dass er schon sehr bald nach Übernahme der Leitung des Botanischen Gartens der Universität Wien im
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Jahr 1878 Umgestaltungen des HBV in Angriff nahm, die seine Forschungsinteressen und die neusten botanischen Entwicklungen darstellen sollten. – Blüten- und fruchtbiologischen Gruppe unter Fritz Knoll (1930er Jahre). Als einer der führenden Blütenökologen seiner Zeit setzte Knoll (Gartendirektor 1933 – 1945) eine Forschungstradition an der Universität Wien fort, die seine Vorgänger im Amt, Anton Kerner von Marilaun und Richard von Wettstein (Direktor 1898 – 1931) begonnen hatte (Ehrendorfer 1992). Es kann als logische Konsequenz dieser Forschungsinteressen gesehen werden, dass in Knolls Amtszeit im HBV unter anderem eine »blütenbiologische Gruppe«, die beispielhaft auf unterschiedliche Bestäuber angepasste »Blumentypen« präsentiert, oder eine fruchtbiologische Gruppe angelegt wurden. – Pannonische Gruppe unter Friedrich Ehrendorfer und Michael Kiehn (ab 1991). Seit den frühen 1990er Jahren nahm die Bedeutung der artenschutzbezogenen Forschung im HBV sukzessive zu. Ein Schwerpunkt dabei waren und sind Pflanzen der Trockengebiete Ost-Österreichs, des Pannonikums. Mit seiner »Pannonischen Gruppe« entwickelte der HBV international ein Vorbild für Aktivitäten Botanischer Gärten im Übergang zwischen »ex-situ« und »in-situ«-Erhaltung (Stampf et al. 1999; Kiehn/Schumacher 2001). Arten pannonischer Lebensräume wird ein Überleben gesichert, die Fläche hat jedoch darüber hinausgehend Funktionen für die Bewusstseinsbildung im Arten- und Naturschutz (da öffentlich zugänglich) und für die universitäre Forschung und Lehre (z. B. im Zusammenhang mit neuartigen populationsgenetischen Fragestellungen). – Anordnung der Familien im sogenannten »systematischen Teil« des HBV. Nach der Erweiterung des HBV auf fast 10 ha unter Joseph Franz von Jacquin (Direktor 1796 – 1839) nahm Stephan Endlicher (Direktor 1840 – 1849) die Gestaltung der neugewonnen Flächen in Angriff. Er ließ in von gewundenen Wegen eingefassten großen Beeten ein »System des Pflanzenreichs« anlegen, dem das von ihm verfasste Werk »Genera plantarum« (Endlicher 1836 – 1840) als Grundlage diente. Auf der Basis umfangreicher anatomischer und histologischer Untersuchungen hatte Endlicher eine Einteilung in 275 »natürliche« Familien vorgenommen, aufgeteilt auf 61 Klassen. Bereits vor Darwin lassen sich hier Ideen zur Evolution von Merkmalen erkennen, die sich auch aus der Anordnung der Anpflanzungen im HBV abgeleiten lassen: Die heute als relativ basal angesehene Familie der Magnoliengewächse im HBV wurde am Fuß der nach Süden ansteigenden Fläche (heute nahe der Jacquingasse/Mechelgasse) platziert, während sich die »abgeleiteten« Asterngewächse am oberen Ende des Hanges finden. Unter den folgenden Direktoren (besonders Anton Kerner von Marilaun) wurde die Anlage Endlichers modifiziert, aber im Wesentlichen beibehalten. In den letzten 20 Jahren hat es in der systematischen Botanik durch die neuen molekularbiologischen Methoden
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bahnbrechende neue Erkenntnisse gegeben, zu denen auch Wissenschafter der Universität Wien beigetragen haben. Um den Ansprüchen eines Universitätsgartens an die Anforderungen einer zeitgemäßen Lehre und Öffentlichkeitsarbeit gerecht zu werden, ist geplant, zum Anlass des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien ein neues »System des Pflanzenreichs« zu etablieren. So wird der HBV seinen bedeutenden Funktionen auch in Zukunft gerecht werden können: als »Core Facility« für die Wissenschaft in Forschung und Lehre innerhalb der Universität Wien und als Ort der Wissenschaftskommunikation und Schaffung von Naturbewusstsein über das universitäre Umfeld hinaus.
Ausblick In den 160 Jahren unseres Rückblicks hat sich das Wissen über die Biosphäre des Planeten Erde in unglaublichem Maße erweitert. Die Forscherinnen und Forscher des Botanischen Instituts und des Botanischen Gartens am Rennweg haben dazu vielseitige und umfangreiche Erkenntnisse beigetragen und an die Fachwelt sowie an die Studierenden weitergegeben. Entscheidend für diesen Wissenszuwachs waren dabei vor allem die Fortschritte in analytischer und apparativer Hinsicht. Gleichzeitig ist aber auch immer klarer geworden, wie unendlich viel es hinsichtlich Bau, Funktion, Fortpflanzung, Evolution, Formenfülle und Koexistenz aller Lebewesen unserer Erde noch immer zu erforschen gilt. Angesichts der methodischen und fachlichen Auffächerung der Disziplinen und ihrer vielfältigen Querverbindungen kann diese Erforschung von Organismen heute nur mehr auf multidisziplinär-kooperativer Basis gelingen; nur so können die Ergebnisse in einer umfassenden Zusammenschau bewertet werden. Eine Fortsetzung der erfolgreichen Arbeiten am Standort Rennweg wird von den materiellen wie personellen Rahmenbedingungen abhängen. Zuletzt noch ein allgemeiner Appell, der sich aus der weltumspannenden und ins 18. Jahrhundert zurückgehende Forschungsarbeit am Rennweg aufdrängt: Es wird immer deutlicher, wie zerstörerisch die fortschreitend aggressive menschliche Nutzung naturnaher Ökosysteme unserer Biosphäre bis heute gewirkt hat und weiterwirkt. Unendlich viele Naturgüter sind seit dem 18. und 19. Jahrhundert verloren gegangen! Hier ist dringender Handlungsbedarf geboten, um letztendlich auch das langfristige Überleben der Menschheit auf unserem Planeten zu sichern.
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Literaturverzeichnis Ehrendorfer, Friedrich: Anton Kerner von Marilaun als Pionier der botanischen Evolutionsforschung, in: Michael Kiehn und Maria Petz-Grabenbauer (Hg.), Anton Kerner von Marilaun (1831 – 1898) (= Österr. Bibliogr. Lexikon Schriftenreihe 9, 2004) 65 – 76. Ehrendorfer, Friedrich: Wissenschaftliche Entwicklung und Forschungsarbeit am Institut für Botanik, in: Wilfried Morawetz (Hg.), Die Botanik am Rennweg. Das Institut für Botanik und der Botanische Garten der Universität Wien. Festband zur Eröffnung des neuen Instituts (= Abh. Zool.-Bot.-Ges. Österr. 26, 1992) 113 – 165. Endlicher, Stephan Ladislaus: Genera plantarum secundum ordines naturales disposita (Wien 1836 – 1840). Endlicher, Stephan Ladislaus: Catalogus horti academici Vindobonensis (Wien 1843). Hesse, Michael: Baugeschichte des Instituts für Botanik der Universität Wien, in: Wilfried Morawetz (Hg.), Die Botanik am Rennweg. Das Institut für Botanik und der Botanische Garten der Universität Wien. Festband zur Eröffnung des neuen Instituts. (= Abh. Zool.-Bot.-Ges. Österr. 26, 1992) 9 – 49. Jacquin, Joseph Franz von: Der Universitäts-Garten in Wien (Wien 1825). Linn¦, Carl von: Species Plantarum (Stockholm 1753). Kerner von Marilaun, Anton: Die botanischen Gärten und ihre Aufgaben in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Innsbruck 1874). Kiehn, Michael / Petz-Grabenbauer, Maria: 250 Jahre Botanischer Garten der Universität Wien. Führer zur Ausstellung (Wien 2004). Kiehn, Michael / Schumacher, Frank: Experienta Gradinii Botanice a Universitatii din Viena in implementarea Conventiei asupra Conservarii Biodiversitatii – Conservation of biodiversity, the convention on biodiversity (CBD) and botanic gardens – examples from the Botanical Garden of the University of Vienna (HBV), in: Anca Sarbu (Hg.), Diversitatea plantelor in contextul strategiei Europene de conservare a biodiversitatii: sinteze (Bukarest 2001) 127 – 136. Stampf, Johann/ Schumacher, Frank / Kiehn, Michael : Eine »Gstätten« auf historischem Grund? Die Pannonische Gruppe im Botanischen Garten der Universität Wien. Zolltexte 32 (1999) 6 – 34. Taschwer, Klaus: Die zwei Karrieren des Fritz Knoll. Wie ein Botaniker nach 1938 die Interessen der NSDAP wahrnahm – und das nach 1945 erfolgreich vergessen machte, in: Johannes Feichtinger, Herbert Matis, Stefan Sienell und Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung (Wien 2013) 47 – 54.
Elisabeth Grabenweger*
Germanistik an der Universität Wien – Zur wissenschaftlichen und politischen Geschichte des Faches von 1848 bis in die 1960er Jahre
Eine moderne, d. h. als Universitätswissenschaft legitimierte Germanistik etablierte sich in Österreich mit der Universitätsreform von 1848/49. Im Blickpunkt des Interesses stand dabei zum einen die universitäre Vertretung der deutschen Sprache und Literatur in allen Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie, also eine (kultur-)politische Absicht; zum anderen musste durch die grundlegende Umstrukturierung und Erweiterung des höheren Schulwesens der gestiegene Bedarf an Deutschlehrern gedeckt werden.1 Vereinzelte Ansätze, sich mit deutscher Sprache und Literatur innerhalb des akademischen Lehrbetriebs zu beschäftigen, gab es an der Universität Wien auch schon vor 1848; diese waren jedoch nur lose und fächerübergreifend konzipiert, wurden von Vertretern anderer Fächer oder von Autodidakten getragen und umfassten ein breites Spektrum an ästhetisch-kritischen und philosophischen Fragestellungen.2 Im Zuge der Professionalisierung des Faches wurden derartige Herangehensweisen aber als zu spekulativ verworfen und als den geforderten wissenschaftskonstitutiven Standards nicht (mehr) entsprechend angesehen. Demgemäß berücksichtigte man bei der Einrichtung der ersten Lehrkanzeln für deutsche Sprache und Literatur ausschließlich Gelehrte, deren Expertise in der philologischen Betrachtung der älteren deutschen Literatur zu finden war.3 An die Universität Wien wurde 1850 Theodor Georg von Karajan berufen, der sich mit mittelhochdeutscher Grammatik, Texten von Hartmann von Aue, Walther von der Vogelweide und dem Nibelungenlied beschäftigte. Für die Ausbildung der Lehrer in der deutschen Unterrichtssprache waren Kenntnisse der älteren deutschen Sprache und Literatur aber nur bedingt brauchbar,4 zudem war man staatlicherseits daran interessiert, durch die Vermittlung lite* Institut für Germanistik der Universität Wien. 1 Vgl. Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 193 f. 2 Zu universitären Frühgermanistik vgl. Skarek 1931: Frühgermanistik; Wiesinger et al.: 150 Jahre Germanistik, 19 – 28. 3 Vgl. Egglmaier 1981: Einrichtung von Lehrkanzeln. 4 Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 194.
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raturhistorischer Kenntnisse eine christlich-katholische Intelligenz heranzubilden,5 weshalb bereits 1868 ein zweites Ordinariat eingerichtet wurde, dem die Vertretung der neueren deutschen Literatur oblag. Besetzt wurde der Lehrstuhl mit Karl Tomaschek, der sich 1855 mit der Arbeit »Die Einheit in Schillers Wallenstein« habilitiert hatte.6 Die bis heute bestehende Trennung des Faches in eine neuere und eine ältere Abteilung wurde damit in Wien als erster Universität im deutschen Sprachraum vollzogen.7 Beide Abteilungen orientierten sich zunächst an den Arbeitstechniken der Klassischen Philologie, beschäftigten sich mit Edition, Textkritik, Kommentar und biographischer Forschung und waren in institutioneller Ausrichtung und wissenschaftlicher Herangehensweise maßgeblich von Wilhelm Scherer geprägt, der den Wiener Lehrstuhl für das ältere Fach von 1868 bis 1872 inne hatte. Scherer gehörte zu den berühmtesten und wissenschaftsorganisatorisch einflussreichsten Germanisten im 19. Jahrhundert; ab den 1870er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg beherrschten seine (Wiener) Schüler sowohl die alt- wie auch die neugermanistischen Lehrstühle im deutschsprachigen Raum (neben Wien u. a. Berlin, Graz, Lemberg, Prag und Straßburg).8 Kulturpolitisch wandelte sich der ursprünglich im Vielvölkerstaat als integrativ verstandene Ansatz einer Wissenschaft der deutschen Sprache und Literatur ab den 1860er Jahren zu einer Wissenschaft vom Deutschtum, d. h. zu einer politisch ausgerichteten Nationalphilologie.9 Scherer prägte mit seinen Arbeiten nahezu alle Gebiete der Disziplin; er veröffentlichte eine Geschichte der deutschen Sprache, verfasste eine große Literaturgeschichte, in der er anhand der »Wellentheorie« die drei von ihm angenommenen Blüteperioden der deutschsprachigen Literatur um 600, 1200 und 1800 und die zwei Tiefpunkte im 10. und 16. Jahrhundert zu erklären versuchte; er konzipierte und formulierte eine deutsche Metrik und erarbeitete Detailstudien und Werkinterpretationen zu Johann Wolfgang Goethe, die die ab 1885 erscheinende monumentale Weimarer Goethe-Ausgabe vorbereiteten. Gleichzeitig war er kultur- und nationalpolitisch tätig; in seinem Grillparzer-Aufsatz von 1872 sah er die Instabilität eines eigenen österreichischen Nationalcharakters in der »lange[n] Abschließung von Deutschland«10 5 Konfessionelle Überlegungen spielten an der Wiener Germanistik auch in Berufungsfragen eine große Rolle, vgl. Egglmaier 1994: Entwicklungslinien, 209 – 215; Grabenweger 2014: Germanistik in Wien, 9 – 21. 6 Zu Tomaschek vgl. Fuchs 1967: Geschichte der germanistischen Lehrkanzel, 20 – 23, 47 – 56 und 65 – 69. 7 Vgl. Weimar 1989: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 429 – 442. 8 Zu Scherers Bedeutung für eine österreichische Germanistik vgl. Michler 1995: Materiale für einen österreichischen Gervinus; Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 195 – 209; Scherer 2005: Briefe und Dokumente. 9 Vgl. Michler 1996: Siegeswagen, 233 – 266. 10 Scherer 1874: Grillparzer, 303.
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begründet und 1894 definierte er die deutsche Philologie als »eine Tochter des nationalen Enthusiasmus, eine bescheidene pietätvolle Dienerin der Nation«.11 In Zusammenhang stehen diese Äußerungen mit der deutschen Reichsgründung 1871, die in Scherers Wiener Amtszeit fiel und nahezu alle (deutschen) Germanisten in ihren Bann zog.12 Nachdem Scherer 1872 zunächst nach Straßburg und dann nach Berlin gewechselt war, übernahm an der Wiener Universität die erste Generation der von Scherer ausgebildeten, professionellen Germanisten die Lehrstühle. Das ältere Fach vertrat ab 1873 Richard Heinzel, der sich, obwohl um drei Jahr älter als Scherer, als dessen »ältesten und ersten Schüler«13 bezeichnete, und an die Neugermanistik wurde 1880 Erich Schmidt, Scherers Straßburger ›Meisterschüler‹, berufen, der bereits 1885 wiederum von einem Schüler Scherers, von Jakob Minor, abgelöst wurde. Diese personalpolitische Konzentration auf legitimationsstiftende und sich über Ausschlüsse definierende professorale Erbfolgen14 sollte die Leitvorstellungen der Disziplin – Reinheit der Texte, philologische Exaktheit und strenge Methodik – ebenso gewährleisten wie die damit einhergehenden ethischen und habituellen Vorgaben.15 Rückblickend wurde das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner kleinteiligen, auf faktische Überprüfbarkeit ausgelegten Literaturbetrachtung vor allem von Vertretern der ›Geistesgeschichte‹ abwertend als Zeit des ›Positivismus‹ bezeichnet; die Scherer-Schüler selbst haben sich dieses Begriffs nie bedient, ihre Anstrengungen galten vielmehr der Abgrenzung des Faches von außeruniversitärer und somit als dilettantisch etikettierter literaturhistorischer Forschung.16 Hatte sich Scherer in Anlehnung an Jakob Grimm, der neben Karl Lachmann und Karl Müllenhoff einer der Gründungsväter des Faches war, noch zum »Mut des Fehlens« bekannt,17 so beriefen sich Minor und Heinzel nun vornehmlich auf die ›strenge Philologie‹, in der Faktendichte und Sammeltätigkeit höher bewertet wurden als die Erklärung historischer Zusammenhänge. Minors Leistungen bestanden vor allem in seinen Editionsprojekten (Novalis, Tieck, Saar), seinen bis heute beachteten Arbeiten zur Romantik (Novalis, Achim von Arnim, Brüder Schlegel), seiner »Neuhochdeutschen Metrik« (1893) und seiner uner-
11 Scherer 1894: Pflichten, 1. 12 Vgl. Sternsdorff 1979: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung; Amann et al. 1996: Literatur und Nation. 13 Heinzel 1886: Rede auf Scherer, 802. 14 Als Beispiele für diese »funktionierenden«, d. h. von family values getragenden und systemstabilisierend wirkenden Lehrer-Schülerverhältnisse vgl. Scherer/Schmidt 1963: Briefwechsel; Castle 1955: Schmidt an Minor. 15 Vgl. Kolk 1989: Wahrheit-Methode-Charakter. 16 Vgl. Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 202 f. 17 Scherer 1894: Pflichten, 3.
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müdlichen Tätigkeit als Literaturvermittler.18 Heinzel versuchte die »naturwissenschaftlichen Methoden des Zählens, Messens und Wägens« auf die Deutsche Philologie zu übertragen, um »Kategorien« zu finden, »welche eine ganz mechanische, die Willkür möglichst ausschließende Einordnung der Tatsachen zulassen«.19 Er konzentrierte sich auf die Literatur des 8. bis 15. Jahrhunderts, verzeichnete »Wortschatz und Sprachformen der Wiener Notker-Handschrift« (1875), unternahm eine »Beschreibung des geistlichen Schauspiels im deutschen Mittelalter« (1898) und edierte die »Sæmundar Edda« (1903). Den spezifischen Kunstcharakter von Literatur berücksichtigende oder größere Synthesen bildende Untersuchungen kamen bei dieser ›Wissenschaft der Tatsachen‹ über den Status des Vorhabens jedoch nicht hinaus oder konnten nicht zu einem Abschluss gebracht werden: Heinzels lang erwartete historische Syntax des Deutschen ist nie erschienen,20 Minors Projekt einer »Deutschen Literaturgeschichte von Opitz bis 1870« scheiterte bereits an der ersten Lieferung21 und seine Schiller-Biographie blieb genauso Fragment wie ähnliche Unternehmungen von Kollegen.22 War die Epoche des ›Positivismus‹ auch durch ein größeres Themenspektrum und eine höhere methodische Flexibilität gekennzeichnet als spätere Kritiker behaupteten, so wussten doch bereits ihre Vertreter, dass (vor allem in der neueren Abteilung) große Materialmengen mit den Vorgaben des Philologiemodells nicht umfassend zu bewältigen waren.23 Von Scherers deutsch-nationaler Sichtweise des Faches nahm vor allem Heinzel Abstand, der »je und je dagegen [protestierte], daß man den Beruf des Germanisten mit germanischem Nationalgefühl in Beziehung setze«.24 In der neueren Abteilung bemühte man sich ab den 1870er Jahren vielmehr um die Etablierung einer eigenen österreichischen Ausprägung des Faches, versuchte Franz Grillparzer als alternativen Klassiker gegen Johann Wolfgang Goethe stark zu machen und entwickelte Konzepte für eine spezifisch österreichische Literaturgeschichtsschreibung.25 Auch unter den Studierenden gewann die neuere deutsche Literatur zunehmend an Attraktivität; von den insgesamt 611 ger-
18 Minor war u. a. Jurymitglied bei zahlreichen Literaturpreisen, Vorsitzender der Goethegesellschaft und ständiger Burgtheaterreferent der Österreichischen Rundschau; vgl. Faerber 2004: Minor, 240 – 285. 19 Körner 1935: Deutsche Philologie, 73. 20 Vgl. ebd., 73 f. 21 Faerber 2004: Minor, 172 – 181. 22 Vgl. Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 204 f. 23 Vgl. Minor 1894: Literaturgeschichtliche Hilfsarbeiten; Minor 1904: Aufgaben und Methoden. 24 Körner 1935: Deutsche Philologie, 72. 25 Vgl. Michler 1995: Materiale für einen österreichischen Gervinus; Zeman 1986: Österreichische Literaturforschung.
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manistischen Promotionen in Wien bis 1914 wurden nicht weniger als zwei Drittel im neueren Fach verfasst.26 Nach dieser Phase der Konsolidierung und Professionalisierung des Faches lässt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in innerwissenschaftlicher Hinsicht als auch mit Blick auf die Positionierung der Germanistik im Fächerkanon der Universität eine Veränderung ausmachen. So verlor die Klassische Philologie ihre paradigmatische Rolle als methodische Leitdisziplin zugunsten einer zunehmend an philosophischen, kunsttheoretischen und soziologischen Ansätzen orientierten (Neu-)Germanistik. Diese Umorientierung machte sich auch in der Ordnung der Professorenfolge bemerkbar : Nach dem Tod Jakob Minors 1912, des Wiener Ordinarius für die neuere Abteilung, wurde nach zwei Jahre andauernden, erbitterten Auseinandersetzungen zum ersten Mal kein Scherer-Schüler berufen, sondern der aus Posen stammende Walther Brecht, ein Vertreter der ›Neuen Geistesgeschichte‹.27 Brecht selbst hatte kein ausgeprägtes wissenschaftliches Profil, seine wenigen Veröffentlichungen beschäftigen sich mit den Dunkelmännerbriefen, Wilhelm Heinse, Conrad Ferdinand Meyer und Hugo von Hofmannsthal. In der Fachgeschichte von Interesse war Brecht, der sich als Übergangs- und Integrationsfigur in einer Phase zahlreicher gesellschaftlicher und innerfachlicher Konflikte charakterisieren lässt, bislang vor allem als langjähriger Freund Hofmannsthals.28 Die vergleichsweise große Schar an Universitätslehrern, die aus Brechts Wiener Seminar hervorgegangen ist, gibt ein Bild des methodisch und thematisch zwar disparaten und im Einzelnen uneinheitlichen, gleichzeitig aber ausgesprochen weiten wissenschaftlichen Spektrums der Germanistik in den 1920er Jahren. Zu nennen sind hier so unterschiedliche Wissenschaftler wie der Romantikforscher Heinz Kindermann, der Barockforscher Herbert Cysarz, der Goetheforscher Franz Koch und der Frühe-Neuzeit-Forscher Hans Rupprich. Außerdem fallen in Brechts bis 1927 andauernde Amtstätigkeit die Verfünffachung der Studierendenzahlen, die Aufnahme von Gegenwartsliteratur in die universitäre Lehre und die Habilitationen der ersten Frauen: 1921 wurde der Minor-Schülerin Christine Touaillon aufgrund ihrer literarturhistorischen Studie »Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts« als erster Germanistin in Österreich die Venia Legendi verliehen und 1924 der geistesgeschichtlich orientierten Romantikforscherin Marianne Thalmann, die eine Arbeit mit dem Titel »Der Trivialroman und der romantische Roman« vorlegte. 1927 folgte schließlich die Volkskundlerin Lily Weiser, deren Habilitationsschrift »Altger26 Vgl. Gebauer 1935 – 1937: Verzeichnis Dissertationen. 27 Zu den Berufungsverhandlungen vgl. Egglmaier 1994: Entwicklungslinien, 233 – 235; Grabenweger 2014: Germanistik in Wien, 22 – 39; zu Brecht vgl. Bonk 1995: Deutsche Philologie, 67 – 72 und 81 – 83; Grabenweger 2014: Germanistik in Wien, 40 – 74; Oels 2007: Denkmal. 28 Hofmannsthal/Brecht 2005: Briefwechsel; König 2001: Hofmannsthal.
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manische Jünglingsweihen und Männerbünde« auf eine weitere innerfachliche Verschiebung, nämlich auf die zunehmende Entfernung der Neueren von der Älteren Abteilung, die sich mit Dietrich Kralik und vor allem Rudolf Much einer national-mythisch ausgerichteten Germanen- und Altertumskunde verschrieb, verweist.29 Das Paradigma der philologisch exakten und historisch deskriptiven Arbeitsweise wurde bei der neuen Hinwendung auf ästhetische Aspekte und überzeitliche Ideen und Motive in den 1920er Jahren zunehmend an die Peripherie verdrängt. Die im Abstand von fast vier Jahrzehnten erschienene, vierbändige »Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte« (1899 – 1937), die sich an den Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie orientierte und eine möglichst vollständige, lexikalische Beschreibung der Literatur und ihrer Institutionen zu leisten beabsichtigte, wurde mit Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle von akademischen Außenseitern bzw. Randfiguren realisiert.30 Gleichzeitig hatte diese Zurückdrängung auch mit Unstimmigkeiten zwischen den genannten Verfassern und dem Scherer-Schüler und späteren Prager Professor August Sauer zu tun, der 1907 in seiner vielbeachteten Prager Rektoratsrede »Literaturgeschichte und Volkskunde« den methodischen Grundstein für eine Regionalliteraturhistoriographie legte, die Umsetzung des Projekts selbst aber für verfrüht hielt und seine Mitarbeit verweigerte.31 Zusammengehalten wurden die hier kurz skizzierten, methodisch und thematisch divergenten Zugänge durch die weitgehende Einigung auf einen politisch-pädagogischen Konsens, bei dem unter dem Schlagwort ›Deutschkunde‹ der Germanistik an den Universitäten und dem Deutschunterricht an den Schulen die Vorherrschaft im Fächerkanon zugewiesen werden sollte. Mit ›Deutschkunde‹ verband sich ein ideologisches Konzept, bei dem ungeachtet real existierender Staatsgrenzen durch die »Ineinssetzung von Sprache, Literatur und Volk« romantische Ideen des Deutschtums propagiert wurden. Vor allem nach 1918 wurde die ›Deutschkunde‹ als antirepublikanisches Volkserziehungsprogramm benützt und zu einem wesentlichen Bestandteil der gesamtdeutschen Wertorientierung vieler Germanisten.32 Spätestens ab Anfang der 1930er Jahre war die Wiener Germanistik mit dem Namen Josef Nadler verbunden, der als Verfasser der monumentalen »Litera29 Vgl. Meissl 1989: Ostmark-Germanistik, 139 – 144; zur wissenschaftlichen und institutionellen Position von Touaillon, Thalmann und Weiser vgl. Grabenweger 2010: Touaillons Habilitationsschrift; Grabenweger 2014: Germanistik in Wien. 30 Zeidler war Gymnasiallehrer, Nagl Gymnasiallehrer und Privatdozent, Castle Gymnasiallehrer, Privatdozent und ab 1915 tit. a.o. Professor in Wien. 31 Zu dieser Konstellation vgl. Renner 2000: Deutsch-österreichische Literaturgeschichte. 32 Meissl 1981: Germanistik in Österreich, 478; vgl. auch Meissl 1989: Ostmark-Germanistik, 134 f.
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turgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften« 1931 die Wiener Neugermanistik-Professur antrat.33 Nadler folgte in seiner Literaturgeschichte seinem Lehrer August Sauer, verband Stammes-, Volks- und Siedlungsgeschichte mit einer Geschichte der Literatur, um diese zu einer umfassenden Kulturgeschichte des Deutschtums auszugestalten. Dabei bestimmten nicht mehr Individuen, sondern kollektive Kräfte (Stämme) die literarische Wirkungsgeschichte; die einzelnen Autoren waren unabhängig von ihrem künstlerischen Rang allein als Träger der vorherrschenden Begabung ihres Herkunftsraumes von Interesse. Innerfachlich kann Nadlers Berufung als Symptom eines Wandels gelesen werden, der die vergleichsweise offene wissenschaftliche Haltung der Wiener Germanistik in den 1920er Jahren beendete und sowohl im älteren als auch im neueren Fach die Volkskunde zur Legitimationsinstanz von Forschung und Lehre werden ließ (und gleichzeitig die Annäherung einer an der Scholle interessierten, zeitgenössischen Literatur erkennen lässt).34 Nadler galt bereits vor seiner Wiener Berufung als äußerst schwieriger Kollege, der niemanden neben sich duldete. Tatsächlich bestätigte er diese Einschätzung auch kurz nach seinem Amtsantritt. Zunächst versuchte er die traditionell den außerordentlichen Professoren vorbehaltenen Proseminare an sich zu ziehen. Auch die Schüler seiner Vorgänger scheint er eher behindert als gefördert zu haben; innerhalb kürzester Zeit verließen – mit Ausnahme Hans Rupprichs – alle Privatdozenten der Neugermanistik die Wiener Universität.35 Mit den Anforderungen des Massenstudiums (Anfang der 1930er Jahre hatte die Wiener Germanistik bereits 1000 Studierende) kam Nadler hingegen gut zurecht: Seine rhetorisch brillanten und auch von Gegnern bewunderten Hauptvorlesungen musste er – bis 1936 das Auditorium Maximum eröffnet wurde – zweimal hintereinander halten, um dem großen Andrang von Studierenden gerecht zu werden.36 Die 1930er Jahre brachten auch und vor allem eine Radikalisierung der politischen Verhältnisse an der Universität mit sich: Antisozialistische und antisemitische Übergriffe der ›Deutschen Studentenschaft‹ standen dabei ebenso auf der Tagesordnung wie Hetzkampagnen gegen jüdische Lehrende.37 Ein Großteil 33 Nadlers insgesamt vier Bände umfassende Literaturgeschichte erschien zunächst von 1912 bis 1932 in drei Auflagen; von 1938 bis 1941 unter dem veränderten Titel »Literaturgeschichte des deutschen Volkes« in einer vierten Auflage, wobei vor allem deren vierter und letzter Band den ideologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus explizit Rechnung trägt. 34 Zur wissenschaftlichen Ausrichtung der Germanistik in den 1930er Jahren und zur Konzeption von Nadlers Literaturgeschichte vgl. Meissl 1985: Wiener Neugermanistik; Ranzmaier 2008: Stamm und Landschaft. 35 Vgl. Meissl 1981: Germanistik in Österreich, 481. 36 Ebd., 482. 37 Ebd., 485 – 487; vgl. auch Zoitl 1992: Sozialdemokratische Studentenbewegung.
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der Professoren und akademischen Funktionäre begann seine Sympathien für den sich etablierenden Nationalsozialismus offen zu zeigen: Nadler beteiligte sich 1933 als einziger namhafter österreichischer Germanist an der (deutschen) Debatte über die nationalsozialistische Orientierung des Faches und verkündete, dass die Germanistik als »Wesenskunde der Volksgemeinschaft« aufzufassen sei, insofern die »Bedingungen des geistigen Lebens« nur durch die Konzentration auf »Rasse, Stamm und Boden« zu erschließen seien, er also »an das Mysterium von Blut und Boden« glaube.38 Der Altgermanist Rudolf Much, der mit seiner Familie ohnehin eine frühe Zelle des österreichischen Nationalsozialismus bildete, forcierte an der Universität seine Auslegung des älteren Faches als Germanenkunde und förderte systematisch Arbeiten, die – ungeachtet jahrhundertelanger Überlieferungslücken – eine bis in die Gegenwart ununterbrochene germanische Kontinuität behaupteten.39 Dieser klar deutschnationalen Gesinnung unter dem Wiener Institutspersonal entsprach auch, dass erzwungene Frühpensionierungen, die im Sommer 1934 mit der Lage der Staatsfinanzen begründet wurden, ausschließlich jüdische Wissenschaftler trafen: zum einen den außerordentlichen Professor für das ältere Fach Max Hermann Jellinek, zum anderen den neugermanistischen Titularprofessor Robert Franz Arnold.40 Der März 1938 wurde von den meisten Wiener Germanisten als Ziel ihrer politischen Wünsche begrüßt: Nadler sah als Großdeutscher den Lauf der österreichischen Geschichte erfüllt, der neugermanistische Privatdozent Hans Rupprich avancierte zum Fakultätsvertreter des NS-Dozentenbundes und die Altgermanisten Siegfried Gutenbrunner, Walter Steinhauser und Richard Wolfram entpuppten sich als illegale Nationalsozialisten.41 In den zwangsweisen Ruhestand versetzt wurde der Neugermanist Eduard Castle, Herausgeber der bis heute unentbehrlichen »Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte«, der den NS-Behörden »wegen politischer Unzuverlässigkeit und wegen seiner asozialen Einstellung und Charakteranlage«42 als untragbar erschien; der Entzug der Venia Legendi aus »rassischen« Gründen betraf den seit 1935 in London lebenden Privatdozenten Stefan Hock und den emeritierten Altgermanisten Max Hermann Jellinek.43 Von den Studierenden der Wiener Universität wurde fast ein Viertel exmatrikuliert.44 38 Nadler 1933: Deutsche Literaturwissenschaft, 308 f. 39 Vgl. Grabenweger 2014: Germanistik in Wien, 177 – 222; Engster 1986: Germanisten und Germanen. 40 Ranzmaier 2005, Germanistik an der Universität Wien, 20. 41 Ebd. 42 Urteil des Dozentenbundführers Arthur Marchet über Eduard Castle vom 26. Jänner 1939, zit. nach Meissl 1989: Ostmark-Germanistik, 136. 43 Meissl 1981: Germanistik in Österreich, 489 f. 44 Vgl. Posch et al. 2008: »Anschluß« und Ausschluss.
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Unter den verbliebenen Lehrenden der Wiener Germanistik wurde auf Kontinuität gesetzt. Nadler eröffnete seine erste Vorlesung nach der Schließung der Universität durch die Nationalsozialisten Ende April 1938 mit der demonstrativ akademischen Ankündigung, »er setze heute dort fort, wo er das letztemal aufgehört habe.«45 Habilitiert hat Nadler trotz einer großen Zahl an Dissertanten während seiner immerhin vierzehn Jahre dauernden Wiener Professur keinen einzigen Wissenschaftler. Dem ist zum Teil auch zuzuschreiben, dass zwischen 1938 und 1945 der Vormarsch des alten Faches, der bereits in den 1930er Jahren begonnen hatte, ungebrochen weiterging. Dabei taten sich zum einen die Schüler Rudolf Muchs – Siegfried Gutenbrunner und Richard Wolfram – hervor, die im Sinne ihres Lehrers eine rigorose und kompromisslose Germanenideologie vertraten, bei der es vor allem darum ging, die frühen Germanen nicht wie bisher als einen losen Verband friedlicher Bauern, sondern als eine – bis zur Gegenwart fortdauernde – klar strukturierte Organisation von »Männerbünden« zu präsentieren, die die »eigenste Begabung der nordischen Rasse« zur »staatenbildenden Kraft« bereits besessen habe.46 Gutenbrunner gehörte schon 1933 dem NS-Studentenbund an und seit Anfang des Jahres 1938 auch den illegalen NS-Hochschullehrern; 1941 wurde er an die Reichsuniversität Straßburg berufen.47 Wolfram, ab 1932 Mitglied der NSDAP, betätigte sich bereits in den 1930er Jahren konspirativ und publizistisch für die Etablierung des Nationalsozialismus in Österreich und erhielt 1939 den ersten, von den Nationalsozialisten eingerichteten Lehrstuhl für germanisch-deutsche Volkskunde in Wien.48 Wie die Germanenkundler vertraten in Wien auch die Mediävisten die Linie der Kontinuitätstheorie. Dietrich Kralik, seit 1934 Ordinarius für das ältere Fach, interpretierte in seinen umfassenden Forschungen zum Nibelungenlied dasselbe als »das poetische Symbol der aus germanischen Grundelementen geschaffenen deutschen Einheit«, mithin als Beweis für »das unentwegte Fortbestehen einer germanisch-deutschen Kontinuität«.49 Die ›Wiener Schule‹ der Dialektforschung, namentlich Anton Pfalz und Walter Steinhauser, stellte sich ebenfalls in den Dienst des Nationalsozialismus und scheute sich nicht, einzelne, regional fokussierte Forschungen als Arbeit am »gesamtdeutschen Kulturschatz« zu definieren.50 Pfalz engagierte sich darüber hinaus 1938 bei der »Arisierung des Lehrkörpers der philosoph. Fakultät«, wie er selbst zu Protokoll gab, und ver45 Meissl 1989: Ostmark-Germanistik, 135. 46 Höfler 1934: Geheimbünde, 357; vgl. die Diskussion dieser Auffassung bei See 1972: Kontinuitätstheorie. 47 Meissl 1989, Ostmark-Germanistik, 143. 48 Bockhorn 2010: Germanisch-deutsche Volkskunde. 49 Kralik 1941: Nibelungenlied, 190 f. 50 Meissl 1989, Ostmark-Germanistik, 141.
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fasste dafür denunzierende Gutachten über Kollegen.51 Steinhauser war seit Ende des Ersten Weltkriegs Mitglied in verschiedenen deutsch-völkischen Vereinen und bereits seit 1932 der NSDAP.52 – 1945 hätten laut Verbotsgesetz (mit Ausnahme des Altgermanisten Edmund Wießner) sämtliche Wiener Germanisten aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft entlassen werden müssen, dauerhaft enthoben wurde aber nur Josef Nadler.53 Zwischen 1945 und den 1960er Jahren machte die Wiener Germanistik in wissenschaftlicher Hinsicht kaum von sich reden. Mit Ausnahme der Berufung Oskar Bendas, der mit seiner Schrift »Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft«(1928) den bis in die 1960er Jahre einzigen Beitrag eines österreichischen Germanisten zur Methodendiskussion leistete, und der Wiedereinstellung Eduard Castles setzte man auf Kontinuität: Das ältere Fach vertrat weiterhin Dietrich Kralik, das neuere Hans Rupprich. Gemeinsam war diesen Wissenschaftlern, dass sie – mit Ausnahme Bendas – eine empirische bzw. philologische Literaturbetrachtung präferierten und tunlichst vermieden, die ideologische Dimension ihres Faches zu thematisieren.54 Als Vertreter der ›Wiener Schule‹ der Dialektologie wurde 1958 außerdem Eberhard Kranzmayer, der bereits während der Schuschnigg-Ära Nationalsozialist war, zurückgeholt. Kranzmayer hatte sich 1933 bei Rudolf Much über »Sprachschichten und Sprachbewegungen in den Ostalpen« habilitiert und von 1942 bis zu seiner Entlassung (aus politischen Gründen) 1945 ein Extraordinariat mit besonderem Auftrag für Mundartkunde und Grenzlandforschung an der Universität Graz bekleidet.55 Seine Arbeiten aus den Kriegsjahren sind geprägt von nationalsozialistischen Kolonialisierungs- und Entnationalisierungsideen; so sei das Slowenische keine eigene Sprache, sondern »völlig verwachsen mit deutschem Lehngut«, weshalb Bemühungen um eine eigenständige slowenische Verkehrs- und Schriftsprache nichts anderes seien als »überspannte[r] Chauvinismus«56 angesichts der »stärksten blut- und rassenmäßigen Durchdringung«57. Diese Auffassung hat Kranzmayer auch nach 1945 mit nur geringfügigen Änderungen aufrechterhalten.58 51 Fragebogen Anton Pfalz vom 8. Mai 1938, zit. nach Meissl 1989, Ostmark-Germanistik, 141. 52 Ebd. 53 Zur personalpolitischen Vorgehensweise nach 1945 vgl. Ranzmaier 2005: Germanistik an der Universität Wien, 157 – 176; Schmidt-Dengler 1996: Nadler und die Folgen; Meissl 1986: Fall Nadler. 54 Schmidt-Dengler 1996: Nadler und die Folgen; Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 223 – 225. 55 Vgl. Meissl 1989: Ostmark-Germanistik, 152. 56 Kranzmayer 1941: Zwölf Jahrhunderte, 68. 57 Kranzmayer 1944: Die deutschen Lehnwörter, 35. 58 Vgl. u. a. seinen 1960 in der rechtsnationalen Zeitschrift »Die Aula« veröffentlichten Artikel: Kranzmayer 1960: Kärntner Sprachgrenze.
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Für die erneute wissenschaftliche Attraktivität des Faches in Wien sorgte in den 1950er Jahren ausgerechnet die Berufung Otto Höflers, eines weiteren ehemaligen Privatdozenten aus der Schule Rudolf Muchs. Höfler hatte sich 1932 mit der germanophilen Arbeit »Kultische Geheimbünde der Germanen« habilitiert, machte im Nationalsozialismus relativ rasch Karriere als Ordinarius in Kiel und München sowie als Mitarbeiter der Wissenschaftsorganisation der SS ›Ahnenerbe‹. Nach seiner vorübergehenden Außerdienststellung 1945 erhielt er 1957 in Nachfolge von Dietrich Kralik den Lehrstuhl für das ältere Fach in Wien, wo er eine bis zur Jahrtausendwende dominierende Schule der Altgermanistik bildete.59 An der Neugermanistik vollzog sich jedoch – im Unterschied zur älteren deutschen Literaturwissenschaft und zur Sprachwissenschaft – ab den 1960er Jahren eine inhaltliche wie methodische Erweiterung und Neuorientierung. Nach einer kurzen Phase der Werkimmanenz60 übernahmen junge, politisch unbelastete Privatdozenten, die das »Höflerische Hochgebirge rechts liegen«61 ließen, die wissenschaftliche Ausdifferenzierung des Faches. Dadurch entwickelte sich langsam eine Öffnung der Wiener Germanistik hin zur Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur, mit Sozialgeschichte der Literatur, Ideologiekritik und Rezeptionsästhetik. Einen besonderen Stellenwert nahm ab den 1960er Jahren auch die spezifische Ausprägung einer eigenen Wissenschaft der österreichischen Literatur ein, woran nicht zuletzt Wendelin Schmidt-Dengler maßgeblich beteiligt war. Die Herausforderung bestand dabei darin, regional verortete Themen in einen überregionalen Fachdiskurs einzubinden und damit den Anschluss an übernationale Debatten zu gewährleisten.62 – In den anderen Teilbereichen des Faches, in Sprachwissenschaft und Altgermanistik, sollte diese Auseinandersetzung erst Jahrzehnte später beginnen.
Literaturverzeichnis Amann, Klaus / Wagner, Karl (Hg.): Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur (Wien/Köln/Weimar 1996). Benda, Oskar: Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage (Wien/Leipzig 1928). Bockhorn, Olaf: »Die Angelegenheit Dr. Wolfram, Wien« – Zur Besetzung der Professur für germanisch deutsche Volkskunde an der Universität Wien, in: Mitchell G. Ash, Wolf59 60 61 62
Schmidt-Dengler 1996: Nadler und die Folgen. Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 223 – 225. Schmidt-Dengler 1996: Nadler und die Folgen, 44. Michler et al. 2003: Germanistik in Österreich, 226 f.
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Gernot Heiss*
Zwischen Wissenschaft und Ideologieproduktion – Geschichte an der Universität Wien 1848 bis 1965
In der Entwicklung des Faches Geschichte an der Universität Wien zeigt sich der Zwiespalt, in dem dieses Fach mit seinen politisch engagierten und zugleich um wissenschaftliche Unparteilichkeit bemühten Fachvertreter(-innen)1 steht: Auf der einen Seite ging es um die Entwicklung zu einem Fach mit strengen Regeln, um überprüfbare Ergebnisse zu erreichen, auf der anderen um das Fach, aus dem die IdeologInnen des 19. und 20. Jahrhunderts den Staat legitimierten bzw. nationale Forderungen und Machtansprüche rechtfertigten. Zum wissenschaftlichen Fortschritt, zur Entwicklung der Fachinstitute und zu den politischideologischen Auseinandersetzungen um die Antworten, die aus der Geschichte für die Gegenwart zu ziehen seien, können im folgenden kurzen Text nur einzelne Beispiele gebracht werden, die diese Probleme bzw. die wissenschaftlichen Leistungen und Fortschritte charakterisieren. Die »vaterländische Geschichte« als ideologisches Argumentationsfeld zur Förderung des Staatsgedankens bekam im Habsburger Vielvölkerstaat eine vorrangige Bedeutung. Es galt, dem aufsteigenden Nationalismus ein Konzept entgegenzusetzen, das die Existenz des Vielvölkerstaates rechtfertigte und die Verbindung verschiedener Nationalitäten in einem Staat gegenüber den mehr oder weniger radikalen Befürwortern eines staatlichen oder zumindest kulturellen »Eigenlebens der Völker« als Ideal verteidigte. Der konservative Historiker Joseph Chmel formulierte 1855 seine Position gegen den Nationalismus und für den Vielvölkerstaat: »Die Stellung und die Aufgabe Österreichs […] ist die zu erreichende Verbindung verschiedener Nationalitäten zu einem harmonischen Ganzen […], zu zeigen, daß Humanität großartiger ist als Nationalität.«2 Wie Franz Grillparzer, der nach der Revolution 1849 schrieb, der »Weg der neuern Bildung geht von Humanität, durch Natio* Institut für Geschichte der Universität Wien. 1 Bis in die 1930er Jahre gab es keine, bis in die 1960er Jahre kaum eine Dozentin der Geschichte an der Universität Wien. Deshalb wird im Text bewusst meistens nur von »Historikern« gesprochen. 2 Lhotsky 1958: Joseph Chmel, 337.
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nalität, zur Bestialität«3, war Chmel überzeugt, dass von der neuen Ideologie des Nationalismus nicht nur der Habsburgermonarchie, sondern der Menschheit eine große Gefahr drohe. Die Geschichte, aus der die Nationalisten ihre Argumente holten, um ihre Forderungen zu bekräftigen, sollte auch von deren Gegnern zur Legitimation des Vielvölkerstaates herangezogen werden. Für Leo Graf Thun-Hohenstein, der nach dem Sieg des Neoabsolutismus über die Revolution von 1848 als Minister für »Cultus und Unterricht« große Reformen im Unterrichtswesen der Habsburgermonarchie durchsetzte, war 1851 die Einrichtung einer Professur für österreichische Geschichte in Wien eine der »für die Gestaltung des Unterrichtswesens in Österreich wichtigsten und dringlichsten Aufgaben der Gegenwart«; es gelte, »endlich eine Schule österreichischer Geschichtsforscher zu gründen, deren Einfluss auf die Entwicklung vaterländischer Gesinnung ebenso wichtig wie der Wissenschaft förderlich werden kann.«4 Mit dieser doppelten Zielsetzung wurden nun an mehreren Universitäten der Monarchie eigene Professuren für österreichische Geschichte eingerichtet, die bisher der einzige Professor für Geschichte, jener für Welt- bzw. Universalgeschichte, nur als »eine Nebenverbindlichkeit«5 zu lehren gehabt hatte. Dieser institutionellen Ausweitung entsprach die institutionelle Verselbständigung des Faches Geschichte aus dem 1849 eingerichteten Philologischen Seminar bzw. ab 1850 Philologisch-Historischen Seminar, zum 1872 eingerichteten Historischen Seminar (heute Institut für Geschichte). Als »Schule österreichischer Geschichtsforscher« mit »Einfluß auf die Entwicklung vaterländischer Gesinnung«, die Leo Graf Thun-Hohenstein 1851 gefordert hatte, wurde 1854 das Institut für österreichische Geschichtsforschung unter der Leitung des Benediktiners Albert Jäger als »eine mit der Universität verbundene, unter dem unmittelbaren Schutz und der obersten Leitung des Unterrichtsministeriums stehende Anstalt«6 eingerichtet. »Zweck« der Schule sei »die Heranbildung junger Männer zur tieferen Erforschung der österreichischen Geschichte durch Anleitung zum Verständnis und zur Benutzung der Quellen«, sie »bekannt zu machen […] mit den archivalischen und bibliothekarischen Quellen und mit den notwendigen Hilfswissenschaften zum Verständnis derselben und […] mit den Grundsätzen und Methoden der wissenschaftlichen Geschichtsforschung«.7 Durch den zweiten Direktor des Instituts Theodor Sickel wurde das Institut zu einer hoch spezialisierten Mittelalter-Forschungsstätte, mit methodisch auch 3 4 5 6 7
Grillparzer 1960: Gedichte – Epigramme – Dramen I, 500. Zit. nach Kernbauer 1997: Konzeptionen, 261. Helfert 1853: Über Nationalgeschichte, 31. Lhotsky 1954: Geschichte des Instituts, 29, zit. die provisorischen Statuten von 1853/1854. Ebd.
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im internationalen Rahmen anerkannten Leistungen in den historischen Hilfswissenschaften, insbesondere in der Diplomatik (Urkundenlehre). Dem Institut kam dauerhaft ein wichtiger Platz in der Arbeit am großen deutschen Editionswerk der bereits 1819 gegründeten »Monumenta Germaniae Historica« zu, nachdem Sickel 1875 zum Leiter der Diplomata-Abteilung bestellt worden war.8 Bis zum Tod Heinrich Appelts 1998, der die Urkunden Kaiser Friedrichs I. herausgab und noch die Edition der Urkunden Kaiser Heinrichs VI. vorbereitete, gab es durchgehend eine Arbeitsgruppe dieser Abteilung in Wien. Die Geschichtswissenschaft an der Universität Wien hatte den im Vormärz verlorenen Anschluss an die deutschsprachige Wissenschaft wieder gefunden. Zum staatspolitischen Auftrag an das Institut für österreichische Geschichtsforschung, der 1854 bei der Gründung wohl erstgereiht gewesen und auch an die HistorikerInnen der Universität insgesamt gerichtet war, hatte 1853 der Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium Joseph Alexander von Helfert eine programmatische Schrift »Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege« publiziert. In dieser spricht er von »Groß-Österreich [als] eine providentielle Notwendigkeit […] im Interesse, zum Heil und Gedeihen jedes einzelnen der verschiedenen Bestandteile, aus denen es im Laufe der Zeiten zu einem mächtigen Gesamtorganismus zusammenwuchs.«9 Die patriotische Gesinnung, die die Politik von den neuen Historikern erwartete, hatte jedoch einige Bruchstellen: Ebenso wie ein großer Teil der intellektuellen Jugend der Monarchie hatten die jungen Historiker im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach dem Ausscheiden der Habsburgermonarchie aus dem Deutschen Bund 1866 und nach dem Ungarischen Ausgleich 1867 das Interesse am Gesamtstaat verloren. Der Historiker August Fournier, von dem unter anderem eine mehrfach aufgelegte, dreibändige Biographie Napoleons I. stammt, meint dazu in seinen Memoiren, »daß das alte österreichische Staatsgefühl, das sich an den Kaiserstaat als Ganzes geheftet hatte, durch die Zweiteilung der Monarchie an Boden verlor […], daß junge Männer an dem heimischen Staate fast allen Anteil verloren, der ihnen freilich durch seine Niederlagen, durch das zehnjährige absolutistische Regime […] verleidet worden war«10. Auch ihre Lehrer, die in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Darstellungen der Geschichte Österreichs publizierten, waren sich in ihrem Bild von der Gesamtmonarchie nicht einig. Das »Organische« des Vielvölkerstaates, das die Befürworter wie Helfert im »Zusammenwachsen« so sehr betonten, wurde nicht von allen Autoren gesehen. Selbst der zweifellos staatstreue Tiroler Historiker Alfons Huber, seit 1887 Professor in Wien, der das über sieben 8 Lhotsky 1954: Geschichte des Instituts, 126 f. 9 Helfert 1853: Über Nationalgeschichte, 54. 10 Lhotsky 1954: Geschichte des Instituts, 117, zit. Fournier 1923: Erinnerungen, 72 f.
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Jahrzehnte gültige Standardwerk zur Österreichischen Geschichte bis zum Westfälischen Frieden schrieb, meinte in seiner »Vorrede« zum ersten Band: »Die meisten Reiche […] tragen den Charakter von natürlichen Gebilden an sich, sind dadurch entstanden, daß eine kräftige Nation im Kampf um das Dasein ihre Existenz behauptet hat. Österreich dagegen ist ein künstlicher Bau«11. Das Habsburgerreich war auch für ihn ein »mechanisch«, vor allem durch Erbverträge entstandenes Gebilde; auch für ihn waren die Begriffe von natürlichem Leben und natürlicher Entwicklung nur in der Beschreibung ethnisch verstandener Nationen zu verwenden, die über die Muttersprache definiert wurden, für »Völker«, denen seit der Romantik ein lebendiger Organismus mit Körperlichkeit, Leben, Wachstum und Absterben zugeschrieben wurde. Nichtsdestoweniger schrieben die Historiker beider Auffassungen Gesamtstaatsgeschichten als staatspatriotische Meistererzählung, in der die Geschichte der drei Hauptländer des Reiches – die Königreiche Böhmen und Ungarn sowie die »österreichischen Erbländer«– bis 1526 voneinander getrennt und gleichwertig, nach ihrer »Vereinigung« gemeinsam beschrieben wurde. Sowohl in den Gesamtdarstellungen der deutschsprachigen Vertreter eines »organischen« wie eines »mechanischen« Zustandekommens des Vielvölkerstaates wird dennoch häufig die nationale Position der Autoren deutlich, indem sie eine Kultur bringende Rolle, eine Kulturmission der deutsch(sprachig)en Bevölkerung betonten und damit die Dominanz der deutsch(sprachig)en Bewohner des Habsburgerstaates in Geschichte und Gegenwart rechtfertigten. Die politische und kulturelle Entwicklung ging für sie von den deutschsprachigen »Erbländern« (mit Rückhalt im römisch-deutschen Kaisertum) aus. Die deutschsprachigen österreichischen Historiker vertraten die Gesamtstaatsidee unter der Prämisse der Vorherrschaft der »Deutsch-Österreicher«, legitimiert mit der Behauptung einer »historischen Mission« der Einigung und »Kultivierung« dieses Raumes. Im Ersten Weltkrieg, im Bündnis mit ihren »Brüdern« im Deutschen Reich, vertraten sie die Ideen und Konzepte eines deutsch dominierten und organisierten Mitteleuropa als »Friedensordnung«. Es waren diese politischen Visionen, deren Scheitern sie ebenso wenig akzeptierten, wie die »Friedensdiktate« von Versailles und Saint Germain – diese politischen Visionen bestimmten ihre politische Haltung bis 1945. Sie nahmen in Publikationen und in politischen Vereinen wie dem »Deutschen Klub«12 am Kampf gegen das Anschlussverbot teil und publizierten als »Weißbuch« gegen die Zuweisung der Kriegsschuld an die Mittelmächte die mehrbändige Quellenedition zu Österreich-Ungarns Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg.13 11 Huber 1885: Geschichte Österreichs, Bd. 1/V – VI. 12 Vgl. Scheutz 2008: Wilhelm Bauer, 275. 13 Österreich-Ungarns Außenpolitik 1930; vgl. Bittner 1936: Verantwortlichkeit Österreich-
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Es gab in Wien kaum Gegenpositionen. Eine vertrat der »ewige Privatdozent« Ludo Moritz Hartmann, ein Außenseiter durch seine »materialistische, evolutionistische und soziologische«14, nach Gesetzmäßigkeiten in der historischen Entwicklung suchende, Geschichtsauffassung im universitären Umfeld, das vom Rankeschen Historismus geprägt war, und als Parteigänger der Sozialdemokratie. Er wies der nationalen Grenze (und damit war die Sprachgrenze gemeint) lange Dauer und jene Stabilität zu, wodurch sie sich »vor allem zur staatlichen Grenze« eignen würde, als »Grundlage für eine höhere politische Organisation der Welt«.15 Er begrüßte – im Gegensatz zu den meisten der anderen Universitätshistorikern – aufgrund dieser Einstellung die Auflösung des Vielvölkerstaates als Voraussetzung für einen Zusammenschluss der deutschsprachigen Teile der Monarchie mit der Deutschen Republik; letzteres vertrat er aktiv im Auftrag der (deutsch-)österreichischen Regierung von 1918 bis 1920 als Botschafter in Berlin. Auch in der Zwischenkriegszeit blieb die Arbeit an Quelleneditionen ein Arbeitsschwerpunkte der Wiener HistorikerInnen: Die Mitarbeit an der Edition von Kaiserdiplomen im Rahmen der »Monumenta Germaniae Historica« wurde fortgesetzt; Alfred Francis Pribram, der gegenüber Geschichtsdarstellungen äußerst skeptisch war, weil für ihn die subjektive Sicht des Autors/der Autorin die Darstellung zu stark beeinflusste und der schon vor dem Krieg Quellen aus der frühen Neuzeit ediert hatte (Österreich-Ungarns Staatsverträge mit England 1526 bis 1847), gab in der Zwischenkriegszeit Österreich-Ungarns Geheimverträge vor dem Ersten Weltkrieg heraus und (gemeinsam mit Rudolf Geyer) die beispielhafte Publikation zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte »Materialien zur Geschichte der Preise und Löhne in Österreich«; davon konnte nur der 1. Band und dieser erst 1938 erscheinen, kurz bevor Pribram 80-jährig emigrieren musste, um der rassistischen Politik der Nationalsozialisten zu entkommen. Von den Quellenpublikationen soll noch Wilhelm Bauers Edition der Familienkorrespondenz Ferdinands I. als vorbildliche Briefedition erwähnt werden. Bauers Edition geht bis 153016 und wurde nach 1945 durch Herwig Wolfram und die Archivarin Christiane Thomas fortgeführt. Im Umkreis dieser Arbeit und aufgrund der Berufung von Heinrich Lutz 1966, der auch die Mitarbeit an der Edition der Deutschen Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. – einem großen Projekt der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften – nach Wien brachte, entstand in den 1960er und 1970er Ungarns, passim; vgl. Engel-Janosi 1977/1978: Zur Geschichte des österreichischen Aktenwerkes, passim. 14 Fellner 1985: Ludo Moritz Hartmann, 168. 15 Hartmann 1923: Die nationale Grenze vom soziologischen Standpunkte, 190. 16 Bauer 1912: Korrespondenz Ferdinands I. bis 1926; Bauer/Lacroix 1937/1938: Korrespondenz Ferdinands I. 1527 – 1530.
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Jahren an der Universität Wien ein bis heute äußerst fruchtbarer Schwerpunkt in der Frühneuzeitforschung. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden im Zuge der allgemeinen Spezialisierung im Fach Geschichte für den Bereich der alten Geschichte bereits 1876 das Archäologisch-Epigraphische Seminar und 1907 das Seminar für Osteuropäische Geschichte;17 letzteres, eingerichtet mit dem Spezialisten des südosteuropäischen Mittelalters Constantin Jiracˇek, wurde nach dessen Tod von Hans Uebersberger, der nicht nur als Historiker, sondern auch als Diplomat als Russlandspezialist galt, sowohl als Institutsdirektor als auch als einem wichtigen Glied in den deutschnationalen Netzwerken unter den Wiener Professoren geprägt – bis er als Nationalsozialist 1934 von der Dollfuß-Regierung entlassen wurde und einen Ruf im nationalsozialistischen Deutschland annahm. Nun, in der Zwischenkriegzeit, kam es 1922 zur Gründung des Instituts für Wirtschaftsund Kulturgeschichte (heute: Wirtschafts- und Sozialgeschichte) durch den Verfassungs- und Kulturhistoriker des europäischen Mittelalters Alphons Dopsch. Sein zweibändiges Werk »Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen« erschien in der Erstauflage 1918 sowie 1920 und bestimmte nachhaltig seinen internationalen Ruf. So hatte er gute Kontakte zu den Herausgebern der legendären französischen Zeitschrift »Annales d’histoire ¦conomique et sociale« (heute »Annales. Histoire. Sciences sociales«). Im Bereich der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte kam es in den 1920er Jahren zu einer für diese Jahre charakteristischen Polemik. Die nun kritisierten Verfassungs- und Rechtshistoriker der »älteren Schule«– zu ihnen zählte auch Dopsch – hatten vor dem Krieg argumentiert, das babenbergisch-habsburgische Österreich habe seit dem Privilegium minus von 1156 mit seinen umfangreichen Privilegien für den Herzog von Österreich eine rechtliche Sonderentwicklung genommen. Diese These entsprach freilich nicht mehr der Anschluss-Ideologie der HistorikerInnen der nächsten Generation. Eine Gruppe der Landeshistoriker argumentierte gegen diese These und »bewies« – durchaus mit guter Quellenkenntnis – dass die Verfassungsentwicklung des Herzogtums Österreich keineswegs von jener in den deutschen Ländern abwich.18 Für sie war Österreich immer – politisch, rechtlich und kulturell – ein deutsches Land, ein Teil Deutschlands. Die Wiener Historiker fühlten sich in der Zwischenkriegszeit zu nationalpolitischem Engagement berufen und verpflichtet; so wies Heinrich von Srbik dem Historiker/der Historikerin ein doppeltes, »ein wissenschaftliches und ein
17 Leitsch/Stoy 1983: Seminar für osteuropäische Geschichte, 77 – 90. 18 Vgl. Hageneder 1987: Landbegriff bei Otto Brunner, 154 – 162.
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nationalpolitisches […] Ziel«19 zu. Sie argumentierten für eine Zugehörigkeit Österreichs zu Deutschland in Geschichte und Gegenwart und – was politisch besonders bedeutsam wurde – mit den aus der nationalen Historiographie seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Argumenten für eine Vormachtstellung Deutschlands bzw. der Deutschen als des »führendsten«20 Volkes in Mitteleuropa, dem die »historische Aufgabe« der Durchsetzung einer »Friedensordnung« in diesem Raum zugedacht sei. In diesem Sinne war für den renommierten Mediaevisten Hans Hirsch das Kaisertum von Otto I. bis zum Ende der Staufer romantisierend eine »ideale universale Ordnungsstruktur, deren reale politische Umsetzung den Charakter eines Friedensreichs angenommen hätte« sowie Grundlage und Vorbild für das Reich der politischen Konzepte der Gegenwart sei.21 Für Otto Brunner, dem rückblickend mit seinen Büchern zur Verfassungsund Rechtsgeschichte des Spätmittelalters und zur Kultur- und Sozialgeschichte des Landadels im 17. Jahrhundert wohl interessantesten unter den deutschnational engagierten HistorikerInnen, war das babenbergisch-habsburgische Österreich ohne Rückhalt im Reich nicht »lebensfähig« – was für ihn mit der gegenwärtigen Situation des »nicht lebensfähigen« Kleinstaates übereinstimmte. Auch wäre für ihn Österreich nicht ohne Rückhalt im Reich in der Lage gewesen, »im ›Donauraum‹ gestaltend eingreifen«22 zu können. Diese »gestaltende« Expansion der habsburgischen Herrschaft war historisch die politische und kulturelle Aufgabe bzw. »Sendung«23 Österreichs und der (Deutsch-) Österreicher im »Südosten des Reiches«– eine Aufgabe, die auch in der Gegenwart als Teil der Durchsetzung eines deutsch geführten Mitteleuropa zu erfüllen war : »Für die nichtdeutschen Völker Mitteleuropas« sei, so Otto Brunner schon 1930, »eine friedliche, dauernde Ordnung ihrer gegenseitigen Beziehungen« durch die Deutschen notwendig, weil nur diese Ordnung ihnen »die Möglichkeit einer Entfaltung ihrer politischen und kulturellen Individualitäten schaffen« könne.24 Im Zentrum der Öffentlichkeit aufgrund seiner Tätigkeit als Unterrichtsminister 1929/30 sowie seiner Publikationstätigkeit in Zeitungen und fachfremden politischen Zeitschriften stand in der Zwischenkriegszeit Heinrich von Srbik. Mit seinem Buch über Metternich25 fand er bis heute internationale Anerken19 20 21 22 23
Srbik 1930: Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung, 4. Srbik 1937: Mitteleuropa, 38. Ausführlich dazu: Zajic 2008: Hirsch, 363 – 382. Brunner 1936: Österreich, das Reich und der Osten im späten Mittelalter, 63 bzw. 86. Vgl. den programmatischen Titel des Sammelbandes, hg. v. Nadler/Srbik 1936: Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum. 24 Brunner 1930: Die geschichtliche Funktion des alten Österreich, 1. 25 Srbik 1925: Metternich – der Staatsmann und der Mensch.
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nung unter Fachleuten. In der Folge wandte er sich Themen zu, in denen seine »gesamtdeutsche Geschichtsauffassung« zur Geltung kam. So publizierte er 1935 bis 1942 vier Bände unter dem Titel »Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz«. Gemeinsam mit dem gefeierten Germanisten und Literaturwissenschaftler Josef Nadler gab er 1936 den Sammelband mit dem programmatischen Titel »Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum« heraus. Srbik war – und das entsprach dieser von den Wiener HistorikerInnen hauptsächlich und mit großem Engagement vertretenen Geschichtsauffassung – Propagandist einer deutschen (politischen und kulturellen) Führungsrolle in Mitteleuropa, die er historisch aus der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches und der Habsburger Monarchie begründete. 1945 wurden in den Fachbereichen der Geschichte des Mittelalters, der Neuzeit und Österreichs – auf den in diesen kurzen Ausführungen der Schwerpunkt liegt – drei von vier Ordinarien in den vorzeitigen Ruhestand versetzt: Heinrich von Srbik und Wilhelm Bauer kurz vor ihrer Emeritierung, Otto Brunner mit 47 Jahren. Die Entlassungen im Rahmen der – in diesem ideologischen Fach strenger als etwa in den naturwissenschaftlichen Fächern gehandhabten – »Entnazifizierung« betrafen auch viele Dozenten und Assistenten; in den Instituten für alte Geschichte und für osteuropäische Geschichte war es ähnlich.26 Die HistorikerInnen waren in der Zwischenkriegszeit so deutschnational gesinnt gewesen, dass sie in ihrer Mehrheit auch den »Anschluss« an Hitler-Deutschland und den Nationalsozialismus begeistert begrüßt hatten. Ihre »gesamtdeutsche Geschichtsauffassung« machte sie zu völkischen, mehrfach auch rassistischen Befürwortern der imperialistischen Politik des nationalsozialistischen Deutschen Reiches in Mitteleuropa. Sie verstanden sich freilich nach 1945 auch als immer schon patriotische Österreicher, da sie der kaiserlichen und habsburgischen Politik als Ordnungs- und Friedenspolitik eine deutsche historische »Sendung« zuschrieben und sowohl das Heilige Römische Reich (Deutscher Nation) und das Kaisertum Österreich ins Zentrum ihrer Staats- und Nationalgeschichte rückten und die Großmachtpolitik der Habsburger sowie die Durchsetzung von – deutsch-dominierter – Zentralstaatlichkeit als Notwendigkeit bzw. als Erfüllung von historischen Aufgabe positiv beurteilten.27 Als unbelastet galt der Ordinarius für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften Leo Santifaller, der 1945 geschäftsführender Direktor des Historischen Seminars, Direktor des Instituts für österreichische Geschichtsforschung und des Österreichischen Staatsarchivs wurde. Auf den politisch unbelasteten Dozenten für neuere Geschichte Paul Müller fiel die schwere 26 Heiss 2005: Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive?, 189 – 196. 27 Ebd., 195 f.
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Last der Verwaltungsarbeit am Historischen Seminar und durch die Entlassung bzw. Suspendierung so vieler Dozenten ein großer Teil des Lehrbetriebs. Die Dozentin für Geschichte des Mittelalters und für Wirtschaftsgeschichte Erna Patzelt galt ebenfalls trotz ihres Ansuchens um Aufnahme in die NSDAP 1938 als unbelastet, nachdem sie 1941 nachweislich die Annahme der Mitgliedschaft abgelehnt hatte. Einzelne politisch unbelastete Historiker kamen aus dem Kunsthistorischen Museum28 und aus der Emigration.29 Hugo Hantsch, der 1938 als Parteigänger des Ständestaates in Graz verhaftet und entlassen worden war, wurde 1946 als Nachfolger von Srbik berufen. In den nächsten Jahren erfolgten mehrere Habilitationen, sodass ab 1948 wieder ein geregelter Lehrbetrieb geführt werden konnte.30 Welche wissenschaftlichen und ideologischen Veränderungen brachte der personelle Wandel 1945 und welche Kontinuitäten sind festzustellen? Alte Perspektiven in der Interpretation der mitteleuropäischen Geschichte wurden, wenn auch mit deutlichen Anpassungen an die neue Zeit, beibehalten. So feierte Leo Santifaller 1962 in einer groß angelegten »Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen« (der einzigen Gedenkfeier aus diesem Anlass in Europa) das Ottonische Imperium als »ein staatlich-politisches und kulturelles Gebilde von europäischen Ausmaßen und von europäischer Bedeutung«, das der Versuch einer europäischen Einigung als Friedenslösung gewesen sei und dabei auf Gerechtigkeit und Güte aufgebaut habe – im Gegensatz zu den kurzlebigen Versuchen Napoleons und Hitlers, deren Fundament Grauen und Verrat, Furcht und Schrecken bildeten.31 Eine Gegenposition zur glorifizierenden Sicht der Politik und der Personen der mittelalterlichen Kaiser von Karl dem Großen bis zu den Staufern, die vordem deutschnational und nun europäisch gefärbt war, nahm Heinrich Fichtenau in seinem 1949 erschienenen Buch »Das karolingische Imperium« ein. Für Fichtenau galt es, »noch die letzte Schicht von jenem Karlsmythos abzuheben, an dem Jahrhunderte bauten, in zeitloses Heroentum verwandelnd, was doch Ausdruck höchst lebendiger und greifbarer Menschlichkeit war«32. Fichtenau wollte den Mythos von der »Herrlichkeit des Karlsreiches« brechen33 und sah sich in Gegenposition sowohl zur europäischen Wende nach 1945 wie zur vordem in der Historiographie dominierenden nationalistischen Perspektive: 28 August O. Loehr bekam 1945 seine Honorarprofessur wieder zuerkannt und Alphons Lhotsky wurde 1946 als Professor für österreichische Geschichte berufen. 29 Heinrich Benedikt kam 1946 aus England, Friedrich Engel-Janosi aus den USA vorerst nur für eine Gastprofessur im SS 1949 und ab 1959 auf Dauer. 30 Heiss 2005: Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive?, 199 f. 31 Santifaller 1962: Otto I., das Imperium und Europa, 19 bzw. 29. 32 Fichtenau 1949: Das karolingische Imperium, 35. 33 Ebd., 7.
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»Die Frage Karl der Große oder Charlemagne war obsolet geworden, man sprach von ›seinem‹ Europa, das wieder aufgerichtet werden sollte – in diesem Nebel zwischen Nationalismus und übernationalen Träumen sollte eine Darstellung ernüchternd wirken, die auf liebgewordene Vorstellungen keine Rücksicht nahm.«34 Fichtenaus Interesse galt mentalitäts-, sozial-, kultur- und – auf die Eliten bezogen in heutiger Begrifflichkeit – alltagsgeschichtlichen Fragen; bereits in den 1940er Jahren galt sein Interesse der Dauer und dem Wandel menschlichen Verhaltens und dieses fand in seinen zwei Bänden zu »Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts« seinen brillanten Ausdruck.35 Am Institut für österreichische Geschichtsforschung wurden der hilfswissenschaftliche und der Mittelalterschwerpunkt wie auch die prominente Mitarbeit an den Editionsprojekten der »Monumenta Germaniae Historica« beibehalten; die regionalen, nach 1945 nicht mehr »südostdeutschen«, sondern wieder »österreichischen« Editionsprojekte der Babenbergerurkunden, der Urkunden des Burgenlandes und der Wiener Universitätsmatrikel wurden fortgesetzt. Alphons Lhotsky verkörperte mit dem Schwerpunkt seiner Arbeit auf der Quellenkunde und der Historiographie des babenbergisch-habsburgischen Österreich des Mittelalters ebenfalls diese regionale Konzentration. Aus dieser regionalen Einschränkung ergab sich schließlich Lhotskys Gegenposition zu Hugo Hantsch, der in der Kontinuität der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung mit einer Wendung von »deutsch« zu »europäisch« stand. In seiner Wiener Antrittsvorlesung zur »Krise der Geschichtsauffassung« von 194736 meinte Hantsch: Aus dem »engen Bereich« der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung weise »uns die Geschichte selbst in den größeren Raum einer europäischen und universalen historischen Zusammenschau«. Es könne an »die Stelle gesamtdeutscher Geschichtsauffassung […] nichts Kleineres, sondern nur etwas Größeres treten«. Aus der »großen« Geschichte Österreichs sei das richtige »Verständnis einer Menschheitskultur« zu gewinnen, »die wir Europa nennen.« Den Modellcharakter der Habsburgermonarchie für Europa betonte Hantsch schließlich in den 1950er Jahren in einer Initiative, die zum großen Akademie-Projekt der Geschichte der Habsburgermonarchie 1848 – 1918 führte. Im Gegensatz zur Hochschätzung für die Großmachtstellung der Habsburgermonarchie in der Geschichte durch Hantsch und zu seinem Blick in die »größeren Räume« stand die von der kleinräumigen Republik Österreich ausgehende Perspektive von Alphons Lhotsky. Die Republik in den Grenzen von 1945 wurde nun zum Ausgangspunkt der Darstellung und die Erforschung des mittelalterlichen Staatsbildungsprozesses aus dieser Perspektive sowohl zur 34 Fichtenau 1990: Heinrich Fichtenau, 51. 35 Fichtenau 1984: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. 36 Hantsch 1948: Krise der Geschichtsauffassung.
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wissenschaftlichen Aufgabe als auch zum Dienst am Staate im Rahmen der staatsbürgerlichen Erziehung. Lhotsky beschrieb den Entschluss der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von 1959, das Standardwerk von Alfons Huber zur Geschichte Österreichs als eine Geschichte für die Republik erneuern zu lassen: »Hatte man 1918 […] versäumt, das Geschichtsbild zu revidieren und auf die junge Republik abzustimmen, so durfte dieser Fehler nach 1945 nicht nochmals begangen werden.«37 Bereits in einem Vortrag 1949 hatte Lhotsky für die Behandlung der österreichischen Geschichte in der Neuzeit vorgeschlagen, sich auf die Geschichte der Länder der Republik und ihrer Bewohner zu konzentrieren, und überhaupt die »Geschichte der Dynastie von der des Landes bzw. der Länder« zu trennen. Mit diesem Fokus auf den heutigen Staat würde »allmählich manches schiefe Urteil des Auslandes über Österreichs Land und Bewohner«, das aus der Gleichsetzung der österreichischen Geschichte mit der der Habsburger entstanden war, »zurechtgerückt und damit auch unserer Heimat ein wesentlicher Dienst erwiesen«.38 Dieser Ansatz hat sich mit dem Handbuch zur Geschichte Österreichs von Erich Zöllner durchgesetzt, das seit 1961 mehrfach aufgelegt wurde. Ab den 1960er Jahren, deren Mitte als Endpunkt dieser Skizze gewählt wurde, kam es zu vielen zusätzlichen Forschungs- und Lehrbereichen. Abgesehen von der internationalen Entwicklung im Fach Geschichte, die auch in Wien dazu beitrug, war wohl die Vermehrung des wissenschaftlichen Personals in den 1970er Jahren durch die starke Zunahme der Studierendenzahl eine weitere Ursache für diese Erweiterung. Familienforschung, Frauen-, Geschlechter-, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte, Geschichte der Menschenrechte, kritische Bearbeitung der Geschichte der Universität im 20. Jahrhundert, die visuellen Medien als historische Quellen, außereuropäische Geschichte, Geschichte Lateinamerikas und Globalgeschichte – um nur einige der neuen Bereiche zu erwähnen – wurden und werden mit internationalen Vernetzungen beforscht und gelehrt. Die Zeitgeschichte wurde zwar in den »langen Fünfzigerjahren« des Verschweigens von den Wiener HistorikerInnen nicht völlig ausgeblendet – so gab Heinrich Benedikt 1954 das Standardwerk zur Republik39 heraus – zur Gründung eines eigenen Instituts für Zeitgeschichte kam es jedoch erst Mitte der 1960er Jahre. Obwohl das ideologische Engagement zu wissenschaftlich problematischen Publikationen führte, verlief die wissenschaftliche Arbeit kontinuierlich über die politisch turbulenten Zeiten. Die ideologisch gefärbten Publikationen sind 37 Lhotsky 1967: Geschichte Österreichs, 5. 38 Lhotsky 1972: Der Stand der österreichischen Geschichtsforschung und ihre nächsten Ziele, 92. 39 Benedikt 1954: Geschichte der Republik Österreich.
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wiederum Quellen zu ideologiekritischen Untersuchungen, lehrreich für HistorikerInnen in der Reflexion des eigenen Faches und für NichthistorikerInnen zur Reflexion über die Konstruktion des eigenen Geschichtsverständnisses. Die politischen Brüche zeigten sich im Fach Geschichte besonders deutlich und die HistorikerInnen spielten als die ausgewiesenen Fachgelehrten eine wichtige Rolle für das Geschichtsbild der Gesellschaft; dass sie dabei meistens, oder zumindest oft, auf der Seite der Mächtigen und des »Zeitgeistes« standen – vor 1945 auch wenn dieser »Zeitgeist« einer der Intoleranz und Unterdrückung war – ist nicht zu leugnen.
Literaturverzeichnis Bauer, Wilhelm (Bearb.): Die Korrespondenz Ferdinands I., Familienkorrespondenz [1514] bis 1926 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 11, Wien 1912). Bauer, Wilhelm / Lacroix, Robert (Bearb.): Die Korrespondenz Ferdinands I., Familienkorrespondenz, 1527 – 1530, 2 Bde. (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 30 und 31, Wien 1937/1938). Benedikt, Heinrich (Hg.): Geschichte der Republik Österreich (Wien 1954). Bittner, Ludwig: Die Verantwortlichkeit Österreich-Ungarns für den Ausbruch des Weltkrieges, in: Josef Nadler und Heinrich von Srbik (Hg.), Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum (Salzburg/Leipzig 1936) 185 – 206. Brunner, Otto: Die geschichtliche Funktion des alten Österreich, in: Friedrich F. G. Kleinwächter und Heinz von Paller (Hg.), Die Anschlußfrage in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung (Wien/Leipzig 1930) 1 – 11. Brunner, Otto: Österreich, das Reich und der Osten im späten Mittelalter, in: Josef Nadler und Heinrich von Srbik (Hg.), Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum (Salzburg/Leipzig 1936) 61 – 86. Engel-Janosi, Friedrich: Zur Geschichte des österreichischen Aktenwerkes über den Ursprung des Ersten Weltkriegs, in: Zeitgeschichte 5 (1977/1978) 39 – 52. Fellner, Günter : Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konfliktes (Wien/ Salzburg 1985). Fichtenau, Heinrich: Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreiches (Zürich/Wien 1949). Fichtenau, Heinrich: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde. (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30/1 – 2, Stuttgart 1984). Fichtenau, Heinrich: Heinrich Fichtenau, in: Hermann Baltl, Nikolaus Grass und Hans Constantin Faußner (Hg.), Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben (Sigmaringen 1990) 43 – 57. Fournier, August: Erinnerungen (München 1923). Grillparzer, Franz: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, Bd. 1: Ge-
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dichte – Epigramme – Dramen I, hg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher (München 1960). Hageneder, Othmar : Der Landbegriff bei Otto Brunner, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento – Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 13 (Bologna 1987) 153 – 178. Hantsch, Hugo: Die Krise der Geschichtsauffassung, in: Wissenschaft und Weltbild. Vierteljahresschrift für alle Gebiete der Forschung 1 (1948) 50 – 61. Hartmann, Ludo Moritz: Die nationale Grenze vom soziologischen Standpunkte, in: Melchior Palyi (Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 1 (München/Leipzig 1923) 179 – 190. Heiss, Gernot: Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte, sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945 – 1955, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss und Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Innsbruck/ Wien/München/Bozen 2005) 189 – 210. Helfert, Joseph Alexander von: Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege (Prag 1853). Huber, Alfons: Geschichte Österreichs, Bd. 5 (= Geschichte der europäischen Staaten, Gotha 1885 – 1896). Kernbauer, Alois: Konzeptionen der Österreich-Geschichtsschreibung 1848 – 1938, in: Herwig Ebner, Paul W. Roth und Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Forschungen zur Geschichte des Alpen-Adria-Raumes. Festgabe für em. o. Univ.-Prof. Dr. Othmar Pickl zum 70. Geburtstag (Graz 1997) 255 – 273. Leitsch, Walter / Stoy, Manfred: Das Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Wien 1907 – 1948 (Wien/Köln/Graz 1983). Lhotsky, Alphons: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854 – 1954 (= Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband XVII, Graz/Köln 1954). Lhotsky, Alphons: Joseph Chmel zum hundertsten Todestag [1858], in: Anzeiger der österreichischen Akademie der Wissenschaften 95 (1958) 323 – 347. Lhotsky, Alphons: Geschichte Österreichs seit der Mitte des13. Jahrhunderts (1281 – 1358) (Wien 1967). Lhotsky, Alphons: Der Stand der österreichischen Geschichtsforschung und ihre nächsten Ziele (Vortrag am 23. September 1949 am Ersten Österreichischen Archivtag in Wien), in: Alphons Lhotsky, Aufsätze und Vorträge 3: Historiographie, Quellenkunde, Wissenschaftsgeschichte (Wien 1972) 85 – 95. Nadler, Josef / Srbik, Heinrich von (Hg.): Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum (Salzburg/Leipzig 1936). Österreich-Ungarns Außenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußeren …, 9 Bde. (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 19 – 27, Wien/Leipzig 1930). Santifaller, Leo: Otto I., das Imperium und Europa. Festrede des Vorstandes des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, in: Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen 962 (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 20, Graz/ Köln 1962) 19 – 30.
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Gernot Heiss
Scheutz, Martin: Wilhelm Bauer (1877 – 1953). Ein Wiener Neuzeithistoriker mit vielen Gesichtern. »Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt«, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900 – 1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts (Wien 2008) 247 – 281. Srbik, Heinrich Ritter von: Metternich – der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde. (München 1925). Srbik, Heinrich von: Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung. Vortrag gehalten in der allgemeinen Sitzung der 57. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Salzburg am 28. September 1929, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930) 1 – 12. Srbik, Heinrich von: Mitteleuropa. Das Problem und die Versuche seiner Lösung in der deutschen Geschichte (Weimar 1937). Zajic, Andreas H.: Hans Hirsch (1878 – 1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900 – 1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts (Wien 2008) 307 – 414.
Rupert Klieber*
Die (Katholisch-)Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014: Von der Theologenschmiede Mitteleuropas zur Wiener Hauslehranstalt und retour
Die 1365 gestiftete Wiener Universität ist erst durch die Einrichtung einer Theologischen Fakultät im Jahre 1384 zur »Volluniversität« geworden. Als Hohe Schule der Haupt- und Residenzstadt hatte sie einen besonderen Stellenwert für den Bildungsbereich, aber auch für die Kirchenpolitik jenes Länderkonglomerates, das sich die Habsburger erstritten, ererbt und erheiratet hatten. Eingeschränkt konnte die Universität ihre überregionale Bedeutung auch in die Zeit hinüberretten, da ihr »Erhalter« mit 1918 und wieder 1945 zum Kleinstaat geschrumpft war. Mit der Integration einer Evangelischen Fakultät 1922 wurde aus der »Theologischen« die »Katholisch-Theologische« Fakultät. Angesichts der weltanschaulichen Grabenkämpfe, die schon die Monarchie, erst recht aber die Zeit von 1918 bis 1945 prägten und die nicht zuletzt an den Mittel- und Hochschulen des Landes ausgetragen wurden, mussten kirchlich normierte Studiengänge fast zwangsläufig zum Politikum werden. Mit Ausnahme der NS-Zeit verbürgten die realpolitischen Verhältnisse jedoch bis heute, dass ihre Existenz grundsätzlich nie in Frage stand. Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Theologiestudiums sowie die Entfaltung der Fachdisziplinen wurden bereits in etlichen Studien dargelegt.1 Die jüngsten Fakultätsgeschichten zu den Jubiläen 1984 und 2009 waren primär »Leistungsschauen« dieser Fächer, enthalten darüber hinaus aber wertvolle prosopographische Daten, die vom Autor ergänzt in diesem Beitrag erstmals statistisch ausgewertet werden. Eine Quelle besonderer Qualität besitzt die Fakultät zudem in zwei Bänden einer Chronik, die den Zeitraum von 1929 bis 1979 abdeckt (plus einem Nachtrag für die Jahre 1995 – 1999). Der Beitrag bietet vorwiegend »Personengeschichte« und stellt die beiden kollektiven Hauptakteure der Fakultät vor, indem er die Zusammensetzung und Entwicklung der Hörerschaft ebenso wie jener der akademischen Lehrkräfte analysiert. Die * Institut für Historische Theologie der Universität Wien. 1 Wappler, 1884: Facultät; Neumann 1898: Facultät; Suttner 1984: Fakultät; Reikersdorfer 2009: Fakultät.
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Entwicklung der Wissensdisziplin katholische Theologie sowie das Agieren der Betroffenen im komplexen Spannungsfeld von Kirche, Universität und Politik sind Themen eines Beitrages in Band II dieser Reihe.
Die »Nachfrage«: Dimensionen und Charakter der Hörerschaft Die Fakultät war im alten sowie im neuen Österreich bis in die 1970er Jahre eine Einrichtung von Priestern für (angehende) Priester. Ihre elementare Aufgabe war die Ausbildung des Klerus der Erzdiözese Wien. Diese war lange im Schatten der alten »Mutterdiözesen« Passau und Salzburg sowie sehr viel reicher begüterter Bistümer der Monarchie (v. a. Gran, Erlau, Olmütz und Prag) gestanden. Die Nähe zum Hof ebenso wie der steile Aufstieg Wiens zur Weltmetropole erhöhte jedoch sukzessive auch die Bedeutung der kirchlichen Amtsträger am Ort. Im »Rest-Österreich« nach 1918 fiel ihr praktisch unbestritten eine führende Rolle für die Kirche des Landes zu. Erst 1758 hatte sich das Erzbistum die Anregung des Trienter Konzils (1545 – 1563) zu eigen gemacht, den geistlichen Nachwuchs aus einem »Klerikal-Seminar« zu rekrutieren, i. e. ein klösterlich strukturiertes Internat für Priesteranwärter. Der Eintritt ins Seminar war mit der Tonsur (i. e. symbolische Haarschur) verbunden und bedeutete die Aufnahme in den »Klerikerstand«. Die Alumnen wurden in der Anstalt spirituell und disziplinär geformt, die fachliche Ausbildung erfolgte an der Universität. Damit bildeten »Seminaristen« das studentische Kernelement der Fakultät. Da sowohl Seminar wie Lehre der Professoren bischöflicher Aufsicht unterstanden, war die Fakultät weitgehend »Diözesananstalt«. Die Wollzeile (Sitz des Wiener Bischofs) drängte darauf, dass der Lehrbetrieb auf die Hausordnung des Seminars Rücksicht nahm;2 bei Austritt oder Ausschluss vom Seminar verlor die Universität einen Hörer. Da das Studium sich »schulisch« in vier (ab 1927 in fünf) Jahrgänge gliederte, zeigt eine Gegenüberstellung der Seminareintritte und der vier/fünf Jahre später erfolgten Priesterweihen die Hauptlinie der Hörerfrequenz an, inklusive einer beträchtlichen Drop-out-Rate. Ursachen dafür waren u. a. ein zeitweise strenges Seminarregiment sowie eine hohe Todesrate (z. B. 16 in den Jahren 1863 – 1885),3 die nicht auf Wien beschränkt war und Interpreten des Phänomens den Strapazen des Studiums zur Last legten (u. a. dem mühsamen Abschreiben und Memorieren meist lateinischer Vortragstexte).4
2 Für Erzbischof Anton Gruscha vgl. Liebmann 1986: Seminare, 277 – 281. 3 Mathias 1975: Priesterseminar, 182 – 184. 4 Ohorn 1918: Kloster, 74 – 75.
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Die (Katholisch-) Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014
Tabelle I: Eintritte im Wiener Priesterseminar im Verhältnis zu Priesterweihen in Zehnjahresschritten Eintrittsjahre 1846 – 1855 1856 – 1865
Eintrittszahlen 197 207
Weihejahrgänge 1850 – 1859 1860 – 1869
Weihezahlen 174 173
Drop-out-Rate 12 % 16 %
1866 – 1875 1876 – 1885
212 268
1870 – 1879 1880 – 1889
176 194
17 % 28 %
1886 – 1895 1896 – 1905
299 326
1890 – 1899 1900 – 1909
218 216
27 % 34 %
1906 – 1915 1916 – 1925
311 254
1910 – 1919 *1920 – 1930
246 221
21 % 13 %
1926 – 1935 1936 – 1945
406 89
1931 – 1940 1941 – 1950
266 44
34 % 51 %
1946 – 1955 1956 – 1965
198 269
1951 – 1960 *1961 – 1971
157 180
21 % 33 %
1966 – 1967 Gesamt:
185 3.221
1972 – 1973
60 2.325
68 % 28 %
Zahlen aus: Mathias 1975: Priesterseminar ; (*) = Erweiterung der Seminarjahrgänge auf fünf bzw. sechs. Die Beitritte ins Wiener Priesterseminar stiegen bis 1914 fast kontinuierlich an und erlebten nach einem Einbruch in den Kriegsjahren von 1926 bis 1934 ihren einsamen Höhepunkt. Nach einem erwartungsgemäß hohen Einbruch in der NS-Zeit erreichten die Eintrittszahlen nach 1945 nicht mehr das Vorkriegsniveau. Die Drop-out-Rate lag im Gesamtschnitt bei knapp 30 %, war aber stark schwankend. Die niedrigsten Werte verzeichnete sie mit knapp 12 bis 17 % zwischen 1846 und 1879 sowie in den 1920er Jahren. Spitzenwerte erreichte sie erwartungsgemäß in der NS-Zeit, als mehr als die Hälfte der Seminaristen ausfiel, übertroffen erst wieder in den späten 1960er bzw. frühen 1970er Jahren, als eine allgemeine Nachwuchskrise im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils die Seminare leerte (siehe hierzu Beitrag Band II dieser Reihe).
Das Wiener Seminar stellte damit im 19. Jahrhundert etwas mehr als die Hälfte der Hörerschaft. Bei rund 190 ordentlichen Hörern (1848 – 1898) pendelte ihr Anteil im Schnitt zwischen 72 (1850 – 1859) und 107 (1890 – 1899). Die Regierung schrieb bis 1918 einen numerus fixus vor, d. h. sie bestimmte eine Höchstzahl an Seminaristen. Diese wurde auf Drängen des Ordinariates von 99 auf 104 (1885), 112 (1887) bzw. 122 (1914) erhöht.5 Darüber hinaus studierten an der Fakultät Kleriker der in der Stadt bzw. Diözese präsenten Männerorden (Schottenkloster, Dominikaner, Franziskaner, Serviten und Schulbrüder u. a.), sofern sie nicht eigene Hochschulen unterhielten (z. B. Stift Klosterneuburg, 5 Mathias 1975: Priesterseminar, 303.
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Steyler Missionare in Mödling, Zisterzienser von Heiligenkreuz oder Redemptoristen in Mautern). Die Priesteranwärter der genannten Gruppen verließen die Fakultät in der Regel mit einem sog. Absolutorium (= bestätigter Studienabschluss) ohne Doktorat. Damit scheinbar in Widerspruch steht eine erkleckliche Zahl an Promotionen. Von 1848 bis 1898 etwa zählte man 488, womit bei durchschnittlich 190 Hörern knapp zehn Promotionen im Jahr anfielen (im Verhältnis 19:1). Das entsprach in etwa dem Schnitt anderer Fakultäten: Bei den Juristen lag das Verhältnis im selben Zeitraum bei 1375 zu 84 (= 16:1), an der »philosophischen« Fakultät 427 zu 24 (= 18:1). Allein bei den Medizinern wich die Relation mit 1171 zu 211 (= 6:1) deutlich davon ab, da hier praktisch jedes Studium mit dem Doktorat endete.6 Ihre hohe Promotionsquote verdankte die Fakultät primär zwei Einrichtungen überregionaler Bedeutung, die sie vor dem Schicksal bewahrten, »Hauslehranstalt« des Wiener Klerus zu sein. Die eine war das seit 1623 in Wien angesiedelte und nach dem ungarischen Primas und Kirchenreformer Peter Pzmny (1570 – 1637) benannte Priesterseminar »Pazmaneum«, das dem Primas der Kirche Ungarns unterstand und für einen steten Zustrom begabter Studenten der Diözesen jenseits der Leitha sorgte. Er wurde ab 1918 etwas schwächer, versiegte endgültig aber erst im Gefolge des Staatsstreichs der ungarischen Kommunisten 1949. Gehörten ihm 1845 wenige 16 Theologen an, so 1875 wieder 59, 1905 51, 1935 48 und 1949 noch 23.7 Aus dem elitären Charakter des Pazmaneum folgte, dass viele seiner Alumnen über das Grundstudium hinaus auch das Doktorat anstrebten. Sehr viel mehr noch sorgte das Priesterkolleg St. Augustin für höheres theologisch-intellektuelles Leben in Wien. Untergebracht im ehemaligen Augustinerkloster (heute Albertina) bzw. ab 1915 in einem neuerrichteten Institutsgebäude in der Habsburgergasse, wurde das Kolleg nach seinem geistigen Vater Jakob Frint (1766 – 1834) auch »Frintaneum« genannt und diente von 1816 bis 1918 als »Post-Graduate«-Einrichtung für römisch- und griechisch-katholische Priester der Monarchie. Nach dem Willen des kaiserlichen Gründers Franz I. (1768 – 1835) sollte es Pflanzstätte eines kirchlich wie staatlich loyalen höheren Klerus sein. Hintergrund dafür waren die besonderen staatskirchlichen Verhältnisse der Habsburgischen Länder, in denen der Monarch fast alle Kanonikate der Domkapitel sowie, mit Ausnahme von Olmütz, Salzburg, Seckau, Lavant und teilweise Gurk, auch alle Bischofssitze besetzen konnte. Auf ein Reservoir gut ausgebildeter loyaler Priester zurückgreifen zu können, war damit von hohem politischem Interesse. Die Zuordnung des Kollegs an die kirchlich exemte Burg6 Vom Autor erstellte Statistik mit Zahlen aus: Neumann 1898: Facultät, 402 – 407. 7 Zahlen aus Schematismen der Erzdiözese Wien der betreffenden Jahre bzw. Kath.-Theologische Fakultät (KTh) Chronik I.
Die (Katholisch-) Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014
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und Hofpfarre, seine staatliche Finanzierung, der kaiserliche Einfluss auf die Bestellung der Vorsteher, die persönliche Präsentation der Kollegsmitglieder beim Monarchen zur Aufnahme und Entlassung sowie das Studium an der Universität legen es nahe, das Frintaneum als staatliche Eliteanstalt für den kirchlichen Bereich anzusehen. Es war Glied einer Kette »Elite bildender« Anstalten der Monarchie, die u. a. aus der »Theresianischen Militärakademie«, dem »Theresianum« für den gehobenen Beamtendienst und der »Orientalischen Akademie« für den höheren Diplomatischen Dienst bestand. Nach 1855 verstärkte sich zwar der kirchliche Charakter der Anstalt, ohne dass sie deshalb die enge Bindung an den Hof verloren hätte. Das Frintaneum gehörte zu den wenigen (zivilen) Einrichtungen der Monarchie, die bis zuletzt beide Reichshälften überspannten. Zeit seines Bestandes von 1816 bis 1918 absolvierten es 1.096 Priester des lateinischen Ritus: aus Böhmen/Mähren 140, Polen/Galizien 115, dem Königreich Ungarn 375, Küstenland/Dalmatien 45, Venetien/Lombardei 50, Friaul-Slowenien 98, Bosnien neun und den Alpenländern 166. Dazu kamen 96 griechisch-katholische Priester v. a. ukrainischer und rumänischer Abstammung. Nachweislich mehr als 700 Absolventen schlossen das Studium in Wien mit dem Doktorat ab, womit sie den Großteil aller Promovenden der Fakultät stellten.8 Neben ihrem Studium dienten Frintaneisten häufig als Hofkapläne, unterrichteten Mitglieder des Kaiserhauses in ihren Muttersprachen oder versahen Seelsorgedienste an ihren Landsleuten. In ihre Heimat zurückgekehrt wurden sie zu Multiplikatoren kultureller und politischer Entwicklungen der Hauptstadt. In der Folge wirkten sie meist für 40 bis 50 Jahre an verantwortungsvoller Stelle, häufig etwa als Lehrer an kirchlichen Hochschulen. Aus ihnen gingen neben einigen Priesterpolitikern auch 61 Bischöfe der Monarchie hervor. Damit reichten die Wirkungen der Einrichtung zeitlich über die Monarchie weit hinaus in die Nachfolgestaaten. Das Kolleg selbst überlebte den Umbruch von 1918 nicht. Das Auseinanderbrechen der vormaligen Rekrutierungs- und Einsatzfelder zusammen mit dem Inkrafttreten des Kirchenrechtskodex 1917, der »weltliche« Nominierungsrechte für Kirchenämter nicht mehr vorsah, machten die »staatskirchliche« Kaderschmiede überflüssig. Das Frintaneum wurde zum Thomaskolleg umbenannt, das dem Wiener Erzbischof unterstand, und diente hinfort in bescheidenem Maße in- und ausländischen Doktoranden als Stipendienfonds bzw. Studentenheim. Die »heimische« studentische Basis der Fakultät wurde nach 1918 um die Alumnen aus jenen Teilen der Diözesen Raab und Steinamanger ergänzt, die aus der ungarischen Erbmasse der Monarchie als »Burgenland« zu Österreich geschlagen wurden. Die Politik suchte der betroffenen Bevölkerung eine neue 8 Klieber 2008: Frintaneumsprojekt, 226; der Autor leitet ein Forschungsprojekt zum Frintaneum, die Zahlen basieren auf eigenen noch nicht publizierten Erhebungen.
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Identität zu vermitteln und drängte daher auf eine eigenständige kirchliche Verwaltung. Rom übertrug sie 1922 dem Wiener Erzbischof Friedrich Gustav Piffl als »Apostolischem Administrator«. Für die vorerst im Wiener Seminar (seit 1914 in der Boltzmanngasse) untergebrachten Alumnen, unter ihnen traditionell viele kroatischstämmig, wurde 1933 im Gebäude des vormaligen Frintaneum ein »Burgenländisches Priesterseminar« eröffnet. Ab damals traten die »Burgenländer« auch an der Fakultät mit einem merklichen Kontingent separat in Erscheinung. In den 1930er Jahren bis zum sog. Anschluss traten im Schnitt 37 Männer jährlich dem Seminar bei. Nach verbleibenden 23 Theologen 1939/40 wurde das Seminarleben für fünf Jahre eingestellt und 1945/46 wieder mit acht Kandidaten begonnen. Die Seminarfrequenz erholte sich mit durchschnittlich 29 (1951 – 1960) bzw. 33 (1961 – 1970) allmählich auf beinahe den Vorkriegswert, um danach wieder deutlich zu sinken. Allein zwischen 1965 und 1970 verließen im Gefolge der anhebenden Strukturdiskussionen (v. a. in puncto Zölibat) 27 Seminaristen die Anstalt.9 Optisch waren die Studenten aller genannten Einrichtung an der Universität und im Stadtbild allein dadurch sehr präsent, dass sie bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus im Talar auftraten (die Pazmanisten in Blau). Der nach Jahrgängen organisierte Vorlesungsbetrieb bedingte zusammen mit der Vorschrift für Alumnen, nie allein das Haus zu verlassen, dass mehrmals am Tag wechselnd große Kontingente von den drei Seminaren zur Universität und zurück marschierten. Die Dominanz der Seminaristen an der Fakultät erreichte in der Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt (z. B. 79 % im Studienjahr 1930/31), als die Frintaneisten verschwunden und die neue Klientel der Laien-Theologen noch nicht in Sicht war, um ab den 1950er Jahren drastisch zu sinken (von 68 % im Studienjahr 1949/50 zu 36 % im Studienjahr 1968/69).10 Auch nach 1918 sorgte das Pazmaneum dafür, dass der Fakultät weiterhin Hörer von »auswärts« zuströmten, die nun »Ausländer« waren. Das schlug sich vor allem in den Doktorarbeiten zu Buche: 61 der 235 zwischen 1918 bis 1950 geschriebenen Dissertationen (= 26 %) wiesen schon im Titel einen Ungarn-Bezug auf.11 Die Gesamtzahl ungarischer Doktoranden lag naturgemäß darüber, da sie auch allgemeine theologische Fragestellungen bearbeiteten. Von 1946 bis 1952 befanden sich nur noch 13 Ungarn und ein Rumäne unter den damals 39 Doktoranden (= 33 %).12 Unter neuen Vorzeichen sollte ab den 1990er Jahren erneut ein Zustrom aus Ostmitteleuropa einsetzen. Da das NS-Regime auch Theologen zum Wehrdienst einzog, schlug der Zweite 9 10 11 12
Alle Zahlen aus Zdrinia 2009: Priesterseminar. Zahlen aus KTh Chronik II. Eigene Statistik erstellt nach Honek 1986: Dissertationen. KTh Dekanat: Rigorosenprotokolle.
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Weltkrieg drastische Lücken in die Hörerschaft. Von vormals über 300 Theologen sank die Frequenz bis zum Wintersemester 1944/45 auf einen Tiefstand von 47 Studenten ab. Von 224 wegen Wehrdienst vom Studium »beurlaubten« Hörern (Stand 1942) registrierte man 31 als gefallen.13 Sie fehlten fortan in den Matrikeln der Universität und ebenso in den Schematismen der Diözese Wien, in denen sie zum überwiegenden Teil wohl auch bis in die jüngere Vergangenheit gestanden wären. Nach 1945 konnten die Marken der Zeit vor 1938 nicht mehr erreicht werden, wiewohl die Inskriptionen im Schnitt anstiegen (178 in den Jahren 1947 – 1955, 211 in den Jahren 1956 – 1960 und 256 in den Jahren 1961 – 1965).14 Einen »Modernisierungsschub« bedeutete die erstmalige Präsenz von Frauen. Als erste studierte in Wien mit Sondererlaubnis Kardinal Theodor Innitzers die promovierte Juristin Charlotte Leitmaier von 1932 bis 1936 katholische Theologie. Sie legte eine Lehramtsprüfung ab und bekam den Studienabschluss bestätigt; zu den Rigorosen aber wurde sie nicht zugelassen. Ein Beschluss der Bischofskonferenz von 1937 beendete das zarte Experiment vorerst (»Weibliche Hörer werden in Hinkunft nicht zugelassen«).15 Ab 1941 wurden sie dennoch fester, aber recht überschaubarer Teil der Hörerschaft (dreizehn von 173 im Jahre 1957).16 Zur ersten Doktorin katholischer Theologie in Wien promovierte 1946 Anna Bolschwing, die später ins Salzburger Frauenstift Nonnberg eingetreten ist.17 Mit 1945 veränderte sich auch die soziale und regionale Komposition der Hörerschaft merklich. Eine exemplarische Analyse der »Nationale« (Studentenkarteien) ergab, dass der typische Theologe von 1935 Bauernsohn aus dem niederösterreichischen Teil der Diözese war, 1952 aber Sohn eines öffentlich Angestellten in Wien.18 Das Ausbleiben ausländischer Hörer nach 1950 wurde dadurch etwas wettgemacht, dass heimische Priesterseminare für zwei Dekaden eine vorerst letzte Hausse erlebten (17 Eintritte in Wien im Jahr 1966, 22 im Jahr 1968 und 29 im Jahr 1969).19 Als dieser Zuspruch danach verebbte, trat gleichzeitig eine neue Personengruppe ins Rampenlicht: Kirchlich ungeplant wurde der ausbleibende geistliche Nachwuchs durch Laientheologen beiderlei Geschlechts substituiert. Der in den 1960er Jahren noch verhaltene Zuzug steigerte sich in den 1970ern zu einem regelrechten Boom, der mit dem rapiden Anstieg weiblicher Hörer einherging. Ein Ausstieg oder Ausschluss aus einem Orden oder Priesterseminar bedeutete nun nicht mehr automatisch den Studienabbruch. Der großflächige Ausbau der Mittelschulen unter den Regierungen Kreisky ab 1970 bzw. der Rückzug der Priester 13 14 15 16 17 18 19
Beide Angaben KTh Chronik I. Zahlen bei Hörmann 1984: Gefährdung, 357. Teufl 1971: Universitätsstudium, 3 – 4. KTh Chronik I. Teufl 1971: Universitätsstudium, 19. Klieber 2005, Fakultäten, 99 – 100. Zahlen aus Mathias 1975: Priesterseminar.
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aus dem Religionsunterricht eröffnete attraktive neue Arbeitsfelder für theologisch ausgebildete Laien. Die Fakultät reagierte darauf mit der Einrichtung neuer, auf das Lehramt fokussierter Studienrichtungen: der sog. Selbständigen und (mit einem Zweitfach) kombinierten Religionspädagogik. Ein Vergleich der Inskriptionen zeigt, dass in den 1980er Jahren die pädagogischen mit der fachtheologischen Studien erstmals fast gleichzogen (z. B. 685 zu 634 im Studienjahr 1983/84); erst die neuerliche Zunahme von Doktoratsstudien (nicht zuletzt für ausländische Kleriker) ließ sie danach wieder etwas stärker hinter das »Hauptstudium« zurückfallen (z. B. 751 zu 652 im Studienjahr 1993/94).20 Diese Entwicklungen bedeuteten für die Fakultät nicht weniger als eine »Kulturrevolution« und veränderten ihren über die Jahrhunderte verfestigten Charakter grundlegend: Tabelle II: Zusammensetzung der Hörerschaft der Wiener Kath.-Theol. Fakultät 1964 – 1994 Hörerstand Wintersemester 1964/65 Wintersemester 1968/69
Gesamt 248
Frauen 10 = 4 %
Ausländer 41 = 17 %
310
35 = 11 %
63 = 20 %
Doktoratsstudien m/w : a
Wintersemester 438 80 = 18 % 52 = 12 % 1972/73 Wintersemester 1.325 490 = 37 % 95 = 07 % 6/6 : 0 = 12 1983/84* Wintersemester 1.589 516 = 32 % 244 = 15 % 120/27 : 44 = 147 1993/94* *Studienfälle (= inskribierte Studien; die Zahl ist nicht mehr deckungsgleich mit der Studentenzahl, da mehrfache Inskriptionen möglich und gängig waren); m = männlich, w = weiblich, a = ausländisch. Die Tabelle veranschaulicht deutlich den rasanten Trend zur Verweiblichung der Hörerschaft, die in den 1980er Jahren einen ersten Höhepunkt erreichte. Der tendenziell bis dahin rückläufige Ausländeranteil erfuhr ab den 1990er Jahren eine Trendumkehr. Parallel dazu stieg der Anteil der Doktoratsstudien rasant an. Der für 1993/94 angegebene Wert wird erheblich dadurch verzerrt, dass er auch Doktoratsstudien bei nicht abgeschlossenen Diplomstudien enthält (gleichsam Doktoratsstudien in petto).
Der ab den 1990er Jahren wieder stärker internationale Charakter der Fakultät verdankte sich nicht zuletzt einer wachsenden Zahl von Studierenden aus den ehemaligen »Oststaaten«. Allein im Rahmen des vom Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner organisierten sog. Pastoralen Forums wurden zwischen 1989 und 2014 an 68 Männer und 42 Frauen Stipendien vergeben, in den allermeisten Fällen 20 Alle Zahlenangaben (inkl. Tabelle) aus der »Hochschulstatistik« des Statistischen Zentralamtes unter wechselnden Titeln, entsprechende Jahresbände.
Die (Katholisch-) Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014
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für Dissertations- und Habilitationsprojekte. Die Daten weisen Polen, Slowaken und Rumänen als die drei stärksten Gruppen von über 10 % der insgesamt 110 Stipendiaten aus (= 28/16/14 %). Die Mehrzahl von ihnen (60 %) waren und sind Laien; bedingt durch einen Priesteranteil von 40 % überwiegt jedoch der Anteil der Männer mit knapp 62 %.21 Damit erhielt die Fakultät aufs Neue jene »Mitteleuropa-Note« zurück, die ihr bis 1918 das Kolleg Frintaneum beschert hatte. Nach der Jahrtausendwende wiederum verstärkte sich der Zuzug von bereits geweihten Priestern aus Staaten der sog. Dritten Welt (v. a. Afrika und Indien), die ebenfalls in Wien eine höhere theologische Bildung anstreb(t)en. Sie lassen die Fakultät stärker als je zuvor zu einer Einrichtung werden, die über Mitteleuropa hinaus global ausstrahlt. Eine exemplarische Stichprobe aus dem Jahr 2009 spiegelt die große Vielfalt wider: Damals frequentierten neben 127 Österreichern weitere 89 Personen aus 28 (!) Nationen ein Doktoratsstudium der Fakultät.22 Eine ebenfalls neue und zunehmend bedeutende Personengruppe wächst der Fakultät durch den stufenweisen Ausbau von Studienrichtungen der Religionswissenschaft zu. Die Disziplin konnte ab 1999 als sog. individuelles Diplomstudium belegt werden, seit 2008 auch als Master- und Doktoratsstudium. Diese Studien weisen bisher mit knapp 60 % einen hohen Frauenanteil aus, gleichzeitig fällt die Absolventenzahl mit weniger als drei Personen pro Jahr noch sehr gering aus. Das nährt die Vermutung, dass gerade diese Studiensparte am wenigsten berufsorientiert frequentiert wird. Ein Blick auf die gesamte Entwicklung der Zusammensetzung der Hörerschaft lässt erkennen, dass dieser neue religionswissenschaftliche Zuwachs bereits statistisch erkennbare Auswirkungen zeitigt: Tabelle III: Erstsemestrige und Absolventen der Fakultät 1999 bis 2013 (Zahlen im Jahresschnitt) Erstsemestrige Gesamt Frauen BRD 1999/2000 – 2005/06 2006/07 – 2012/13
243
43 %
277
47 %
EU- Drittstaaten Ausland Absolventen Rest 23 = 28 = 16 = 7 % 67 = 83 9 % 12 % 28 % 32 = 27 = 17 = 6 % 76 = 71 12 % 10 % 28 %
Zahlen aus I3 V der Universität Wien. Die Aufstellung zeigt für die ersten eineinhalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts relativ stabile Verhältnisse mit klar erkennbaren Tendenzen an: eine steigende Hörerzahl bei gleichzeitig zunehmendem Frauenanteil, der sich der 50 %-Marke annähert; ein relativ stabiler Ausländeranteil von mehr als einem Viertel bei leichter Verschiebung von den EU21 Unpublizierte statistische Daten des Forums, die dem Autor dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurden. 22 Die Zahlen sind von Frau Eva Gliederer, Dekanatsdirektorin a. D., aus dem I3 V der Universität erhoben worden; der Autor ist ihr dafür zu großem Dank verpflichtet.
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und Drittstaaten hin zum Zuzug aus Deutschland. Erstaunlich deutlich bleiben die Absolventenzahlen hinter den Werten der jährlichen Inskriptionen zurück.
Warum die Absolventenzahl so deutlich hinter jenen der Erstinskriptionen zurückbleibt, bedarf der Erklärung. Da die durchschnittliche Studiendauer an der Fakultät bei den Abschlüssen zwischen 1999 und 2013 rund sechs Semester betrug, so ergibt sich daraus, dass weniger als ein Drittel (29 %) der Anfänger von 1999 bis 2006 ein Studium bis zum Abschluss durchhielt. Das kann eine hohe Drop-out-Rate anzeigen, sei es aus enttäuschter Erwartung oder Überforderung. Oder aber es bedeutet einen hohen Anteil an Personen, die ein theologisches oder mehr noch ein religionswissenschaftliches Studium aus Liebhaberei beginnen oder betreiben, ohne einen Abschluss ernsthaft anzustreben. Die Betrachtung der Gesamtentwicklung der Frequenz seit 1999 erlaubt indes weitere Differenzierungen: Tabelle IV: Erstsemestrige und Gesamthörerschaft der Fakultät 1999 bis 2013 in Relation zum Anteil von Studierenden der Religionswissenschaft
1999/2000
Anfänger TH+ +RW 275 + 11 = 286
Anteil RW 4%
WS-Hörer (RW) 1.271 (09)
Anteil RW 0,7 %
Abschluss RW –
2000/01 2001/02
282 + 01 = 283 183 + 17 = 200
0,4 % 9%
1.264 (10) 985 (18)
0,8 % 2%
– 1
2002/03 2003/04
180 + 10 = 190 211 + 30 = 241
5% 12 %
928 (30) 959 (51)
3% 5%
1 4
2004/05 2005/06
224 + 34 = 258 201 + 41 = 245
13 % 17 %
958 (71) 1.018 (106)
7% 10 %
1 2
2006/07 2007/08
237 + 33 = 270 242 + 56 = 298
12 % 19 %
1.050 (122) 1.079 (152)
12 % 14 %
3 10
2008/09 2009/10
253 + 27 = 280 259 + 14 = 273
10 % 5%
1.094 (168) 1.180 (166)
15 % 14 %
7 6
2010/11 2011/12
264 + 21 = 285 243 + 16 = 259
7% 6%
1.169 (166) 1.193 (161)
14 % 13 %
10 10
2012/13 Schnitt:
255 + 18 = 273 236 + 24 = 260
7% 10 %
1.178 (151) 1.095 (99)
13 % 9%
13
Studienjahr
Zahlen aus I3 V der Universität Wien; Abkürzungen: WS = Wintersemester, TH = Theologie, RW = Religionswissenschaft. Sowohl Anfänger- als auch Gesamthörerzahlen erlebten ab 2001 einen deutlichen Einbruch, der bis 2005 anhielt, um danach wieder merklich anzusteigen. Zuerst verdankte sich die Erholung der Werte primär dem neuen Zuspruch zur Religionswissenschaft, der zwischen 2007 und 2009 seinen Höhepunkt erreichte. In der Folge stieg jedoch der Studierendenanteil für Theologie wieder an und zeigt seit 2008 recht stabile Marken, während
Die (Katholisch-) Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014
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der Anteil Religionswissenschaft zwar bei den Erstsemestrigen merklich sinkt, dessen ungeachtet seit 2006 aber einen recht stabilen Anteil an der Gesamthörerschaft von rund 14 % hält. Den Höchststand an Hörern verzeichnete die Fakultät mit 1.271 (1999/2000), die meisten Erstsemestrigen aber mit 298 im Studienjahr 2007/08. Die Zahl an Absolventen der Religionswissenschaft bleibt deutlich hinter den Zahlen derer zurück, die dieses Studium beginnen. In den letzten fünf Jahren hat sich der Hörerstand relativ konstant auf knapp unter 1200 Studierenden eingependelt.
Der markante Einbruch von 2001 ist ohne Zweifel auf die damals erfolgte Einführung von Studiengebühren zurückzuführen, die »Karteileichen« aus der Statistik entfernte. Der letzten vorliegenden Angabe zufolge erlebte die Fakultät im Wintersemester 2013/14 zuletzt mit 205 Erstinskriptionen wieder den höchsten Semesterwert seit der Jahrtausendwende.
Das »Angebot«: Zusammensetzung und Profil des Lehrkörpers der Fakultät23 Gleichsam als Fundament für die qualitativen Urteile im Band II dieser Reihe wird der Lehrkörper im vorliegenden Beitrag mittels einiger gut objektivierbarer Kriterien prosopographischer Natur analysiert. Sie betreffen die geographische Herkunft, den wissenschaftlichen Werdegang sowie die Fluktuation von oder zu anderen Hochschulen. Zur Veranschaulichung werden dabei die Lehrkräfte idealtypisch sieben »Generationen« von jeweils 25 Jahren zugewiesen, die weitgehend mit dem Wandel des (kirchen-)politischen Umfelds korrelieren: Neoabsolutismus, Liberale Ära, Aufstieg der Massenparteien, Umbruchsjahre 1918 bis 1945, konservative Nachkriegsära, Kreisky-Ära bzw. Nachkonzilszeit, uniautonome Gegenwart. Insgesamt handeln die Statistiken von 151 realen Personen;24 eine Addition der Generationen ergibt jedoch 193 »Fälle«, da etliche Lehrkräfte natürlich über die idealtypischen Periodengrenzen hinweg tätig waren. Von den 151 Lehrkräften waren 116 Priester (77 %) und bisher nur zehn (!) Frauen. Die meisten der Betroffenen haben das theologische Doktorat in Wien erworben oder zumindest hier das Studium absolviert (89/5 = 62 %). Dass der 23 Alle biographischen Daten bzw. Grundlagen für die erstellten Statistiken, in den folgenden Ausführungen speisen sich aus folgenden Quellen: Schematismen der Diözese Wien; Neumann 1898, Facultät; der »Bio-Bibliographie« in Suttner 1984: Fakultät, 374 – 432 bzw. für die jüngste Zeit aus den Homepages der Institute. 24 Die vom Autor erarbeitete Liste umfasst jene Personen, die in nennenswertem Maße (wenigstens drei Jahre) an der Fakultät ein theologisches Fach gelehrt haben. Das betrifft in der Regel Professoren und Dozenten mit Anstellung, ab den 1970er Jahren aber auch einige Assistenten mit Festanstellung, die über längere Zeit in die Lehre eingebunden waren, bevor sie an andere Hochschulen berufen wurden.
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Lehrkörper von 1848 bis 1995 allmählich von rund 20 auf mehr als 30 (bis dahin allein) Männer je Generation anwuchs (bis dahin gesamt 114), hatte mit der Mehrung von Gegenständen zu tun, aber auch mit steigender Fluktuation. Der deutlich darüber rangierende Personalstand der jüngsten Generation resultiert aus einer merklichen Zunahme an Dozenten, die durch eine für sie günstige Gesetzeslage an der Fakultät bleiben konnten. Da diese Gesetze später abgeändert wurden, wird diese Situation wohl auf diese Generation beschränkt bleiben. Tabelle V: Herkunft der Lehrkräfte laut Geburtsort nach »Generationen« 1848 – 2014 Gebürtig 1848 – 1870: 19 Lehrer (I) 1871 – 1895: 17 Lehrer (II)
Wien/NÖ. 1/2 = 16 %
Böhmen/M. Alpenländer Ungarn BRD/Ausland 9 = 47 % 3 = 16 % 1 = 5 % 1/2 = 16 %
3/4 = 41 %
8 = 47 %
1 = 06 %
1=6%
–
1896 – 1920: 22 Lehrer (III) 1921 – 1945: 22 Lehrer (IV)
5/2 = 32 %
7 = 32 %
3 = 14 %
–
5/0 = 23 %
8/5 = 59 %
4 = 18 %
3 = 14 %
–
2/0 = 09 %
1946 – 1970: 32 Lehrer (V) 1971 – 1995: 33 Lehrer (VI)
12/5 = 53 %
4 = 13 %
7 = 22 %
–
3/1 = 13 %
8/4 = 36 %
1 = 03 %
9 = 27 %
–
9/2 = 33 %
–
8 = 17 %
–
12/1 = 27 %
–
2 = 08 %
–
10/1 = 46 %
1996 – 2015: 15/12 = 56 % 48 Lehrer (VII) 1996 – 2015: 5/6 = 46 % 24 o.Prof.en
Quelle: Eigene prosopographische Erhebung. Ins Auge sticht, wie wenig genuin »wienerisch« die Fakultät für lange Zeit war. Der ersten Generation gehörte nur ein gebürtiger Wiener an; nach dem Ersten Weltkrieg stammte dann ein Drittel des Lehrpersonals aus der Stadt. Davor war sie sehr viel mehr Fakultät der »Böhmen«, die bis in die zweite Generation knapp die Hälfte des Lehrkörpers stellten – Spiegel einer generellen Situation des Wiener Klerus’. Nimmt man Niederösterreich und Wien als Großraum zusammen, dann erscheint die Fakultät von 1920 bis 1970 am »bodenständigsten«; ein vergleichbarer Wert wird wieder in der letzten Generation erreicht, nun primär bedingt durch die Vielzahl »heimischer« Dozenten. Die Bedeutung der übrigen Alpen- bzw. Bundesländer war vergleichsweise gering und erreichte in der sechsten Generation (1971 – 1995) mit einen Viertel ihren höchsten Wert. Bemerkenswert ist die praktische Absenz der übrigen Kronländer/Nachfolgestaaten der Monarchie. Obwohl es durch die lateinische Unterrichtssprache lange keine Sprachbarrieren gab, waren selbst die mit dem Pazmaneum und vielen Frintaneisten an der Fakultät hoch präsenten Ungarn nur in den beiden ersten Generationen mit je einem Priester vertreten – beredtes Indiz für die mentalen Barrieren zwischen den Nationalitäten der Monarchie bzw. deren Inhomo-
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Die (Katholisch-) Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014
genität selbst im kirchlichen Bereich! Dass sich der beschränkte geographische Horizont in der Rekrutierung der Lehrkräfte auch inhaltlich niederschlug, wird im Beitrag von Band II dieser Reihe deutlich. Eine weitere Auffälligkeit betrifft die Abfolge der Lehrergenerationen. Nach jeweils zwei »bodenständigen« Phasen öffnete sich die Fakultät dem (zumindest geographischen) Zuzug von außen (1896 – 1920 und erneut ab 1971). Der Blick auf den akademischen Werdegang und mehr noch auf die Fluktuation von Her- und Wegberufungen wird diese Beobachtung bestätigen, allerdings auch verdeutlichen, dass der wissenschaftliche Austausch praktisch nur mit deutschen Universitäten geschah (und geschieht), was wohl nur bedingt als »Internationalität« gewertet werden kann. Salopp ausgedrückt ging die Entwicklung von der »böhmischen« über eine »Wiener« zur »bayerisch-deutschen« Fakultät (mit zuletzt zwölf Lehrenden). Tabelle VI: Akademischer Werdegang der Lehrkräfte 1848 – 2014 nach »Generationen« Ausbildung: 1848 – 1870: 19 Lehrer (I) 1871 – 1895: 17 Lehrer (II)
Dr./Stud. Theol. Wien 12/1 = 68 %
Habil. Wien (k. Habil.) k. A.
ZusatzDoktorat 0
Frintaneum- Studium/ Bezug Lehre Rom 5 = 26 % 3 = 16 %
13/2 = 88 %
k. A.
1 = 06 %
3 = 18 %
1 = 06 %
1896 – 1920: 22 Lehrer (III) 1921 – 1945: 22 Lehrer (IV)
14/0 = 64 % 6 (16) = 27 %
6 = 27 %
5 = 23 %
4 = 18 %
16/2 = 82 % 16 (4) = 73 %
2 = 09 %
2 = 09 %
4 = 18 %
1946 – 1970: 32 Lehrer (V) 1971 – 1995: 33 Lehrer (VI)
20/1 = 66 % 23 (2) = 72 %
6 = 19 %
–
5 = 16 %
14/0 = 42 % 15 (3) = 45 %
8 = 24 %
–
9 = 27 %
1996 – 2015: 26/3 = 60 % 23 (9) = 48 % 11 = 23 % 48 Lehrer (VII) 1996 – 2015: 8/1 = 38 % 4 (7) = 17 % 3 = 13 % 24 o.Prof.
–
7 = 15 %
–
5 = 21 %
Quelle: Eigene prosopographische Erhebung. Bis zur fünften Generation (1970) war es gang und gäbe, dass zwei Drittel und mehr der in Wien Lehrenden hier auch die höhere akademische Weihe des Doktorats erworben hatten. Mit über 80 % am stärksten ausgeprägt war die akademische »Inzucht« in der zweiten und vierten Generation (1871 – 1895 und 1921 – 1945); nach 1970 sank die Quote vorerst auf zwei Fünftel. Dort verharrt sie zumindest bei den Professoren bis heute, während sie insgesamt mit der Riege der Dozenten wieder auf drei Fünftel anstieg. Die formelle Habilitation spielte erst nach dem Ersten Weltkrieg eine dominante Rolle und zeigt eine vergleichbare Entwicklung: Bis 1970 waren rund drei Viertel aller Fakultätslehrer auch in Wien habilitiert worden; danach sank die Quote auf knapp die Hälfte. Zuletzt blieb sie trotz der vielen naturgemäß hier habilitierten Dozenten niedrig, weil ein gewichtiger Teil der aktuell lehrenden sieben Professoren vorher keine Habilitation durchlief. Zusatz-
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qualifikationen in Form eines weiteren Doktorates bildeten vor 1918 nur in der dritten Generation (1896 – 1920) eine nennenswerte Rolle, später wieder nach 1945 bis heute, wobei es nun in der Gegenwart die Dozenten sind, die deutlich stärker für den wissenschaftlichen »Mehrwert« sorgen (im Verhältnis 11:3). Einen Bezug zu dem für die höheren theologischen Studien bedeutsamen Frintaneum wiesen bis 1920 knapp ein Viertel der bis dahin allein geistlichen Lehrer auf. Durchgehend präsent blieb ein Anteil von Lehrern, die zeitweilig Rom studiert oder gelehrt hatten; er war zwar nie dominant, mit Ausnahme einer Generation (1871 – 1895) jedoch mit knapp einem Fünftel sehr konstant. Tabelle VII: Her- und Wegberufungen der Lehrkräfte von/an Hochschulen in In- und Ausland Ruf von HS Inland 7 = 37 %
Ruf von HS Ausland 3 = 16 %
Ruf an HS Inland –
Ruf an HS Ausland –
7 = 41 %
0=0%
–
–
12 = 55 %
4 = 18 %
0=0%
5 = 23 %
1921 – 1945: 22 Lehrer (IV) 1946 – 1970: 32 Lehrer (V)
5 = 23 %
1=5%
1=5%
0=0%
6 = 19 %
2=6%
3=9%
0=0%
1971 – 1995: 33 Lehrer (VI) 1996 – 2015: 48 Lehrer (VII)
8 = 24 %
10 = 30 %
0=0%
3=9%
4 = 08 %
14 = 29 %
1=2%
5 = 10 %
1996 – 2015: 4 = 17 % 13 = 54 % 24 o.Prof. Quelle: Eigene prosopographische Erhebung.
0=0%
1=4%
1848 – 1870: 19 Lehrer (I) 1871 – 1895: 17 Lehrer (II) 1896 – 1920: 22 Lehrer (III)
In jeder Generation wurden akademische Lehrer anderer Hochschulen nach Wien berufen. Bis 1918 dominierte vor allem der Zuzug vom bis dahin deutlich größeren Inland (zuletzt mehr als die Hälfte), wobei der Kreis der betroffenen Anstalten sich nur auf die Westhälfte des Reiches sowie auch nach 1918 bis 1970 nur auf einige wenige Diözesenoder Klosterlehrstätten erstreckte (v. a. Brixen, St. Pölten, Olmütz und Klosterneuburg; selten Prag, Salzburg oder Linz). Erst in den beiden letzten Generationen (1970 – 2014) wurden mehr als die Hälfte der Professoren von deutschen Universitäten berufen. Zusammen mit der Aufbruchsgeneration von 1896 bis 1920 baute das Wiener Angebot somit nach 1970 überwiegend auf einem Renommee auf, das Betroffene jenseits der Staats-
Die (Katholisch-) Theologische Fakultät Wien 1848 bis 2014
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grenzen erlangt hatten. Darunter waren jedoch auch einige, die aus Österreich bzw. Wien stammten (z. B. der Kirchenhistoriker Josef Lenzenweger, der Moraltheologe Günter Virt oder der Pastoraltheologe Paul Zulehner). Dagegen spielte das Phänomen, Wiener Kräfte an andere Universitäten zu verlieren, kaum eine Rolle. Mit 1918 verließen alle »ausländischen« Professoren Wien. Auch später kehrten einige aus Deutschland berufene Professoren dorthin zurück (z. B. 1982 der Religionspädagoge Josef Müller, 1985 bzw. 2006 die Dogmatiker Gisbert Greshake und Bertram Stubenrauch). Der aus Zagreb berufene Religionswissenschaftler Wilhelm Keilbach, ein sog. Donauschwabe, verließ Wien bereits nach einem Jahr wieder in Richtung München und wurde deshalb in die Statistik gar nicht aufgenommen. Mit Ausnahme des gebürtigen Böhmen Virgil Grimmich (Christliche Philosophie), den 1901 ein Ruf nach Prag ereilte, ist kein »Inländer«-Professor der Fakultät je von hier fortberufen worden. Sehr wohl traf dies auf etliche aus dem sog. akademischen Mittelbau zu, die vorher schon in den Wiener Lehrbetrieb eingebunden waren (z. B. der Kirchenhistoriker Isnard Frank und der Sozialwissenschaftler Arno Anzenbacher 1979 bzw. 1981 nach Mainz, Clemens Leonhard 2005 nach Münster, Roland Faber 2006 in die USA oder Harald Buchinger 2008 nach Regensburg).
Alle drei prosopographischen Grabungen verweisen auf eine Zweiteilung der Fakultätsgeschichte, deren Grenze mit dem politischen Einschnitt 1918 in eins fällt: Nach jeweils zwei »provinziellen« Lehrergenerationen (1848 – 1895 und 1921 – 1970) entwickelte die Fakultät Ambitionen, sich zur deutschen Theologielandschaft hin zu öffnen. Nimmt man die Professorenschaft allein, so hält dieser Trend bis zur aktuellen Generation an, die sich nun auf zwei paritätisch starke Blöcke (Wien/Niederösterreich sowie Deutschland) verteilt und nur durch die Dozentenschaft wieder stärkere Bodenhaftung als zuletzt erhält. Im Unterschied zur Studentenschaft, die bereits seit den 1970er Jahren einen erheblichen weiblichen Anteil verzeichnet, sind Frauen erst in der aktuellen Lehrergeneration in die obersten Kategorien der akademischen Lehre vorgedrungen. Und kein Paradigmenwechsel lässt sich so eindeutig wie dieser datieren: 1997 wurde mit Martha Zechmeister (Fundamentaltheologie) eine erste Frau in Wien theologisch habilitiert, mit Ingeborg Gabriel (Sozialethik) eine erste ordentliche Professorin ernannt und mit Ilse Kögler (Religionspädagogik) eine erste Assistentin auf eine Professur nach Linz berufen. Die »Nachfrage«, nun fast paritätisch auf männliche wie weibliche Studierende verteilt, ist nach Einbrüchen zur Jahrtausendwende seit Jahren relativ stabil, wiewohl eine Verschiebung hin zur »unverbindlicheren« Religionswissenschaft stattgefunden hat, die seit einigen Jahren einen Anteil von rund 15 % hält. Aufgrund der genannten Umstände geradezu optimal zeigt sich die personelle Ausstattung der Fakultät: Eine fast gleich große Professoren- wie Dozentenriege beschert noch zwei bis drei Studentengenerationen das Privileg, fast jeden Gegenstand von zwei und mehr qualifizierten Fachkräften präsentiert zu bekommen. Der weibliche Anteil am Lehrkörper lässt indes nach wie vor Wünsche
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offen: Neun Theologinnen stehen in dieser Generation 39 Theologen gegenüber ; auch wenn ein Institut (Sozialethik) zeitweise nur aus Frauen bestand, haben erst drei von ihnen eine ordentliche Professur erlangt. Dreizehn Priester bilden in der letzten Lehrgeneration erstmals eine Minderheit. Die aufgezeigten Strukturwandel der Fakultät korrelierten erwartungsgemäß in hohem Maße mit qualitativen Entwicklungen des Lehr- und Forschungsbetriebs. Sie waren in besonderer Weise mit ihrem jeweiligen kirchen- und gesellschaftspolitischen Umfeld verknüpft und werden daher in Band II dieser Reihe analysiert und dargelegt.
Literaturverzeichnis I3 V: Statistische Datenbank der Universität Wien. »Hochschulstatistik«, hg. unter verschiedenen Titeln vom Österreichischen Statistischen Zentralamt bzw. der Statistik Austria, entsprechende Jahresbände. Hörmann, Karl: Gefährdung und Wiedererstarken 1938 – 1984, in: Christoph Suttner (Hg.), Die Kath.-Theologische Fakultät der Universität Wien 1884 – 1984 (Berlin 1984) 343 – 359. Honek, Klemens: Die Dissertationen der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien (Wien 1986). Klieber, Rupert: Die beiden Theologischen Fakultäten der Universität Wien von 1945 bis 1955 zwischen Rückbruch und Aufbruch, in: Margarete Grandner et al., Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Innsbruck 2005) 89 – 120. Klieber, Rupert: Das »Frintaneumsprojekt« am Scheideweg?, in: Karl Heinz Frankl und Rupert Klieber, Das Priesterkolleg St. Augustin »Frintaneum« in Wien 1816 – 1918 (Wien 2008) 225 – 228. Liebmann, Maximilian: Die Errichtung der wissenschaftlichen Seminare an der Wiener Theologischen Fakultät um die Jahrhundertwende, in: Karl Amon et al. (Hg.), Ecclesia Peregrinans (Wien 1986) 265 – 283. Mathias, Leopold: Das Wiener Priesterseminar (Wien 1975). Neumann, Wilhelm: Theologische Facultät, in: Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898 (Wien 1898) 56 – 96. Ohorn, Anton: Aus Kloster und Welt (Mügeln 1918). Reikerstorfer, Johann / Jäggle, Martin (Hg.): Vorwärtserinnerungen. 625 Jahre KatholischTheologische Fakultät der Universität Wien (Göttingen 2009). Suttner, Christoph (Hg.): Die Kath.-Theologische Fakultät der Universität Wien 1884 – 1984 (Berlin 1984). Teufl, Lucie: Das theologische Universitätsstudium der Frau in Österreich (Wien 1971). Wappler, Anton: Geschichte der theologischen Facultät der K. K. Universität zu Wien (Wien 1884). Zdrinia, Gheorghe: Das burgenländische Priesterseminar von 1933 bis zum zweiten vatikanischen Konzil. Der Beitrag des Seminars zur Bildung einer Burgenländischen Identität (Diplomarbeit, Univ. Wien 2009).
Karl Milford*
Zur Entwicklung der Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien von 1763 bis 1976**
Problemsituationen, Probleme, Lösungsversuche1 Die Entwicklung der Nationalökonomie im ausgehenden 18., im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Universität Wien ist geprägt durch die kritische Diskussion von im Grunde vier unterschiedlichen Positionen und deren diversen Derivaten. Diese vier Positionen sind das Resultat einer Kombination aus jeweils einer methodologischen Position und einer spezifischen, das wertende Verhalten der Menschen erklärenden, Theorie. Die das wertende Verhalten der Menschen erklärenden Theorien sind empirisch und das Resultat von Versuchen, ökonomisch befriedigende Theorien zur Erklärung der Preisbildung auf Märkten, insbesondere aber von Tausch und der so genannten relativen Preise zu entwickeln. Die jeweiligen methodologischen Positionen sind das Resultat von Überlegungen zur Frage der Struktur solcher befriedigender theoretischer Erklärungen in den theoretischen Sozialwissenschaften. * Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Wien. **Für aufmunternde Bemerkungen, Informationen und Diskussionen danke ich Peter Rosner, Leopold Diebalek, Harald Hagemann, Hansjörg Klausinger und zwei anonymen Referees sehr herzlich; es ist überflüssig zu sagen, dass alle Irrtümer in meiner Verantwortung liegen. 1 Die folgenden Zeilen versuchen an Hand sehr großer und sehr allgemeiner Linien die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Wien darzustellen; sie sind keine Geschichte der gesamten Wirtschaftswissenschaften in Österreich oder an der Universität Wien und berücksichtigen nicht die Entwicklung der Betriebswirtschaft, der Finanzwissenschaft, der Wirtschaftspolitik, der Wirtschaftsgeschichte sowie die Entwicklung der diesen Gebieten verwandten Disziplinen wie etwa der Agrarökonomie oder des Genossenschaftswesens, obgleich auch diese Gebiete ebenfalls an der Universität vertreten und teilweise durchaus von Bedeutung waren (vgl. Weber 1949: Wirtschaftswissenschaften). Sie sind auch keine Institutionengeschichte oder Bürokratiegeschichte der Nationalökonomie, wie z. B. eine Geschichte der Genealogie der Lehrstühle bzw. der Curricula und Prüfungsordnungen. Sie sind auch keine Politische Geschichte der Nationalökonomie an der Universität Wien, etwa eine Geschichte der politischen Einstellungen und Positionen der das Gebiet der Nationalökonomie in Lehre und Forschung vertretenden und handelnden Personen oder deren Emigration, bzw. auch keine Geschichte politischer Verfolgung (vgl. Grandner 2005: Studium; Hagemann 1999: Emigration; Gedenkbuch der Universität Wien).
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Die zur Erklärung der Preisbildung entwickelten Werttheorien sind in zwei große Klassen zu teilen: in die Klasse der Theorien der objektiven und der subjektiven Bewertungen. Die Theorien der objektiven Bewertungen erklären, dass Menschen physische Dinge und menschliche Handlungen auf der Basis eines ihnen objektiv gegebenen gemeinsamen Maßstabs, wie etwa der Zeit, als Güter und Dienstleistungen bewerten. Im Gegensatz hierzu erklären die Theorien der subjektiven Bewertungen, dass Menschen physische Dinge und menschliche Handlungen als Güter und Dienstleistungen ausschließlich auf der Basis ihrer subjektiven Präferenzen bewerten. Der ausschließlich subjektive Maßstab, den die Menschen dabei ihren Bewertungen zu Grunde legen, ist der so genannte Grenznutzen: Demnach bewerten Menschen physische Dinge und menschliche Handlungen nach der subjektiven Bedeutung, den der Entfall der Befriedigung des für sie am mindest wichtigen Bedürfnisses hat, wenn ein Gütervorrat um eine konkrete Mengeneinheit dieses Gutes gekürzt wird. Beide Werttheorien implizieren unterschiedliche Forschungsprogramme: Da z. B. Theorien der objektiven Bewertungen Güter und Dienstleistungen als Arbeitsprodukte betrachten, erachten sie ›Arbeit‹ als eine physischen Dingen anhaftende Charakteristik, die diese zu Gütern transformiert. Das zentrale Untersuchungsproblem dieser Theorien ist daher die Erklärung der Entstehung von physischen Dingen, die durch Arbeit zu Gütern transformiert werden. Der Aufbau ökonomischer Untersuchungen ist demnach so strukturiert, dass einem Abschnitt über die Produktion von Gütern ein Abschnitt zur Erklärung der Einkommensverteilung folgt und sich an diesen Untersuchungen über den Konsum von Gütern anschließen: Produktion – Einkommensverteilung – Konsum.2 Theorien der subjektiven Bewertungen als Basis der Preistheorie implizieren demgegenüber jedoch andere zentrale Fragestellungen und andere Strukturen ökonomischer Untersuchungen. Da nach diesen Theorien Güter und Dienstleistungen das Resultat rein subjektiver Bewertungen sind, ist die Existenz physischer Dinge und menschlicher Handlungen bereits vorausgesetzt und bedarf keiner weiteren Erklärung. Fragen nach der Entstehung oder dem Ursprung, i. e. der Produktion von physischen Dingen und menschlicher Handlungen, sind zweitrangig und durch solche nach dem wertenden Verhalten der Menschen zu substituieren. Der Wert eines Gutes bzw. einer Dienstleistung ist keine diesen anhaftende Charakteristik, sondern das Resultat eines subjektiven menschlichen Urteils und der Aufbau dieser Theorien folgt daher folgendem Schema: Der Erklärung des Wertes von Gütern als Folge der Urteilsbildung von Menschen folgt eine Untersuchung über die das wertende Verhalten der Menschen bestimmenden Gesetzmäßigkeiten; diesen Abschnitten folgen dann Er2 Smith 1776: Wealth of Nations; Rau 1826: Grundsätze.
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klärungen von Tausch und der Preisbildung, die ihrerseits gefolgt sind von Erklärungen von Geld, also Gut – Wert – Tausch – Preis – Geld.3 Diesen Erklärungen folgen dann eventuell Theorien zur Produktion und zur Einkommensverteilung. Da sowohl die Theorien der objektiven als auch die der subjektiven Bewertungen empirische Theorien sind und demnach die Erfahrung über deren Geltung entscheidet, sind auch die Maßstäbe, nach denen Menschen physische Dinge und menschliche Handlungen als Güter und Dienstleistungen bewerten, als prinzipiell beobachtbar formuliert. Der Arbeitsaufwand, der zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen benötigt wird, ist durch Zeit physisch messbar ; die negative Formulierung des Konzepts des Grenznutzens als Einstellung des am wenigst wichtig erachteten Bedürfnisses als Folge der Kürzung eines Gütervorrats um eine Einheit scheint den Grenznutzen ebenfalls der Beobachtung zugänglich zu machen.4 Die beiden methodologischen Positionen, mit denen diese empirischen Theorien kombiniert werden, sind die des methodologischen Essentialismus und des methodologischen Individualismus und deren Varianten. Die Positionen des methodologischen Essentialismus sind älter als jene des methodologischen Individualismus und fordern, dass befriedigende Erklärungen der Stabilität und der Veränderung von sozialen Institutionen in der Beschreibung ihres Wesens oder ihrer Essenz liegen.5 Drei Varianten sind hier zu unterscheiden: ›vertragstheoretische‹, die durch die Feststellung des Ursprungs von Institutionen deren Wesen im Definiens des sie definierenden Begriffs, des Definiendums, beschreiben; ›empirische‹, wonach das Wesen sozialer Institutionen durch die Angabe ihres Entwicklungsgesetzes beschrieben wird, da das Wesen als inhärente Potentialität sich in historisch konkreten Erscheinungsformen manifestiert; und ›semantische‹, wonach Erkenntnis des Wesens sozialer Institutionen durch die Bedeutungsanalyse von Begriffen gewonnen werden kann, da das Definiens des Definiendums deren Wesen beschreibt und damit Erkenntnis ist. Die Positionen des methodologischen Individualismus behaupten hingegen, dass befriedigende Erklärungen in den theoretischen Sozialwissenschaften nur dann vorliegen, wenn die Stabilität und die Veränderung sozialer Strukturen bzw. die von sozialen Institutionen, Tatsachen und Prozessen nominalistisch als das ungeplante Ergebnis des Zusammenspiels des intendierten Verhaltens von Menschen erklärt wird. Beide methodologische Positionen implizieren ganz bestimmte Forschungsprogramme: Zur Aufdeckung von Essenzen bedarf es nach Ansicht des methodologischen Essentialismus 3 Hufeland 1807: Grundlegung; Menger 1871: Grundsätze. 4 Menger 1871: Grundsätze, 90. 5 Popper 1957: Offene Gesellschaft, Bd. I/5 und Bd. II/1 und 2.
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historischer Untersuchungen, die den Ursprung oder das Entwicklungsgesetz sozialer Institutionen (Strukturen) beschreiben, oder aber der (historischen) Analyse von Begriffen. Positionen des methodologischen Individualismus fordern die Erklärung des individuell intendierten Verhaltens der Menschen als Basis zur Erklärung sozialer Tatsachen, sozialer Prozesse, Institutionen oder Strukturen als ungeplantes Resultat der Interaktion des individuell intendierten Handelns. Damit ergeben sich vier mögliche Kombinationen aus den beiden empirischen und den beiden methodologischen Positionen. Theorien der subjektiven Bewertungen kombiniert mit den Positionen des methodologischen Individualismus; Theorien der subjektiven Bewertungen mit Positionen des methodologischen Essentialismus; Theorien der objektiven Bewertungen mit Positionen des methodologischen Individualismus und Theorien der objektiven Bewertungen mit Positionen des methodologischen Essentialismus. Historisch gesehen sind diese Theorien und Positionen trotz ihres unterschiedlichen erkenntnislogischen Status eng verbunden: Wie die Geschichte der ökonomischen Theorie zeigt, werfen offene Probleme der ökonomischen Theorie vielfach methodologische Debatten zur Struktur befriedigender Erklärungen in den theoretischen Sozialwissenschaften auf, durch deren Erörterung man die Lösung ökonomisch theoretischer Probleme erhofft. Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Wien vollzieht sich in drei unterschiedlichen Phasen, die jeweils durch ganz spezifische Kombinationen aus methodologischen Positionen und empirischen, das wertende Verhalten der Menschen erklärende Theorien, charakterisiert sind. Beginnend 1763 mit der Akademisierung der Politischen Ökonomie durch die Einrichtung eines kameralistischen Lehrstuhls endet diese erste Phase etwa in den frühen 1870er Jahren.6 Kennzeichen dieser Phase ist, dass die wichtigsten Repräsentanten der Politischen Ökonomie an der Universität Wien spezifische Varianten aus methodologischem Essentialismus und eklektischen, arbeitstheoretische und gebrauchswerttheoretische Elemente enthaltenden Werttheorien vertreten. Die zweite Phase beginnt mit der grundlegenden Veröffentlichung von Menger 1871 und endet in den späten 1940er Jahren. Sie ist gekennzeichnet durch Kombinationen von Theorien der subjektiven Bewertungen mit Positionen des methodologischen Individualismus und des methodologischen Essentialismus. Kombinationen aus Theorien der subjektiven Bewertungen und methodologischem Individualismus lösen zunächst die in der ersten Phase vertretenen Positionen ab, werden aber ab den 1920er Jahren von Kombinationen aus Theorien 6 Grund für die Errichtung dieses Lehrstuhls war vermutlich der Bedarf an juristisch und vor allem finanzwissenschaftlich geschulten Staatsbeamten. Zur Entwicklung der Kameralismus in Österreich vgl. Weber 1949: Wirtschaftswissenschaft und Sommer 1925: Kameralisten.
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der subjektiven Bewertungen und methodologischem Essentialismus an der Universität Wien zunehmend verdrängt. Die dritte – kurze – Phase beginnt in den 1950er Jahren und endet etwa im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie ist gekennzeichnet durch eine Neuorientierung in Forschung und Lehre, d. h. durch eine Abkehr von den durch die spezifische Kombination aus Theorien der subjektiven Bewertungen und methodologischem Essentialismus bestimmten Fragestellungen und durch die Übernahme nominalistischer Positionen, wie sie in den Wirtschaftswissenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschen. Dies betrifft sowohl mikro- als auch makroökonomische Erklärungen. Kombinationen aus methodologischem Individualismus und Theorien der subjektiven Bewertungen werden in Rahmen der Mikroökonomie vertreten. Hinsichtlich nominalistischer makroökonomischer Erklärungen wird die Frage der Notwendigkeit ihrer individualistischen Begründung aber diskutiert.7
Erste Phase: Kameralisten bis Österreichische Schule – 1763 bis 1871 Die Repräsentanten der Politischen Ökonomie in der ersten Phase der Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Wien, allen voran Sonnenfels, Kudler, Stein und Schäffle, vertreten Positionen, die aus Kombinationen des methodologischen Essentialismus und Elementen arbeitstheoretischer und gebrauchswerttheoretischer ökonomischer Theorien bestehen. Sonnenfels8 ist berühmt für seine Verteidigung und teilweise Durchsetzung der großen humanistischen Ideen der Aufklärung, wie die Abschaffung der Folter und die versuchte Abschaffung der Todesstrafe. Seine Leistungen auf akademischem Gebiet werden vor allem in der Trennung der Verwaltungswissenschaften von den Wirtschaftswissenschaften seiner Zeit (Staatswirtschaft, Volkswirtschaft, Finanzwirtschaft und Betriebswirtschaft) gesehen. Seine wirtschaftspolitischen Empfehlungen basieren dabei auf einer essentialistischen und naturalistisch begründeten, vertragstheoretischen Erklärung des Ursprungs des Staates, die dem Erklärungsmuster Rousseaus folgt.9 Durch die Feststellung des Ursprungs des Staates wird sein Wesen als ein mit eigener Identität und eigenem Willen ausgestatteter Organismus erkannt, dessen Aufgabe in der Sicherung der eigenen Stabilität und der Behauptung gegenüber anderen konkurrierenden Staaten sowie in der Stabilität der Gesellschaft be7 Streißler 1977: Microeconomic Foundations. 8 Sonnenfels wird 1763 an die Universität Wien berufen. 9 Roscher 1874: Geschichte, 122 f.
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steht. Zur Sicherung und Durchführung dieser Ziele empfiehlt Sonnenfels10 inlandswirksame beschäftigungspolitische Maßnahmen, die merkantilistischen Prinzipien folgen. Da aber diese Maßnahmen aus der von ihm entwickelten essentialistischen Theorie über den Ursprung des Staates abgeleitet werden, ist ihre ökonomische Begründung nur wenig entwickelt. Diese daher scheinbar rein normativen Empfehlungen sind eher als positive Beschreibungen der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu interpretieren.11 Diese fehlende ökonomisch-theoretische Rechtfertigung wirtschaftspolitischer Maßnahmen versucht Kudler12 durch die Publikation eines Lehrbuches 1846 zu ergänzen, zumal er nach den geltenden Zensurbestimmungen das bereits 70 Jahre alte Buch von Sonnenfels seinen Vorlesungen zu Grunde legen musste.13 Kudlers Lehrbuch zerfällt in einen theoretischen und in einen praktischen, wirtschaftspolitischen Teil. Obgleich der Aufbau des theoretischen Teils von Rau14 inspiriert ist und grundlegenden Prinzipien der klassischen Theorie und arbeitstheoretischen Konzeptionen folgt, übernimmt er auch gebrauchswerttheoretische Elemente der bereits existierenden und hoch entwickelten gebrauchswerttheoretischen bzw. proto-neoklassischen deutschen ökonomisch-theoretischen Tradition.15 Diese Tradition entwickelt sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert im Rahmen einer kritischen Rezeption von Smiths Werk16 und legt entgegen den arbeitstheoretischen Konzeptionen von Smith vielfach radikale Theorien der subjektiven Bewertungen ihren preistheoretischen Erklärungen zu Grunde. Der diesem eklektischen theoretischen Teil folgende praktische Teil ist – da durch die klassische Theorie inspiriert – in ökonomischer Hinsicht liberal, wenngleich auch eingeschränkt. Diese Einschränkungen resultieren aus der für den deutschen Liberalismus typischen Haltung, wonach der Staat als Organismus ein mit eigenen Interessen begabtes Wesen ist, dem sich die Interessen der Menschen unterzuordnen haben.17 Hatte Kudler versucht, eine geraffte, an einzelnen ökonomisch-theoretischen Problemen orientierte eklektische Darstellung der ökonomischen Theorie zu geben, so betonen die beiden ihm nachfolgenden Repräsentanten der Politischen Ökonomie an der Universität Wien Stein und Schäffle die soziokulturelle 10 Sonnenfels 1765 – 1767: Grundsätze. 11 Zur wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Sandgruber 1995: 143 ff. 12 Kudler wird 1821 an die Universität Wien berufen. 13 Kudler 1846: Grundlehren, Vorrede. 14 Rau 1826: Grundsätze. 15 Zur Entwicklung und insbesondere zu der hochstehenden theoretischen Qualität dieser Tradition vgl. insbesondere Streißler 1989: Wurzeln sowie 1990: Carl Menger. 16 Smith 1776: Wealth of Nations. 17 Kudler 1834: Versuch.
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Bedingtheit ökonomischen Handelns. Dieser soziokulturelle Rahmen menschlichen Handelns ist essentialistisch auf der Basis von historischen und philosophischen Studien zu erklären, da individualistische Erklärungen dieses Rahmens einen unerwünschten – weil nicht letzte Erklärungen liefernden – unendlichen Regress an Erklärungen zur Folge hätte. Stein18 entwirft ein philosophisches System, das das soziale Universum umfassend erklärt und die Theorie ökonomischen Handelns entsprechend integriert.19 Diese ist vor allem durch Hegels Identitätsphilosophie inspiriert, insbesondere durch deren Essentialismus, der ähnlich jenem Herakliths auch die Entwicklung der Essenzen selbst gestattet. Die Entwicklung des sozialen Universums ist demnach ein emergenter oder selbstschöpferischer Prozess, der aus dem Gegensatz des ›Persönlichen‹ und des ›Natürlichen‹ resultiert. Dieser Prozess, dessen zentrale Momente die Psychologie der Menschen, das Rechtssystem und die Sittlichkeit sind, bildet den Rahmen für ökonomisches Handeln. Steins ökonomische Theorie weicht daher sowohl ihrer Struktur als auch ihrem Inhalt nach erheblich von den beiden hochentwickelten klassischen und protoneoklassischen Traditionen ab. Ihr Erklärungswert ist überdies schwer zu beurteilen, da Stein seine philosophischen und ökonomischen Darlegungen in eine eigens entworfene Terminologie einkleidet.20 Theorien subjektiver Bewertungen als Basis preistheoretischer Erklärungen bilden keinen Gegensatz zu Positionen des methodologischen Essentialismus, da dieser die Forderung nach historischen Untersuchungen auf die Erklärung des Ursprungs und der Entwicklung des sozio-kulturellen Rahmens beschränkt. Diese Überlegungen bilden die Grundlinien des von Schäffle21 entwickelten Ansatzes. In seinen Werken unternimmt Schäffle22 den sehr umfangreichen Versuch, das soziale und ökonomische Leben der Menschen nach den Prinzipien des methodologischen Essentialismus zu erklären. Der soziale Körper ist ein nach sozialen Gesetzmäßigkeiten bestimmtes Individuum, der aber ebenso verschiedene historische Stadien, die in Form eines Entwicklungsgesetzes beschrieben werden, durchläuft. In ökonomisch-theoretischer Hinsicht ist Schäffle jedoch besonders interessant, da er im Rahmen seiner preistheoretischen Erklärungen Ideen wie z. B. jene des Grenznutzens erwähnt. Wie Menger jedoch zeigt, verwendet Schäffle diese Idee nicht systematisch zur Erklärung der Bewertung eines gesamten Gütervorrats.23
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Stein wird 1855 an die Universität Wien berufen. Stein 1878: Volkswirthschaftslehre. Kautz 1860: National-Oekonomik, 699 ff. Schäffle wird 1868 an die Universität Wien berufen. Schäffle 1867: System; Schäffle 1875 – 1878: Bau und Leben. Menger 1871: Grundsätze, 79.
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Zweite Phase: Die Österreichische Schule der Nationalökonomie – 1871 bis 1947 Mit Menger 1871 beginnt eine neue Phase in der Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Wien.24 Sie ist gekennzeichnet durch die Substitution der bisher vertretenen Kombinationen aus Varianten des methodologischen Essentialismus und (eklektischen) Theorien über das wertende Verhalten der Menschen durch eine von Menger entwickelte Kombination aus methodologischem Individualismus und einer Theorie der subjektiven Bewertungen. Mengers grundlegende Intention besteht in der Entwicklung einer einheitlichen Preistheorie, da weder die klassischen kostwerttheoretischen, noch die deutschen gebrauchswerttheoretischen bzw. proto-neoklassischen Ansätze25 das Problem der Erklärung von Tausch und der Preisbildung im allgemeinen befriedigend lösen können. Kosten- oder arbeitstheoretische Erklärungen bedürfen der Einführung psychologischer Hypothesen; gebrauchswert- bzw. proto-neoklassische Erklärungen besitzen indes als Taxonomien von Motivbeschreibungen reservationspreistheoretischen Charakter und sehen in bereits entwickelten Konzepten des Grenznutzens kein systematisches Element einer befriedigenden Preistheorie. Eine befriedigende Erklärung von Tausch und der Preisbildung bedarf daher nach Menger der Idee des Grenznutzens als systematisches Element der Theorie. Um aber die Stabilität sozialer Strukturen oder sozialer Institutionen als vielfach nicht geplante Produkte der Menschen zu erklären, bedarf es nach Menger nicht der Einführung psychologischer Hypothesen, welche einen ›Gemeinsinn‹ oder eine ›Neigung zu tauschen‹ postulieren. Es genügt, sie als ungeplantes Ergebnis des Zusammenspiels individuell intendierten Verhaltens zu erklären, i. e. nach den methodologischen Prinzipien des methodologischen Individualismus. Mengers Kombination aus einer verbesserten Theorie der subjektiven Bewertungen und einer verbesserten Position des methodologischen Individualismus konstituiert gegenüber sämtlichen zu seiner Zeit existierenden Positionen einen deutlichen Bruch.26 Paradigmatisch wird diese Kombination in Mengers Werk »Grundsätze der Volkswirthschaftslehre« (1871) ausgeführt. Die Rezeption dieser grundlegenden Arbeit ist zunächst sehr zurückhaltend, da Mengers Bruch von den Rezensenten nicht erkannt wird. Aus diesen Gründen
24 Menger wird 1873 als außerordentlicher und 1879 als ordentlicher Professor berufen. 25 Streißler 1990: Carl Menger. 26 Bereits 1807 wurde von Hufeland eine Kombination aus einer (radikalen) Theorie der subjektiven Bewertungen und dem methodologischen Individualismus entworfen; Hufeland kann aber das preistheoretische Problem nicht lösen, da er die Idee des Grenznutzens nicht kennt.
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publiziert Menger eine erkenntnislogische Arbeit,27 die diese Kombination erläutert und den erkenntnislogischen Status der theoretischen Sozialwissenschaften durch eine Lösung des so genannten »Induktionsproblems« zu klären versucht.28 Damit entwickelt Menger ein äußerst fruchtbares Forschungsprogramm, das zur Grundlage der so genannten »Österreichischen Schule« der Nationalökonomie wird, die jedoch bereits zu Ende der 1880er Jahre in zwei Stränge zerfällt: In einen, der Mengers Kombination aus methodologischem Individualismus und Theorie der subjektiven Bewertungen als Basis aller weiteren Untersuchungen übernimmt, und in einen, der zwar Mengers Theorie der subjektiven Bewertungen kritisch übernimmt, jedoch den methodologischen Individualismus durch essentialistische Konzeptionen substituiert. Die Autoren, die dem erstgenannten Zweig zuzurechnen sind – Böhm-Bawerk, Mises, Haberler, Machlup, Hayek, Morgenstern und viele andere mehr –, entwickeln äußerst fruchtbare und für die Entwicklung der ökonomischen Theorie höchst wichtige Beiträge.29 Allerdings kann sich dieser Zweig nur bedingt akademisch an der Universität Wien etablieren, da die ihm zuzurechnenden Autoren entweder als Universitätsassistenten oder als Privatdozenten mit dem Titel eines außerordentlichen Professors, nicht aber als Lehrstuhlinhaber tätig sind. Insoweit bedeutende Beiträge zur ökonomischen Theorie, wie etwa zur Spieltheorie, entstehen, werden diese in Epizyklen des Wiener Kreises, wie etwa im Mathematischen Kolloquium von Karl Menger,30 oder dem Privatseminar von Mises bzw. auch in Institutionen außerhalb der Universität wie z. B. in dem von Mises und Hayek 1927 gegründeten Institut für Konjunkturforschung und nicht durch die hauptsächlichen Repräsentanten der Nationalökonomie an der Universität Wien entwickelt. Infolge der damit gegebenen Aussichtslosigkeit, akademische Karrieren an der Universität Wien zu etablieren (die insbesondere durch die Berufungen von Spann und Degenfeld-Schonburg sowie durch die politischen Entwicklungen in Österreich noch verstärkt wird; siehe dazu weiter unten), emigrieren einige der diesem Zweig der Österreichischen Schule zuzurechnenden Ökonomen schon relativ früh.31 Akademisch an der Universität Wien etablieren konnte sich vielmehr der zweite Strang der Österreichischen Schule durch dessen Repräsentanten Wie27 Menger 1883: Methoden der Socialwissenschaften. 28 Milford 1989: Lösungsversuchen. 29 Die Literatur zu diesem Zweig der Österreichischen Schule bzw. deren Vertretern ist heute unübersehbar ; auf eine selbst knappe Darstellung muss in diesem Beitrag verzichtet werden, zumal dieser Zweig, abgesehen von Böhm-Bawerk (Böhm-Bawerk 1924: Nationalökonomie), sich eben nur bedingt an der Universität etablieren konnte. 30 Sohn des Ökonomen Carl Menger. 31 Rosenstein-Rodan 1930, Hayek 1931, Mises 1934, Machlup 1935 und Haberler 1936. Zur Emigrationsgeschichte deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler vgl. Hagemann /Krohn 1999: Emigration.
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ser32 und Mayer. Bereits ein Jahr nach Mengers methodologischen Untersuchungen entwickelt Wieser eine Variante des methodologischen Essentialismus.33 Demnach sind die Naturwissenschaften durch induktive Verfahren methodisch ausgezeichnet und entwickeln nominalistische Erklärungen; soziale Tatsachen, Prozesse und Strukturen sind hingegen, ähnlich den sie beschreibenden Theorien, Produkte von Menschen und emanieren aus dessen Wesen bzw. dem Sprachgeist eines Volkes.34 Da Theorien und Begriffe aus dem Sprachgeist eines Volkes emanieren, ist deren Analyse in den Sozialwissenschaften von besonderer Bedeutung, da ihr Definiens Erkenntnis enthält. Diese wahren und sicheren Begriffsbestimmungen, die z. B. durch Introspektion intuitiv erfasst werden, bilden nach dieser Auffassung die Basis jeder ökonomischen Theorie und somit auch der Werttheorie. Hatte Menger im Rahmen eines nominalistischen und individualistischen Ansatzes das wertende Verhalten der Menschen unter verschiedenen Bedingungen zu erklären versucht, intendiert Wieser auf der Basis der Feststellung der Ursache des Wertes – der Bedürfnisse und Bedürfnisstrukturen und der Bestimmung ihres Wesens – eine Werttheorie zu entwickeln. Durch diese Theorie meint er, offene Probleme der Werttheorie Mengers, wie z. B. das Zurechnungsproblem, lösen zu können. Ähnlich den Autoren der deutschen Nationalökonomie kombiniert Wieser diese Werttheorie mit einem Ansatz des methodologischen Essentialismus und bettet diese das wertende Verhalten der Menschen erklärende Theorie in einen dem individuellen Verhalten vorausgesetzten soziokulturellen Rahmen ein, dessen Stabilität und Wandel historisch zu erklären ist.35 Diese Untersuchungen finden in Wiesers historizistischem Spätwerk »Gesetz der Macht« (1926) einen konsequenten Abschluss. Wiesers Position ist demnach gleichsam doppelt essentialistisch: sowohl hinsichtlich der Erklärung des Wertes, als auch hinsichtlich der Erklärung der sozio-kulturellen Voraussetzungen handelnder Menschen. Um das Wesen des Wertes zu bestimmen, ist dessen Ursprung in den Bedürfnissen mittels Begriffsanalysen zu untersuchen und nach Ableitung der Hauptgesetze des Wertes individuelles menschliches Handeln zu erklären; um aber soziale Systeme zu erklären, bedarf es essentialistischer Erklärungen des sozio-kulturellen Rahmens individuellen Handelns. Diese Kombination aus einer essentialistisch inspirierten Theorie der subjektiven Bewertungen und der Position eines methodologischen Essentialismus 32 Böhm-Bawerk übernimmt 1904 eine Professur an der Universität Wien und stirbt 1914; Wieser wird 1903 Nachfolger von Menger, womit der zweite, essentialistische Zweig der Österreichischen Schule an der Universität akademisch voll etabliert ist. 1923 wird Mayer und nicht Mises Nachfolger von Wieser. 33 Wieser 1884: Ursprung. 34 Ebd., I. Hauptstück. 35 Wieser 1924: Theorie.
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wird von Mayer fortgeführt.36 Ähnlich Wieser entwickelt auch er eine Werttheorie, die auf einer Analyse der Bedürfnisstruktur beruht und nicht das wertende Verhalten der Menschen unter verschiedenen Bedingungen untersucht. Die durch Introspektion und Intuition erfassten Strukturgesetze der Bedürfnisse bilden jene Prämissen, aus denen die Theorie der subjektiven Bewertungen und der Preisbildung abzuleiten ist. Im Zuge seiner Überlegungen weist Mayer die im Rahmen nominalistischer und individualistischer, das wertende Verhalten der Menschen erklärende Theorien und die dabei entwickelten Konzepte als zirkulär zurück, da diese bereits hypothetische Preise voraussetzten, deren Bildung jedoch erst ausschließlich aus der Tauschbereitschaft von Menschen zu erklären sei. Wieser und Mayer sind jedoch nicht die einzigen Repräsentanten der Politischen Ökonomie an der Universität Wien, die essentialistische Positionen vertreten. Mit Spann37 wird 1919 ein zusätzlicher Vertreter des Essentialismus in der Nationalökonomie berufen. Während aber Wieser und Mayer Kombinationen aus methodologischem Essentialismus und Theorien subjektiver Bewertungen entwickeln, lehnt Spann in seiner essentialistischen Position alle Formen solcher Kombinationen ab. Entgegen der Ansicht, dass befriedigende Erklärungen von Tausch und Preisbildung das Kernstück jeder ökonomischen Theorie bilden, meint er, dass diese durch eine so genannte Leistungslehre zu ersetzen ist. Demnach sind soziale Aggregate als Ganzheiten und als Voraussetzung menschlicher Handlungen zu betrachten, da durch diese individuelles Handeln erst konstituiert wird. Das zentrale ökonomisch-theoretische Problem kann daher nach Spann nicht in der Entwicklung einer Wert- und Preistheorie bestehen. Da Ganzheiten die Voraussetzung für jede Interaktion von Menschen als Glieder dieser Ganzheiten sind, erblickt er in der Erforschung der Strukturund Entwicklungsgesetze von Ganzheiten sowie in der Leistung der Glieder für solche, der Gliederung des leistungsmäßigen Zusammenhanges und der Leistungsverknüpfung das primäre Ziel einer universalistischen ökonomischen Theorie.38 Die verschiedenen Varianten essentialistischer Positionen in der National36 Mayer 1911: Grundlegung; Mayer 1932: Erkenntniswert. 37 Spann wird 1919 an die Universität Wien berufen und ist Nachfolger von E. Philippovich und damit Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Stein. Mit der Berufung Spanns sind auf dem Gebiet der Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre hauptsächlich essentialistische Positionen vertreten; auf den dritten, zunächst von Grünberg – einem Marxisten – besetzten Lehrstuhl wird, nachdem Grünberg 1924 nach Frankfurt übersiedelt, 1927 Degenfeld-Schonburg berufen. Degenfeld-Schonburg vertritt ebenfalls essentialistische Positionen (Degenfeld 1927: Geist und Wirtschaft). Dass Wieser und Spann ähnlich totalitäre politische Positionen vertreten, ist nicht weiter überraschend, da ein innerer Zusammenhang zwischen essentialistischen und totalitären Positionen besteht (vgl. Popper 1957: Offene Gesellschaft). 38 Spann 1923: Fundament; Spann 1928: Universalismus.
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ökonomie an der Universität Wien erweisen sich nur als wenig fruchtbar. Obgleich mit der Gründung der Zeitschrift für Nationalökonomie durch Mayer und vor allem durch deren Schriftleiter Morgenstern ein Forum internationalen Austausches besteht, hat, wie etwa die Diskussion um das Zurechnungsproblem zeigt, das spezifisch essentialistische Forschungsprogramm des zweiten Zweiges der Österreichischen Schule isolationistische Tendenzen gegenüber der allgemeine Diskussion ökonomisch-theoretischer Probleme zur Folge. Ähnliches gilt auch für den holistischen Ansatz von Spann.
Dritte Phase: Neuorientierung – 1950 bis 1976 Die dritte Phase der Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Wien ist gekennzeichnet durch eine radikale Neuorientierung in Lehre und Forschung. In der Forschung findet dies seinen Ausdruck in der sukzessiven Substitution essentialistischer Positionen durch nominalistische, die die Wirtschaftswissenschaften mittlerweile generell dominieren. Die spezifisch wertund preistheoretischen Debatten des essentialistischen Zweigs der österreichischen Schule, insbesondere deren Kritik an der behaupteten Zirkularität der neoklassischen Preistheorie und die Notwendigkeit, diese durch einen kausalgenetischen Ansatz zu ersetzen, spielen – nicht zuletzt wegen der weiteren Entwicklungen in der Wert- und Preistheorie – keine Rolle mehr. Die in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren aktiven Ökonomen an der Universität Wien orientieren ihre wissenschaftlichen Arbeiten und Diskussionen an den in dieser Periode international diskutierten Problemen und Theorien. Zusätzlich findet diese Neuorientierung ihren Ausdruck auch in der Einrichtung eines eigenen volkswirtschaftlichen Curriculums,39 das nach 200 Jahren disziplinärer Verankerung nunmehr 1966 eingerichtet wird; 1976 kommt es zur Gründung einer eigenen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Obgleich das angebotene Curriculum der Volkswirtschaftslehre zunächst noch sehr geprägt ist durch das Berufsbild eines ökonomisch geschulten staatswirtschaftlichen Beamten, wird das Curriculum sukzessive jenen Anforderungen angepasst, denen gegenwärtige Ökonomen entsprechen müssen.
39 Mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 1938 und 1945, in der es möglich war, an der Universität ein Doktorat der Volkswirtschaftslehre zu erwerben (vgl. Grandner 2005: Studium).
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Gerd B. Müller und Hans Nemeschkal*
Zoologie im Hauch der Moderne: Vom Typus zum offenen System
Das »Reich der Steine, Pflanzen und Thiere« wurde an der Universität Wien ab 1752 als Historia Naturalis unterrichtet. Aus diesen gemeinsamen Ursprüngen hervorgehende thematische und institutionelle Differenzierungen der biologischen Disziplinen sind Ergebnis einer dynamischen Wechselwirkung von inhaltlichen, strukturellen und gesellschaftlichen Faktoren. Der vorliegende Beitrag will nicht die vollständige, chronologische und personelle Entwicklung der Zoologie an der Universität Wien nachzeichnen, wie sie schon in detailgetreuen Abhandlungen erfasst wurde (Salvini-Plawen et al. 1999), vielmehr soll der universitär und wissenschaftstheoretisch bedeutsame Wandel in den Leitmotiven der zoologischen Forschung hervorgehoben werden. In dieser Entwicklung identifizieren wir drei entscheidende Wenden, die sich in den personellen und strukturellen Veränderungen der zoologisch-biologischen Disziplinen widerspiegeln und weitreichende Konsequenzen sowohl für das lokale als auch das internationale Verständnis der Biowissenschaften hatten. Im Besonderen wird auf Berthold Hatschek, Hans Leo Przibram und Ludwig von Bertalanffy eingegangen. Einige der unbeachteten Auswirkungen biologisch begründeter Konzeptionen auf nicht-biologische Disziplinen und kulturelle Entwicklungen sollen an ihrem Beispiel dargelegt werden. Es lässt sich zeigen, dass eine charakteristische Form von Zoologie, die ihre Wurzeln in der Wiener Moderne hatte, in vielerlei Hinsicht zum naturwissenschaftlich-biologischen Weltbild des 20. Jahrhunderts beigetragen hat.
Naturgeschichtliche Ursprünge Die »Wissenschaft vom Thiere« ist an der Alma Mater Rudolphina ab 1774 mit einer Lehrkanzel für Spezielle Naturgeschichte vertreten und ab 1783 mit einer weiteren Lehrkanzel für Allgemeine Naturgeschichte. Ein eigenständiges aka* Department für Theoretische Biologie der Universität Wien.
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demisches Fach für »Zoologie« wird erst durch die Studien- und Unterrichtsreform von 1848 geschaffen, deren Hauptanliegen, neben der Lehr- und Lernfreiheit und der engen Verbindung von Lehre und Forschung, die Förderung der Naturwissenschaften war. 1849 erfolgte die Gründung der ersten Lehrkanzel für Zoologie an einer österreichischen Universität. Auf ihre erste Professur wurde der Ichthyologe und Systematiker Rudolf Kner berufen. In der Folge entstanden aus verschiedenen bereits bestehenden Struktureinheiten, wie z. B. dem Naturhistorischen Museum der Universität, zunächst ein »Zoologisches Institut« (1863), noch im gleichen Jahr auch ein »Zootomisches Institut« und schließlich, ab 1873, noch ein »Zoologisch-vergleichend-anatomisches Institut«, sodass zwischen 1873 und 1883 an der Universität Wien drei zoologische Institute zugleich existierten. Letztlich entstanden daraus ab 1896 das I. und das II. Zoologische Institut, die nun beide im Hauptgebäude der Universität Aufnahme fanden. Die Arbeitsschwerpunkte der jeweiligen Institutsvorstände lagen vorwiegend im taxonomisch-systematischen und morphologisch-anatomischen Bereich und führten zu einer Reihe von originären Leistungen der Wiener Zoologie, wie z. B. der Etablierung des ersten deutschsprachigen Lehrbuchs der Zoologie auf der Grundlage der Deszendenzlehre (Claus et al. 1905), der Großeinteilung des Tierreichs in Proto- und Deuterostomia (Grobben 1908) oder der Begründung einer funktionellen Wirbeltieranatomie (Ihle et al. 1927). Für einen Gesamtüberblick der wissenschaftlichen Themen, sowie für die personelle, strukturelle und räumliche Entwicklung der Institute verweisen wir auf Salvini-Plawen et al. 1999. Die Ableitung der Zoologie aus der Historia Naturalis und die intellektuelle Verhaftung in einem auf Einordnung der Organismenvielfalt im Sinne des Linn¦schen Systems ausgerichteten Zugang ist offensichtlich. Klassifikation war das Hauptanliegen der zoologischen Arbeit, zwar oft in Verbindung mit einer funktionellen Deutung, aber ohne eigentlichen Anspruch auf Erklärung. In dieser typologischen Grundkonzeption wurden individuelle Organismen als Repräsentanten einer Norm verstanden und die zoologische Arbeit als möglichst genaue Definition dieser Norm, während die Variation der Individuen als Abweichung von der Norm keinen expliziten Untersuchungsgegenstand darstellte. Die Typologie war Ausgangspunkt und Kern einer taxonomisch-morphologisch orientierten Zoologie (vgl. Hofer 1974) und das Anlegen umfassender Sammlungen ihr wichtigstes Resultat. Noch heute bilden die hierfür angefertigten Präparate, etwa jene von Josef Hyrtl, den Grundstock der Zoologischen Sammlung an der Fakultät für Lebenswissensschaften. Die typologische Grundkonzeption der lokalen und internationalen zoologischen Forschung wurde erst durch das Auftreten der Evolutionstheorie erschüttert, die nicht die Stabilität, sondern die Veränderung der Organismen ins
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Zentrum der Untersuchung stellte und durch neue methodische Zugänge die Konzeption von biologischer Wissenschaft grundlegend umgestaltete. Die Erforschung der tierischen Lebensformen nahm eine kausal-analytische sowie mechanistische Richtung. Die damit einhergehende Theoretisierung der Zoologie weist an den Wiener Instituten drei wesentliche Wenden auf, die jeweils mit dem Wirken spezifischer Akteure verbunden sind.
Abwendung vom Typus Der bedeutendste Auslöser einer theoriegeleiteten, biologischen Wissenschaft war die Formulierung der ersten mechanistisch begründeten Evolutionstheorie durch Charles Darwin (1859) und ihre rasante Verbreitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr wesentlichster deutschsprachiger Vertreter, Ernst Haeckel, hatte 1873 einen Wechsel nach Wien auf die Nachfolge von Rudolf Kner erwogen. Der Ruf erging aber schließlich an Carl Claus, der ebenfalls überzeugter Darwinist und ein hervorragender Systematiker war. Seine Vorlesungen führten die Darwinsche Evolutionstheorie in das Studium der Zoologie ein und er legte den Grundstein für einige, weitgehend bis heute gültige, systematische Klassifikationen, insbesondere der Crustacea. Die entscheidende Wende zur Theorie kam aber, als es Haeckel gelang, seinen früheren Schüler und zwischenzeitlichen Professor für Zoologie an der Universität Prag, Berthold Hatschek, 1896 auf die Nachfolge von Claus zu empfehlen. Die besondere Rolle von Ontogenienforschung als Überprüfungsmöglichkeit der Darwinschen Theorie war eng mit der Berufung von Hatschek verbunden. Hatscheks bevorzugtes Interesse an der Verbindung von Morphologie, ontogenetischer Entwicklung und Deszendenzlehre mag einerseits im Umstand begründet liegen, dass er bei Ernst Haeckel promoviert und das Grundkonzept biologischen Forschens aus dessen »Genereller Morphologie« (Haeckel 1866) übernommen hatte. Nicht unwesentlich mag aber auch die Tatsache sein, dass Hatschek sowohl bei Leuckart in Leipzig als auch bei Claus in Wien studiert hatte und gerade durch letzteren der Zugang zu der mannigfaltigen marinen Fauna und dem direkten Studium verschiedenartigster Entwicklungsformen über die von ihm mitbegründete »Zoologische Station« in Triest möglich war. Hatscheks eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit larvaler Organisation (z. B. »Trochophora«) und deren Bedeutung für die Großsystematik bei Evertebraten (vgl. »Trochozoa«) sowie seine genauen Studien zur ontogenetischen Entwicklung diverser Wirbelloser waren schon zu seinen Lebzeiten in zoologischen Fachkreisen hoch geschätzt. Insbesondere schuf er mit seinen Studien zur Entwicklung des Lanzettfischchens (Branchiostoma lanceolatum; Hatschek et al. 1893) die Grundlage für die wissenschaftliche Befassung mit
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einem Tier, dessen Ontogenie bereits kurz danach als Prototyp von Chordatenentwicklung und Vorbild der Wirbeltierentwicklung schlechthin galt. Bis heute hat Branchiostoma seine zentrale Stellung als Modellorganismus beibehalten und Hatscheks Buch gilt immer noch als Klassiker. Die rezente Entwicklungsbiologie und Genetik haben diese Rolle noch verstärkt (z. B. GibbsonBrown et al. 2008). Die Grundlagen für die Erstellung eines Entwicklungsmodells geschaffen zu haben, ist eine bedeutende theoretische Leistung Hatscheks, zumal Modelle als komprimierte Zusammenfassungen biologischer Theorien gelten können (Laubichler et al. 2007). Mit der Tatsache, dass Hatschek im wissenschaftsgeschichtlichen Vergleich die Aufmerksamkeit schon sehr früh auf die Chromosomen als organisch-cytologische Träger der Vererbung gelenkt und eine eigenständige »Hypothese der Organischen Vererbung« entwickelt hatte (Hatschek 1905a), wird offenbar, dass er mit seiner Sicht der Evolutionslehre nicht nur auf der Höhe der Zeit gewesen war, sondern unter den Vorreitern dieser Disziplin. Seine frühe Bezugnahme auf die Mendelschen Gesetze zur regelhaften Weitergabe des Erbguts unterstreicht seine diesbezügliche Bedeutung. Zur Erinnerung: Erst 1900 wurden von Correns (parallel zu de Vries) die von Mendel entwickelten Vererbungsregeln wiederentdeckt. Die Frage nach den organischen Trägern der Vererbung war aber noch lange nicht entschieden (Hertwig 1896; Sutton 1903) und stellte eine wesentliche Motivation in der zeitgenössischen biologischen Forschung dar. Sehr früh verwendet und prägt Hatschek auch den Begriff ›Organismus‹, der in späteren systemischen Ansätzen zentrale Bedeutung erlangen sollte. Die »erbliche Wirkung der functionellen Anpassung« und »das harmonische Zusammenwirken der Theile – [sind] eine Eigenschaft, welche den Organismus erst so eigentlich zum Organismus macht«. Organismen werden somit als »Organisationseinrichtungen […], welche durch tausendfältige innere Wechselbeziehungen verknüpft sind«, verstanden. Hatschek (1902) betont, dass dieses Zusammenwirken einerseits erbliche (phylogenetische) Bedingungen hätte, anderseits aber durch seine permanente physiologische Betätigung immer wieder aktiviert und »aufs Neue individuell erworben« würde. Mit seiner Formulierung eines Organismus-Konzepts legt Hatschek den Fokus auf das Individuum und leitet eine Abkehr vom Typus-Denken ein, das alles morphologische Arbeiten jener Zeit weitgehend bestimmte. Getragen von einer philosophisch-idealistischen Sicht, die in den beobachtbaren Objekten nur Abwandlungen einer Grundstruktur sah, wurde allein dieser Realität beigemessen. Hatscheks diametral entgegengesetzter erkenntnistheoretischer Ansatz einer mechanistischen Individualität weist ihn als einen Wissenschaftler aus, der seiner Zeit weit voraus war. Wesentlich später sollte sich diese Sicht in der Systematik noch immer nicht durchgesetzt haben (vgl. Mayr 1989). Durch Hatscheks Vorstellungen über das permanente Wechselspiel von Auf-
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und Abbauvorgängen (›Assimilation‹ vs. ›Dissimilation‹ und ›ergastische‹ vs. ›Wachstumsprozesse‹; Hatschek 1905a) sowie sein Hervorheben der Bedeutung von Regulationsvorgängen wird zweifellos auch das intellektuelle Fundament für eine thermodynamisch fundierte Theorie der biologischen Systeme gelegt (vgl. unten). Seine Hypothesen (Hatschek 1905a) über den möglichen Einfluss von Umweltbedingungen und von Funktionsvorgängen im Organismus selbst (d. h. des Soma-Anteils) auf die Zellen der Keimbahn sind wohl als direkte Reaktion auf Weismanns Keimplasmatheorie (Weismann 1892) zu werten, muten aber im Lichte der heutigen Wissenschaft ausgesprochen modern an (vgl. z. B. ›germline selection‹; Hastings 1991). Hier war der Keim für eine grundlegende Theoretisierung der Biologie gelegt.
Experimentelle und quantitative Biologie Eine weitere Veränderung in den Zielsetzungen der zoologischen Forschung ergab sich aus der zunehmenden Abkehr vom Studium der Embryologie als Ablesevorlage für typologisch-taxonomische Einordnungen im (rekapitulationistischen) Sinne Haeckels und der Zuwendung zur mechanistischen Analyse von Entwicklungsprozessen. Mehrere Schüler Haeckels (z. B. Roux, Driesch und Hatschek), aber auch Zoologen anderer Schulen, begannen sich diesem Ansatz zu widmen. Zugleich führte die direkt beobachtbare Fülle von In – Vivo-Prozessen bei meeresbewohnenden Arten zur Begründung von meeresbiologischen Forschungslaboratorien wie der Stazione Zoologica in Neapel (1873) und der k. k. Zoologischen Station der Universität Wien in Triest (1875). Damit waren die Voraussetzungen für Quantifizierung und Experiment gegeben bzw. hatten die neuartigen Laborbedingungen diese ermöglicht und herausgefordert. In Wien war es Hans Leo Przibram, der zum engagiertesten Vertreter dieser neuen Arbeitsrichtung wurde. Nach einer Dissertation bei Hatschek wurde er 1903 habilitiert und hatte ab 1921 ein Extraordinariat für experimentelle Zoologie inne. Auf Anregung Hatscheks erwarb Przibram 1902 aus Privatvermögen das ehemalige Aquariengebäude der Wiener Weltausstellung im Prater und gestaltete es gemeinsam mit den Botanikern Leopold von Portheim und Wilhelm Figdor in eine einzigartige experimentalbiologische Forschungsanstalt um (Reiter 1999), die 1914 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften überantwortet wurde. Die gesamte bauliche, apparative und personelle Ausstattung der »Biologischen Versuchsanstalt« (BVA) war in den Dienst der Experimentalforschung gestellt, die damit eine außerordentliche, an universitären Instituten nicht verfügbare methodische Erweiterung für die organismische Forschung darstellte. Der Verlust der Station in Triest nach 1918 machte die BVA
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umso wichtiger für die Experimentalforschung in Wien; Hatschek wirkte über viele Jahre im Kuratorium der BVA. Hans Przibram verband mit der Begründung der »Biologischen Versuchsanstalt« sowohl die konsequente Entwicklung einer experimentellen Grundlagenforschung und ihrer Methodologie als auch explizit diejenige einer messenden Biologie: Es war die »Aufgabe der biologischen Versuchsanstalt […], eine quantitative Behandlung der biologischen Probleme zu ermöglichen« (Przibram 1912). Der hier gewählte theoretische Ansatz stand dabei in bewusstem Kontrast zum selektionsbiologischen Paradigma und sah eine komplementäre Schwerpunktsetzung vor. Nicht der Selektionsvorgang als von außen wirkende Komponente der Evolution, sondern vielmehr die inneren strukturbildenden Prozesse und ihre Abhängigkeit von den Umweltbedingungen, sollten den experimentellen Untersuchungsgegenstand bilden. Eine sechsbändige »Experimentalzoologie« (Przibram 1907 – 1929), eine überwältigende Anzahl von Originalarbeiten sowie weitere Bücher aus der BVA sind beredtes Zeugnis für dieses überaus produktive Forschungsprogramm. Um 1912 sah Przibram das Programm als positiv erledigt an und schlug – in einer ähnlichen Kontrastierung wie vorher zum Darwinismus – einen zu Weismanns Keimplasmatheorie komplementären, neuen Untersuchungsansatz vor, den er die »Umwelt des Keimplasmas« nannte (Przibram 1912). Obwohl auch dieses Thema in einer Reihe von Publikationen aus der BVA erfolgreich bearbeitet wurde, ließen die äußeren Umstände für diese neue experimentelle Richtung keine ähnliche Blüte wie in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg zu. Ein noch später geplanter weiterer Themenwechsel auf die umfassende Untersuchung der biologischen Wirkungen von Radioaktivität, die gemeinsam mit dem Wiener Radiuminstitut hätte durchgeführt werden sollen (dessen stellvetretender Vorstand Hans Przibrams Bruder Karl war – vgl. den Beitrag von Reiter in diesem Band), konnte nicht mehr umgesetzt werden. Der quantitativ-mathematische Aspekt in Przibrams Konzeption einer modernen Biologie bedeutete eine Absetzung vom deskriptiv-vergleichenden Ansatz der klassischen Zoologie. Przibrams »Aufbau Mathematischer Biologie« (1923) lässt sich retrospektiv als Forschungsprogramm im großen Rahmen lesen. Dort fordert er zum einen die Entwicklung mathematischer Grundlagen für den Aufbau einer ›quantitativen Systematik‹, welche später ihre Entsprechung in der numerischen Taxonomie fand (vgl. Sneath et al. 1973). Zum anderen findet sich hier eine ganze Liste von Themen, die schließlich bei Ludwig von Bertalanffy als integrale Bestandteile seiner Systemtheorie aufscheinen werden: Gestalt, Organismus, Energetik, Thermodynamik, Allometrie, Proportion und Symmetrie, um nur einige zu nennen. Ganz nach der Manier der Physik räumt Przibram dabei dem Messfehler im Zuge des Experimentierens einen besonderen Stellenwert ein.
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Biologische Systemtheorie Eine dritte Wende in der fortschreitenden Theoretisierung der Zoologie und ihrer Überführung in eine kausal-analytische und formalisierte Wissenschaft wird durch einen engen Vertrauten der BVA-Biologen, Ludwig von Bertalanffy, eingeleitet, der beim Gründer des »Wiener Kreises« Moritz Schlick dissertiert hatte und 1934 für ›Theoretische Biologie‹ habilitiert wurde. Im Gegensatz zu verschiedenen namensgleichen Publikationen auf diesem Gebiet schuf Bertalanffy (1932) eine Theoretische Biologie, die auf physikalischen Grundsätzen, Quantifizierung und Mathematisierung aufgebaut war – genau jenen Schwerpunkten, die auch dem Programm der BVA zugrunde lagen. Heute werden mit dem Namen Bertalanffys einige weit über die Biologie hinausreichende Begriffe wie ›Generelle Systemtheorie‹ (general system theory) und ›Fließgleichgewicht‹ (steady state) verbunden. Zu Beginn galt Bertalanffys Interesse vorwiegend der Analyse biologischer Wachstumsprozesse und dem Entstehen von Proportionen, wobei ihm der Zusammenhang zwischen Proportion und der Ausbildung von biologischer Form und Struktur ein besonderes Anliegen war (Bertalanffy 1938). Der diesem Ansatz zugrunde liegende konzeptionelle Wechsel wird daraus ersichtlich, dass er den Morphologien typologischer, phylogenetischer, funktioneller und ontogenetischer Deutung den Entwurf einer »dynamischen Morphologie« gegenüberstellte, die das Wachstum als den grundlegenden systembiologischen Prozess organismischer Strukturen begreift (Bertalanffy 1941). Die Zusammenführung von Wachstum in biologischen Systemen mit dem Metabolismus (Bertalanffy 1951) betont die Thermodynamik als allgemeine, notwendige Grundlage für biologische Systemanalysen (Bertalanffy 1950). Äquifinalität, Irreversibilität, Rückkopplung, Homöostase und – als besonders zentrales Thema – der »Organismus als thermodynamisch offenes System« sind die Schwerpunkte seiner Forschung in einer Hinwendung zum Verständnis biologischer Organisation als physikalische Bedingung (Bertalanffy 1968; Bertalanffy et al. 1977). Mit seiner Generellen Systemtheorie (Bertalanffy 1968) hat Bertalanffy viele Einzelwissenschaften der alten Philosophie wie auch der Medizin beeinflusst, bis hin zu Kybernetik, Informatik, Ökologie und den Sozialwissenschaften. Von der Biomathematik wird Bertalanffys erfolgreiche Beschäftigung mit Wachstumsvorgängen dadurch gewürdigt, dass die Funktion zur Beschreibung von Wachstum unter Fließgleichgewichtsbedingungen üblicherweise als »Bertalanffy-Funktion« bezeichnet wird (Banks 1994). Die »Theorie offener Systeme« (Bertalanffy 1950) hat wohl die nachhaltigste, weit über den Bereich der Biologie hinausgehende intellektuelle Wirkung der Wiener Zoologie erzielt. Diese biologisch abgeleitete Theorie geht nahtlos in die Theorie dissipativer Strukturen
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über (Prigogine et al. 1986; Kondepudi et al. 1998) und findet eine Fortsetzung in der Analyse von Ungleichgewichtssystemen in der Thermodynamik (Kleidon et al. 2005). Ilya Prigogine, der für seine bahnbrechenden Arbeiten auf diesem Gebiet 1977 den Nobelpreis erhielt, weist schon früh auf die inspirierende Rolle Bertalanffys hin (Prigogine et al. 1946). Erst jüngst hat dieser Ansatz in der Ökologie mit den Prinzipien der ›minimum entropy‹- vs. ›maximum entropy‹Produktion neue Aktualität erhalten (Jorgensen et al. 2007; vgl. auch Schiemer et al. in diesem Band). An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine der wohl schillerndsten Persönlichkeiten der Wiener Biologie um die Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Paul Kammerer, mit allen dreien der von uns hervorgehobenen Wiener Zoologen beruflich und persönlich eng verbunden war. Die Betreuer der experimentell orientierten Dissertation Kammerers an der Universität Wien waren Karl Grobben und Berthold Hatschek, der auch seine Habilitation für Experimentelle Zoologie (1910) unterstützte. Neben Ernst Haeckel begleitete vor allem Hatschek die weitere Karriere Kammerers mit Wohlwollen (Michler 1999). Hans Przibram war sowohl als Lehrer wie auch als Forscherkollege und Leiter der BVA mit Kammerer eng verbunden. Er hatte Kammerer als ersten Assistenten der zoologischen Abteilung eingesetzt, an welcher dieser seine aufsehenerregenden Experimentalarbeiten durchführen sollte (Coen 2006) und an der ihm der später einflussreiche Entwicklungsbiologe Paul Weiss nachfolgen würde. Als Nachbar und enger Freund der Familie hatte Kammerer großen Einfluss auf den jungen Ludwig von Bertalanffy, den er schon früh mit den Denkweisen und Fragestellungen konfrontierte, die an der BVA im Zentrum der Forschung standen (Drack et al. 2007). Kammerer, der selbst sehr an Theorie interessiert war und neben seinen zahllosen wissenschaftlichen Einzelpublikationen auch eine »Allgemeine Biologie« verfasst hatte (Kammerer 1915), stellt ein besonders gutes Beispiel für die damals so enge Verflechtung von biologischer Wissenschaft und gesellschaftlichen Entwicklungen dar.
Gesellschaftliche und ideologische Faktoren In der Analyse der über den unmittelbaren wissenschaftlichen Fachbereich hinausgehenden Ausstrahlung der Wiener Zoologie wollen wir kurz vor die Wirkzeit unserer Hauptprotagonisten zurückgehen. Gregor Mendel zum Beispiel begann sein Studium an der ersten zoologischen Lehrkanzel bei Rudolf Kner, bestand aber 1850 die Lehramtsprüfung aus Naturgeschichte nicht. Gerade Kner regte jedoch an, es Mendel zu ermöglichen, das fehlende Wissen noch zu erwerben. Dieser Ratschlag bewog Abt Napp in Brünn, Mendel nunmehr für
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vertiefende naturwissenschaftliche Studien an die Universität Wien zu entsenden, wo dieser u. a. Mathematik und Physik bei Christian Doppler und Andreas von Ettingshausen belegte (vgl. Sigmund sowie Reiter in diesem Band). Besonders bei letzterem konnte er sich jene Grundlagen aus der Kombinatorik aneignen, die für seine späteren, bahnbrechenden Arbeiten in der Genetik ausschlaggebend waren (Henig 2001). Während man die Wirkung der Zoologie in diesem Fall allenfalls als eine mittelbare bezeichnen kann, ist gut dokumentiert, dass die Vorlesungen von Carl Claus über »Allgemeine Zoologie in Verbindung mit einer kritischen Darstellung des Darwinismus für Hörer aller Fakultäten« über das Fach hinausgehende Beachtung fanden und z. B. auch von Sigmund Freud belegt worden waren. Darwins Lehre übte auf Freud große Anziehungskraft aus und führte ihn dazu, eine Synthese von Evolutionstheorie und philosophischer Erkenntnis anzustreben (Tögel 1994). Zunächst aber sollte Freud unter der Leitung von Claus der Frage nach dem Geschlecht des Aals nachgehen. Aufgrund der Befürwortung durch Claus erhielt er ein Stipendium von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, um an der Zoologischen Station in Triest die nötigen Forschungen durchzuführen. Trotz seiner Sektionen von über 400 Aalen war Claus aber von Freuds Ergebnissen sichtlich wenig angetan. Jedenfalls leitete er Freuds Bericht kommentarlos zur Veröffentlichung in den Sitzungsberichten der Akademie weiter (Freud 1877), ein Umstand, der eine nachhaltige Kränkung des Studenten bewirkte und offenbar dazu führte, dass Freud der Zoologie den Rücken kehrte (Tögel 1994). Die soziokulturellen Kontakte von Hatschek und Przibram zeichnen das Bild einer geistig befruchtenden Atmosphäre im Wien der Jahrhundertwende hinsichtlich des Zusammenspiels von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft. Hatschek war ein gern und oft gesehener Gast im Salon von Mathilde Lieben, der Ehefrau des Chemikers Adolf Lieben (vgl. Rosner et al. in diesem Band). Ihr Salon im Palais Ephrussi (De Wal 2012) war ein Treffpunkt des »who is who« der Wiener Moderne. Auch Ernst Haeckels Beziehungen zu Österreich waren fachlich wie privat eng mit der Familie seines vormaligen Studenten Hatschek verbunden (Krauße 1998). Dies zeigt sich auch darin, dass Marie HatschekRosenthal, Hatscheks Ehefrau und bekannte Porträtmalerin, ein eindrucksvolles Altersbild von Haeckel anfertigte, das sich heute in der Lilly Library befindet (Geuss 1980). Haeckel übrigens bedauerte noch lange nach seiner Absage – vor allem wegen der meeresbiologischen Forschungsmöglichkeiten an der Triester Station – die von Wien angebotene Berufung ausgeschlagen zu haben (Michler 1999). Über die unmittelbar fachliche Bedeutung hinaus ist Hatscheks Wirken als Wegbereiter und Ideenbringer zum Entstehen neuer Wissenszweige fern der Zoologie hervorzuheben. Der Bruder der Ehefrau Hatscheks, Moriz Rosenthal,
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war einer der herausragenden Klaviervirtuosen des Kaiserreiches und Schüler von Franz Liszt (Mitchel et al. 2009). In diesem Umfeld nimmt es wenig wunder, dass Berthold Hatschek gleichsam an der Wiege einer evolutionär ausgerichteten Musikwissenschaft stand und als Übersetzer des Methodengerüsts von Haeckels »Genereller Morphologie« für Guido Adlers »Vergleichende Musikwissenschaft« gelten kann (Breuer 2011). Wenig bekannt ist auch die Tatsache, dass Berthold Hatschek 1907 – neben Rudolf Goldscheid, Wilhelm Jerusalem, Max Adler, Michael Hainisch und Karl Renner – Gründungsmitglied der »Soziologischen Gesellschaft in Wien« war (Fritz et al. 2007). Die Teilnahme Hatscheks an der Gründung einer Vereinigung dieses Zuschnitts mag zunächst verwundern. Will man aber unter Soziologie eine Wissenschaft verstehen, welche die Erforschung aller sozialer Prozesse zu ihrem Gegenstand hat, so ist das Interesse eines Zoologen, jedenfalls aus heutiger Sicht, nicht verwunderlich (vgl. ›Soziobiologie‹; vgl. auch Storch 1949) und findet auch in Bertalanffys späteren Ideen vom »Zellstaat« seinen Niederschlag. Die politische Dimension von Hatscheks anti-typologischem erkenntnistheoretischen Ansatz wird in seiner Aufsehen erregenden Kritik in der Neue Freien Presse an Houston Chamberlains (1905) antievolutionären, vitalistischen und pangermanischen Ideen offenkundig: Nicht einer Idee, sondern »Einzeldingen« komme Wirklichkeit zu (Hatschek 1905b). Über Hans Przibram und seine Familie ließen sich ähnlich bedeutungsvolle Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Wirkung nachzeichnen, müssen hier aber aus Platzgründen weitgehend unterbleiben. Es mag nicht unwesentlich sein, dass die schon genannte Mathilde Lieben Przibrams Tante mütterlicherseits war. Aufgrund der sich daraus ergebenden vielfältigen Kontaktmöglichkeiten in der Wiener Gesellschaft nimmt es nicht wunder, dass Hans Przibrams Talent über die Naturwissenschaften hinaus auch im Bereich der Kunst erkannt und gewürdigt wurde. Durch Vermittlung von Adolf Loos zum Beispiel wurden die zoologischen Darstellungen Przibrams in der Wiener Secession ausgestellt (Coen 2006), erweckten Aufsehen und wurden schließlich im Organ der Secession »Ver sacrum« veröffentlicht (Przibram 1901). Hans Przibram konnte sogar als einer der treuesten Assistenten Gustav Klimts unter den Amateurmalern gelten (Celenza 2010). Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich änderte sich die Situation dramatisch. Unmittelbar nach dem »Anschluss« wurde den Zoologen Berthold Hatschek (obwohl schon emeritiert), Heinrich Joseph, Andreas Penners, Hans Przibram und Hans Strouhal aus rassischen Gründen die Lehre an der Universität Wien untersagt. Nach der Zwangspensionierung Penners wurde der Entomologe und Konstruktionsmorphologe Hermann Weber berufen, der Mitglied im NS-Lehrerbund-Deutschland war (Deichmann 1996). Hatschek verstarb 1941 in völliger Verlassenheit. Heinrich Joseph, ein Schüler
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Hatscheks und sein langjähriger Mitarbeiter, beging wenige Tage nach Hatscheks Begräbnis gemeinsam mit seiner Frau und seiner Schwiegermutter Selbstmord. Hans Przibram starb 1944 im KZ Theresienstadt, seine Frau verübte ebenfalls Selbstmord. Hans Strouhal wurde 1940 zum Wehrdienst eingezogen, überlebte die NS-Zeit und wurde 1945 wieder an der Universität Wien eingestellt. Ludwig von Bertalanffys Weg nahm einen zu seinen Inspiratoren konträren Verlauf (Brauckmann 2000). Er war 1938 der NSDAP beigetreten und wurde 1940 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Nach Kriegsende übernahm er kurz die Interimsleitung der Zoologie, wurde aber 1946 vom akademischen Dienst enthoben. Aufgrund eines Erlasses des Bundespräsidenten 1947 wieder als Privatdozent eingesetzt, konnte Bertalanffy zwar seine akademische Lehre fortsetzen, seinem Antrag auf Bestätigung einer ao. Professur wurde aber nicht entsprochen. Daraufhin emigriert Bertalanffy über London zunächst nach Kanada und dann in die USA (wiewohl bis 1956 in Beurlaubung von der Universität Wien). Zuletzt hielt er eine Professur am Center for Theoretical Biology der State University of New York und verstarb 1972 in Buffalo. Ein Ausschnitt aus dem Vorlesungserzeichnis der Universität Wien mag als Momentaufnahme dienen, die allein den Verlust der wissenschaftlichen und intellektuellen Vielfalt ab 1938 verdeutlicht. Im Winterersemester 1937/38 waren u. a. angekündigt: »Einführung in die vergleichenden Histologie« und »Praktikum über Embryologie der Wirbeltiere« von Heinrich Joseph, »Formbestimmung und Funktion der Regenerate und Transplantate«, »Praktikum der Experimentalzoologie« sowie »Experimentell-zoologische Arbeiten für Vorgeschrittene« (beide letztgenannte an der BVA abgehalten) von Hans Leo Przibram, »Das zoologische System« von Hans Strouhal, »Das Werden der organischen Form« von Ludwig Bertalanffy, »Taxis und Instinkthandlung« von Konrad Lorenz, »Vererbungslehre« von Wilhelm Marinelli und »Die Lebensgemeinschaft der Tiere« von Wilhelm Kühnelt. Mit den rassisch begründeten Lehrverboten, den menschlichen Verlusten und dem akademischen Exodus wurde diese Vielfalt für lange Zeit beendet.
Nachhall und Ausblick Unser eklektischer Überblick zur Entwicklung der Zoologie an der Universität Wien während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbart die Verschränkung konzeptioneller Außeneinflüsse mit einem hohen Grad autochthonen Theoriefortschritts, der den besonderen Ansatz der Wiener Zoologie ausmacht. Die Ablösung von der typologischen Grundannahme, die Hinwendung zu einer quantitativen Auffassung und mathematischen Formalisierung, sowie eine Konzentration auf die Fundamentaleigenschaften belebter Organisation im
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Systemzusammenhang wurde selbstverständlich nicht von allen Bereichen der Zoologie nachvollzogen. Selbst heute sind typologische Rückfälle nicht ausgeschlossen. Das auffälligste Charakteristikum im internationalen Vergleich ist aber die frühe und bewusste Zuwendung der biologischen Untersuchung zur Quantifizierung und die Zusammenführung einer sich anfänglich exklusiv definierenden Zoologie mit Physik und Chemie zu einer Wissenschaft offener Systeme. Der Gegensatz zur reduktionistisch geprägten Betonung isolierter Teilaspekte durch spätere Schwerpunktwechsel wie z. B. der Molekularbiologie (vgl. Wirth in diesem Band) ist in diesem Kontext hervorzuheben. In der systembiologischen Betrachtung lag auch ein Impulsgeber für eine ›Physik der offenen Systeme fern vom Gleichgewicht‹, die ihrerseits einen Einbezug nichtlinearer Phänomene in die evolutionsbiologische Theorienbildung ermöglicht (Pigliucci et al. 2010; Jaeger et al. 2012). Diese systemorientierte Schwerpunktsetzung liegt auch der Konzeption der heutigen Nachfolgestrukturen der zoologischen Institute an der gegenwärtigen Fakultät für Lebenswissenschaften zugrunde. Das zuletzt zusammengezogene Zoologische Institut wurde in der Folge der Universitätsreform von 2002 aufgelöst und in unabhängige Subeinheiten aufgeteilt. Dies führte zu einem auf der Ebene der Universitätsleitung wenig wahrgenommen Ringen um eine neue gemeinsame Identität. Seit 2005 sind Teile der ehemaligen zoologischen Institute zusammen mit dem früheren Institut für Anthropologie im »Fakultätszentrum für Organismische Systembiologie« (COSB) vereint. Diese Bezeichnung geht direkt auf die beschriebenen Entwicklungen und ihre Akteure zurück und wird im Mission Statement des COSB mit den für eine organismische Herangehensweise zentralen Konzepten ›Ordnung‹, ›Dynamik‹ und ›Information‹ neu präzisiert. In Gegensatz zum teilsystem-orientierten Forschungsansatz am Zentrum für Molekulare Biologie bilden im COSB überorganismische Prinzipien und gesamtorganismische Phänomene, wie Humanbiologie, Verhalten, Kognition, Entwicklung und Evolution die Leitthematiken. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sieben Departments (Anthropologie, Integrative Zoologie, Kognitionsbiologie, Molekulare Evolution und Entwicklung, Neurobiologie, Theoretische Biologie und Verhaltensbiologie) im COSB zusammengefasst. Während immer neue organisatorisch und nomenklatorisch motivierte Umgruppierungen der eben erst entstandenen Subeinheiten diskutiert werden, wäre eine inhaltliche Begründung für die zeitgemäße Entfaltung der organismisch-biologischen Fächer durchaus gegeben. Die essentielle Notwendigkeit des organismischen Zugangs für die Weiterentwicklung der Biowissenschaften zeichnet sich deutlich ab (z. B. Nicholson 2014). Der internationale Trend zu betriebswirtschaftlich konzipierten Universitäten steht aber einer primär durch wissenschaftliche Inhalte bestimmten Entwicklung entgegen. Viele der originellen Ideen der Wiener Zoologie aus der ersten Hälfte des 20.
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Jahrhunderts fanden nur zögernd Eingang in das allgemeine Bewusstsein der wissenschaftlichen Gemeinschaft, sei es, weil ideologische Vorurteile einer intellektuellen Auseinandersetzung entgegenstanden, oder, weil die Schwellen des deutschen Sprachraums nur schwer überwunden werden konnten. Die fortschreitende Internationalisierung der Wissenschaften hat aber die lokalen Anstrengungen, die Biologie zu einer exakten Naturwissenschaft zu entwickeln, letztlich auch in anderen Wissensräumen verbreitet. Sie hatten in jenem fruchtbaren Hauch der Moderne im Wien der Jahrhundertwende ihren Ausgang genommen.
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Herbert Nikitsch und Brigitta Schmidt-Lauber*
Europäische Ethnologie an der Universität Wien – Zur Entwicklung einer empirischen Kulturwissenschaft im (hochschul-)politischen Kontext
Die heute »Europäische Ethnologie« – vormals »Volkskunde« – genannte Disziplin ist ein Fach, dessen Werden und Wandel besonders deutlich von den politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Strömungen der jeweiligen Zeit geprägt ist. Anhand der Entwicklung des Instituts für Europäische Ethnologie versuchen wir in diesem Sinne Fachgeschichte als Gesellschaftsgeschichte nachzuzeichnen.
Vorgeschichte und Anfänge volkskundlicher Lehre und Forschung an der Universität Wien Das seit dem Jahr 2000 als »Europäische Ethnologie« firmierende Fach wird an der Universität Wien als eigenständige Disziplin seit Ende der 1930er Jahre gelehrt. Doch insgesamt werden schon seit rund 120 Jahren volkskundliche Wissensinhalte im Rahmen anderer Fächer vermittelt. Ein erster Nachweis führt in das Jahr 1896, als Michael Haberlandt (1860 – 1940) eine Vorlesung über »Allgemeine Volkskunde« hielt, der ein Jahr später eine über »Österreichische Volkskunde« folgte. Dies waren die ersten Lehrveranstaltungen an der Universität Wien, in denen »Volkskunde« im Titel aufscheint.1 Haberlandt hatte zwar kurz davor den Verein, das Museum und die Zeitschrift für Volkskunde gegründet,2 seiner wissenschaftlichen Sozialisation nach aber war er Indologe und Völkerkundler und hauptberuflich an der Anthropologisch-Ethnographischen Abteilung des k.k. Naturhistorischen Hofmuseums (dem späteren Völkerkundemuseum und heutigen Weltmuseum) tätig. So hat er denn auch seine Lehre zu unterschiedlichsten Themen angeboten, die jeweils als ›ethnographisch‹, ›ethnologisch‹, ›anthropologisch‹ oder ›völ* Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. 1 Bockhorn 1988: Geschichte, 68. 2 Nikitsch 2006: Bühne.
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kerkundlich‹ angekündigt wurden, und sich erst ab dem Studienjahr 1899/1900 wieder ausschließlich ›volkskundlicher‹ Thematik gewidmet.3 Die angedeutete begriffliche Vielfalt ist durchaus kennzeichnend für die Zeit und verweist auf das breite Interesse verschiedenster Disziplinen an sogenannten völkischen Fragen. So finden sich Hinweise auf volkskundliche Themen auch in Lehrveranstaltungen, wie sie damals etwa im historisch-philologischen Kontext der Slawistik oder der Germanistik angeboten wurden. Darin dokumentiert sich nicht nur jenes historische Puzzle der Fachbezeichnungen, das die heute übliche Rede vom »Vielnamenfach«4 und die lang geführte Namensdiskussion rund um »Volkskunde« als bereits in der Entwicklung des Faches angelegt zeigt. In dieser terminologischen Unschärfe spiegelt sich auch jenes thematisch-inhaltliche Bündel vielfältiger akademischer Interessensfelder, aus dem sich erst allmählich die Volkskunde zur eigenständigen Disziplin herausgebildet hat – als ein Fach, das die Beschäftigung mit der ›eigenen‹ Kultur und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart in den Vordergrund rückte. Dabei ließ der gesellschaftspolitische Kontext der pluriethnischen Habsburgermonarchie ›Kultur‹ hierzulande – und im Unterschied zur Fachentwicklung im benachbarten Deutschland – stets im Plural denken. Zur Disziplingeschichte der Volkskunde in Österreich gehört also zunächst die anthropologisch-ethnographische Richtung, die der Verfasstheit der Habsburgermonarchie als Vielvölkerstaat Rechnung trug. Spätestens mit deren Ende wurde das Fach in seinen Erkenntnisinteressen und Forschungspraxen allerdings auch in Wien in eine engere nationale Richtung kanalisiert. Sammelbecken dieser Tendenz war die damalige altertumskundlich-mythologischen Interessen verpflichtete Wiener Schule der Germanistik, die keine geringe Rolle in der Geschichte der Wiener Volkskunde spielte – und zwar inhaltlich, programmatisch wie auch hochschulpolitisch. Denn von der führenden Gestalt dieser germanistischen Richtung, Rudolf Much (1862 – 1936)5, wurde der erste in einem Dienstverhältnis mit der Wiener Universität stehende Volkskundler, der Germanist und Skandinavist Richard Wolfram, thematisch wie auch weltanschaulich inspiriert. Much legte die Grundlage für jene »Männerbundschule«, deren Programmatik sein Schülerkreis auf der Suche nach einer germanischen Kontinuität folgte. Zu diesem Schülerkreis gehörte auch Wolfram, der sich, ideologisch schon von seiner gesellschaftlichen Herkunft deutsch-national disponiert, mit dem »Anschluss« Hoffnung auf Förderung seiner Person machen konnte. Seine schon früh gepflegten Kontakte zur »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe« bewirkten denn auch, dass ihm bereits im Juli 1938 die 3 Bockhorn 1988: Geschichte, 73. 4 Korff 1996: Namenswechsel. 5 Ranzmaier 2005: Germanistik, 15 – 17.
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Leitung der »Lehr- und Forschungsstätte für germanische Volkskunde« dieser NS-Institution in Salzburg übertragen wurde.6 Und in dieser Funktion blieb er auch, als er zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt und mit der Leitung der Lehrkanzel und im Weiteren des »Instituts für germanisch-deutsche Volkskunde« betraut wurde.
Erste Institutionalisierung des Faches: Institut für germanisch-deutsche Volkskunde Im Wintersemester 1937/38 hielt Wolfram erstmals an der Universität Wien eine Vorlesung über die »Geschichte des Volkstanzes (mit Lichtbildern und Musikbeispielen)«, ein Thema, dem er sich dokumentarisch auch als Leiter der Sondergruppe »Brauchtum und Tanz« im Rahmen der von Heinrich Himmler 1940 eingerichteten »Kulturkommission zur Bergung der Kulturgüter für Südtirol« widmete. Wolfram7 vertrat das Fach an der Wiener Universität als explizit »germanisch-deutsche Volkskunde«. Und unter dieser programmatischen Prämisse konnte er dann mit seiner – auf Vorschlag der sämtlich NS-affinen Germanisten Dietrich Kralik, Josef Nadler und Walter Steinhauser8 erfolgten – Ernennung zum ao. Univ. Prof. am 29. Juni 19399 im folgenden Trimester 194010 »als erster beamteter Professor für Volkskunde seine Lehrtätigkeit aufnehmen«11. Im Herbst 1942 wurde das Institut eingerichtet – als eine jener vielen »volkskundlichen« Institutsgründungen an deutschsprachigen Universitäten in dieser Zeit, die ihren Beitrag zur »völkischen« Bildung leisten sollten. So gehörte es auch an der »gleichgeschalteten«12 Universität Wien zu den Aufgaben Wolframs, »weltanschauliche Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten« zu einschlägigen Themen, etwa zu »Gemeinschaftsformen der Germanen«, zu halten.13 Das »Institut für germanisch-deutsche Volkskunde« wurde – nach seiner 6 Bockhorn 1988: Geschichte, 76. 7 Wolframs Venia lautete auf »Germanische Volkskunde und Neuskandinavistik«, vgl. Schreiben des Dekans an Wolfram vom 17. Dezember 1936, UAW, Phil. Fak., PH PAWolfram 3769. 8 Ranzmaier 2005: Germanistik, 55 – 71. 9 Schreiben Adolf Hitlers vom 29. Juni 1939, UAW, Phil. Fak., PH PA Wolfram 3769. 10 Im Studienjahr 1940 wurde die Trimestereinteilung eingeführt, doch schon mit Sommersemester 1941 wieder abgeschafft. Hörmann 1984: Gefährdung, 348. 11 Bockhorn 2010: Angelegenheit, 221. 12 Müller 1997: Adaptierung, 595 – 599. 13 Die »Verpflichtung der Studierenden zum regelmäßigen Besuche von Vorlesungen zur weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung« war, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen, bereits im »Hochschulerziehungsgesetz« von 1935 vorgeschrieben. Lichtenberger-Fenz 1988: Universitäten, 72 f.
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behelfsmäßigen Unterkunft in der Liebiggasse 5, im Gebäude des ehemaligen Ackerbauministeriums14 – in einer Wohnung im Haus Universitätsstraße 10 untergebracht. Hier hat der neu in Dienst genommene Volkskunde-Professor eine kleine Schar von Studentinnen und Studenten unterrichtet, hier hat er auch Beispiele seiner Lehrveranstaltungsthematik im Hörsaal vorgetanzt und vorgesungen und sich so den Ruf eines charismatischen Lehrers erworben. Dabei wurde seine Lehrtätigkeit – die immerhin bis 1945 in einige Dissertationen mündete15 – immer wieder durch seine Verpflichtungen beim »Ahnenerbe« und bei der »Kulturkommission« unterbrochen. Angesichts des kriegsbedingt zunehmend eingeschränkten Universitätsbetriebs – und angesichts seiner kurzfristigen Einberufung zur Wehrmacht – wandte sich Wolfram ab Frühjahr 1943 in immer dringlicheren Appellen an die Universitätsbehörde16 und forderte schließlich im Frühjahr 1945 eine Evakuierung des Instituts. Dazu kam es nicht mehr : Nach Kriegsende wurde Wolfram auf Grund des Verbotsgesetzes am 6. Juni 1945 entlassen.17
Neugründung eines Volkskunde-Instituts nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 wurde das »Institut für germanisch-deutsche Volkskunde« aufgelöst und sein Begründer und Leiter Richard Wolfram von der Universität relegiert. Damals sah sich die Volkskunde als Disziplin ganz allgemein wegen der spätestens seit 1938 offen deklarierten »völkisch«-rassistischen Haltung der meisten ihrer Vertreter kompromittiert und stand vor der Aufgabe, sich als akademisches Fach moralisch, programmatisch und institutionell neu zu konstituieren. Dass es dabei an der Universität Wien (und nicht nur dort) recht unbekümmert zuging, verdankt sich dem laxen Umgang der jungen Zweiten Republik mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit. Die bereits ab 1948 einsetzende Amnestie ehemaliger Nationalsozialisten ermöglichte es sogar, dass von all den im Wintersemester 1945/46 ihrer Ämter enthobenen Professoren an der geisteswissen14 Heute Sitz der Fakultät für Psychologie der Universität Wien, davor der Evangelisch-Theologischen Fakultät. 15 Insgesamt wurden bis 1945 vier Dissertationen verfasst, Titel und Verfasserinnen siehe Bockhorn 1982: Verzeichnis, 283. Dass drei Dissertationen von Frauen geschrieben wurden, liegt wohl daran, dass »der im Laufe des Krieges immer stärker werdende Verlust an Studenten durch den Abzug der Männer in die Wehrmacht […] von den vordem in Haus und Heim zurückbeorderten Frauen wieder wettgemacht werden [sollte]«. Lichtenberger-Fenz 1988: Universitäten, 79. 16 Siehe die zahlreichen Eingaben Wolframs im Hinblick auf seine »Unabkömmlichstellung«, UAW, Phil. Fak., PH PA Wolfram 3769. 17 Bockhorn 2010: Angelegenheit, 224.
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schaftlichen Fakultät im Semester 1949/50 weit mehr als die Hälfte wieder in ihren Positionen waren. So ist letztlich wenig überraschend, dass nicht etwa der Direktor des Volkskundemuseums Leopold Schmidt für die Neukonstituierung der Volkskunde an der Universität Wien herangezogen wurde, wiewohl sich Schmidt 1946 im Fach Volkskunde habilitiert und ab 1947 (im Rahmen der Germanistik oder der Urgeschichte) volkskundliche Lehrveranstaltungen angeboten hatte und als einer der ganz wenigen nicht von NS-Gedankengut tangierten Vertreter seiner Generation das Potential zur Rehabilitierung des Faches gehabt hätte.18 Stattdessen wurde wieder Richard Wolfram ins Amt gesetzt – was dieser freilich auch und nicht zuletzt der Kooperation mit Gesinnungsgenossen auf wissenschaftlichem und vor allem weltanschaulichem Gebiet verdankte. Vor allem Otto Höfler, ebenfalls ein Schüler Muchs, hatte bereits bei der Verleihung der Professur ad personam an Richard Wolfram im Jahr 1959 die Fäden gezogen und seinen gemeinsam mit Josef Haekel (Ordinarius des Instituts für Völkerkunde 1957 – 1973) gestellten Antrag bei der damals einberufenen Kommission einstimmig durchzusetzen gewusst.19 Nachdem so wieder eine Lehrkanzel für das Fach geschaffen worden war, erfolgte 1960 die Aufnahme dieser Stelle in den Postenplan der Universität und im folgenden Jahr die Gründung eines neuen Instituts für Volkskunde. Bei dessen Beantragung durch Richard Wolfram scheint den Mitgliedern der in dieser Angelegenheit eingerichteten Fakultätskommission20 vor allem die Argumentation plausibel gewesen zu sein, dass die Errichtung des Instituts in der Gegenwart höchst dringend sei, denn es vollziehe sich »eine ungeheure Umbildung des gesamten überlieferten Volkslebens«21 – eine Rhetorik, die dem damals gängigen Impetus des Bewahrens und Rettens folgte und schon die Anfänge des Faches im 19. Jahrhundert gekennzeichnet hatte. So wurde der Antrag vom Professorenkollegium in der Sitzung vom 10. April 1961 »einstimmig angenommen«22 und mit Schreiben von Bundesminister Drimmel am 25. Juli 1961 »der außerordentliche 18 Bockhorn/Nikitsch 2012: Venia legendi. 19 Vgl. den »Bericht über die Kommissionssitzung vom 9. Jänner 1959. Gegenstand: Antrag der Professoren Otto Höfler und Haekel auf Verleihung einer Professur ad personam an tit. a.o.Prof. Dr. Richard Wolfram«, UAW, Phil. Fak., PA Wolfram 3769. 20 In dieser Kommission saßen neben dem damaligen Dekan, dem Prähistoriker Richard Pittioni, u. a. die Germanisten Eberhard Kranzmayer, Hans Rupprich und Otto Höfler, der Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann, der Slawist Rudolf Jagoditsch, der Zoologe Wilhelm Marinelli, der Psychologe und Ordinarius für Philosophie Hubert Rohracher und der Völkerkundler Josef Haekel – also außer Pittioni, Jagoditsch und Rohracher alles Personen, die sich vor 1945 in affirmativer, zumindest konformistischer Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber gezeigt hatten. Siehe dazu die entsprechenden Beiträge in Ash et al. 2010: Geisteswissenschaften. 21 Schreiben Wolframs an das Bundesministerium für Unterricht vom 14. März 1961 betr. »Antrag auf Errichtung eines Instituts für Volkskunde«, UAV, Phil.Fak., Zl. 112 aus 1960/61. 22 Protokoll der Sitzung am 10. April 1961, UAV, Phil.Fak., Zl. 112 aus 1960/61.
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Universitätsprofessor Dr. Richard Wolfram zum Vorstand dieses Instituts bestellt«23. Nach verschiedenen Optionen bzw. inneruniversitären Querelen hinsichtlich der Raumfrage wurde schließlich das »Institut für österreichische und europäische Volkskunde« im ersten Stock des Hanuschhofes gegenüber der Albertina untergebracht,24 wo nach baulichen Adaptierungen im Wintersemester 1964/65 der Lehrbetrieb aufgenommen und das Institut 1966 feierlich eröffnet werden konnte. In dem neuen Institut wurde also das Fach Volkskunde in Wien wieder vom selben Protagonisten wie im alten repräsentiert – mit gleichem Inhalt, aus gleicher Perspektive, nur weltanschaulich ein wenig camoufliert und gewissermaßen ins »Österreichische« transferiert. Auch hier zeigt sich wieder eine Analogie zur allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Konstituierungsphase der Zweiten Republik, einem »Rückbruch« und restaurativem Regress auf die Vorkriegszeit25 folgend. Nach wie vor prägte Wolfram die Volkskunde bzw. den Institutsbetrieb in Wien durch Betonung der von ihm bevorzugten (weiterhin ins Mythologische tendierenden) Brauch- und Tanzforschung; zudem konnte er mit der Einrichtung der Arbeitsstelle des unter der Patronage der »Österreichischen Akademie der Wissenschaften« stehenden »Österreichischen Volkskundeatlas« zusätzliche Reputation gewinnen – nicht zuletzt durch die Ernennung zum wirklichen Mitglied der Akademie, seinerzeit »wohl eine der wichtigsten Auffanggesellschaften für NS-belastete Wissenschaftler«26.
Aufbruch in ein neues Fachverständnis am Institut für Europäische Ethnologie Die Emeritierung Wolframs im Jahr 1971, der eine mehrjährige Vakanz des Lehrstuhls folgte, bedeutete einen Generationenwechsel in der Wiener Volkskunde. Der interimistische Leiter des Instituts Walter Hirschberg, Vorstand des damaligen Instituts für Völkerkunde, überließ die organisatorischen und inhaltlichen Agenden weitgehend den mittlerweile drei wissenschaftlichen Angestellten, die zwar bei Wolfram akademisch sozialisiert worden waren, im Weiteren aber immer mehr unter dem Eindruck einer breiten Umstrukturierung des Faches und seiner sozialwissenschaftlichen Erweiterung standen. Denn die 23 Schreiben Drimmels an das Dekanat der Phil. Fakultät vom 25. Juli 1961, UAV, Phil.Fak., Zl. 112 aus 1960/61. 24 Vgl. diesbezügliche Schreiben, in denen es sich v. a. um die Liegenschaft Reitschulgasse 2 in Wien I. geht, UAV, Phil.Fak., Zl. 112 aus 1960/61. 25 Hanisch 1994: Schatten, 395. 26 Müller 1997: Adaptierung, 617.
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Volkskunde veränderte sich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren vor allem auf Anregung der Tübinger »Empirischen Kulturwissenschaft« unter Leitung Hermann Bausingers zu einer Disziplin, die sich seither kritisch mit ihrer eigenen Geschichte und politischen Verwobenheit auseinandersetzt sowie die Problemlagen der Gegenwart und die Lebensweisen breiter Bevölkerungsschichten in den Blick nimmt. Die Wiener wie allgemein die österreichische Volkskunde nahm diese disziplinäre Neuorientierung, in deren Folge sich zahlreiche Institute umbenannten und den Volksbegriff zunehmend kritisch reflektierten, zunächst zögerlich und verspätet auf – wiederum durchaus in Analogie zu den gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Zweiten Republik. Dem »Abschied vom Volksleben«27, wie er in Tübingen ausgerufen wurde und ideologisch von einer Marxismusrezeption im Sinne der »Frankfurter Schule« inspiriert war, konnte sich auch der 1974 neu bestellte Ordinarius Kroly Gal (1922 – 2007) nur bedingt anschließen. Gal, der sich 1970 für »Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung der vergleichenden Sach- und Sozialvolkskunde« habilitiert, schon früh ortsmonographische Studien und detaillierte regionale ergologische Aufnahmen durchgeführt und vor allem im westungarischen Raum »Feldforschung mit hoher Intensität betrieben«28 hatte, hätte zwar in wissenschaftlich-theoretischer Hinsicht durchaus den neuen Trends im Fach folgen können. Doch für eine engere Kooperation waren die weltanschaulichen Differenzen mit der jüngeren Generation, die diesen Aufbruch maßgeblich vorantrieb, zu groß, namentlich mit dem seinerzeitigen Assistenten Helmut Fielhauer. Dem 1956 aus Ungarn vor kommunistischer Realpolitik geflüchteten29 Gal stand mit Fielhauer ein Spätachtundsechziger gegenüber, der sich etwa von einer Auseinandersetzung mit der DDR-Volkskunde durchaus Gewinn versprach und seine Vorstellungen auch im Zuge einer Gastprofessur 1982 an der Berliner Humboldt-Universität umzusetzen wusste. Fielhauer war 1980 zum Institutsvorstand gewählt worden – was erst durch das 1975 in Kraft getretene Universitäts-Organisationsgesetz (UOG) möglich war, zu dessen wichtigsten Neuerungen die Einbeziehung sämtlicher Universitätsangehöriger in die universitären Entscheidungsprozesse und die selbständige Organisation der Institute gehörte. Für das Institut bedeutete diese Ernennung zugleich eine hierarchische Pattstellung, die dem Betriebsklima freilich nicht förderlich war und die beruflich-akademischen Rivalitäten der Akteure und ihrer Schülerinnen und Schüler verschärfte. Fielhauer, der sich 1974 für 27 Um den programmatischen Titel eines ebenfalls 1970 erschienenen Sammelbandes zu zitieren, Jeggle/Korff 1970: Abschied. 28 Köstlin 2008: Gal. 29 Gal war vordem Museumsdirektor des Balaton-Museums gewesen.
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»Europäische Volkskunde« habilitiert hatte, hatte sich (bis zu seiner Ernennung 1977 zum Universitätsprofessor ad personam30) als »Oberassistent« in einer untergeordneten institutshierarchischen Position gefunden – was vielleicht umso schmerzhafter war, als der Entscheidung zur Neubesetzung des Ordinariats kein wie heute übliches Ausschreibungs- (und Bewerbungs-)procedere zugrunde lag. Das Verfahren zur Nachfolge Wolfram hatte nämlich bereits im Studienjahr 1971/7231 begonnen – doch erst mit der am 5. Juli 1972 erlassenen Änderung des Hochschul-Organisationsgesetzes von 1955 waren alle Dienstposten des wissenschaftlichen Personals der Universität »in geeigneter Weise öffentlich auszuschreiben«32. Vorher, und so auch im Falle der Nachbesetzung Wolframs, erfolgte die Berufung eines Hochschullehrers auf Beschluss des Professorenkollegiums der jeweiligen Fakultät33 – und für dieses (wie für das Ministerium) kam Fielhauer, der sich damals gerade habilitierte, offenbar nicht in Frage. Bei allen Differenzen entwickelte sich das Fach »Volkskunde« (seit 1974 mit der Zusatzbezeichnung »Ethnologia Europaea«) doch auch an der Universität Wien allmählich im Sinne einer »Europäischen Ethnologie«, die sich von volkstümelnden Inhalten und spekulativen Methoden entfernte und heterogene Kulturen in den Blick nahm. So förderte etwa Fielhauer mit seinen nicht mehr nur agrarwirtschaftlich geprägten, sondern auch an urbanen Lebensformen und unterschiedlichen Milieus (etwa in Form von Untersuchungen zur »Arbeiterkultur«34) orientierten Interessen die Neuausrichtung des Faches im Sinne einer aktualisierten Volkskunde. Zum anderen sind Gals Versuche zu erwähnen, das Fach über regionale Kulturanalysen vom Nationalen weg zum Europäischen hin zu öffnen, auch wenn hier eher persönliche Interessen für einzelne Räume als systematische Überlegungen federführend gewesen sein dürften.35 Diese Bemühungen sind zwar über die Gründung einer ostmitteleuropäische Kollegen versammelnden Gesellschaft »Ethnographia Pannonica« nicht hinausgegangen, 30 Schreiben der Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung Herta Firnberg an Fielhauer vom 20. Juni 1977, UAW, Phil. Fak., PA Fielhauer 4140. 31 Der 1. Ternovorschlag der Kommission (Leopold Kretzenbacher – Oskar Moser – Franz Lipp ex aequo Leopold Schmidt) wurde vermutlich von den Vorgeschlagenen selbst gekippt (wie zumindest für Lipp aus einem Schreiben an den Dekan hervorgeht, UAW, Phil. Fak., PA Franz Lipp 4488 L57); vom (im März 1972) erstellten 2. Ternovorschlag (Lutz Röhrich – Karl-S. Kramer – Kroly Gal) blieb nach Absage der zwei Erstgenannten Gal übrig. 32 Änderung des Hochschul-Organisationgesetzes im Jahr 1972; 276. Bundesgesetz, 5. Juli 1972. 33 Hochschul-Organisationsgesetz 1955: § 10. Abs. 3: »Das Professorenkollegium (die zuständige akademische Behörde) hat das Recht, zur Besetzung eines der im Absatz 1 genannten Dienstposten Vorschläge zu erstatten, die in der Regel drei Personen zu enthalten haben (Ternavorschlag). Ausnahmen sind zu begründen.« 34 Fielhauer/Bockhorn 1982: Andere Kultur. 35 Gal 1971: Ethnographia Pannonica, 11.
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sie intendierten aber doch bereits die Perspektive einer europäischen Ethnologie. Eine solche europäische Perspektive war auf internationalem Parkett vor allem im Rahmen der 1964 gegründeten »Soci¦t¦ International d’Ethnologie et de Folklore« (SIEF)36 institutionalisiert worden und entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zunehmend zu einem grundlegenden Ansatz des Faches. Der fünfte SIEF-Kongress fand 1994 in Wien statt, organisiert vom Institut für Volkskunde, dessen Lehrstuhl nach der Emeritierung Gals im Jahr 1992 noch vakant war. Der zu diesem Zeitpunkt bereits designierte Lehrstuhlinhaber Konrad Köstlin,37 damals Präsident der SIEF, hielt bei dieser Veranstaltung einen prospektiven Eröffnungsvortrag38 und sorgte dann mit Antritt seiner Professur dafür, dass in theoretischer Ausrichtung wie in praktisch-organisatorischer Hinsicht in Wien das Fach immer mehr eine »discipline en route to Europe«39 wurde. Auch diese disziplinäre Entwicklung verweist auf die Kontexte der Zeit und war konkret von den gesellschaftspolitischen Prozessen der sich erweiternden EU und den kulturtheoretischen Trends in einer vernetzten Welt gezeichnet. Mittlerweile40 stellen sich dem Fach und Institut unter Leitung von Brigitta Schmidt-Lauber, die nach der Emeritierung Konrad Köstlins 2009 nach Wien berufen wurde, weitere Fragen und drängen sich zusätzliche Themen auf. Mit diesen wird heute in Lehre und Forschung das Fachverständnis einer »gegenwartsorientierten, historisch argumentierenden empirischen Alltagskulturwissenschaft«41 konkretisiert, die »Kultur« und »Alltag« als Schlüsselbegriffe in den Mittelpunkt der disziplinären Arbeit stellt und sich mit einem breiten Methodenspektrum aus historischen und ethnographischen Verfahren den Transformationen vor der eigenen Haustür stellt. Zunehmend rückten darüber nicht nur raumüberschreitende, sondern auch raumkonstituierende Prozesse wie Fragen der Stadt- und Mittelstadtforschung (wieder) in den Fokus. Insgesamt präsentiert sich das Institut heute als thematisch und theoretisch breit gestreute Kulturwissenschaft, die rezente Prozesse von populärer Religiösität bis zur Fußballfankultur, vom Gemeindebau bis zu Urban Gardening ebenso in den Blick nimmt wie die Analyse akademischer Kulturen und disziplinärer Identitäten. 36 Zur Geschichte der SIEF bzw. deren 1928 unter der Ägide des Völkerbundes gegründeten Vorläuferorganisation »Commission des Artes et Traditions Populaires« (CIAP) vgl. Rogan 2007: Past. 37 Emeritiert 2008. 38 Köstlin 1995: Europäische Ethnologie. 39 Nic Craith 2008: Discipline. 40 Seit 2009 ist Brigitta Schmidt-Lauber Nachfolgerin von Konrad Köstlin und intensiviert in Lehre und Forschung die ethnographische Dimensionierung von Alltagskulturen am Institut. Eine zweite Professur ist für 2015/16 vorgesehen. 41 Schmidt-Lauber 2012: Einleitung, 125.
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Ausblick Gerade weil die in ihren Anfängen von nationaler Engführung geprägte Disziplin mittlerweile ihren Horizont nicht nur in räumlicher, sondern vor allem in thematischer, methodischer und wissenschaftlich kooperativer Hinsicht erweitert hat, bleibt ihr die Aufgabe ständiger Standortbestimmung – eine Aufgabe, die sie sich auch angesichts der politischen Verstrickung im Nationalsozialismus wie wenige Disziplinen schon früh gestellt hat. Doch es gibt auch neuere Beweggründe zur Selbstreflexion: Im Gegensatz zu »institutionell privilegierten«42 älteren und in theoretischem oder methodischem Vorgehen klar definierten Fächern sieht sich die akademisch vergleichsweise spät etablierte Europäische Ethnologie nicht nur fachintern, sondern auch seitens der (hochschulpolitischen) Öffentlichkeit gedrängt zu definieren, was sie ist. Sie hat es dabei schwer und leicht zugleich. Schwer – denn ihre Themen, Methoden und theoretischen Ansätze teilt sie mit einer langen Reihe kultur- und sozialwissenschaftlicher Nachbardisziplinen. Und leicht – denn in ihren Forschungsfeldern, ihrem methodischen Zugang und ihrer interpretativen Kompetenz ist sie ihrem fachgeschichtlich determinierten Status einer »Integrationswissenschaft«43 verpflichtet. Und für eine solche gelten keine engen Grenzen weder das Bestehen auf bestimmte heuristische Zwänge noch das Insistieren auf territoriale Zuständigkeit44. In dieser Hinsicht mag das Adjektiv »europäisch« ebenso verwirrend sein wie »ethnos« als Bestimmungsworte der Fachbezeichnung.45 »Europäisch« meint nämlich nicht die Zuständigkeit und Kompetenz für eine Kulturanalyse jedweder regionaler Kulturen im europäischen Raum, sondern zielt auf den Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsrahmen in der europäischen Moderne, wobei »lokale Alltagskulturen […] angesichts oft weltweiter Verflechtungen als in überlokale Zusammenhänge eingebunden betrachtet« werden.46 Und »ethnos« darf mitnichten als bloße Übersetzung und »Rettung« des Volksbegriffs und damit als Festhalten an einem holistisch-national konnotierten Kulturkonzept missverstanden werden. Vielmehr hat sich unter dem Namen »Europäische Ethnologie« ein Programm an Arbeitsweisen, Denkmodellen und Fragestellungen etabliert, das sich der mikroanalytischen Betrachtung kultureller Prozesse und Phänomene in Geschichte und Gegenwart im gesellschaftlichen Nahraum verschrieben hat und dabei in einem dialektischen Erkenntnisprozess 42 43 44 45
Bendix 1997: Search, 5. Braun 1973: Probleme, 15. Nic Craith 2008: Discipline, 2. »Ethnologie« steht in einigen anderen Ländern und Publikationsorganen für die frühere »Völkerkunde« (an der Universität Wien derzeit »Kultur- und Sozialanthropologie« genannt). 46 Schmidt-Lauber 2012: Einleitung, 125.
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der Befragung des Eigenen wie des Fremden auf die Relationalität von Standorten und auf die Kontextgebundenheit von Wissen abzielt. Und da dieses Programm der unterschiedlichsten methodischen Zugänge – von auf den ersten Blick veraltet anmutenden bis zu aktuellsten – bedarf, ist es vielleicht keine leere Tautologie, wenn man sagt, dass Europäische Ethnologie das ist, was Europäische Ethnologinnen und Ethnologen tun.47 Wir werden das auch weiterhin selbstreflexiv umsetzen: So wird die Beobachtung der Entwicklung der Europäischen Ethnologie an der Universität Wien wie der Wissenschaftskulturen an sich ein Forschungs- und Erkenntnisinteresse des Faches neben anderen sein und bleiben, und so kann auch dieser Beitrag selbst als Beispiel der reflexiven Fachperspektive gesehen werden.
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Richard Olechowski*
Zwei Forschungsparadigmen in der Pädagogik: der »transzendentalkritische« und der »empirische« Ansatz
Die gesamte Entwicklung des Faches sowie die aktuellen Lehr- und Forschungstätigkeiten im Fach Pädagogik während des Berichtszeitraums – vom »Organisationsentwurf 1848« von Franz Exner und Hermann Bonitz bis zur »Ausgliederung« der Universitäten 2004 – können auf dem hier zur Verfügung stehenden Raum nicht einmal umrisshaft dargestellt werden. Jedoch nicht nur aus Raumgründen, sondern auch der ausdrücklichen Intention des vorliegenden Bandes entsprechend, liegt der Schwerpunkt des Beitrags auf zwei unterschiedlichen Paradigmen der erziehungswissenschaftlichen Forschung, dem »transzendentalkritischen« und dem »empirischen« Ansatz. Durch mehr als 25 Jahre hindurch wurden am fachlich zuständigen Institut in Forschung und Lehre beide Ansätze – parallel – vertreten.
Johann Friedrich Herbart – »der Pate des Faches Pädagogik« durch die Universitätsreform 1848? Die theoretische Planung und Begründung sowie die ersten konkreten Schritte nach der Revolution von 1848 zur Verwirklichung der fortschrittlichen Neuordnung der Universitäten – besonders der Philosophischen Fakultäten wie auch der Mittelschulen – sind untrennbar mit dem Namen Franz Exner und dem seines Mitarbeiters, Hermann Bonitz, verbunden. Ihre Reformbemühungen sind schließlich als »Organisationsentwurf 1848« für die Universitäten (bzw. »Organisationsentwurf 1849« für die Mittelschulen) unter dem Unterrichtsminister Leo von Thun-Hohenstein in die Geschichte eingegangen (Brezinka 2000, 61 f.). Bevor Exner auf Einladung der »Studien-Hofkommission« (bzw. später : des Unterrichtsministeriums) nach Wien gegangen war, lehrte er als Professor für * Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien.
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Philosophie und Pädagogik an der Universität Prag. Als solcher vertrat er in beiden Fächern die Philosophie und die Pädagogik von Johann Friedrich Herbart. Er war mit Herbarts Philosophie und Pädagogik völlig konform, geradezu »durchdrungen« von Herbarts Philosophie (ebd.). Zum besseren Verständnis für die Tätigkeit Exners im Rahmen der Universitätsreform wie auch seiner weiteren Tätigkeit im Ministerium ist es wichtig, an dieser Stelle einiges zu Herbart sowie zur Begegnung zwischen Herbart und Johann Heinrich Pestalozzi zu sagen. Ab 1802 war Herbart Professor für Philosophie in Göttingen. 1809 wurde er, als Nachfolger von Kant, an die Universität in Königsberg berufen. Die »Nachfolge« von Herbart auf den Lehrstuhl von Kant ist rein zeitlich zu verstehen: »In Herbart spürt man erstmals deutlich den Umbruch vom Idealismus zum Realismus des 19. Jahrhunderts. […] Das von Kant nur in der Vorstellung erfaßte und gefaßte Reale wird wieder in seiner Realität an sich gesehen und zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht« (Hirschberger 1965, Stichwort »Herbart«, 443). Herbart lernte während einer Tätigkeit in der Schweiz (1797 – 1800) Johann Heinrich Pestalozzi kennen und schätzen und wurde »der erste literarische Verkünder des Schweizers in Deutschland« (ebd.). Auch Herbart selbst gewann sowohl durch seine Leistungen auf dem Gebiete der Pädagogik als auch auf dem der Philosophie großes Ansehen und Wertschätzung. Die Begeisterung für Herbart teilte Franz Exner mit vielen anderen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Durch den weiteren Ausbau der Pädagogik Herbarts, hauptsächlich durch dessen Schüler (Tuiskon Ziller, Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Wilhelm Rein, Adolf Lindner, Josef Loos, Theodor Waitz, Karl Volkmar Stoy u. a.), hat die Herbartsche Pädagogik in die Schulen von Deutschland und Österreich des 19. Jahrhunderts fast ausnahmslos Einzug gefunden. Für die Menschen von heute beinahe unvorstellbar! Die deutlich missbilligend formulierte Kapitelüberschrift »Die deutsche Pädagogik des neunzehnten Jahrhunderts im Bannkreise Herbarts« – in dem epochalen Werk »Deutsche Erziehungswissenschaft. Prinzipiengeschichte und Grundlegung« (Lochner 1963) – vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der seinerzeit herrschenden »Jubelstimmung« im deutschen Sprachraum, derer sich damals Herbart und seine Schüler erfreuen durften. (Rudolf Lochner war ein wichtiger Vertreter der Empirischen Erziehungswissenschaft während ihrer Anfänge im deutschen Sprachraum.) Die Kritik auf breiter Basis an Herbarts Pädagogik (dem »Herbartianismus«) hat in den Jahren zwischen 1890 und 1920 eingesetzt, vor allem durch die »Reformpädagogik«. Im Einzelnen waren es die folgenden Aspekte, die kritisiert wurden: Die Schule im Sinne von Herbart sei eine Lern- und Drillschule. In der Reformpädagogik wandte man sich gegen das Auswendiglernen von Regeln und Formeln. Die Schule, nach Herbarts Konzeption, sei eine reine Wissensschule.
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Ferner haben die Reformpädagogen an der damaligen Schule das Vorherrschen lebensfremder Stoffe kritisiert. Die Herbartsche Pädagogik würde zur Vernachlässigung der Gemütswerte und der Werte des Willens führen. Und die Schule, im Sinne von Herbart, würde ein passiv-rezeptives Verhalten der Schüler verstärken (Weinhäupl 1981, 49 f.). – Die »Reformpädagogik« um die Wende zum 20. Jahrhundert, mit ihren bedeutenden Vertretern Hugo Gaudig, Georg Kerschensteiner, Maria Montessori, Peter Petersen u. a., hat der Pädagogik Johann Friedrich Herbarts »eine Pädagogik vom Kinde aus« gegenübergestellt. Doch davon später. Nicht nur die Vertreter der Reformpädagogik gingen auf kritische Distanz gegenüber Herbart. Beispielsweise auch der oben schon zitierte Lochner kritisierte Herbart; Lochner stand nicht nur den Vertretern des Faches Pädagogik, die als Schüler Herbarts zu bezeichnen sind, distanziert gegenüber, sondern auch anderen Pädagogen aus dem 19. Jahrhundert – z. B. Ernst Christian Trapp, Otto Willmann, Wendelin Toischer – aufgrund der fraglichen Wissenschaftlichkeit der Aussagen der genannten Autoren. Lochner reihte Herbart und die anderen Genannten unter die Überschrift »Erste unsichere Ansätze zu einer wissenschaftlichen Unterbauung der Pädagogik« ein (Lochner 1963, 81 ff.). Franz Exner hatte als Ministerialrat im Unterrichtsministerium nach seinem (mit Bonitz gemeinsam erstellten) »Organisationsentwurf 1848« die weitere Entwicklung der Universitäten, besonders der Philosophischen Fakultäten, zu betreuen. »In diesem Amt hat er bei Berufungen von Philosophie-Professoren solche mit Herbartscher Grundorientierung gefördert und dabei ist es auch nach seinem frühen Tod jahrzehntelang geblieben«, wie Brezinka gestützt auf ein Schriftstück des Akademischen Senats der Universität Wien aus dem Jahr 1898 feststellt (Brezinka 2000, 272 f.). Im Fach Pädagogik blieb nach dem Inkrafttreten des Konzepts von Exner und Bonitz die Professur aus finanziellen Gründen an der Universität Wien viele Jahre unbesetzt. Im Jahre 1865 erfolgte die erste Habilitation im Fach Pädagogik, es war die Habilitation von Theodor Vogt. Der Habilitationskommission gehörten Vertreter der Nachbarwissenschaften der Pädagogik an (besonders Vertreter der Philosophie, die vielfach auch mit der Wahrnehmung pädagogischer Probleme betraut waren). Vogt wurde 1871 außerordentlicher, im Jahre 1898 ordentlicher Professor für Pädagogik. Vogts Interessen lagen weniger in der Pädagogik als in der Philosophie. In den 36 Jahren, die Vogt als Professor lehrte, ist im Fach Pädagogik keine einzige Dissertation entstanden. Publizistisch ist Theodor Vogt wenig hervorgetreten (ebd., 271 ff.). Vogt selbst war zwar Herbartianer, aber weder sein unmittelbarer Nachfolger, Alois Höfler, noch einer der weiteren Nachfolger auf eine o. Universitätsprofessur im Fach Pädagogik sind als Herbartianer zu bezeichnen.
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Schulkonzepte um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert und die damalige Pädagogik an der Universität Wien Die um die Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert entstandenen Vorschläge (oder als »Forderungen« formulierten Konzepte) zur Veränderung im Schulbereich können geradezu als »Gegenbewegung« zu der in Europa um dieselbe Zeit herrschenden »Fin de SiÀcle-Stimmung« aufgefasst werden. Diese Vorschläge zu Reformen im Schulbereich sind von einer optimistischen und – logischerweise – in die Zukunft gerichteten Grundstimmung getragen. Für den deutschen Sprachraum ist an dieser Stelle besonders die im Jahre 1889 von der Deutschen Lehrervereinsbewegung geforderte gemeinsame Schule im Mittelstufenbereich (d. h. der 10 – 14-jährigen) zu nennen, die im Jahre 1906 vom Parteitag der Sozialdemokraten in Mannheim als bildungspolitische Forderung wiederholt wurde (Severinski 1985, 33 ff.). Ein weiterer Reformvorschlag: Das Konzept einer gemeinsamen Schule im Mittelstufenbereich für Österreich, das Otto Glöckel während seiner Zeit als »Unterstaatssekretär im Staatsamt für Inneres und Unterricht« (damit Chef der Unterrichtsverwaltung für Österreich) vorschlug, zeichnete sich durch seine weitreichenden Differenzierungsmöglichkeiten in ganz besonderer Weise aus; dies fand durch die zahlreichen Exkursionen aus dem Ausland in die »Versuchsschulen« der Reformer auch entsprechende Anerkennung. Wien hatte damals in den Fachkreisen der Schulreformer im Ausland den Ehrentitel »das Mekka der Pädagogik«. Aber auch abseits einer engeren Ideologie einer politischen Partei gab es zu jener Zeit Bewegung im Bereich der Schulentwicklung im deutschsprachigen Raum, z. B. die »Reichsschulkonferenz 1920« in Berlin. Diese Veranstaltung diente dazu, das Schulsystem der Weimarer Republik neu zu ordnen. Für Österreich ist an dieser Stelle die »Mittelschulreform 1908« (unter dem damaligen Leiter des Unterrichtsressorts Gustav Marchet) zu nennen. Als Nachfolger von Theodor Vogt wurde in der Funktion eines o. Universitätsprofessors für Pädagogik Alois Höfler an der Universität Wien ernannt; er übte dieses Amt von 1907 bis 1922 aus. Höfler fand großes Interesse an dem Unterfangen einer Mittelschulreform und arbeitete an dieser Reform mit. Es ging bei jener Reform um die Angleichung der Lehrpläne zwischen den Gymnasien und der Realschule, auch um die Ausdehnung der Realschule auf acht Jahre etc. (Altenhuber 1949, 117 und 121). Noch kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs beschäftigte sich Höfler mit einem weiteren Reformvorhaben: Er schlug eine »Volksmittelschule« vor, als Schule für die Elf- bis Fünfzehnjährigen, für jene Schüler, die nicht das achtklassige Gymnasium besuchen wollten, aber einen höherwertigen Abschluss anstrebten, als er durch die dreiklassige Bürgerschule erreicht werden konnte (ebd., 37 und
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126 f.). Mit diesem Reformziel wollte Höfler dem im deutschen Sprachbereich immer lauter werdenden Wunsch nach einer gemeinsamen Schule (im Mittelstufenbereich) scheinbar entgegenkommen, in Wirklichkeit jedoch die Realisierung einer tatsächlich gemeinsamen Schule in der Sekundarstufe I »geschickt« verhindern. Nach dem Tod von Alois Höfler 1922 wurde Richard Meister (seit 1921 ao. Universitätsprofessor für Klassische Philologie und damit Fakultätskollege Höflers) 1923 dessen Nachfolger als o. Universitätsprofessor für Pädagogik. Bereits im Jahre 1921 begutachtete – auf Initiative von Höfler – die Philosophische Fakultät die von O. Glöckel vorgelegten »Leitsätze für den allgemeinen Aufbau der Schule«, mit dem wichtigen Anliegen (zugleich ein »politisches Reizwort«) einer gemeinsamen Schule im Bereich der Sekundarstufe. Das Gutachten wurde unter der Federführung von Höfler und Meister erstellt und es wurde darin das von Glöckel vorgelegte Schulkonzept eindeutig abgelehnt. Dieses negative Gutachten wurde von der Philosophischen Fakultät mehrheitlich übernommen, das Glöckelsche Konzept also ebenfalls abgelehnt. Vom Akademischen Senat der Universität Wien wurde das Glöckelsche Schulkonzept mit Stimmeneinhelligkeit abgelehnt (Stadler 1988, 93). Höfler hat somit seine negative Einstellung zur Weiterentwicklung der Schule – die Verlegung einer wichtigen Entscheidung für die weitere Schullaufbahn eines jungen Menschen auf einen späteren Zeitpunkt seiner Entwicklung – leider weiterhin beibehalten (s. o.). A. Höfler und R. Meister haben somit – gemeinsam – den Weg für eine Schulstruktur, wie sie heutzutage faktisch in ganz Europa gegeben ist, für Österreich damals blockiert. »… schon im Jahre 1920 (stellten sich) die Rektoren der Universität, der Technischen Hochschule und der Hochschule für Bodenkultur in Wien in der programmatischen Denkschrift ›Die Schulreform vom Standpunkte der Hochschulen‹ gegen die Glöckelschen ›Leitsätze für den allgemeinen Aufbau der Schule‹« (Engelbrecht 1988, 92).
Bedeutende Ereignisse, das Ende des Ersten Weltkriegs und die Veränderung von der Monarchie zur Republik, wurden von der Pädagogik an der Universität Wien gewissermaßen nicht bemerkt, jedenfalls nicht beachtet. Die Weichen für eine Veränderung im Bildungsbereich wurden letztlich nicht von der Universitätspädagogik, sondern von der Politik gestellt.
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Die Pädagogik an der Universität Wien während der NS-Zeit Schon einige Tage nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich fanden Hausdurchsuchungen am »Pädagogischen Seminar« sowie in der Privatwohnung von Meister statt. R. Meister wurde im April 1938 seines Wirkens im Bereich der Pädagogik enthoben und mit der Abhaltung von Vorlesungen und Übungen im Fachbereich der Klassischen Philologie (anstelle des dort tätigen o. Prof. Karl Mras) betraut. (R. Meister hatte schon während der Jahre 1920 – 1923 Lehrveranstaltungen in Klassischer Philologie an der Universität Wien abgehalten.) Als »Kommissarischer Leiter des Pädagogischen Seminars« wurde Josef Krug bestellt. Dieser war vorher Mittelschullehrer (für Mathematik und Physik). Er hatte keine Lehrbefugnis (venia docendi) an der Universität. Im Jahre 1931 war Krug dem NS-Lehrerbund, im Jahre 1932 der NSDAP beigetreten (Brezinka 2000, 405). »Im Gau Wien der NSDAP war er als Gauhauptstellenleiter im Gauamt für Erzieher tätig« (ebd., 405). Auf der Basis einer Ausschreibung wurde die Professur für Pädagogik am 1. August 1939, anstelle von Josef Krug, mit Ottomar Wichmann besetzt. Wichmann war – schon zu Beginn der 1930er Jahre – in Deutschland Mitglied des NS-Lehrerbundes und der SA (ebd., 412). Im Jahre 1930 hatte er an der Universität Halle die Dozentur erlangt. Wichmann hat sich während seines Wirkens an der Universität Wien bemüht, die Gauleitung Wien für das Fachgebiet der Pädagogik zu interessieren, was ihm jedoch misslang. Während der Zeit des Nationalsozialismus ist im Fach Pädagogik an der Universität Wien keine Habilitation erfolgt und ist die Pädagogik auch in publizistischer Hinsicht nicht in nennenswerter Weise hervorgetreten. R. Meisters Leben während der NS-Herrschaft ist als »anpassungsbereit« und »anpassungsbemüht« an das NS-Regime zu charakterisieren: 1943 wurde Meister mit der interimistischen Leitung der zu einem großen Philosophischen Institut der vereinigten Fächer Philosophie, Psychologie und Pädagogik betraut (Feichtinger/Hecht 2013, 161). Am 30. September 1942 wurde ihm von Adolf Hitler als »Anerkennung für 40jährige treue Dienste das goldene Treudienstehrenzeichen verliehen.« Am 30. Januar 1943 wurde R. Meister »das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ohne Schwerter verliehen« (Brezinka 2000, 400). Die Darstellung Richard Meisters kann sich hier im Übrigen kurz halten, zumal er bereits in Band II dieser Reihe von J. Feichtinger gewürdigt wird und auch der Autor des gegenständlichen Beitrags erst kürzlich, anlässlich des 50. Gedenktags des Todestages von R. Meister, diesen in einem Zeitschriftenaufsatz behandelt hat (Olechowski 2014).
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Expansion und Spezialisierung des Faches Bis zum Jahre 1965 gab es jeweils nur einen o. Universitätsprofessor im Fach Pädagogik an jeder österreichischen Universität. In Wien waren dies in chronologischer Folge (beginnend mit der nochmaligen Nennung von Richard Meister): Richard Meister (1923 – 1938 und 1943/1945 – 1956), Ottomar Wichmann (1939 – 1945), Josef Lehrl (1956 – 1957) und Richard Schwarz (1958 – 1963). Ihr Wirken wird bei Brezinka (2000, 372 ff.) ausführlich dargestellt. Im Rahmen der gegenständlichen Darstellung sollen sie, wie bereits eingangs betont, nicht behandelt, vielmehr der Fokus – der Intention dieses Sammelbandes entsprechend – auf die Entwicklung seit 1965 gelegt werden. In der Mitte der 1960er Jahre stieg die Zahl der Studierenden in Österreich stark an. Für das Fach Pädagogik ist in diesem Zusammenhang besonders das Problem der großen Zahl an Kandidat/-innen für das Lehramt an höheren Schulen zu nennen. Alle Studierenden, welche das Lehramt anstrebten, hatten spezielle Prüfungen im Fach Pädagogik abzulegen. Für manche dieser Prüfungen war explizit vorgeschrieben, dass die betreffende Prüfung mündlich abzulegen sei. Außerdem entstand auch das Bedürfnis nach einer Differenzierung (z. B. wurde die »Schulpädagogik« besonders hervorgehoben). Zusätzlich entstand der Wunsch, dass an ein und demselben Universitätsstandort – möglichst in jedem Fach (und selbstverständlich auch in der Pädagogik als politisch sensibles Fach) – mehrere o. Universitätsprofessoren (mit unterschiedlichen Lehrmeinungen) vertreten sein sollten. Aus diesen Gegebenheiten bzw. Überlegungen heraus waren im Dienstpostenplan für das Jahr 1965 erstmals zwei o. Universitätsprofessuren für Pädagogik vorgesehen: Die Lehrkanzel »Pädagogik I (mit bes. Berücksichtigung für Theoretische und Systematische Pädagogik)« wurde im Jahre 1967 mit Marian Heitger besetzt. Heitger hatte in Münster studiert, dort den katholischen Neu-Kantianer Alfred Petzelt kennengelernt und war bei ihm einige Zeit am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster tätig gewesen. Seine Habilitation erfolgte 1961/62 an der Universität München. Ab 1962 lehrte Heitger an der Hochschule in Bamberg, ab 1966 an der Universität Würzburg. In Wien war Heitger von 1967 bis zu seiner Emeritierung 1995 tätig (Brezinka 2000, 213 f.). Zu seiner Nachfolgerin wurde 1998 Ines Maria Breinbauer ernannt. Die zweite o. Universitätsprofessur »Pädagogik II (mit bes. Berücksichtigung für Angewandte Pädagogik – Schulpädagogik)« wurde im Jahre 1965 mit dem damals schon 66-jährigen, pensionierten Gymnasialdirektor Ulrich Schöndorfer besetzt. Er emeritierte, nachdem die Fakultät immerhin ein »Ehrenjahr« für ihn beantragt hatte, bereits im Herbst 1970 (Brezinka 2000, 563). Unmittelbar danach wurde Karl Wolf, der bis dahin in Salzburg gelehrt hatte, sein Nachfolger. Nach der Emeritierung von Wolf im Jahre 1979 ergab sich eine längere Vakanz
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dieser Professur. Erst im Jahre 1986 wurde Karl Heinz Gruber auf diese Professur ernannt; er hatte vor seinem Pädagogikstudium als Lehrer in Oberösterreich unterrichtet. Die Widmung seiner o. Universitätsprofessur wurde auf seinen Antrag auf »Pädagogik II (mit bes. Berücksichtigung für Schulpädagogik und Vergleichende Erziehungswissenschaft)« umgewandelt (ebd., 556 ff.). 1968 wurde eine dritte Universitätsprofessur bewilligt: »Pädagogik III (mit bes. Berücksichtigung für Erwachsenenbildung und Außerschulische Erziehung)«; sie wurde 1971 mit Herbert Zdarzil besetzt, zunächst als ao. Universitätsprofessor, ab 1973 als o. Universitätsprofessor. Zdarzil hatte in Wien Philosophie studiert, aber 1963 eine Stelle als Assistent an der Universität Bonn angetreten, bevor er sich 1970 in Bonn für Erziehungswissenschaft habilitierte (Brezinka 2000, 585 ff.). Nach seiner Emeritierung 1997 wurde die Professur zwar zunächst, begrenzt auf das Gebiet der Erwachsenenbildung, erneut ausgeschrieben, letztlich jedoch nicht nachbesetzt. Im Jahre 1976 gelangte eine weitere o. Universitätsprofessur zur Ausschreibung: »Pädagogik IV (mit bes. Berücksichtigung der Schulpädagogik und der Allgemeinen Didaktik)«. Sie wurde im März 1977 mit Richard Olechowski besetzt. Dieser hatte in Wien studiert und mit einer empirischen Dissertation im Fach Psychologie bei Hubert Rohracher promoviert. Seine Habilitation an der Universität Wien für »Pädagogik, mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Psychologie« erfolgte 1970, wobei schon damals der empirische Ansatz bei Olechowski deutlich zu erkennen war. 1972 wurde Olechowski auf eine o. Universitätsprofessur für Pädagogik an der Universität Salzburg berufen, wo er bis zu seiner Rückberufung nach Wien 1977 lehrte. 2004 wurde Olechowski emeritiert (ebd., 601 ff. und Brezinka 2008, 157 ff.). 1983 wurde Friedrich Oswald, dessen Habilitation im Mai 1980 abgeschlossen worden war, zum ao. Universitätsprofessor ernannt und mit der Leitung des »Zentrums für das Schulpraktikum« betraut (ebd., 618 ff.). Allgemein gesprochen gibt es in der Pädagogik heutzutage eine Vielzahl von Lehrmeinungen, die teils auf grundsätzlich verschiedenen – und vermutlich auch irreduziblen – wissenschaftstheoretischen Letztstandpunkten beruhen. Als Beispiele zu nennen sind die Geisteswissenschaftliche (hermeneutische) Pädagogik, die Transzendentalkritische Pädagogik, die Empirische Pädagogik, die Marxistische Pädagogik, die Implizite Kritische Bildungstheorie von J. Habermas etc. – in einer pluralistischen Gesellschaft ist keine andere Situation zu erwarten. Im Folgenden sollen lediglich der (v. a. von Heitger vertretene) transzendentalkritische Ansatz sowie der (v. a. von Olechowski) vertretene empirische Ansatz kurz skizziert werden, zumal objektiv – schon allein aufgrund der Vielzahl an einschlägigen Habilitationen und Dissertationen – festgestellt werden kann, dass diese beiden Ansätze im hier darzustellenden Zeitraum den meisten Einfluss an der Universität Wien hatten. Mit Rücksicht auf den Um-
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stand, dass der Autor dieser Zeilen einen dieser Standpunkte vertritt, soll jedoch keiner der beiden Ansätze einer »transgredienten« Kritik unterzogen werden, die das angegebene System überschreitet; vielmehr soll auf »systemimmanente« Fragen aufmerksam gemacht werden, auf Probleme also, die das jeweilige Œuvre am eigenen Programm misst, zumal der Autor das Privileg, für die vorliegende Jubiläumsschrift zu schreiben, nicht missbrauchen will, um einen dieser beiden Ansätze zu favorisieren.
Die transzendentalkritische Pädagogik M. Heitger vertrat im Wesentlichen die von seinem akademischen Lehrer A. Petzelt entwickelte »Transzendentalkritische Pädagogik«. A. Petzelt war ein Schüler von Richard Hönigswald, einem Neu-Kantianer. R. Lassahn geht in seiner Kurzdarstellung der wissenschaftlichen Position Heitgers von den drei Fragen Immanuel Kants aus (Lassahn 92000, 99). Auch Heitger selbst verwendet, zur Verdeutlichung der Anthropologie, die seiner transzendentalen Pädagogik zugrunde liegt, die »drei Kantschen Fragen« (Heitger 2003, 53 f.): – Was kann ich wissen? Dieser Frage geht Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« nach und er gelangt zu dem Ergebnis, dass synthetische Sätze (= Kenntnis erweiternde Sätze) a priori über Sachverhalte, die außerhalb unserer Möglichkeiten der Informationsgewinnung in Zeit und Raum liegen, keine Gültigkeit beanspruchen können. – Was soll ich tun? Dies ist die zentrale Frage von Kants Ethik, abgehandelt (zunächst) in der Schrift »Grundlegung der Metaphysik der Sitten«, vor allem aber in seiner »Kritik der praktischen Vernunft«. Der »kategorische Imperativ« ist der zentrale Satz dieser Hauptschrift Kants, innerhalb seiner Ethik: »Handle so, daß du jederzeit wollen kannst, die Maxime deines Handelns solle allgemeines Gesetz werden.« Nicht minder wichtig: Was Kant aufgrund seiner Analyse in der »Kritik der reinen Vernunft« für nicht erkennbar bezeichnet hat – Aussagen über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – das wird in der »Kritik der praktischen Vernunft«, in der gedanklichen Form von »Postulaten«, zum Fundament seiner Ethik. Nicht das Schema von »Lohn und Strafe« liegt Kants Ethik zugrunde. »Das Fürwahrhalten dieser Postulate aber ist ein Glauben im Sinn des religiösen Glaubens, der damit als religiöser Vernunftglaube, der aller echten nicht zum Aberglauben entarteten Religion zugrunde liegen muß, aus den Prinzipien der Vernunft gerechtfertigt ist« (von Aster 1932, 270 f.). – Was darf ich hoffen? Was in Kants »Kritik der praktischen Vernunft« zum Fundament der Ethik geworden ist – Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – das wird in weiteren Schriften Kants explizit ausgebaut: Einerseits ist diesbe-
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züglich die dritte kritische Schrift Kants zu nennen, die »Kritik der Urteilskraft«, besonders die darin enthaltenen Ausführungen »über das Erhabene«, andererseits und vor allem Kants religionsphilosophische Schrift »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (im Jahre 1793 erschienen – somit eine nach-kritische Schrift). Die transzendentalkritische Pädagogik wurzelt in der Philosophie Kants; sie wird auch als »Neukantianismus in der Pädagogik« bezeichnet. Diese Denkrichtung fordert bzw. erwartet, dass jedes pädagogische Handeln im Sinne der drei Kantschen Fragen gesehen werde und auch die zwischen diesen Dimensionen jeweils bestehenden Relationen seien zu bedenken. Als Illustration für die Argumentation bzw. Denkweise der transzendentalkritischen Pädagogik sei hier ein Textausschnitt eines Beitrags von Heitger wiedergegeben, in welchem es um die »Grundrelation von Unterricht und Erziehung« geht: »Um eine andere Dimension [als im Unterricht] geht es im Prozeß der Erziehung. Hier steht nicht mehr ein Inhaltliches im Mittelpunkt, sondern die Art, wie das Ich sich gegenüber einem Inhaltlichen verhält. Nicht um die Eindeutigkeit des gegenständlichen Momentes geht es, sondern um die Eindeutigkeit des Ich, d. h. nicht sein Wissen ist ausdrücklich gefragt, sondern seine Haltung. Erziehung vermittelt nicht Argumente, sondern zielt auf die Verbindlichkeit gegenüber dem Wissen, d. h. auf die Art, wie das Ich sein Wissen hat, wie es sich ihm gegenüber verhält und was es mit seinem Wissen macht. In der Erziehung geht es um die Haltung, um den Charakter eines Menschen, um die Art, wie er seine Eigenschaften entwickelt und einander zuordnet. Erziehung ist nicht nur an Einsicht gebunden, sondern zugleich an den Willen, an das rechte Wollen als Ausdruck der Verbindlichkeit« (Heitger 1980, 210 f.). Eine Publikation von Heitger, im Jahre 2003 erschienen, trägt den Titel »Systematische Pädagogik – Wozu?«. Eine grundsätzliche, begriffliche Klarstellung ist hier unbedingt erforderlich: Es darf zunächst daran erinnert werden, dass im Fach »Philosophie« die Geschichte des Faches eine bevorzugte Stellung einnimmt und dass man das Fach Philosophie am besten auf die Weise studiert, dass man sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftige. Neben der Geschichte der Philosophie gibt es die einzelnen philosophischen Disziplinen (z. B. Erkenntnistheorie, Ontologie, Ethik oder Ästhetik). Eine Abhandlung, zum Beispiel zu einer erkenntnistheoretischen Frage, sollte jeweils innerhalb des Systems der Philosophie jenes Philosophen/jener Philosophin vorgenommen werden, mit dessen/deren Darlegungen man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt beschäftigt. Das Ergebnis dieses Studiums kann hernach mit anderen Gedanken (mit eigenen oder mit Gedanken anderer Philosophen/Philosophinnen) zu jenem erkenntnistheoretischen Problem, das man im Augenblick im Zentrum seines Interesses hat, in Beziehung gesetzt werden usw. Insgesamt
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befasst man sich bei einer solchen Vorgehensweise jedenfalls nicht mit einer Frage aus der »Geschichte« der Philosophie, sondern man arbeitet auf einem der Gebiete der »systematischen Philosophie«, z. B. auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie (bzw. in einem anderen Fall auf dem Gebiete der Ontologie, der Ethik usw.). Manchmal haben Personen aus dem Bereich der »Einzelwissenschaften« das Verlangen, bei bestimmten Darstellungen einer Problemlage die Entwicklung jenes Problems – aus dem »Schoße der Philosophie« – deutlich erkennbar zu machen. Aus diesem Bedürfnis heraus entlehnen sie allenfalls auch die Begrifflichkeit der Philosophie. Im angloamerikanischen Raum würde die von Heitger vertretene »Systematische Pädagogik« in die Kategorie »philosophy of education« eingereiht werden. Durch diese Einordnung (und durch den Titel von Heitgers Publikation) wird klar ersichtlich, dass Heitger Aussagen zu bestimmten Sachverhalten tätigen möchte, die aus seinem »System« abzuleiten wären. Inwieweit er dieses selbst auferlegte Programm tatsächlich erfüllte, muss der Bewertung – im Sinne der immanenten Kritik – einer nachkommenden Generation vorbehalten bleiben.
Die empirische Pädagogik »Die Empirische Erziehungswissenschaft ist die Theorie menschlicher Verhaltensänderungen. Zur Erstellung einer solchen Theorie ist es nötig, die Ursachen des Zustandekommens von Verhaltensänderungen zu untersuchen sowie deren Ausmaß und Art festzustellen, d. h. es interessiert, wie menschliches Verhalten (auch zwischenmenschliches Verhalten) zustande kommt und wie es verändert werden kann. Die Methoden dieses Ansatzes sind das Experiment bzw. die (standardisierte) Beobachtung. Die durch das Experiment bzw. Beobachtung gewonnenen Daten sollten nach Möglichkeit so beschaffen sein, dass sie einer quantitativen Analyse unterzogen werden können« (Olechowski 2010, 308). Die Bezeichnungen »Erziehungswissenschaft« und »Pädagogik« werden in der hier gegebenen Darstellung synonym verwendet; mit beiden Benennungen ist die wissenschaftliche Erforschung des Prozesses der Erziehung gemeint. Eine Notwendigkeit, einerseits die wissenschaftliche Erforschung von »Erziehung« und »Unterricht« sowie andererseits die praktisch-pädagogische Tätigkeit (z. B. als Elternteil oder als Lehrer/-in oder als Klavierpädagoge/-in) im gegebenen Zusammenhang sprachlich auseinander zu halten, ist hier nicht gegeben, weil bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen, vom praktischen Handeln in Erziehung oder Unterricht nicht die Rede ist. Es darf besonders darauf hingewiesen werden, dass in der obigen Begriffsbestimmung auf jede inhaltliche Festlegung verzichtet wird, d. h.: Die Frage, ob
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zum Beispiel die »religiöse Erziehung« ein unbedingtes Ziel der Erziehung zu sein hat, oder die Frage, welche Inhalte zum Begriff einer »Allgemeinbildung« gehören, werden beim Versuch der oben gegebenen Begriffsbestimmung ausgeklammert. Solche und ähnliche Fragen überschreiten das Gebiet der empirischen Pädagogik und können von einer empirisch arbeitenden wissenschaftlichen Disziplin allein nicht befriedigend beantwortet werden. Dennoch sollte aber – um Missverständnissen zuvorzukommen – hier ausdrücklich festgestellt werden, dass sich die empirische Pädagogik u. a. auch mit dem Normen- und Wertgefüge einer Gesellschaft beschäftigt. Die empirische Pädagogik richtet bei ihrer Forschung in diesen Bereichen ihr Augenmerk zum Beispiel auf die Probleme eines gelingenden Bemühens der Realisierung eines entsprechenden Verhaltens der einzelnen Menschen. Sie kümmert sich um die Probleme einer handlungswirksamen Vermittlung von Humanität, Kunst und Kultur. (Das Bemühen, die Bedingungen des Gelingens der Vermittlung der genannten Werte zu analysieren, impliziert die Notwendigkeit der Darlegung der diesbezüglichen Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten ihrer Überwindung konkret zu erkennen.) In der oben gegebenen Begriffsbestimmung der empirischen Pädagogik werden die Methoden dieser Wissenschaft angeführt: das Experiment und die standardisierte Beobachtung. Ebenso ist über die Auswertung der erhobenen Daten eine Aussage getroffen: Die Daten sind mithilfe der mathematisch-statistischen Methoden zu analysieren. Hingegen bedarf es noch der Erläuterung des Begriffs »Theorie«. Am Beginn jeder Forschung ist es erforderlich, zu einer sinnvollen Fragestellung zu gelangen. Man sollte innerhalb eines überschaubaren wissenschaftlichen Bereichs jene »Lücke« innerhalb eines Wissensgebietes erkennen, die noch einer weiteren Erforschung bedarf. Zumeist aufgrund der Kenntnis des weiteren Wissensgebietes, innerhalb dessen die Forschungsfrage liegt, wird man eine »Hypothese« entwickeln. Die meist übliche Vorstellung dabei ist die, dass man innerhalb einer empirischen Wissenschaft »Ergebnis« an »Ergebnis« aneinanderreihe; man meint, eine empirische Wissenschaft sei (prinzipiell) eine induktiv verfahrende Wissenschaft. Eine andere Möglichkeit liegt in der Überlegung, dass das Bestreben des Forschers/der Forscherin nicht auf eine Bestätigung eines Sachverhalts ausgerichtet sein müsste, sondern sich auf eine Falsifikation von Einwänden gegen die Hypothese/n konzentrieren könnte. Zur Verdeutlichung: Wenn ein/e Forscher/-in bei einem Kongress eine These vertritt, muss er/sie auf Einwände zu seinem/ihrem Vortrag gefasst sein. Er/sie wird in der an den Vortrag anschließenden Diskussion vor der Situation stehen, die vorgetragene/n These/n bzw. Theorie zu verteidigen. Ist es nicht möglich, dies erfolgreich zu tun, wird es letztlich nötig sein, die These/n bzw. Theorie zu verwerfen. Analog zu diesem Bild des Vortrags bei einem Kongress, liegt es nahe, die Forschungsarbeit von Haus aus so zu
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organisieren, dass der/die Forscher/-in selbst Einwände gegen die Hypothese/n bzw. die Theorie (= »Prüfhypothesen«) formuliert und durch seine/ihre Forschungsarbeit laufend versucht, diese Einwände zu falsifizieren. Hierzu Popper: »Die empirischen Wissenschaften können nach einer weit verbreiteten, von uns aber nicht geteilten Auffassung durch die sogenannte induktive Methode charakterisiert werden; Forschungslogik wäre demnach Induktionslogik, wäre logische Analyse dieser induktiven Methode« (Popper 101994, 3). Popper vertritt also den gegenteiligen Standpunkt; die »deduktive Überprüfung der Theorien«: Aus der/den Hypothese/n bzw. Theorie werden Prüfhypothesen deduziert. Für die Erziehungswissenschaft empfiehlt Brezinka ebenfalls die Vorgehensweise der deduktiven Überprüfung der Theorien (Brezinka 1978, 41 – 188). Olechowski schließt sich den Auffassungen von Popper und Brezinka an (Olechowski 2004, 14 f.).
Ausblick: Von der Bedeutung der »Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts« für die Gegenwart Mit der Emeritierung von Heitger 1995, Zdarzil 1997, Gruber 2003 und Olechowski 2004 trat ein Generationenwechsel am Institut für Erziehungswissenschaft – das 2004 in »Institut für Bildungswissenschaft« umbenannt wurde – ein. Auf das wissenschaftliche Schaffen der heute am Institut lehrenden Personen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wenn aber ein Resümee gezogen werden soll, dann soll dies mit einem Blick auf die »Reformpädagogik« um die Wende zum 20. Jahrhundert erfolgen. Diese weltweite Bewegung, die im deutschsprachigen Raum ihr Zentrum hatte, wurde in Österreich weniger von Universitätsprofessoren als vielmehr von praktisch tätigen Personen diskutiert: von Beamten des Unterrichtsministeriums, von Landes- und Bezirksschulräten sowie selbstverständlich auch in vielen Lehrer/-innen/-kreisen. Aktiv, mit Publikationen in der wissenschaftlichen Literatur, waren österreichische Autoren und Autorinnen in der Reformpädagogik der Wende zum 20. Jahrhundert – wenn man von Publikationen, die spezifisch auf die Wiener Schulreform Bezug nehmen, absieht – wenig vertreten. Die Reformpädagogik (besonders die deutschsprachige Fachliteratur) wurde aber von progressiv eingestellten Lehrern und Lehrerinnen mit großem Interesse rezipiert, selbstverständlich in vollem Umfang von den Wiener Schulreformern um den 1922 – 1934 amtsführenden Präsidenten des Stadtschulrates von Wien, Otto Glöckel. So unterschiedlich die Ansätze einzelner Reformpädagogen auch sein mochten (Hugo Gaudig, Georg Kerschensteiner, Maria Montessori usw.), haben
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jene Lehrer/-innen bzw. Erzieher/-innen, die neue Wege in ihrer beruflichen Tätigkeit beschreiten wollten, sich bei ihrer praktisch-pädagogischen Tätigkeit von den beiden im Folgenden genannten Prinzipien leiten lassen, weil sie die Ziele der Reformpädagogik guthießen und sie diese verwirklichen wollten: – Das Bemühen der Lehrer/-innen bzw. Erzieher/-innen war prinzipiell darauf gerichtet, die ihnen anvertrauten Kinder so zu motivieren, dass diese am Unterricht nicht nur »teilnahmen«, sondern ihn auch mit zu gestalten bestrebt waren und – der volle Einsatz der Lehrer und Lehrerinnen war darauf gerichtet, dass die Kinder mit Freude zur Schule gingen. Allgemein formuliert: Wenn es gelingt, diese beiden Ziele vom ersten Schultag an zu verwirklichen und die positiven Einstellungen zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen zu wecken und aufrecht zu erhalten, dann – nur dann – ist es gerechtfertigt festzustellen, dass es gelungen sei, eine »Pädagogik vom Kinde aus« zu verwirklichen. Diese Bestrebungen haben nichts von ihrer Aktualität verloren.
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Thomas Olechowski*
Jurisprudenz oder Rechtswissenschaft? – Zur Entwicklung des wissenschaftlichen Leitbildes der juristischen Fakultät der Universität Wien seit 1852**
Die Historische Rechtsschule Mit einem Paukenschlag kündigte sich am 11. Mai 1852 die Thunsche Reform des juristischen Studiums an: Ausgerechnet im Rahmen einer Sub-auspiciisPromotion hatte der Unterrichtsminister, Leo Graf Thun-Hohenstein, »eine Schmährede auf das bürgerliche Gesetzbuch« gehalten – so zumindest notierte es Reichsratspräsident Kübeck von Kübau mit deutlichem Ärger in sein Tagebuch.1 Wer die damalige Rede Thuns allerdings nachliest, der wird dieses harte Urteil Kübecks nur schwer nachvollziehen können; hatte der Minister doch das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) aus dem Jahre 1811 durchaus als das »mit Recht berühmteste Rechtskompendium der neueren Zeit« bezeichnet, welches einen »sehr gelungene[n] Anfang zu einer gemeinsamen österreichischen Rechtsentwicklung« darstelle, und nur davor gewarnt, das ABGB »als ein juridisches Evangelium« zu behandeln und sich »wie vor einem Götzen in stummer Verehrung« niederzuwerfen, zumal es »wie jedes menschliche Werk nicht frei von Mängeln« sei. Hierin eine »Schmähung« zu erblicken, zeigt vielleicht gerade umgekehrt, dass die Warnungen Thuns nicht ganz unberechtigt waren. Aber sicherlich war das ABGB eine Leistung, auf die die österreichische Ju* Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien. **Die vorliegende Studie muss sich schon aus Raumgründen auf die wichtigsten methodischen Strömungen an der Fakultät und hier wieder auf jene im Verfassungsrecht und im Zivilrecht beschränken; vgl. zur Ausdifferenzierung und Entwicklung der übrigen Disziplinen den Beitrag desselben Autors in Band I dieser Reihe. Auch die Rolle der Jurisprudenz in den Jahren 1933 – 1945 ist hier fast vollständig ausgeklammert; siehe dazu den Beitrag von StaudiglCiechowicz in diesem Band. Zur Vorbereitung dieses Beitrages führte der Verfasser im Dezember 2013 Interviews mit den emeritierten Professoren Professoren Manfred Burgstaller, Helmut Koziol, Werner Ogris, Theo Öhlinger und Günther Winkler, wofür ihnen herzlich gedankt sei. Dank auch an Prof. Clemens Jabloner und Prof. Franz-Stefan Meissel für ihre kritische Lektüre eines Vorentwurfes dieses Beitrages. 1 Ogris 1999: Universitätsreform, 20. Die Rede Thuns ist ebenda 39 – 42 abgedruckt.
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risprudenz im Allgemeinen und die Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät im Besonderen zu Recht stolz sein konnten. Die Arbeiten an diesem Gesetzbuch hatten 1753 begonnen, im selben Jahr, in dem Maria Theresia die Fakultät vollkommen neu organisiert und insbesondere den Südtiroler Carl Anton von Martini an die Universität Wien berufen hatte. Hier übernahm Martini die neu geschaffene Lehrkanzel für Naturrecht und erstellte 1796 einen Entwurf zum ABGB, der allen nachfolgenden Beratungen als »Ur-Entwurf« zugrunde lag.2 Diese letzte Phase des mühsamen Gesetzgebungsprozesses war vor allem von Martinis Schüler und Nachfolger auf dem Naturrechtslehrstuhl, Franz von Zeiller, geprägt.3 Auf ihn ist namentlich der – bis heute unverändert gültige – § 16 ABGB zurückzuführen, der jedem Menschen »angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte« zubilligte und Leibeigenschaft sowie Sklaverei zu einem Zeitpunkt verbot, als diese Einrichtungen in Russland und den USA noch gang und gäbe waren. Dass jegliche positive Rechtsordnung auf ihren Vernunftgehalt geprüft werden müsse, dass überhaupt die Vernunft als Quelle des Rechts angesehen werden könne, wurde auch an anderen Stellen des Gesetzbuches deutlich, wie insbesondere in der Anweisung an den Richter, er solle, wo immer ein Rechtsfall nicht mit Hilfe der Gesetze gelöst werden könne, »nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen« entscheiden (§ 7). Zeiller, der 1807/08 das Amt des Rektors der Wiener Universität ausübte, war auch der Schöpfer der juristischen Studienordnung von 1810, die die bisherige Dominanz des römischen und kanonischen Rechts brach und das Studium des österreichischen bürgerlichen Rechts einführte – nicht jedoch, bevor der Studienanfänger sich in seinem ersten Studienjahr ausführlich mit dem Naturrecht selbst beschäftigt hatte.4 Dieses aber, das Naturrecht, wurde von Thun und seinen Beratern als hauptverantwortlich dafür angesehen, dass es während der Revolution 1848 gerade die Jusstudenten gewesen waren, die an der vordersten Front der Revolutionäre gestanden hatten. Die »Spekulation des menschlichen Verstandes« hätte nur zu »hohlen Frasen« geführt und ihre Sinne vernebelt, die Beschäftigung mit Kant (gegen die direkt ja nichts gesagt werden konnte) wäre seicht und oberflächlich geblieben. »Auf eine intellektuelle Verdumpfung, Leerheit und Gebundenheit ohne gleichen ist ein Zustand geistiger Anarchie gefolgt, in welchem Hoffart, Unwissenheit, Oberflächlichkeit und Aberwitz sich für einen und den nämlichen Zweck die Hand zum Bunde reichen. Dieser eine Zweck war : 2 Zu Martini vgl. Barta et al. 1999: Naturrecht; zur Entstehung des ABGB vgl. zuletzt zusammenfassend Brauneder 2014: Privatrechtsgeschichte, 115 ff. 3 Vgl. zu ihm Selb/Hofmeister 1980: Zeiller. 4 Olechowski 2011: Rechtsstudium, 456; Meissel 2014: Römisches Recht, 504.
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Ohne irgend einen Anfang von geistiger Vorbildung einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft zu schaffen.«5 Nun freilich, nachdem das Militär die Revolution blutig unterdrückt und der junge Kaiser die von ihm selbst gewährte Verfassungsurkunde am 31. Dezember 1851 wieder aufgehoben hatte, konnte Thun daran gehen, die Wurzel des Übels zu beheben. Durch eine Studienreform, verknüpft mit einer rigorosen Personalpolitik, wollte er das Naturrecht, ja überhaupt jedes philosophische »Spekulieren« über das Recht, so weit wie möglich zurückdrängen und an ihrer Stelle die – von der Studienordnung 1810 marginalisierte – Rechtsgeschichte nicht nur wiederherstellen, sondern geradezu zum Fundament der gesamten Rechtswissenschaft machen. Denn »[n]icht Rationalismus, das lebendig Positive allein und dessen historisch-genetische Ergründung kann uns frommen.«6 Dies jedenfalls war die Grundüberzeugung von Thuns Berater Karl Ernst Jarcke, der 1825 – 1832 in Berlin gelehrt und dort Friedrich Carl von Savigny, den Begründer der sog. Historischen Rechtsschule, kennengelernt hatte. Diese – besser als historistisch zu bezeichnende7 – Rechtsschule hatte, wohl auch unter dem Eindruck der Französischen Revolution, einen radikalen Bruch mit der im 18. Jahrhundert dominierenden Vernunftrechtsschule vollzogen und lehnte es ab, das Recht als ein Vernunftprodukt anzusehen, das »more geometrico« konstruiert werden könne. Das Recht sei vielmehr ein historisch gewachsenes Produkt und nur wer sich mit seiner Geschichte befasse, könne es richtig verstehen. In Preußen und in vielen anderen deutschen Staaten hatte dieses neue Konzept schon bald zahlreiche Anhänger gefunden, nur wenige jedoch in Österreich, wo es erst der massiven Unterstützung durch Minister Thun bedurfte, die Historische Rechtsschule zu etablieren. In diesem Sinne erging am 25. September 1855 eine neue Studienordnung, die die Rechtsphilosophie zu einem Wahlfach herabstufte, dagegen den rechtshistorischen Fächern fast 50 % der gesamten Studienzeit zubilligte.8 Profilierte Professoren des Vormärzes, wie etwa der Strafrechtler Anton Hye von Glunek, wurden gezwungen, vom Lehramt zurückzutreten, dagegen neue Talente, die das Wissenschaftsprogramm Thuns umzusetzen versprachen, nach Kräften gefördert. Zu ihnen gehörte insbesondere Josef Unger, 1828 in Wien geboren, der 1850 mit einer Dissertation zur »Ehe in ihrer welthistorischen Entwicklung« zum Doktor der Philosophie, 1852 zum Doktor der Rechte promoviert worden war.9 Bereits ein Jahr später folgte eine Berufung nach Prag, 1856 nach Wien. Die bis 5 Aus dem Memorandum Jarckes 1849, abgedruckt bei Ogris 1999: Universitätsreform, 31. Vgl. auch Reiter 2007: JuristInnenausbildung, 13. 6 Aus dem Memorandum Jarckes 1849, abgedruckt bei Ogris 1999: Universitätsreform, 32 f. 7 Vgl. schon Olechowski 2011: Rechtsstudium, 460. 8 Ebd., 459. 9 Vgl. zu Unger den Beitrag von Franz Stefan Meissel in Band II dieser Reihe.
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dahin übliche sogenannte exegetische Methode, das ABGB paragraphenweise zu erläutern, lehnte er ab und begann stattdessen eine umfassende (unvollendet gebliebene) systematische Darstellung des österreichischen Privatrechts nach dem sogenannten Pandektensystem: Den einzelnen Gebieten (Sachen-, Schuld-, Familien- und Erbrecht) sollte ein »Allgemeiner Teil« vorangestellt werden, der grundlegende Begriffe des bürgerlichen Rechts wie Rechts- und Geschäftsfähigkeit erläutern sollte, was freilich nur gelang, wenn man viele verstreute Bestimmungen des ABGB zueinander in Beziehung setzte und oft auch verallgemeinerte. Dies eröffnete neue Perspektiven – und führte teilweise auch zur Schöpfung neuer Konstruktionen, wie z. B. der »juristischen Person«, womit verschiedenste im ABGB geregelte Phänomene unter einen Sammelbegriff gebracht wurden.10 Bei diesen Arbeiten gingen Unger und die übrigen Vertreter der Historischen Rechtsschule sozusagen hinter das ABGB zurück und stützten sich auf eine Vielzahl historischer Rechtstexte, wie insbesondere auf die 533 n. Chr. unter Kaiser Justinian erfolgte Kompilation der klassischen römischen Juristenschriften, die sogenannten Pandekten. Deren Studium hatte seit dem Mittelalter die Rechtsfakultäten dominiert und war so zur Grundlage des sogenannten ius commune geworden, das in mehr oder weniger starkem Ausmaß Eingang in die Rechtspraxis der europäischen Staaten gefunden hatte.11 Während die Zeillersche Studienordnung 1810 das Pandektenstudium zu einem Auslaufmodell erklärt hatte, wurde es mit der Thunschen Studienordnung 1855 wieder breit im Studienplan positioniert und zum Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem geltenden Recht gemacht. Die »Pandektisten«, wie Unger und seine Weggefährten auch genannt wurden, waren also keine Rechtshistoriker im heutigen Sinn. Sie setzten die Pandekten und sonstigen Rechtsquellen, mit denen sie arbeiteten, nicht in ihren historischen Kontext, sondern rissen sie gerade aus diesem heraus und versuchten, aus ihrer Analyse unmittelbaren Nutzen für die Lösung moderner Rechtsprobleme zu ziehen – womit zwangsläufig Neukonstruktionen, insbesondere im Weg der immer neuen Begriffsbildung, entstanden.12 Der Vorwurf Ungers, die ABGB-Redaktoren seien mit ihrem Ziel, das ius commune in toto zu übernehmen, gescheitert und hätten die Pandekten vielfach falsch verstanden, war aber nicht gerechtfertigt: Denn ein derartiges Ziel hatten Martini, Zeiller und die übrigen Redaktoren niemals vor Augen gehabt. Vielmehr hatten sie oft auch auf andere Rechtsquellen – wie vor allem das heimische Gewohnheitsrecht – zurückgegriffen und sich bewusst vom ius commune absetzen wollen. Dass dies so war, geht eindeutig aus den Beratungsprotokollen 10 Ogris 1969: Historische Schule, 481. 11 Brauneder 2014: Privatrechtsgeschichte, 75. 12 Ogris 1969: Historische Schule, 475.
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zum ABGB hervor, die aber lange Zeit vergessen im Archiv des Justizpalastes schlummerten, bis sie 1888/89 von Julius Ofner publiziert und so einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. In der Tat trug diese Publikation wesentlich dazu bei, dass die Pandektisten allmählich von ihrer radikalen Kritik am ABGB abrückten, und sogar Unger wünschte sich 1904 nur noch »mosaikartige Einzelkorrekturen«, die das nun schon fast einhundertjährige Gesetzbuch modernisieren sollten. Tatsächlich wurde noch im selben Jahr eine Reformkommission eingesetzt, und 1912 beschloss das Herrenhaus des österreichischen Reichsrates eine umfassende Novellierung des ABGB.13 Das Inkrafttreten dieser Reform sollte Unger, der 1869 zum Mitglied des Herrenhauses auf Lebenszeit und 1881 zum Präsidenten des k.k. Reichsgerichtes ernannt worden war (zwischenzeitlich hatte er als Minister maßgeblichen Anteil an der Errichtung des Verwaltungsgerichtshofes 1876), nicht mehr erleben: Am 2. Mai 1913 starb er in Wien. Durch den Kriegsausbruch ein Jahr später schien die Novellierung des ABGB in unerreichbare Ferne gerückt, bis sich die Regierung entschloss, die parlamentarisch schon weitgehend beratenen Neuerungen in Form von Notverordnungen in Kraft zu setzen, was in drei »Schüben«, 1914, 1915 und 1916, dann auch erfolgte.
Juristische Strömungen am Fin de Siècle Zu diesem Zeitpunkt, 1916, hatte die Bedeutung der Pandektistik in Österreich ihren Höhepunkt schon längst überschritten. Die von Savigny entwickelte »historisch-systematische Methode«, wonach historische Quellen heranzuziehen seien und in ein modernes System eingepasst werden sollten, war von seinen Nachfolgern einseitig zugunsten der Systematik weiterentwickelt worden, sodass diesen das Recht als ein lückenloses System von Begriffen erschien, welche induktiv gewonnen und aus deren Analyse im deduktiven Weg alle Rechtsprobleme gelöst werden können.14 Diese sogenannte Begriffsjurisprudenz stieß auf Ablehnung wegen ihrer (angeblichen) Weltfremdheit und mangelnden Berücksichtigung der sozialen Dimension des Rechts. Als 1888 in Deutschland der »Erste Entwurf« für ein Bürgerliches Gesetzbuch veröffentlicht wurde, der ganz der Pandektistik verhaftet war, verfasste der 1877 – 1899 in Wien Zivilprozessrecht lehrende Anton Menger (ein Bruder des Nationalökonomen Carl Menger) eine scharfe Kritik, betitelt »Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volks13 Ebd., 493 ff.; Brauneder 2014: Privatrechtsgeschichte 149 f. 14 Bydlinski 1982: Methodenlehre 110. Komplementär zur Begriffsjurisprudenz entwickelte sich aus der historisch-systematischen Methode freilich auch die moderne Rechtsgeschichte; vgl. dazu den Beitrag von Olechowski in Band I dieser Reihe.
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klassen«, und bemängelte, dass das neue Gesetzbuch nur eine formale Gleichheit vor dem Gesetz herstelle, die die tatsächlichen Ungleichheiten nicht nur nicht berücksichtige, sondern sogar noch verstärke.15 Der Entwurf sei daher, so der »Kathedersozialist« Menger, die Kodifikation einer individualistisch-kapitalistischen Gesellschaft. Oft zitiert, konnte Menger in der Sache doch kaum etwas ausrichten: Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch trat 1900 ohne einen »Tropfen sozialistischen Öls«16 in Kraft. Nachhaltiger war die Kritik an der Begriffsjurisprudenz, die Rudolph von Jhering, vormals einer ihrer Hauptvertreter, an ihr übte: In seinem Buch »Scherz und Ernst in der Jurisprudenz« sparte er nicht mit bösem Spott an seinen Kollegen und schilderte darin, wie er im Traum gestorben und dann in den »juristischen Begriffshimmel« aufgerückt sei, wo ihm ein Engel erklärte, dass hier »nur die reine Wissenschaft« herrsche, ohne dass man sich mit »Problemen für das Leben« befassen müsse, und ihm hierauf allerhand nützliche Apparaturen, wie die »Haarspaltemaschine«, den »Konstruktionsapparat« und die »dialektische Bohrmaschine« vorführte.17 Jhering, der 1868 – 1872 in Wien lehrte, hatte am 11. März 1872, kurz vor seinem Abgang aus der Reichshaupt- und Residenzstadt, in der Wiener Juristischen Gesellschaft einen Vortrag gehalten, in dem er sein eigenes Bild vom Recht plastisch zeichnete – sichtlich von Darwins »Struggle for Life« beeinflusst, wie es schon im Titel seines Vortrages »Der Kampf ums Recht« zum Ausdruck kam. »Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, das Recht eines Volkes, wie das eines Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus.«18 Eine dritte Strömung, welche in Wien viele Anhänger fand, hatte ihren Ursprung im fernen Czernowitz, wo Eugen Ehrlich die Ansicht vertrat, dass die Rechtsentwicklung nicht beim Gesetzgeber, sondern in der Gesellschaft selbst stattfinde. Entsprechend große Bedeutung sei der Rechtssoziologie einzuräumen, weshalb er 1909 in Czernowitz ein »Seminar für lebendes Recht« einrichtete, um die »Rechtstatsachen« zu erforschen.19 Als zwei Jahre später, 1911, Hans Sperl in Wien das »Institut für angewandtes Recht« gründete, schien dieses auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit Ehrlichs Seminar zu haben. Denn auch Sperl präsentierte eine beeindruckende Fülle an solchen »Rechtstatsa-
15 Caroni 1987: Menger, 215. 16 Einen solchen hatte Otto von Gierke, ein anderer prominenter Kritiker des Bürgerlichen Gesetzbuches, gefordert. 17 Jhering 1884: Scherz und Ernst, 247 ff. 18 Jhering 1872: Kampf ums Recht, 9; vgl. auch Hofmeister 1995: Jhering in Wien. 19 Brauneder 2014: Privatrechtsgeschichte, 154 f.
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chen«: Verträge, Grundbuchseinlagen, Testamente und vieles mehr.20 Ehrlich selbst konnte aber dem Unterfangen seines Wiener Kollegen wenig abgewinnen: »Urkunden ins Blaue hinein aus allen möglichen Gebieten zu sammeln, hat kaum einen Sinn«, diese seien vielmehr »auf ihren allgemeinwichtigen, typischen, immer wiederkehrenden Inhalt zu prüfen.«21 Ehrlich ging es bei seinen Sammlungen um mehr als bloß um Anschauungsmaterial für die Studenten: Er wollte »das noch nicht in Satzungen festgelegte Recht, das aber doch das Leben beherrscht«, erforschen.22
Die Reine Rechtslehre Ehrlichs Bemühungen um eine »wirklichkeitsnahe« Betrachtung des Rechts lagen ganz im Trend der Zeit. Welch Erstaunen musste es da auslösen, als 1913 Ehrlichs Buch »Grundlegung der Soziologie des Rechts« in der angesehenen Zeitschrift »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« eine vernichtende Kritik durch einen jungen, weitgehend noch unbekannten Wiener Privatdozenten namens Hans Kelsen erfuhr. Dieser, 1881 in Prag geboren,23 hatte sich 1911 an der Universität Wien mit dem Buch »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre« habilitiert. Die in dem über 700 Seiten starken Buch entwickelten (und an keiner Stelle übersichtlich zusammengefassten) Thesen waren so komplex, dass Kelsen später mutmaßte, selbst von den beiden Gutachtern im Habilitationsverfahren hätte der eine (Adolf Menzel) das Buch nicht verstanden, der andere (Edmund Bernatzik) gar nicht gelesen!24 Nun aber, in seiner Kontroverse mit Ehrlich, wurde die Fachwelt auf den jungen Dozenten hellhörig, und Ehrlich sah sich zu einer Entgegnung genötigt – worauf Kelsen mit einer Replik antwortete, und als Ehrlich sich seinerseits zu einer Replik der Replik entschloss, konnte es sich Kelsen nicht verkneifen, noch ein »Schlusswort« für das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« zu schreiben. Es war dies nur ein kleiner Vorgeschmack auf die kämpferische Art und Weise, mit der Kelsen auch später immer wieder von sich hören machte.25 In der Sache ging es Kelsen vor allem darum, zu zeigen, dass Ehrlichs Konzept auf einer Vermengung von dem, was real existiert, mit dem, was von Rechts wegen sein soll, beruhe. Sein und Sollen aber, so hatte Kelsen schon 1911 erklärt, 20 21 22 23 24 25
Olechowski et al. 2014: Fakultät, 400. Ehrlich 1911b: Institut, 35 und 40. Ehrlich 1911a: Erforschung, 19. Vgl. zu Kelsen den Beitrag von Clemens Jabloner in Band II dieser Reihe. Kelsen 1947: Autobiographie, 43. Vgl. dazu Lüderssen 2003: Rechtssoziologie.
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seien zwei grundverschiedene Kategorien menschlichen Denkens. Zwar entspreche oftmals der »Inhalt eines Sollens auch de[m] Inhalt eines spezifischen Seins«, doch handle es sich dabei um eine »materiell-historisch-psychologische Betrachtung«. Rein »formal-logisch« könne das eine nicht aus dem anderen folgen. Ein Sein könne vielmehr immer nur aus einem anderen Sein abgeleitet werden, ein Sollen immer nur aus einem anderen Sollen.26 Von dieser Grundanschauung ausgehend, ging Kelsen daran, die gesamte Rechtswissenschaft auf eine neue Basis zu stellen. Es galt, die »Jurisprudenz«, die sich »in völlig kritikloser Weise […] mit Psychologie und Biologie, mit Ethik und Theologie vermengt« habe, »von allen ihr fremden Elementen [zu] befreien.«27 Dies war auch und nicht zuletzt gegen die Begriffsjurisprudenz gerichtet, die wesentlich dazu beigetragen hatte, dass Juristen mit Begriffen arbeiteten, die ihrem Wesen nach nur Fiktionen sein konnten und unbemerkt politische Werthaltungen enthielten. Dementsprechend war ein Großteil seiner Habilitationsschrift der Dekonstruktion von so zentralen Begriffen wie »Wille«, »subjektives Recht« oder »Stellvertretung« gewidmet. Aber wie gesagt: Kelsen war ein weitgehend unbekannter Jurist, der seit 1909 an der k.k. Exportakademie (der Vorgängerin der heutigen WU Wien) lehrte; eine akademische Karriere an einer österreichischen Universität, gar an der Universität Wien, schien ihm selbst, nicht zuletzt aufgrund seiner jüdischen Herkunft, so gut wie unerreichbar.28 Dies änderte sich jedoch im Gefolge des Ersten Weltkrieges, als Kelsen – durch Zufall, Geschick oder Glück? – zum Berater des k.u.k. Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner avancierte.29 Nun saß er an den Schaltstellen der Macht und konnte seinem einstigen Lehrer Bernatzik, der ihm noch 1907 gesagt hatte, er solle lieber Bankbeamter werden, als eine akademische Karriere anzustreben, die Bedingungen diktieren, unter denen er an die Universität kommen wolle: Maßgeschneidert für Kelsen wurde eine außerordentliche Professur »für öffentliches Recht, mit besonderer Berücksichtigung des Militärrechts und der Rechtsphilosophie« geschaffen und Kelsen mit Wirkung vom 1. Oktober 1918 auf diese Stelle ernannt. Vier Wochen später wurde die Republik gegründet, und auch der neue Staatskanzler Karl Renner nahm Kelsen in seine Dienste. Als nebenamtlicher Konsulent der Staatskanzlei war es Kelsens Hauptaufgabe, Entwürfe für die österreichische Bundesverfassung auszuarbeiten und auch den gesamten parlamentarischen Prozess der Verfassungsentstehung als parteiunabhängiger Experte zu begleiten. So wurde Kelsen zum »Architekten« des am 26 27 28 29
Kelsen 1911: Hauptprobleme, 9. Kelsen 1934: Reine Rechtslehre, 15. Kelsen 1947: Autobiographie, 54. Dazu und zum Folgenden Olechowski et al. 2014: Fakultät, 477.
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1. Oktober 1920 formell beschlossenen, in seinen Grundzügen bis heute gültigen Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG). Als gerade in dieser Zeit, im März 1919, Bernatzik verstarb, war es für die bislang gegenüber Kelsen so kritische Fakultät selbstverständlich, dass er auf den freigewordenen Lehrstuhl für Verfassungsrecht nachfolgen müsse – was mit 1. Oktober 1919 auch geschah. Kelsen aber hatte schon vor seiner Ernennung damit begonnen, einen Kreis »Gleichgesinnter« um sich zu scharen und führte nun geradezu im Jahresturnus einen seiner Schüler nach dem anderen zur Habilitation: 1919 Adolf J. Merkl, 1920 Fritz Sander, 1921 Alfred Verdroß, 1922 Walter Henrich und, im selben Jahr, Felix Kaufmann. Die »Wiener rechtstheoretische Schule« nannte sich dieser Kreis um Kelsen, der einmal wöchentlich in Kelsens Privatwohnung in der Wickenburggasse zusammenkam, um bei Kaffee und belegten Brötchen über Probleme der Rechtstheorie zu diskutieren.30 Im Verein mit diesen Schülern baute Kelsen seine Rechtslehre immer weiter aus. Am bedeutendsten war dabei die von Merkl entwickelte und von Kelsen in sein Lehrgebäude eingebettete Theorie vom »Stufenbau der Rechtsordnung«, die das Problem der Rechtsentstehung zu erfassen suchte. Als tragisch muss dagegen die Auseinandersetzung zwischen Kelsen und seinem einstigen Meisterschüler Fritz Sander bezeichnet werden, der sich bald nach seiner Habilitation von seinem Lehrer distanzierte und ihm am Ende sogar vorwarf, von ihm abgeschrieben zu haben – ein Vorwurf, von dem sich Kelsen in einem förmlichen (von ihm selbst angeregten) Verfahren vor der Disziplinarkammer reinwaschen konnte. Immerhin wurde Kelsen durch diese Kontroverse gezwungen, sich stärker mit den philosophischen Grundlagen seiner Rechtslehre auseinanderzusetzen, als welche er damals den Neukantianismus vermutete. Dies war auch von erheblichem Einfluss auf das von ihm erst allmählich entwickelte Konzept von der »Grundnorm«, einer obersten, bloß gedachten Norm, die das positive Recht in Geltung setze.31 Je berühmter Kelsen aber auf nationaler und internationaler Ebene wurde, desto größer wurde der fakultätsinterne Widerstand gegen ihn. Vor allem der Völkerrechtler Alexander Hold-Ferneck, der von Kelsen schon 1911 in dessen Habilitationsschrift scharf angegriffen worden war, entwickelte sich zu einem erbitterten Gegner der Reinen Rechtslehre und wusste die Habilitationen zweier Kelsen-Schüler zwar nicht zu verhindern, doch immerhin zu verzögern – die von Fritz Schreier um zwei Jahre (1923 – 1925), die von Josef L. Kunz gar um sieben Jahre (1920 – 1927). 1926 und 1927 verfasste dann Hold-Ferneck gleich zwei direkt gegen Kelsen gerichtete Monographien, denen 1928 noch eine dritte Monographie, verfasst vom Rechtshistoriker Ernst Schwind, folgte.32 Kelsen war 30 Dazu Walter et al. 2008: Kreis um Kelsen. 31 Walter 1992: Grundnorm. 32 Olechowski et al. 2014: Fakultät, 491 f. und 531.
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es zwar ein Leichtes, die gegen seine Lehre erhobenen Einwände zu entkräften, aber die ständigen Anfeindungen verleideten doch immer mehr seinen Verbleib an der Fakultät. Als er schließlich 1930 per Verfassungsgesetz von seiner Stelle als Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofes entfernt wurde, nahm er dies zum Anlass, um Wien den Rücken zu kehren. Er nahm einen Ruf der Universität Köln an, womit jedoch eine regelrechte Odyssee begann: Von den Nationalsozialisten 1933 aus Köln vertrieben und auch in Prag nicht geduldet, führte ihn sein weiterer Weg über Genf nach Harvard und schließlich nach Berkeley, wo er ab 1942 bis zu seinem Tod 1973 blieb.33 Die Wiener Schule löste sich schon bald nach dem Weggang ihres Gründers auf; Adolf J. Merkl, der ihm 1932 auf den Lehrstuhl für Verfassungsrecht folgte (ihn zwar 1938 räumen musste, aber 1950 wiedererlangte34), vermochte es nicht, einen Kreis Gleichgesinnter um sich zu scharen, wie es Kelsen getan hatte. Und Kelsens zweiter bedeutender Schüler, Alfred Verdroß, der 1925 – 1960 ununterbrochen (!) den Lehrstuhl für Völkerrecht innehatte, hatte sich schon weit von zentralen Grundsätzen der Reinen Rechtslehre, insbesondere von deren Wertrelativismus, entfernt und vertrat nunmehr eine »materiale Rechtsphilosophie«.35 An der Fakultät war die Meinung weit verbreitet, dass mit der Emeritierung Merkls und Verdroß’ 1960 die Reine Rechtslehre aussterben würde.36 Wenige Monate zuvor jedoch präsentierte Merkl einen neuen Schüler, dem es bestimmt war, die Reine Rechtslehre zu neuem Leben zu erwecken: Robert Walter, 1931 in Wien geboren. Schon seine Habilitation an der Universität Wien 1960 erfolgte nicht ohne Schwierigkeiten, und als sich Walter nach Professuren an der Universität Graz und an der Hochschule für Welthandel in Wien um einen Lehrstuhl an der Universität Wien bewarb, formierte sich erbitterter Widerstand an der Fakultät, der insbesondere von Günther Winkler ausging. Dieser, 1929 in Baldramsdorf in Kärnten geboren, hatte sich 1955 in Innsbruck habilitiert und war 1959 Professor für Verfassungsrecht an der Universität Wien geworden. 1972/73 bekleidete Winkler das Amt des Rektors. In diese Zeit fielen insbesondere die Diskussionen rund um das neue Universitäts-Organisationsgesetz (UOG), das Assistent/inn/en und Student/inn/en ein Mitentscheidungsrecht bei praktisch allen universitätspolitischen Entscheidungen bis hin zu Habilita33 Kelsen 1947: Autobiographie, 77 ff. Trotz dieses persönlichen Schicksals wurde von Kelsens Gegnern nach 1945 die – aus heutiger Sicht geradezu absurd erscheinende – Behauptung aufgestellt, die Reine Rechtslehre hätte die NS-Herrschaft begünstigt. Hier wurde Kelsens Forderung nach einer methodischen Trennung von Ethik und Jurisprudenz zu einer Forderung zur Verleugnung jeglicher persönlicher Moral umgedeutet! Vgl. zu dieser Problematik auch Jabloner 2006: Rechtsstaat, 304 sowie den Beitrag von Staudigl-Ciechowicz in diesem Band. 34 Siehe zur NS-Zeit den Beitrag von Kamila Staudigl-Cieczowicz im selben Band. 35 Olechowski et al. 2014: Fakultät, 536. 36 Walter 2003: Selbstdarstellung, 189.
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tionen und Berufungen geben sollte. Winkler war ein entschiedener Gegner dieser Reform und fand hier ausgerechnet durch Walter Unterstützung; dies dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass er seinen anfänglichen Widerstand gegen Walters Berufung wenigstens für kurze Zeit aufgab und letzterer im Jahre 1975 Professor des Verfassungsrechts an der Universität Wien wurde.37 Das neue UOG konnten Walter und Winkler allerdings auch gemeinsam nicht verhindern, es trat im selben Jahr, 1975, in Kraft, und bald flammte auch die wissenschaftliche Kontroverse zwischen Walter und Winkler erneut und noch heftiger auf. Dabei war Winkler anfangs ein begeisterter Anhänger der Reinen Rechtslehre gewesen, hatte sich im Laufe der Jahre aber immer weiter von ihr entfernt.38 Es waren vor allem Kelsens Konstruktion des Rechtssatzes sowie auch die Eliminierung des Zweckgedankens aus der normativen Betrachtung des Rechts, die bei ihm Widerspruch hervorriefen und ihn so zu einem Widerpart von Walter werden ließ. Dieser wiederum bemühte sich, die Kelsensche Lehre so »orthodox« wie möglich zu halten, auch wenn er sie in entscheidenden Punkten (systemimmanent) weiter entwickelte, so insbesondere durch eine eigene Normenlehre und durch seine Erkenntnis, dass die reale Wirksamkeit des Rechts keine Bedingung für seine Geltung sei, sondern es bloß »zweckmäßig« sei, dass sich ein Jurist mit effektiven Normen beschäftige. 1971, noch zu Lebzeiten Kelsens, initiierte Walter die Gründung eines »Hans Kelsen-Instituts« durch die österreichische Bundesregierung, das Walter bis zu seinem Tod 2010 leitete und das das Erbe Kelsens fortführt.39 Vor allem aber verfasste Walter 1972 ein »System« des Bundesverfassungsrechts, welches die rechtstheoretischen Erkenntnisse der Reinen Rechtslehre konsequent für eine dogmatische Behandlung der österreichischen Bundesverfassung auswertete. Das daraus hervorgegangene Lehrbuch, für das Heinz Mayer und später auch Gabriele KucskoStadlmayer als Mitautor bzw. Mitautorin hinzugezogen wurden, erlebte bis 2007 insgesamt zehn Auflagen. Parallel dazu gelang es Walter, eine zweite Wiener rechtstheoretische Schule zu gründen; schon an der Hochschule für Welthandel hatte er Hans Ren¦ Laurer (der ihm dort 1975 als Professor nachfolgte) und Heinz Mayer (1979 – 2014 Professor an der Univ. Wien) habilitiert. An der Universität geleitete Walter dann Gabriele Kucsko-Stadlmayer (seit 2006 Professorin an der Univ. Wien), Clemens Jabloner (1993 – 2013 Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, seit 1993 Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts), Rudolf Thienel (seit 2014 Präsident des Verwaltungsgerichtshofes) und Dieter Kolonovits (seit 2014 Präsident des Wiener Landesverwaltungsgerichts) zur Habilitation. Demgegenüber hat Gün37 Öhlinger 2013: Interview. 38 Winkler 1990: Rechtstheorie, XIV f. 39 Walter 2003: Selbstdarstellung, 193 f.
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ther Winkler zwar ebenfalls eine große Zahl an Habilitationen gefördert (darunter Bernhard Raschauer und Christian Kopetzki, beide seit 1982 bzw. 2002 Professoren an der Univ. Wien), jedoch nach eigenem Bekunden40 niemals eine Schule begründet; bemerkenswerterweise ist einer seiner einstigen Habilitanden, Ewald Wiederin (seit 2009 Professor an der Univ. Wien), heute einer der besten Kenner der Reinen Rechtslehre in Österreich.
Die Wertungsjurisprudenz Der gewichtigste Einwand, der gegen die Reine Rechtslehre erhoben wurde, war jener ihrer angeblichen »Unbrauchbarkeit« für die Praxis. Dies resultierte v. a. aus Kelsens Ansicht, es sei unmöglich, durch Interpretation eines Gesetzes zu einem »richtigen« Ergebnis zu gelangen, vielmehr könne der Rechtswissenschafter nur einen Rahmen »möglicher« Ergebnisse präsentieren, aus denen dann der Richter – nach außerrechtlichen Kriterien – eine zweckmäßige Lösung zu wählen habe.41 Das bedeute aber, dass sich die Reine Rechtslehre ihre strenge Wissenschaftlichkeit geradezu »erkaufe«, indem sie die Kernaufgabe der dogmatisch arbeitenden Rechtswissenschaft, die Suche nach dem richtigen Recht und damit die Erhöhung der Rechtssicherheit der Rechtsgemeinschaft, aufgebe.42 Aufgabe der Rechtsdogmatik müsse es sein, den rechtssetzenden Organen zuzuarbeiten, indem sie »die für eine bestimmte Lösung aus der Sicht der bestehenden Normen sprechenden Argumente aufbereite«, so Theo Öhlinger, 1974 – 2007 Professor für Verfassungsrecht in Wien. Ob diese »richtig« oder »falsch« seien, lasse sich mangels empirischer Überprüfbarkeit ohnehin nicht beweisen; »Maßstab der ›Richtigkeit‹ rechtsdogmatischer ›Erkenntnisse‹« könne in diesem Falle nur »die Akzeptanz durch die Rechtsgemeinschaft« sein.43 Kam also auch aus Kelsens eigenem Fachbereich, dem Verfassungsrecht, z. T. vehemente Kritik, so waren es doch vor allem das Zivil- und das Strafrecht, wo sich die Reine Rechtslehre niemals hatte durchsetzen können; die Entwicklung dieser Fächer im 20. Jahrhundert nahm vielmehr ihren Ausgang von der schon erwähnten Zwecklehre Rudolf von Jherings, aus der sich über mehrere Zwischenschritte zunächst die Interessen- und schließlich die Wertungsjurisprudenz entwickelt hatte.44 Diese ist – im Gegensatz zur Reinen Rechtslehre – von 40 41 42 43 44
Winkler 2013: Interview. Kelsen 1934: Reine Rechtslehre, 104 ff. Bydlinski 1988: Fundamentale Rechtsgrundsätze, 11. Öhlinger 2007: Verfassungsrecht, 34 f. Die Wertungsjurisprudenz ist eine konsequente Weiterentwicklung der Interessenjurisprudenz, die sich insbesondere einer verfeinerten Terminologie bedient; vgl. dazu Bydlinski 1982: Methodenlehre, 123.
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der Grundüberzeugung getragen, dass oberste Werte, wie insbesondere die Gerechtigkeit, mit wissenschaftlichen Methoden erkannt werden können, da es sich um »institutionelle Tatsachen« handle.45 Die Wertungsjurisprudenz nimmt aber ebenso wie die Reine Rechtslehre für sich in Anspruch, eine Wissenschaft und nicht bloß eine juristische »Kunstlehre« zu sein, zumal sie mit rationalen, nachvollziehbaren Methoden arbeite.46 In Wien ist die Wertungsjurisprudenz v. a. mit Franz Bydlinski verbunden. 1931 in Rybnik-Paruszowiec in Polen geboren und ab seinem zehnten Lebensjahr in der Steiermark lebend, hatte er in Graz Jus studiert und sich 1957 mit zwei Schriften zum »Arbeitskampf« bei Walter Wilburg habilitiert. Nach Professuren in Graz und Bonn wurde er 1967 Professor des Bürgerlichen Rechts an der Universität Wien (die sich schon 1960, allerdings erfolglos, um ihn bemüht hatte).47 Bydlinski stellte sein rechtstheoretisches Konzept in drei aufeinander aufbauenden Monographien dar : Der »Juristische[n] Methodenlehre« (1982), den »Fundamentale[n] Rechtsgrundsätze[n]« (1988) und zuletzt seinem »System und Prinzipien des Privatrechts« (1996). Dabei machte er die von seinem Lehrer Wilburg zunächst für das Schadenersatzrecht entwickelte Theorie vom »beweglichen System« zu einem allgemeinen methodischen Prinzip: Allgemeine Rechtsgrundsätze wie etwa die Privatautonomie, das Schuldprinzip oder die Eigentumsfreiheit – welche im induktiven Wege aus dem gesamten Rechtsmaterial zu ermitteln seien – können nicht strikt wie eine konkrete Norm befolgt werden, sondern seien als »Optimierungsgebote« zu verstehen, die nur abgestuft und unter Berücksichtigung auch der anderen Rechtsprinzipien befolgt werden können.48 Die Lehre vom »beweglichen System« hat viel Beachtung erfahren und wurde von Karl Korinek (1995 – 2003 Professor für Verfassungsrecht an der Univ. Wien; ab 1978 Mitglied, 2003 – 2008 Präsident des Verfassungsgerichtshofes) schließlich auch in das Verfassungsrecht übernommen,49 was v. a. die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, der bis ca. 1980 noch weitgehend den Maximen der Reinen Rechtslehre gefolgt war, prägte. Zugleich gelang es Bydlinski, an der Wiener Fakultät eine eigene Schule aufzubauen, indem er eine Reihe von Habilitationen erfolgreich betreute. Zu nennen sind Helmut Koziol (1970 – 2000 Professor an der Univ. Wien), Peter Rummel (1970 – 2009 Professor an der Univ. Linz), Gunter Ertl (1990 – 2005 Senatspräsident am Oberlandesgericht Wien), Georg Wilhelm (1981 – 2007 45 Bydlinski 1988: Rechtsgrundsätze, 11 f. 46 Bydlinski 1982: Methodenlehre, 76. Offen bleibt freilich, woher die Wertungsjurisprudenz ihre Gewissheit nimmt, was »gut« oder »gerecht« ist, zumal noch nie in der Geschichte der Menschheit Konsens über diese Fragen bestand. 47 Bydlinski 2003: Selbstdarstellung, 13 und 21. 48 Bydlinski 1982: Methodenlehre, 529 ff. 49 Korinek 1986: Das Bewegliche System.
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Professor an der Univ. Wien) und Eva Palten (seit 1997 ao. Professorin an der Univ. Wien). Koziol und Rummel haben selbst wieder mehrere Habilitationen betreut, darunter 1986 die von Franz Bydlinskis Sohn Peter.50 Koziol, 1963 in Graz geboren, war schon in Bonn Bydlinskis Assistent gewesen und gemeinsam mit ihm nach Wien gekommen, wo er sich 1967 für Zivilrecht habilitierte und danach einen Ruf an die Universität Linz annahm, bevor er 1969 an die Universität Wien zurück kam und hier bis 2000 lehrte. Gemeinsam mit Rudolf Welser, der sich 1970 für Zivilrecht habilitiert hatte und 1971 – 2007 Professor an der Universität Wien war, verfasste er 1970/71 einen zweibändigen »Grundriß des bürgerlichen Rechts«, der ursprünglich für Sozialund Wirtschaftswissenschafter gedacht war, jedoch zunehmend auch bei Jusstudent/inn/en und schließlich auch bei Richter/inne/n beliebt wurde, zum führenden Lehrbuch des bürgerlichen Rechts aufstieg und bis 2007 insgesamt dreizehn Auflagen erlebte. Und so wie der oben genannte – auf der »Reinen Rechtslehre« basierende – »Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts« von Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer prägte der – auf der Wertungsjurisprudenz basierende – »Grundriß des bürgerlichen Rechts« von Koziol/Welser die österreichische Rechtswissenschaft für Jahrzehnte.
Ausblick Mit 30. September 1999 emeritierten Franz Bydlinski und Robert Walter. Der Zufall wollte es, dass die beiden Wissenschafter – die trotz aller methodologischen Gegensätze persönlich eng befreundet waren51 – nur wenige Wochen hintereinander verstarben, Walter am 25. Dezember 2010, Bydlinski am 7. Februar 2011. Obwohl beide methodisch gefestigte Schulen hinterließen, ist nur bei einer Minderheit der heute an der Fakultät lehrenden Professor/inn/en ein ähnliches Bedürfnis nach rechtstheoretischen Fragestellungen wie bei den beiden »Altmeistern« zu bemerken. Erst jüngste Entwicklungen an der Fakultät lassen wieder auf ein vermehrtes Interesse an den Grundlagen der Rechtswissenschaften hoffen. Und dies ist notwendig: Denn dort, wo nicht »mit einer tüchtigen Theorie an das Gesetzbuch« herangetreten, sondern bloß der »Gesetzesparagraph […] nach allen Seiten und Richtungen hin gewendet und paraphrasirt« werde, verkomme die »Rechtswissenschaft zur bloßen Gesetzeskenntnis«, beklagte schon 1855 Joseph Unger.52 Und mehr als ein Jahrhundert später ortete Bydlinski allüberall die »Tendenz zur Beliebigkeit in der nur mehr 50 Koziol 2013: Interview. 51 Siehe insbesondere Walter 2002: Rechtspositivismus, 457. 52 Unger 1855: Entwicklungsgang, 636 f.
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sog ›Rechtsanwendung‹«, die sich mangels theoretischer Grundlegung der rechtswissenschaftlichen Forschung breitmache.53 Insofern hat das Bemühen Kelsens, die »Jurisprudenz, die – offen oder versteckt – in rechtspolitischen Raisonnement fast völlig aufging, auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben«,54 nichts von seiner Aktualität verloren – man mag nun der Reinen Rechtslehre folgen wollen oder nicht.
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Zur Geschichte der Astronomie an der Universität Wien
Die Anfänge der Astronomie an der Universität Wien reichen bis in deren Gründungszeit zurück. Einer der ersten Gelehrten, die an der Wiener Universität mit Arbeiten zu astronomischen Themen hervortraten, war – neben dem Gründungsrektor Albert von Rickmersdorf (1316 – 1390) – Heinrich von Langenstein (geb. um 1340 in Hessen). Im Studienjahr 1393/94 war Langenstein Rektor der noch jungen Hochschule; ein Jahrzehnt zuvor war er nach Wien gekommen, um die Theologische Fakultät aufzubauen, deren Dekan er 1388/89 gewesen war. Neben seinen zahlreichen theologischen Schriften, zu denen auch ein umfangreicher Kommentar zu den ersten drei Kapiteln der Genesis und ein Werk »Von der Unterscheidung der Geister«1 zählt, hatte er als Frühschrift (1368/ 69) eine »Quaestio de cometa« und 1374 einen »Tractatus contra astrologicos coniunctionistas de eventibus futurorum« verfasst.2 Dies geschah jedoch zu einer Zeit, die noch fast ein Jahrhundert vor der Einführung des Buchdrucks lag. Wichtige Werke Langensteins wurden bislang weder gedruckt noch genauer untersucht. Ein Verdienst Albert von Rickmersdorfs und Heinrich von Langensteins war, den Grundstein des hohen Niveaus mathematisch-naturwissenschaftlichen Arbeitens an der Universität Wien gelegt zu haben.3 Gerade noch in die Zeit vor den ersten Wiegendrucken fällt das Wirken Johannes von Gmundens, der als bedeutendster Astronom seiner Zeit galt.4 Er wurde 1406 in Wien Magister der artes liberales. Zu seinen Errungenschaften zählen geographische und astronomische Koordinatenbestimmungen; er war einer der ersten praktischen astronomischen Beobachter des ausgehenden Mittelalters.5 Etwa 1426 – 1438 fungierte er als Vizekanzler der Universität und hatte als Verantwortlicher bei Promotionen mitzuwirken. Johannes von * 1 2 3 4 5
Institut für Astrophysik der Universität Wien. Hohmann 1977: Unterscheidung der Geister, 19 ff. Eine Edition des lateinischen Texts findet sich bei Pruckner 1933: Studien. Cantor 1892: Vorlesungen, 137. Chlench 2007: Johannes von Gmunden, 25. Hamann 1981: Astronomie, 670.
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Gmunden hielt Vorlesungen über die Physik, Astronomie und Meteorologie des Aristoteles,6 publizierte Planetentafeln, Sinustafeln, Bau- und Gebrauchsanleitungen für astronomische Instrumente sowie (ab 1415) Kalender.7 Er starb im Jahre 1442. Es sind von ihm insgesamt 286 Werke als Handschriften überliefert. Nur vier Jahre später, 1446, kam Georg von Peuerbach an die Universität Wien. 1453 wurde er dort Magister an der Artistenfakultät. Er unterhielt Beziehungen zu Nicolaus Cusanus, Kaiser Friedrich III., König Ladislaus von Ungarn, Kardinal Bessarion und Enea Silvio Piccolomini. Sein um 1454 verfasstes und zuerst 1473 postum erschienenes und in 56 Auflagen immer wieder neu gedrucktes Hauptwerk »Theoricae novae planetarum« ist ein Versuch, die Ptolemäische Planetentheorie möglichst übersichtlich darzustellen und auch in einigen Details zu verbessern. Neu in der Wissenschaftsgeschichte war Peuerbachs Auffassung der Planetensphären (orbes) als »realer« Objekte und nicht nur geometrischer Hilfskonstruktionen.8 Peuerbach berechnete Finsternis-Tafeln und führte auch eigene astronomische Beobachtungen durch. Weiters leistete er auch in der reinen Mathematik Bedeutendes – u. a. durch die Berechnung genauer Sinustafeln. Diese wandte er auch zu astronomischen und geodätischen Zwecken an.9 Vorlesungen hielt Peuerbach jedoch vornehmlich über lateinische Klassiker. Der vielseitige Gelehrte starb 1461. Glücklicherweise hatte Georg von Peuerbach einen hochbegabten Schüler gefunden: Johannes Regiomontanus (1436 – 1476). Dieser war 1450 von der Universität Leipzig als vierzehnjähriger Student nach Wien gekommen. Er führte das Werk seines Lehrers weiter und nutzte ab 1473 das neue Medium des Buchdrucks, um Klassikern der Naturwissenschaft zu größerer Verbreitung zu verhelfen. Nicht nur für die humanistischen Bestrebungen an der Universität Wien, sondern auch für die Astronomiegeschichte war es bedeutsam, dass Peuerbach und Regiomontanus auf die antike Literatur und auf Urtexte der griechischen Wissenschaft wie jene von Archimedes, Apollonios oder Ptolemäus zurückgingen.10 In weiterer Folge nahm auch Kopernikus, auf den die Wiener Schule über seinen Krakauer Lehrer Albert de Brudzewo (1445 – 1497) einwirkte, im ersten Buch seines Hauptwerkes »De revolutionibus orbium coelestium« in hohem Maße Anleihen bei griechischen Philosophen und Naturforschern. Nur kurz kann hier der Humanist, Mediziner und Astronom Georg Tannstetter (1482 – 1535) erwähnt werden. Tannstetter war im Studienjahr 1512/13 Rektor der Universität Wien. Bemerkenswert ist in unserem Kontext seine 1514
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Chlench 2007: Johannes von Gmunden, 17. Chlench 2007: Johannes von Gmunden, 19 ff. Boner 2011: Change and Continuity, 12 – 16. Cantor 1892: Vorlesungen, 166 – 169. Hamann 1981: Astronomie, 674.
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gedruckte Zusammenstellung »Viri mathematici«.11 Die oben genannten Gelehrten von Langenstein bis Regiomontanus werden von ihm darin ebenso behandelt wie 17 weitere mit der Wiener Universität verbundene Mathematiker und Astronomen, zu denen er am Ende auch sich selbst zählt. Noch lange nach Tannstetter griff man immer wieder auf dieses Stück Wissenschaftsgeschichte en miniature zurück.12 Die Astronomiegeschichte des 17. Jahrhunderts ist eng mit den Namen Kepler und Galilei verbunden. Kepler wirkte zwar in verschiedenen Städten des Habsburgerreiches, doch die Universität Wien zählte nicht zu seinen Wirkungsstätten. Ein Briefpartner Keplers, Paul Guldin, arbeitete in den 1620er und 1630er Jahren an der Universität Wien; er lieferte indes eher Beiträge zur Mathematik als zur Astronomie. Erst im 18. Jahrhundert konnte sich das Fach Astronomie in den habsburgischen Ländern durch die Errichtung von Sternwarten und Lehrkanzeln institutionell stärker etablieren. So wurde 1722 in Prag eine Jesuitensternwarte gegründet; für Wien fallen die entscheidenden Gründungsereignisse in die 1730er und 1750er Jahre. 1730 ließ der aus Udine stammende kaiserliche Rat und Hofmathematiker Johann Jakob de Marinoni an der heutigen Adresse Mölkerbastei 8 – im Dachgeschoß seines Wohnhauses – eine Sternwarte errichten. Ihre Einrichtung hat Marinoni in einem eigens dazu verfassten Werk ausführlich beschrieben.13 Dieser Sternwartenbau gab Anlass dazu, dass schon drei Jahre später, 1733, am Wiener Jesuitenkolleg ebenfalls eine große, und zwar turmförmige, Sternwarte errichtet wurde.14 Als Ort für den mächtigen Turmbau wurde das Haus an der Ecke Bäckerstraße/Postgasse ausgewählt. Im Herbst 1755 wurde schließlich unter der Herrschaft Maria Theresias die erste staatliche Wiener Universitätssternwarte gegründet. Ihre offizielle Bezeichnung lautete »Observatorium Universitatis Vindobonensis Caesareo-regium«. Räumlich wurde dieses Observatorium unweit der erwähnten Jesuitensternwarte errichtet – als Dachaufbau auf dem neuen Hauptgebäude der Universität, jetzt Hauptsitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Johann Jakob de Marinoni war im Januar 1755 verstorben und hatte das Instrumentarium seiner Sternwarte testamentarisch dem Staat vermacht, wodurch der Grundstein für die Ausstattung der neuen staatlichen Sternwarte gelegt werden konnte. Die jetzt ins Leben gerufene Institution sollte sich nicht zuletzt 11 »Viri mathematici« erschien als nur sieben Seiten umfassendes Einleitungskapitel zu Peuerbachs »Tabulae eclypsium« und Regiomontans »Tabula primi mobilis«. 12 Cantor nennt in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik die Zusammenstellung Tannstetters »die Hauptquelle dessen […], was man von der dortigen [= der Wiener] mathematischen Schule weiss«. Cantor 1892: Vorlesungen, 361. 13 Marinoni 1745: De Astronomica Specula Domestica. 14 Hamel et al. 2010: Die Geschichte, 169 ff.
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darum als bedeutsam erweisen, weil der Jesuitenorden im Jahr 1773 aufgehoben werden sollte, was auch die Aufhebung der Wiener Jesuitensternwarte nach sich zog. Nur der Status als (vom Staat weiter zu finanzierendes) »Observatorium Caesareo-regium« sicherte der Wiener Universitätssternwarte den Fortbestand. Zum ersten Direktor jenes Observatoriums wurde der Jesuit Maximilian Hell (1720 – 1792) ernannt. Hell wurde aus Cluj im heutigen Rumänien – wo er gerade mit dem Aufbau einer Sternwarte beschäftigt gewesen war15 – nach Wien berufen und wurde der erste eigentliche Lehrstuhlinhaber für Astronomie an dieser Hochschule. Sein Titel war von diesem Zeitpunkt an »kaiserlich-königlicher Astronom«. Durch seine Beobachtungen von Venusdurchgängen vor der Sonne (1761 in Wien, 1769 in Vardø) erlangte Hell internationale Bekanntheit, zumal er damit zur Bestimmung des Abstands zwischen Erde und Sonne beitrug.16 Ein weiteres Verdienst Hells bestand in der Gründung und Herausgabe der »Ephemerides astronomicae ad meridianum Vindobonensem«. Der erste Band dieses bis 1806 jährlich erschienenen Werkes enthielt die Mond- und Planetenpositionen für das Jahr 1757. Neben ihrem Charakter als Ephemeriden im engeren Sinne bot dieses Jahrbuch auch Platz für zahlreiche, v. a. astronomische Beobachtungsberichte und Abhandlungen, zum Beispiel zu den schon erwähnten Venusdurchgängen von 1761 und 1769. Es handelte sich also auch um eine Frühform einer naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift.17 Nach dem Tode Hells im Jahre 1792 wurden die Wiener Ephemeriden von Franciscus de Paula Triesnecker und seinem Adjunkten Johann Tobias Bürg weitergeführt. 1806 erschien, wie erwähnt, der letzte Band. Triesnecker, der ab 1782 Hells Assistent gewesen war, wurde auch Nachfolger Hells als Professor für Astronomie und Leiter der Wiener Universitätssternwarte.18 Als Triesnecker im Januar 1817 starb, wurde Bürg sein Nachfolger. Der 1766 geborene Bürg leitete die Universitätssternwarte Wien interimistisch bis 1818. Bürg erwarb sich Verdienste um eine verbesserte Berechnung der Mondbewegung und erhielt dafür einen Preis des Pariser Institut National des Sciences et des Arts.19 Ein Teil des umfangreichen Briefwechsels Bürgs mit ausländischen Gelehrten hat sich im Archiv des Instituts für Astrophysik erhalten. Bürg verfasste auch eine Reihe von Gutachten zu einem damals schon geplanten Neubau der Universitätssternwarte Wien. Besonders als Johann Joseph 15 Posch et al. 2013: Observatories, 121 – 130. Vgl. auch Hells Selbstzeugnis in seinem Werk »Anleitung zum nutzlichen Gebrauch der künstlichen Stahl-Magneten« (Wien 1762) 13: »da ich im Herbstmonat des 1755sten Jahrs ganz unverhoft [sic] und unverzüglich zu meinem gegenwärtigen Amt von Clausenburg anher beruffen wurde …«. 16 Aspaas 2012: Maximilianus Hell, 66 ff. 17 Schörg 2009: Die Präsenz der Wiener Universitätssternwarte. 18 Kastner-Masilko 2008: Zur Biographie über Franciscus de Paula Triesnecker, 31 – 33. 19 Artikel »Bürg, Johann Tobias«, in: ÖBL, Bd. 1, 125 f.
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von Littrow (1781 – 1840) im Jahre 1819 aus dem heutigen Budapest auf die Professur für Astronomie nach Wien berufen wurde,20 bemühte sich dieser energische Forscher darum, eine Verlegung und ausstattungsmäßige Aufwertung des kaiserlich-königlichen Observatoriums zu erreichen. Eine Verbesserung der instrumentellen Ausstattung konnte Littrow in den 1820er Jahren zwar erwirken, doch der Standort der Sternwarte sollte noch etwa 60 Jahre lang derselbe, nahe am Zentrum der Stadt, bleiben. Littrow wurde breiten Bevölkerungskreisen vornehmlich durch sein populäres Buch »Die Wunder des Himmels« bekannt. Die erste Auflage erschien in drei Bänden 1834 – 1836. Schon zu Littrows Lebzeiten wurden etwa 14.000 Exemplare dieses Werkes gedruckt.21 Danach erarbeitete Littrow eine Übersetzung der »Geschichte der inductiven Wissenschaften« von William Whewell; sie erschien ab 1840.22 Doch Littrows wissenschaftshistorische Ambitionen gingen noch viel weiter : er beabsichtigte, eine eigene »Geschichte der Astronomie« zu veröffentlichen. Diese hat sich als Manuskript bis heute im Archiv des Instituts für Astrophysik erhalten. Ursprünglich sollte dieses Manuskript der dritte Teil der »Wunder des Himmels« werden. Nach dem Tode J. J. von Littrows am 30. November 1840 wurde sein Sohn Carl Ludwig von Littrow (1811 – 1877) sein Lehrstuhl-Nachfolger und zugleich Leiter der Wiener Universitätssternwarte. Neben seiner Tätigkeit als Astronom und neben wissenschaftshistorischen Forschungen widmete sich der jüngere Littrow auch geodätischen Arbeiten. Im Studienjahr 1870/71 bekleidete er das Amt des Rektors. Der im 22. Lebensjahr verstorbene Sohn Carl Ludwigs, Otto von Littrow (1843 – 1864), trat noch als Student durch die Entwicklung eines neuen Spektrometers mit Autokollimationsanordnung hervor.23 Unter dem Namen »Littrow-Spektrometer« ist dieses Gerät noch heute ein Begriff. An dieser Stelle ist eine Anmerkung zu neuen Entwicklungen in der Astronomie ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erforderlich. Bis zu diesem Zeitpunkt war die astronomische Forschung vorwiegend auf Vermessung und Berechnung der Positionen und Bewegungen der Himmelskörper ausgerichtet. Die physische Beschaffenheit und Zusammensetzung der kosmischen Körper war dagegen nur in sehr geringem Maße und meist auf spekulative Weise in den Fokus der Betrachtung gelangt. Dies begann sich nun aber zu ändern. Ein neuer Teilbereich der Astronomie entwickelte sich: die Astrophysik. Dieser Begriff wurde von Karl Friedrich Zöllner (1834 – 1882) geprägt. Nach Zöllner hat die Astrophysik gerade die Aufgabe, über die Kinematik der Gestirne hinauszuge20 1819 und 1834 vertrat J. J. v. Littrow überdies den Lehrstuhl für höhere Mathematik. Hamel et al.: Die Geschichte, 219. 21 Artikel »Littrow, Joseph Johann von«, in: ÖBL, Bd. 5, 251 f. 22 Whewell 1840 f.: Geschichte der inductiven Wissenschaften. 23 Kerschbaum/Müller 2009: Otto von Littrow, 574 ff.
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hen und »alle übrigen Unterschiede und Veränderungen der Himmelskörper« zu untersuchen. Sie beschäftigt sich also mit allen übrigen – nicht allein durch das Gravitieren von »Massepunkten« bedingten – Eigenschaften der kosmischen Materie, z. B. mit deren Zusammensetzung, dem inneren Aufbau, der Entstehung und Entwicklung der Sterne. Aber wie können wir überhaupt über Zusammensetzung und gar innere Struktur der Sterne Aufschluss erhalten? Eine dafür wesentliche Errungenschaft war die schon erwähnte Spektralanalyse, worüber Gustav Kirchhoff (1824 – 1887) und Robert Bunsen (1811 – 1899) im Jahre 1860 eine bahnbrechende Arbeit veröffentlichten.24 Der Spektralanalyse verdankt auch die Astrophysik des späten 19. und des 20. Jahrhunderts enorm viel. Weder die Zusammensetzung der Sterne noch die Expansion des Universums wären ohne sie der empirischen Erforschung zugänglich geworden. An der Universität Wien allerdings spielte Astrophysik in diesem Sinne bis zum Anfang des 20. Jahrhundert keine herausragende Rolle. Die »klassische Astronomie«, deren Themen oben umgrenzt wurden, blieb an der Universität Wien der dominierende Forschungsbereich. Dies zeigt sich u. a. daran, dass spektroskopische Instrumente in der Ausstattung der unten vorzustellenden neuen Wiener Universitätssternwarte anfangs nicht oder nur in geringem Maße vorhanden waren. Auch die Arbeitsschwerpunkte des über die Grenzen des Landes hinaus bekannt gewordenen Theodor von Oppolzer (1841 – 1886) fügen sich in dieses Bild. Oppolzer, der in der Astronomie weitgehend Autodidakt war, hatte 1865 in Wien ein Studium der Medizin abgeschlossen. Seine zahlreichen Beiträge zur Astronomie betrafen vor allem die Bahnbestimmung von Planeten, Planetoiden und Kometen25 sowie die Berechnung von Finsternissen – also insgesamt Themen der Himmelsmechanik. 1870 wurde Oppolzer außerordentlicher Professor für Astronomie und Höhere Geodäsie an der Universität Wien26, fünf Jahre später Ordinarius.27 Ein Jahr nach Oppolzers Tod 1887 erschien sein »Canon der Finsternisse«, welcher seinen Namen berühmt machte.28 Das Werk enthält umfangreiche Daten sowie 160 geographische Karten zu Finsternissen im Zeitraum 1208 v. Chr. (= –1207 astronomischer Zeitrechnung) bis ins Jahr 2163 n. Chr. Noch 1962 wurde dieser Klassiker in New York nachgedruckt29, wobei die
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Neufeldt 2003: Chronologie, 56. Oppolzer 1870/1880: Lehrbuch. Schnell 2008: Wiener Astronomen, 117 – 123. Hamel et al. 2010: Die Geschichte, 238. Oppolzer 1887: Canon der Finsternisse. Über das Thema »historische Finsternisse« hielt Oppolzer auch einen öffentlichen Vortrag im Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien am 12. Dezember 1883. 29 Oppolzer 1962: Canon.
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auf Deutsch verfasste 70-seitige Einleitung zusätzlich ins Englische übertragen wurde.30 Zu jener Zeit, im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts, erfolgte schließlich die lange geplante Verlegung der Wiener Universitätssternwarte in ein eigens für sie errichtetes Gebäude außerhalb der damaligen Grenzen der Stadt. Nach langer Suche nach einem geeigneten Bauplatz31 wurde die neue Universitätssternwarte ab 1874 auf dem südlichsten Teil der Türkenschanze in Währing – damals war dies noch ein Vorort von Wien – erbaut. Am 5. Juni 1883 erfolgte die feierliche Eröffnung in Gegenwart des Kaisers Franz Joseph I. Als verantwortlicher Architekt firmierte der erst 27-jährige Ferdinand Fellner, der einen im Grundriss rund 100 m langen und max. 70 m breiten, repräsentativen Bau im Stil der Neorenaissance, gekrönt von vier Kuppeln, realisierte.32 Der Standort auf der Türkenschanze war zur damaligen Zeit noch gut für astronomische Beobachtungen geeignet, aber schon 1899 entstanden angesichts der stark angewachsenen Stadt und der massiven Zunahme der Straßenbeleuchtung erste Pläne für eine Außenstation auf dem Schneeberg, dem höchsten Berg Niederösterreichs. Zur Ausstattung des neuen Gebäudes gehörten hervorragende, eigens angefertigte Linsenteleskope mit bis zu 10,5 m Brennweite und bis zu 68 cm Durchmesser. So war der »Große Refraktor« der neuen Wiener Universitätssternwarte kurze Zeit das weltgrößte Linsenteleskop. Weiters wurde ein sehr hochwertiges 30 cm-Linsenteleskop mit 5 m Brennweite angeschafft und in der Westkuppel aufgestellt.33 Auch der Großteil des Inventars der alten Universitätssternwarte sowie ein reicher Bestand an astronomischer Fachliteratur übersiedelte 1880 – 1883 an den neuen Standort. Zum produktivsten Nutzer der beiden großen Linsenteleskope der Wiener Universitätssternwarte wurde Johann Palisa (1848 – 1925). Palisa war in Opava (Troppau) im heutigen Tschechien zur Welt gekommen und hatte ab 1866 in Wien studiert. Seit 1872 hatte er die Marine-Sternwarte in Pula geleitet. 1880 trat Palisa eine Stelle als Adjunkt an der Wiener Sternwarte an. Es gelang ihm, bis 1892 nicht weniger als 80 Planetoiden zu entdecken34 – kein anderer Astronom fand so viele Kleinkörper des Sonnensystems durch visuelle Beobachtung. In die Astronomiegeschichte ging Palisas Name später auch durch die »Palisa-WolfKarten« ein. Sie sind eine Pionierleistung auf dem Gebiet der photographischen 30 Artikel »Oppolzer, Theodor von«, in: ÖBL, Bd. 7, 239 f. 31 Selbst die Anhöhe nahe dem heutigen Wiener Hauptbahnhof und der höchste Punkt des heutigen Währinger Gürtels waren für den Neubau der Wiener Universitätssternwarte in Betracht gezogen worden. Vgl. Hamel et al. 2010: Die Geschichte, 216 und 239. 32 Zur Baugeschichte und kunsthistorischen Beurteilung vgl. Vyoral-Tschapka 1996: Universitätssternwarte, 94 – 107. 33 Hamel et al. 2010: Die Geschichte, 138 und 242. 34 Ebd., 238.
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Kartierung des Himmels und Resultat einer Zusammenarbeit mit dem Heidelberger Astronomen Max Wolf (1863 – 1932). Dieser frühe photographische Himmelsatlas konnte jedoch – bedingt durch den 1. Weltkrieg – nicht vollendet werden. Immerhin sind über 200 Einzelkarten erschienen, welche Sterne bis zur 15. Größenklasse zeigen.35 Zwei Zeitgenossen Palisas sollen hier wenigstens kurz Erwähnung finden, auch wenn für beide Wien nur eine relativ kurze Zwischenstation bildete: Moritz Loewy (1833 – 1907) und Leopold Schulhof (1847 – 1921). Beide waren jüdischer Herkunft. Loewy studierte 1849 – 1854 am Wiener Polytechnischen Institut (heute: Technische Universität). In den späten 1850er Jahren beteiligte er sich an Beobachtungen und Bahnberechnungen an Kleinkörpern des Sonnensystems an der Wiener Universitätssternwarte. Eine Anstellung an der Universität konnte er zu dieser Zeit aus konfessionellen Gründen nicht erlangen. In Paris, wo er ab 1860 arbeitete, machte Loewy eine veritable Karriere: 1878 wurde er Vizedirektor, 1896 Direktor des renommierten Observatoire de Paris.36 Schulhof studierte ab 1867 Mathematik, Physik und Astronomie an der Universität Wien und war in den frühen 1870er Jahren Assistent an der Wiener Universitätssternwarte. 1875 wurde er von Loewy ans Pariser Bureau des Longitudes berufen, wo auch er bald eine führende Stellung erlangte.37 Er widmete sich vorrangig himmelsmechanischen Themen und Kometen. Während des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts prägte neben Palisa der gebürtige Südtiroler Joseph von Hepperger (1855 – 1928) das Fach Astronomie an der Universität Wien. Schon 1880 war Hepperger Assistent an der neuen Wiener Universitätssternwarte geworden und hatte sich 1884 habilitiert. In den Jahren 1891 bis 1901 lehrte er als außerordentlicher Professor für Astronomie an der Universität Graz. Im letztgenannten Jahr wurde er Ordinarius für Astronomie an der Universität Wien. Hier wirkte er bis kurz vor seinem Tode, ab 1909 als Direktor der Sternwarte. Auch seine Arbeitsschwerpunkte lagen im Bereich der Bahnbestimmung, doch suchte er darüber hinaus die Astrophysik zu fördern. In diesem Zusammenhang steht die Bestellung Adolf Hnateks (1876 – 1960) zum wissenschaftlichen Beamten im Jahre 1911. Hnatek beschäftigte sich intensiv mit Spektralanalyse.38 Nach dem ersten Weltkrieg wurde es jedoch für 35 36 37 38
Zu den Palisa-Wolf-Karten vgl. auch Schnell 2014: Überholt vom Fortschritt. Angetter/Pärr 2009: Blick zurück, 184 f. Ebd., 271. Ebd., 119 – 121 und 130 f. Hnatek arbeitete unter anderem mit dem Spektrographen an dem von Albert Salomon Anselm von Rothschild (1844 – 1911) gestifteten 38 cm-Linsenteleskop der Universitätssternwarte und verfasste darüber 1913 die Schrift »Untersuchungen über das Rothschild-Coud¦ und den Coud¦spektrographen der k.k. Universitäts-Sternwarte in Wien«. Albert Salomon Anselm von Rothschild war einer der reichsten Europäer seines Zeitalters und in hohem Maße an der Astronomie interessiert.
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Hnatek und Hepperger zunehmend schwierig, astrophysikalische Forschungen weiterzuführen, da die Ressourcen für die Anschaffung der dazu erforderlichen Instrumente knapp wurden. Hnatek wurde vier Jahre nach Heppergers Tod 1932 zum außerordentlichen Professor ernannt.39 Heppergers Nachfolger als Sternwartendirektor wurde 1928 Kasimir Romuald Graff (1878 – 1950), der zugleich Lehrstuhlinhaber für Praktische Astronomie an der Universität Wien war. Im selben Jahr erschien sein Lehrbuch »Grundriss der Astrophysik«. Graff war ein fleißiger und kreativer Beobachter, erfand auch selbst Instrumente (u. a. zur Sternfarbenbestimmung), hatte jedoch mit wirtschaftlich schwierigen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Überdies wurde er 1938, u. a. wegen seiner Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie, zwangspensioniert und konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg für nur wenige Jahre an seine Arbeitsstätte zurückkehren.40 Etwa zeitgleich mit Graff hatte der Wiener Adalbert Prey (1873 – 1949) die Professur für Theoretische Astronomie inne: in den Jahren 1930 – 1939. Auch sein Wirken fand eine kurze Fortsetzung nach dem 2. Weltkrieg (1946 – 1949).41 Komplementär zu Graffs Laufbahn verlief die Karriere des Astronomen Bruno Thüring (1905 – 1989). Thüring war überzeugter Nationalsozialist und Antisemit. Er wurde Anfang September 1940 als Professor für Astronomie (und als Sternwartendirektor) nach Wien berufen, trat sein Amt jedoch erst im Januar 1941 an. Im selben Jahr veröffentlichte er jene polemische Schrift, durch die er am bekanntesten wurde: »Albert Einsteins Umsturzversuch der Physik und seine inneren Möglichkeiten und Ursachen«. Darin versuchte er, mit einer Reihe von Argumenten die Unrichtigkeit der Einsteinschen Relativitätstheorie und deren angeblich untrennbare Verbindung mit Einsteins jüdischer Herkunft aufzuzeigen.42 Da Thüring im März 1943 zum Wehrdienst eingezogen wurde, war sein Wirken in Wien allerdings nicht von langer Dauer.43 In der unmittelbaren Nachkriegszeit und bis 1978 war die Astronomie an der Universität Wien institutionell in zwei Einheiten aufgeteilt: in das »Institut für Theoretische Astronomie« und die »Universitätssternwarte Wien«. Als Professoren wirkten zu dieser Zeit Josef Hopmann (1890 – 1975), Konradin Ferrari d’Occhieppo (1907 – 2007) und später Joseph Meurers (1909 – 1987). Hopmann wurde 1951 nach Wien berufen und war hier knappe elf Jahre lang Professor für Astronomie sowie Leiter der Universitätssternwarte. Er beschäftigte sich u. a. mit der Vermessung von Doppelsternbahnen und mit der Topographie der Mondoberfläche, was im Vorfeld der Mondmissionen ein durchaus interessanter 39 40 41 42 43
Angetter/Pärr 2009: Blick zurück, 131. Ebd., 88 – 91. Ebd., 226 – 229. Posch et al. 2007: Kritik, 269 – 290. Kerschbaum et al. 2006: Die Wiener Universitätssternwarte, 185 – 202.
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Forschungsgegenstand war. Ferrari hatte in der Zwischenkriegszeit in Bonn, Leipzig und Wien studiert und war 1946 zum Universitätsassistenten bestellt worden. 1949 erfolgte seine Habilitation; 1963 bis 1978 war er ordentlicher Professor für Theoretische Astronomie sowie Vorstand des gleichnamigen Instituts. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Ferrari durch sein mehrfach überarbeitetes Buch über den Stern von Bethlehem bekannt. Die erste Auflage erschien 1969 unter dem Titel »Der Stern der Weisen«.44 Es wird darin die Plausibilität der These untersucht, dass die Jupiter-Saturn-Konjunktion des Jahres 7 v. Chr. der astronomische Hintergrund des Sterns von Bethlehem gewesen sei. Während der Zeit von 1962 bis 1979 war Joseph Meurers Leiter der Wiener Universitätssternwarte. In Meurers’ Direktorat fällt die Errichtung einer Außenstation der Universitätssternwarte. Die zunehmende Lichtverschmutzung in Wien, die schon Palisa 40 Jahre davor konstatiert hatte,45 ließ astronomische Beobachtungen von Wien aus immer schwieriger werden. Joseph Meurers nahm bereits kurz nach seiner Berufung nach Wien Verhandlungen mit dem zuständigen Ministerium auf, welche das lange ersehnte Ergebnis herbeiführten.46 Aus Anlass des Jubiläums »600 Jahre Universität Wien« schenkte das Land Niederösterreich 1965 der Alma Mater Vindobonensis ein Grundstück auf dem Mitterschöpfl, dem höchsten Berg des Wiener Waldes. Dort erfolgte am 13. September 1966 die Grundsteinlegung zur Errichtung des »Leopold-Figl-Observatoriums für Astrophysik«, welches rund drei Jahre später, am 25. September 1969, feierlich eröffnet wurde. Als Hauptinstrument wurde ein Spiegelteleskop vom Typ Ritchey-Chr¦tien mit 1.52 cm Durchmesser und 12.5 m Brennweite angeschafft, welches von Carl Zeiss hergestellt wurde. Mechanik und Elektronik wurden von zwei Firmen in Rotterdam gefertigt. Die erste wissenschaftliche Nutzung erfolgte im November 1970, als eine Aufnahme der Spiralgalaxie Messier 33 gewonnen wurde – mit einer Belichtungszeit von zweieinhalb Stunden! Wie für den Großen Refraktor der Universitätssternwarte lässt sich auch für den 1.5 m-Reflektor des Leopold-Figl-Observatoriums für Astrophysik ein Forscher namhaft machen, welcher dieses Instrument in seiner Anfangszeit am effizientesten nutzte: Alois Purgathofer (1925 – 1984). Er wurde 1974 zum außerordentlichen Universitätsprofessor für Astronomie an der Universität Wien ernannt. Vor allem in den 1970er Jahren nutze er das neue Observatorium auf dem Mitterschöpfl sehr intensiv. 1984 verstarb er unerwartet während einer Dienstreise in Spanien. 44 Ferrari d’Occhieppo 1969: Der Stern der Weisen. 45 Palisa 1924: Beobachtungen, 161 – 172. Im selben Jahr veröffentlichte Palisa die Schrift »Die Verlegung der Wiener Sternwarte, eine Notwendigkeit«. 46 Rode-Paunzen 2008: Leopold Figl, 162 – 167.
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Die Zeit seit 1985 ist durchwegs durch das Wirken von nach wie vor unter uns lebenden Forschern geprägt und wird deshalb in diesem Abriss nicht thematisiert.
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Oppolzer, Theodor : Lehrbuch zur Bahnbestimmung der Planeten und Kometen, 2 Bde. (Leipzig 1870/1880). Oppolzer, Theodor : Canon der Finsternisse (= Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse 52, 1887). Oppolzer, Theodor : Canon of eclipses, übersetzt v. Owen Gingerich (New York 1962). Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950 (Wien 1957 ff.). Palisa, Johann: Beobachtungen am 27-zölligen Refraktor, in: Astronomische Nachrichten, Bd. 222 (1924) 161 – 172. Posch, Thomas / Kerschbaum, Franz / Lackner, Karin: Bruno Thürings »philosophische« Kritik an Albert Einsteins Relativitätstheorie, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. 38 (2007) 269 – 290. Posch, Thomas / Aspaas, Per Pippin / Bazso, Akos / Müller, Isolde: Austrian-Hungarian Astronomical Observatories Run by the Society of Jesus at the Time of the 18th Century Venus Transits, in: The Journal of Astronomical Data, Bd. 19 (2013) 121 – 130. Pruckner, Hubert: Studien zu den astrologischen Schriften des Heinrich von Langenstein (Leipzig/Berlin 1933). Rode-Paunzen, Monika: Leopold Figl Observatorium für Astrophysik, in: Communications in Asteroseismology, Bd. 149 (2008) 162 – 167. Schnell, Anneliese: Wiener Astronomen und Kleinplaneten, in: Communications in Asteroseismology, Bd. 149 (2008) 117 – 123. Schnell, Anneliese: Überholt vom Fortschritt – die Geschichte einer Koproduktion Heidelberg-Wien. Die Wolf-Palisa-Karten (ein früher photographischer Himmelsatlas), in: Beiträge zur Astronomiegeschichte, Band 12 (Leipzig 2014) 151 – 166, hg. v. W. R. Dick und J. Hamel. Schörg, Cornelia: Die Präsenz der Wiener Universitätssternwarte und ihrer Forschungen in den deutschsprachigen astronomischen Jahrbüchern und Fachzeitschriften 1755 – 1830: von Hells »Ephemerides astronomicae [ad meridianum Vindobonensem]« zu Littrows »Annalen der k.k. Sternwarte in Wien« (Diplomarbeit, Univ. Wien 2009). Vyoral-Tschapka, Margareta: Die Wiener Universitätssternwarte, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 1 – 2 (1996) 94 – 107. Whewell, William: Geschichte der inductiven Wissenschaften. Nach dem Englischen des W. Whewell mit Anmerkungen von J. J. von Littrow (Stuttgart 1840/1841).
Fritz Schiemer, Georg Grabherr, Marianne Popp und Jörg Ott*
Wege zu einer synoptischen Ökologie
Als synoptische und systemorientierte Wissenschaft mit hoher gesellschaftspolitischer Relevanz nimmt die Ökologie in der Wissenschaftsentwicklung unserer Zeit eine prominente Rolle ein. Neben Evolutionsökologie und Systemtheorie stellt die Ökologie das Kernthema der »Umweltwissenschaften« dar. Der vorliegende Aufsatz skizziert die Entwicklung einer wissenschaftlichen Ökologie sowie ihre Wahrnehmung und Institutionalisierung an der Universität Wien. Er behandelt die Frage, welche Anregungen von hier ausgegangen sind und welche Herausforderungen sich für die Entwicklung des Fachbereiches in Zukunft stellen.
Die »vorökologische Ära« an der Universität Wien Lange bevor der Begriff Ökologie formuliert wurde, gab es bereits viele Wurzeln ökologischer Betrachtung, wobei viele Anregungen von den Pflanzenwissenschaften ausgingen. Die Universität Wien weist einige prominente Namen in dieser »vorökologischen Ära« auf. Franz Unger, der auf die weltweit erste Lehrkanzel für Anatomie und Physiologie der Pflanzen berufen wurde (1850 – 1866), gab dem Institut eine ausgeprägt pflanzenphysiologisch-ökologische Orientierung, die von seinen Nachfolgern Julius Wiesner, Hans Molisch usw. weiterentwickelt und weitergeführt wurde. Unger verstand, wie Charles Darwin, den Prozess der Anpassung an die Umwelt als zentrale Triebfeder der Evolution. Er schrieb richtungsweisende Bücher wie »Über den Einfluß des Bodens auf die Vertheilung der Gewächse« (Unger 1836), in dem er auf die Vikarianz von Silikat- und Kalkpflanzen hinwies, und gilt andererseits als einer der Begründer der Paläoökologie (Unger 1852). * Schiemer : Department für Limnologie und Ozeanografie; Grabherr : Department für Botanik und Biodiversitätsforschung; Popp: Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung; Ott: Department für Limnologie und Ozeanografie der Universität Wien.
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Anton Kerner von Marilaun, Professor an der Universität Innsbruck von 1860 bis 1878, folgte 1878 dem Ruf an die Universität Wien als Professor für Systematische Botanik und Direktor des Botanischen Gartens (1878 – 1898). Er war einer der bekanntesten Botaniker seiner Zeit, Anhänger des Darwinismus und Mitbegründer der Pflanzensoziologie und Phytogeographie. Sein zweibändiges Werk »Pflanzenleben«, in dem er sich detailliert mit den geographischen Gegebenheiten sowie den physikalischen und chemischen Bedingungen von Vegetationsmustern auseinandersetzt, gilt als Pionierleistung der Vegetationskunde und einer chemischen Ökologie (siehe dazu den Beitrag von Ehrendorfer und Kiehn in diesem Band).
Die vielen Wurzeln einer ökologischen Wissenschaft Der Begriff Ökologie wurde von Ernst Haeckel geprägt. Er definierte sie als Wissenschaft, die sich mit den »Beziehungen der Organismen zur Außenwelt« (Haeckel 1866) bzw. der »Oeconomie der Natur, Wechselbeziehungen aller Organismen« (Haeckel 1870) auseinandersetzt. Während in der ersten Definition vor allem die autökologische-ökophysiologische Betrachtung angesprochen ist (Eigenschaften von Organismen im Hinblick auf ihren Anpassungswert für die Umwelt), bezieht sich die zweite Definition auf ein synökologisches, systemorientiertes Konzept. Etwa gleichzeitig hat Stephen Forbes (1867) in einem programmatischen Artikel über den See als Mikrokosmos auf die verschiedenen Betrachtungsweisen und -themen der Ökologie hingewiesen. An der rasanten internationalen Entwicklung der neuen Wissenschaft seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts trugen in der Folge viele Fachbereiche bei. Neben der angesprochenen autökologischen und synökologischen Orientierung waren für die Synopsis einer »Allgemeinen Ökologie«, die erst wesentlich später erfolgte, sehr verschiedene Betrachtungsweisen maßgeblich, u. a. – eine lebensraumspezifische Betrachtung der Limnologie, Meeresökologie und Terrestrischen Ökologie, – eine landschaftsorientierte, geobotanische Beschreibung von Pflanzenvergesellschaftungen, deren räumlich-zeitlichen Abgrenzungen und Sukzessionen (F. Clements, H. Gleason, A. Tansley), – eine mathematisch orientierte Populationsökologie mit Wurzeln in der Demographie (A. Lotka; V. Volterra), – produktionsökologische Themen der Land-und Forstwirtschaft, Fischerei etc. und – Themen der Wasser- und Luftverschmutzung etc.
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Diese heterogenen Fachbereiche entwickelten weitgehend unabhängig voneinander spezifische Forschungskonzepte, ohne ein einheitliches Wissenschaftsgebäude zu bilden. In den 1920er bis 1930er Jahren führte ein zunehmendes Interesse an Fragen der Artenvielfalt und der Organisation von Vergesellschaftungen von Organismen zu einer systemökologischen Betrachtung (Tansley 1923) und der Analyse von biotischen Interaktionen, Nahrungsketten und ökologischen Pyramiden (Elton 1930). Raymond Lindeman formulierte 1941 mit »The tropho-dynamic concept of ecology« ein erstes »unifying principle« der Ökologie am Beispiel einer quantitativen Analyse des Energieflusses in einem Seen-Ökosystem. Erst in den letzten Jahrzehnten, nach dem 2. Weltkrieg, kondensierte sich eine »Allgemeine Ökologie«, mit dem Bemühen, die verschiedenen Konzepte zu integrieren. Diese Konzeptverschränkung war und ist ein langsamer und bis heute noch nicht vollständig abgeschlossener Prozess.
Ökologie an der Universität Wien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Entwicklung der ökologischen Wissenschaft an der Universität Wien verlief in dieser Zeit weitgehend unabhängig von internationalen Trends. Allerdings gab es mehrere Forschungsansätze, deren Bedeutung für eine »Allgemeine Ökologie« erst viel später wahrgenommen wurde. Ein wichtiger Vertreter war der renommierte Pflanzenphysiologe Hans Molisch (1856 – 1937), der als Nachfolger von Julius Wiesner, bekannt durch sein Werk »Der Lichtgenuss der Pflanzen« (1907), mit vielen seiner Forschungsorientierungen maßgebliche ökologische Akzente setzte und freilandbiologische Arbeiten förderte, ohne die Ökologie explizit zu vertreten. Viele seiner Untersuchungen bildeten innovative Brückenschläge zwischen Pflanzenphysiologie und angewandten, »produktionsökologischen« Fragestellungen (Molisch 1915). Auf Molisch geht auch der Begriff der Allelopathie (1937) zurück, der erst viel später als ein wichtiges Konzept zwischenartlicher biochemischer Einflüsse und Konkurrenzerscheinungen in der Ökologie Eingang gefunden hat. Auch unter seinen Nachfolgern blieb das pflanzenphysiologische Institut ein Hort ökologischer Orientierung. Dies geht auch aus dem Lehrangebot in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg hervor (Faber : Physiologische Ökologie der Pflanzen; Kisser : Der Einfluss von Umweltfaktoren auf die Pflanzen; Schiller : Das Pflanzenleben des Meeres). Aus der Zoologie ist zu unserem Thema Paul Kammerer zu erwähnen, der als Mitarbeiter von Hans Przibram an der »Biologischen Versuchsanstalt« der
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Akademie der Wissenschaften experimentelle Untersuchungen über die Ausbildung von Merkmalen von Arten in Verbindung mit Lebensweise und Lebensraum sowie Studien zur Symbiose durchführte und nach seiner Habilitation 1910 an der Universität entsprechende Lehrveranstaltungen abhielt (siehe auch den Beitrag von Müller und Nemeschkal in diesem Band). Die ersten regelmäßig angekündigten Vorlesungen zur »Ökologie der Tiere« an der Universität Wien wurden wesentlich später von dem Physiologen Paul Krüger (Lehrkanzelinhaber des I. Zoologischen Institutes von 1929 – 1934) eingerichtet. Wilhelm Kühnelt führte diese Veranstaltung nach seiner Habilitation weiter und ergänzte sie mit einer Vorlesung über »Die Lebensgemeinschaften der Tiere«. Erwähnenswert sind auch die Forschungen und Vorlesungen von Konrad Lorenz zur Verhaltensforschung (1937 – 1941 und 1949 – 1951). Ein wichtiges Element ökologischer Ausbildung waren die mehrwöchigen Hydrobiologischen Sommerkurse an der Biologischen Station in Lunz, die Franz Ruttner, ein Schüler von Molisch und seit 1925 an der Universität Wien habilitiert, alljährlich anbot. Otto Storch, Assistent am zoologischen Institut der Universität Wien und von 1945 – 1951 dessen Lehrkanzelinhaber, vertrat bei diesen Kursen die zoologischen Aspekte. Die Station unter ihrem Leiter Ruttner stellte einen wichtigen Treffpunkt für Kollegen mit freilandbiologisch-ökologischem Interesse dar. Ruttner legte mit einer einjährigen Forschungsreise nach Indonesien gemeinsam mit August Thienemann den Grundstein für eine globale Limnologie. Sein Buch »Grundriss der Limnologie« (1941), das in viele Sprachen übersetzt wurde, stellte lange Zeit die wesentliche Einführung in die Gewässerökologie dar. Der Beitrag zur Meereskunde durch Wissenschaftler an der Universität Wien war zunächst auf systematische, morphologische und phylogenetische Arbeiten an Meeresorganismen beschränkt. Wesentlich war die Aufarbeitung der Sammlungen, welche die österreichischen Meeresexpeditionen mit der Fregatte Novara und der SMS Pola während ihrer Forschungsfahrten angelegt hatten, durch die Wiener Zoologie-Professoren Rudolf Kner, Ludwig Karl Schmarda, Carl Claus, Karl Grobben und Berthold Hatschek (siehe auch Müller und Nemeschkal in diesem Band). Diese Arbeiten waren für die Bildung der Wiener Morphologisch-Systematischen Schule im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wesentlich. Wichtige theoretische Überlegungen zur Systemtheorie durch Ludwig von Bertalanffy, der bei Moritz Schlick promovierte und von 1934 – 1948 an der Universität Wien tätig war, wurden im Rahmen einer theoretischen Ökologie international erst viel später wahrgenommen. Seine »Allgemeine Systemtheorie« sowie die Konzepte zur Thermodynamik offener Systeme spielten später eine wichtige Rolle in der Entwicklung einer theoretischen Systemökologie. Sie hatten aber in Wien keinen unmittelbaren Einfluss auf ökologische Fragestel-
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lungen und fanden nach seinem Weggang nach dem 2. Weltkrieg keine Weiterführung in der Wiener Ökologie.
»Landmarks« der internationalen Ökologie nach 1945 International fand in der Ökologie nach Ende des 2. Weltkrieges eine rasante Entwicklung statt, die zunächst auf der von Lindeman begründeten »Energiefluß-Ökologie« basierte. Dieser systemökologische Ansatz – in der weiteren Folge vor allem von den Brüdern Eugene und Howard Tom Odum vertreten – führte zum Internationalen Biologischen Programm (IBP, 1964 – 1974), dem ersten großangelegten und sehr erfolgreichen multinationalen Forschungsverbund. Neben dieser Mainstream-Forschung erhielt die Ökologie einen wesentlichen Impuls durch die Neuformulierung des Begriffes der »ökologischen Nische« als multidimensionale Abhängigkeit eines Organismus von den wirkenden Umweltbedingungen, gemessen an der »fitness« einer Population (Hutchinson, 1957). Dieses Konzept erwies sich einerseits als sehr befruchtend für eine evolutionäre Ökologie (Eric Pianka), führte andererseits in den 1960er bis 1970er Jahren auch zu einer starken konzeptuellen Erweiterung einer Sytemökologie. Diese Erweiterung ergab sich durch eine fruchtbare Verschneidung eines produktionsorientierten bottom up-Ansatzes, wie er von der Energieflussökologie vertreten wird, mit einer Betrachtungsweise, der die systemsteuernde Wirkung von top down-Effekten durch Prädation, Störungen und stochastischen Veränderungen der Umweltbedingungen in den Vordergrund stellt (McArthur ; Connell; Paine u. a.). In der weiteren Folge verschob sich der Fokus der Betrachtung von Ökosystemen zu Lebensraumgradienten und Ökotonen (»Der Mensch und die Biosphäre«-Programm der Unesco) sowie zu landschaftsökologischen und globalen Ansätzen.
Die Ökologie in Wien nach 1945 An der Universität Wien gewann die Ökologie, entsprechend der öffentlichen Wahrnehmung dieses Fachgebietes, zunehmend an Bedeutung in Forschung und Lehre. Am Institut für Pflanzenphysiologie förderten die Professoren Karl Höfler und später Richard Biebl diese ökologische Orientierung. Daneben konnte eine Lehrkanzel für Vegetationskunde (Gustav Wendelberger) eingerichtet werden. In der Zoologie setzte Wilhelm Kühnelt nach seiner Berufung zum Vorstand des II. Zoologischen Institutes einen terrestrisch-ökologischen Schwerpunkt. Mit seinem Buch »Bodenbiologie« (1950) und den Untersuchungen tierischer Lebensformen und Lebensgemeinschaften setzte er wesent-
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liche Akzente in der terrestrischen Ökologie. Sein »Grundriss der Ökologie« (1965) war eines der ersten deutschsprachigen Lehrbücher des Faches. Unter der kleinen Gruppe von engagierten Studenten, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, bestand eine Aufbruchstimmung und der Wunsch der intellektuellen und physischen Enge der Kriegszeit zu entkommen. Groß angelegte freilandbiologische Forschungsexpeditionen konnten nun von dieser jungen Generation von Biologen, mit Unterstützung der jeweiligen Lehrkanzelinhaber der Zoologie (Otto Storch, Wilhelm Marinelli und Wilhelm Kühnelt), an das Mittelmeer (Ruppert Riedl und Wolfgang Wieser) bzw. in das Steppenund Wüstengebiet des Iran (Ferdinand Starmühlner und Heinz Löffler) durchgeführt werden. Viele der angesprochenen Konzepte einer allgemeinen Ökologie, die sich vor allem im anglo-amerikanischen Raum entwickelt hatten, fanden durch die zunehmenden internationalen Kontakte dieser jungen Generation einen breiten Niederschlag in der Ausbildung und Forschung der Biologen an der Universität Wien. Meeresökologische Fragestellungen fanden mit Rupert Riedl einen Eingang in Lehre und Forschung der Universität. Riedl würdigte das 100 Jahre zuvor von Josef Lorenz von Liburnau entwickelte Konzept einer Erklärung der Verteilung von Meeresorganismen durch Umweltbedingungen, führte im bisher morphologisch-systematisch ausgerichteten Meereskurs im istrischen Rovinj erstmals Ökologietage ein und widmete sich der Erforschung unterseeischer Lebensräume. Seine »Biologie der Meereshöhlen – Monographie eines Lebensraumes« (1969) und die Entdeckung eines bisher unbekannten Lebensraumes, den er gemeinsam mit dem Dänen Tom Fenchel als »Sulfid System« beschrieb, stellen wesentliche Beiträge zur Meeresökologie dar. Im Konzept des »Lebensorttypus« versuchte er eine Entsprechung von organismischer und Lebensraum-Komplexität zu finden. In der Limnologie, befruchtet durch die enge Kooperation mit der Biologischen Station in Lunz, befasste sich eine Arbeitsgruppe des I. Zoologischen Institutes unter Leitung von Getrude Pleskot sehr früh mit Fließgewässerökologie. Heinz Löffler, Assistent am II. Zoologischen Institut, führte umfangreiche regional-limnologische Untersuchungen in Europa, Südamerika und Asien durch. Er entwickelte gemeinsam mit George E. Hutchinson (1956) eine globale Typologie von Seen an Hand der thermischen Schichtung und der Zirkulationsmuster, die bis heute Gültigkeit hat. Meeresbiologie und Limnologie erfuhren später (1970) eine Aufwertung durch die Einrichtung eigener Lehrkanzeln. Die Meeresbiologie wurde in der Nachfolge von Riedl durch Jörg Ott vertreten, der einen Schwerpunkt auf die Erforschung litoraler mariner Systeme und später der Untersuchung von Symbiosen verschiedener Meerestiere mit chemo-autotrophen Bakterien setzte. Er verfasste ein sehr erfolgreiches Lehrbuch zur Meereskunde (1988). Die Limno-
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logie, zuerst unter Heinz Löffler, setzte einen Schwerpunkt in der Paläolimnologie – der Erforschung der historischen Entwicklung von Seenökosystemen – und in der Untersuchung von Flachseen am Beispiel des Neusiedlersees (siehe unten). Daneben wurde ein achtmonatiger Kurs Limnologie für postgraduierte Studenten aus Entwicklungsländern eingerichtet, der seit 1974 erfolgreich läuft und dessen Koordination in der Folge das Limnologie-Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und in den letzten Jahren die Universität für Bodenkultur übernahm. Im Zusammenhang mit diesem Ausbildungsprogramm erwies es sich als zielführend, Forschungsprojekte über tropische Seenund Stauseen-Ökosysteme mit internationaler Beteiligung zu organisieren (Schiemer 1983). Fritz Schiemer entwickelte als Nachfolger von Löffler in Abstimmung mit den anderen limnologischen Institutionen in Österreich ein Schwerpunktprogramm zur Ökologie von großen Fließgewässern und ihren begleitenden Au-Landschaften. In der Pflanzenphysiologie begründete Helmut Kinzel 1965 eine Abteilung für »Chemische Physiologie« mit einem Schwerpunkt des Mineralstoffwechsels als Basis der Anpassung von Arten in ausgewählten Pflanzengemeinschaften Er schlug damit eine Brücke zwischen Physiologie und Ökologie (Kinzel 1982). Nach seiner Emeritierung wurde Marianne Popp nach Wien berufen, die seine Orientierung einer »chemischen Ökologie der Pflanzen« erfolgreich weiterführte. Eine zweite Abteilung, geleitet von Karl Burian, entwickelte einen produktionsökologischen Ansatz (IBP-Untersuchung am Neusiedlersee, siehe unten) und befasste sich daneben mit angewandten Aspekten der Stressphysiologie und der Stadtökologie. Georg Grabherr wurde als Ordinarius für Vegetationsökologie berufen und entwickelte seine Abteilung zu einer aktiven Gruppe für Vegetationsforschung, Landschaftsökologie und Naturschutzforschung, die wichtige internationale Projekte im Rahmen des UNESCO-Programms »Der Mensch und die Biosphäre« durchführte (z. B. GLORIA-Programm, eine globale Forschungsinitiative über alpine Lebensräume; vgl. Grabherr et al. 1994).
Bemühungen um fachliche Integration Eine erste Kondensation der ökologischen Interessen an der Universität Wien ergab sich durch ein von der UNESCO initiiertes Internationales Biologisches Programm (IBP, 1967 – 1974): Drei Arbeitsgruppen der Universität Wien (Limnologie, Terrestrische Zoologie und Pflanzenphysiologie) kooperierten in einer systemökologischen Untersuchung des Neusiedlersees, was in einer gemeinsamen monographischen Bearbeitung des Sees ihren Niederschlag fand (Löffler 1979). Die Gruppe von Rupert Riedl, der für einige Jahre eine Professur in Chapel
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Hill (North Carolina) angenommen hatte, hatte hier durch Kontakte mit Howard T. Odum auch starke Impulse in Richtung einer synökologischen Forschung bekommen. Nach der Etablierung der beiden Lehrkanzeln im Institut für Zoologie eröffnete sich dadurch die Möglichkeit für einen fruchtbaren Gedankenaustausch. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Umweltfragen, eine zunehmend systemorientierte Betrachtungsweise in den biologischen Wissenschaften und ein zunehmendes Interesse der Studenten der Biologie führten zu Bemühungen, ein »Curriculum Ökologie« an der Universität Wien zu etablieren (1981 – 1983). Dies hatte zunächst keinen Erfolg, da die von den einzelnen Fachrichtungen geforderten Stundenkontingente den insgesamt verfügbaren Stundenrahmen sprengten. Wenige Jahre später gelang allerdings durch gemeinsame Bemühungen der Vertreter der Universitäten Wien und Innsbruck im Rahmen einer gesamtösterreichischen Studienkommission der wichtige hochschulpolitische Schritt zur Einrichtung eines Studienzweiges Ökologie als Teil des Studienprogramms Biologie. Ab dem Wintersemester 1990/91 konnte an den beiden Universitäten Ökologie studiert werden. Zur Koordination des Studiums an der Universität Wien, an dem hauptsächlich die Institute Pflanzenphysiologie, Botanik und Zoologie beteiligt waren, wurde eine Koordinationsstelle zur Betreuung der schnell wachsenden Zahl von Studierenden und der Abstimmung des Curriculums eingerichtet. Roland Albert, der die Position des Koordinators einnahm, förderte in der Folge eine transdisziplinäre Ausrichtung der Ökologieausbildung unter Einbindung von Lehrveranstaltungen aus anderen Fachgebieten.
Die Gründung eines Institutes für Ökologie Eine echte Integration ökologisch orientierter Arbeitsgruppen erfolgte allerdings erst durch die Gründung eines eigenen Institutes: Durch die Diskussionen zur Einführung des Universitäts-Organisationsgesetzes 1993 mit den neuen Rahmenbedingungen der Universitätsorganisation eröffnete sich die Möglichkeit, ein größeres Institut mit einer klaren ökologischen Fachorientierung ins Auge zu fassen. Seine Gründung entsprach der zunehmenden Bedeutung des gegenständlichen Fachgebietes und seiner öffentlichen Wahrnehmung. Die Idee war es, alle Arbeitsgruppen mit einer ökologischen Forschungsorientierung aus Teilen der Zoologie und der Pflanzenphysiologie an einem Standort zusammenzufassen. Dieser Prozess einer Restrukturierung der Biologie bedurfte einer wesentlichen Anstrengung und Kooperation von allen Beteiligten und konnte nach monatelangen Diskussionen und Verhandlungen tatsächlich realisiert werden. Durch die starke Naturschutzorientierung mehrerer Arbeitsgruppen,
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z. B. der Vegetationsökologie, der Limnologie und der Terrestrischen Ökologie, ergab sich die Bezeichnung »Institut für Ökologie und Naturschutz« (Institut of Eology and Conservation Biology, IECB). Eine gute Startvoraussetzung für die Institutsgründung war die Vakanz von zwei Professuren. Zur fachlichen Neuorientierung und Ergänzung der vorhandenen Expertise konnten nach einer Serie von Veranstaltungen mit internationaler Beteiligung jeweils eine Professur für »Mikrobielle Ökologie« mit einer molekular-biologischen und »Populationsökologie« mit einer modellorientierten Ausrichtung ausgeschrieben und mit Michael Wagner und Konrad Fiedler besetzt werden. Das Institut für Ökologie und Naturschutz trat offiziell mit Jänner 2000 unter der Leitung von Fritz Schiemer in Kraft und entwickelte sich durch gute interne Kooperation auf Basis einer »corporate identity« seiner Mitarbeiter sehr positiv. Es war thematisch breit angelegt und umfasste elf Abteilungen, die ein sehr breites Spektrum der Ökologie abdeckten (Chemische Physiologie der Pflanzen, Gärtnerische Physiologie und Primärproduktion, Ökophysiologie der Pflanzen, Terrestrische Ökologie und Bodenbiologie, Limnologie, Hydrobotanik, Meeresbiologie, Naturschutz, Vegetations- und Landschaftsökologie, Mikrobielle Ökologie, Populationsökologie, Zellphysiologie und wissenschaftlicher Film). In den wenigen Jahren seines Bestehens kam es zu einer Ausweitung der internationalen Kontakte und der eingeworbenen Geldmittel. Eine externe Evaluation 2003 attestierte dem Institut die Kompetenz, Untersuchungen über ein breites Spektrum von der molekularen bis zur ökosystemaren Ebene durchzuführen und wichtige ökologische Fragen sowohl auf dem Gebiete der Grundlagenforschung als auch dem der angewandten Forschung anzusprechen. Eine Reihe von Neuberufungen förderten die positive Entwicklung. Besondere Stärkung erfuhr die molekularbiologische und mikrobiologische Orientierung durch die Einrichtung neuer Professuren für »Molekulare Systembiologie« (Wolfram Weckwerth), »Computational Systems Biology« (Thomas Rattei) und »Genetics in Ecology« (Christa Schleper). In weiterer Folge kam es zu erfolgreichen Nachbesetzungen der Professuren für Meeresbiologie (Gerhard Herndl) und Limnologie (Tom Battin), die es ermöglichten, die Stärke der »aquatischen Ökologie« auszubauen. Eine weitere positive Entwicklung war die Gründung des »Wassercluster Lunz/See« als gemeinsame Einrichtung von drei Universitäten (Universität Wien, Universität für Bodenkultur und Donauuniversität Krems). Damit gelang es, den Forschungs- und Ausbildungsstandort Lunz zu erhalten und eine gemeinsame Forschungsplattform mit Schwerpunkt »Wasser« zu entwickeln. Die Vielfältigkeit der Forschungsansätze und die integrativen Bemühungen ergaben eine Reihe von Synergieeffekten. Zum Beispiel führte das Thema Symbiose von Eukaryoten und Mikroorganismen, das seit den 1970er Jahren ein wesentliches Forschungsgebiet der Wiener Meeresbiologie (Jörg Ott und Mo-
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nika Bright) war, mit der zunehmenden Bedeutung der mikrobiellen Ökologie (Matthias Horn und Michael Wagner) zu einem Fakultätsschwerpunkt und der Einrichtung des Graduiertenkollegs »Symbiotic Interactions«. Das Thema Restaurierungsökologie, etwa am Beispiel großer Flusslandschaften der Donau, führte zu verstärkten Kooperationen von Limnologie, Vegetationsökologie und Terrestrischer Ökologie. Für viele integrative Bemühungen war die »Lebenszeit« des IECB jedoch zu kurz, um einen Niederschlag in einer gemeinsamen Publikationstätigkeit zu finden.
Fakultätszentrum für Ökologie Unter den geänderten organisationsrechtlichen Rahmenbedingungen des neuen Universitätsgesetzes 2002 war es trotz intensiven Bemühens nicht möglich, diesen integrativen Prozess im Rahmen eines kompakten »Institutsverbandes« konsequent weiterzuführen. Es kam zur Auflösung der großen Organisationseinheit und zu einer Aufteilung in kleinere Fachbereiche. Eine gewisse Klammer konnte als Fakultätszentrum für Ökologie erhalten werden. Ein Teil des IECB wurde räumlich und konzeptuell an den Standort Rennweg verlagert. Dadurch wurden die integrativen Bemühungen geschwächt. Zur Zeit (2015) besteht die »Ökologie« aus drei Departmentverbänden: im Fakultätszentrum für Ökologie am Standort Althanstrasse mit den Departments »Limnologie und Ozeanographie«, »Mikrobiologie und Ökosystemforschung« und »Ökogenomik und Systembiologie«, und zwei Abteilungen im Fakultätszentrum für Botanik und Biodiversität am Standort Rennweg (»Tropische Ökologie und Biodiversität der Tiere« sowie »Naturschutzbiologie, Vegetations- und Landschaftsökologie«). Der derzeitige Fokus der Ozeanographie liegt auf globalen biochemischen Zyklen mit besonderer Betonung der Mikrobiologie der Tiefsee (Herndl et al. 2005) sowie in Studien über Symbiosen mit chemo-autotrophen Bakterien in litoralen und sublitoralen Lebensräumen und in der Tiefsee. Die wissenschaftliche Arbeit in der Limnologie zielt auf die Erforschung von Fließgewässernetzwerken ab, basierend auf einer breiten Untersuchungsbasis von Viren bis zu Fischen. Eine zentrale Fragestellung bezieht sich auf die Rolle von Fließgewässerökosystemen für globale biogeochemische Zyklen (Battin et al. 2008). Die Forschung des Departments »Microbiology and Ecosystem Science« konzentriert sich auf Biodiversität und Funktion mikrobieller Gemeinschaften, die Evolution von intrazellulären Symbiosen (Abteilung Microbial Ecology, Wagner/Loy 2002; Horn et al. 2004), die physiologischen Anpassungen von Pflanzen und Mikroorganismen und ihre Rolle in terrestrischen Ökoystemen (Abteilung Terrestrial Ecosystem Research, Bardgett et al. 2007) sowie die Bioinformatik für Metagenomik und Metatranskriptomik (Abteilung Computational Systems
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Biology). Das Department Ecogenomics and Systems Biology erforscht dynamische Netzwerke – von Genen bis zu Metaboliten – welche die Anpassung von Pflanzen auf Umweltbedingungen steuern (Abteilung Molecular Systems Biology, Weckwerth 2003) sowie die Evolution von Archaea und Bakterien und ihrer unterschiedlichen Rolle in geochemischen Prozessen (Abteilung Genetics in Ecology, Schleper et al. 2005). Betrachtet man diese Auflistung von Forschungsfeldern, so ergibt sich, dass die zentrale Orientierung des Fakultätszentrums für Ökologie heute auf ökosystemare und globale Prozesse und die Rolle von Mikroorganismen ausgerichtet ist. Dies entspricht einem »mainstream« der gegenwärtigen Ökologie, die mit neuen Untersuchungstechniken in einer sehr rasanten Entwicklung die Bedeutung biogeochemischer Prozesse erforscht. Allerdings sind dadurch systemtheoretische und »organismische« Aspekte der Ökologie in den Hintergrund getreten. Solche »organismischen Aspekte« werden verstärkt am Zentrum für Botanik und Biodiversität am Standort Rennweg behandelt. Die Abteilung Tropical Ecology and Animal Biodiversity bearbeitet am Beispiel von terrestrischen Insekten und Vögeln populationsökologische und biozönotische Fragen, insbesondere mit dem Ziel, Grundlagen für Naturschutz und Landschaftsmanagement zu schaffen. Angeschlossen an das Department ist die Biologische Station von La Gamba, Costa Rica, die hervorragende Möglichkeiten für Forschung und Ausbildung in einem tropischen Regenwald bietet. Das zentrale Thema der Abteilung Conservation Biology, Vegetation Ecology & Landscape Ecology sind Vegetationsanalysen auf verschiedenen Skalierungsebenen und die Entwicklung von Prognose-Modellen, um Auswirkungen von Klimaänderungen, Invasion von Neophyten, Änderungen in der Landnutzung und dadurch bedingte Landschafts-Fragmentierung, Verlust an Habitaten etc. beurteilen zu können und eine wissenschaftliche Basis für Naturschutz- und Restaurierungs-Management zu schaffen (Dullinger et al. 2004). Tatsächlich wird es wichtig sein, den Aspekten der Biodiversitätsforschung in Zukunft ein noch stärkeres Gewicht zu verleihen.
Rahmenbedingungen für die Zukunft Die Frage, inwieweit universitäre Forschung primär grundlagenorientiert sein sollte, stellt sich in der Ökologie als unmittelbar gesellschaftsrelevante Wissenschaft nicht. Anwendungsorientierte Forschung bietet ein enormes Potential für eine Weiterentwicklung unseres Verständnisses ökologischer Zusammenhänge. In der ökologischen Tradition an der Universität Wien war neben der Grundlagenforschung die Behandlung unmittelbar gesellschaftsrelevanter
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Themen schon immer ein wesentlicher Motor der Forschung. Zum Beispiel war die Frage der Eutrophierung von Seen und der Möglichkeiten zur Re-Oligotrophierung ein zentrales Forschungsthema, welches zu einer wesentlichen Erweiterung unseres Verständnisses aquatischer Ökosysteme und ihrer Abhängigkeit von den Verhältnissen im Einzugsgebiet geführt hat. Forschungen im Rahmen von »Global Change« führten zu einem verbesserten kausalen Verständnis der Biodiversität, der Verschiebung von Artenarealen (Dullinger et. al. 2004), aber auch von funktionalen, ökosystemaren Zusammenhängen. Restaurierungsprogramme, z. B. der Flußauengebiete an der Donau, stellen eine einmalige Möglichkeit dar, um landschaftsökologische Großexperimente durchzuführen. Ökologie erfordert Interdisziplinarität. Für die Beantwortung komplexer ökologischer Fragen, vor allem auf Landschaftsebene, ist die Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen, z. B. der Klimatologie, der Physik, der Hydrologie etc., erforderlich. Um erfolgreich Querschnittsmaterien wie z. B. die Ökohydrologie entwickeln zu können, ist es erforderlich, sich mit den Konzepten und Methoden des anderen Fachgebietes auseinanderzusetzen und gemeinsam Hypothesen zu entwickeln. Eine noch größere Herausforderung stellt der Schritt zur Transdisziplinarität dar, d. h. die fachlichen Ergebnisse in den Kontext ihrer sozio-ökonomischen Bedeutung bzw. Umweltauswirkungen zu bringen (Simon/ Schiemer 2015). Dies sprengt den Rahmen des eigenen Fachbereiches und eröffnet den Weg zu einer fachlich fundierten umweltpolitischen Diskussion. Der systemische Ansatz der wissenschaftlichen Ökologie führt zwangsläufig zu einer hohen Sensibilität und Verantwortlichkeit im Umgang mit Natur und Umwelt. Viele der Professoren und Assistenten der »Ökologie« waren Vorreiter einer Umweltbewegung (Wilhelm Kühnelt und Gertrud Pleskot) und maßgeblich an einer gesellschaftlichen Umweltorientierung engagiert (u. a. Gründung des »Forum Österr. Wissenschafter für den Umweltschutz«). Viele Kollegen sind in wichtigen Positionen des Umweltschutzes tätig und nehmen Funktionen in entsprechenden wissenschaftlichen Beiräten ein. Ihre Fachexpertise war und ist bei der Beurteilung der Auswirkung von Großprojekten entscheidend. Als Beispiel können die Diskussionen um die Staustufe Hainburg und nachfolgender Großprojekte in der Ökologiekommission angeführt werden. Die fachlichen und organisatorischen Impulse, die in den letzten 20 Jahren gesetzt wurden, bieten gute Perspektiven für die weitere Entwicklung der Ökologie an der Universität Wien im Rahmen der Grundlagenforschung und in der Wahrnehmung der gesellschaftsrelevanten Bedeutung dieser Wissenschaft. Der sehr erfolgreichen Entwicklung der einzelnen Sektoren und ihrer Publikationstätigkeit steht ein Mangel an integrativen Bemühungen gegenüber. Dies ist für eine synoptische Wissenschaft mit hoher gesellschaftlicher Relevanz langfristig problematisch. Die Bemühungen der Universität, einen für die gesamte
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Biologie gemeinsamen Standort zu finden, geben zur Hoffnung Anlass, dass es in naher Zukunft wieder zu einer räumlichen Zusammenführung der »Ökologie« kommt, die wiederum eine verstärkte fachliche Vernetzung ermöglicht.
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Karl W. Schwarz*
»Zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich«: Die Evangelisch-Theologische Fakultät in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts
Die Inkorporierung der Evangelisch-Theologischen Fakultät Am 20. Juli 1922 fasste der Nationalrat der Republik Österreich den Beschluss, in § 9 des Universitätsgesetzes von 1873 einen Absatz 4 einzufügen, welcher aus einem einzigen Satz bestand, der aber den Bemühungen nahezu eines Dreivierteljahrhunderts endlich Rechnung trug: »Die evangelisch-theologische Fakultät, die der Universität eingegliedert wird, entsendet in den akademischen Senat ihren Dekan« (BGBl. Nr. 546/1922). Ihm lag eine politische Entscheidung zugrunde, die von der Regierungskoalition von Christlichsozialen und Großdeutschen getroffen wurde, um die Bestandsfestigkeit der theologischen Fakultäten zu garantieren. In einer von laizistischen Ideen überfluteten Zeit, in welcher der Theologie der Wind gehörig ins Gesicht blies und welche ihren überkommenen Status an den Hohen Schulen in Zweifel zog (Schwarz 2012b), waren es zumal die »weltlichen« Fakultäten, die den Beitrag der Theologie als »zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich« reklamierten (zit. nach Schwarz 1998, 414). Über Betreiben der Großdeutschen Volkspartei sollte diese Statusgarantie auch der Evangelisch-Theologischen Fakultät zugute kommen.
Zur Vorgeschichte der Fakultät Die kleinste der Fakultäten der Alma Mater Rudolfina war auch die jüngste. Sie war hervorgegangen aus einer 1821 ins Leben gerufenen protestantisch-theologischen Lehranstalt, welche im Zuge der Thunschen Universitätsreform 1849 zwar zu einer Fakultät erhoben, aber mit Rücksicht auf den katholischen Stiftungscharakter der Universität nicht in diese inkorporiert worden war. Sämtliche Bemühungen um die Eingliederung waren gescheitert, mochten der Fakultät * Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Universität Wien.
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1861 auch Promotions- und Habilitationsrechte eingeräumt und ihren Lehrern 1911 der Titel ordentlicher Universitätsprofessoren zugestanden worden sein. Zuletzt wurden 1921 ihre Lehrveranstaltungen sogar im offiziellen Vorlesungsverzeichnis kundgemacht; schließlich fand auch der Festakt anlässlich ihres Hundertjahrjubiläums am 7. Juni 1921 im Großen Festsaal der Universität Wien statt. Von dem Jubiläum konnte gesagt werden, dass es die erste große Manifestation des gesamteuropäischen Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg gewesen sei (Wilke 1947, 127). An ihm nahmen Vertreter sämtlicher Universitäten des deutschen Sprachraumes teil; aber auch aus Norwegen, Dänemark, Schweden, Holland und aus der benachbarten Tschechoslowakei waren Delegationen angereist, um die Zugehörigkeit der Wiener Fakultät zur europäischen Scientific Community zu demonstrieren und sich mit ihr zu solidarisieren. Der Rektor der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute Humboldt-Universität zu Berlin), der Jurist Emil Seckel (1868 – 1924), sprach entrüstet aus, was die Festversammlung allgemein empfinden mochte: Dass es der Universität Wien zur Unehre gereiche, eine angesehene Fakultät vor dem Palast warten zu lassen wie in einem Pförtnerhäuschen – ein Bonmot, das in der Parlamentsdebatte am 20. Juli 1922 aufgegriffen wurde (Schwarz 1997, 138).
Die Ausstrahlung der Fakultät nach Ost- und Südosteuropa War die Lehranstalt 1821 als zentrale Ausbildungsstätte für den Protestantismus in der Donaumonarchie gegründet worden, so bedeutete das Studium in Wien für die tschechischen, polnischen, slowakischen, magyarischen und slowenischen Studenten nicht nur eine sprachliche Herausforderung, sondern auch eine Prägung und Integration im Sinne eines habsburgischen Patriotismus. Nach dem Zerfall des Habsburgerreiches wurden Ausbildungsstätten in den Nachfolgestaaten eingerichtet, die Verantwortung für den geistlichen Nachwuchs der »volksdeutschen« Kirchen in der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn, in Rumänien und Jugoslawien blieb der Wiener Fakultät erhalten (Schwarz 2007); nach 1922 gewann sie auch an Attraktivität für Studierende aus dem Deutschen Reich. Die Hörerzahl der Fakultät bewegte sich zwischen 50 und 100, sie steigerte sich im Sommersemester 1932 auf 222, davon 117 Studierende aus Deutschland, 44 aus Österreich, 21 sudetendeutsche, 15 beskidendeutsche, zehn donauschwäbische Studierende, zehn Siebenbürger Sachsen, zwei Ungarn, ein Balte und ein Schweizer (Schwarz 1997, 144 f.); darunter befanden sich auch Studierende weiblichen Geschlechts, hatte sich doch die Fakultät seit 1923 schrittweise dem Frauenstudium geöffnet, das mit Ministerialerlass vom 2. April 1928 (ebd., 139) auf rechtliche Grundlagen gestellt wurde.
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Der Lehrkörper der Fakultät zwischen 1922 und 1938 Als die Fakultät mit Beginn des Wintersemesters 1922/23 der Universität einverleibt wurde, war sie noch im Stadtkonviktsgebäude am Alsergrund (Wien IX., Türkenstraße 4) untergebracht, im April 1924 übersiedelte sie in das Gebäude des ehemaligen Ackerbauministeriums (Wien I., Liebiggasse 5), wo sie bis in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts verblieb. An ihr wirkten sechs Ordinarien für die im Vorlesungsverzeichnis aufgelisteten Disziplinen: Religionsgeschichte, Religionsphilosophie und Apologetik, Pädagogik, Alttestamentliche Wissenschaft, Neutestamentliche Wissenschaft, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Religionspsychologie, Kirchenrecht, Praktische Theologie, Kirchliche Kunst. Dem Dienstalter folgend waren dies: der aus Berlin 1906 berufene Systematiker Karl Beth (1872 – 1959), der vor allem als Religionspsychologe internationale Anerkennung fand (Noth 2008). Er hatte schon 1922 ein entsprechendes Forschungsinstitut gegründet und 1927 die Internationale Religionspsychologische Gesellschaft ins Leben gerufen, deren Zeitschrift er herausgab. 1931 veranstaltete er einen vielbeachteten internationalen Fachkongress zum Thema »Psychologie des Unglaubens«, für den er den Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel (1876 – 1932) als Eröffnungsredner gewinnen konnte. Aber auch als Religionswissenschaftler (Tschank 1994) und Konfessionskundler (Pingg¦ra 2013) ist er nicht vergessen worden. Im Dienstalter folgte ihm der aus Königsberg 1909 berufene Alttestamentler Fritz Wilke (1879 – 1957), der sich auch als Fakultätshistoriker hervortat und als Kandidat für das Rektorenamt vorgesehen war, als im Studienjahr 1933/34 die Fakultät an der Reihe gewesen wäre, den Rektor zu stellen. Dazu ist es aber aus politischen Gründen nicht gekommen. Er nahm auch an der Philosophischen Fakultät im Rahmen der Orientalistik einen Lehrauftrag wahr. 1913 war Josef Bohatec (1876 – 1954) als reformierter Systematiker von Bonn zurückberufen worden, ein gebürtiger Tscheche und Absolvent der Fakultät, der vor allem als Calvinforscher ausgewiesen war (Dantine 1997; Schwarz 2009) und dessen wissenschaftliche Ausstrahlung weit über die österreichischen Grenzen hinausreichte, eine Zierde der Fakultät, ein Homme de Lettres und Polyhistor, mit vier Doktoraten in Prag, Bonn, Amsterdam und Wien ausgezeichnet, ein großer Theologe, dem, wie Beth, der interdisziplinäre Diskurs am Herzen lag. Mitten im Krieg wurde 1915 der Neutestamentler Richard Adolf Hoffmann (1872 – 1948) aus Königsberg in Preußen berufen, der, wie Wilke, ein Exponent des nationalen Flügels und Mitglied des Deutschbundes und der Großdeutschen Partei war, eine deutschchristliche Theologie propagierte und vor allem durch seine parapsychologischen Interessen bis hin zum Spiritismus als »Gespensterhoffmann« in die Geschichte eingegangen ist (Taupe 2010).
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1922 wurde als Kirchenhistoriker Karl Völker (1886 – 1937) aus Lemberg ernannt, der zuvor (1920 – 1922) den Lehrstuhl für Praktische Theologie bekleidet hatte. Er war aufgrund seiner Sprachkenntnis Spezialist für die Kirchengeschichte Polens und verfasste nicht nur zahlreiche Studien über den Protestantismus in Polen, sondern das klassische Standardwerk »Kirchengeschichte Polens«, dem auch von polnischer Seite die Anerkennung nicht versagt wurde und ihrem Verfasser die Mitgliedschaft in der Krakauer Akademie der Wissenschaften eintrug (Leeb 1997, 26). Als Nachfolger Völkers wurde 1922 zum Professor für Praktische Theologie der Wiener Pfarrer Gustav Entz (1884 – 1957) ernannt (Hofhansl 2012), der sich weniger durch wissenschaftliche Publikationen als durch seine seelsorgerliche Fürsorge für seine Studenten (»Papa Entz«) auszeichnete. Seine Disziplin war umfangreich, sie umfasste neben der Homiletik (Predigtlehre) und Katechetik (Religionspädagogik) auch die Poimenik (Seelsorge), Liturgik (Liturgiewissenschaft), Diakonie- und Missionswissenschaft sowie die Ökumenik. Lediglich die Religionspsychologie und die Kybernetik wurden aus dem Fächerspektrum der Praktischen Theologie ausgegliedert und von anderen Lehrern betreut – erstere von Beth, letztere von Bohatec, der sie in seine Kirchenrechtslehre integrierte. Der Lehrkörper bestand lediglich aus diesen sechs Ordinarien sowie seit 1929 einem weiteren Dozenten für Kirchengeschichte und Kirchenkunde Osteuropas, dem aus Lemberg in Galizien stammenden Hans Koch (1894 – 1959) (Schwarz 2010), der aber nicht beamtet war, sondern nebenbei als Religionsprofessor am Akademischen Gymnasium und als Studieninspektor im Evangelischen Theologenheim seinem Broterwerb nachkommen musste. Er hatte neben Theologie auch Geschichte studiert und wurde mit Arbeiten über die russische Orthodoxie 1924 zum Dr. phil. und 1926 zum Dr. theol. promoviert. 1929 erfolgte seine Habilitation »Die griechische Kirche im alten Russland. Skizzen zur Kirchengeschichte Osteuropas«, die ihn als Osteuropaspezialisten auswies; als solcher reüssierte er 1934 in Königsberg in Preußen und nach 1937 in Breslau an der Philosophischen Fakultät, ehe er 1940 an das Institut für Osteuropäische Geschichte nach Wien zurückberufen wurde. Infolge seiner militärischen Laufbahn, welche ihn nach Sofia, Krakau und Kiew führte, konnte er jedoch eine Lehrtätigkeit nicht aufnehmen. Als Herausgeber der Zeitschrift »Kyros« hat er sich um eine differenzierte Sicht der Ostkirche bemüht und überkommene Vorurteile seitens der protestantischen Theologie überwunden. So standen mit Bohatec, Völker und Entz drei Altösterreicher den drei »Reichsdeutschen« Beth, Wilke und Hoffmann gegenüber und hielten eine Parität, die im weiteren Laufe des 20. Jahrhunderts verloren ging. Anders als die deutschen und Schweizer Fakultäten stand Wien als Brücke zu den Kirchen im Donau- und Karpatenraum deutlicher »unter dem Gesetz der Diaspora«
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(Schwarz 2006). Das belastete und befruchtete die Tätigkeit der Wiener Fakultät und bestimmte ihr Profil.
Eine ernste Bestandskrise 1932 Ausgerechnet in dem Jahr des bisherigen Höhepunkts studentischer Frequenz, im Herbst 1932, wurden im Finanzministerium Einsparungspläne erörtert, die insgesamt 110 Lehrkanzeln betroffen hätten, darunter auch die sechs der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Aus dem Umstand, dass die Fakultät hauptsächlich von Ausländern, d. h. von Studierenden aus Deutschland und aus Ost- und Südosteuropa, besucht wurde und dass auf der anderen Seite viele Ausländer in den Dienst der Evangelischen Kirche in Österreich berufen wurden, zog der Finanzminister den Schluss, dass die Auflassung der Fakultät zehn Jahre nach ihrer Inkorporierung in den Verband der Alma Mater Rudolfina keinen großen Nachteil bereiten würde (vgl. Schwarz 1997, 145 – 149). Seit eine Zeitungsmeldung am 18. Oktober 1932 auf die bevorstehende Schließung der Fakultät aufmerksam machte, war die Evangelische Kirche in allergrößte Aufregung versetzt. Sie unternahm Vorsprachen in den zuständigen Ministerien, mobilisierte den Deutschen Evangelischen Kirchenbund und verwies auf die einzigartige Stellung der Fakultät, auf die mit deren Schließung verbundene Paritätsverletzung, vor allem aber auf die ost- und südosteuropäische Dimension der Lehrtätigkeit der Fakultät, deren Relevanz für die evangelischen Diasporakirchen im Donau- und Karpatenraum von den Kirchenleitungen in Gablonz an der Neiße und in Zagreb bestätigt wurde. Zugunsten der Fakultät intervenierte aber auch der »Reichsprälat« Monsignore Georg Schreiber (1882 – 1963), der bis 1933 dem Berliner Reichstag angehörte und als Experte der Deutschen Zentrumspartei für Fragen der Wissenschaftspolitik galt. Er hatte vor der Schließung der Fakultät dringend gewarnt, weil dies in Deutschland zu Retorsionsmaßnahmen gegen katholische Fakultäten führen würde. Im Neuen Wiener Tagblatt vom 22. Oktober 1932 (zit. nach ebd., 147 f.) finden sich die Argumente zusammengefasst: »Die Fakultät habe außer der allgemeinen auch noch eine besondere Kulturmission zu erfüllen, eine Aufgabe, die sich aus der heute mit Recht wieder stark betonten historischen und kulturellen Sendung Österreichs ergibt: Sie ist die eigentliche und einzige deutsche, evangelisch-theologische Bildungsstätte für das gesamte Deutschtum in Südostund Osteuropa. Die weit verzweigten deutschen Gemeinden in Jugoslawien, Siebenbürgen, in der Bukowina, in Bessarabien, Ungarn, Galizien, polnisch Schlesien und in der Tschechoslowakei besitzen keine deutsche, evangelischtheologische Hochschule, an der ihre künftigen Geistlichen und Lehrer eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten könnten. Für sie alle bildet die Fakultät in
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Wien heute wie ehedem das geistige Zentrum, die Stätte, an der der junge akademische Nachwuchs mit der deutschen Wissenschaft und der österreichischen Kultur bekannt wird. Erfüllt von den hohen Kulturgütern, die die Wiener Fakultät ihnen zu vermitteln hat, treten die jungen Pfarrer und Lehrer an die Spitze ihrer Gemeinden und helfen […] als geistige Führer […] mit, der österreichischen Kultur und dem österreichischen Warenexport die Wege zu ebnen.« Es konnte nicht geklärt werden, welches Argument die Regierung veranlasste, von der Schließung der Fakultät Abstand zu nehmen. Das eindrückliche Bild der Fakultät und der ihr zugeschriebenen volkspolitischen Sendung als »Pflegerin wichtigster evangelischer und deutscher Lebensinteressen« in den Nachfolgestaaten (Bischof Dr. Philipp Popp [1893 – 1945], zit. nach ebd., 149), dieses volksdeutsche Credo blieb für das Grenzlands- und Auslandsdeutschtum typisch und wurde an der Fakultät bis 1945 kultiviert.
Die Fakultät unter den Bedingungen des katholischen Ständestaates Die Profilierung im Sinne jenes volksdeutschen Credos gilt mit den Ausnahmen von Beth, Bohatec und Völker und spitzte sich in besonderer Weise in der Ära des Christlichen Ständestaates zu, der sich als »Widerstand« gegen preußischreichsdeutsche und nationalsozialistische Einflüsse verstand und in der Losung von der »Gegenreformation« einen identitätsstiftenden historischen Bezugspunkt für den ideologischen Abwehrkampf der Gegenwart gefunden hatte. Diese Identifizierung der politischen Sendung des Ständestaates mit der Gegenreformation gerann zur Parole von der »Türkenabwehr – Protestantenabwehr – Hitlerabwehr« (Heer 1996, 401; vgl. Tlos 2013, 240 – 257) und stieß auf entschiedene Ablehnung seitens der Evangelischen Kirche, die sich über die erfolgte katholische Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens bitter beklagte. Gustav Entz, der den Ständestaat mit allen ihm gebotenen Möglichkeiten bekämpfte (Schwarz 2012a, 117), fand später die Erklärung, dass die »Klerikalisierung« in der Ära des Ständestaates alle Nichtkatholiken und Nichtmehrkatholiken in die Arme der Nationalsozialisten getrieben hätte; eine Beobachtung, die nach dem Krieg als eine große Entlastung empfunden wurde und wohl auch teilweise zutreffend war (Klieber/Schwarz 2005, 111). Der Zeitgeist, der die »verzopftkatholische« Gegenwart des Ständestaates mit dem Anbruch einer »zukunftsorientierten Bewegung« jenseits der Grenze verglich, schlug zugunsten der Anschlussbewegung aus. Einige der evangelischen Pfarrer betätigten sich als deren Agenten, wie sich auch hinter manchen kirchlichen Vereinen getarnte NS-
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Zusammenkünfte verbargen. Als generalisierende Aussage konnte die erwähnte These des Praktischen Theologen Entz freilich nicht restlos überzeugen, denn sie wurde auch als Schutzbehauptung vorgetragen. Der politische Wandel 1933/34 wirkte sich auf den Fakultätsalltag erheblich aus. Einmal abgesehen von dem Rückgang der deutschen Studenten, die infolge devisenrechtlicher Kampfmaßnahmen Deutschlands, v. a. der Tausendmarksperre, nicht nach Österreich einreisen durften, wurde auch die innere Organisation der Fakultät betroffen, denn der zum Dekan gewählte Neutestamentler Hoffmann weigerte sich der Vaterländischen Front (VF), der politischen Einheitsorganisation des Ständestaates, beizutreten. Die VF-Mitgliedschaft war indes mit dem Erlass vom 5. Juli 1934 Voraussetzung für akademische Funktionen, ja für alle Beamten im öffentlichen Dienst. An der Fakultät übernahmen in der Folge die VF- Mitglieder Bohatec (1934/35), Völker (1935/36), Wilke (1936/37) und Beth (1937– März 1938) die Dekanatsgeschäfte. Hoffmann und Entz verweigerten den Beitritt, um solcherart ihren Widerstand gegen das »Neue Österreich« zu artikulieren. Sie verkehrten in der Akademikergemeinschaft des Evangelischen Bundes (Trauner 2003), die sich allwöchentlich im Presbyterzimmer der evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Wien-Innere Stadt traf. Der Zweck dieser Zusammenkünfte war ein ausschließlich politischer, der Evangelische Bund diente als Tarnung, um diese Versammlungen überhaupt zu ermöglichen. In diesem Gremium wurde auch die Denkschrift über den Beitritt zur VF erarbeitet (Reingrabner/Schwarz 1989, 200 – 208), die der Kronjurist des Evangelischen Bundes Dr. Robert Kauer (1901 – 1953), ein seiner politischen Einstellung wegen aus dem öffentlichen Dienst entlassener Beamter, stilisierte, die Superintendent Johannes Heinzelmann (1873 – 1946) als »Vertrauensmann der Kirche« unterzeichnete und der Präsident des Oberkirchenrates, Sektionschef Dr. Viktor Capesius (1867 – 1953), zu seinem größten Bedauern dem Bundeskanzler vorzulegen hatte. Während die Denkschrift die Argumentation vorgab, ihre Unterzeichner könnten es »mit ihrem Gewissen als treue Bekenner des reinen (!) evangelischen Glaubens nicht vereinbaren, der VF anzugehören« (ebd., 207), hielt Capesius, Mitglied des Staatsrates und somit ein honoriger Parteigänger des Ständestaates, dem entgegen, dass die bekannt gegebenen Ziele der VF, namentlich das damit verknüpfte »Bekenntnis zu einem freien, unabhängigen, christlichen, deutschen Österreich« (ebd., 201), auch den Evangelischen den Beitritt ermögliche. Von seiner Seite sind dann auch regelmäßig Beitrittsaufforderungen an die Pfarrerschaft ergangen. Doch dem widersprach Superintendent Heinzelmann, indem er die heuristische Formel prägte: Für einen Protestanten käme wohl ein Anerkennen des Staates, nicht aber ein Bekennen zu diesem Staat katholischer Observanz in Frage (ebd., 225). An der Fakultät haben vier Professoren den Beitritt vollzogen, drei von ihnen haben sich auch mit dem profilierten Österreich-Bewusstsein als Gegenmodell
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zum Anschluss identifiziert und sich literarisch (Schwarz 1994) bzw. durch die Abhaltung der Pflichtvorlesung zur weltanschaulichen Erziehung der Studierenden an der Fakultät beteiligt: Völker, Bohatec, Beth (Schwarz 1997, 153). Nicht nur den Dienstnehmern der öffentlichen Hand wurde der Beitritt zur VF verpflichtend auferlegt, sondern es wurden Leistungen des Staates zunehmend von der Mitgliedschaft abhängig gemacht. Die VF geriet zu einem allseitigen Disziplinierungsinstrument, um ein »vertrauensvolles« Verhältnis zum Staat sicherzustellen. So wurde auch die Studentenschaft in die Pflicht genommen und Studiengebührenbegünstigungen nur solchen Studierenden erteilt, »deren vaterlandstreue Haltung gewährleistet erscheint« (zit. nach ebd., 156). Aufgrund eines Einspruchs von Heinzelmann wurde die Verpflichtung zur VFMitgliedschaft ersetzt durch die Abgabe einer bekenntnishaften Loyalitätserklärung der betroffenen Studenten (ebd.). Die Hörerzahlen hielten sich in diesem Jahrfünft bei durchschnittlich 110.
Die Fakultät in der NS-Ära und Permanenzdekan Entz Ein hochschulpolitisches Agieren der Wiener Fakultät reduzierte sich in den Jahren der NS-Herrschaft auf die Tätigkeit ihres am 18. März 1938 vom Unterrichtsminister Oswald Menghin (1888 – 1973) eingesetzten Dekans Gustav Entz, der den für das Studienjahr 1937/38 gewählten Dekan Hofrat Karl Beth ablöste und diese Funktion durch elfeinhalb Jahre bis September 1949 bekleidete. In seinen Memoiren beschönigt er diesen Vorgang, indem er behauptet, sein Vorgänger habe sofort sein Amt »aus eigenem Entschluss« (Schwarz 2012a, 27) zur Verfügung gestellt. Das jüngste Mitglied des Lehrkörpers Entz stand jedenfalls als akademischer Funktionär schon fest, der Führer des NS-Lehrerbundes und spätere Dozentenbundchef Arthur Marchet (1892 – 1980) hatte ihn bereits vorgemerkt (Müller 1997, 598). Dass dem neu ernannten Dekan gleich in den ersten Tagen seines Dekanates der »schmerzliche Auftrag« zuteil wurde, seinem Vorgänger mitzuteilen, »dass er auch seine Professur niederlegen müsse« (Schwarz 2012a, 28), fügt sich in dieses dunkle Kapitel der Fakultätsgeschichte, denn noch wenige Jahre zuvor war Beth anlässlich seines 60. Geburtstags im Mittelpunkt akademischer Ehrungen gestanden. Man kann die Betroffenheit des Professorenkollegiums nachvollziehen. Ob sie tatsächlich alles taten, »um dem Kollegen zu zeigen, dass wir dieses Vorgehen der Behörden bedauerten« (ebd.; dazu Schwarz 2014, 185), kann nicht mehr festgestellt werden. Von den neuen Machthabern wegen der rassistischen Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums zwangspensioniert (vgl. GBl. für das Land Österreich Nr. 160/1938), konnte Beth noch bei zwei Promotionsverfahren im Mai 1938 als Gutachter mitwirken, aber als einem der insgesamt 316 entlassenen
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oder zwangspensionierten Professoren der Universität Wien verschlossen sich ihm nunmehr die Tore der Alma Mater (Müller 1997, 603). Als ihm mit Ende März 1939 auch noch der Ruhestandsbezug aberkannt wurde (Schwarz 1993, 367), sah er sich gezwungen, seiner in die USA geflüchteten Gattin Marianne Beth, geb. von Weisl (1890 – 1984), einer Avantgardistin des Frauenstudiums an der Wiener Universität (Berger 2002, 286), zu folgen und 66-jährig an der Universität von Chicago eine neue akademische Wirkungsstätte zu suchen. Es gibt eine Reihe von Beweisen, dass Karl Beth nach 1945 den Kontakt zur Wiener Fakultät gesucht, ja sogar Lebensmittel in das hungernde Nachkriegs-Wien geschickt hat. Seine Korrespondenz mit der Fakultät (Schwarz 1997, 208) und mit der Familie Entz (Schwarz 2012a, 136) dokumentieren eine tiefe Anhänglichkeit, die von der Fakultät erst sehr spät gewürdigt wurde, als auf ihren Vorschlag hin eines der »Tore der Erinnerung« auf dem Campus der Universität (IX., Spitalgasse – Hof 1) nach Karl Beth benannt wurde. Nach dem Tod des Kirchenhistorikers Völker 1937, der »Vertreibung« Beths 1938 und der Emeritierung Hoffmanns 1939 waren drei Ordinariate neu zu besetzen. Noch im Sommersemester 1938 verfasste Entz ein Memorandum über die Stellung und den Ausbau der Wiener Fakultät zu einem kultur- und bildungspolitischen Zentrum für das Volksdeutschtum in Ost- und Südosteuropa (Reingrabner/Schwarz 1989, 334 f.; vgl. Schwarz 1993, 361 ff.). Blieb er auch insgesamt eher vage, was den großzügigen Ausbau der Fakultät zu einer Grenzlandfakultät betrifft, so bewies Entz jedenfalls Verhandlungsgeschick, wenn er plakativ die politischen Reizworte der Stunde einbrachte und damit seine Fakultät in das grelle Scheinwerferlicht tagespolitischer Dienstbarkeit zerrte. Denn, so argumentierte er, diese Maßregel empfehle sich auch »unter dem rein nationalen und nationalsozialistischen Gesichtspunkt, weil die […] Atmosphäre […] an der Wiener Fakultät in besonderem Maße für die Notwendigkeiten der gegenwärtigen nationalen und politischen Entwicklung aufgeschlossen ist« (Reingrabner/Schwarz 1989, 335). Es ist dieses Projekt einer Grenzlandfakultät gewesen, von dem er eine zusätzliche Garantie für den Bestand der Fakultät erhoffte, das ihr überdies zwei zusätzliche Lehrstühle für die Kirchengeschichte des ost- und südostmitteleuropäischen Raumes und für nationale und kirchliche Diasporakunde erbringen sollte. Diese Ausbaupläne, die exakt in das Entwicklungsprogramm der NS-Bildungspolitik für die Universität Wien mit dem Schwerpunkt »Südosten« passte (Müller 1997, 611; Heiss 1999, 270), wurde von Entz mit den Beamten des Reichserziehungsministeriums in Berlin verhandelt; er konnte dabei bereits zwei präsumtive Lehrstuhlinhaber aus dem Kreis der österreichischen Theologen präsentieren: Paul Dedic (1890 – 1950) und Gerhard May (1898 – 1980), die auch den Berliner Stellen genehm waren, weil diese den Eindruck vermeiden wollten, »als sollte Österreich wie eine eroberte Provinz behandelt werden« (zit. nach Schwarz 2012a, 30 f.). Das Projekt
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wurde aber von der Münchener Parteikanzlei hintertrieben, eine Zusage der Berliner Ministerien wurde zurückgezogen, bis es ad Kalendas Graecas vertagt wurde und schlussendlich im Papierkübel eines Universitätsfunktionärs landete. Ein letztes Urgenzschreiben des Dekans vom 22. März 1944, das er in die Form einer Denkschrift zum Thema »Die kulturpolitische Bedeutung der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät in Beziehung auf Süd-Ost-Europa« brachte und im Dienstweg über den Kurator der Wissenschaftlichen Hochschulen Wiens an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung richtete (Schwarz 1997, 190 f.), blieb in Wien am Schreibtisch des Kurators liegen, so aussichtslos schätzte dieser die Lage ein. Mit der Nachbesetzung der drei vakanten Lehrstühle hatte Entz mehr Glück, weil er sich auf politisches Glatteis begab und den Berliner Stellen die Besetzung nach den dort gepflogenen Maßstäben überließ. Was den Lehrstuhl für Neues Testament betrifft, so wurde er nach der Emeritierung Hoffmanns nicht ausgeschrieben, sondern der Tübinger Ordinarius Gerhard Kittel (1888 – 1948) über Verfügung des Reichserziehungsministeriums vom 15. September 1939 »mit der Wahrnehmung der Lehrkanzel beauftragt« (ebd., 181 ff.), ohne seine Tübinger Professur aufzugeben. Sein Engagement in Wien, das vom September 1939 bis April 1943 dauerte, wird nur verständlich vor dem Hintergrund einer immer prekärer werdenden Situation der Theologischen Fakultäten im Nationalsozialistischen Staat, wo Schließungen und Zusammenlegungen diskutiert wurden (Wolgast 1993, 70), das betraf namentlich Tübingen. Da konnte die Aussicht auf eine bestandsfeste Stelle an der Wiener Grenzlandfakultät noch sehr positiv eingeschätzt werden, zumal Kittel seine Forschungen zur Judenfrage auch an der Philosophischen Fakultät etablieren konnte. Mit Mitteln des Rassenbiologischen Instituts der Medizinischen Fakultät dokumentierte er portraitmäßig die »rassengeschichtliche Entwicklung« des antiken Judentums, eine Sammlung, die er nicht ohne zermürbenden Kleinkrieg mit der Universitätsverwaltung 1943 nach Tübingen wieder mitnahm. Sein Auftreten war »forsch«, entsprach den Usancen eines deutschen Großordinarius »der ersten Fakultät Deutschlands«, wie er selbst betonte. Der »große und sich groß fühlende Kittel« (Campenhausen 2005, 194), der sein gesamtes politisches Gewicht für das Grenzlandprojekt in Wien einsetzte, wurde enttäuscht. Denn seine Intervention bei Baldur von Schirach (1907 – 1974) ergab das desillusionierende Ergebnis, dass er in Tübingen bleiben solle; Wien würde nicht »ausgebaut« werden (Schwarz 1997, 183). Er blieb trotzdem bis 1943, durch seinen Assistenten Heinz Zahrnt (1915 – 2003) und mehrere wissenschaftliche Hilfskräfte unterstützt, die ihn im Proseminar vertraten und an seinen Forschungen Anteil nahmen, mochten sie der Arbeit am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament gewidmet sein oder deutliche ideologische Markierungen aufweisen, wie die »Forschungen zur Judenfrage« (Bormann 2010), die er sowohl an der Theologischen als auch an der Philoso-
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phischen Fakultät betrieb. Er trug damit, wie der Rektor Fritz Knoll (1883 – 1981) wiederholt dankbar registrierte, der ideologischen Profilierung der Universität Rechnung, deren ehrgeiziges Ziel darin lag, zur führenden Bildungsstätte für den europäischen Südosten aufzusteigen. Kittels Option für Wien im Jahre 1939 hing zweifellos auch mit dem Ruf der Fakultät zusammen, der NS-Bewegung mit besonderer Aufgeschlossenheit gegenüber zu stehen. Dieses Urteil, dass bei den Berufungen »das parteipolitische Interesse« überwog und eher berufen wurde, »wer der strammere Parteigenosse war« (zit. nach Schwarz 1993, 367), bezog sich namentlich auf die Besetzung der beiden vakanten Lehrstühle, um die ein intrigenreiches Berufungskarussell inszeniert wurde. Aus diesem gingen der Berliner Dozent Hans-Georg Opitz (1905 – 1941), eine der Zukunftshoffnungen der Patristik, Assistent von Hans Lietzmann (1875 – 1942) und Mitarbeiter in der Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, sowie der Bonner Systematiker Hans-Wilhelm Schmidt (1903 – 1991) siegreich hervor, beide mit entschiedener politischer Befürwortung. Letzterer war aus Bonn berufen worden und wurde wegen der Häufigkeit seines Namens in der theologischen Zunft nach einem seiner Werke »Zeit-und-Ewigkeits-Schmidt« genannt (Berger/Geist 1997), ein »gescheiter Streber« und »eifriger Nazi«, »der vielleicht lieber Philosoph als Theologe geworden wäre« (Campenhausen 2005, 194). Aber nicht nur diese, sondern auch die beiden Exegeten Wilke und Hoffmann sowie Dekan Entz stellten sich 1939 als Professoren für das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« zur Verfügung (Heschel 1994, 139 f.; Leeb 2008/2009, 86 ff.; Arnhold 2010, 492). Aus dem engen Kontakt zwischen Wien und dem genannten Institut resultierte auch die in Wien betriebene Habilitation von dessen Geschäftsführer Heinz Hunger (1907 – 1995); dieser erwarb 1942 mit seiner religionspsychologischen Studie »Religion, Ganzheit und Gemeinschaft« die Lehrbefugnis (Arnhold 2010, 524) – ohne dass es späterhin zu einer Lehrtätigkeit gekommen wäre. In schroffer Distanz zu dieser deutsch-christlichen Ausprägung standen nur Josef Bohatec, der »ganz als Gelehrter, still und zurückgezogen über seinen breiten und gehaltvollen Büchern zur reformierten Theologie und modernen Philosophiegeschichte« (Campenhausen 2005, 195; Dantine 1997) lebte, Gustav Stählin (1900 – 1985), Gastdozent am Lehrstuhl für Neues Testament zwischen 1943 und 1945, sowie Hans von Campenhausen (1903 – 1989), der als Supplent für den zur Wehrmacht einberufenen und im Russlandfeldzug gefallenen Opitz nach Wien beordert wurde, ein der Bekennenden Kirche nahe stehender Kirchenhistoriker (Wischmeyer 1997). Bis 1945 supplierte er als Dozent den Lehrstuhl; einer regulären Nachbesetzung legte sich das »Braune Haus« in München quer, das generell die Theologischen Fakultäten organisatorisch abzuwürgen versuchte. Dass die Fakultät trotz der Einberufung seiner Studenten (ab dem Sommerse-
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mester 1941 sank die Zahl auf unter zehn) nicht geschlossen wurde, wird der geschickten Verhandlungsführung ihres Dekans Entz zugeschrieben (Schwarz 2012a, 59).
Zur Nachkriegsentwicklung Unter der Regie ihres Langzeitdekans Entz trat die Fakultät in ein neues Zeitalter. Da sein Aufnahmegesuch in die NSDAP abgelehnt worden war, galt er nunmehr als »politisch unverdächtig« und konnte sich so um die Rehabilitierung seiner amtsbehinderten Kollegen bemühen und durch eine kritische Schrift zur Entnazifizierung 1946 (Reingrabner/Schwarz 1989, 514 – 519; Klieber/Schwarz 2005, 111) in die laufende Auseinandersetzung im Sinne der Kontinuität, die viele als »Rückbruch« empfanden, eingreifen. Da er zudem auf sein an Reichsstellen in Berlin gerichtetes Dokumentationswerk über den antichristlichen Kurs der NSDAP verweisen konnte (Klieber/Schwarz 2005, 108 f.; Schwarz 2012a, 120 ff.), war es ihm möglich, auch nach Ende des Krieges die Weichen zu stellen. Es war ein »Neubeginn in Ruinen«, zu dem sich im Sommersemester 1945 nur zwei, im darauf folgenden Wintersemester bereits 18 Studierende einfanden. Für Entz war dieser Neubeginn, »unter geradezu jämmerlichen Verhältnissen […] in verwüsteten Räumen, in Kälte und Hunger […] in gewisser Weise die schönste Zeit«, die er an der Fakultät verbrachte (zit. nach Klieber/Schwarz 2005, 107). Er trug nicht nur für die personelle Zusammensetzung des Lehrkörpers Verantwortung, sondern leitete insgesamt die Fakultät in eine neue Ära, die für ihn persönlich eine Aussöhnung mit der Römisch-katholischen Kirche und der Zweiten Republik brachte und auch die Position der Fakultät im Rahmen der Universität bestätigte, sodass 1958 erstmals ein Lehrer der Fakultät, der Systematiker Erwin Schneider (1892 – 1969), zum Rector magnificus der Alma Mater Rudolfina gewählt wurde (Plöchl 1979).
Bilanz Die Evangelisch-Theologische Fakultät ist bekanntlich die einzige ihrer Art in Österreich. Ihre Geschichte spiegelt, wie sie in ihrem »Leitbild«1 feststellt, das Schicksal und die Geschichte des Protestantismus in den ehemaligen habsburgischen Landen und im heutigen Österreich wider. Sie empfindet es deshalb als ihre besondere Pflicht, das Gesamtgebiet der Theologie aus protestantischer Kultur- und Wissenschaftstradition in Forschung und Lehre zu vertreten sowie 1 [http://etf.univie.ac.at/fakultaet/leitbild/] (28. Jänner 2013).
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die historische Erinnerung an die eigene protestantische Tradition wach zu halten. Ihre Aufgabe hat sich dabei merklich gewandelt. Nicht mehr als konfessionalistisches Bollwerk, sondern als Brücke zur Ökumene will sie gesehen werden. Sie steht mit allen Fakultäten im wissenschaftlichen Dialog, bringt sich in den wissenschaftlichen Diskurs ein und versucht den hohen Ansprüchen des Zitates gerecht zu werden, nämlich »zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich« zu sein (zit. nach Schwarz 1998, 414).
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»Zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich«
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Mathematik an der Universität Wien
Als die Harvard University Kurt Gödel mit einem Ehrendoktorat auszeichnete, begründete sie das mit »der Entdeckung der bedeutsamsten mathematischen Wahrheit des Jahrhunderts«. Diese Entdeckung hat an der Universität Wien stattgefunden und kann als der Höhepunkt der wechselvollen Geschichte des Fachs Mathematik an dieser Universität angesehen werden. Diese Geschichte soll hier kurz umrissen werden. Die Bausteine sind dafür bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert zusammengetragen worden. Damals plante Richard Meister eine monumentale Geschichte der philosophischen Fakultät der Universität Wien. Die entsprechende Materialsammlung für das Fach Mathematik wurde durch zwei Dissertationen abgedeckt, betreut von Edmund Hlawka und Wilfried Nöbauer. Eine Dissertation wurde von Helga Peppenauer verfasst und umfasst den Zeitraum von 1365 bis 1900 (Peppernauer 1953); die andere stammt von Rudolf Einhorn und schließt an erstere an (Einhorn 1985). Die erste Dissertation wurde nie veröffentlicht, die zweite nur in sehr begrenzter Auflage. Umso wichtiger ist es, darauf zu verweisen, dass der vorliegende Beitrag, ebenso wie der historische Überblick zur Mathematik in Wien durch Andreas Cap (Cap et al. 2010) zum selben Thema, ohne diese beiden Dissertationen nicht möglich gewesen wäre. Als Teil der Ausbildung an der Artistischen Fakultät spielte Mathematik von Anfang an eine wichtige Rolle an der Wiener Universität. Zu einer ersten Hochblüte kam es bereits im fünfzehnten Jahrhundert. Diese Periode wurde durch drei Astronomen und Geometer geprägt, die an der Universität Wien lehrten und aufeinander aufbauten: erst Johann von Gmunden (ca. 1380 – 1442), dann Georg von Peurbach (1423 – 1461) und schließlich Johannes Müller von Königsberg (1436 – 1476), der später als »Regiomontanus« bekannt wurde und als einer der wichtigsten Begründer der sphärischen Trigonometrie gilt (Peppenauer 1953). Die astronomischen Tafeln des Regiomontanus waren die besten ihrer Zeit und begleiteten Columbus auf seiner Fahrt in den Westen. * Fakultät für Mathematik der Universität Wien.
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In dieser Epoche gab es kaum eine fachliche Differenzierung zwischen Astronomen und Mathematikern. Den Höhepunkt dieser synergistischen Entwicklung stellte Johannes Kepler dar (1571 – 1639), der in Graz, Linz und Prag wirkte, aber nicht in Wien. Kepler revolutionierte nicht nur das astronomische Weltbild sondern spielte auch eine wichtige Rolle in der Frühgeschichte der Analysis. Einige seiner bedeutsamsten Erkenntnisse zur Integralrechnung entstanden im engen wissenschaftlichen Kontakt mit dem Jesuitenpater Paulus Guldin (1577 – 1643), der an der Universität in Wien wirkte. Bemerkenswert war auch die Initiative des Humanisten Conrad Celtis (1459 – 1508), der an der Universität Wien ein »Collegium poetarum et mathematicorum« begründete. Auch der Kartograph Johannes Stabius (1468 – 1522), der zum Kreis um Kaiser Maximilian gehörte, sowie der Astronom Paul Fabricius (1529 – 1589) wirkten als Mathematiker an der Universität Wien und eine der ersten Fächergeschichten (Tannstetters Buch »Viri mathematici«) wurde 1514 hier geschrieben – eines der frühesten Beispiele wissenschaftlicher Traditionspflege (Peppenauer 1953). Die folgenden Jahrzehnte prägte jedoch Stagnation. Im Hochbarock wurden glänzende Chancen vertan und das Aufblühen der Infinitesimalrechnung fand anderswo statt. Einer der Gründe für diese mathematische Flaute war zweifellos eine krasse Fehlleistung des österreichischen Staatsapparats, der die Vorschläge von Leibniz verwarf, die zur Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Wien hätten dienen sollen. Ein großer Teil der mathematischen Fortschritte des achtzehnten Jahrhunderts entstand durch ähnlich konzipierte Akademien in Paris, Berlin oder Sankt Peterburg. Als Wien mit hundertfünfzigjähriger Verspätung nachzog und 1847 eine kaiserliche Akademie gründete, war der bestmögliche Zeitpunkt längst verstrichen. Halbherzige Versuche, Gauss von Göttingen oder Jacobi von Berlin nach Wien zu berufen, schlugen fehl. Erst als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach Jahrzehnten staatlich verordneten gedanklichen Stillstands, der Liberalismus in Österreich durchsetzte, hatten die Wissenschaften in Wien eine Chance, wieder internationales Niveau zu erreichen. Das geschah dann allerdings bemerkenswert rasch. Österreich wurde zu einem Hort der Moderne, nicht nur in der Kunst, sondern auch in den Natur- und Sozialwissenschaften. Ein erstes Zeichen für einen Aufwärtstrend in der Mathematik bildete das Wirken von Josef Petzval (1807 – 1891) an der Wiener Universität. Petzval galt zwar als Sonderling, aber er hatte die Theorie der photographischen Dioptrik entwickelt, auf welcher die Geräte von Voigtländer und Zeiss beruhten (ebd.). Überhaupt kamen in den Jahren der Thun-Hohensteinschen Universitätsreform die ersten Impulse zur Wiederbelebung der Mathematik von den Anwendungen her, insbesondere von der wesentlich stärkeren Physik. Im Übrigen konnte man damals unter den Studenten der Mathematik bemerkenswertere Köpfe finden
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als unter den Vortragenden. Zu diesen Studenten zählte ein junger Augustinermönch namens Gregor Mendel (vgl. Müller/Nemeschkal in diesem Band) und ein Physikstudent namens Ernst Mach. Die 1873 erfolgte Berufung von Boltzmann (1844 – 1906) auf einen Lehrstuhl der Mathematik an der Universität Wien war ein erstes, wichtiges Signal für einen Wandel zum Besseren. Ludwig Boltzmann war allerdings eher mathematischer und theoretischer Physiker und wurde auch schnell von seinem Wiener mathematischen Lehrstuhl weg berufen, aber die geistige Atmosphäre begann sich spürbar zu wandeln. Emil Weyr (1848 – 1894) machte sich als Geometer einen Namen und Leo Königsberger (1837 – 1921) arbeitete auf dem Gebiet der Analysis (Peppenauer 1953). Beide hatten im Ausland studiert, was früheren Generationen österreichischer Studenten verwehrt gewesen war. Gustav von Escherich (1849 – 1935) prägte als Ordinarius für Mathematik an der Universität Wien Generationen von Studierenden. Zwar werden heute keine großen Entdeckungen mit ihm assoziiert, doch leistete Escherich als Lehrer wichtige Vorarbeiten, die den Boden für die kommende Blüte vorbereiteten. Auch Escherich hatte im Ausland studiert: er führte in Österreich die strengen Beweismethoden von Weierstrass ein und gründete 1890 gemeinsam mit Weyr die »Monatshefte für Mathematik und Physik«, in denen zahlreiche grundlegende Arbeiten veröffentlicht wurden (ebd.). Escherichs Zeitgenosse Franz Mertens (1840 – 1927) konnte bereits wichtige Resultate zur Theorie der Reihen und insbesondere zur Zahlentheorie beitragen: die Mertensche Vermutung, aus deren Richtigkeit die der Riemannschen folgen würde, beschäftigte Mathematiker über ein Jahrhundert lang und konnte erst 1985 widerlegt werden. Die Entwicklung der Zahlentheorie verdankt dieser Vermutung wichtige Impulse. Auch Leopold Gegenbauer (1849 – 1903), der bedeutsame Beiträge zur Zahlentheorie und auf dem Gebiet der speziellen Funktionen lieferte, der Geometer Gustav Kohn (1859 – 1921) und der Analytiker Otto Stolz (1842 – 1905) beeinflussten die Entwicklung der Mathematik in Österreich nachhaltig (ebd.). Insgesamt kann gesagt werden, dass in jener Phase des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts eine solide und breite Basis für die anschließenden historischen Spitzenleistungen gelegt wurde. Zu den herausragenden mathematischen Begabungen in Wien während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gehörten Alfred Tauber (1866 – 1942) und Wilhelm Wirtinger (1865 – 1945). Beide sollten die Geschichte der Mathematik des 20. Jahrhunderts stark beeinflussen. Der in Pressburg, dem heutigen Bratislava, geborene Tauber bewies in seiner Habilitationsschrift ein Theorem über die Konvergenz von Reihen, das zum Ausgangspunkt für das riesige Feld der sogenannten »Tauberschen Sätze« wurde (Binder 1984; Sigmund 2004). Wirtinger, der aus Ybbs stammte, überstrahlte ihn noch durch seine frühen Beiträge zur Zahlentheorie, Gruppentheorie und komplexen Analysis. Wirtinger
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wurde 1895 als Ordinarius nach Innsbruck, 1903 nach Wien berufen, wogegen Tauber als Chefmathematiker in der Phönix-Versicherung unterkam und jahrzehntelang die immer gleichen Kurse für Versicherungsmathematiker abhielt, abwechselnd an der Technischen Hochschule (der späteren Technischen Universität Wien) und an der Universität Wien. Taubers Leben verlief tragisch (Pinl/Dick 1974; Binder 1984; Sigmund 2004). Er publizierte wertvolle Beiträge zur Versicherungsmathematik, konnte sich aber für das Gebiet nicht begeistern. Seine ungleich bedeutenderen Beiträge zur reellen und komplexen Analysis, zur Potentialtheorie und zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen bescherten ihm früh internationale Anerkennung, aber keinen Lehrstuhl. Erst spät wurde er mit dem Titel eines ordentlichen Professors belohnt. Nach dem sogenannten Anschluss gelang es dem weitgehend isolierten Tauber nicht, dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen. Als er im November 1941 endlich ein Visum nach Ecuador erhielt, war es zu spät. Er wurde nach Theresienstadt deportiert und kam dort 1942 um. Wilhelm Wirtinger konnte in mehr als dreißigjähriger Tätigkeit das Wiener Mathematische Seminar prägen (Einhorn 1985). Er zählte zu den führenden Analytikern seiner Zeit – der Wirtinger-Kalkül und die Wirtinger-Ungleichung sind bis heute noch gängige Begriffe. Seine Vorlesungen waren wegen ihrer Schwierigkeit berüchtigt, doch konnte er zahlreiche hervorragende Studierende zu Spitzenleistungen führen: so die Mathematiker Hans Hahn und Johann Radon, aber auch Physiker wie Erwin Schrödinger, Paul Ehrenfest und Philipp Frank. Um die Wende zum 20. Jahrhundert machten die »unzertrennlichen Vier« von sich reden, vier Studienfreunde, denen allesamt eine große Laufbahn bevorstand. Zwei davon, Gustav Herglotz (1881 – 1953) und Heinrich Tietze (1880 – 1964), wurden an Universitäten in Göttingen bzw. München berufen, wo sie jahrzehntelang an der damaligen Blütezeit der Mathematik in Deutschland mitwirkten. Ein dritter, Paul Ehrenfest (1880 – 1933), wurde theoretischer Physiker und spielte bei der Mathematisierung von statistischer Mechanik und Quantentheorie eine wichtige Rolle: er wurde der Nachfolger von H. A. Lorentz in Amsterdam und stand in regem Gedankenaustausch mit Einstein. Der vierte im Bunde war Hans Hahn (1879 – 1934) (Frank 1934; Sigmund 1995). Hahn dissertierte bei Escherich und habilitierte sich 1905 mit einer Arbeit zur Variationsrechnung. Wie es damals üblich werden sollte, verbrachte er ein Semester bei Hilbert in Göttingen. Vermutlich wurde dort sein Interesse an den Grundlagen der Mathematik geweckt. Hahns Schwester Olga (1882 – 1937) ist die erste Frau, die in dieser Geschichte auftritt. Um die Jahrhundertwende besuchten erstmals Studentinnen Vorlesungen für Mathematik (die Physikerin Liese Meitner war eine von ihnen). Olga Hahn erblindete zweiundzwanzigjährig; doch sie verfasste, zum Teil gemeinsam
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mit ihrem Mann Otto Neurath, bedeutsame Publikationen zur mathematischen Logik (die ersten in Wien) (Stadler 1997). Bereits in den Vorkriegsjahren versammelte Hahn eine Gruppe von Fachwissenschaftlern um sich (so den Physiker Philipp Frank und den Nationalökonomen Otto Neurath), um die philosophischen Grundlagen von Mathematik und Naturwissenschaften zu diskutieren. Die Gruppe, die geprägt war von den Vorlesungen und Schriften Ernst Machs und Ludwig Boltzmanns, sollte später als der erste »Wiener Kreis« bezeichnet werden (ebd.). Als Hahn 1909 zum außerordentlichen Professor nach Czernowitz berufen wurde, kündigte er den Freunden an, nach seiner Rückkehr an die Wiener Alma Mater (an der er nie zu zweifeln schien) die Diskussionen wieder aufnehmen zu wollen, unter Herbeiziehung eines Universitätsphilosophen. Zu den hervorragendsten Studenten Wirtingers zählten Roland Weitzenböck (1885 – 1955), der später in Prag und Amsterdam bahnbrechende Beiträge zur Differentialgeometrie hervorbringen sollte, und Wilhelm Blaschke (1895 – 1962), ein Geometer und Algebraiker (Einhorn 1985). In den 1920er Jahren war Blaschke die treibende Kraft hinter dem rasanten Aufstieg des neugegründeten Hamburger Mathematischen Seminars. Dessen leuchtendster Stern, Emil Artin (1898 – 1962), war übrigens in Wien geboren, studierte dort aber nur zwei Semester, bevor er zu Herglotz nach Göttingen ging. Zu derselben brillanten Mathematikergeneration wie Blaschke und Weitzenböck gehörte auch Johann Radon (1887 – 1956) (ebd.; Hlawka 1987). Radon promovierte 1910 bei Gustav von Escherich und habilitierte sich bald darauf in Maßtheorie. Wegen seiner starken Kurzsichtigkeit wurde Radon bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht eingezogen, sondern konnte weiterhin als Privatdozent in Wien tätig bleiben. Er verfasste in diesen Jahren grundlegende Arbeiten zur Funktionalanalysis, zur Variationsrechnung, zur Differentialgeometrie und zur konvexen Geometrie. Besonders bekannt wurde Radons Name aber durch die praktischen Anwendungen, die von zwei seiner mathematischen Arbeiten herrührten. Die nach ihm benannte »Radon-Transformierte« wurde zur Grundlage der Computertomographie und anderer bildgebender Verfahren; der Satz von Radon-Nikodym entwickelte sich zu einem zentralen Bestandteil der Finanzmathematik. Das Interessante dabei ist, dass Radon, wie seine Zeitgenossen auch, keineswegs an solche Anwendungen gedacht hatte: sie wurden erst Jahrzehnte später aktuell. Johann Radon wurde nach dem ersten Weltkrieg und kurzen Zwischenstationen in Hamburg (wohin er auf Betreiben Blaschkes berufen wurde), Greifswald und Erlangen 1925 Professor an der Universität von Breslau, wo er bis 1945 blieb. Dann kehrte er als Ordinarius nach Wien zurück, wo er Dekan und 1954 Rektor wurde (Einhorn 1985). 1912 war der Deutsche Philipp Furtwängler (1869 – 1940) auf eine Lehrkanzel nach Wien berufen worden. Furtwängler war ein Schüler Felix Kleins. Seine
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Berufung schien kühn, denn Furtwängler war nicht habilitiert, doch sie rechtfertigte sich glänzend. Furtwänglers Arbeiten zur algebraischen Zahlentheorie erwarben ihm bald Weltruf. Tragischerweise wurde er bald durch eine Lähmung an den Rollstuhl gefesselt; er musste in den Hörsaal getragen werden und konnte nicht an der Tafel schreiben. Doch seine Vorlesungen galten als unvergleichliche Kunstwerke und begeisterten zahlreiche Studierende. Gegen Ende der 1920er Jahre vollbrachte der nunmehr fast sechzigjährige Furtwängler sein Meisterstück, den Beweis der Hilbertschen Hauptvermutung, die für die algebraische Zahlentheorie grundlegend ist (ebd.). In den Jahren des ersten Weltkriegs promovierten mehr weibliche als männliche Studierende der Mathematik. Besonders bekannt wurde Hilde Geiringer (1893 – 1973), die ihr Studium bei Wirtinger absolvierte und dann nach Berlin zog, wo sie den in Wien geborenen Mathematiker Felix Pollacek (1892 – 1981) heiratete. Die Ehe scheiterte bald, doch Hilde Geiringer blieb als Assistentin des (ebenfalls in Wien geborenen) angewandten Mathematikers und Aerodynamikers Richard von Mises in Berlin. Gegen starke Widerstände habilitierte sie sich für Mathematik (als zweite Frau nach der berühmten Emmy Noether). Geiringers Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitstheorie, vor allem aber zur Populationsgenetik, errangen hohes Ansehen. 1933 musste Hilde Geiringer emigrieren, erst nach Brüssel, dann nach Istanbul und schließlich nach Harvard, wo sie 1944 Research Fellow wurde. In den USA heiratete sie den inzwischen ebenfalls in die USA emigrierten Richard von Mises (Binder 1992 und 1995; Siegmund-Schultze 1993). Schon im ersten Jahr des ersten Weltkriegs war Czernowitz von russischen Truppen erobert worden. Hans Hahn verlor dadurch seine Professur. Er wurde eingezogen und 1915 schwer verletzt (bis an sein Lebensende steckte eine Gewehrkugel in seinem Rückgrat). Nach seiner Entlassung schrieb er wichtige Arbeiten zur harmonischen Analyse und zur Theorie der reellen Funktionen und wurde 1917 nach Bonn berufen. 1920 wurde die Lehrkanzel von Gustav von Escherich ausgeschrieben und drei von Escherichs Schülern bewarben sich, alle inzwischen Professoren in Deutschland: Hahn, Radon und Tietze. Hahn machte das Rennen – es konnte für die Kommission keine einfache Entscheidung gewesen sein (Einhorn 1985). Jetzt kehrte Hahn als Ordinarius an die Wiener Universität zurück. Er hatte durch seine Arbeiten zur allgemeinen Topologie, vor allem aber als einer der Schöpfer der Funktionalanalysis, großen Einfluss auf die moderne Analysis gewonnen. Neben der Fortsetzung dieser Arbeiten konnte er nun außerdem seinen langgehegten Traum eines philosophischen Zirkels verwirklichen. 1922 gründete Hahn (gemeinsam mit seinem Schwager Otto Neurath und dem aus Deutschland berufenen Philosophen Moritz Schlick) den Wiener Kreis, der sich an Donnerstagabenden in einem kleinen Hörsaal des mathematischen Seminars
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in der Boltzmanngasse traf, um philosophische Grundlagenfragen zu debattieren. Ursprünglich sollten Fragen der Physik im Vordergrund stehen, ganz in der Tradition von Boltzmann und Mach. Doch rasch schob sich die Grundlagendebatte der Mathematik in den Vordergrund (Stadler 1997; Sigmund 1995a). Aus Hamburg wurde 1922 der junge Kurt Reidemeister (1893 – 1971) als außerordentlicher Professor für Geometrie nach Wien geholt (Bachmann et al. 1972). Kurt Reidemeister vermittelte, gewissermaßen im Gegenzug, den Wiener Otto Schreier (1901 – 1928) nach Hamburg, wo dieser grundlegende Sätze zur Gruppentheorie entdeckte und gemeinsam mit Artin Bedeutendes zur Entwicklung der modernen Algebra beitrug (Beham/Sigmund 2008). Neben dem Dreigestirn der Ordinarien Wirtinger, Furtwängler und Hahn wirkten zahlreiche junge und hochbedeutsame Mathematiker. Neben Reidemeister, der seine bahnbrechende Theorie der Knoten entwickelte, widmeten sich in Wien mehrere Privatdozenten der damals aufblühenden Topologie, so Witold Hurewicz (1904 – 1956), Walther Mayer (1887 – 1948) und Leopold Vietoris (1891 – 2002). Vietoris wirkte später in Innsbruck, Mayer und Hurewicz emigrierten in die USA, wo beide in Princeton Fuß fassten (Einhorn 1985; Radon 1949). Die 1920er Jahre gelten heute als das »goldene Zeitalter« der Topologie und Wien spielte hier eine weltweit führende Rolle. Zu den Privatdozenten am mathematischen Seminar gehörte auch Eduard Helly (1884 – 1943), der aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft eine brillante Habilitationsarbeit zurückgebracht hatte, die bald, ähnlich wie Hahns Arbeiten, zu den Grundlagen der Funktionalanalysis zählte. Helly kam erst bei der BodenCreditanstalt, dann, wie Tauber, bei der Phönix-Versicherung unter. Beide Institutionen brachen schließlich wirtschaftlich zusammen. 1938 konnte Helly mit knapper Not in die USA emigrieren, wo er 1943, dessen Arbeiten längst schon weltbekannt waren, endlich Professor am Illinois Institute for Technology wurde. Doch verstarb er noch im selben Jahr (Golland/Sigmund 2000). 1923 lenkte Kurt Reidemeister die Aufmerksamkeit des Wiener Kreises auf ein eben erschienenes kleines Büchlein, das sich dadurch auszeichnete, dass kein geringerer als Bertrand Russell das Vorwort verfasst hatte. Es handelte sich um den »Tractatus logico-philosophicus« des damals noch völlig unbekannten Ludwig Wittgenstein, der sich nach dem Krieg von seinem umfangreichen Erbe getrennt hatte, um als Volksschullehrer in der Buckligen Welt zu arbeiten. Der Wiener Kreis machte sich an das systematische Studium des Tractatus und der Principia Mathematica von Bertrand Russell (Hahn hielt darüber ein Seminar). Bald stieß auch der junge Philosoph Rudolf Carnap zum Wiener Kreis. Carnap verfasste ein kurzes Lehrbuch zur Logistik, der mathematischen Logik; der Philosoph Friedrich Waismann hielt, stark beeinflusst von Wittgenstein, Kurse über die philosophischen Grundlagen der Mathematik (Stadler 1997). 1924 kam Kurt Gödel (1906 – 1978) nach Wien, um an der Universität Physik,
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Mathematik und Philosophie zu studieren. Die Vorlesungen von Furtwängler faszinierten ihn und über Vermittlung Hahns lud Schlick den offensichtlich höchst talentierten Studenten in seinen Zirkel. So wurde Gödel zum jüngsten und stillsten Mitglied des Wiener Kreises. Erst Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass er dessen Linie des logischen Empirismus keineswegs vertrat, sondern Platoniker war (Dawson 1999; Sigmund et al. 2006). Doch der Wiener Kreis führte Kurt Gödel in jenes Gebiet zwischen Mathematik und Philosophie ein, wo ihm als noch kaum Fünfundzwanzigjährigen eine epochale Leistung gelingen sollte (Dawson 1999; Dawson/Sigmund 2006). Damals war die mathematische Grundlagendebatte von Hilberts Programm dominiert. Bereits um die Jahrhundertwende war klar geworden, dass sich mathematischen Theorien restlos formalisieren lassen konnten. Mathematische Aussagen entsprachen demnach Ketten von Zeichen eines endlichen Alphabets. Eine formalisierte Theorie bestand aus einer endlichen Zahl solcher Aussagen (den Axiomen), die als vorgegeben angesehen wurden und aus den Folgerungen, die sich daraus durch Anwendung einiger einfacher, genau festgelegter formaler Schlussregeln herleiten ließen. Hilbert glaubte mit dieser Sichtweise die Möglichkeit zu erschließen, durch überschaubare, rein kombinatorische Manipulationen von Zeichenketten die Frage beantworten zu können, ob die gegebene Theorie widerspruchsfrei ist, also ob sowohl eine Aussage als auch ihre Verneinung hergeleitet werden können. Hilbert wollte auf diese Weise einen Beweis für die Konsistenz der Arithmetik erreichen. In seiner Dissertation, die er bei Hahn einreichte, gelang Gödel ein wichtiger Schritt in Hilberts Programm. Er bewies, dass die Axiome des engeren Funktionenkalküls vollständig und widerspruchsfrei waren. Schon das war eine außerordentliche Leistung. Weniger als ein Jahr später gelang Gödel durch den Beweis seines Unvollständigkeitssatzes eine veritable wissenschaftliche Sensation: In jeder mathematischen Theorie, die es erlaubt, zu zählen, zu addieren und zu multiplizieren, gibt es wahre Aussagen, die unbeweisbar sind. In moderner Terminologie heißt das: die Mathematik kann grundsätzlich nicht durch ein Computerprogramm ausgeschöpft werden. 1930 gab es natürlich noch keine programmierbaren Computer. Aber von Gödel führt eine direkte Linie zu Alan Turing und John von Neumann, die wenige Jahre später tatsächlich die Grundlagen der modernen Computerarchitektur entwickelten. Gödel selbst folgerte aus dem Unvollständigkeitssatz, dass Hilberts Programm nicht durchführbar ist. Denn wenn die Arithmetik widerspruchsfrei ist, dann ist diese Widerspruchsfreiheit gerade eine jener Aussagen, die grundsätzlich unbeweisbar sind. Gödel habilitierte sich im Jahr 1933 und gehörte zu den ersten, die an das neu gegründete Institute for Advanced Study nach Princeton eingeladen wurden. Als der junge Privatdozent 1934 zurückkehrte, erlitt er einen psychischen Zusam-
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menbruch. Die folgenden Jahre pendelte er zwischen Sanatorien, der Universität Wien und dem Institute for Advanced Study in Princeton. 1938 gelang ihm wieder eine epochale Leistung, diesmal in der Mengenlehre. Gödel bewies, dass die Kontinuumshypothese nicht im Widerspruch steht zu den üblichen Axiomen der Mengenlehre. Durch eine Intervention John von Neumanns gelang es ihm Anfang 1940, das Dritte Reich zu verlassen und über die Sowjetunion und den Pazifik den sicheren Hafen von Princeton zu erreichen, den er nie mehr verließ. Seine in Wien gewonnenen Resultate und Methoden sind entscheidende Beiträge zur mathematischen Logik und Mengentheorie geworden. Einer der Mentoren Gödels am Wiener Mathematischen Seminar war der nur wenig ältere Karl Menger (1902 – 1985), der Sohn des Schöpfers der österreichischen Schule der Nationalökonomie. Karl Menger verfasste bereits als Student entscheidende Beiträge zur Kurven- und Dimensionstheorie und wurde, knapp fünfundzwanzigjährig, zum außerordentlichen Professor für Geometrie an der Wiener Universität ernannt (Einhorn 1985; Golland/Sigmund 2000). Bald scharten sich einige der begabtesten Studenten um ihn in einer Gruppe, die sich als »Wiener Mathematisches Kolloquium« rasch neben dem Wiener Kreis etablierte (Menger 1994; Golland/Sigmund 2000). Hierzu zählte Franz Alt (1908 – 2010), der später in der Emigration durch eine grundlegende Arbeit zur Messbarkeit der Nutzenfunktion und durch seine Pionierrolle bei der Entwicklung des Computers bekannt wurde (Schachermayer et al. 2011). Nicht weniger bemerkenswert war der Rumäne Abraham Wald (1902 – 1950), auch er ein Schüler Mengers, der als mittelloser Student von Rumänien nach Wien gekommen war und hier bald Entscheidendes leistete, sowohl in der Wirtschaftstheorie, die ihm den ersten mathematisch fundierten Gleichgewichtssatz verdankt, als auch für die Grundlegung der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit Hilfe des Begriffs der Zufallsfolge (Menger 1952). Wald wurde, nach seiner Emigration in die USA, in kurzer Zeit zu einem der Begründer der modernen Theorie der mathematischen Statistik. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist auch der Wirtschaftswissenschaftler Oskar Morgenstern (1902 – 1977), der zwar selbst kein Mathematiker war, aber der bereits in Wien, angeregt durch Karl Menger, ökonomische Überlegungen anstellte, die er dann gemeinsam mit John von Neumann zur Spieltheorie ausbaute. Zu den wichtigsten Mitgliedern des »Mathematischen Kolloquiums« zählte Olga Taussky (1906 – 1995). Sie promovierte in Wien bei Furtwängler und beteiligte sich anschließend, in Göttingen, an der Herausgabe der gesammelten Werke von Hilbert. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 kehrte Olga Taussky nach Wien zurück, wo Hahn und Menger sie über ein Stipendium als Assistentin anstellen konnten. Doch 1934 ging sie aus beruflichen Gründen wieder ins Ausland, zunächst in die USA, an das berühmte Bryn
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Mawr College, dann nach Cambridge und London und später (inzwischen als Olga Taussky-Todd) wieder in die USA. Dort wurde sie durch ihre zahlreichen Arbeiten, insbesondere zur linearen Algebra, zu einer der führenden Mathematikerinnen (Taussky-Todd 1985; Luchins/McLouglin 1996). Hans Hahn, der jüngste und aktivste Ordinarius am Mathematischen Seminar der Wiener Universität, verstarb 1934 an den Folgen einer Krebsoperation. Seine Stelle wurde vom Ministerium eingezogen. Im Jahr darauf schied Wirtinger aus Altersgründen aus. Zwei großartige Mathematiker bewarben sich um seine Lehrkanzel: Karl Menger, der damals bereits weltbekannt war, sowie der geborene Wiener (und Ordinarius in Hamburg) Emil Artin, der es geschafft hatte, gleich zwei der Probleme Hilberts zu lösen. Das Ministerium berief statt dessen Karl Mayrhofer (1894 – 1969). Es war eine klassische Hausberufung. Der Philosoph Moritz Schlick zählte zu jenen, die vergebens gegen diese Entscheidung Protest einlegten. Der Wiener Kreis löste sich auf. Schlick wurde im Sommer 1936 durch einen ehemaligen Schüler, Dr. Hans Nelböck, erschossen. Die Reaktionen nach Schlicks Ermordung bewogen Karl Menger, 1937 eine Professur in Notre Dame, Indiana, anzunehmen. Zusammen mit der altersbedingten Emeritierung Furtwänglers 1938 stellte das einen fatalen Aderlass für die Wiener Mathematik dar. Innerhalb weniger Jahre war das berühmte mathematische Seminar in die Bedeutungslosigkeit geschlittert. Nach dem sogenannten Anschluss hatte das Wiener Mathematische Institut mit den Ordinarien Anton Huber (1897 – 1975) und Karl Mayrhofer, zwei illegalen Nationalsozialisten, keine Möglichkeit, das frühere wissenschaftliche Niveau zu halten (Einhorn 1985). Nach dem Krieg aber wurden ihre beiden nunmehr frei gewordenen Stellen durch hervorragende Mathematiker besetzt, durch Johann Radon, der seine Wirkungsstätte in Breslau hatte verlassen müssen, und den jungen Wiener Edmund Hlwaka (1919 – 2009), der während des Krieges hatte aufhorchen lassen, als er eine fundamentale zahlengeometrische Vermutung von Minkowski bewies (ebd.). Dennoch sollte es noch lange dauern, ehe die österreichische Mathematik international wieder Bedeutung gewann (Cap et al. 2010).
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Mathematik an der Universität Wien
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Philosophie – Konturen eines Faches an der Universität Wien im »langen 20. Jahrhundert«**
Zur Entwicklung des Faches Philosophie seit 1365 Die Philosophische Fakultät als »Artistenfakultät« hatte seit Gründung der Universität Wien im Vergleich zu den Fakultäten der Medizin, des Rechts und der Theologie auch als Fach eine untergeordnete Rolle gespielt und blieb bis 1848 als »ancilla« der jeweiligen herrschenden geistlichen und weltlichen Mächte instrumentalisiert.1 Im vorwiegend katholischen Österreich wurde die Philosophie Immanuel Kants als aufklärerisch bis revolutionär marginalisiert und die Stellung zur Philosophie des deutschen Idealismus als entscheidend für die Herausbildung einer typisch »österreichischen Philosophie« nach 1848 betrachtet. Dies erfolgte im Zeichen eines angeblich österreichischen Sonderwegs gegen jede Form dialektischer, transzendentaler und aprioristischer Philosophie preußisch-deutscher Provenienz.2 Diese These selbst ist jedoch angesichts der konkreten Entwicklung in der Monarchie kritisch zu beleuchten, um die polarisierende oder identitätsstiftende Rolle Kants im Verhältnis zur austriakischen Traditionslinie von Bernard Bolzano, über Robert Zimmermann bis hin zu Franz Brentano und seiner einflussreichen Schule schärfer in den Blick zu bekommen.3 Der Königsberger Philosoph bleibt ohne Zweifel die Bezugsgröße bis in die Blütezeit des Wiener Kreises und auch danach. Es ging um die Beantwortung der Frage nach der Autonomie und Wissenschaftlichkeit von Philosophie angesichts des Bedeutungszuwachses einzelner * Institut für Philosophie und Institut Wiener Kreis, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. **Dieser Beitrag basiert auf meiner bisherigen Studien zur Wiener Philosophie: vgl. Stadler 1979/95: Aspekte. Dazu die entsprechenden Abschnitte im Rahmen meiner Gesamtdarstellung: Stadler 1997: Studien. Dazu: Stadler 2005: Philosophie. Vgl. auch meine Beiträge in Band I dieser Reihe. 1 Einen deskriptiven Überblick liefert die Dissertation von Wieser 1950: Geschichte. 2 Zur These einer typisch »österreichischen Philosophie«: Lehrer et al. 1997: Philosophy. 3 Stadler 2015: Kant-Lektüren und Neukantianismus.
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Disziplinen der Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften (inkl. Mathematik) im Sog der zweiten naturwissenschaftlichen Revolution. Jedenfalls war der propädeutische Charakter der Philosophischen Fakultät und die untergeordnete Rolle der Philosophie seit Beginn zugleich Anlass für Kants Plädoyer gewesen, eine Aufwertung der »unteren« gegenüber den »oberen« drei Fakultäten aufgrund ihres intrinsischen Bildungscharakters und der reflexiven Vernunft gegenüber den berufsorientierten Fakultäten für Mediziner, Staatsbeamte und Theologen zu erlangen.4 Wenn wir die philosophische Szene an der Wiener Universität in der Zeit der Donaumonarchie von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges charakterisieren, dann können wir folgende Hauptlinien erkennen: – einen marginalen Hegelianismus und eine moderate Kant-Tradition; – eine vorwiegend anti-idealistische, sprachkritische Philosophie, die sich an den empirischen Einzelwissenschaften orientiert und weltanschaulich von der katholischen bis zur sozialliberalen (Spät-)Aufklärung reicht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dominiert die von Brentano ausgehende Richtung empirischer Philosophie und Psychologie mit Anspruch auf exakte Methodologie; in der letzten Phase bis zum Ersten Weltkrieg setzt sich Ernst Mach mit seiner Lehre durch, die bis in die Zwischenkriegszeit wirkt; – gleichzeitig existiert eine vielgestaltige philosophische »Gegenwelt« einer metaphysischen Königsdisziplin abseits vom konkreten Forschungsbetrieb. Will man trotz aller Differenzierung wesentliche Charakteristika »österreichischer Philosophie« im Wien der Monarchie nennen, dann kann man mit Carl Siegel sicherlich einen Trend zum Objektivismus und Realismus aus erkenntnistheoretischer und logischer Sicht erkennen.5 Die Inhalte und Konturen all dieser Strömungen werden im Rahmen von Schulen, Institutionen und sozialen Bewegungen verständlicher, die eine stärkere Präsenz und Relevanz der Philosophie im Rahmen der Fakultät und Universität bis zur Jahrhundertwende spiegeln.6
4 Kant 1798/1968: Streit; Zur Diskussion von Kants Spätschrift Gerhardt 2005: Kant. 5 Siegel 1930: Philosophie. 6 Dazu allg.: Meister 1927: Geschichte; Meister 1937: Werden; Wieser 1950: Geschichte; Bauer 1966: Der Idealismus sowie die umfangreichen Bände von Benedikt 1992 ff.: Humanismus; Acham 1999 ff.: Humanwissenschaften.
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Neubeginn und Aufbruch in der Ersten Republik Mit den gleichzeitigen Besetzungen von drei Lehrkanzeln im Jahre 1922 wurde nach den Vakanzen während des Ersten Weltkriegs (von Adolf Stöhr abgesehen) ein Aufschwung erreicht, der bis in die Zeit des austrofaschistischen Ständestaats die Weltgeltung der Wiener Philosophie und Psychologie begründete. Denn mit dieser einmaligen Initiative wurde die eingeschlagene Richtung seit Mach und Boltzmann mit Moritz Schlick weitergeführt, der bis zu seiner Ermordung an der Universität im Juni 1936 zum Zentrum des weltberühmten Wiener Kreises werden sollte, und dazu auch als Vorsitzender des Vereins Ernst Mach (1928 – 1934) wirkte. Andererseits wurde die aufkommende experimentelle und Kognitionspsychologie mit Karl Bühler und seiner Frau Charlotte Bühler bis 1938 institutionalisiert. Schließlich ist durch Robert Reininger die Geschichte der Philosophie und die transzendentalphilosophische Tradition, auch im Rahmen der Wiener Philosophischen Gesellschaft und der Österreichischen Kant-Gesellschaft, weiter systematisch gepflegt worden. Die Geschichte der antiken Philosophie hat durch Heinrich Gomperz mit dem vierten Lehrstuhl ab 1924 eine weitere Stärkung erfahren, bevor dieser seine Position als Gegner des Schuschnigg-Regimes vorzeitig verlassen musste. Sein Ordinariat wurde 1935 in ein Extraordinariat umgewandelt, auf das für zwei Jahre bis zum »Anschluss« der aus München gekommene katholische Philosoph Dietrich von Hildebrand ernannt wurde. In der Nachfolge Schlick wurde Alois Dempf berufen, der diese Professur von 1937 – 1938 bis zur Entlassung durch die Nationalsozialisten bekleidete. Dies bedeutete eine bewusste radikale Änderung der Tradition und Denomination von Schlicks Professur für Naturphilosophie hin zu einer katholisch orientierten Metaphysik und christlichen Weltanschauungslehre – eine Richtung, die nach 1945 durch die Rückkehr Dempfs und danach durch Leo Gabriel wieder eine personelle und inhaltliche Kontinuität aufweist. Von den in der Zwischenkriegszeit habilitierten Privatdozenten seien hier Sigmund Kornfeld, Hans Eibl, Karl von Roretz und Rudolf Carnap genannt, der zusammen mit Schlick zum Kern des Wiener Kreises zählte, bevor er 1931 nach Prag berufen wurde. Schlicks Student und langjähriger Mitarbeiter Friedrich Waismann konnte als Bibliothekar ohne Anstellung am Institut bis 1936 arbeiten, obwohl er regelmäßig Lehrveranstaltungen abhielt und zu einem tragenden Mitglied des Wiener Kreises, u. a. als Gesprächspartner von Ludwig Wittgenstein, zählte.7 Wenn wir konkret das Fach Philosophie auf der Wiener Universität be-
7 McGuinness 1984: Wittgenstein.
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trachten,8 so war von den insgesamt 22 Lehrenden in der Zeit von 1918 bis 1938 die wissenschaftliche und analytische Philosophie durch Moritz Schlick als Ordinarius von 1922 bis 1936, Rudolf Carnap als Privatdozent und Titularprofessor von 1926 bis 1931 und Viktor Kraft als Privatdozent und Titularprofessor von 1914 bis 1938 vertreten. Am häufigsten wurde die Geschichte der Philosophie gelehrt, die zusammen mit Ethik auch die größten HörerInnenzahlen aufweisen konnte. Eine wichtige begleitende Institution war die bereits erwähnte »Philosophische Gesellschaft an der Universität Wien«, ab 1927 zugleich Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft.9 Bei ihr, wie auch bei den Wiener Internationalen Hochschulkursen, waren etwa ein Siebtel der Vorträge der wissenschaftlichen Philosophie zuzuordnen.10
Zur Philosophie im Austrofaschismus und Nationalsozialismus Die Ermordung Schlicks am 22. Juni 193611 bedeutete das faktische Ende des damals schon weltberühmten Wiener Kreises und der sprachanalytischen Philosophie in Österreich, bevor der Nationalsozialismus einen endgültigen gewaltsamen Schlussstrich unter diese philosophische Bewegung zog.12 Die Folgen der Zerstörung und Vertreibung dieser Wissenschaftskultur durch die antisemitischen Kräfte an der Universität Wien waren noch lange in der Zweiten Republik wirksam.13 Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im März 1938 kam es zu Entlassungen und Vertreibungen im Geiste des rassistischen Führerstaates, auch mithilfe von Angehörigen der Universität Wien. Vor dem »Anschluss« existierten am Institut für Philosophie drei Lehrkanzeln:14 Alois Dempf, Robert Reininger und Karl Bühler.15 Die Veränderungen aufgrund der nationalsozialistischen Machtübernahme nach dem März 1938 signalisieren einerseits den Versuch einer politischen und weltanschaulichen »Gleichschaltung«, sind andererseits auch Ausdruck einer polykratischen
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Wieser 1950: Geschichte 158, 231 und 235 ff. Reininger 1938: 50 Jahre, 21 – 43. Gabriel 1972: Hochschulkurse, 8 und 14. Zur Ermordung Schlicks vgl. Lotz 2009: Mord. Zur Selbstdarstellung vgl. Mohler 1972: Revolution; Zur Vertreibung der WissenschaftsphilosophInnen: Stadler 2010: Vertreibung; zur Emigration allgemein: Stadler et al. 1995: Cultural Exodus. 13 Stadler 2005; Pasteur et al. 2003/04: Exil. 14 Eine gute Übersicht liefert Benetka 1995: Psychologie, 338 ff. 15 Da im Rahmen dieses Bandes die Psychologie und Pädagogik nicht explizit behandelt werden, sei auf die vorhandene diesbezügliche Literatur verwiesen: Brezinka 2000: Pädagogik sowie R. Olechowski in diesem Band.
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Wissenschaftspolitik des Nationalsozialismus im Spannungsfeld zwischen Berlin und der »Ostmark«.16 Alois Dempf, Ordinarius für christliche Philosophie, wurde die Lehrbefugnis entzogen und aus politischen und weltanschaulichen Gründen in den Ruhestand versetzt. Karl Bühler, Begründer der Wiener Schule der Kognitions-, und Gestaltpsychologie, wurde wegen seiner Tätigkeit im »Roten Wien« und wegen seiner jüdischen Frau Charlotte Bühler ebenfalls entlassen und zur Emigration in die USA gezwungen.17 Da sein langjähriger Mitarbeiter Egon Brunswik bereits ein Jahr zuvor ebenfalls in die USA nach Berkeley emigriert war, wohin ihm auch seine spätere Frau Else Frenkel-Brunswik folgen sollte, kann man im Falle der Bühler-Schule von einem totalen Bruch an der Wiener Universität sprechen, der auch das Ende einer innovativen Kooperation zwischen Philosophie und Psychologie (Karl Bühler und Moritz Schlick) sowie der akademisch nicht etablierten Psychoanalyse und empirischen Sozialforschung (im Rahmen der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle) bedeutete.18 In der NS-Zeit begann auch die Karriere von Hubert Rohracher, der – ähnlich wie Richard Meister in der Pädagogik – für die Psychologie und für die universitäre Politik bis weit in die Zweite Republik wirkte. Der Sprachpsychologe Friedrich Kainz wurde nach dem »Anschluss« zum provisorischen Leiter des Psychologischen Instituts bestellt und erhielt am 1. November 1939 als Nachfolger des im März entlassenen und später in die USA emigrierten Dietrich von Hildebrand das frei gewordene Extraordinariat als a.o. Prof. für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik und Sprachpsychologie.19 Kainz ist ein typisches Beispiel für einen Opportunisten mit beruflichem Aufstieg in der Zweiten Republik,20 der von 1950 – 1968 als Ordinarius für Sprachpsychologie, Ästhetik, Kunstphilosophie und Geschichte der Philosophie wirkte.21 Durch die Besetzung der beiden philosophischen Lehrstühle mit Gunther Ipsen und Arnold Gehlen sollte schließlich die Neustrukturierung im nationalsozialistischen Geiste realisiert werden: Das Ordinariat von Karl Bühler 16 Heiss 2003: Philosophie; Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien: [http://gedenkbuch.univie.ac.at] (7. Dezember 2014); Huber et al. 2011 und Huber 2012: Eliten/dis/kontinuitäten; Pfefferle 2014: Glimpflich entnazifiziert. 17 Zur Entlassung und dramatischen Emigration der beiden Bühlers vgl. Ash 2004: Psychologen; Eschbach et al. 2004: Karl Bühler. Zu den Folgen der NS-Herrschaft für die Psychologie in Österreich allgemein: Benetka et al. 1988: Hochschulpsychologie, 147 – 167. 18 Zur Geschichte des von den Bühlers geleiteten Pädagogischen Instituts der Stadt Wien, der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle und der Psychoanalyse um Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda: Benetka 1990: Institutionalisierung. 19 Zu Kainz im Detail vgl. Heiss 1993: Möglichkeiten, 145 f. 20 Tilitzki 2002: Universitätsphilosophie, 778 ff. 21 Zum wissenschaftlichen Werk von Kainz: Gelbmann 2004: Sprachphilosophie; Levelt 2014: A History of Psycholinguistics.
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wurde mit dem aus Königsberg kommenden SA- und NSDAP-Mitglied Ipsen am 22. Mai 1939 als Professor für »Philosophie und Volkslehre« besetzt, der im September 1943 auch zum Direktor des Instituts für Psychologie ernannt wurde. Die Erwartungshaltung an eine neue Philosophie im Sinne der NS-Expansionspolitik im Osten und Südosten scheint genauso eine Rolle gespielt zu haben, wie Ipsens fächerübergreifende Perspektive für die bevölkerungspolitischen Ambitionen des NS-Staates. Da Ipsen nach Kriegsausbruch zum Militär eingezogen wurde, blieb sein Wirkungsbereich hinsichtlich der erwarteten philosophischen und soziologischen Unterstützung der »Ostforschung« bis 1945 beschränkt, als er wie alle »Reichsdeutschen« an der Universität Wien entlassen wurde. Die Nachfolge von Robert Reininger, der 1939 emeritierte, trat schließlich ab 1. November 1940 der Philosoph und Soziologe Gehlen an, der seit 1938 den »Kant-Lehrstuhl« in Königsberg innegehabt hatte, danach vom Reichserziehungsministerium nach dem »Anschluss« mit der Reorganisation der Philosophie und der Institute der Philosophischen Fakultät in Wien beauftragt wurde. Zugleich übernahm er die Direktorenstelle des Psychologischen Instituts im April 1940 und 1942 die des Instituts für Philosophie. Er vertrat die philosophische Anthropologie und soziologische Ausrichtung im Kontext der neuen »Volksforschung«. Die a.o. Professur von Hans Eibl wurde beibehalten, obwohl dieser mithilfe des Dekans Viktor Christian stark auf eine Umwandlung in ein Ordinariat drängte. Aufgrund seiner starken Involvierung in den Nationalsozialismus wurde Eibl nach 1945 vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Am Beginn der Zweiten Republik sind die nicht emigrierten, vor 1938 aktiven Philosophen reaktiviert und nach einer verzögerten und ab 1948 eingestellten Entnazifizierung die während der NS-Zeit aktiven Mitglieder des Instituts rehabilitiert und wieder in den Dienst gestellt worden – wie die aufsteigenden Karrieren von Erich Heintel und Friedrich Kainz zeigen. Zwischen klerikaler Restauration und gescheiterter Entnazifizierung, die dem allgemeinen zeitgeschichtlichen Trend entsprach, wurde der Boden für eine konservative Restauration und Provinzialisierung der Philosophie bereitet.
Die Philosophie in der Zweiten Republik zwischen Provinzialisierung und Internationalisierung Eine Charakterisierung der »Königsdisziplin« Philosophie, samt Psychologie und Pädagogik, an der Universität Wien in der ersten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg kann – analog zur allgemeinen politischen und kulturellen Entwicklung am Beginn der Zweiten Republik – als Phänomen zwischen Kontinuität und
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Bruch beschrieben werden.22 Die Philosophische Fakultät war sehr lange eine wichtige universitäre Organisationseinheit im fakultären Kräftespiel und hatte darüber hinaus mit dem obligatorischen Philosophicum und den allgemeinen Vorgaben in der Ausbildung für LehrerInnen an Mittelschulen mehr als nur eine fachspezifische Bedeutung.23 Hier wurde »Wissenschaft und Weltbild« gelehrt und vermittelt, wie eine einschlägige Zeitschrift programmatisch im Titel signalisierte. Mit der »Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie und Pädagogik« ist das Fächerbündel, welches auch das entsprechende Lehramtsstudium für das Unterrichtsfach an Gymnasien (»Philosophischer Einführungsunterricht«) bezeichnete, durch ein weiteres Periodikum präsent gewesen. Allein die Biografien der wichtigsten Herausgeber dieser beiden Zeitschriften, nämlich Alois Dempf und Leo Gabriel einerseits, sowie Richard Meister und Hubert Rohracher andererseits, lassen auf personeller Ebene die Entwicklung dieser Disziplinen von der Ersten zur Zweiten Republik rekonstruieren. Hier sind wir mit einer beachtlichen Eliten-Kontinuität konfrontiert. Diese hängt mit den Phänomenen der erzwungenen Emigration und der nicht erfolgten Remigration im Kontext von halbherziger Entnazifizierung und Kaltem Krieg zusammen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Disziplinen erfolgte relativ spät,24 nachdem eine stärkere Beschäftigung im Zusammenhang mit der Exil- und Emigrationsforschung provoziert worden war.25 Was nun den damit korrelierenden Bruch anlangt, so hat die einschlägige Forschung bereits wesentliche Befunde zutage gefördert: im Kontext der »Vertriebenen Vernunft« erfolgte die Exilierung und Zerstörung von innovativen Strömungen wie dem Wiener Kreis oder der Schule der Entwicklungs-, Gestalt-, und Kognitionspsychologie, die bis heute internationale Weltgeltung besitzen.26 Nur vor dem Hintergrund dieser doppelten Wissenschaftsgeschichte kann eine angemessene Beschreibung der Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Wien in der Phase des »Wiederaufbaus« seit der so genannten »Stunde Null« gelingen. Dabei ist die kaum erfolgte Remigration in eine Gesamtbeurteilung genauso mit einzubeziehen, wie die damit zusammenhängende »zweite Welle« der Emigration einer jüngeren Philosophengeneration aus Wien aufgrund der Dominanz einer klerikal-konservativen Kultur.27 Aus der Gender-Perspektive ist hier anzumerken, dass – zum Unterschied von 22 Stadler 1988/2004a: Kontinuität und Bruch. 23 Zum Doktorat der Philosophie und Philosophicum: Meister 1958: Geschichte des Doktorates. 24 Fischer et al. 1993: Anschluß. 25 Stadler 1988/2004b: Vertriebene Vernunft. 26 Ash 1995: Gestalt Psychology ; Ash et al. 1996: Forced Migration; Benetka 1995: Psychologie; Stadler 1997/2001: Studien. 27 Pasteur et al. 2003/04: Exil; Österreich – Geistige Provinz? 1965.
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der exilierten Philosophie – im heimischen philosophischen Betrieb der Frauenanteil nach 1938 und 1945 praktisch null war. Das hing u. a. damit zusammen, dass vor dem »Anschluss« der Anteil von Philosophen und Philosophinnen jüdischer Herkunft an der zwangsemigrierten Philosophie relativ hoch gewesen ist.28 Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind in der zeitgeschichtlichen Forschung bereits als Restauration im Zeichen des Gründungsmythos beschrieben worden.29 Selbstverständlich stellen der gesamtuniversitäre Kontext sowie die allgemeine Lage der Philosophie, Pädagogik und Psychologie in Österreich insgesamt einen spezifischen Bezugsrahmen dar.30 Hier können nur die wichtigsten Entwicklungen behandelt werden:31 Alois Dempf, der auch nach seiner Zwangspensionierung eine Zeit lang publiziert hatte,32 konnte nach dem Krieg seine Tätigkeit in Wien fortsetzen. Im Jahre 1948 wurde er an die Universität München berufen, wirkte aber in Wien noch einige Jahre als Gastprofessor weiter. Sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl wurde 1951 der bereits im Austrofaschismus als Kulturfunktionär, Lehrer und Volksbildner aktive, und seit 1947 habilitierte Leo Gabriel, der für eine Kontinuität des politischen Katholizismus auf Hochschulboden sorgte und mit seiner an Othmar Spann angelehnten Ganzheitsphilosophie – z. B. seine Schrift Führertum und Gefolgschaft (1937) – sowie der allumfassenden »integralen Logik« die Philosophie für einige Jahrzehnte in Wien prägen sollte.33 Die Karriere von Friedrich Kainz setzte sich, wie erwähnt, nach 1945 bis zum Krisenjahr 1968 kontinuierlich fort.34 Als einziges Mitglied des Wiener Kreises konnte Viktor Kraft nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten seine Lehr- und Forschungstätigkeit nach 1945 wieder aufnehmen. Im Jahre 1945 erfolgte die Reaktivierung in der Universitätsbibliothek, bevor er 1947 als Generalstaatsbibliothekar in den Ruhestand ging. Im Alter von 67 Jahren wurde Kraft 1947 zum a.o. Prof., und von 1950 – 1952 für knapp zwei Jahre bis zu seiner Emeritierung letztlich noch zum Ordinarius für Philosophie ernannt. In dieser Zeit machte Erich Heintel Karriere. Er habilitierte sich nach dem »Anschluss«, wurde 1940 Mitglied der NSDAP und »Dozent neuer Ordnung« für Philosophie (Metaphysik, Erkenntnistheorie, Wertlehre und Ethik). Nach einer 28 Frauen im Exil 2005; Stadler 1998: Wiener Kreis. Korotin1997: Auf eisigen Firnen; Vgl. den Beitrag von Ingrisch in Band I dieser Reihe. 29 Hanisch 1994: Schatten. 30 Preglau-Hämmerle 1986: Funktion, 197 ff.; Gabriel et al. 1968: Philosophie; Haller 2004: Entwicklung; Acham 2004: Humanwissenschaften 6.1; Benedikt et al. 2005: Humanismus 5. 31 Korotin 1993/94: Philosophen/ Geister ; Leaman 1993/94: Heidegger / Universitätsphilosophen. 32 Heiss 1993: Möglichkeiten, 138 ff. 33 Zu Gabriels Selbstdarstellung vgl. Lotz-Rimbach 2004: Biografie. 34 Heiss 1993: Möglichkeiten, 145 f.; Rathkolb et al. 2010: Das Jahr 1968.
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Unterbrechung aus politischen Gründen (als Belasteter im Entnazifizierungsverfahren) konnte er im Wintersemester 1949/50 wieder Lehrveranstaltungen anbieten, nachdem er 1948 erfolgreich um Wiederverleihung der Venia angesucht hatte.35 Im Jahre 1952 wurde er zum a.o. Professor, 1960 zum Ordinarius ernannt. Mit Gabriel und Heintel wurde an der Universität Wien einerseits die christliche Existenz-Philosophie, andererseits der deutsche Idealismus auf der Basis protestantischer Theologie institutionalisiert. Die Polarisierung des Kulturkampfs der Zwischenkriegszeit findet hier eine Art Fortsetzung: aus der Sicht von Gabriel und Heintel waren sowohl der Marxismus als auch der Positivismus »Labyrinthe der Philosophie«, was auch der Einstellung des damaligen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel entsprach.36 Wiener Kreis, Reine Rechtslehre und Psychoanalyse wurden weiterhin als Manifestationen eines »verjudeten« Liberalismus und Sozialismus betrachtet. So ergibt sich nach 10 Jahren »Wiederaufbau« das Bild einer quantitativen Erweiterung des klassischen philosophischen Lehrbetriebes bei gleichzeitiger Kontinuität und Stabilisierung im Spannungsfeld zwischen »verdrängtem Humanismus und verzögerter Aufklärung«.37 Der Versuch einer unmittelbaren Anknüpfung an die wissenschaftliche Philosophie der Ersten Republik um den kurzfristig reaktivierten Viktor Kraft blieb aus mehreren Gründen episodisch.38 Kraft holte den jungen amerikanischen Philosophen Arthur Pap als Gastprofessor im Studienjahr 1953/54 nach Wien. Dieser war ein Pionier der analytischen Philosophie der Nachkriegszeit und hatte den vergeblichen Versuch unternommen, die Wiener Philosophie wieder an das internationale »Goldene Zeitalter der österreichischen Philosophie«39 anzuknüpfen. Zu diesem Zwecke engagierte er den hochbegabten Wiener Philosophen Paul Feyerabend, der ihn bei der Publikation seines Buches »Analytische Philosophie. Kritische Übersicht über die neueste Entwicklung in den USA und England« unterstützte, das dem Wiener Kreis zum Andenken und zur Wiederbelebung im Wiener Springer Verlag 1955 erschien. Für Feyerabend bedeutete der Kraft-Kreis des Österreichischen College 1949 – 1953 mit regelmäßigen Treffen – u. a. mit einer persönlichen Begegnung mit Ludwig Wittgenstein – sowie der Arbeitskreis am Wiener Institut für Wissenschaft und
35 Vgl. Knoll 1986: Entnazifizierung, 278; UAW, PhF, FSP 16.10.48. Dazu Weiss 2009: Der frühe Heintel. 36 Topitsch 1967: Philosophie; König 2013: Heinrich Drimmel; Nemeth 1993: Orthodoxie. 37 Benedikt et al. 2005: Humanismus, 5. 38 Fischer et al. 2006: Paul Feyerabend. 39 Fischer 1995: Zeitalter.
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Kunst den Ausstieg aus der österreichischen Provinz und den Beginn seiner internationalen Karriere.40 Dieser kurze Erneuerungsversuch ist typisch für das Jahrzehnt des »Wiederaufbaus« – eine Situation, die Ernst Topitsch, ein weiteres ehemaliges Mitglied des Philosophischen Instituts, als »Österreichs Philosophie – Zwischen totalitär und konservativ« (1967) charakterisiert hat.41 Darin kritisiert der Gomperz-Schüler im Sinne seines Buchs »Vom Ursprung und Ende der Metaphysik« (1958) die weltanschaulich gebundene Philosophie des politischen Katholizismus und die naturrechtliche Variante der christlichen Weltanschauungslehre. Topitsch selbst folgte, irritiert von der Wirklichkeits- und Weltanschauungsphilosophie, im Jahre 1962 einem Ruf auf einen Lehrstuhl nach Heidelberg, bevor er ab 1969 in Graz bis zu seinem Tode 2003 wirkte.42 Ein weiteres Mitglied des Kraft-Kreises war Bela Juhos, der es an der Universität Wien trotz internationaler Reputation nur zu einem Privatdozenten für theoretische Philosophie mit dem Titel eines a.o. Professors brachte und ein weiteres Beispiel für die Marginalisierung der wissenschaftlich orientierten Philosophie darstellt. Der »Fall Juhos«, ausgelöst durch dessen Artikel »Gibt es in Österreich eine wissenschaftliche Philosophie?« (1965), führte im November 1965 sogar zu einer parlamentarischen Anfrage an den damaligen Unterrichtsminister (Theodor Piffl-Percevic), die durch den derzeitigen Bundespräsidenten Heinz Fischer zum Anlass für eine Veröffentlichung zum Problem »Freiheit der Wissenschaft in Österreich« genommen wurde. Juhos blieb in Wien ein »Denker ohne Wirkung«, obwohl er wesentliche Beiträge zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geliefert hatte.43 Neben den traditionellen Bereichen der Philosophie, Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und Logik konnte sich die moderne (symbolische) Logik im Anschluss an Gottlob Frege, Bertrand Russell, Alfred North Whitehead und vor allem an den weltberühmten Kurt Gödel in Wien erst spät durch ein separates Institut für Logistik unter Curt Christian institutionalisieren. In den 1980er Jahren wurde es durch ein eigenes – inzwischen wieder aufgelöstes – Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung ergänzt. 44 Vor diesem Hintergrund erscheint die »autochthone Provinzialisierung«45 als eine bewusste 40 Topitsch 1960: Probleme; Feyerabend et al. 1966: Mind, 3; Stadler 2010: Vertreibung, Transformation und Rückkehr. 41 So wurde statt der Realisierung einer attraktiven Dreierliste für eine ao. Professur (1. Friedrich Waismann und Karl F. von Weizsäcker, 2. Bela Juhos, 3. Erich Heintel) Erich Heintel berufen. Vgl. Reiter 2011: Bela Juhos, 77 – 84. 42 Aufklärung und Kritik 2004. 43 Schleichert 1971: Denker. 44 Stadler 2012: Wissenschaftstheorie. 45 Fleck 1996: Provinzialisierung.
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Immunisierungsstrategie der wissenschaftlichen und politischen Eliten. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass eine vielversprechende jüngere Generation von Philosophen aufgrund dieser strukturellen Defizite ins Ausland ging oder Wien verließ: neben den bereits genannten Feyerabend und Topitsch z. B. auch Heinz von Foerster, Werner Leinfellner, Hubert Schleichert, Heinrich Kleiner – nicht zuletzt der in Deutschland einflussreiche Österreicher Wolfgang Stegmüller.46 In Wien hat erst seit den 1970er Jahren der Remigrant Kurt Rudolf Fischer, ein Studienkollege Feyerabends in Berkeley, durch seine langjährige Tätigkeit als Gast- und Honorarprofessor am Philosophischen Institut, vor allem durch seine Kontakte mit der anglo-amerikanischen analytischen Philosophie zu einer langsamen Internationalisierung und Pluralisierung beigetragen.47 Leo Gabriel startete seine Karriere in der Zweiten Republik kurioserweise mit der Übernahme des früheren Lehrstuhles von Schlick im Jahr 1951. Die Parole lautete nun »integrale Logik und Universalismus« als »Wahrheit des Ganzen«. Dass dieses philosophische Programm nicht nur persönliche Meinung geblieben ist, zeigt die symptomatische Wirkungsgeschichte in den nachfolgenden Dezennien: Gabriel konnte 1968 im Rahmen des internationalen Philosophenkongresses in Wien die integrale Philosophie sozusagen zur Staatsphilosophie deklariert bekommen. So ergibt sich eine Kontinuität, die einerseits an den politischen Katholizismus und Universalismus des Ständestaates mit »integraler Logik« anknüpfte, andererseits eine Remigration der vertriebenen Philosophen verhinderte. Wenn man dazu noch die Nachkriegskarriere von Erich Heintel als Vertreter des transzendentalphilosophischen Idealismus in Betracht zieht, kann weder die internationale Randlage der Wiener Philosophie in den ersten Dekaden nach 1945, noch die fortgesetzte Exilierung der vertriebenen Philosophen überraschen. Diese Bipolarität ist noch durch die Schüler der beiden genannten Ordinarien tradiert worden, bis seit den 1970er Jahren eine Öffnung und Pluralisierung am Philosophischen Institut eingetreten ist. Die Entwicklung nach dem großen Philosophenkongress 1968 in Wien, mit den nachfolgenden Emeritierungen von Gabriel (1972) und Heintel (1982) führte zu einem Ende der dualen Dominanz beider Ordinarien mit den von ihnen etablierten zwei getrennten Instituten der Philosophie seit dem UOG 1975. Sie ist durch die Etablierung der zweiten Generation der beiden Ordinarien und mit zusätzlichen Berufungen und Ernennungen gekennzeichnet, was in diesem Rahmen vorwiegend durch die Berufungen skizziert werden kann: Der aus Deutschland berufene Karl Ulmer wirkte in der Nachfolge von Kainz für rund zehn Jahre ab 1970 als hermeneutischer Philosoph mit einem Fokus auf im46 Stadler 2010: Vertreibung. 47 Diem-Wille et al. 2002: Weltanschauungen.
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manente Textinterpretation und rationale Argumentation. Ihm folgte 1982 der am Institut habilitierte Hans Dieter Klein, der den deutschen Idealismus und die Transzendentalphilosophie in Richtung systematische Philosophie weiter pflegte. Ebenfalls aus dieser Generation kam Herta Nagl, die eine Erweiterung des klassischen Kanons hin zur Geschichtsphilosophie und feministischen Philosophie vollzog. Aus Deutschland wurde Hans-Dieter Bahr als Nachfolger Heintels berufen, der jenseits der philosophischen Tradition vor allem eine postmoderne Philosophie der Technik vertrat. Auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Hermeneutik wurde Norbert Leser berufen, der neben seinem Schwerpunkt Austromarxismus die katholische Soziallehre im Kontext österreichischer Geistesgeschichte behandelte. Der von Gabriel kommende Peter Kampits hat mit einem Fokus auf (angewandte) Ethik sowie auf französische Existenzphilosophie und österreichische Philosophie eine Abkehr vom Programm seines Mentors vollzogen. Ab 1976 vertrat Michael Benedikt als Ordinarius bis zu seiner Emeritierung die kantianische Tradition und verknüpfte Phänomenologie mit kritischer Anthropologie. Er erwarb sich besondere Verdienste mit der Publikation der voluminösen sechsbändigen Buchreihe »Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung« zur Philosophie in Österreich von 1400 bis zur Gegenwart.48 Daneben wirkte Johann Mader als Professor von 1971 bis 1996 im Sinne der deutschen Transzendentalphilosophie und klassischen Philosophiegeschichte. In dieser Phase wurde auch die heute noch stark vertretene Phänomenologie besonders durch Günther Pöltner und Helmuth Vetter aufgebaut und etabliert. Nicht zuletzt sei hier Franz Martin Wimmer genannt, der in Wien den bis heute existierenden Schwerpunkt der interkulturellen Philosophie nachhaltig entwickeln konnte. Daneben wirkt(e) eine Reihe von VertreterInnen des »Mittelbaus«, mit Habilitation als »außerordentliche ProfessorInnen«.49 Im Bereich der Wissenschaftsphilosophie und analytischen Philosophie ist eine Wiederanknüpfung und Weiterentwicklung an bzw. der großen Tradition in der Zwischenkriegszeit mit Wittgenstein- und Wiener Kreis-Forschung erkennbar, die schon zuvor an den übrigen österreichischen Universitäten eingesetzt hatte.50 Im Jahre 1972 übernahm der von Heintel gekommene Erhard Oeser den neu eingerichteten Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie. Im Rahmen des großen Internationalen Kongresses 1968 war die Wissenschaftstheorie noch marginal vertreten, was durch die damalige Bestands48 Zuletzt Benedikt et al. 2010: Humanismus, 6. 49 U. a. Alfred Pfabigan, Wolfgang Pircher, Josef Rhemann, bzw. von den aktiven MitarbeiterInnen mit großteils unbefristeten Verträgen Arno Böhler, Sophie Loidolt, Klaus Puhl, Anja Weiberg und Walter Zeidler. Insgesamt zählte das Institut für Philosophie Ende 2013 mit 46 MitarbeiterInnen (inkl. Projekte). 50 Stadler 2012: Wissenschaftstheorie.
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aufnahme der Philosophie in Österreich im internationalen Vergleich bestätigt wird.51 Es war daher nicht zufällig, dass sich seit 1983 im Wiener Institut die moderne analytische Richtung nur im Rahmen einer informellen Arbeitsgruppe für sprachanalytische Philosophie (durch Richard Heinrich, Herbert Hrachovec, Ludwig Nagl und Elisabeth Nemeth) manifestierte, die vor allem durch den Gast- und Honorarprofessor Kurt Rudolf Fischer bereichert worden ist.52 Eine institutionelle Ausweitung erfolgte mit der Gründung des Instituts für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung im Jahre 1986, welches neben dem Ordinariat Oesers noch die zwei Professuren von Helga Nowotny für vergleichende Wissenschaftsforschung und von Friedrich Wallner für Epistemologie und Kognitionsforschung aufwies. Außerhalb des Instituts für Philosophie existierte von 1967 bis 1990 das Institut für Logistik an der Philosophischen Fakultät. Unter der Leitung von Curt Christian.53 Nach einer mehrjährigen Vakanz wurde 1999 das Institut für formale Logik unter Sy-David Friedman errichtet, das ab 2004 als »Gödel Research Center for Mathematical Logic« im Bereich der mathematischen Logik als ein Forschungszentrum im Rahmen der Fakultät für Mathematik etabliert ist. Inzwischen ist die moderne Philosophie der Logik und Mathematik inkl. Wittgenstein-Forschung auch am Institut für Philosophie u. a. durch Esther Ramharter vertreten. Das Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung (mit Erhard Oeser, Friedrich Wallner, Mona Singer und Markus Peschl) wurde im Jahre 2007 in das Institut für Philosophie eingegliedert. Letzterer hat einen interdisziplinären Schwerpunkt »Cognitive Science« mit einem Masterprogramm und einer Forschungsplattform eingerichtet.54 Ulrike Felt, Nachfolgerin von Helga Nowotny an dem aufgelassenen Institut, leitet inzwischen das Institut für Wissenschaftsforschung im Rahmen der Fakultät für Sozialwissenschaften. Nach der Emeritierung von Erhard Oeser wurde dessen Professur im Jahre 2009 mit dem aus Cambridge (UK) berufenen Martin Kusch besetzt, der seitdem als »Professor für Angewandte Wissenschaftstheorie und Theorie des Wissens« tätig ist und inzwischen mit einem fünfjährigen ERC Advanced Research Grant über Relativismus ausgezeichnet wurde. Zuvor hatte die Professorin für Praktische Philosophie Herlinde Pauer-Studer bereits einen renommierten ERC 51 Gabriel et al. 1968: Philosophie. Zur Geschichte des Instituts für Philosophie in der NS-Zeit und am Beginn der Zweiten Republik vgl. Fischer et al. 1993: Anschluß; Stadler 2005: Philosophie. Allgemein zur Philosophie in Österreich: Benedikt et al. 2005: Humanismus 5 und Benedikt et al. 2010: Humanismus 6. Außerdem: Acham 2004/06: Humanwissenschaften, 6. 52 Diem-Wille et al. 2002: Weltanschauungen. 53 Von 1980 bis 1997 wurde ein Diplomstudium für Logistik angeboten. 54 Middle European Interdisciplinary Joint Master Program in Cognitive Science, Peschl ist Leiter der Forschungsplattform »Cognitive Science« an der Universität Wien.
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Advanced Research Grant über »Distortions of Normativity« erhalten, der zugleich die analytische Richtung in der Ethik und politischen Philosophie wesentlich internationalisierte. Im Jahre 2008 wurde Friedrich Stadler auf die neu geschaffene fakultätsübergreifende Doppelprofessur für »History and Philosophy of Science« berufen und das von ihm 1991 begründete Institut Wiener Kreis 2011 auch als Institut an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft eingerichtet. Durch weitere Neuberufungen sind die Professuren für Europäische Philosophie (Violetta Waibel), Theoretische Philosophie (vorübergehend Sven Bernecker, derzeit wieder in Besetzung), Politische Philosophie und Sozialphilosophie (Hans Bernhard Schmid), Interkulturelle Philosophie (Georg Stenger), Angewandte Ethik (Angela Kallhoff) sowie Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik (Konrad Paul Liessmann) besetzt worden. Eine interuniversitäre Professur für Ethik der Mensch-Tier-Beziehung wird seit 2011 von Herwig Grimm teilweise auch an der Philosophie wahrgenommen. Damit entwickelte sich das Institut für Philosophie zu einem der größten im deutschsprachigen Bereich. Die Besetzung einer Professur für Philosophie der Technik und Medien ist im Gange und die einer Professur für analytische Philosophie wird noch folgen. Die erfolgten und künftigen Berufungen eröffnen Spezialisierungen und Pluralisierungen zwischen kontinentaler und analytischer, praktischer und theoretischer Philosophie sowie eine fächer- bzw. länderübergreifende Vernetzung mit zunehmender Präsenz auch von Philosophinnen, was angesichts der wechselvollen Geschichte des Instituts von der Ersten zur Zweiten Republik Anlass für Optimismus gibt.55
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Touching the Past – Archäologie und Urgeschichte in Wien seit 1892**
Prähistorische Archäologie wurde seit 1892 als junge eigenständige Disziplin an der Universität Wien etabliert, etliche Jahre vor der eigentlichen Institutsgründung fanden schon erste Lehrveranstaltungen statt. In den folgenden rund 100 Jahren machte das Fach grundlegende Wandlungen durch, die von einigen Schlüsselpersonen getragen wurden. Deren Wirken soll im Folgenden nicht nur in Bezug auf die Fachentwicklung, sondern auch auf deren Einfluss auf die Interaktion unterschiedlicher Disziplinen an der Universität Wien thematisiert werden. Veränderungen der inhaltlichen Auslegung, Ausrichtung und der Setzung von Forschungsschwerpunkten werden auch greifbar, wenn man die Entwicklung der Institutsbenennungen betrachtet. Das erste Institut an der Universität Wien, das nicht der Klassischen Archäologie gewidmet war, wurde 1917 unter Moritz Hoernes als Prähistorisches Institut gegründet. Unter seinem Schüler und Nachfolger auf dem Lehrstuhl, Oswald Menghin, wurde es 1924 in Urgeschichtliche Institut umbenannt. 1963 erfolgte unter Richard Pittioni die Erweiterung in Institut für Ur- und Frühgeschichte und schließlich 2013 unter Claudia Theune in Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie. Anders als bei der Mathematik, der Physik, der Geographie und der Geschichte mit ihren klassischen Anfängen gehört es zum Wesen jüngerer Disziplinen, ihren Forschungsgegenstand im Laufe der Zeit neu zu definieren. 1988 schuf Herwig Friesinger im ehemaligen Gebäude der Hochschule für Welthandel, einem großen 1917 fertig gestellten Bau, der den Währinger Park überblickt, das »Archäologische Zentrum«. In diesem Gebäude sind heute auf mehr als fünf Stockwerken das Institut für Urgeschichte und Historische Ar* Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Universität Wien. **Unserer besonderer Dank geht an Daniela Kern für ihre sorgfältige Arbeit bei der Hilfe der Übersetzung des englischen Textes von T. Taylor, ebenso an Jakob Maurer für seine Anregungen. Zusätzlich möchten wir uns bei Gerhard Trnka, Sarah Wright und Otto Urban für Hintergrundinformationen und Diskussionen bedanken, sowie bei den Herausgebern und Gutachtern für ihre konstruktive Unterstützung.
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chäologie, das Institut für Klassische Archäologie, das Institut für Numismatik und Geldgeschichte und seit jüngster Zeit das Institut für Ägyptologie beheimatet. Dazu – unabhängig von der Universität – hat das Österreichische Archäologische Institut dort seine Räume. Die Verbindung von Synergien und Interdisziplinarität führte 1993 zur Gründung einer gut ausgestatteten Interdisziplinären Forschungseinrichtung für naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie (IDEA), seit 1998 Vienna Institut for Archaeological Science (VIAS). Ein wesentlicher Kern des Institutes für Urgeschichte und Historische Archäologie bildet die Studiensammlung. Ihren Grundstock stellt die aus dem 19. Jahrhundert stammende archäologische Sammlung von Matthäus Much dar, die in ihrem Originalinventar ca. 80.000 Objekte umfasste. Darunter sind auch wichtige Funde von Willendorf in der Wachau, dem Fundplatz der bekannten Frauenstatuette aus dem mittleren Spätpaläolithikum, aber auch kupferzeitliche Objekte aus der Mondseeregion oder dem urnenfelderzeitlichen Gräberfeld von Stillfried an der March. Bedeutend ist außerdem das Luftbildarchiv, hier werden über 110.000 Bilder von Befliegungen aufbewahrt. Damit ist es möglich, neue Fundstellen zu identifizieren; sie bilden des Weiteren eine wesentliche Grundlage für räumliche Analysen historischer und prähistorischer Landschaften. Zusätzlich werden an einem Ludwig Bolzmann Institut Archäologische Prospektionen und Virtuelle Archäologie erforscht. An der Rückseite der alten Welthandelsschule sind außerdem Depoträume und die Vienna-Lithothek (VLI), ein Archiv für Steinrohstoffe aus der ganzen Welt1, untergebracht. Gemeinsam mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gibt das Institut die Zeitschrift Archaeologia Austriaca2 heraus. Die Mitarbeiter sind zudem an der Herausgabe weiterer Fachzeitschriften wie dem Journal of World Prehistory3 sowie Historische Archäologie4 beteiligt. Im Folgenden werden die Entwicklungen in Wien von einem internationalen Standpunkt aus betrachtet, um größere internationale Zusammenhänge zu berücksichtigen und Einsichten zu den negativen und positiven Aspekten der älteren Forschungen zu gewinnen. Es ist grundsätzlich festzuhalten, dass das Erbe der in der Zwischenkriegszeit unter Menghin politisch instrumentalisierten Archäologie und Urgeschichte sowohl in der Lehre als auch der Forschung lange nachwirkte. In den letzten Jahrzehnten haben jedoch die Prozesse in der fachlichen Ausrichtung gemeinsam mit wesentlichen Beiträgen zur Forschungsgeschichte dazu beigetragen, dass wir heute die Geschichte und Ent1 2 3 4
Trnka/Taylor 2013: Institute, 117 – 122. [http://verlag.oeaw.ac.at/Reihen/Archaeologia-Austriaca] (11. November 2014). [link.springer.com/journal/10963] (11. November 2014). [http://www.histarch.uni-kiel.de/] (11. November 2014).
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wicklung des Faches klarer erkennen und unsere zukünftigen Forschungsziele besser definieren können. Moritz Hoernes (1852 – 1917) war der jüngere Sohn seines gleichnamigen Vaters (1815 – 1868), einem bekannten österreichischen Geologen. Dieser war wohl vertraut mit der neuen, damals revolutionären Denkweise in Bezug auf die großen geologischen Zeiträume, die um 1830 in England durch die New Geology unter Charles Lyell begründet worden war. Daher wuchs der junge Hoernes gemeinsam mit seinem Bruder Rudolf (1850 – 1912), der später ebenfalls Geologe wurde, mit dem Wissen über das wahre geologische Alter der Erde auf. Diese neue und radikale Lehre der New Geology war insofern wichtig, als frühere Gelehrtengenerationen, einschließlich Isaac Newton, getreu dem Buch Genesis der Bibel daran glaubten, dass die Erde nicht älter als 6000 Jahre sei, eine Zeitspanne, die nicht viel Raum für eine menschliche Urgeschichte ließ. Die neue Geologie errechnete eine ungeheuer lange Zeitspanne für die geologischen Zeitalter und die biologische Evolution des Menschen. Damit in Verbindung stand ein Zeitabschnitt für die Rekonstruktion einer historischer Erzählung, die weit vor die schriftlichen Überlieferungen zurückreichte. Die Schrift wurde, wie wir heute wissen, am Ende des 4. Jahrtausends vor Chr. erfunden, während der anatomisch moderne Mensch vor ungefähr 200.000 Jahren in Afrika entstand und werkzeugverwendende Hominide vor mehr als 2,5 Millionen Jahren erstmals auftraten. Nach 1492 kamen europäische Reisende vermehrt mit Stämmen, die keine Metalle kannten und deren einzige Werkzeuge aus Häuten, Holz, Knochen und Stein hergestellt waren, in Kontakt. Im frühen 17. Jahrhundert begannen Sammler wie der englische königliche Gärtner John Tradescant Senior, Objekte, von denen wir heute wissen, dass es Steinwerkzeuge waren, mit ethnographischen Artefakten zu vergleichen. Dieses neugewonnene Wissen erlaubte Tradescant eine systematische Unterscheidung zwischen Naturalia, also den Produkten der Natur, und den Artificialia, den durch Menschen hergestellten Dingen. In der Folge war John Frere 1797 in der Lage, bestimmte Feuersteinobjekte als »offensichtlich Kriegswaffen, hergestellt und benutzt von einem Volk, das noch kein Metall verwendete«5 zu beschreiben. Aber die »ethnologischen Parallelen« zwischen den rezenten Steinwerkzeugen und jenen aus den Schichten alter Ablagerungen bargen auch die Gefahr von falschen Schlussfolgerungen. Durch die Bewertung der technologischen Errungenschaften auf einer weltumspannenden Ebene zu einer Zeit, als Charles Darwins Theorie zum ersten Mal die evolutionären Unterschiede zwischen den Menschenaffen und den Menschen aufzeigte, war es nur allzu leicht, rezente Benutzer von Steinwerkzeugen als »moderne Wilde« oder »steinzeitliche 5 Frere 1800: Account, 204.
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Stammesgesellschaften« zu bezeichnen und somit auch anzunehmen, dass rezent beobachtbare soziale Gegebenheiten auf die Vergangenheit übertragbar seien. In der Zeit als Hoernes 1892 in Wien zu unterrichten begann, übte schon der Sozialdarwinist und Geograph Friedrich Ratzel (1844 – 1904) mit seinem 1895 zugleich in Leipzig und Wien publizierten Werk »Völkerkunde« großen Einfluss aus.6 Ratzel folgte in seinen Ideen Gustav Klemm (1802 – 1867) und anderen, die eine Ungleichheit der Rassen in Bezug auf ihre innovativen und intellektuellen Fähigkeiten vertraten, was damals unter dem Gesichtspunkt eines zumindest teilweise falsch verstandenen Darwinismus als Konkurrenzkampf zwischen den Rassen gesehen wurde. Im Vorfeld des 1. Weltkrieges lag der Fokus nun stärker auf der Betonung des »Genius« bestimmter Völker, wie es z. B. in den Schriften des Philologen und späteren Archäologen Gustaf Kossinnas (1858 – 1931) zum Ausdruck kommt. Kossinna war seit 1896 Mitglied im Alldeutschen Verband, durch den er enge Kontakte zu Ludwig Schemann hatte.7 Dieser war der Übersetzer von Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816 – 1882), dem französischen Rassentheoretiker, der die Unveränderlichkeit und Ungleichheit der bestehenden menschlichen Rassen propagierte und die Arier (später als Indoeuropäisch sprechende Nordeuropäer identifiziert) als »Herrenrasse« bezeichnete. Diese Denkweisen waren allgemein im Umlauf und wurden von Wissenschaftlern wie Kossinna, der seit 1902 außerordentlicher Professor für deutsche Archäologie an der Universität Berlin war, unterstützt und wurden ohne eine genaue kritische Überprüfung von Hoernes gebilligt. Die prähistorische Archäologie akzeptierte damit eine postulierte enge Verbindung zwischen kulturellen Errungenschaften und rassischer Zugehörigkeit. So wurde z. B. die Spätbronzezeit als besonderer Ausdruck der angeborenen arischen Überlegenheit gesehen. Ihren Höhepunkt fand diese Geistesrichtung in der 1911 erschienenen Publikation von Kossinna mit dem Titel »Die Herkunft der Germanen; Zur Methode der Siedlungsarchäologie«8. Er verknüpfte die ur- und frühgeschichtlichen Artefakte und Strukturen mit ethnischen Zuordnungen, um so eine Besiedlungsgeschichte für unterschiedliche Teile Europas zu erstellen. Die kontinuierliche Rückwärtsschreibung führte zu seiner Behauptung, schon in der Bronzezeit bzw. dem Neolithikum hätten Germanen zentrale deutsche, bzw. skandinavische Räume besiedelt. Im selben Jahr wies die Universität Wien das Ansuchen Hoernes’ zur Schaffung eines Lehrstuhls für »Urgeschichte des Menschen«9 ab. Das For6 7 8 9
Ratzel 1895: Völkerkunde. Grünert 2002: Kossinna, 240. Kossinna 1911: Herkunft. Felgenhauer 1965: Geschichte, 18.
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schungsgebiet entwickelte sich nichtsdestotrotz weiter. Durch den Anstoß seines Schülers Oswald Menghin wurde zumindest 1914 die Wiener Prähistorische Zeitschrift (WPZ) ins Leben gerufen, die bis 1945 erschien. Nach Hoernes Tod im Jahr 1917 wurde das Fach in der Universitätslehre seit 1922 als »Urgeschichte« eingeführt, was dann 1924 dazu führte, das Institut in Urgeschichtliches Institut umzubenennen. Der Wechsel war bedeutend. Mit dem Präfix »Ur« schwingt etwas Primitives und Ursprüngliches mit, aber auch etwas, das besonders mit der Geschichte der Anfänge verbunden ist, sowohl national als auch weltweit. Die geringe Verschiebung von einer Vorstellung, Archäologie zum Studium einer Zeit »vor der geschriebenen Geschichte« (prähistorisch) zu verwenden, zu einer Archäologie mit dem Schwerpunkt auf die Ursprünge, war schwerwiegend; letzteres war weit teleologischer und mit Vorstellungen von vergangenen prähistorischen Leistungen (Großtaten) und zukünftigen nationalen Bestimmung verbunden, von denen Kossinna so begeistert war. Inspiriert sowohl von Ethnologie und Geologie als auch von Geographie und Geschichte betrachtete Menghin die Urgeschichte primär als anthropologische Disziplin, verstand aber die Anthropologie als eine Geschichte der Abstammung der Menschen. 1924 wurde Hans F. W. Günthers (1891 – 1968) »Rassenkunde Europas«10 publiziert – ein Buch, welches eine der fundamentalen intellektuellen Grundlagen des aufkommenden Nationalsozialismus wurde und durch seine Übersetzung auch Einfluss auf die britische Eugenetikbewegung gewann.11 Auf diesen intellektuellen Voraussetzungen entwickelte Oswald Menghin12 in Wien eine Form der Urgeschichte, die Archäologie und Rassentheorie sowie historische und linguistische Quellen verhängnisvoll miteinander vermischte.13 Die direkte Folge dieser Umstände war im Wien der Nachkriegszeit eine Archäologie und Urgeschichte, die jeder Theorie beraubt war. Nach dem Missbrauch und der politischer Instrumentalisierung prähistorischer Forschungen zur Zeit des Nationalsozialismus stellte sich die Schwierigkeit, zu zeigen, dass Interpretationen keine reinen Phantasieprodukte sind. Die »Lösung« dieses Problems bestand darin, den Raum für Sozialtheorien stark einzuschränken, wichtige und relevante Fragestellungen zu ignorieren (wie z. B. die Indoeuropäisierung).14 Unter Richard Pittioni, dem Nachfolger Menghins nach dem
10 Günther 1924: Rassenkunde. 11 Günther 1927: Elements. 12 Menghin wurde 1935/36 Rektor der Universität Wien und Unterrichtsminister im sogenannten »Anschlusskabinett« unter Arthur Seyß-Inquart. Zwischen März und Mai 1938 verantwortete er die Entlassung zahlreicher Lehrender bzw. die Exmatrikulation vieler Studierender. 13 Urban 2010: Urgeschichte, 371 – 396. 14 Heggarty 2014: Prehistory, 566 – 577.
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Krieg, konzentrierte man sich auf Aussagen, die scheinbar bewiesen werden konnten.15 Pittioni widmete sich dem Studium der Funde und Objekte, die er als historische Quellen ansah und deren Wert durch deduktive Prozesse erforscht wurde. Ähnlich arbeitete auch Fritz Felgenhauer, der seit 1964 den Lehrstuhl innehatte. Diese Vorgehensweise stand im starken Gegensatz zu Hoernes, der weitgehend die induktive Methode verwendete hatte, um zu Erkenntnissen über die Vergangenheit zu gelangen. Heute muss festgestellt werden, dass die deduktive Anwendung der typologischen Methode zwar zu chronologischen und räumlichen Gliederung von Artefakttypen führte, die allerdings – ähnlich wie die menschlichen »Rassen« vormals – als reine Arten (monothetische Typen) gesehen wurden und die nur eine weiterführende Entwicklung der Formen in eine Richtung zuließ. Ein Beispiel, das deutlich die Unterschiede zwischen der deduktiven und monothetischen Methode Pittionis im Vergleich zu der flexibleren, induktiven und polythetischen Herangehensweise zeigt, betrifft den eisenzeitlichen Kessel von Gundestrup in Jütland. Dieses Artefakt schrieb Pittioni einem südfranzösischen Kontext zu, da er eine Tierdarstellung auf den figürlich verzierten Silberplatten als Elefant deutete (Hannibals Elefanten, wie er meinte). Heute wird aufgrund von stilistischen Merkmalen von den meisten Gelehrten eine östliche, karpato-balkanische Produktionsstätte angenommen.16 Bemühungen um die Entwicklung einer kulturanthropologisch unterlegten, aber rassenfreien Archäologie wurden von Herwig Friesinger (geb. 1942) in seinen frühen Forschungen unternommen, als er sich mit Kannibalismus im Neolithikum beschäftigte.17 Er konzentrierte sich später auf jüngere prähistorische und frühgeschichtliche Epochen und förderte eine breite Interdisziplinarität. Grundlegend an Friesingers Vermächtnis ist nach wie vor die Erkenntnis, dass – wie auch immer die übergeordneten modernen Begriffe lauten, die wir verwenden – ob Urgeschichte, Archäologie, Frühgeschichte, Historische Archäologie, Ägyptologie, Klassische Archäologie oder andere Termini – das Fach auf internationalem Niveau durch die integrative Anwendung von Methoden der Naturwissenschaften weiterentwickelt werden kann. Die Gründung des Vienna Institutes for Archaeological Science und die folgende bemerkenswerte Entwicklung landschaftsarchäologischer Ansätze mit der Integrierung von Geographischen Informationssystemen durch Michael Doneus (geb. 1967) haben dazu geführt, dass die Wiener Forschungen heute weltweit anerkannt und die nachkriegszeitlichen Einschränkungen überwunden sind. Diese Entwick15 Friedmann 2011: Prähistoriker 7 – 100. Richard Pittioni (1906 – 1985) hatte seine Venia 1938 verloren, weil er die Nationalsozialisten politisch nicht unterstützte. 16 Pittioni 1984: Silberkessel; cf Taylor 1992: Cauldron, 84 – 89. 17 Friesinger 1963: Anthropophagie.
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lungen förderte auch Falko Daim (geb. 1953) bis zu seinem Weggang an das Forschungsinstitut des Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM) in Mainz im Jahre 2003. Daim entwickelte, auch in enger Kooperation mit Wiener Historikern wie Herwig Wolfram und Walter Pohl, neue Ansätze für eine Theorie der Ethnogenese völkerwanderungs- und frühmittelalterlicher Gruppen, die sich deutlich von den Vorkriegsvorstellungen unterschied und die auf dem Konzept der Konstruktion menschlicher Identitäten aufbaut. Im Gegensatz zur Annahme in pseudobiologischen Kulturtheorien, welche Identitäten als unveränderliche Konstellationen wahrnimmt, wird sie hier als soziales Konstrukt gesehen. Diese Theorie der »situational ethnicity« hat Verbindungen zu der in Großbritannien, Skandinavien und den Niederlanden »Contextual Archaeology« genannten Forschungsrichtung, welche kontextbezogene und bedingte, bzw. revidierbare Interpretationen präferiert. Das weitere Ausgreifen auf mittelalterliche und neuzeitliche Forschungsinhalte seit den 1990er Jahren und die Schwierigkeit, dass das Wort Frühgeschichte kaum ins Englische übersetzt werden kann und daher ausländische Kollegen und Studierende keine Vorstellung davon haben, was sich hinter diesem Begriff verbirgt, führte schließlich zur letzten Namensänderung, bei der das Institut den Terminus Frühgeschichte durch einen umfassenderen, die gesamte »nach-prähistorische« Zeit umfassend ersetzte. Der Wechsel von der »Frühgeschichte« hin zu einer »Historischen Archäologie« stellt einen Scheidepunkt in unserer Entwicklung dar.18 Historische Archäologie ist eine Archäologie, die uns ins Heute bringt, die auch verpflichtend Studien des zwanzigsten Jahrhunderts integriert, etwa an Orten wie dem ehemaligen Konzentrationslager von Mauthausen.19 Diese Arbeiten von Claudia Theune (geb. 1959) schließen, obwohl auf den ersten Blick diametral entgegengesetzt, auf gewisse Weise den Kreis, den das Institut durchlaufen hat, in eine Richtung, wie Hoernes es verstanden hätte, und zwar in Bezug auf die Verwendung einer Methode, die sowohl deduktiv als auch induktiv vorgeht. Heute wird dies von Wissenschaftsphilosophen als Schluss der besten Erklärung (Inference to the Best Explanation, IBE) bezeichnet. Um das zu verstehen, müssen wir die Anfänge der Forschung zur schriftlosen Vergangenheit, wie sie durch die Beobachtungen von John Freres repräsentiert wurde, in Erinnerung rufen. Freres hatte 1797 nicht nur ein großes prähistorisches Alter für seine paläolithischen Steinartefakte postuliert, sondern auch eine Identifikation als Waffen vorgenommen. Schon seit Herwig Friesingers erstem Beitrag zu diesem Thema ist die Identifikation von interpersoneller Gewalt, inklusive Massakern und Kannibalismus, ein regulärer Bestandteil von Unter18 Mehler 2013: Archaeology. 19 Theune 2013: Concentration camps, 241 – 260.
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suchungen an menschlichen und vormenschlichen Überresten aller Zeiten und Räume.20 Damit betreten wir den schwierigsten Bereich der Artefaktanalyse in der Archäologie: die Interpretation von Zweck, Gebrauch oder Bedeutung der Dinge. Möglicherweise können wir die »Vergangenheit berühren«, aber wie können wir wissen, ob ein Objekt mehr aus praktischen Gründen, denn aus symbolischen oder ästhetischen, symmetrisch geformt ist? Wie können wir wissen, ob ein Artefakt mit einer Schneide ein Gerät war oder eine Waffe? Oder grundlegender, wie können wir wissen, ob die Kategorien und Unterscheidungen, die wir heute verwenden – praktisch, symbolisch, künstlerisch, friedlich, offensiv, nützlich, luxuriös und so weiter – relevant oder überhaupt bekannt waren für bzw. bei den Menschen, die diese Dinge herstellten? Als sich das Fach Archäologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Wien entwickelte, lag der Fokus auf Ausgrabungen und Freilegungen und einer Datierung von Phasen eines bestimmten archäologischen Denkmals. Aber über das, was man ausgrub, wurde keine Einigung erzielt. Für einige waren die materiellen Hinterlassenschaften Quellen, ähnlich den Textquellen, die beim Schreiben kritischer Geschichtsforschung verwendet werden. Für diese Gelehrten und die nationalen Forschungstraditionen zu denen sie gehörten, war die Archäologie eine »Dienerin« der Geschichte, die einige zusätzliche Daten für historische Epochen bereitstellte, bzw. für die schriftlosen Zeiten versuchte, allein auf der Basis der materiellen Kultur, »Geschichte zu schreiben«. Diese Forschungstradition war möglicherweise besonders ausgeprägt im deutschsprachigen Europa. Im Gegensatz dazu wurde in Amerika, wo die Staatsbildung und national relevante Geschichte die indigenen Bewohner Nord- und Südamerikas ausschloss, die Archäologie mehr als Teilbereich der (Kultur)-Anthropologie gesehen. Es war der britische Archäologe David Clarke, der 1968 die berühmten Worte niederschrieb »archaeology is archaeology is archaeology«21 und damit ausdrückte, dass Archäologie weder Geschichte noch Anthropologie ist. Der Schwerpunkt auf der Materialität, um den treffendsten Terminus zu verwenden, für das, was nun im Mittelpunkt der Wiener Forschungen steht, sieht nicht das Artefakt als einzelnes Objekt, sondern auch den menschlichen Körper und sogar den menschlichen Geist als potenziell »artefaktualisiert«: Identitäten, genauso wie Steinwerkzeuge, werden geschaffen und können auch umgestaltet werden. Möglicherweise wird man in Wien zukünftig auch eine Archäologie des Geistes thematisieren. Die Vorstellung dahinter ist die, dass eine »Urgeschichte« auch in uns selbst vorhanden ist: Ontogenese wiederholt Phylogenese. Dieses
20 Taylor et al. 2014 (forthcoming): Evidencing. 21 Clarke 1968: Analytical Archaology, 13.
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Konzept öffnet ein weites Feld zwischen z. B. Piaget und Vygotsky und der kulturellen Evolution.22 Wie in anderen entwickelten Disziplinen unterlegt die Selbstreflexion – als Grundlage für eine Einschätzung unseres eigenen, wechselnden intellektuellen Standpunktes im Verhältnis zum Wissen – alles was wir tun. Dieses Tun beinhaltet nun auch die archäologische Untersuchung ehemaliger Konzentrationslager, wo der verbreitete Terror letztlich gerechtfertigt wurde durch das anthropologische und historische Denken, das in Instituten wie dem Wiener in der Zeit des Nationalsozialismus herrschte. Obwohl diese Arbeiten als Historische Archäologie bezeichnet werden, sind die angewandten Methoden dieselben wie die der Prähistoriker. Was wir erfahren, erfahren wir durch Dinge. Nicht länger bleibt unser Verständnis von Dingen hinter dem Verstehen von schriftlichen oder bildlichen Quellen zurück, sondern inkludiert diese mit ihrem zusätzlichen spezifischen Aussagepotential. Somit sind Bücher und andere Dokumente nichts weiter als eine zusätzliche Klasse von materiellen Dingen. Egal, ob wir einen Apfelkern von der kupferzeitlichen Mondsee-Kultur aus der Sammlung Much bewerten, oder einen verbeulten Blechnapf aus dem Konzentrationslager von Mauthausen, unsere Methoden und analysierenden Vorgehensweisen sind grundlegend dieselben. Wir haben es nicht mit Zeichen oder Überresten zu tun. Vielmehr können wir direkt mit der Vergangenheit in Verbindung treten; einer Vergangenheit, die weiterlebt durch und existiert in solchen Artefakten. »Materiality theory«, d. h. die Beschäftigung mit Materieller Kultur, bedeutet nicht eine einseitige Hinwendung zu physischen Dingen, sondern ermöglicht eine breite soziale und linguistische Rekonstruktion vergangener Gesellschaften. Sie ermöglicht auch eine weit weniger deduktive Art der Erklärung. Die Betonung des deduktiven Beweises in der Nachkriegsforschung hat einem »gemischten« Erklärungsstil, dem Schluss auf die beste Erklärung, Platz gemacht, dessen Ziel es ist, zu erklären, wie bestimmte Phänomene möglicherweise zustande gekommen sind23 und nicht, warum sie zwangsläufig zustande gekommen sind. Die derzeitigen Positionierungen am Institut belegen, dass unser Arbeitsgebiet die gesamte Menschheitsgeschichte umfasst, von den ersten evolutionären Anfängen bis heute, und wir reflektieren damit auch unsere eigene Geschichte des Wiener Institutes, mit all seinen Altlasten.
22 Taylor 2011: Brno effect, 213 – 225. 23 Taylor 2001: Tyranny, 419 – 419.
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III. Wissenschaften zwischen Politik und Gesellschaft
Clemens Gütl*
Das Institut für Ägyptologie und Afrikanistik im Schnittfeld von Wissenschaft und Politik 1923 – 1953
»Der Rector magnificus stirbt im Amtszimmer«, titelte die Tageszeitung Neues Österreich am 14. März 1953 ihren Bericht über den überraschenden Tod von Wilhelm Czermak. Der Universitätsprofessor war am Vortag kurz nach einer Promotion, »noch in vollem Ornat«, an der Universität Wien verstorben.1 Czermak war u. a. Vorstand des Instituts für Ägyptologie und Afrikanistik, Mitglied des Deutschen Archäologischen Institutes und des Governing Body of the International African Institute in London. Unmittelbar nach Kriegsende war er für drei Semester Dekan der Philosophischen Fakultät und für das Studienjahr 1952/53 wurde ihm das höchste akademische Amt an der Universität Wien anvertraut.2 Seine ehemaligen Studierenden, Kolleginnen und Kollegen bestätigten Czermak Charaktereigenschaften wie Pflichtbewusstsein, Bescheidenheit, Humor, Tiefgründigkeit und Warmherzigkeit.3 Der emigrierte Ägyptologe Georg Steindorff schrieb hingegen 1945 aus North Hollywood über Czermaks politisch-ideologische Positionierung im vergangenen Weltkrieg: »[…] I know him sufficiently to say that he is a Nazi of first order«4. Der Beitrag widmet sich, beginnend mit der Gründung des Instituts für Ägyptologie und Afrikanistik, am Beispiel der Biografie des zentralen Akteurs zwischen 1931 und 1953 und mit dem Fokus auf den Nationalsozialismus einigen Aspekten im Schnittfeld zwischen akademischer Lehre und Forschung und politischem Denken und Handeln.
* Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien. 1 Anonymus 14. März 1953: Rector, 5. 2 Vgl. AÖAW, Wien; PA Czermak: Bekanntgabe des Todes von Wilhelm Czermak durch den akademischen Senat der Universität Wien, 14. März 1953; Nachruf und Würdigung des w. M. Wilhelm Czermak in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. April 1953. 3 Vgl. Höfner 1952/1953: Czermak, 399; Jungraithmayr et al. 1983: Lexikon, 66 – 67; Jungraithmayr 2006: Leben, 10; Junker 1954: Czermak, 301. 4 Vgl. Schneider 2013: »Steindorff-Liste«, 146 und 232.
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Die Institutsgründung 1907 hatte sich der Deutsche Hermann Junker auf Veranlassung von Leo Reinisch,5 dem »Begründer der Ägyptologie« und »Altmeister der Afrikanistik« in Österreich,6 in Wien mit einer Grammatik der Inschriften am Hathor-Tempel von Dendera habilitiert. Das zuständige Professorenkollegium beantragte nach Reinischs Pensionierung und dem frühen Tod des interimistischen Lehrstuhlinhabers Jakob Krall7 1909 die Wiederbesetzung der Lehrkanzel durch die Ernennung Junkers zum außerordentlichen Professor, 1912 zum ordentlichen Professor für Ägyptologie. So wollte man einer Berufung an das Berliner Museum zuvorkommen und ihn »an die Wiener Universität […] fesseln«8. Diese Entscheidung wurde mit den »bahnbrechenden« Sprachforschungen, seinen Lehrleistungen und seinem Engagement als Leiter der österreichischen archäologischen Grabungen in Ägypten begründet.9 Nach ersten Grabungserfolgen im Süden Ägyptens leitete der Tausch einer Konzession des Leipziger Ordinarius Steindorff Junkers berühmte Forschungen in Giza ein, wo er zwischen 1912 und 1929 im Auftrag der (Kaiserlichen) Akademie der Wissenschaften in Wien bedeutende Funde aus dem Alten Reich zutage förderte. Von 1929 bis 1939 leitete er prähistorische Grabungen im ägyptischen Westdelta.10 1923 konnte Junker das österreichische Unterrichtsministerium von der Idee zur Gründung eines Instituts für Ägyptologie und Afrikanistik an der Universität Wien überzeugen. Die Fächer wurden vom Orientalischen Institut getrennt und dem neuen Institut eigene Räume im Palais Erzherzog Albrecht zugeteilt.11 Im Kontext dieser Neustrukturierung steht die Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Orientalische Sprachen.12 Nikolaus Rhodokanakis, Professor für Semitische 5 ÖStA, Wien, AVA, Unterricht […]; 33130/1909, k. u. k. Ministerium für Kultus und Unterricht, Statthalter in Niederösterreich berichtet über die allgemeine Haltung des Privatdozenten für Ägyptologie und koptische Sprachen an der Universität Wien Dr. Hermann Junker, 3. und 5. August 1909. 6 Junker 1920: Reinisch, 210. 7 Vgl. Bihl 2009: Orientalistik, 49 – 52. 8 Vgl. ÖStA, Wien, AVA, Unterricht […]; 33130/1909, k. u. k. Ministerium für Kultus und Unterricht, Statthalter in Niederösterreich berichtet über die allgemeine Haltung des Privatdozenten für Ägyptologie und koptische Sprachen an der Universität Wien Dr. Hermann Junker, 3. und 5. August 1909. Vgl. auch ÖStA, Wien, AVA, Unterricht […]; 43996/1912, k. u. k. Ministerium für Kultus und Unterricht ernennt a. o. Prof. Hermann Junker zum o. Prof. der Ägyptologie, 28. September 1912. 9 ÖStA, Wien, AVA, Unterricht […]; 40253/1912, Protokoll des k. u. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht, 27. August 1912 Befürwortung des Antrags auf Ernennung des a. o. Prof. der Ägyptologie Hermann Junker zum o. Prof. dieses Faches, 20. September 1912. 10 Vgl. Junker 1963: Leben, 34 – 40; Gütl 2007: Kenzi-Dongolawi, 80 – 81. 11 Junker 1963: Leben, 46. 12 Vgl. AUW, PH S 34.11, Schachtel 5, Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Orientalische Sprachen [Orientalistik] nach Prof. Maximilian Bittner, 1921.09.07 – 1923.11.30 (Akt).
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Philologie an der Universität Graz, hatte noch im Frühjahr 1922 eine Berufungsanfrage abgelehnt und in der Erklärung auf die »unzureichenden Unterkunftsverhältnisse des orientalischen Institutes« hingewiesen.13 Das Professorenkollegium (Junker, Othenio Abel, Rudolf Eugen Geyer, Paul Kretschmer, Eugen Oberhummer, Ludwig Radermacher) stimmte für eine vorläufige Lehrstuhl-Besetzung mit einem »a.o. Prof. f. semitische Sprachen mit besonderer Berücksichtigung der Keilschriftforschung«. Als Kandidat kam primo loco der Altorientalist Viktor Christian in Frage. Der entsprechende Antrag wurde im Dezember 1923 genehmigt.14 Nach dem Besuch des Gymnasiums in Prag und Wien hatte Wilhelm Czermak15 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien u. a. bei Junker, Oberhummer, Geyer, Kretschmer, David Heinrich Müller, Maximilian Bittner und Joseph Karabacek Semitistik, Arabistik, Afrikanistik, Ägyptologie, indogermanische bzw. allgemeine Sprachwissenschaft und Geographie Afrikas studiert.16 Nach der Promotion 1911 im Fach »Orientalische und ägyptische Sprach- und Altertumskunde« und der Veröffentlichung von Sprachproben des nubischen Dialekts von Gebel Dair,17 legte Czermak 1919 ein »Kabinettstück philologischer Akribie«18 als Habilitationsschrift19 für »hamito-semitische und afrikanische Sprachen«20 vor. Junker nahm 1929 den Direktorenposten am Deutschen Archäologischen Institut in Kairo an und schied in Wien 1931 als Lehrstuhlinhaber und Ordinarius aus.21 Rechtzeitig waren Schritte zur Bestellung Czermaks zum Nachfolger Junkers gesetzt worden.22 Junker hatte schon im Vorfeld gemeint: »Die Lehrkanzel lautet für Ägyptologie, doch hat ihr früherer Inhaber, […] seit Anfang seiner Tätigkeit stets auch die nubische Sprache und Geschichte vorgetragen. Es besteht also die Möglichkeit, dass Czermak auch
13 AUW, PH S 34.11, […]: Bundesministerium für Inneres und Unterricht an das phil. Dekanat der Universität Wien, 6. Februar 1922. 14 Vgl. AUW, PH S 34.11, […]. Zu Christian vgl. Bihl 2009: Orientalistik, 116 – 117. 15 Vgl. Bihl 2009: Orientalistik, 103 – 113; Jungraithmayr et al. 1983: Lexikon, 66 – 67. 16 Vgl. AÖAW, Wien; PA Czermak: Vorschlag zur Wahl Wilhelm Czermaks zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1. September 1945. Vgl. auch Junker 1954: Czermak, 297 und AÖAW, Wien; PA Czermak: Nachruf und Würdigung des w. M. Wilhelm Czermak in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. April 1953. 17 Vgl. Junker et al.1913: Kordofn-Texte. 18 Junker 1954: Czermak, 298. 19 Vgl. Czermak 1919: Studien. 20 Bihl 2009: Orientalistik, 103. 21 Vgl. AÖAW, Wien; PA Czermak: Nachruf und Würdigung des w. M. Wilhelm Czermak in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. April 1953. Vgl. Bihl 2009: Orientalistik, 77 – 81 und 104 – 113. 22 Jungraithmayr et al. 1983: Lexikon, 66. Vgl. auch Junker 1954: Czermak, 300.
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nach seiner Ernennung zum Professor für Ägyptologie die Afrikanistik daneben weiter vertrete«23.
Wissenschaftliche und politische Netzwerke Im März 1938 legte Czermak zwar den obligatorischen Eid der Professoren auf Adolf Hitler ab, er war aber kein Mitglied der NSDAP. Die Wiener Gauleitung zweifelte seine politische Zuverlässigkeit an und ließ sich auch von einem vertraulichen Bericht vom September 1938 nicht vom Gegenteil überzeugen. Das Schriftstück enthält Aussagen von Personen, die Czermak als »christlichsozial« charakterisierten, weil er regelmäßig mit dem Priester Hermann Junker Kontakt hatte. Andere Zeugen attestierten eine faschistische Ideologie »mussolinischer Prägung« oder eine kontinuierliche Identifizierung mit nationalem Gedankengut.24 Zur Annäherung an seine politische Geisteshaltung und ihre möglichen Auswirkungen auf die akademische Forschung und Lehre am Institut für Ägyptologie und Afrikanistik ist ein genauer Blick auf die persönlichen Netzwerke von Czermak ratsam. Er war in diversen wissenschaftlichen und politischen Vereinigungen aktiv.25 Ein Beispiel ist die Anthropologische Gesellschaft, die nach Satzungsänderungen 1921 vom Altgermanisten Rudolf Much und dem Geographen Eugen Oberhummer geleitet wurde. Zahlreiche Mitglieder engagierten sich nachweislich politisch, z. B. in der Deutschen Gemeinschaft, einem Verein aus einerseits katholisch-nationalen und andererseits deutschnational-antiklerikalen Gruppen26 mit geheimen Statuten. Christlich-soziale Politiker, Universitätsprofessoren wie Wilhelm Czermak oder der Rechtsanwalt und spätere »Anschlusskanzler« Arthur Seyss-Inquart waren im Vereinsregister eingetragen.27 Aufgrund von Gegensätzen zwischen den politischen Lagern veranlasste zwar er 1930 die Auflösung der Deutschen Gemeinschaft, aber Czermak war derjenige, der die Verlautbarung an die Mitglieder unterschrieb. 1935 wurde Czermak
23 AUW, PH PA 1413, […]: Schreiben von Hermann Junker an das Dekanat der phil. Fakultät der Univ. Wien, 1931. 24 Vgl. ÖStA, Wien, AdR, 02; 15591 GA Czermak, fol. 5: Kreispersonalamtsleiter Adensan an NSDAP (Gau Wien), 7. Jänner 1942 und fol. 9 – 10: Bericht über Universitätsprofessor Wilhelm Cermak [sic.], 19. September 1938. 25 Vgl. Höfner 1952/1953: Czermak, 400; AÖAW, Wien; PA Czermak: Nachruf (Trauerrede) des Präsidenten R. Meister auf w. M. Czermak bei der Trauerfeier an der Universität am 19. März 1953. 26 Vgl. Staudinger 2012: »Österreich«-Ideologie, 35. 27 Vgl. Staudinger 2012: »Österreich«-Ideologie, 35 – 36 und Fn 36.
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Ausschussrat in der Anthropologischen Gesellschaft, in der damals Viktor Christian den Vorsitz hatte.28 Die Anthropologische Gesellschaft war ein Konglomerat von Personen aus dem (deutsch-)nationalen Lager und dem politischen Katholizismus. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung der Sozialdemokratie, der Freimaurerei und des Judentums. Schon in den 1920er Jahren hatten Mitglieder mit dem Aufbau von Verbindungen zu »völkischen« und nationalsozialistischen Sympathisanten begonnen und traten für ein »Ende des Parteiensystems« ein29. Unter ihnen waren Männer, die im Jänner 1928 den Ehrenschutz über den »Vaterländischen Festabend« der Deutschen Studentenschaft übernahmen,30 bei dem uniformierte Wehrverbände, wie der Deutsche Turnerbund und die Frontkämpfervereinigung anwesend waren.31 In seiner Funktion als »professoraler An-›Führer‹ der ›Akademischen Legion‹« hielt Czermak bei einer Kundgebung für den Anschluss an das Deutsche Reich an der Rampe der Universität Wien die Festrede, die von der »Gemeinschaft des Volkes« und der Rolle der Ostmark als »Schutzwall für deutsche Art und Gesinnung« handelte.32 Neben Hermann Junker, Richard Meister oder Oswald Menghin werden auch Viktor Christian und Wilhelm Czermak als Teilnehmer an der unter dem Decknamen »B-H« (für »Bären-Höhle«) agierenden Gruppe genannt, die sich auf Initiative von Othenio Abel regelmäßig im Seminarsaal des Paläobiologischen Lehrapparates der Universität zu Geheimabsprachen traf, um wissenschaftspolitische Entscheidungen zu beeinflussen und die befürchtete Dominanz der »marxistischen Gruppe« innerhalb der Fakultät zu unterminieren.33 Die ehemaligen Studienfreunde Czermak und Christian teilten nicht nur wissenschaftliche Interessen sondern auch Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs als Soldaten in Aleppo miteinander.34 Czermak konnte daher später, als er von den NS-Behörden als potentieller Feind des nationalsozialistischen Regimes eingestuft und in die »Gegnerkartei« eingetragen worden war,35 mit Christians Hilfe rechnen, der inzwischen SS-Sturmbannführer, Abteilungsleiter der Lehr- und Forschungsstätte für den Vorderen Orient in der Forschungsgemeinschaft »SS-Ahnenerbe«, Leiter des Orientalischen Instituts (1933 – 1934 28 29 30 31 32 33 34
Vgl. Pusman 2008: Wissenschaftsgeschichte, 139 – 140; Schriffl 1998: Verbindungen, 10 – 11. Pusman 2008: Wissenschaftsgeschichte, 124 – 125. Vgl. Zoitl 1981: Festkultur, 188. Pusman 2008: Wissenschaftsgeschichte, 125. Zit. nach Zoitl 1981: Festkultur, 182. Vgl. Ehrenberg 1975: Abel, 86. Vgl. Leitner 2010: Christian, 52 ff. Vgl. auch AÖAW, Wien; PA Czermak: Nachruf und Würdigung des w. M. Wilhelm Czermak in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. April 1953. 35 ÖStA, Wien, AdR, 02; 15591 GA Czermak, fol. 5: Kreispersonalamtsleiter Adensan an NSDAP (Gau Wien), 7. Jänner 1942.
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und 1936 – 1945) sowie Dekan und Prorektor der Philosophischen Fakultät der Universität Wien (1939 – 1945) wurde.36 Während des Nationalsozialismus waren Christians Handlungsspielräume an der Universität Wien im Kontext eines Kräftespiels konkurrierender Institutionen recht groß. Er konnte sich seinerseits auf alte Seilschaften und die Rückendeckung durch das (illegale) NSDAP-Mitglied Fritz Knoll, den nunmehrigen Rektor der Universität Wien (1938 – 1943) oder den deutschnationalen Prähistoriker und kurzzeitigen Unterrichtsminister im Anschlusskabinett von Seyß-Inquart Oswald Menghin verlassen. Auch der Dozentenbundführer Arthur Marchet gehörte dem Netzwerk um Menghin, Knoll und Christian an. Sie vereinte großdeutsches Denken, Antisemitismus und die prinzipielle Anerkennung der katholischen Kirche.37 Marchet verteidigte, 1938 über Czermak befragt, dessen politische Zuverlässigkeit im »Dritten Reich«, indem er argumentierte, dass Czermak »stets faschistisch, mussolinischer Prägung eingestellt […], immer Antisemit und früher immer auf der nationalen Seite zu finden gewesen« wäre. Diese Argumente ergänzte Marchet mit dem Hinweis darauf, dass Czermak »bei Sitzungen (über Personalveränderungen und Berufungen bei Vorschlägen über Professuren), immer mit ihm (Marchet bzw. mit der nat.[ional] soz.[ialistischen] Seite) mitgegangen sei«38. Trotzdem blieb Czermak bis 1942 in der »Gegnerkartei« vermerkt.39 Zur Löschung dürfte erst die Abhaltung von Lehrgängen in afrikanischen Sprachen für Offiziere und Wachtmeister der »Ordnungspolizei […] im Sinne eines Erlasses des Reichs-Innenministeriums« beigetragen haben, die zwischen 1940 und 1941 im Kontext der nationalsozialistischen Kolonialpläne am Institut für Ägyptologie und Afrikanistik in Wien abgehalten wurden.40 Im März 1941 tauchte Czermak zudem in Berlin bei einem Treffen der Fachgruppe »Koloniale Sprachforschung« der Kolonialwissenschaftlichen Abteilung des Reichsforschungsrates als Vortragender auf, die bis Kriegsende ein Koordinierungsmonopol auf die gesamte Afrika-bezogene Forschung im »Dritten Reich« hatte.41 Als zwei Jahre später in Leipzig eine interdisziplinäre Arbeitstagung zur Kolonialforschung stattfand, war er ebenfalls aktiv dabei.42 Czermaks Beteiligung an 36 Köstner-Pemsel et al. 2012: NS-Provenienzforschung, 41. 37 Vgl. Leitner 2010: Christian, 49 – 50, 60 und 74. 38 ÖStA, Wien, AdR, 02; 15591 GA Czermak, fol. 9 – 10: Bericht über Universitätsprofessor Wilhelm Cermak [sic.], 19. September 1938. 39 ÖStA, Wien, AdR, 02; 15591 GA Czermak, fol. 5: Kreispersonalamtsleiter Adensan an NSDAP (Gau Wien), 7. Jänner 1942. 40 Vgl. AUW, S 159, Akademischer […]: Brief von Wilhelm Czermak an Fritz Knoll, 1. November 1940 und AUW, S 159, Akademischer […]: Meldung der Fortführung der Lehrgänge für Kolonialsprachen durch Wilhelm Czermak an Fritz Knoll, 19. März 1941. 41 Vgl. Stoecker 2008: Afrikawissenschaften, 259 und 264 (Fn 53). 42 Vgl. Czermak 1943: Ägypten, 108 – 117.
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Projekten der Forschungsgemeinschaft »SS-Ahnenerbe« hat die Skepsis der NSBehörden dann wohl endgültig beseitigt: Niemand anderer als Viktor Christian schlug im Zusammenhang mit geplanten Forschungen in Zentralasien und Tibet vier seiner Wiener Kollegen als Berater zur Umsetzung von »Richtlinien für die Arbeit wissenschaftlich interessierter Beamter in den Kolonien« vor. Einer von ihnen war Wilhelm Czermak.43
Zur Charakteristik des Instituts im Kontext von Wissenschaft und Politik Czermak war 1925 zum planmäßigen außerordentlichen Professor für Afrikanistik bestellt worden.44 Sein Lehrer Junker vertrat hingegen vorerst weiter den Lehrstuhl für Ägyptologie.45 Nach seinem Rückzug sollte Czermak in der Tradition von Reinisch beide Fachdisziplinen in Personalunion fortsetzen, was er grundsätzlich tat.46 Leichte Schwankungen in der Balance zwischen afrikanistischen und ägyptologischen Themen in Lehre und Forschung können aus dem Kontext von bestimmten Situationen erklärt werden. Czermak publizierte beispielsweise nach mehreren Werken über afrikanische Sprachen im Vorfeld der in Aussicht gestellten Professur und der daraus resultierenden schon dringend erwarteten finanziellen Absicherung um 1930 kurzfristig mehr zum Teilbereich Ägyptologie. Zwar kann nach dem Antritt der planmäßigen Stelle als Hochschullehrer für Ägyptologie und der Übernahme der Institutsleitung in den Veranstaltungsverzeichnissen ein geringer Rückgang der afrikanistischen Lehre festgestellt werden,47 doch den Publikationen nach zu urteilen hat sich gleichzeitig sein persönliches Forschungsinteresse mehr in Richtung Ägyptologie entwickelt.48 Was die Forschung und Lehre in der untersuchten Zeit betrifft, kann in Summe ein offensichtlicher Einfluss durch den Institutsvorstand Wilhelm Czermak konstatiert werden. Der gelegentlich verwendete Begriff »Wiener Schule der Ägyptologie« bezieht sich auf dieses spezifische Lehr- und For43 Simon o. J.: Bücherwahn, 11. Vgl. auch Schneider 2013: »Steindorff-Liste«, 180. 44 Vgl. AÖAW, Wien; PA Czermak: Nachruf und Würdigung des w. M. Wilhelm Czermak in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. April 1953. Vgl. auch Bihl 2009: Orientalistik, 104. 45 Vgl. Bihl 2009: Orientalistik, 77 – 81 und 104 – 113. 46 AÖAW, Wien; PA Czermak: Vorschlag zur Wahl Wilhelm Czermaks zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1. September 1945. 47 Vgl. Bihl 2009: Orientalistik, 104 – 113. 48 AÖAW, Wien; PA Czermak: Nachruf und Würdigung des w. M. Wilhelm Czermak in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 22. April 1953.
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schungsprofil an der Universität Wien. In den Dissertationen, die Czermak oft gemeinsam mit Hermann Junker oder Viktor Christian beurteilt hat, wird die Einwirkung von Czermak auf die Themenwahl deutlich. Mit der Möglichkeit zur bewussten Vergabe von Lehraufträgen hatte er ebenfalls ein Steuerungsinstrument zur inhaltlichen Ausrichtung des Instituts in der Hand. Schließlich kann zur Bedeutung von Czermak angemerkt werden, dass er zwischen 1931 und 1953 der einzige ordentliche Professor für Ägyptologie und Afrikanistik an dem personell schwach besetzten Institut und die Zahl der Studierenden überschaubar war. Czermaks wissenschaftliches Interesse lag anfangs hauptsächlich bei der Phonetik und der Phonologie. Weitere inhaltliche Schwerpunkte setzte er mit Arbeiten zum »rhythmischen Element«49 von Sprachen (z. B. der Somali-Sprache oder Ägyptisch50), zur »Lokalvorstellung«51 und dem grammatischen Aufbau von Sprachen. Typisch war eine verstärkte Berücksichtigung von sprachund völkerpsychologischen, sprachphilosophischen und kulturhistorischen Aspekten. Schließlich setzte sich Czermak immer intensiver mit Fragen der (ägyptischen) Religion auseinander.52 Wenngleich Reinisch und Junker ein vergleichbar breites Themenspektrum beforscht und unterrichtet hatten, vermochte sich Czermak in einem Punkt klar von seinen Vorgängern abzugrenzen und das war die Anwendung einer neuen »Methode«, die allerdings lediglich umschrieben werden kann. Seine Schüler berichteten fasziniert von »ungewöhnlich[en]« Textanalysen unter Czermaks »behutsamer« und »anregender Führung«53. Ihre Erläuterungen, wonach Czermak stets bestrebt gewesen sei zum »Sprachgeist« vorzudringen und aus jeder sprachlichen Äußerung den »Wesenskern herauszuschälen«54 klingen kryptisch. Czermak soll ein Meister der Rhetorik gewesen sein.55 Seine Lehrveranstaltungen waren stets präzise geplant und seine öffentliche »Freitag-Vorlesung« war gut besucht: »Many came just to hear this man with the profile of Ramses II […]. There was no doubt […] that he was one of the two best speakers at the University […]«56. Czermak soll durch seine gewinnende Art Menschen nachhaltig beeindruckt haben. Seine charismatische Ausstrahlung habe sich »harmonisch« auf die Atmosphäre am Institut ausgewirkt, das »ganz von seinem Geist erfüllt«57 gewesen sein soll. Die 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Jungraithmayr et al. 1983: Lexikon, 66. Vgl. Czermak 1931: Untersuchung und 1934: Laute; Jungraithmayr et al. 1983: Lexikon, 66. Vgl. Czermak 1927: Lokalvorstellung. Jungraithmayr et al. 1983: Lexikon, 66. Jungraithmayr 2006: Leben, 9 – 10. Bihl 2009: Orientalistik, 104. Afsaruddin 1997: Krotkoff, 6. Krotkoff 1994: Czermak, 2. Z. B. Höfner 1952/1953: Czermak, 400.
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Zusammenführung von solchen heroisierenden bzw. idealisierenden Wahrnehmungen der Persönlichkeit von Czermak zum einen und des Studiums am Institut zum anderen mit den zuvor diskutierten wissenschaftlichen und politischen Netzwerken Czermaks hinterlassen den recht unbefriedigenden Eindruck eines ambivalenten Spannungsfelds, in dem im Besonderen seine politischen Aktivitäten ab den späten 1920er Jahren in Bezug auf etwaige Wechselwirkungen mit der Institutsgeschichte noch nicht zufriedenstellend beurteilt werden können. Dabei hatte Czermaks politische Geisteshaltung schon bei seinen Zeitgenossen unterschiedliche Interpretationen hervorgerufen. In jedem Fall ist sie nur bedingt aus seinem wissenschaftlichen Œuvre rekonstruierbar. Seine Publikationen sind frei von antisemitischer Rhetorik und neueren Forschungen zufolge muss die Charakterisierung als »Nazi of first order«58 durch den jüdischen Ägyptologen Steindorff revidiert werden.59 Letztlich liefern die Quellen keine eindeutigen Beweise für die individuellen Motive zur Mitwirkung an der Umsetzung von nationalsozialistischen Kolonialplänen und im SS-Ahnenerbe. Die Indizien sprechen bei diesen Fällen eher für Opportunismus zum Schutz der eigenen Interessen. Die Einbeziehung von philosophischen bzw. religiösen Aspekten wird, so eine abschließende These, den Rahmen für Interpretationen erweitern. Für diese Annahme sprechen die Andeutungen von Czermaks damaliger Assistentin , die sich daran erinnern konnte, dass Czermak das »Dritte Reich« mit der altägyptischen »Hyksoszeit« verglichen und als unvermeidbare Übergangsperiode interpretiert hatte.60 Derartige Überlegungen knüpfen an die Theorien und Gedanken des antidemokratischen Geschichtsphilosophen und Kulturhistorikers Oswald Spengler an, aus dessen vielgelesenem Werk »Der Untergang des Abendlandes« Czermak immer wieder zitierte.61 Auch die erwähnte, von Czermak am Institut eingeführte »intuitive Methode« ist wahrscheinlich eine Entlehnung von Spengler. Ein kürzlich aufgefundener Brief bringt Czermak auch mit Mitgliedern des sogenannten Spann-Kreises in Verbindung62 und somit, wie angenommen werden kann, mit deren politischen und philosophischen Ideen insbesondere zum austrofaschistischen Ständestaat. Besonders spannend und herausfordernd ist weiters die Klärung von Czermaks Beziehung zu einem »Guru«, dessen »Denker und Schüler« er war.63 58 59 60 61
Vgl. Schneider 2013: »Steindorff-Liste«, 146 und 232. Mündliche Mitteilung von Susanne Voss, 31. Jänner 2014. Vgl. Thausing 1989: Tarudet, 45. Vgl. Czermak 1927: Lokalvorstellung, 205; Czermak 1935: Hyksoszeit, 722; Czermak 1949: Vom Sinn, 183. 62 Privatbesitz, Wien: Brief von Erika Spann-Rheinsch an »mein hochverehrter Meister« [= Wilhelm Czermak], Neustift, 28. November 1944. 63 Vgl. Thausing 1989: Tarudet, 45 und 73.
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Czermak war für den Zeitraum von ca. dreißig Jahren zweifelsfrei die wichtigste Person am kleinen aber mit anderen Disziplinen wie der Orientalistik, der Sprachwissenschaft, der Ethnologie oder der Anthropologie gut vernetzten Institut für Ägyptologie und Afrikanistik. Mit seinem Tod wird ein gewisser Bruch passiert sein, aber grundsätzlich kann, was die Leitlinie des Instituts angeht, auch seit der Übernahme des Lehrstuhls durch Gertrud Thausing von keiner Zäsur gesprochen werden. Sie war zumindest bis zur Trennung der Fächer Ägyptologie und Afrikanistik in den späten 1970er Jahren vielmehr um die Fortsetzung des von ihrem Vorbild Czermak vorgegebenen Weges bemüht.
Literaturverzeichnis Unveröffentlichte Quellen AÖAW (= Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), Wien: PA (= Personalakt) Wilhelm Czermak. AUW (= Archiv der Universität Wien), S 159, Akademischer Senat der Universität Wien – Sitzungsprotokolle 1939/1940. AUW, PH PA 1413, Schachtel 61, PA (= Personalakt) Wilhelm Czermak. AUW, PH S 34.11, Schachtel 5, Wiederbesetzung der Lehrkanzel für Orientalische Sprachen (Orientalistik) nach Prof. Maximilian Bittner, 1921.09.07 – 1923.11.30 (Akt). ÖStA (= Österreichisches Staatsarchiv), Wien, AVA (= Allgemeines Verwaltungsarchiv), Unterricht allgemein (1848 – 1940), Universität Wien, Philosophie, Lehrkanzeln A–F, Ägyptologie, Karton 655, Signatur 4, Faszikel 627. ÖStA, Wien, AdR (= Archiv der Republik), 02; 15591 GA (= Gauakt) Wilhelm Czermak. Privatbesitz, Wien: Brief von Erika Spann-Rheinsch an »mein hochverehrter Meister« (= Wilhelm Czermak), Neustift, 28. November 1944.
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Ein Spiegelbild machtpolitischer Umbrüche – Die Universitätsbibliothek Wien
Der Stellenwert und die Beziehung der Universitätsbibliothek der Universität Wien (UB Wien) zur Universität Wien sowie zum Staat sind in den letzten Jahrhunderten von Höhen und Tiefen gekennzeichnet. Bereits im Stiftsbrief der Universität Wien von 1365 ist eine geplante Bücherei als »publica libraria« bzw. in der deutschen Fassung als »gemaine pu˚chkamer und libreye« erwähnt, doch erst langsam entwickelte sich unter den Fakultäts-, Kollegien- und Bursenbibliotheken die artistische (philosophische) Fakultätsbibliothek zur bedeutendsten und stieg im 15. Jahrhundert in den Rang der Hauptbibliothek auf und wurde zur Universitätsbibliothek.1 Im 17. Jahrhundert geriet sie jedoch gegenüber der aufstrebenden Jesuitenbibliothek in zunehmende Bedeutungslosigkeit. Denn die Jesuiten pflegten – in der früheren Jesuitenresidenz in der Wiener Postgasse – ihre damals bereits rund 45.000 Bücher umfassende Bibliothek, die 1623/24 um einen prachtvollen barocken Bibliothekssaal erweitert wurde, während die eigentliche Universitätsbibliothek nur in Nebenräumen untergebracht war.2 Diese Konkurrenz führte im Jahr 1756 zur Abgabe der verbliebenen * Köstner-Pemsel: Fachbereichsbibliothek Romanistik der Universität Wien; Stumpf: Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität Wien. 1 Die heutige Universitätsbibliothek der Universität Wien mit ihren 40 Fachbereichsbibliotheken und der Hauptbibliothek (Stand: April 2014) geht auf die Bibliothek zurück, die bei der Gründung der Universität Wien 1365 eingerichtet wurde. Bis in die 1970er Jahre bezeichnete die Universitätsbibliothek Wien aber nur die heutige Hauptbibliothek. Erst mit dem Universitätsorganisationsgesetz 1975 wurden Institutsbibliotheken nach und nach unter die Verwaltung der Universitätsbibliothek gestellt. In der Folge wird die Bibliothek als UB Wien bezeichnet. 2 Im Zuge der Reformation Martin Luthers ab 1520 erlitt die Universität Wien als »päpstliche Einrichtung« einen starken Prestigeverlust. Ferdinand I. (1503 – 1564) versuchte mit Reformen den gesunkenen Studentenzahlen gegenzusteuern und begann die Universität Wien zum katholischen Bollwerk auszubauen. Dazu berief er 1551 den Jesuitenorden nach Wien und übertrug ihm zwei theologische Lehrkanzeln. In der Folge kam es zu starken Spannungen und Machtkämpfen zwischen der Jesuitenschule und der Universität. Ferdinand II. (1578 – 1637) erließ 1623 die »Sanctio Pragmatica«. Dadurch übernahm der Jesuitenorden den Lehrbetrieb an der theologischen und philosophischen Fakultät und die Studentenzahlen stiegen wieder
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2.767 Bände der UB Wien an die Wiener Hofbibliothek3 und zu deren vorläufigem Ende.4 Maria Theresias Bibliotheksreform5 führte in den 1770er Jahren zur Errichtung von insgesamt elf öffentlichen Bibliotheken in Görz, Graz, Innsbruck, Prag, Klagenfurt, Krakau, Laibach, Lemberg, Linz, Olmütz und Wien, denen der Großteil der Buchbestände der Wiener Jesuiten- und Klosterbibliotheken zugewiesen wurde, nachdem die Jesuitenresidenzen aufgehoben worden waren.6 Nach 21 Jahren, in denen die Universität Wien keine offizielle Bibliothek hatte, fand 1777 die feierliche (Wieder-)Eröffnung der neuen – nun als öffentliche wissenschaftliche Bibliothek konzipierten – Wiener Universitätsbibliothek statt.7 Ursprüngliche Bestrebungen, die neu zu gründende Universitätsbibliothek der Oberaufsicht der Hofbibliothek zu unterstellen, wurden mit einer Bestimmung aus 1775 abgewendet, die festhielt, dass die UB Wien direkt dem Staat (und nicht etwa der Universität) und der Bibliotheksleiter direkt der Studien-Hofkommission zu unterstehen habe. Nach Gründung des Unterrichtsministeriums 1848 wurde die UB Wien unter dessen Verantwortung gestellt.8 In der UB Wien ging es um den Nutzen und Gebrauch der Bibliothek und nicht um das Sammeln von wertvollen Objekten wie Inkunabeln. Damit war eine Abgrenzung zur Hofbibliothek gegeben, die immer schon vor allem eine museale Sammelfunktion innehatte.9 Mit der Funktion der UB Wien als Universitätsbibliothek und »Studienbibliothek«, die dem Ministerium unterstellt war, waren von Anfang an Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Professorenkollegium und der Bibliothek vorprogrammiert, die auch zu Loslösungsbestrebungen der UB von der Universität führten. Deren Höhepunkt setzte Direktor Friedrich Leithe (1828 – 1896), der von 1874 bis 1884 an der Spitze der Bibliothek für die – auch räumliche – Eigenständigkeit eintrat. Sein Nachfolger Friedrich Grassauer (1840 – 1903) organisierte schließlich die Übersiedlung der Bibliothek vom Universitätsviertel an den Ring. In seiner Direktionszeit von 1884 bis 1903
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kräftig an. Für die nächsten 150 Jahre behielt der Jesuitenorden seine dominierende Stellung. Siehe: [http://www.univie.ac.at/universitaet/geschichte/] (7. April 2014). Die Wiener Hofbibliothek wurde 1920 in Nationalbibliothek Wien und 1945 in Österreichische Nationalbibliothek umbenannt. Pongratz 1977: Geschichte, 18 – 23. Vgl. Pongratz 1985: Bibliotheksreform, 129 – 154. Diese Bibliotheksreform wurde von Stephan Rautenstrauch (1734 – 1785) ausgearbeitet, der von 1775 bis 1785 Direktor der UB Wien war. Vgl. Pongratz 1977: Geschichte, 26 – 30. Diese Bestimmung änderte sich mit der Implementierung des UOG 1993 (Bundesgesetz vom 26. November 1993 über die Organisation der Universitäten. StF: BGBl. Nr. 805/1993), als die UB Wien wieder direkt in die Organisation der Universität eingegliedert wurde. Pongratz 1977: Geschichte, 27.
Ein Spiegelbild machtpolitischer Umbrüche – Die Universitätsbibliothek Wien
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übernahm die UB Wien dank vieler weit reichender Neuerungen wie der Einführung eines Referentensystems oder der Aufstellung der Bücher nach Numerus currens eine führende Position unter den wissenschaftlichen Bibliotheken des Habsburgerreiches. Die UB Wien entwickelte sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges de facto zu der österreichischen Reichs- und Zentralbibliothek und zählte hinsichtlich ihrer LeserInnen-Frequenz zu den ersten Bibliotheken Europas.10
Die UB Wien in der jungen Republik Österreich Nach dem Ende der Monarchie erwuchs der UB Wien durch Pläne, wonach die UB Wien und die ehemalige Hofbibliothek und nunmehrige Nationalbibliothek zusammengelegt werden sollten, eine starke Konkurrenz in ihrer Funktion als Staatsbibliothek.11 Zwar wollten das weder der Direktor der Hofbibliothek, Josef Donabaum (1861 – 1936), noch jener der UB Wien, Salomon Frankfurter (1856 – 1941),12 aber eine engere Zusammenarbeit wurde nicht ausgeschlossen. Ein weiterer Vorschlag sah die Abgabe sämtlicher älterer Bestände, Handschriften, Inkunabeln, Landkarten und Porträts an die Hofbibliothek vor. Damit wäre die UB Wien zu einer Art »Lehrbuchsammlung« abgesunken. Mit Erlass des Unterrichtsamtes vom 3. Jänner 1920 wurde die Selbstständigkeit der beiden Bibliotheken belassen, doch die Zusammenarbeit sollte v. a. im Bereich der Druckschriften enger werden: Es wurde vereinbart, dass die Hofbibliothek ihren Sammlungsschwerpunkt auf Geisteswissenschaften und die Geschichte der Naturwissenschaften legt und die UB Wien alle an der Universität Wien vertretenen Richtungen pflegen sollte. Drei Jahre später kam aufgrund der staatlichen Budgetprobleme wiederum der Vorschlag, die mittlerweile in »Nationalbibliothek« umbenannte Hofbibliothek und die UB Wien zusammenzulegen. Der damalige UB-Direktor Salomon Frankfurter trat ebenso massiv wie auch Viktor Kraft (1880 – 1975) als Obmann der bibliothekarischen Fachgruppe der Gewerkschaft der wissenschaftlichen Beamten gegen eine Zusammenlegung auf; nur UB-Vizedirektor Rudolf Wolkan (1860 – 1927) sprach sich für eine solche aus. Da auch der amtierende Generaldirektor der Nationalbibliothek, Josef Bick (1880 – 1952), gegen die Zusammenlegung auftrat und zudem die Raumfrage nicht gelöst werden konnte, blieb es bei der Trennung.13 Das Jahr 1923 brachte für die UB Wien einige große Neuerungen. Zum einen 10 11 12 13
Ebd., 99. Vgl. Jesinger 1926: Universitätsbibliothek, 438 – 460, hier 439 – 440. Vgl. Adunka 2008: Frankfurter, 209 – 220. Pongratz 1977: Geschichte, 124 – 128.
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wurde in diesem Jahr mit der studierten Kunsthistorikerin Karola Bielohlawek (1877 – 1959) die erste Akademikerin unter 25 akademischen Bibliothekaren als Referentin eingestellt, der Bestand an Büchern überschritt in diesem Jahr erstmals die Millionengrenze14 und zudem wurde seither von der Philosophischen Fakultät ein Durchschlag jeder Dissertation (Pflichtexemplar) eingefordert. Außerdem wurde ein Mahnsystem eingeführt, das sich erzieherisch »sehr gut ausgewirkt« haben soll.15 In diesen Jahren litt die UB Wien allerdings auch unter massiven finanziellen Problemen. Die intensiven Versuche des damaligen Direktors Gottlieb August Crüwell (1866 – 1931), mehr Geld zu bekommen, scheiterten jedoch an den Einsprüchen des Rechnungshofes, der Crüwells Hinweis auf die geringe Dotation der Bibliothek mit der veränderten Situation Österreichs gegenüber der Vorkriegszeit zurückwies.16 Mit den späten 1920er Jahren begann für die österreichische Bibliothekslandschaft eine Zeit tief greifender Veränderungen. 1927 wurden die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erlangung von Dienstposten der allgemeinen Verwaltung geschaffen. Zwei Jahre später hatte man sich auf eine österreichweite Prüfungsordnung17 für eine Bibliotheksausbildung geeinigt. Die für Jahrzehnte entscheidende Veränderung brachte aber die Teilnahme am »Gesamtkatalog der Preußischen Bibliotheken«18, die nach erbitterten Kämpfen vor allem zwischen UB Wien und Nationalbibliothek vom Unterrichtsministerium entschieden wurde.19 So kam es 1930 zum damals als Abbruch empfundenen Einstellen des handschriftlichen Zettelkatalogs in der Nationalbibliothek; stattdessen wurde ein neuer Katalog mit Zetteln nach dem »internationalen Format« und den Preußischen Instruktionen20 begonnen. In der UB Wien kam die Einführung eines neuen Kataloges nach den internationalen Regeln allerdings erst ab 1932, 14 15 16 17
Damit hatte sich der Bestand der UB Wien innerhalb von nur 40 Jahren verdreifacht! Pongratz 1977: Geschichte, 128. Gugler 1994: Crüwell, 46 f. Der Direktor der UB Wien von 1919 bis 1923, Salomon Frankfurter, hatte bereits 1896 eine bibliothekskundliche Fachprüfung gefordert und auch der Direktor der Nationalbibliothek Wien, Josef Bick, forderte 1924 ebenfalls eine solche Prüfung, denn durch eine gute Ausbildung sollte die Professionalisierung im Bibliothekswesen erhöht werden. 18 Der 1902 begonnene und ab dem Buchstaben B als »Deutscher Gesamtkatalog« geführte Katalog blieb bei Band 15 in den Wirren des Zweiten Weltkriegs stecken. Erst 1979 (!) konnte der 15. Band veröffentlicht werden. Ein 16. Band erschien nie. 19 Alle großen Änderungen der Katalogisierungsregeln im 20. Jahrhundert bedeuteten für jede Bibliothek immensen organisatorischen Aufwand. Die UB Wien hatte im Gegensatz zur NB Wien in den 1920er Jahren einen funktionierenden Katalog und ein eingespieltes Team, das sich kategorisch gegen die neuen, deutschen Katalogisierungsregeln aussprach. 20 Die Preußischen Instruktionen sind ein historisches bibliothekarisches Regelwerk zur Formalerschließung, die sich u. a. stark an der grammatikalischen Wortfolge bei der Ordnung der Sachtitel orientierte und korporative VerfasserInnen nicht berücksichtigte (Vgl. Hauke 2011 ff.: Instruktionen, 722).
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da Direktor Crüwell – inzwischen gesundheitlich angeschlagen – ebenso wie seine Mitarbeiter sich gegen diese Neuerung stellten. Mithilfe des späteren UBDirektors Alois Jesinger (1886 – 1964)21 versuchte Crüwell die Katalogfragen zu lösen, doch erst Crüwells plötzlicher Tod im Dezember 1931 und die Ernennung von Heinrich Röttinger (1869 – 1952) zu seinem Nachfolger brachte Bewegung in die verfahrene Situation.22 Aufschlussreich berichtet der Bibliothekar Karl Wache (1887 – 1973)23 in seinen Erinnerungen von den Spannungen zwischen den Gruppierungen24 : »[…] und nun war das Feld frei für die Einführung der »Preußischen«, die ja für die N.B. lebensnotwendig war, da sie keine wissenschaftlichen Kataloge besaß und uns – der U.B. – neuestens den Rang als wissenschaftliche Bibliothek ablaufen wollte. […] Das eigenartige an diesem Kampf um unser Eigenleben als Bibliothek […] war, daß wir Nationale hier in unserem Amte auf unserer österreichischen Art beharren wollten und gegen diesen Anschluß kämpften, während die C.Ver der N.B. in diesem Falle für den Anschluß waren, dem sie sonst schärfstens widerstrebten.« 25
Vorweggenommener »Anschluß«? Bereits in der Gründungsphase der Republik Österreich kann eine massive Annäherung an das deutsche Bibliothekswesen festgestellt werden. Der 1896 als weltweit einer der ältesten bibliothekarischen Berufsverbände gegründete »Österreichische Verein für Bibliothekswesen« bestand bis zum Jahre 1919.26 Bereits im Jahr darauf erfolgte in der 16. Mitgliederversammlung der Verein Deutscher Bibliothekare (VDB) am 27. Mai 1920 in Weimar »die Anfrage der Deutsch-Oesterreicher [sic!], ob eine engere Beziehung ihrerseits zum V.D.B. hergestellt werden könne«27. Diese wurde bei der Mitgliederversammlung 1921 positiv beschieden, und die österreichischen Bibliothekare 21 Alois Jesinger studierte Germanistik, Klassische Philologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien und promovierte 1910 zum Dr. phil. Von 1914 bis 1945 war er an der UB Wien tätig, ab 1938 als Leiter. Vgl. u. a. Archiv UB Wien, PA Alois Jesinger und ÖStA, AdR, BMI, Gauakt Alois Jesinger. 22 Vgl. zu diesem Konflikt rund um Crüwell ausführlich Gugler 1994: Crüwell, 53 – 62. 23 Der gebürtige Wiener Karl Wache studierte Germanistik, Klassische Philologie und Kunstgeschichte an der Universität Wien; Promotion 1912 zum Dr. phil., 1919 – 1934 und 1938 – 1945 im Bibliotheksdienst. Vgl. u. a. Archiv UB Wien, PA Karl Wache. 24 Siehe dazu: Köstner-Pemsel/Stumpf 2013: BibliothekarInnen, 171 – 190. 25 Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte, Memoiren, DO 2. Karl Wache: Denk- und Nichtswürdigkeiten. Erinnerungen eines Außenseiters der Politik von Franz Josef bis Theodor Körner, 168 f. 26 Vgl. [http://www.univie.ac.at/voeb/voeb/voeb/] (31. Dezember 2013). 27 S. n. 1920: Mitgliederversammlung, 242.
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wurden als Mitglieder aufgenommen.28 Damit fungierte der VDB für die nächsten 25 Jahre bis 1945 auch als österreichischer Berufsverband.29 Beim Bibliothekartag 1922 in Kassel stammten von den insgesamt 596 VDB-Mitgliedern bereits 113 aus Österreich.30 Der vom 25. bis 29. Mai 1926 auf Einladung der Nationalbibliothek aus Anlass des 200-jährigen Bestehens des Bibliotheksgebäudes in Wien stattfindende Deutsche Bibliothekartag stellte sich mit insgesamt 312 Teilnehmern31 als der Bibliothekartag mit den meisten Teilnehmern bis 1950 heraus. Zur Eröffnung kamen auch Bundespräsident Michael Hainisch (1858 – 1940) und Bundeskanzler Rudolf Ramek (1881 – 1941). Die Eröffnungsrede schloss NB-Generaldirektor Josef Bick mit den deutlichen Worten, dass die NB ihre Aufgabe »zur Ehre deutscher Wissenschaft und zum Heile der Bevölkerung Österreichs« als »in so vielen Kämpfen durch Jahrhunderte erprobten Vorhut deutschen Wesens« zu erfüllen habe.32 Im kleinen Festsaal der Universität begrüßte am zweiten Tag der Veranstaltung der Rektor der Universität Wien, Prof. Karl Luick (1865 – 1935), die Bibliothekare.33 Der Bibliothekar und spätere NB-Vizedirektor Robert Teichl (1883 – 1970) skizzierte dabei in seinem Beitrag die spezifischen österreichischen Problem- und Aufgabenstellungen und schloss seinen Beitrag symptomatisch für die Periode nach dem Ende der Monarchie und dem Nebeneinander von Weimarer Republik und der Republik Österreich: »Sie [der VDB] selbst haben ihm soeben den schönsten Dienst erwiesen, als Sie im ›Jahrbuch‹34 die Grenzpfähle zwischen Deutschland und Österreich entfernt haben. Diese Bekenntnis zur Einheit und die gegenwärtige Tagung werden ein Markstein in der Geschichte unseres Bibliothekswesens sein.«35 Im Vortrag Jesingers stellte sich die UB Wien als die »einzige öffentliche allgemeine Staatsbibliothek« dar, auf deren Dienst »jeder Staatsbürger, jede Schule und jedes Amt Anspruch« hatte, »da sie vom Staat erhalten und verwaltet wurde, in der Hofbibliothek blieb das freundlichste Entgegenkommen eine Gnade.«36 Bereits Ende der 1920er Jahre und in den 1930er Jahren war die politische 28 29 30 31 32 33 34
S. n. 1921: Siebzehnte Versammlung, 144. Vgl. Haase 2000: Bibliothekartage, 81 – 100, hier 82. S. n. 1922: Mitgliederversammlung, 341. Vorstius 1926: Bibliothekartag, 322 – 329, hier 323. S. n. 1926: Festrede, 419. Vorstius 1926: Bibliothekartag, 322 – 329, hier 326. Das »Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken« wird seit 1902 vom Verein deutscher Bibliothekare alle ein bis zwei Jahre herausgegeben und enthält einen umfangreichen Bibliotheksteil, einen Personenteil und sonstige Hinweise. 35 Teichl 1926: Bibliothekswesen 429 – 438, hier 438. 36 Jesinger 1926: Universitätsbibliothek, 438 – 460, hier 459.
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Situation auch unter den Bibliothekaren angeheizt. Besonders die Konflikte zwischen Deutschnationalen bzw. später Nationalsozialisten und dem Cartellverband37 (CV) spitzten sich in diesen Jahren zu. Im Jahr 1933 wurde mit Johann Gans (1886 – 1956)38 ein »CVler« zum Direktor ernannt. Er blieb bis 1938 an der Spitze der UB Wien und wurde im Mai 1945 wieder in seiner alten Stelle eingesetzt. Der VDB hingegen wurde mit der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland gleichgeschaltet.39 Auch wurde der VDB aus der Reichsschrifttumskammer entlassen und 1935 nach dem »Führerprinzip« organisiert sowie wurde eine Neuregelung der Satzungen für die Mitgliederaufnahme eingeführt. »Die vorgeschlagene Formulierung, daß, wer Mitglied werden wolle, nationalsozialistisch gesinnt sein solle, mußte mit Rücksicht auf die österreichischen Kollegen fallen gelassen werden. Und auf das Wort ›arisch‹ konnte man verzichten, da ›Nicht-Arier‹ ohnehin nicht [mehr] in Beamtenvereine aufgenommen wurden.«40 An der UB Wien gab es einige »Illegale«, die während des austrofaschistischen Ständestaats entlassen wurden. Neben dem am Institut für Österreichische Geschichtsforschung zugeteilten und späteren NB-Direktor Paul Heigl (1887 – 1945)41 wurden drei weitere Bibliothekare des Dienstes enthoben (Robert Hohlbaum, Rudolf Pettarin und Karl Wache), die sich als Nationalsozialisten hervorgetan hatten. Paul Molisch (1889 – 1946), der ebenfalls eindeutig deutschnationale Publikationen42 verfasste, aber offenbar nie Mitglied der NSDAP war und gute Beziehungen ins Unterrichtsministerium hatte, wurde im Dienst belassen.43 Rudolf Pettarin (1894 – 1955)44 und Karl Wache wurden 1938 übrigens wieder in den Dienst der Bibliothek aufgenommen. Robert Hohlbaum (1886 – 1955)45 hingegen, damals ein bekannter Schriftsteller, ging als Direktor 37 Der Cartellverband ist ein Korporationsverband von katholischen, nichtschlagenden, farbentragenden Studentenverbindungen. 38 Johann Gans studierte Mathematik, Physik und Musikgeschichte an der Deutschen Universität in Prag und promovierte 1910 (Musikwissenschaft), 1911 Lehramtsprüfung für Mathematik und Physik, 1923 – 1933 Direktor der Bibliothek der Hochschule für Welthandel, 1933 – 1938 und 1945 – 1951 Direktor der Universitätsbibliothek Wien, 1943 – 1945 Leiter der Bibliothek der Hochschule für Welthandel; 1949 – 1956 Generalinspizierender der Bibliotheken. Vgl. u. a. Archiv UB Wien, PA Johann Gans. 39 Knudsen 2000: Satzungen, 168 – 181, hier 174. 40 Haase 2000: Bibliothekartage, 81 – 100, hier 90. 41 Näheres zu Paul Heigl siehe Köstner 2008: Heigl, 569 – 595. 42 Etwa 1926 das Werk »Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich«, das im Verlag von Gustav Fischer in Jena erschien. 43 ÖStA, BMU, PA Paul Molisch. 44 Der gebürtige Wiener Rudolf Pettarin studierte Romanistik und Germanistik an der Universität Wien; Promotion 1922 zum Dr. phil., 1922 – 1936 und 1938 – 1945 im Bibliotheksdienst. Vgl. dazu u. a. Archiv UB Wien, PA Rudolf Pettarin. 45 Zu Robert Hohlbaum vgl. u. a. Sonnleitner 1989: Geschäfte sowie zuletzt Bärwinkel 2013: Erzähler.
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der Stadtbibliothek nach Duisburg, was zur Beendigung der für ihn in Wien vom Ministerium eingerichteten Disziplinarkommission führte. Für den 34. Deutschen Bibliothekartag im Juni 1938 war Passau als Tagungsort festgelegt worden.46 So konnte zwölf Jahre nach dem Wiener Bibliothekartag von 1926 der NB-Vizedirektor Robert Teichl und österreichischer Vertreter im Beirat des VDB seine deutschnationale Einstellung erneut darlegen und zur Vorbereitung der »Heimkehr« anführen, dass bereits seit Gründung im Jahr 1900 Österreicher die »bibliothekarische Bundesgenossenschaft zwischen Deutschland und Österreich« feierten und das seit der Gründung des VDB kein Jahr vergangen sei, »an dem nicht Österreicher zu den Tagungen gekommen wären«. Der »Gesamtdeutsche Gedanke« habe sich demnach bereits 1912 bei der Tagung in München gezeigt, wo 23 Bibliothekare aus Österreich vertreten gewesen waren. »Die aus gleichen Blut entsprossene und mit ihm auch besiegelte Waffengemeinschaft des großen Krieges, die uns dem Anschluß im Jahre 1919 so nahe brachte, wurde nun immer mehr auch eine geistige Waffenbruderschaft. So kam jener denkwürdige Tag von Weimar, der uns allen unvergeßliche 27. Mai 1920: Inmitten eines schweren Gewitters stellte der Vizedirektor der Hofbibliothek, Dr. Othmar Doublier [1865 – 1946], den Antrag, durch eine Satzungsänderung den österreichischen Kollegen den Beitritt zum VDB zu ermöglichen. Der Anschluß der österreichischen Bibliothekare war vollzogen.«47 Ergänzend zur UB Wien führte Teichl aus: »Mit der Wiener UB führt Ihnen die Ostmark die größte Bibliothek einer deutschen hohen Schule zu.«48
Der tatsächliche »Anschluß« 1938 Der politische »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich brachte der UB Wien vor allem eine einschneidende Reduktion ihrer BenutzerInnen um die Hälfte und die Entlassung bzw. Pensionierung von rund 20 % ihrer Mitarbeiter. »Rassisch« verfolgt wurden Hildegard Braun (1897 – 1953), Rudolf Capka (1904 – 1940), Richard Czwiklitzer (1882 – 1940) und Norbert Jokl (1877 – 1942). In den Fällen von Viktor Kraft (1880 – 1975), dessen Ehefrau Johanna Kraft, geb. Wolf (1881 – 1970), nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Jüdin« verfolgt wurde, und Robert Pistauer (1900 – 1965), der als »Mischling ersten Grades« galt, wurde zwar von einer Entlassung abgesehen, sie wurden jedoch zwangspen46 Haase 2000: Bibliothekartage, 81 – 100, hier 93. In diesen Tagen war der ehemalige Generaldirektor Josef Bick im KZ Sachsenhausen inhaftiert, nachdem er davor bereits von 1. bis 27. April 1938 im KZ Dachau gefangen gewesen war. Erst im August 1938 wurde er in den Hausarrest »entlassen«. Zum Leben und Wirken Josef Bicks siehe Fechter 2013: Bick. 47 Teichl 1938: Bibliotheken, 429 – 442, hier 431. 48 Ebd., hier 435.
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sioniert. Weitere sechs Bibliothekare der UB Wien wurden aus politischen Gründen verfolgt, u. a. Josef Sponer (1905 – 1986), Ferdinand Marass (1912 – 1941) und Egon Hanel (1905 – 1979). Außerdem gab es auch – allerdings erst Ende Juli 1938 – eine Änderung an der Spitze der UB Wien: Johann Gans wurde abgesetzt und der bisherige Leiter der Katalogabteilung, Alois Jesinger, der erst im Mai 1938 der NSDAP beigetreten war, zum kommissarischen Leiter ernannt. Jesinger war zu diesem Zeitpunkt der Vierte in der Hierarchie der UB-Bibliothekare, doch Norbert Jokl49 (1877 – 1942) war bereits als nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Jude« geltend entlassen und Egon Galvagni (1874 – 1955) bzw. Alois Rogenhofer (1878 – 1943) wurden von den Nationalsozialisten als politisch nicht tragbar angesehen und kamen daher ebenfalls nicht für die Übernahme des höchsten Amts in der Bibliothek in Frage. Sowohl der im Amt verbliebene Nationalsozialist Rudolf Geißler (1888 – 1974) als auch die rehabilitierten und wieder eingestellten Nationalsozialisten Pettarin und Wache waren hinter Jesinger gereiht und darüber erzürnt.50 Nach seiner Ernennung sah sich Jesinger mit einer Reihe von Vorwürfen und Denunziationen, vor allem aus dem Kreis seiner Mitarbeiter um den Leiter der NS-Betriebszelle Rudolf Pettarin,51 konfrontiert. Nach einer Vielzahl von Befragungen entschied das Reichserziehungsministerium in Berlin im Herbst 1940 seine definitive Ernennung und so wurde Jesinger schließlich im März 1941 als Direktor bestätigt. Gans blieb vorerst an der UB Wien und das ohne Änderung der Bezüge, erst 1939 wurde er zum Oberstaatsbibliothekar degradiert, womit eine gewisse Gehaltskürzung einherging. Ihm gelang es aber, sich sowohl mit dem austrofaschistischen Ständestaat zu arrangieren, ohne sich zu sehr ins politische Geschehen einzubringen, als auch 1938 vergleichsweise glimpflich »davonzukommen«, da er sich vor 1938 nie gegen Nationalsozialisten gestellt hatte bzw. sie sogar gedeckt hat (wie den bereits erwähnten Schriftsteller und Bibliothekar der UB Wien Robert Hohlbaum).52 Das systemkonforme Agieren der UB Wien zeigte sich auch an dem Aus49 Norbert Jokl lehrte neben seiner Tätigkeit als Bibliothekar an der UB Wien Sprachwissenschaft an der Universität Wien und forschte auf dem Gebiet der Albanologie. Mit dem »Anschluß« 1938 verlor er nicht nur seine Anstellung an der Universität Wien, sondern es scheiterten alle Versuche, sich und seine Privatbibliothek zu retten – er wurde Anfang März 1942 in Wien verhaftet und starb wenige Wochen später während der Deportation nach Minsk oder wurde kurz danach ermordet. Zu seiner Geschichte und die seiner Bücher vgl. u. a. Yvon 2004: Jokl, 104 – 117 und Simon (o. J.): Bücherwahn. 50 Vgl. Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte, Memoiren, DO 2. Karl Wache: Denk- und Nichtswürdigkeiten. Erinnerungen eines Außenseiters der Politik von Franz Josef bis Theodor Körner, 234. 51 Vgl. Stumpf 2008: Bausteine, 7 – 40. 52 Vgl. dazu Köstner-Pemsel/Stumpf 2013: BibliothekarInnen, 171 – 190, hier 178 – 181.
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schluss der jüdischen Benutzer. Vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wurde den Rektoren der Hochschulen auf dem Gebiete Österreichs Ende November 1938 mitgeteilt, dass inländischen jüdischen Studenten das Betreten der Hochschule zu verbieten sei.53 Da damit allerdings diese auch vom Besuch der UB Wien ausgeschlossen waren und sie entlehnte Bücher somit nicht zurück geben konnten, schlug Jesinger dem Rektorat der Universität Wien ein Mahnkartensystem zur Lösung dieses aus seiner Sicht vor allem administrativen Dilemmas vor.54 Im Dezember 1938 hieß es dann bereits: »Juden sind vom Besuch der Universitäts-Bibliothek ausgeschlossen.«55 Am Beginn des Zweiten Weltkriegs versuchte man den Personalengpass durch Verlängerung der Arbeitszeit und Einstellung von Frauen auszugleichen. Auch konnte eine Lautsprecheranlage im Lesesaal eingerichtet werden, wodurch »die grossen historischen Sendungen des Reichsrundfunks in Gemeinschaftsempfang den Besuchern und den Gefolgschaftsmitgliedern der Bibliothek« vermittelt werden konnten.56 Angesichts zunehmender Zerstörungen durch die Bombardierung der Alliierten kam der ordnungsgemäße Dienst immer mehr zum Erliegen. So musste die UB Wien in den Jahren 1943 und 1944 auf Anordnung des Berliner Reichserziehungsministeriums unter möglichst großer Geheimhaltung fast ihren gesamten Bestand an Druckschriften (weit über 1,200.000 Bände) in Schlössern im Umkreis von Wien und in die Nationalbibliothek verlagern. Ende 1944 mussten beinahe alle jungen weiblichen Kräfte als Wehrmachtshelferinnen oder Arbeiterinnen in Munitionsfabriken Kriegsdienst versehen. Anfang 1945 kam der Bibliotheksbetrieb faktisch zum Erliegen, an eine geregelte Arbeit war nicht mehr zu denken. Die wenigen verbliebenen BibliothekarInnen verrichteten hauptsächlich Luftschutzdienst.57
53 Schon davor, seit der Wiedereröffnung der Universität nach dem Anschluß war das Betreten der Universität und der UB Wien nur in Ausnahmefällen möglich. Siehe dazu Archiv der Universität Wien (UAW), Rektoratsakten (RA) GZ 662 ex 1937/38 sowie UAW, RA GZ 50 ex 1937/38, zit. nach Klamper 1988: Studenten, 179 – 195, hier 187. 54 Vgl. Malina 2008: Werke, 237 – 255, hier 241 – 242. 55 UAW, UB Archiv, Bestand Laufer 1938, Laufer Nr. 60, 7. Dezember 1938. 56 UAW, UB Archiv, Zustandsbericht 1939 – 1941, 11. Diese Investition konnte durch die Zuwendungen des Ministeriums sowie einer Spende der Schwechater Brauerei getätigt werden. 57 Pongratz 1977: Geschichte, 140 f.
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Der Neubeginn nach dem Ende des Krieges Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren in der UB Wien vor allem dem Wiederaufbau gewidmet. Erst 1951 konnte der Lesesaal wieder geöffnet werden. Bis dahin versuchte man in der Bibliothek, die Schäden am Gebäude zu richten und die ausgelagerten Buchbestände wieder nach Wien zurück zu bringen. In der Nachkriegszeit rückten die Bibliothek und die Universität enger zusammen. Einerseits wurden Studenten als Voraussetzung für eine Inskription verpflichtet, einen Aufräumungseinsatz in der Bibliothek zu leisten; andererseits beschäftigte sich der Akademische Senat intensiv mit der Raumknappheit der Bibliothek.58 Bis 1947 dauerte die Rückführung der Bücher und am Ende musste man feststellen, dass etwa zehn Prozent des Gesamtbestandes, an die 130.000 Bände, verschollen oder zerstört waren. Auch die Personalsituation an der UB Wien war prekär. Der Personalstand war 1945 auf die Hälfte des Mitarbeiterstandes von 1944 reduziert und so konnte Direktor Gans anfangs nur mit 30 bis 35 ständigen BibliothekarInnen arbeiten.59 Ein Thema, das in diesen Jahren weitgehend ausgeblendet wurde, war der Bücherraub in der NS-Zeit, der auch in der UB Wien stattfand. Wenige Vorbesitzer erhielten in den ersten Nachkriegsjahren ihre Bücher aus der UB Wien wieder zurück und die Aufarbeitung der NS-Zeit stand jahrzehntelang still.60 Aufgrund der vielen Buchverluste gelang es dem wiederernannten Direktor Gans, das Ministerium – in Abstimmung mit der russischen Besatzungsmacht – davon zu überzeugen, konfiszierte Literatur aus Schul- und Privatbibliotheken der UB Wien zugute kommen zu lassen.61 Über 150.000 Bände, die später als »Sammlung Tanzenberg«62 bezeichnet wurden, kamen 1951 von der Büchersortierungsstelle an die UB Wien. Diese Büchersortierungsstelle, die von 1949 bis 1952 in Räumen der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) tätig war, wurde von Alois Jesinger geleitet und führte die Rückgabe so genannter »her58 Pongratz 1985: Bibliotheksreform, 129 – 154, hier 148. 59 Nach § 10 des NS-Verbotsgesetzes wurden insg. sechs Mitarbeiter (Rudolf Geißler, Robert Hampel, Alois Jesinger, Fritz Miller, Rudolf Pettarin, Karl Wache) entlassen. Vier Reichsdeutsche konnten nicht mehr ihren Dienst antreten, Ferdinand Marass war gefallen und acht Bibliothekare waren in Gefangenschaft, krank oder befanden sich außerhalb Wiens. 60 Mit dem Buch von Evelyn Adunka »Der Raub der Bücher« im Jahr 2002 kam ein wesentlicher Anstoß, um die NS-Provenienzforschung an der UB Wien in Gang zu setzen. Zu deren Resultaten siehe: Stumpf 2011: Ergebnisse, 113 – 132 und die Website der NS-Provenienzforschung der UB Wien [http://bibliothek.univie.ac.at/provenienzforschung.html] (22. Dezember 2014). 61 Pongratz 1977: Geschichte, 152. 62 Die als »Sammlung Tanzenberg« bezeichneten Bücher stammen aus verschiedenen Provenienzen und kamen als »herrenlose« Bücher, das heißt ohne Besitzvermerk in die UB Wien. Im Rahmen der NS-Provenienzforschung stellte sich jedoch heraus, dass einige doch Besitzvermerke tragen. Siehe dazu Malina 2011: »Sammlung Tanzenberg«, 133 – 154.
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renloser« geraubter Bücher durch. Eine Wiedereinstellung Jesingers in die UB Wien hatte Gans nicht erreichen können, doch den Einsatz seines ehemaligen Kollegen für diese spezielle Aufgabe konnte er einfädeln, wie aus seinem Nachlass hervorgeht.63 Für Jesinger war es ein Schritt in Richtung Rehabilitierung, wenngleich er nie wieder in den Staatsdienst zurückkehren konnte.64
Große Entwicklungen im Bibliothekswesen In die Nachkriegsjahre fällt der neuerliche Versuch, die Platzprobleme der Bibliothek durch einen Neubau zu lösen. Doch an dem anvisierten Standort Liebiggasse 6 (heute NIG, Universitätsstr. 7)65 wurde 1955 schließlich begonnen, ein Institutsgebäude zu errichten. Im gleichen Jahr erfolgte mit dem Hochschulorganisationsgesetz66 eine erste Annäherung der UB an die Instituts- und Seminarbibliotheken. Einerseits konnten Institutsmitarbeiter an der UB eine Bibliotheksausbildung absolvieren und andererseits begann die Zusammenarbeit im Bereich des Katalogs. 1963/64 erfolgte der große Umbau im Lesebereich; die Bibliothek nahm ihre heutige Gestalt an. Die politisch brisanteste Reform für das Bibliothekswesen in der Nachkriegszeit leitete Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg (1909 – 1994) mit dem Universitäts-Organisationsgesetz67 (UOG) 1975 ein. Die Ministerin sah sich mit heftigem Widerstand seitens der Professoren konfrontiert, man warf ihr u. a. die Zerschlagung der Universität vor.68 Die neue Bibliotheksordnung sah die Verwaltung aller bibliothekarischen Einrichtungen an den Instituten durch die Universitätsbibliothek und die Mitgliedschaft des Bibliotheksdirektors mit Stimmrecht im Akademischen Senat sowie in der Bibliothekskommission vor. Außerdem veranlasste Firnberg die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage u. a. für die ÖNB, die es bis dahin nicht gab.69 Damit konnte im österreichischen Bibliothekswesen in den späten 1970er und 1980er Jahren eine gemeinsame Planung entwickelt werden, die viele Neuerungen brachte, von der die Bibliotheken bis heute profitieren. In diese Zeit fällt die Einführung der EDV im 63 UAW, UB Archiv, Nachlass Gans, Kt. 6, Mappe 3, Schreiben Gans an Jesinger, 20. Oktober 1949. 64 Im Jahr 1961 erhielt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. 65 Siehe dazu besonders die Bilder in: Jaksch et al. 1986: Bibliotheksbau, 72. 66 Bundesgesetz vom 13. Juli 1955 über die Organisation der wissenschaftlichen Hochschulen (kurz: Hochschul-Organisationsgesetz). 67 Bundesgesetz vom 11. April 1975 über die Organisation der Universitäten (UniversitätsOrganisationsgesetz – UOG) StF: BGBl. Nr. 258/1975, die Bestimmungen für die Bibliotheken siehe unter § 84 bis 90. 68 Schachinger 2009: Firnberg, 140. 69 Vgl. dazu Stumpf-Fischer 1999: Landung, 390 – 397, hier 391.
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Bibliothekswesen, die einerseits eine zunehmende Vernetzung auch bei der Katalogisierung brachte, andererseits aber auch die Bestände der Bibliotheken immer »digitaler« wurden. Seit dem Wintersemester 1986 konnte an der UB Wien die Entlehnverbuchung (beginnend mit der Lehrbuchsammlung) und seit 1989 auch die Katalogisierung automationsunterstützt durchgeführt werden, seit 1999 durch das System ALEPH, das heute noch in Verwendung ist. Die gemeinsame Arbeit aller großen österreichischen Bibliotheken unter der Direktive des Wissenschaftsministeriums endete mit dem UOG 199370, denn die ÖNB wurde aus der Koordination der wissenschaftlichen Bibliotheken wieder herausgelöst und nach dem Museengesetz71 geregelt. Außerdem wurde mit dem UOG 1993 die direkte Verbindung zum Ministerium aufgelöst und die Bibliotheken der Universität unterstellt. Mit dem Universitätsgesetz 2002,72 das so gut wie nichts über Universitätsbibliotheken aussagt und bei dem Bibliotheken ebenso wie z. B. Fakultäten, Institute nicht organisationsrechtlich verankert sind, liegt es im Ermessen der Universität, diese einzurichten und zu organisieren.73 An der Universität Wien wurde so die UB Wien mit dem Universitätsarchiv schließlich zur Dienstleistungseinrichtung »Bibliotheks- und Archivwesen« zusammengelegt. Damit musste die UB Wien sich sowohl bibliotheksintern als auch im Verhältnis zur Universität neu definieren. Neben zentralen Aufgaben, wie Dienstleisterin für Forschung und Lehre zu sein und gleichzeitig als eine öffentlich zugängliche wissenschaftliche Bibliothek zu fungieren sowie die wertvollen historischen Dokumente sowie gedruckte Medien zu erhalten und gleichzeitig ein entsprechendes E-Medien-Angebot anzubieten, die Funktion als Lernort und sozialer Raum für Studierende wahrzunehmen, die Rolle als Informationsvermittler (Stichwort teaching library) usw., entstanden in den letzten Jahren zusätzlich zahlreiche neue Aufgabenfelder, wie Open Access, Bibliometrie, Digitalisierungsvorhaben, NS-Provenienzforschung usw. in einem international ausgerichteten Bibliothekswesen.
70 UOG 1993, zur Aufgabe der Bibliothek siehe unter § 78. 71 Bundesmuseen-Gesetz 2002 (BGBl. I, Nr. 14/2002, in der Fassung BGBl. I, Nr. 24/2007). 72 Bundesgesetz vom 9. August 2002 über die Organisation der Universitäten und ihre Studien (Universitätsgesetz 2002 – UG). StF: BGBl. I Nr. 120/2002. 73 Vgl. Schiller 2013: Universitätsgesetz 2002, 23 – 32.
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Christina Köstner-Pemsel und Markus Stumpf
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Christina Köstner-Pemsel und Markus Stumpf
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Gerhard Langer*
Erinnern – Aufklären – Bilden: Von der Aufgabe einer Erinnerungskultur am Beispiel eines Instituts für Judaistik
Wissenschaftliche Judaistik ist eng mit der so genannten Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert verbunden, die sich jedoch nicht an den Universitäten etablieren konnte. Institutionen wie das Collegio Rabbinico in Padua, das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin waren in erster Linie jüdische Einrichtungen, die der Ausbildung von Rabbinern oder Kantoren gewidmet waren; nur in Berlin konnten auch Nichtjuden studieren.
Phase 1: Eine Mission gegen den Antisemitismus In Wien ist die Judaistik untrennbar mit der Person Kurt Schuberts verbunden, dessen Beitrag zur Neugründung der Universität Wien 1945 ebenso zu würdigen ist wie sein Einsatz für eine wissenschaftliche Judaistik nach der Schoah/dem Holocaust. Schubert studierte altsemitische Philologie und orientalische Altertumswissenschaft und unterrichtete im Rahmen des Orientalischen Instituts Hebräisch. Sein Engagement dafür wurde von ihm selbst stets als Ergebnis seiner austro-katholischen Einstellung und tiefer Solidarität mit dem Judentum erklärt. Die Gründung der Judaistik in Wien ist daher nicht zu trennen von der Erfahrung des Antisemitismus und der Schoah. Schuberts Überzeugung bestand darin, durch die Kenntnis des Judentums von seinen eigenen Quellen her gegen den Antisemitismus antreten zu können. Die Judaistik war daher von den Anfängen an eine Initiative, die über den rein wissenschaftlichen Bereich hinaus eine politische Haltung – Widerstand gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus – vertrat. Schuberts starke Verankerung in der katholischen Tradition trug maßgeblich dazu bei, dass die jüdischchristlichen Bezüge, die Überzeugung von der engen Verbundenheit von Ju* Institut für Judaistik der Universität Wien.
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dentum und Christentum, eine bedeutende Rolle bei der Konzeption der Judaistik spielten. Der Bezug zu den Quellen war untrennbar mit der hebräischen Sprache verbunden. Schubert erlernte sie nicht zuletzt in einem DP-Lager, für sogenannte displaced persons also, in der Alserbachstraße, wo er gleichzeitig das Zeugnis Überlebender aufnehmen konnte. Von dort rekrutierten nicht nur Hörerinnen und Hörer der Judaistik, sondern auch ein wichtiger Mitarbeiter, Dipl. Ing. Leon Slutzky, der 2013 91-jährig verstorben ist. Schuberts orientalistische Ausbildung, das Interesse am jüdisch-christlichen Dialog, der Bezug zur hebräischen Sprache und den Quellen des Judentums, vor allem Midrasch und Talmud, prägten die Judaistik in ihren Anfängen. Die Quellenstudien zu den Qumranfunden, die damals in aller Munde waren, führten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Material auf der Basis eines Vergleichs mit anderen jüdischen Quellen der Zeit und dem Neuen Testament. Anders als in der Bibelwissenschaft an der Theologie mit ihrem Schwerpunkt auf der historischkritischen, vor allem literarkritischen Methodik, ging es der Judaistik damals stärker um den religionsgeschichtlichen Vergleich. Auf eine einfache Formel gebracht, sollten die jüdischen Quellen nicht durch die christliche Brille gelesen oder verwertet werden, sondern ihre »eigenständige Stimme« bekommen. Schubert beschäftigte sich aber auch mit Philosophie und Mystik und brachte 1955 bereits eines seiner bedeutendsten Bücher heraus, »die Religion des nachbiblischen Judentums«. Für Kurt Schubert war zudem die Beschäftigung mit jüdischer »Theologie« und mit jüdischer Geschichte geprägt vom politischen Interesse, einen Beitrag zu zeitgeschichtlichen Debatten und zum nach der Schoah in neue Bahnen gelenkten jüdisch-christlichen Dialog zu leisten. Als begnadeter Netzwerker versuchte er, den Kontakt zu möglichst vielen vom Geist des Antifaschismus »beseelten« Personen herzustellen, die aus unterschiedlichen politischen »Lagern« kamen. Schubert betrachtete den Zionismus und die Errichtung einer neuen Heimstatt in Israel mit großem Wohlwollen und besuchte bereits 1949 mit Vorlesungen das Land. Aber er thematisierte auch häufig die Bedingungen jüdischer Identität nach der Schoah in der Diaspora. Aus seiner Erfahrung in Israel entstand 1957 das Buch »Israel, Staat der Hoffnung«. Kurt Schuberts enge Verbindung mit seiner Ehefrau Ursula, einer Kunsthistorikerin, bescherte dem Institut einen weiteren wichtigen Schwerpunkt, die Untersuchung der jüdischen Ikonografie, nicht zuletzt (auch aber nicht nur) als Quelle der christlichen Ikonografie. Daraus resultiert eine große Bildersammlung jüdischer Buchkunst, die am Center of Jewish Art an der Hebräischen Universität in Jerusalem aufbewahrt ist. Für ihre Arbeit im Bereich der Bildkunst erhielten Kurt und Ursula Schubert gemeinsam das Ehrendoktorat der Theologie der Universität Freiburg/Schweiz.
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1959 erhielt Schubert ein Extraordinariat für Judaistik am Orientalischen Institut, nicht ohne Widerstand auch innerhalb des Orientalischen Instituts selbst, etwa durch den Arabisten Hans Ludwig Gottschalk, jedoch besonders unterstützt durch die beherzte Initiative des Unterrichtsministers Heinrich Drimmel, der Schubert überaus schätzte. Es sollte allerdings bis 1966 dauern, ehe ein Ordinariat und ein eigenes Institut für Judaistik eingerichtet werden konnte. Es wurde damit wegweisend für eine Judaistik im europäischen Raum. Das Institut in Köln wurde ebenfalls 1966 unter Schuberts Mitwirkung gegründet und Johann Maier, ein Schüler Schuberts und früher Assistent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien, erhielt den Ruf als Professor. Clemens Thoma, Assistent bei Schubert, gründete das Institut für JüdischChristliche Forschung an der Universität Luzern. In Berlin war bereits 1963 ein Institut für Judaistik gegründet worden, doch verstand sich der dortige Lehrstuhlinhaber, der bedeutende Gelehrte Jacob Taubes, »mehr als Philosoph sowie als engagierter und kritischer Begleiter des geistigen Lebens in Berlin und Deutschland […] denn als Judaist im engeren Sinne« (Schäfer/Hermann 2012, 62). Taubes wechselte schnell in das Institut für Philosophie, sodass Johann Maier ab 1964/65 als »Diätendozent« die Judaistikprofessur supplierte, die dann Marianne Awerbuch übernahm, während Taubes noch bei den Philosophen aktiv war. Was man heute als Nachwuchsförderung bezeichnen würde, war in diesen Anfangszeiten großgeschrieben. Schubert förderte Wissenschaftler wie Brigitte Gregor (Stemberger), Fritz Werner, der zu den bedeutendsten Hebraisten derzeit zählt, Ferdinand Dexinger, dessen Expertisen im Bereich der Forschung zu den Samaritanern neben vielem anderen genannt werden muss, Nikolaus Vielmetti, Spezialist für jüdische Geschichtsschreibung und vor allem für die Region Italien, und natürlich Jacob Allerhand, den Schubert aus Berlin nach Wien gebracht hatte, wo er später osteuropäische Geschichte und Kultur sowie Jiddisch unterrichtete. Der Wunsch, eine Professur für jiddische Sprache und Kultur einzurichten und dem 2006 Verstorbenen in gewisser Weise ein »Denkmal« zu setzen, wird von der Universität Wien intensiv unterstützt. Zu den geförderten Studierenden gehören aber u. a. auch der Logiker Klaus Dethloff oder der Religionsphilosoph Fritz Wolfram, später lange Zeit Diözesansekretär des Katholischen Akademiker/-innenerverbandes. 1972 kam mit Günter Stemberger einer der heute weltweit profiliertesten Experten für rabbinisches Judentum als Habilitand ans Institut. Er leitete dieses nach der Emeritierung von Schubert (1994). Schuberts enge Freundschaft aus Jugendjahren mit der Historikerin Erika Weinzierl und dem späteren Wissenschaftsminister, dem Biochemiker Hans Tuppy, war eng mit dem Engagement im Rahmen einer Neubewertung und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Aufarbeitung der jüdisch-christlichen Bezie-
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hungen verbunden. Schubert gründete die österreichisch-israelische Kulturgesellschaft, die von 1949 bis 1953 in Wien und Innsbruck bestand, forcierte das christlich-jüdische Gespräch nicht zuletzt an der Basis, an Volkshochschulen und den Katholischen Bildungswerken. Er war Präsident des Katholischen Akademiker/-innenerverbandes ab 1957 und des Österreichischen Katholischen Bibelwerks. Die Gründung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit geht stark auf seine Initiative zurück. Bis zur Umsiedlung an den Campus des Alten AKH im Jahr 1998 war das Institut in der Ferstelgasse 6 beheimatet, in einer einstigen Privatwohnung, in der Studierende und Lehrende auf engem Raum in einer quasi familiären Atmosphäre studierten und arbeiteten. Eine Studierende der Zeit, heute anerkannte Historikerin, beschrieb ihre Erfahrung der 1980er Jahre am Institut als eine Begegnung mit »authentischen originellen Lehrpersönlichkeiten mit einem hohen Wissensstand« und verwies darauf, dass »durch diese eine informelle Vermittlung von jüdischer Kultur mit entsprechender Sensibilisierung für die Schoah geschah, als sich das allgemeine Österreich noch in Schweigen hüllte« (EMail vom 17. Februar 2014). Positiv bemerkt wurden in verschiedenen Gesprächen mit Studierenden der Zeit auch das intensive Angebot an Sprachausbildung und eines breiten Überblicks an jüdischer Geschichte und Kultur, die eine hervorragende Basis für Detailforschung bot. Neben der Ferstelgasse war Eisenstadt ein wichtiger Bezugspunkt des Instituts. Denn dort entstand unter tatkräftiger Unterstützung des Landesrates und späteren Bundeskanzlers Fred Sinowatz ein Verein, der ein jüdisches Museum auf Initiative Kurt Schuberts im ehemaligen Wertheimerhaus planen sollte, das 1982 bezogen wurde. In diesem Jahr fand auch die Ausstellung »1000 Jahre österreichisches Judentum« statt. In Eisenstadt gab es jährlich, jeweils zu Christi Himmelfahrt oder Fronleichnam, eine Studientagung, die zuerst vom Koordinierungsausschuss, später vom Jüdischen Museum durchgeführt wurde. Dabei und bei zahlreichen anderen Gelegenheiten wie den legendären Weihnukka-Feiern gab es reichlich Möglichkeit zu Gesprächen und zu einem Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden in einer familiären Atmosphäre. Dass Prüfungen auch auf dem Weg zu einem Heurigen in Gumpoldskirchen abgenommen wurden, passt sehr gut in diese Erfahrung einer Judaistik, bei der die gemeinsame »Mission« auch gemeinsames Feiern inkludierte. In seinen letzten Jahren unterstützte Kurt Schubert maßgeblich auch die Etablierung eines Zentrums für jüdische Studien in Olomouc in der Tschechischen Republik seit 2004, das nach Kurt und Ursula Schubert benannt ist. Diese erste Phase nach der Gründung bis weit in die 1980er Jahre war also geprägt von einem klaren Bewusstsein der Bedeutung der Judaistik für eine
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Erinnerungskultur in Österreich gegen den Antisemitismus und dem dringenden Anliegen, durch Wissen und Kenntnis jüdischer Quellen nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen politischen Beitrag zu einem erneuerten Bewusstsein in einer österreichischen Öffentlichkeit zu leisten. Dass heute Studierende im Rückblick in ihren Erinnerungen von fehlender methodischer Durchdringung in manchen Bereichen oder von einem Mangel an Quellenkritik sprechen, von großen Unterschieden in Inhalt und Vermittlung, dass unter den Mitarbeitern mit jeweils ausgeprägten Persönlichkeiten – wie in vielen vergleichbaren Institutionen – Spannungen herrschten, komplettiert nur das Bild einer Einrichtung, die mehr und etwas anderes sein wollte und will als ein »normales« Institut. Die Öffentlichkeit, die man in der ersten Phase hauptsächlich erreichen wollte, kam vor allem als eine vom Christentum geprägte in den Blick. In der in Österreich bedeutsamen katholischen Kirche war mit dem 2. Vatikanischen Konzil und der dort verabschiedeten Erklärung »Nostra aetate« auch ein Neuzugang zum Judentum vollzogen worden. Das Engagement für den christlich-jüdischen Dialog in einem umfassenden Sinn begleitet die Judaistik über die Jahrzehnte. Es soll nur erwähnt werden, dass die Gedenktafel am Judenplatz 6 am 29. Oktober 1998 durch Kardinal Schönborn enthüllt wurde, deren Text maßgeblich auf Kurt Schubert zurückging. Darin wurde in Bezug auf die so genannte Wiener Gesera, die Verfolgung und Ermordung von Juden in Wien in den Jahren 1420/21, der Beitrag von Christen kritisch bedacht und auch ein Konnex zur Schoah hergestellt. Der letzte Satz lautet: »Heute bereut die Christenheit ihre Mitschuld an den Judenverfolgungen und erkennt ihr Versagen. ›Heiligung Gottes‹ kann heute für die Christen nur heißen: Bitte um Vergebung und Hoffnung auf Gottes Heil.«
Der christlich-jüdische Dialog ist auch heute keineswegs unbedeutend geworden, dennoch zeichnet sich ein Wandel in der Schwerpunktsetzung judaistischer Institute und Initiativen ab.
Phase 2: Judaistik versus Jüdische Studien Die Herausforderung der jüdischen Studien als einer interdisziplinär ausgerichteten, oft überfakultär strukturierten Initiative, die im deutschen Sprachraum ab den 1980er Jahren boomte, konzentrierte das Interesse stärker auf das Judentum als zeitgenössisches Phänomen bzw. auf die Neuzeit und setzte in Bezug auf die Erinnerungskultur nicht zuletzt mit Instrumenten der Oral History neue Akzente. Dies ging einher mit einer Kritik an der Judaistik als einer
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philologischen Disziplin, deren Schwerpunkte zum einen im Erwerb der (hebräischen) Sprache und in der Kenntnis des antiken und mittelalterlichen Judentums lägen, wobei die Periode ab der Aufklärung vernachlässigt würde. Diese Kritik wurde mit gewissem Recht auch unter den Studierenden der Wiener Judaistik laut. Hier war nicht zuletzt in Zusammenhang mit der wohl bekannten »Waldheim-Affäre« großes Interesse an zeitgeschichtlichen Vorgängen zu merken. So heißt es in einer Stellungnahme eines damals Studierenden: »Für mich war der Auslöser meines Interesses ein wunderbarer Geschichtslehrer und auch die Lektüre von Erika Weinzierls ›Zu wenig Gerechte‹, das mich als Teenager sehr berührt hat. Es war dann schon seltsam, an die Uni zu kommen (an der es u. a. eine lebhafte Zeitgeschichte gab) und an einem Institut zu studieren, das nicht in den 50ern, aber sehr wohl in den 60ern steckengeblieben war.« (E-Mail vom 12. Februar 2014)
Oder ein anderes Statement: »Wenn ich noch kurz anmerken darf, mein Grund Judaistik zu studieren war profaner : Ich hätte gern zum Nahen Osten, zu modernem Judentum gehört, gerne z. B. Seminare zu jüdischer Literatur, jüdischem Film gehabt (also eher Jewish Studies als Judaistik) und wollte vor allem auch die Sprachen vertiefen« (E-Mail vom 12. Februar 2014).
Solche und ähnliche Stellungnahmen sind mir auf indirekte Rückfrage im Zusammenhang mit der Erstellung dieses Beitrages mehrfach zugegangen und ich bedanke mich dafür bei den ehemaligen Studierenden. Die Judaistik hat in der zweiten Phase ihres Bestehens, also im Prinzip in der Nach-Schubert-Ära, Tendenzen, das Judentum als Thema in verschiedenen Disziplinen außerhalb der Judaistik zu behandeln, als Herausforderung wahrgenommen und dabei einen sprach- und quellenorientierten Ansatz betont. In Österreich wurden die jüdischen Studien mit der Gründung eines Centrums für jüdische Studien in Graz (2000) und eines Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte in Salzburg (2004) verhältnismäßig spät eingeführt, haben aber sicher auch die österreichische Universitätslandschaft diesbezüglich verändert. Mit dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs (INJOEST) bilden diese Einrichtungen heute gemeinsam mit dem Institut für Judaistik die Arbeitsgemeinschaft für Jüdische Studien in Österreich (AGJÖ). In Bezug auf die durchaus berechtigte Kritik an einer Judaistik, die sich aktuellen Fragen nicht genug gestellt hat, muss man auf die Veränderungen verweisen, die sich insgesamt auf diesem Gebiet getan haben und gleichzeitig die Stärken des spezifisch judaistischen Zuganges betonen.
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Phase 3: Bewahren und Weiterentwickeln Ein stetiger personeller Umbruch ist seit den 1990er Jahren Teil einer Weiterentwicklung des Instituts bei gleichzeitiger Anknüpfung an Bewährtes. Eine moderne Judaistik kann weniger denn je auf die hebräische Sprache verzichten, ist sie doch neben dem Englischen die inzwischen bedeutendste Wissenschaftssprache in diesem Bereich. Zudem erschließen sich die älteren Quellen nur durch eine Kenntnis des raffinierten Sprachspiels, einer stark mit den Finessen der Sprache agierenden Hermeneutik. Aktuelle Quellen sind heute auch moderne hebräische Romane oder israelische Zeitungen. Schwerpunkte der Anfangszeit, so etwa die Auseinandersetzung mit den Texten aus Qumran, werden heute in methodischer Durchdringung und engem internationalen Austausch wieder aufgenommen (Armin Lange); die Kontroversliteratur des Mittelalters hat ebenso ihren Platz wie Mystik und Chassidismus (Ursula Ragacs, Klaus Davidowicz). Wie in den Anfängen die christlich-jüdischen Beziehungen im Blick waren, so wird jetzt verstärkt die Prägung des Judentums durch christliches Gedankengut vor allem in Antike und Mittelalter in den Fokus genommen und die rabbinische Literatur, durch Günter Stemberger lange Zeit auf höchstem Niveau quellennah aufgearbeitet, bleibt nach wie vor ein bedeutender Schwerpunkt als Grundlage des Judentums (Gerhard Langer). Gerade weil die Konzentration auf die Quellentexte in Antike, Mittelalter und Neuzeit im Mittelpunkt steht, ist die Zusammenarbeit mit den jüdischen Studien mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Moderne wichtig, um Lücken zu schließen, neue Felder zu eröffnen und faszinierende Einsichten zu ermöglichen. Auf der anderen Seite erkennt man heute auch in den jüdischen Studien sehr genau, dass eine Betrachtung des Judentums losgelöst von einer vertieften Kenntnis der Traditionsbezüge und der oft ins Säkulare und sogar Ablehnende gebrochenen Anknüpfungen an eine Jahrtausende alte Kultur unbefriedigend bleibt und daher der Austausch mit den KollegInnen aus der Judaistik notwendig ist. Die Judaistik bewahrt die Erinnerung an die zentralen Elemente jüdischer Kultur, die in Zeiten prosperierender Gemeinden und im lebendigen Austausch ebenso entstanden wie in schwierigen Epochen und Krisenzeiten. Sie erinnert an jene Kultur, die im Zuge der Moderne scheinbar verloren gegangen ist und zeigt auf, dass und wie sie in vielen Fällen in gebrochener und säkularisierter Form bewahrt wurde oder aber in neuem Gewand weiterlebt. Damit erweist sie sich beispielsweise als wichtige Brücke zu den modernen Philologien, indem sie literarische Dokumente von Juden oder über Juden analysieren hilft. Die deutschsprachige und prospektiv vor allem die jiddisch-sprachige Literatur stellen dabei einen gewissen Schwerpunkt dar, ebenso aber auch der Film mit seiner ganz spezifischen Ästhetik, »Sprache« und Form. Die wichtige Beteili-
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gung des Instituts (durch Klaus Davidowicz) am »Jüdischen Filmclub« zeugt von dieser Wahrnehmung der Herausforderung durch aktuelle Fragestellungen ebenso wie zahlreiche Lehrveranstaltungen zu Themen des zeitgenössischen Judentums. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass hierzu noch weitere Initiativen geplant und notwendig sind. Die stark forcierte Einführung einer Professur für jiddische Sprache und Kultur mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Jiddistik des 20. Jahrhunderts ist hier zu nennen. Heute erscheint daher die Unterscheidung von jüdischen Studien und Judaistik überholt (vgl. auch Stemberger 2002). Vielmehr erschließt die Judaistik – als ein Teil der jüdischen Studien in einem umfassenden Sinn verstanden – die weiten Felder des Judentums in ihren sprachlichen, religiös-kulturellen und literarischen Tiefen, während Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften, die historischen Wissenschaften, die Philosophie, die Musik-, Kunst- und Medienwissenschaften und natürlich die modernen Philologien das ihre dazu tun, um Phänomene des Jüdischen umfassend verstehbar und begreifbar zu machen. Auch wenn die Judaistik sich im interdisziplinären Austausch befindet, so hat sie doch bewusst die Option gewählt, eine eigenständige Institution zu sein, also, wenn man so will, eine Disziplin, die sich ihrer spezifischen Zugänge zur Thematik bewusst ist. Judaistik ist eben kein loser Verbund von am Judentum interessierten unterschiedlichen Disziplinen, sondern getragen von einem institutionalisierten Anspruch, der sich im Angebot eines Bachelor- und Masterstudienganges – einzigartig in Österreich – ebenso widerspiegelt wie in der klaren quellenorientierten Strukturierung nach Zeitepochen (Antike, Mittelalter und Neuzeit) mit jeweiligen Zuständigkeitsbereichen. Die Idee dahinter ist, dass alle MitarbeiterInnen sich ihrer jeweiligen Epoche mit vergleichbaren Instrumentarien und Zielsetzungen annähern, mit dem Blick auf die originalsprachlichen Quellen und einem methodologischen kompatiblen Grundgerüst. Ein des Öfteren vermerkter Punkt in Bezug auf die Wiener Judaistik über die Zeit ist der Hintergrund mehrerer Mitarbeiter in der katholischen und evangelischen Theologie. Dies ist historisch zum einen mit Kurt Schuberts starkem Engagement im christlich-jüdischen Dialog verbunden, zum anderen aber auch der Situation einer Judaistik in einem Land zu verdanken, das durch den Nationalsozialismus auch eine jüdische Gelehrtenschaft für lange (oder alle) Zeiten verlor. Die Diskussion um jüdische Studien und die starke Präsenz jüdischer WissenschaftlerInnen darin wird immer wieder geführt. Hierzu ist jedoch auch festzuhalten, dass die Judaistik weder eine Theologie – auch keine jüdische – noch eine Selbstanalyseeinrichtung sein kann und prinzipiell allen Studierenden und allen WissenschaftlerInnen offenstehen muss. Gleichzeitig ist Judaistik aber auch mehr als eine historische Wissenschaft und kämpft um ihre Eigenständigkeit als Kulturwissenschaft ohne Berüh-
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rungsängste zu jüdischen Einrichtungen und Gemeinden (im Gegenteil), ohne sich von diesen in Bezug auf Lehre und Forschung einschränken zu lassen. Kein Fach ist frei von Überzeugungen und grundlegenden Übereinkünften, wie etwa der Ablehnung jeglicher Form des Antijudaismus oder Antisemitismus, auch im Hinblick auf einen modernen Antizionismus. Gleichzeitig sichert sich Judaistik durch Methodenvielfalt und beständigen Austausch am internationalen Wissenschaftsdiskurs eine Distanz vor vorschneller Vereinnahmung und Neutralität gegenüber verschiedenen Gruppierungen inner- und außerhalb des jüdischen Spektrums. Die Universität ist die wichtigste Bildungsinstitution. Die Verankerung der Judaistik in ihr ist gerade im Blick auf die Geschichte von großer Bedeutung. Die alte Wiener Universität wurde buchstäblich mit den Steinen der geschliffenen Synagoge gebaut, nachdem die jüdische Bevölkerung 1420/21 vertrieben oder getötet worden war. Damit sollte die jüdische Gemeinde »endgültig« ausgelöscht werden. Die Erinnerung daran muss ebenso präsent bleiben wie das Anliegen, die enge Verbindung zum Judentum in all seinen Facetten nicht zuletzt in der Förderung der Judaistik zu festigen und damit unter anderem einen Beitrag zu einer zukunftsorientierten Erinnerungskultur zu leisten. Die jüdische Tradition hat Bildung als eines der höchsten Ziele menschlicher Entwicklung stark gemacht. Bildung dient dabei der Förderung einer Gesamtpersönlichkeit, die nicht nur Fachwissen besitzt, sondern auch ethisch zu handeln versteht. Wissen ist nicht neutrales erlerntes Handwerkszeug zur Berufsausübung, sondern umfassend Menschen bildender Lebens – mittel – punkt. Wissen macht den Menschen sensibel für das Richtige und Gute, wenngleich es ihn nicht davon abhält, das Böse zu wollen, ihm aber die Kraft gibt, diesen in ihm liegenden Teil zu besiegen. Die Frage, inwieweit durch Aufklärung und Wissensvermittlung Menschen beeinflusst werden (können) – auch in ihrer Einstellung etwa gegenüber Judentum – ist schwierig zu beantworten. Die Judaistik hat den Anspruch, vor allem in ihren Anfängen, mit Sicherheit erhoben und sich als eine Institution verstanden, die durch Bildung Einstellungen prägen will. Ich meine, dass sich eine kulturwissenschaftlich agierende Judaistik heute ebenfalls nicht auf einen neutralen Punkt der Beschreibung und Analyse von Phänomenen zurückziehen darf. Ihr eminent gesellschaftspolitischer und erzieherischer Anspruch bleibt bestehen, auch wenn sich die Mittel und die Methoden, mit denen Lehre und Forschung sich präsentieren, wandeln und der Anspruch auf Menschenbildung subtiler wird. Die beständige Selbstreflexion ist notwendig und geschieht im dauernden Austausch mit den Nachbardisziplinen. Als Anliegen, dem sich die Judaistik in besonderer Weise verschreibt, bleibt der in der universitären Gelöbnisformel ausgedrückte Anspruch, »nach bestem Wissen und Gewissen zur Lösung der Probleme der menschlichen Gesellschaft beizutragen«.
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Gerhard Langer
Literaturverzeichnis Schäfer, Peter / Hermann, Klaus: Judaistik an der Freien Universität Berlin, in: Karol Kubik und Siegward Lönnendonker (Hg.), Religionswissenschaft, Judaistik, Islamwissenschaft und Neuere Philologien an der Freien Universität Berlin (= Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin 5, Göttingen 2012) 53 – 74. Schubert, Kurt: Die Religion des nachbiblischen Judentums (Wien/Freiburg 1955). Schubert, Kurt: Israel: Staat der Hoffnung (Stuttgart 1957). Stemberger, Günter : Einführung in die Judaistik (München 2002).
Ramon Pils*
Disziplinierung eines Faches: Zur Englischen Philologie in Wien im frühen 20. Jahrhundert
Im sechshundertfünfzigjährigen Fächerkonzert der Wiener Universität ist die Englische Philologie eine Neuerscheinung. Die Disziplin ist auch insgesamt gesehen eine junge. Das erste einschlägige Ordinariat war 1872 in Straßburg eingerichtet worden, nur drei Jahre vor Wien, wo der Lehrstuhl bis 1876 formal allerdings den »nordgermanischen Sprachen« gewidmet war.1 Die folgenden Jahrzehnte standen ganz unter dem Zeichen der Konsolidierung von Material und Methode, damit einhergehend auch von Schulen und Seilschaften. Der Intention des Sammelbands folgend, soll dieser Beitrag die innerdisziplinäre Entwicklungslogik der frühen Wiener Anglistik darstellen. Die beiden Männer im Fokus der Erzählung sind Karl Luick – Jahrgang 1865, Floridsdorfer Arbeiterkind, ab 1908 Professor der Englischen Philologie an der Wiener Universität – und Leon Kellner, 1859 als Sohn jüdischer Kaufleute in Galizien geboren, 45 Jahre danach erster, schließlich auch letzter Anglist der österreichischen Franz-Josephs-Universität in Czernowitz. Gemeinsam ist ihnen die Person ihres akademischen Lehrers, Jakob Schipper ; über diese Gemeinsamkeit soll sich der Beitrag einer für die weitere Fachgeschichte illustrativen Episode annähern und die Entstehung einer wissenschaftlichen Schule nachvollziehbar machen. Jakob Schipper war 1876 als Nachfolger des auf den neuen anglistischen Lehrstuhl in Berlin berufenen Julius Zupitza nach Wien gekommen.2 Zupitza selbst, ein Anglist der allerersten Stunde, hatte sich 1869 in Breslau für Germanistik habilitiert und ab 1872 in Wien als Extraordinarius für »nordischgermanische Sprachen«, ab 1875 als Ordinarius, vorrangig anglistisch geforscht und gelehrt. Der Anlass, ihn nach Wien zu holen, war ganz praktischer Natur gewesen: Zu jener Zeit hatten die Realschulen gegenüber den Gymnasien an * Institut für Geschichte der Universität Wien. 1 Zur Entstehungsgeschichte der Anglistik im deutschsprachigen Raum vgl. Finkenstaedt 1983: Geschichte; bio-bibliographische Daten zu den genannten Personen bei Haenicke/Finkenstaedt 1992: Anglistenlexikon. 2 Zur Geschichte der Wiener Anglistik bis 1913 im Folgenden vgl. Reiffenstein 1985/86: Anfänge, 170 ff.
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Bedeutung gewonnen, wobei an Letzteren Latein und Griechisch, an den Realschulen hingegen zwei lebende Fremdsprachen unterrichtet wurden. Diese Entwicklung bedingte die Einführung eines Lehramts für die neueren Sprachen, wie man es bislang eben nur für die alten Sprachen gekannt hatte, und damit einhergehend die Gründung eines »Seminars für französische und englische Sprache« (1872), übrigens das erste derartige Universitätsinstitut im deutschen Sprachraum.3 Der Konflikt zwischen der Bezeichnung von Zupitzas Extraordinariat und jener des neuen Seminars wurzelte in der Auffassung, das moderne Englisch könne kein wissenschaftlicher Gegenstand, sondern lediglich als Lehrfach durch seine praktische Notwendigkeit legitimiert sein. Wissenschaftswürdig hingegen waren etwa die nordischen Rechtsaltertümer oder das Angelsächsische.4 Für den Seminarbetrieb konnte diese Unterscheidung jedoch keine entsprechende Gewichtung der Inhalte nach sich ziehen; da kein Sprachlehrer zur Verfügung stand, musste der Professor auch den Sprachunterricht besorgen. Dieser war eine umso größere Herausforderung, als nur Absolventen der Gymnasialmatura zum Universitätsstudium zugelassen wurden, und von diesen waren Vorkenntnisse in einer lebenden Fremdsprache eben nicht zu erwarten. Die übrigen Schwerpunkte in der Lehre lagen, dem Selbstbild des Fachs entsprechend, auf der historischen Grammatik und der älteren Literatur, wobei Zupitza auch zu Shakespeare, Byron und Tennyson las. In der wissenschaftlichen Produktion widmete er sich hauptsächlich der Editionsphilologie. Anlässlich seines Weggangs nach Berlin schlug Zupitza als seinen Nachfolger den um zwei Jahre älteren Schipper vor. Der Protestant aus Ostfriesland, einem bäuerlichen Milieu entstammend, hatte nach dem Gymnasium zunächst einige Semester Theologie studiert und sich erst dann den neuen Sprachen gewidmet. Nach der Promotion verließ er zunächst den Wissenschaftsbetrieb, bevor er 1869 nach England übersiedelte, um mit Joseph Bosworth an einer Neuausgabe dessen angelsächsischen Wörterbuchs zu arbeiten. 1871 nahm er zunächst einen Ruf nach Königsberg an, um fünf Jahre später Zupitza in Wien nachzufolgen. Im Vergleich zu seinem Vorgänger war Schipper inhaltlich breiter aufgestellt und weniger der reinen Textarbeit verhaftet. »Schipper kam vom dichterischen Werk zum Studium der Sprache«, schrieb Leon Kellner rückblickend über den Lehrer. »Aus Schippers Vorlesungen über Cædmon und Cynewulf sprach in erster Reihe das romantische Interesse an der Erschließung des mittelalterlichen Geistes; die Freude an dem Gewinn, der dabei der sprachwissenschaftlichen 3 Vgl. Finkenstaedt 1983: Geschichte, 62 ff.; die Trennung in zwei selbständige Seminare erfolgte 1891. 4 Vgl. Reiffenstein 1985/86: Anfänge, 171.
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Erkenntnis zufiel, nahm bescheidentlich einen zweiten Platz ein.«5 Bis zur Anstellung eines muttersprachlichen Lektors 1882 musste freilich auch Schipper den Sprachunterricht selbst bestreiten. Auch sonst hatte er das Gesamtgebiet der Englischen Philologie zu vertreten, lehrte Sprachgeschichte, Metrik, alt-, mittelund neuenglische Literatur bis hinauf zu Tennyson, sowie im Seminar auch Hermeneutik. Während der 71 Semester seines Wirkens in Wien führte Schipper acht seiner Schüler zur Habilitation.6 Eine Schülerin findet sich darunter nicht. Wenngleich die Philosophische Fakultät ab 1897 Hörerinnen zuließ, dauerte es bis 1905, bevor es mit Elise Richter erstmals einer Wissenschaftlerin gelang, die akademische Lehrbefugnis (für Romanische Philologie) zu erlangen. Ihr zufolge soll gerade Schipper ein prominenter Gegner des Frauenstudiums gewesen sein.7 Eine geeignete Kandidatin wäre jedenfalls vorhanden gewesen: Elise Richters Schwester Helene hatte sich zunächst im Selbststudium und ab 1891 als Gasthörerin an der Wiener Fakultät der Anglistik gewidmet. Erst 1931 wurden ihre Leistungen, darunter eine zweibändige Geschichte der englischen Romantik, mit Ehrendoktoraten der Universitäten Heidelberg und Erlangen vom etablierten Wissenschaftsbetrieb gewürdigt. Gemeinsam mit ihrer Schwester Elise wurde sie 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo beide umkamen.8 Seinen Schülern jedenfalls scheint Schipper ein großzügiger und freisinniger Förderer gewesen zu sein. Leon Kellner erinnerte sich, dass er sich schon den Studenten gegenüber »sorgfältig davor hütete, ihre Forschungsrichtung zu bestimmen. […] Er war immer erfreut, wenn ein Student eine selbständige Wahl traf, auch wenn er sich recht weit von den Arbeitsgebieten des Meisters entfernte.«9 Für die Habilitationsschrift freilich musste es sowohl Kellner selbst als auch dem eingangs erwähnten Luick sinnvoll erscheinen, sich nicht allzu weit von den Schwerpunkten des Lehrstuhls zu entfernen. Luick war einer jener Realschulabsolventen gewesen, deren Abschlusszeugnis nicht zu einem Universitätsstudium berechtigte. Er begann daher sein Studium zunächst als außerordentlicher Hörer, holte binnen zweier Jahre die Gymnasialmatura nach und konnte schließlich im Wintersemester 1884 als ordentlicher Hörer zugelassen werden. Luick promovierte 1889 sub auspiciis und legte nach einem neunmonatigen 5 L. Kellner 1915: Schipper, 197 f. (orthographisch angeglichen, R. P.). 6 Alois Brandl (1881), Arnold Schröer (1881), Karl Luick (1890), Leon Kellner (1890), Rudolf Brotanek (1902), Francis H. Pughe (1904), Albert Eichler (1908) und Roman Dyboski (1908). 7 Vgl. Richter 1997: Summe, 106. Die erste Absolventin der Wiener Anglistik war Margarete Rösler, die 1903 mit einer Arbeit zur Alexiuslegende promovierte (veröffentlicht in Wiener Beiträge zur englischen Philologie, Bd. 21, 1905); Dekanat 1936: Verzeichnis, 169. 8 Zu Helene Richter vgl. Stanzel 2011: Erinnerungen. 9 L. Kellner 1915: Schipper, 198.
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Englandaufenthalt bereits 1890 seine Habilitationsschrift über »die englische Stabreimzeile im XIV., XV. und XVI. Jahrhundert« vor. Während das Thema der schriftlichen Arbeit noch ganz den metrischen Interessen Schippers entsprach, deutete der Probevortrag zu den »lautlichen Varianten im Londoner Englisch« bereits seinen individuellen Forschungsschwerpunkt an. Weniger geradlinig war der bisherige Werdegang des knapp sechs Jahre älteren Kellner verlaufen.10 Im Alter von 17 Jahren hatte er mit der Absicht, den Beruf des Rabbiners zu ergreifen, zunächst an der Gymnasialabteilung des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau begonnen. Nach einem Jahr wechselte er auf das Obergymnasium in Bielitz und erwarb dort die Matura. Im Wintersemester 1880 inskribierte er in Wien zunächst die klassischen Sprachen, entschied sich dann jedoch der besseren Berufsaussichten wegen für die Neuphilologien. 1883 promovierte er und trat unmittelbar danach in den Schuldienst ein. Nebenher war er als Bibliothekar der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde sowie als freier Publizist (Feuilletons in der Neuen Freien Presse, dem Wiener Tagblatt und der Münchner Allgemeinen Zeitung) tätig. Seine Sommerferien verbrachte er stets forschend in London. Die Lehrbefugnis erwarb Kellner 1889 mit einer Edition von Caxtons Blanchardyn and Englantine und einem Probevortrag über »Renaissance und Romantik im 16. Jahrhundert«. Die überaus würdigenden und dankbaren Worte, die Kellner noch Jahre später für Schipper zu finden pflegte, lassen darauf schließen, dass sich dieser als sein Mentor verdient gemacht hatte. So verteidigte er Schipper auch gegen einen bis in die internationale Presse gelangten Antisemitismusvorwurf, den ein jüdischer Hörer öffentlich erhoben hatte.11 Möglicherweise trugen Gemeinsamkeiten – Brüche im Lebenslauf, die Außenseiterrolle an einer katholisch geprägten Universität – zu dieser Loyalität zwischen Lehrer und Schüler bei. In den folgenden Jahren lehrte Kellner, soweit es ihm sein Hauptberuf als Gymnasiallehrer und seine zum Teil ausgedehnten Forschungsaufenthalte in England erlaubten, als Privatdozent Sprach- und Literaturgeschichte. Erst 1904 erlangte er auf Empfehlung Schippers12 ein Extraordinariat an der Universität Czernowitz; fünf Jahre darauf erfolgte die Bestellung zum Ordinarius. In die Czernowitzer Zeit fällt die Veröffentlichung zweier größerer literaturgeschichtlicher Arbeiten: Die englische Literatur im Zeitalter der Königin Victoria (1909; erweiterte Neuauflage 1919 als Von Dickens bis Shaw) sowie eine zweibändige Geschichte der nordamerikanischen Literatur (1913) – der »ersten Darstellung
10 Vgl. neben Haenicke/Finkenstaedt 1992: Anglistenlexikon, 164 ff., auch A. Kellner 1936: Kellner. 11 Fackel 123, 17 ff. 12 Richter 1997: Summe, 85.
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der amerikanischen Literaturgeschichte aus der Feder eines deutschen Philologen«13. Vergleichsweise linear verlief hingegen die weitere Laufbahn Luicks. Ab 1891 lehrte er als Privatdozent in Graz, wo er 1893 zum außerordentlichen, 1897 zum ordentlichen Professor bestellt wurde. 1908 wurde er nach Wien zurückberufen, sodass bis zu Schippers Emeritierung 1913 in Wien die erste Doppelvertretung des Fachs überhaupt bestand.14 Obwohl auch Luick das gesamte Fach in Forschung und Lehre behandelte, erlangte er wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung durch seine Forschungen zum historischen Lautwandel. Mit seiner Historischen Grammatik der englischen Sprache (1914 ff.) erwarb er sich den dauerhaften Ruf eines Gelehrten, »dem die Wissenschaft von der englischen Sprachgeschichte Außergewöhnliches verdankt und der auch in der Historischen Sprachwissenschaft außerhalb der Anglistik eine wichtige Rolle spielt«15. Gegenüber dieser Gesamtdarstellung der englischen Lautgeschichte, in der Luick »völlig neue Sichtweisen des Lautwandels eröffnet[e]«16, waren seine literaturgeschichtlichen Arbeiten weniger prominent. Allzu sehr vernachlässigen konnte er die Literaturgeschichte aber schon allein deshalb nicht, weil er ab 1913 das Fach allein zu vertreten hatte. Der persönliche Verkehr zwischen Leon Kellner und Karl Luick blieb stets lose;17 auch inhaltlich gab es kaum Überschneidungen. Erst der Zusammenbruch des österreichischen Hochschulwesens als Folge des verlorenen Weltkriegs verflocht ihre Biographien aufs Neue. Diese Fügung materialisierte sich in einem Dokument, das rückblickend als Zeugnis einer die kommenden Jahrzehnte prägenden fachgeschichtlichen Dynamik gelesen werden kann. Gegen Jahresende 1919 hatte sich das Professorenkollegium der Wiener Philosophischen Fakultät mit einer Zuschrift des Unterrichtsamts zu befassen, wonach »der ordentliche Professor der englischen Philologie an der Universität Czernowitz Dr. Leon Kellner einen Lehrauftrag aus seinem Fachgebiet an der Universität Wien anstrebe« und die Fakultät ersucht werde, mitzuteilen, »ob und in welcher Form dem Wunsche Professor Kellners Rechnung getragen werden könnte«.18 Kellner zählte zu jenen Lehrkräften der Czernowitzer Universität, die, von den rumänischen Behörden ihrer dortigen Stellung enthoben, in den österreichischen Staatsdienst übernommen worden waren. Die Zugehörigkeit 13 14 15 16 17 18
Finkenstaedt 1983: Geschichte, 148. Vgl. Finkenstaedt 1983: Geschichte, 59. Fill 2003: Anglistik, 231. Ebd., 233. Teile des Briefwechsels 1905 – 1910 sind im Briefnachlass Luick (ÖNB) überliefert. Luick 1920: KB, 6v ; vgl. auch Pils 2008: Kellner sowie den maßgeblich vom Autor (mit-) verfassten Eintrag zu Kellner in der deutschsprachigen Wikipedia [Versions-ID 109996761] (6. Januar 2014).
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zu einer österreichischen Universität war damit jedoch nicht verbunden, sodass eine Beschäftigung für die Betroffenen erst gefunden werden musste.19 In der für die Causa Kellner gebildeten Fakultätskommission (bestehend aus den Professoren Brecht, Ettmayer, Luick, Molisch, Much und Seemüller) übernahm die Funktion des Referenten als zuständiger Fachvertreter Luick. Der von ihm verfasste Kommissionsbericht, der die Gestalt eines Gutachtens über Kellners bisherige wissenschaftliche Tätigkeit annahm, war vernichtend und mündete in der bedingungslosen Ablehnung von Kellners Ansuchen. Dies erscheint zunächst umso bemerkenswerter, als Kellner weiterhin seine Bezüge als Universitätsprofessor erhielt und seine Lehrtätigkeit somit kostenneutral gewesen wäre. Aus dem Kommissionsbericht Luicks sind drei Motive herauszulesen. Das erste Motiv war fachpolitischer Natur und mit wissenschaftlichen Argumenten begründet. Das zweite bezog sich auf die Person Kellners. Das dritte schließlich beruhte wohl auf den knappen Ressourcen, folgte allerdings einer längerfristig ausgerichteten Strategie. Der Ausgangspunkt für Luicks Kritik war zunächst also ein wissenschaftlicher. Er bezog sich auf Kellners methodischen Ansatz, den er anhand dessen Monographie zur viktorianischen Literatur von 1909 als unwissenschaftlich beschrieb. »Vor der Art, Literaturgeschichte zu treiben, wie sie bei ihm zu Tage tritt«, müsse er, Luick, »im Interesse einer streng wissenschaftlichen Schulung der Studierenden beständig warnen«.20 Dem Buch fehle nämlich »fast durchaus dasjenige, was wir als historisch-genetische Darstellung bezeichnen. Aus welchen persönlichen und sachlichen Voraussetzungen ein Dichtwerk erwachsen ist, wie in Zusammenhang mit seinen Lebensschicksalen und wechselnden literarischen oder sonstigen Einwirkungen ein Dichter sich entwickelt, wie die Entwicklungen der Einzelnen sich zu Strömungen oder Richtungen zusammenschließen, sind Probleme, die Kellner nur selten und ungenügend behandelt.« Die Literaturgeschichte im Sinne Kellners weise »etwas Skizzenhaftes, ja Journalistisches und im Zusammenhang ein stark subjektives Element« auf.21 »Das Fehlen historisch-genetischer Betrachtung«, so Luick, sei »nun aber ein Mangel, der den wissenschaftlichen Wert des Buches aufs allerstärkste mindert: Gerade das fehlt, was die neuere Forschung als wesentlich erachtet, um zu einer objektiven Erfassung der Literaturwerke zu gelangen.«22 Im Ergebnis entspräche der Ansatz Kellners demnach viel eher als der »deutschen Wissenschaft« dem »in England üblichen«.23 Tatsächlich hatte sich Kellner im Vorwort zu dem betreffenden Werk von der 19 20 21 22 23
Vgl. Staudigl-Ciechowicz 2014: Universitäten. Luick 1920: KB, 9r. Ebd., 7. Ebd., 8r. Ebd., 8v.
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damals herrschenden Methode distanziert und das von ihm gewählte Vorgehen erläutert: »Der Lebenslauf eines jeden Schriftstellers wird für sich erzählt, scharf geschieden von der Besprechung seiner Werke; Analyse, Stoffgeschichte, ästhetische Würdigung bilden ein eigenes Kapitel. Dieses Vorgehen steht nicht im Einklang mit der geltenden Übung und verzichtet in der Tat auf den Vorzug, organische Entwicklung darzustellen oder wenigstens den Eindruck einer solchen Darstellung zu erzeugen. Aber wer sich in Befolgung der landläufigen Methode die Verpflichtung auferlegt, auf Schritt und Tritt den organischen Zusammenhang zwischen Leben und Dichtung aufzuzeigen, unterliegt […] leicht der Versuchung, den widerspenstigen Tatsachen Gewalt anzutun, um eine vorgefaßte Theorie siegreich durchzuführen.«24 Methodisch hatten sich die beiden Männer seit 1890 sowohl von ihrem gemeinsamen Lehrer Schipper als auch voneinander wegentwickelt. Während sich Luick in die Strömung der Junggrammatiker eingereiht hatte und mit seiner »naturwissenschaftlich-entwicklungsgeschichtlichen Methode«25 (die in einzelnen Aspekten bereits spätere Ideen der Strukturalisten vorwegnahm26) schließlich sogar über diese hinausging, hatte Kellner seine weitere akademische Sozialisation in England erfahren und sich vom Positivismus emanzipiert.27 Damit befand er sich freilich in einer Außenseiterposition gegenüber dem herrschenden Selbstverständnis des Fachs.28 Anders als für Schipper, der den ihm methodisch entfremdeten Luick – »[L]aute und Formen als Objekt naturwissenschaftlicher Beobachtung lagen seinem Werdegang und wohl auch seiner Begabung fern« (so wenigstens Kellner über den gemeinsamen Lehrer)29 – als zweiten Ordinarius aufgenommen hatte, stand für diesen die Monopolisierung der eigenen Auffassung im Zentrum seiner Fachpolitik. Auch auf einen weiteren Aspekt dieser Außenseiterposition lassen sich in Luicks Kommissionsbericht Hinweise finden; etwa dann, wenn Kellners Forschungsansatz einer »deutschen Wissenschaft«30 gegenüber gestellt oder die Befürchtung geäußert wird, sein Einsatz in der Lehre würde die Studierenden verwirren.31 Varianten des letzteren Arguments tauchen wiederholt dann in universitätsgeschichtlichen Quellen auf, wenn etablierte Professoren sich bemühten, jüdische Fachvertreter in deren akademischer Laufbahn zu behin24 25 26 27 28 29 30 31
L. Kellner 1909: Literatur, 8. Wild 1935/36: Luick, 2. Vgl. Fill 2003: Anglistik, 234. Vgl. A. Kellner 1936: Kellner, 31 f. und 66 ff. Vgl. auch Finkenstaedt 1983: Geschichte, 118 f. L. Kellner 1915: Schipper, 198. Luick 1920: KB, 8v. Ebd., 9r : »Wenn nun die Studierenden von einer anderen Lehrkraft diese Art vertreten sähen, ergäbe sich ein Zwiespalt, der den Unterricht in der bedenklichsten Weise schädigen würde.«
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dern.32 Diese Elemente des Kommissionsberichts verweisen auf das zweite Motiv der Ablehnung Kellners: Als jemand, der sich bewusst in die Rolle eines »organischen Intellektuellen«33 seines Herkunftsmilieus begeben hatte, war Kellner der Gefahr antisemitischer Anfeindungen in besonderem Maß ausgesetzt. Spätestens seit dem Beginn seiner Freundschaft mit Theodor Herzl und damit auch seines Engagements für dessen zionistisches Projekt (1896) war Kellner in dieser Funktion öffentlich in Erscheinung getreten. Er war Mitbegründer der Jüdischen Toynbeehallen – Einrichtungen der Erwachsenenbildung für sozial Benachteiligte – in Wien (1900) und Czernowitz (1910) und wurde 1911 für den »Volksrat der Juden« Abgeordneter zum Landtag der Bukowina. Nach Herzls frühem Tod edierte er dessen zionistische Schriften (1908) und verfasste die erste HerzlBiographie (1920).34 Aufzeichnungen aus seinem näheren Umfeld geben folglich antisemitische Ressentiments als Grund für die ablehnende Haltung der Wiener Fakultät an.35 Außerdem lässt sich noch ein drittes Motiv ausmachen. Für das auf den ersten Blick unvernünftige Vorgehen der Fakultät lässt sich aus dem Dokument eine Absicht Luicks und seiner Professorenkollegen herauslesen, die für die Frage nach der disziplinären Entwicklungsdynamik besonders relevant scheint. Bereits in den vorangegangenen Jahren hatte Luick mit dem Aufbau einer eigenen Schule begonnen und junge Wissenschaftler, die ihm in ihrem Fachverständnis und methodischen Ansatz nahe standen, zur Habilitation geführt.36 Von den 1919 bereits Habilitierten war Albert Eichler zu diesem Zeitpunkt schon Ordinarius in Graz, wohingegen Karl Brunner und Friedrich Wild ihren Lebensunterhalt noch im Schuldienst bestreiten mussten. Zugleich war seit Schippers Emeritierung der zweite anglistische Lehrstuhl unbesetzt geblieben. Luick zeigte sich beunruhigt, »ob den Staatsbehörden noch Geneigtheit, ja überhaupt die Möglichkeit bliebe[,] einen dritten, voll besoldeten Anglisten zu bestellen. Ein Lehrauftrag an Professor Kellner würde also eine vollwertige Wiederbesetzung der Schipperschen Lehrkanzel auf geraume Zeit hinaus vereiteln.«37 Die Sorge um den Aufbau einer eigenen Schule und die dafür notwendigen Ressourcen dürfte das vordringlichste der angeführten Motive gewesen sein. Zwar konnte erst 1927 ein Extraordinariat mit dem hauptsächlich auf dem Gebiet der neueren 32 Vgl. Olechowski 2008: Rechtsphilosophie, 432 (Ernst Schwind über Hans Kelsen) sowie BMU Zl. 5523/I/1923, 28v (Kollegium der Wiener Juridischen Fakultät über Karl Friedrich Adler); Thomas Olechowski, Christoph Schmetterer und Susanne Gmoser danke ich für ihre Hinweise. 33 Zu diesem Konzept vgl. Gramsci 1991 – 2007: Gefängnishefte, Bd. 7/12 § 1. 34 Vgl. A. Kellner 1936: Kellner, 58 ff. und 76 ff. 35 Arnold 1959: Kellner, 182; A. Kellner 1936: Kellner, 83; Richter 1997: Summe, 85; YorkSteiner 1929: Kellner, 4. 36 Albert Eichler (1908), Karl Brunner (1914), Friedrich Wild (1918) und Herbert Koziol (1933). 37 Luick 1920: KB, 9v.
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Literaturgeschichte arbeitenden Wild besetzt werden, doch ist tatsächlich fraglich, ob es dazu gekommen wäre, hätte es mit Kellner bereits einen Vortragenden für dieses Fachgebiet gegeben. Obwohl nicht die Berufung auf ein Ordinariat, sondern lediglich ein Lehrauftrag zur Beratung gestanden war, ging Kellner leer aus. Auch ein neuerlicher Versuch des Unterrichtsamts, Kellner eine Stelle als Honorardozent zu verschaffen38, brachte kein Ergebnis, sodass Kellner seine weitere wissenschaftliche Tätigkeit außerhalb der Universität fortsetzen musste. Einen Lehrauftrag erhielt er über Vermittlung seines Freundes Michael Hainisch schließlich trotzdem, nämlich an der Technischen Hochschule in Wien.39 Nachdem Schippers Habilitanden in ihren Interessen durchaus unterschiedlich gewesen und zudem mit Ausnahme Luicks nicht in Wien geblieben waren, gelang erst unter diesem die Errichtung einer Wiener anglistischen Schule. Inhaltlich setzten Luicks Schüler die Arbeit ihres Lehrers fort, was vor allem in der Weiterführung der Historischen Grammatik durch Herbert Koziol und Wild nach Luicks Tod zum Ausdruck kam.40 Wild übernahm 1935 den nach Luick vakanten Lehrstuhl, den er mit einer unfreiwilligen Unterbrechung (1945 – 1955) bis 1960 inne hatte. Ihm folgte 1961 – 1969, dem Weg des Lehrers von Wien über Graz zurück nach Wien folgend, Koziol. Nach demselben Muster, lediglich etwas zeitverzögert, wurde auch die Vertretung des Fachs in der Akademie der Wissenschaften weitergegeben: 1915 folgte dort Luick auf Schipper, 1938 Wild auf Luick und 1961 schließlich Koziol auf Wild.41 Weltanschaulich stand die Luicksche Schule dem national-konservativen Milieu nahe. So finden sich etwa Mitte der 1920er Jahre die Namen aller seiner Schüler im Mitgliedsverzeichnis des »völkisch« ausgerichteten, antisemitischen »Deutsch-akademischen Anglistenvereins«.42 Außer Karl Brunner, der im März 1938 gemaßregelt und in weiterer Folge in den Ruhestand versetzt wurde, standen alle unter Luick Habilitierten schon vor dem »Anschluss« in einem mehr oder weniger engen Verhältnis zur NSDAP und deren Vorfeldorganisationen.43 In der Kombination von methodischer und weltanschaulicher Verengung, gepaart mit der Nutzbarmachung institutioneller Ressourcen zwischen Wien und Graz, wird die Konsolidierung einer langfristig wirksamen wissenschaftlichen Schule sichtbar. Zugleich war dieser Prozess, wie sich am Beispiel Kellners
38 39 40 41 42 43
Unterrichtsamt, 28. Februar 1920. Vgl. Hainisch 1978: Jahre, 229. Zu Brunner und Koziol vgl. Fill 2003: Anglistik, 245 ff. Haenicke/Finkenstaedt 1992: Anglistenlexikon, 181, 204 und 355. Vgl. Mitgliederverzeichnis; zum Anglistenverein vgl. Pils 2010: Professoren, 472 ff. Vgl. Hausmann 2003: Anglistik, 448, 452 f., 482 und 516 f.
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zeigen ließ, Vorbote einer »autochthonen Provinzialisierung«44, deren Folgen ebenfalls über einen längeren Zeitraum wirksam blieben.
Literaturverzeichnis Arnold, Paula: Leon Kellner (1859 – 1928), in: Herzl Year Book 2 (1959) 171 – 183. Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität in Wien (Hg.): Verzeichnis der seit dem Jahre 1872 an der Philosophischen Universität in Wien eingereichten und approbierten Dissertationen, Bd. 2 (Wien 1936). Die Fackel, hg. v. Karl Kraus (Wien 1899 – 1936). Erlass des Bundesministeriums für Unterricht Zl. 5523/I/1923, 17. 12. 1923, ÖStA/AVA Unterricht Allg., Univ. Wien, Karton 609. Erlass des Staatsamts für Inneres und Unterricht/Unterrichtsamt Zl. 2959-Abt.1/1920, 28. Februar 1920, Archiv der Universität Wien, PH S 24. Fill, Alwin: Anglistik und Amerikanistik, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 5: Sprache, Literatur und Kunst (Wien 2003) 231 – 255. Finkenstaedt, Thomas: Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Eine Einführung (Darmstadt 1983). Fleck, Christian: Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996) 67 – 92. Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Bochmann et al. (Hamburg 1991 – 2002). Haenicke, Gunta / Finkenstaedt, Thomas: Anglistenlexikon 1825 – 1990. Biographische und bibliographische Angaben zu 318 Anglisten (= Augsburger I & I-Schriften 64, Augsburg 1992). Hainisch, Michael: 75 Jahre aus bewegter Zeit. Lebenserinnerungen eines österreichischen Staatsmannes, bearb. v. Friedrich Weissensteiner (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 64, Wien et al. 1978). Hausmann, Frank-Rutger : Anglistik und Amerikanistik im »Dritten Reich« (Frankfurt a. M. 2003). Kellner, Anna: Leon Kellner. Sein Leben und Werk (Wien 1936). Kellner, Leon: Die englische Literatur im Zeitalter der Königin Viktoria (Leipzig 1909). Kellner, Leon: Jakob Schipper, in: Beiblatt zur Anglia 26 (1915) 193 – 202. Luick, Karl: Kommissionsbericht [KB] betreffs Erteilung eines Lehrauftrages an Prof. Kellner, Phil. Dek. Zl. 395 – 1909/10 [sic!], 14. Jänner 1920, Archiv der Universität Wien, PH PA 2172 Leon Kellner. Mitgliederverzeichnis des Deutsch-akademischen Anglistenvereins, Beilage B zu Zl. 922 – 1926/27, o. D., Archiv der Universität Wien, Senat S 164.17. Olechowski, Thomas: Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? Ein Juristenstreit aus 44 Fleck 1996: Provinzialisierung; zur weiteren Entwicklung vgl. Pils 2010: Professoren.
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der Zwischenkriegszeit an der Wiener Rechtsfakultät, in: Gerald Kohl et al. (Hg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder (Wien 2008) 423 – 442. Pils, Ramon: »Ein Gelehrter ist kein Politiker.« Die Professoren der Wiener Anglistik im Kontext des Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash et al. (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien (Göttingen 2010) 455 – 485. Pils, Ramon: Leon Kellner zwischen Czernowitz und Wien, in: Thomas Brandstetter et al. (Hg.), Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte (Wien 2008) 24 – 29. Reiffenstein, Brigitte: Zu den Anfängen des Englischunterrichts an der Universität Wien und zur frühen wissenschaftlichen Anglistik in Wien, in: Otto Rauchbauer (Hg.), A Yearbook of Studies in English Language and Literature 1985/86. Festschrift für Siegfried Korninger (= Wiener Beiträge zur Englischen Philologie 80) 163 – 185. Richter, Elise: Summe des Lebens (Wien 1997). Stanzel, Franz K.: Erinnerungen an die Anglistin Helene Richter anlässlich der Wiederkehr ihres 150. Geburtstages 2011, in: Anglia 129 (2011) 321 – 332. Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Zwischen Wien und Czernowitz – Österreichische Universitäten um 1918, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2014, 223 – 240. Wild, Friedrich: Karl Luick, in: Englische Studien 70 (1935/36) 1 – 15. York-Steiner, Heinrich: Leon Kellner, in: Menorah 7 (1929) 3 – 4.
Claudia Rapp*
Die Entstehungsgeschichte der Byzantinistik in Wien – Das Fremde im Eigenen**
Die institutionelle Verankerung der Byzantinistik – und in ihrer Folge der Neogräzistik – an der Universität Wien nahm einen langen Weg, der im 16. Jahrhundert begann und mit der Institutionalisierung der beiden Fächer durch die Schaffung von Lehrstühlen im Jahre 1962 bzw. 1982 ihren vorläufigen Abschluss fand. Diese Entwicklung verlief, wie sich zeigen wird, keineswegs zielstrebig oder gradlinig, sondern im Gegenteil sporadisch und als Reaktion auf externe Impulse. Ein Blick auf die zeitgeschichtlichen Umstände erhellt die Fach- und Forschungsgeschichte. Dies gilt insbesondere für herausragende Einzelpersönlichkeiten, die im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden sollen. Der Habsburgische Kaiserhof und die Osmanenbelagerungen, mittelalterliche Handschriften und sprachkundliche Ahnenforschung, griechischsprachige Zuwanderer und die Räumlichkeiten der Alten Universität in der Postgasse spielen bei der Entstehung und Institutionalisierung der Byzantinistik in Wien eine Rolle. Beginnen wir mit dem Anfang: Für die Forscher der Renaissance, ob in Florenz oder Budapest, Paris oder Prag, Venedig oder Wien, galt das Interesse der Wiederentdeckung des Schrifttums der griechisch-römischen Antike. Moralphilosophische Anleitungen entnahm man nicht nur der Bibel, sondern auch den antiken Autoren. Neben Moses, David und Solomon waren Alexander der Große und Kaiser Augustus Vorbilder für weltliche Herrscher. Griechische und römische Werke wie Herodots Historien oder die von Plutarch und Sueton verfassten Biographien von Staatsmännern wurden aufmerksam gelesen, da man aus ihnen Anleitung zum politischen Handeln erhoffte. Und der Besitz von Handschriften alter Texte wurde zum Statussymbol für weltliche Herrscher und Aristokraten. Man nahm eine Kulturkontinuität an, die vom antiken Grie* Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. **Für wichtige Hinweise bei der Vorbereitung dieses Beitrags danke ich Christian Gastgeber und Maria Stassinopoulou.
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chenland bis hin zu den Kopisten und Intellektuellen im griechischen Sprachraum des Mittelalters reichte, deren Interesse das Überleben dieser Literatur zu verdanken war. Es erforderte allerdings einen weiteren Schritt, um Byzanz als eigenständige historische Größe wahrzunehmen, ein Schritt, zu dem letztendlich die Zeitgeschichte den entscheidenden Anstoß gab. Das kulturelle Interesse des Habsburgerreiches war nicht unwesentlich durch dessen geopolitische Lage geprägt. Das Osmanenreich war ein ständiger Nachbar mit expansionistischen Ambitionen im Osten, mit dem es sich auf diplomatischem Wege auseinanderzusetzen galt. Die Eroberung Konstantinopels 1453 lag noch nicht allzu lange zurück und die beiden Belagerungen Wiens durch die Osmanen 1529 und 1683 waren traumatische Ereignisse. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts agitierten die humanistischen Gelehrten in Wort und Schrift gegen die »Türkengefahr«, oft mit warnendem Hinweis auf das tragische Schicksal des »vetustissimum Graeciae imperium« (»sehr alten griechischen Reiches«): gemeint war das Reich, das sich selbst in der Nachfolge des »imperium Romanum« gesehen hat und für das sich in der Forschung seit dem 16. Jahrhundert die Bezeichnung ›byzantinisch‹ eingebürgert hat.1 Denn nicht lange nach der ersten Türkenbelagerung prägte Hieronymos Wolf (1515 – 1580), Humanist, Altertumsgelehrter und sieben Jahre lang Bibliothekar der Bankendynastie der Fugger, erstmals im 500 km von Wien entfernten Augsburg den Begriff ›Byzanz‹. Als bezahlte Auftragsarbeit trug er die ihm bekannten griechischen Geschichtsschreiber des Mittelalters zusammen und gab diese Sammlung im Jahre 1557 unter dem Titel »Corpus Historiae Byzantinae« heraus.2 Mit dieser Bezeichnung verband sich implizit ein Forschungsprogramm: Byzantion war der Name der antiken Stadt, die nach ihrer Neugründung als Gegenpol zu Rom durch den ersten christlichen Kaiser Konstantin im frühen vierten Jahrhundert dessen Namen trug – Konstantinopel. Damit war das Augenmerk der Forschung vornehmlich auf Byzanz in seiner Rolle als Vermittler der Kultur des klassischen Griechenland gelenkt. Diese Wortwahl impliziert eine spezifische Sichtweise, die als Forschungsprogramm, in vielen Fällen bis heute, bestimmend wurde. Antikenrezeption und Handschriftenkunde haben über Jahrhunderte hinweg im Habsburgerreich (und nicht nur dort) das Interesse an der byzantinischen Kultur geprägt.3 Die erste Belagerung Wiens durch die Osmanen 1529 hatte zu einem rapiden Abfall der Studentenzahlen an der Universität geführt, dem Ferdinand I. (1503 – 1564) durch seine Reformbestrebungen entgegenzuwirken suchte. Damals wurden erstmals »professores ordinarii« als Fachkapazitäten berufen, aber es 1 Cuspinianus: De Caesaribus, 421, zit. nach Pertusi 1967: Storiografia, 33. 2 Beck 1966: Hieronymus Wolf. 3 Für Italien siehe Gastgeber 2012: Griechischer Humanismus, 157 – 172.
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sollte noch einige Zeit vergehen, bis 1574 die Facultas Philosophica zum ersten Mal aktenkundliche Erwähnung fand und sich damit der ursprünglichen Trias der theologischen, medizinischen und juridischen Fakultäten zugesellte. Wie schnell sich Wolfs Wortprägung der ›byzantinischen‹ Geschichte unter europäischen Intellektuellen durchsetzen konnte, mag offen bleiben. Jedenfalls zeigte sein jüngerer Zeitgenosse Ogier Ghiselin de Busbecq (1522 – 1592) als Humanist und Diplomat durchaus Interesse, sowohl an der osmanischen Gegenwart als auch am Kulturerbe der Antike in Gestalt byzantinischer Handschriften. Aus dem Habsburgischen Hoheitsgebiet in Westflandern (Spanische Niederlande) stammend, wurde er vom zukünftigen Kaiser Ferdinand I. an die Hohe Pforte entsandt. Weniger als drei Jahrzehnte nach dem Rückzug der Osmanen von Wien verbrachte Busbeq insgesamt sieben Jahre (1555 – 1562) in Konstantinopel und mit Bereisungen verschiedener Orte, die er in seinen Reisetagebüchern detailliert beschrieb. Darunter befinden sich zahlreiche epigraphische Beschreibungen, nicht zuletzt des Monumentum Ancyranum, einer vollständigen Inschrift der Autobiographie des Kaisers Augustus (»Res gestae divi Augusti«). Busbeqs wache Neugierde hatte auch durchaus unternehmerische Züge: 272 griechische Handschriften brachte er nach Wien, um sie dem Kaiser zu verkaufen, darunter zahlreiche Bibelhandschriften des 12. bis 15. Jahrhunderts, das handschriftlich geführte Aktenbuch des Patriarchats von Konstantinopel für die Jahre 1315 bis 1402 (heute aufgeteilt in Cod. Vindob. gr. 47 und 48), eine wichtige historische Quelle für die Spätzeit des byzantinischen Reiches, und wahrscheinlich auch eine frühe und reich illuminierte Handschrift der Materia medica des Dioskurides (Med. gr. 1), die noch heute zu den Prunkstücken der Österreichischen Nationalbibliothek zählt.4 Auch Tulpenzwiebeln befanden sich in seinem Gepäck, deren Nachzüchtung in den Niederlanden im folgenden Jahrhundert zur Tulpenmanie führen sollte. Die zweite osmanische Belagerung Wiens 1683 und die Gegenreformation prägten die Regierungszeit Kaiser Leopolds I. (regn. 1658 – 1705). Schon seine Vorgänger hatten in ihrer Bildungspolitik auf den Jesuitenorden gesetzt. In der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde das Alte Jesuitenkolleg errichtet, mit den heute noch bestehenden Gebäuden um den Ignaz-Seipel-Platz und die Postgasse: die Jesuitenkirche, die Alte Aula, das Universitätsgebäude (seit 1857 Sitz der Akademie der Wissenschaften) und der Gebäudetrakt in der Postgasse, in dem sich heute neben dem Universitätsarchiv auch das Institut für Byzantinistik und Neogräzistik befindet. Im ausgehenden 17. und besonders im 18. Jahrhundert
4 Gastgeber 1988: Der Beginn des griechischen Fundus, 52 – 73.
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pflegten die Jesuiten einen regen Austausch mit den Priestern der griechischen Gemeinde in Wien.5 Zwanzig Jahre vor der besagten Belagerung Wiens ernannte Leopold I. Peter Lambeck (1628 – 1680) zum Präfekten der Wiener Hofbibliothek. Aus Norddeutschland stammend, war Lambeck aufgrund seiner umfassenden humanistischen Bildung mit den hervorragendsten griechischen und lateinischen Philologen seiner Zeit verbunden (sein Onkel Lukas Holste war Bibliothekar der Vaticana) und in Rom zum Katholizismus konvertiert. Er sollte einen weiteren Baustein zur Handschriftenkunde und byzantinischen Texterforschung in Wien legen. Die Erfassung und Editionsarbeit des byzantinischen Schrifttums hatte seit Wolfs Tätigkeit große Fortschritte gemacht. In Frankreich hatte Ludwig XIV., politischer Rivale und entfernter Verwandter Leopolds I., eine Gesamtausgabe der byzantinischen Historiker in 36 Bänden in Auftrag gegeben. Für den absolutistischen Sonnenkönig war das byzantinische Kaisertum mit seinem Hofstaat und Zeremoniell nicht nur Vorbild, die Bourbonenkönige leiteten sogar ihre dynastische Abstammung von den byzantinischen Kaisern ab. Auch für österreichische Herrscher war das östliche Kaiserreich seit langem ein Bezugspunkt6 und die Habsburger übernahmen den byzantinischen Doppeladler als imperiales Herrschaftssymbol. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem griechischen Schrifttum wurde im 17. Jahrhundert Pionierarbeit geleistet. Lambeck verfasste die erste umfassende Literaturgeschichte, angefangen mit den Schriften des Alten Testaments, wobei auch die Autoren byzantinischer Zeit Erwähnung fanden. Noch in seiner Hamburger Jugend widmete er ein eigenes Werk der Geschichte und den erhaltenen Baudenkmälern Konstantinopels (»Syntagma originum et antiquitatum Constantinopolitarum«, 1655). Obwohl Lambeck mit Wolfs Arbeiten vertraut war, bleibt unklar, inwieweit er dessen embryonischen Byzanzbegriff aufgenommen oder gar weiterentwickelt hat. Lambecks Lebenswerk war die Neuorganisation und Katalogisierung der Wiener Hofbibliothek (seit 1920 Österreichische Nationalbibliothek). Die ursprünglichen drei Wissenschaftszweige, die der Aufteilung der universitären Fakultäten zugrunde lag, wurden hier um Geschichte, Philosophie und Philologie erweitert, die Wissenskultur breiter aufgefächert. Sein besonderes Augenmerk richtete sich auf die Katalogisierung der griechischen Handschriften, ein Werk, das im folgenden Jahrhundert von Adam Kollar (1718 – 1783) ergänzt, aber erst im Jahre 1995 von Herbert Hunger (1914 – 2000) endgültig zum Ab5 Ausführlicher behandelt im Beitrag von Maria Stassinopoulou in diesem Band. 6 Zu den drei Babenberger-Ehen mit byzantinischen Prinzessinnen siehe ausführlich Rhoby 2004: Theodora, 387 – 396.
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schluss gebracht werden sollte. Zudem gelang es Lambeck, den Bibliotheksbestand durch wichtige Neuzugänge zu bereichern. So kam durch ihn die Wiener Genesis (Theol. gr. 31), eine der wenigen erhaltenen illuminierten Handschriften der Spätantike, nach Wien. Die weit über tausend griechische Handschriften umfassende Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, von denen einige über den Umweg der Universitätsbibliothek in den Fundus gekommen sind, bildet bis heute eines der Fundamente der byzantinistischen Forschung in Wien. Im 18. Jahrhundert war es wiederum der diplomatische Dienst an der Hohen Pforte, der das Interesse an byzantinischen Themen beflügelte. Diesmal waren es weder Universität noch Hofbibliothek, sondern die dritte Wiener Institution der Wissenskultur, die Akademie der Wissenschaften, der dieses Interesse zugute kommen sollte. Joseph von Hammer-Purgstall (1774 – 1856), gebürtiger Steirer und durch den Spracherwerb des Türkischen und Arabischen an der KaiserlichKöniglichen Akademie für Orientalische Sprachen auf den diplomatischen Dienst vorbereitet, verbrachte, ähnlich wie Busbeq, insgesamt acht Jahre als habsburgischer Gesandter im Osmanenreich. Aufgrund seiner sprachkundlichen Studien erwarb er sich eine fundierte Kenntnis der arabischen und osmanischen Literatur, verfasste eine Literaturgeschichte und verschiedene Übersetzungen. Nicht umsonst gilt er als Begründer der Orientalistik als wissenschaftliches Fach in Österreich. Resultat seiner umfangreichen Reisetätigkeit in diesen Jahren war nicht nur eine Beschreibung antiker Monumente und griechischer Inschriften, sondern auch eine zehnbändige Geschichte des Osmanischen Reiches. Allgemein wegen seiner umfassenden Bildung geschätzt, unterstützte Hammer-Purgstall den Plan zur Errichtung der Akademie der Wissenschaften und wurde deren Gründungspräsident (1847 – 1849). In vielen Gebieten Europas war die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Zeit revolutionärer Umwälzungen im politischen Machtgefüge und eine Periode nationalistischen Aufbruchs, die auch kulturtragende Institutionen nicht unberührt ließ. Oft wurde in diesem Zusammenhang die sprachwissenschaftliche Forschung als Nachweis für primordiale ethnische Eigenständigkeit in den Dienst genommen. Das Habsburgerreich jedoch war von jeher ein Vielvölkerstaat, der verschiedene politische Verwaltungseinheiten und verschiedene Kultur- und Sprachtraditionen mit einschloss, ohne dass dies zu einer kulturellen Identitätskrise geführt hätte.7 An der Universität Wien wurde nun die Lehre endgültig von der Kirche entflochten – der erste Schritt dazu war bereits mit der Auflösung des Jesuitenordens 1773 geschehen – und mit der Forschung gekoppelt. 1850 wurde das Historisch-Philologische Seminar begründet, neue Professoren wurden berufen. 7 Schorske 1979: Fin-de-siÀcle Vienna.
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Einer von ihnen war Franz Miklosich (1813 – 1891), der erste Professor für slawische Philologie und Literatur in Österreich. Miklosichs Karriere wurde durch Bartholomäus Kopitar (1780 – 1844) stark gefördert, der selbst ein Sprachgenie in den slawischen Sprachen war und 1810 zum Zensor für slawisches und neugriechisches Schrifttum ernannt wurde – eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn seit dem späten 18. Jahrhundert war Wien ein wichtiger Umschlagplatz für den Druck von griechischen Büchern und Zeitschriften, die bis in den Balkan und nach Griechenland Verbreitung fanden. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatten sich in Wien zahlreiche Griechen verschiedenster Herkunft aus den Habsburgerländern und dem Osmanischen Reich als Kaufleute und Händler niedergelassen. So lebten im Jahre 1787 ungefähr 600 Griechen in Wien – eine beträchtliche Anzahl, die in den folgenden Jahrzehnten noch zunehmen sollte. Die griechische Kirche »Zur Heiligen Dreifaltigkeit« am Fleischmarkt wurde nach Plänen des Ringstraßenarchitekten Theophil Hansen im Jahre 1858 errichtet, nur einen Katzensprung entfernt vom damaligen Hauptgebäude der Universität, im Baukomplex um das ehemalige Jesuitenkolleg. Lange bevor der Philhellenismus in Deutschland und England die Gemüter erregte und zu deren Engagement im griechischen Freiheitskampf am Anfang des 19. Jahrhunderts führte, gab es damit in Wien eine geistige Begegnung mit dem Griechentum von dezidiert lokaler Färbung – eine Tradition, die auch heute noch in Fachgeschichte und Forschungsprogrammen fortwirkt. Nach Kopitars Tod übernahm Miklosich die Rolle des Zensors neugriechischen Schrifttums, aber auch slawischer und rumänischer Schriften. Seine außergewöhnliche Sprachkompetenz besonders im Slowenischen und sein Interesse an der Erforschung der Geschichte der slawischen Sprachen, auch im Sinne der vergleichenden Sprachwissenschaft in Verbindung mit der Indogermanistik, fand auch in seinem politischen Engagement für den Austroslavismus seinen Ausdruck. So verfasste er 1848 eine Proklamation zur Vereinigung aller slowenischen Länder zu einem eigenen österreichischen Kronland. Daneben galt sein Forschungsinteresse auch den Dokumenten des mittelalterlichen Griechenland. So initiierte er die Ausgabe von insgesamt 1328 meist spätbyzantinischen Urkunden in den »Acta et diplomata Graeca Medii Aevi sacra et profana«, die er in sechs Bänden gemeinsam mit Joseph Müller edierte – noch heute ein Standardwerk für die byzantinische Urkundenforschung. Er war auch der erste, der die Bedeutung des Codex Vindobonensis gr. 47 und 48 erkannte: eine Doppelhandschrift, die – wie schon erwähnt – Busbeq aus dem Osmanenreich mitgebracht hatte. Sie enthält die Akten des Patriarchats von Konstantinopel für die Jahre 1315 bis 1402. Die dort notierten Details sind von so großem kulturhistorischen Interesse, dass die Wiener Schule der Byzantinistik seit den 1970er Jahren an einer Neuausgabe arbeitet, von der bislang drei Bände erschienen sind.
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Im Gegensatz zu Wolf, Busbeq, Hammer-Purgstall und Lambeck, für die Byzanz entweder den ursprünglichen Nährboden des Osmanischen Reiches oder den Kanal für die Überlieferung des antiken Schrifttums darstellte, war Miklosichs Byzanzbild vom Bewusstsein und Erleben der Kontinuitäten mit dem zeitgenössischen Griechentum und dessen Sprachentwicklung geprägt. Mit diesen exemplarischen biographischen Abrissen sollte deutlich geworden sein, dass der Weg, der einzelne Forscherpersönlichkeiten nach Byzanz geführt hat, von ihrem politischen und kulturellen Umfeld geprägt war und sich daher deutlich von Entwicklungen etwa in Deutschland, Russland oder Frankreich unterschied, die jeweils ihre eigene zeitbedingte Forschungstradition aufweisen. Die Hofbibliothek mit ihrem wachsenden Reichtum an griechischem Schrifttum aus Antike und Mittelalter als Herausforderung an die wissenschaftliche Forschung, das Osmanische Reich in der Nachfolge von Byzanz als östlicher, oftmals bedrohender Nachbar sowie die Präsenz einer großen Anzahl angesehener und gut eingeführter griechischer Kaufleute in Wien waren die drei wichtigen Elemente, die – zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Gewichtung – dazu führten, dass die wissenschaftliche Neugierde ohne Schwierigkeiten oder Berührungsängste sich von der griechischen Antike zum byzantinischen Mittelalter und zur zeitgenössischen Realität der Griechen und Griechenlands erstreckte. Dies wird auch im 20. Jahrhundert deutlich. So fanden in den Jahren 1911 und 1914 Universitätsreisen nach Griechenland bzw. Kreta und Ägypten statt, bei denen gelehrte Herren in Begleitung ihrer Ehegattinnen mit Sonderzügen und Dampfschiffen diese Regionen bereisten, um dort mit Professoren und Politikern freundschaftliche Verbindungen zu pflegen und – ähnlich wie schon bei den Feldzügen Alexanders des Großen oder Napoleons – wissenschaftliche Daten zur Geologie, Botanik und anderen Aspekten der Landeskunde aufzunehmen. Einer der Mitreisenden war Eugen Oberhummer (1859 – 1944), seit 1903 Professor für Geographie an der Universität Wien, der sich besonders für die historische Geographie Griechenlands, Zyperns und der Türkei interessierte und dabei durchaus imstande war, die byzantinische Vergangenheit dieser Gegenden wahrzunehmen.8 Um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fand unter Schriftstellern und Künstlern ein Paradigmenwechsel statt, der auch die Intellektuellen mit einbezog. Jugendstil und Sezession suchten nach dem Eigenständigen in jeder historischen Epoche, ohne hierarchisierende Wertung; byzantinische Elemente fanden Eingang in die Gegenwartskunst, etwa bei Gustav Klimt, dessen Begegnung mit den goldfunkelnden byzantinischen Mosaiken in Ravenna einen nachhaltigen Eindruck hinterließ, oder Otto Wag8 Mylonaki 2004: Die Reisen der Universität Wien nach Griechenland, 315 – 323.
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ner, dessen Architektur vom byzantinisch gedachten großen Rundbogen geprägt war.9 Die Wiener Schule der Kunstgeschichte gehörte zu den Vorreitern dieser Ausrichtung. Unter diesem Blickwinkel kamen einzelne Professoren zu einer Neuorientierung des wissenschaftlichen Interesses an Byzanz. Nicht mehr in Bezug auf die antike Vorgänger – oder die osmanische Nachfolgekultur, sondern in ihrer Eigenständigkeit wurden die Kunstwerke des mittelalterlichen Reiches am Bosporus nun betrachtet. So war es Alois Riegl (1856 – 1902), Professor für Kunstgeschichte seit 1897, der als erster die Spätantike als separate historische Epoche reflektierte und die Bildhauerei dieser Zeit nicht als ›Verfallserscheinung‹, sondern als gezieltes ›Kunstwollen‹ interpretierte. Josef Strzygowski (1862 – 1941), von 1909 bis 1933 Leiter des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien, etablierte den Forschungsschwerpunkt »Byzantinische Kunst«. Die Anlehnung an die komparatistische Methode der vergleichenden Sprachwissenschaft, insbesondere der Indogermanistik, auf der Suche nach Ursprüngen führte ihn zunehmend auf die Irrwege der Rassenideologie, die ihn Zusammenhänge zwischen der indischen und der byzantinischen Kunst feststellen ließ und heute zu einer kritisch beleuchteten Figur machen. Sein Schüler Otto Demus (1902 – 1990) wandte sich wiederum Kunstdenkmälern zu, die im Herrschaftsbereich der nunmehr vergangenen Habsburgermonarchie lagen und unverkennbar byzantinischer Prägung sind. Seine Forschung galt vor allem den Mosaiken in der von den Kreuzfahrern erbauten Kuppelkirche von San Marco in Venedig. Einem Kunsthistoriker ist es letztendlich zu verdanken, dass die Österreichische Byzantinische Gesellschaft gegründet wurde, und zwar schon im Jahre 1946. Deren erklärtes Ziel entspricht unserem heutigen Verständnis der Kulturwissenschaft als Disziplin: ›die byzantinische Geschichte, Kultur, Literatur, Kunst und das geistige Leben zu erforschen, deren Erforschung zu fördern und die gewonnenen Forschungsresultate zu veröffentlichen.‹ Wladimir Sas-Zaloziecki (1896 – 1959), ab 1940 a.o. Professor für osteuropäische und byzantinische Kunstgeschichte in Wien, war der erste Präsident und Herausgeber des Jahrbuchs der österreichischen byzantinischen Gesellschaft (seit 1969 Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik). Die Akademie der Wissenschaften rief bald darauf, im Jahre 1948, auf Anraten des Papyrologen Hans Gerstinger und des klassischen Philologen Albin Lesky die »Byzantinische Kommission« ins Leben, deren Hauptaufgabe die Grundlagenforschung aufgrund des Handschriftenbestands der Österreichischen Nationalbibliothek sein sollte. Bis zur Einrichtung eines Lehrstuhls für Byzantinistik in Wien sollte allerdings noch einige Zeit vergehen. Ein erster Anlauf wurde bereits 1943 mit der Ernennung von Berthold Rubin zum außerordentlichen Professor für Balkan9 Bullen 2003: Byzantium Rediscovered, 46 – 53.
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kunde gemacht. Allerdings hat er, kriegsbedingt, seinen Dienst nie angetreten. Für eine kurze Zeit zeigte sich auch die Universität Graz um die Erforschung von Byzanz bemüht und machte Wien den alleinigen Rang streitig: 1949 durch die Berufung von Wladimir Sas-Zaloziecki (1896 – 1959) auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte und 1961 durch die Bestellung von Endre von Ivnka (1902 – 1974) als Lehrstuhlinhaber für Byzantinische Philologie und Geistesgeschichte. Doch in demselben Jahr wurde durch das Unterrichtsministerium auch in Wien ein Lehrstuhl für Byzantinistik eingerichtet und mit Herbert Hunger besetzt. Damit liefen alle Fäden der bisherigen Entwicklung, intellektueller und institutioneller Art, zusammen. Fachlich von der klassischen Philologie geprägt, war Hunger nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft in der Papyrussammlung und später in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek tätig. In jahrzehntelanger Arbeit, unter Mitarbeit verschiedener jüngerer Kollegen, gelang ihm, in Nachfolge von Lambeck und Kollar, die endgültige Katalogisierung der griechischen Handschriften. Für Hunger war Byzanz nicht nur Vermittler der Antike, sondern auch »Das Reich der Neuen Mitte«, so der wohlklingende Titel eines für ein breiteres Lesepublikum gedachten Buches.10 Mit persönlichem Engagement geschrieben und flüssig lesbar, verrät dieses Buch einiges von Hungers eigenem Byzanzverständnis, in dem weder das antike Erbe, noch das Kaisertum, sondern das Christentum letztlich die Kulturkonstante bildet, die den Nachhall von Byzanz bis heute erklingen lässt. Positive bildungspolitische Konstellationen erlaubten es ihm, Forschungsbedarf nicht nur zu sehen, sondern auch in die Realität umzusetzen. Verschiedene Langzeitprojekte, die erst in der Gegenwart ihrer Vollendung entgegensehen, gehen auf Hungers Initiative zurück, so die historische Geographie des byzantinischen Reiches (»Tabula Imperii Byzantini«) oder eben die Edition des Patriarchatsregisters von Konstantinopel. Dabei stützte er sich auf die Akademie der Wissenschaften und erwirkte zusätzliche Förderung durch den FWF. Von 1973 bis 1982 war er, wie vor ihm HammerPurgstall, Präsident der Akademie. Noch heute zeugt das nach ihm benannte Haus in der Sonnenfelsgasse, im ursprünglichen Studentenviertel um das Jesuitenkolleg, von seinem Wirken. Einen Trakt des ehemaligen Jesuitenkollegs in der Postgasse 7 – 9 konnte das neu gegründete Institut endlich im Jahre 1975 in Anspruch nehmen, das somit den Brückenschlag zur frühneuzeitlichen Geschichte der Universität verkörpert. Bis dahin war das Institut in der Hanuschgasse 3 angesiedelt, wo man bereits begann, die Institutsbibliothek anzulegen, die heute mit über 45.000 Bänden das Herzstück der byzantinischen (und neogräzistischen) Forschung in Wien bildet. Die Institutionalisierung der Byzantinistik an der Universität Wien vollzog 10 Hunger 1965: Reich der Neuen Mitte.
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sich also in mehreren Schritten. Ihr voran ging ein breites Forschungsinteresse, das aus der Gegenwartspolitik des Habsburgerreiches in Auseinandersetzung mit den Osmanen genauso genährt wurde wie aus der fachlichen Neugierde von Professoren der Orientalistik, Slawistik, Sprachwissenschaft, Geographie und Kunstgeschichte. Eine ganz wesentliche Komponente darf dabei nicht außer Acht gelassen werden: die Präsenz von Personen und Objekten, die eine direkte Verbindung zu Byzanz darstellten. Die Gegenwart zahlreicher Griechen in Wien, besonders im 17. und 18. Jahrhundert, die große Anzahl von Handschriften antiker Autoren, die im mittelalterlichen Byzanz geschrieben und verziert wurden und die schon in der Hofbibliothek der Habsburger das Forscherinteresse weckten, und die Kunstdenkmäler in unmittelbarer Reichweite, wie in Venedig oder Ravenna, die deutlichen byzantinischen Einfluss aufweisen, haben alle auf ihre Weise dazu beigetragen, dass Byzanz nicht als Exoticum in unerreichbarer Ferne wahrgenommen wurde, sondern in Bezug auf die eigene Kultur und Lebenswelt. Die Geschichte des Fachs Byzantinistik an der Universität Wien war weder linear noch voraussehbar. Sie begann, im engeren Sinne der Institutionengeschichte, mit der Gründung eines Vereins auf Initiative von Kunsthistorikern und erreichte ihren vorläufigen Apex unter Herbert Hunger mit einer Gründerfigur, die es in einzigartiger Weise verstanden hat, auch über die Universität hinaus eine breite Existenzgrundlage für das Fach aufzubauen. Seit dieser Zeit ist das Institut ein Magnet für Wissenschaftler aus dem europäischen und weiter entfernten Ausland. Die Ausrichtung des Internationalen Byzantinistenkongresses im Jahr 1981, für den sogar eigens eine Briefmarke geschaffen wurde, hat die Rolle Wiens als internationales Zentrum der Byzantinistik noch unterstrichen. Viele der akademischen Söhne und Töchter Hungers sind weiterhin aktiv in der Forschung, oft in den von ihm angeregten Langzeitprojekten und inzwischen ehrenamtlich. Die Generation seiner intellektuellen Enkel ist weit in der Welt verstreut, insbesondere in den USA, in Deutschland, Griechenland und Zypern. Einige haben am Institut für Byzantinistik in Wien den professoralen Weg betreten, den er geebnet hat. Weitere Impulse sind durch Neuberufungen aus dem Ausland dazugekommen. So stehen in Zukunft Forschungen zur Kulturgeschichte, Sozialgeschichte und Grundlagenforschung im Vordergrund, die in regem internationalen Austausch und unter Einbeziehung von NachwuchswissenschaftlerInnen gepflegt werden. Zum 100. Geburtstag Herbert Hungers, im Dezember 2014, wurde mit einer internationalen Konferenz seine Rolle in der wissenschaftlichen Erforschung von Byzanz aus der Fern- und Außenperspektive einer neuen Forschergeneration beleuchtet. Die akademische Ahnenverehrung wird zwangsläufig einer historisierenden Fachgeschichte weichen, wie dies auch hier versucht wurde. Die Suche nach dem Fremden im Eigenen, nach Byzanz in seiner Relevanz für die Gegenwart, geht weiter.
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Literaturverzeichnis Beck, Hans-Georg: Hieronymus Wolf, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Bd. 9 (München 1966) 169 – 193, Nachdr. in Hans-Georg Beck: Ideen und Realitäten in Byzanz. Gesammelte Aufsätze (London 1972). Bullen, J. B.: Byzantium Rediscovered (London/New York 2003) 46 – 53. Gastgeber, Christian: Der Beginn des griechischen Fundus der ÖNB und die philhellenischen Betätigungen im Rahmen der Hofbibliothek bis ins beginnende 18. Jahrhundert, in: Charalampos G. Chotzakoglou (Hg.), Rhigas Pheraios. Wien und die Griechische Aufklärung (Athen 1998) 52 – 73. Gastgeber, Christian: Griechischer Humanismus in der italienischen Renaissance: Aspekte eines idealisierten Kulturtransfers, in: Iulian Mihai Damian et al. (Hg.), Italy and Europe’s Eastern Border (1204 – 1669) (= Eastern and Central European Studies, Bd. 1, Frankfurt a. M. et al. 2012) 157 – 172. Grünbart, Michael: Byzantinistische Forschung in Österreich, in: Historicum (Winter 2001): [http://www.byzneo.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_byzantinistik/Download/ Byzantinische_Forschung_in_Österreich__M.Grünbart.pdf] (04. Dezember 2014). Hörandner, Wolfram / Koder, Johannes / Stassinopoulou, Maria A. (Hg.): Wiener Byzantinistik und Neogräzistik (= Byzantina et Neograeca Vindobonensia 24, Wien 2004). Hunger, Herbert: Reich der neuen Mitte. Der christliche Geist der byzantinischen Kultur (Graz 1965). Mylonaki, Ioanna: Die Reisen der Universität Wien nach Griechenland, in: Wolfram Hörandner et al. (Hg.), Wiener Byzantinistik und Neogräzistik (= Byzantina et Neograeca Vindobonensia 24, Wien 2004) 315 – 323. Pertusi, Agostino: Storiografia umanistica e mondo bizantino (Palermo 1967). Rhoby, Andreas: Wer war die ›zweite‹ Theodora von Österreich?, in: Wolfram Hörandner et al. (Hg.), Wiener Byzantinistik und Neogräzistik (= Byzantina et Neograeca Vindobonensia 24, Wien 2004) 387 – 396. Schorske, Karl: Fin-de-siÀcle Vienna: Politics and Culture (New York 1979).
Franz Römer, Sonja Schreiner und Herbert Bannert*
Klassische Philologen im Spannungsfeld von Bildung und Gesellschaft – Vertreter alter Fächer als »Trendsetter« 1849 – 2015
Das Revolutionsjahr 1848 brachte für die Universität Wien zugleich mit der Gründung der Philosophischen Fakultät auch die Entstehung einer Klassischen Philologie auf hohem wissenschaftlichem Niveau, während im »Vorstudienlehrgang« des althergebrachten Artisteriums ebenso wie im Gymnasium des Vormärz die praxisorientierte Sprachbeherrschung im Mittelpunkt gestanden war.
Hermann Bonitz: Neue Wege in Wissenschaft und Bildung Der rasche Aufschwung des 1849 gegründeten »Philologischen Seminars« war weitgehend das Verdienst seines ersten Professors, Hermann Bonitz (1814 – 1888), dessen fachliches Meisterwerk die sorgfältige Erstellung eines auch heute – trotz der Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung – unentbehrlichen Index zu den Werken des Aristoteles war. Dennoch lag seine größte – weil weit über die Grenzen des Faches hinausgehende – Wirkung auf einem anderen Gebiet: Parallel zu der von Minister Leo Graf von Thun-Hohenstein geleiteten Universitätsreform schuf Bonitz zusammen mit dem Philosophen Franz Exner die Grundlage für eine umfassende Neugestaltung des österreichischen Gymnasialwesens. Ihr bahnbrechender »Organisationsentwurf« von 1849 machte aus der alten Lateinschule eine moderne, auf dem Zusammenwirken vieler, auch naturwissenschaftlicher Fächer beruhende Bildungsanstalt.1 Das Grundkonzept von Exner und Bonitz prägte nicht nur das höhere Schulwesen Österreichs für mehr als ein Jahrhundert, es steht auch im Hintergrund von kulturellen Hochleistungen mehrerer Generationen, wofür das Wien des Fin de SiÀcle ein eindrucksvolles Beispiel liefert. Das Werk von Hermann Bonitz, der 1867 nach * Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein der Universität Wien. 1 Römer/Schwabl 2003: Klassische Philologie, 72 – 74.
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Deutschland zurückging,2 wurde auf akademischem Boden von einer Reihe bedeutender Philologen fortgeführt, doch fand sein gleichzeitiges Engagement für das Gymnasialwesen bei keinem so deutlichen Widerhall wie bei Wilhelm Ritter von Hartel (1839 – 1907), dessen impact on society – in Schule, Wissenschaft und Politik – bis heute von keinem Philologen unseres Landes übertroffen wurde.3
Wilhelm von Hartel: Vom Shooting-Star der Altertumswissenschaft zum Minister für Cultus und Unterricht Hartel stammte aus Hof in Mähren und besuchte das Gymnasium auf der Kleinseite in Prag, wo er mit Karl Schenkl einen seiner späteren Wiener Kollegen zum Lehrer hatte. Auf sein Studium der Klassischen Philologie an der Universität Wien (1859 – 1864) folgte schon 1866 die Habilitation, 1869 die Berufung zum außerordentlichen Professor und 1872 zum Ordinarius. Während der Schwerpunkt seiner Forschungen zunächst auf dem Gebiet der Gräzistik gelegen war, auf dem er innovative, international anerkannte Studien (vor allem zu Homer und Demosthenes) publizierte, wandte er sich bald in höherem Maß der Latinistik zu. Von bleibendem Wert sind seine Leistungen für das neu gegründete Wiener Kirchenvätercorpus (CSEL: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum), das sich schnell zum weltweit führenden Projekt im Bereich der Edition lateinischer patristischer Texte entwickelte. Zwischen 1868 und 1894 brachte Hartel nicht nur eine Reihe von methodisch anspruchsvollen Textausgaben heraus, sondern wurde zuletzt auch zum Hauptverantwortlichen des an der Akademie der Wissenschaften bis 20124 beheimateten Unternehmens. Gleichzeitig wurde die Erforschung patristischer Texte zu einem prägenden Faktor der Entwicklung des Faches an der Universität. Darüber hinaus zeigte Hartel großes Engagement für viele Anliegen der Akademie, deren Mitglied er seit 1875 war. So hatte er maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des für die Latinistik fundamentalen und bis heute nicht abgeschlossenen Großprojekts des »Thesaurus linguae Latinae«, in dem fünf Akademien kooperieren, und förderte 2 Sein vorrangiges Interesse für das höhere Schulwesen bewies Bonitz zuletzt dadurch, dass er 1866 einen Ruf an die Universität Bonn ablehnte, 1867 aber die Leitung des Gymnasiums zum grauen Kloster in Berlin übernahm. Römer/Schwabl 2003: Klassische Philologie, 75, Anm. 21. 3 Frankfurter 1912: Hartel; Römer/Schwabl 2003: Klassische Philologie, 78 – 86; Römer 2011: Fackel. 4 Aus finanziellen Gründen wurde das CSEL, das 2014 sein 150-jähriges Bestehen feierte, an die Universität Salzburg verlegt, wo es im Jahr davor mit der Neuentdeckung des Fortunatianus, eines spätantiken Evangelien-Kommentars, Schlagzeilen machte. Zimmerl-Panagl et al. 2014: Edition und Erforschung; Hanslik 1964: 100 Jahre.
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1899 die Gründung einer internationalen Assoziation der wichtigsten Akademien. Bei allem Einsatz für die Wissenschaft verlor Hartel auch das Schulwesen keineswegs aus den Augen – und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst bemühte er sich um die Erstellung bzw. Neugestaltung von Lehrmaterialien,5 dann leistete er einen wesentlichen Beitrag zu den – für alle Fächer geltenden – »Instruktionen für den Unterricht an den Gymnasien in Österreich« (1884), und nicht zuletzt gestaltete er die »42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner« 1893 in Wien zu einer Demonstration des engen Zusammenwirkens von Schule und Universität. Höhepunkt der – auch gesellschaftlich glanzvollen – Veranstaltung war ein Empfang bei Kaiser Franz Joseph. Der Höhepunkt von Hartels akademischer Karriere war das Rektorat im Studienjahr 1890/91. Seine Inaugurationsrede »Über Aufgaben und Ziele der Classischen Philologie« ist von weiten, geradezu modern anmutenden Perspektiven getragen, da Hartel nicht nur die Klassische Philologie als integrativen Teil einer umfassenden Altertumswissenschaft sieht, sondern auch ihre Beziehungen zu den anderen geisteswissenschaftlichen Fächern anspricht und schließlich auf die Rolle der Wissenschaft in Staat und Gesellschaft eingeht.6 In diesem Sinn kam in der letzten Phase seines Wirkens zum Wissenschaftler Hartel noch der Wissenschaftspolitiker Hartel hinzu. 1891 wurde er zum Direktor der Hofbibliothek ernannt, doch erst mit seiner Berufung in das Ministerium für Cultus und Unterricht im Jahr 1896 legte er seine Professur zurück. Zunächst war er als Sektionschef für die Agenden der Hoch- und Mittelschulen zuständig, bis er im Jänner 1900 das Amt des Ministers übernahm,7 von dem er im September 1905 aufgrund neuer innenpolitischer Konstellationen zurücktrat.8 Die größte und nachhaltigste Leistung des Ministers Hartel war wohl der Neubau des Allgemeinen Krankenhauses in der Spitalgasse, den er trotz eines Gewirrs von divergierenden Plänen und finanziellen Schwierigkeiten in Angriff nahm. In seine Amtszeit fällt auch die Zulassung von Frauen zum Studium an der Philosophischen Fakultät. Kunst und Literatur – auch zeitgenössischer – brachte er großes Verständnis entgegen und bemühte sich, sie nach Kräften zu fördern, wie seine Unterstützung für Klimt und die Secession zeigen. Dem Gymnasialwesen galt weiterhin seine besondere Sorge, die erwartete Verwaltungsreform brachte dagegen auch er nicht zustande. An5 Die »Griechische Schulgrammatik« von Curtius-Hartel ist in adaptierter Form bis heute in Gebrauch. 6 Hartel 1890: Über Aufgaben und Ziele der Classischen Philologie. 7 Eine provisorische Ernennung war schon 1899 erfolgt. 8 Hartel ist nicht nur als erster Klassischer Philologe und einer von wenigen Universitätsprofessoren bis zum Minister aufgestiegen, er hat das Amt auch über einen beachtlichen Zeitraum ausgeübt. Dass die Interessen einflussreicher Gruppen über sachliche Notwendigkeit und individuelle Qualifikation gestellt werden, ist kein zeitgebundenes Phänomen.
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gesichts des übermächtigen Einflusses parteipolitischer Interessen und des wachsenden Konflikts der Nationalitäten stießen die diplomatischen Fähigkeiten Hartels an ihre Grenzen.9 Nach dem Ausscheiden aus dem Ministeramt galt sein Hauptinteresse wieder der Wissenschaft, und so handelte sein letzter Vortrag von der »Organisation der wissenschaftlichen Arbeit«. Fünf Jahre nach seinem Tod würdigte die Universität Wien Hartels Lebenswerk mit einem der größten Denkmäler im Arkadenhof. Es ist geradezu selbstverständlich, dass Hartels Amtsführung als Minister für Cultus und Unterricht nicht überall, etwa von sozialdemokratischer Seite, nur Zustimmung fand und dass seine Bemühungen um einen Ausgleich der Interessen nirgends zu uneingeschränkter Begeisterung führten.10 Immerhin mag es für die Berufung des antiklerikalen Philosophen Friedrich Jodl an die Universität Wien im Jahr 1896 förderlich gewesen sein, dass dieser seine gleichzeitige Distanzierung von der Strömung des Sozialismus in einem Schreiben an den damaligen Sektionschef Hartel erkennen ließ.11 Dennoch haben die Biographen des liberal-konservativen Ministers keine über das tagespolitische Maß hinausgehende Kritik verzeichnet, während der wortgewaltige Karl Kraus in vielen Nummern der »Fackel« mit größter kritischer Schärfe den Neo-Politiker beobachtete, »der sich bisher damit befasst hat, die Silbenmaße griechischer Epiker zu zählen«, wobei er ihn von Anfang an im Kreis »geborstener Säulen des Liberalismus« verortete.12 Hartels Schulreformen sind für Karl Kraus rückwärts gewandt, einseitig an den philologischen Fächern orientiert und letztlich ein reines »Zerstörungswerk«. An den Universitäten spare er am falschen Platz, benachteilige die Geisteswissenschaften bei den Berufungsangeboten und die Naturwissenschaften bei der Materialausstattung. Hartels vorsichtiges Agieren gegenüber dem Streit um Klimts Fakultätsbilder löste bei Kraus helle, wenn auch rhetorisch brillante, Empörung aus. An der Medizinischen Fakultät sah er bereits irreparable Schäden – ohne den Neubau des Allgemeinen Krankenhauses 9 Nach einer verbreiteten Anekdote begann Hartel einmal eine Rede in Tschechien auf Deutsch, was empörte tschechische Zwischenrufe zur Folge hatte. Er wechselte also ins Tschechische, worauf es lautstarke deutsche Proteste gab. Erst als er lateinisch weitersprach, beruhigte sich die Szene. 10 Vgl. Engelbrecht 1908: Hartel, 87 und 95. Nicht näher behandelt werden hier die Streitigkeiten um Klimt und die Secessionisten, bei denen die Fronten besonders hart aufeinander prallten und Hartel sogar von dem um die Denkmalpflege besorgten Thronfolger Franz Ferdinand ins Visier genommen wurde: »Dieser gute Hartel, der einfach ein altes Weib ist (echt österreichischer Minister) und nebstbei ein verballhornter Sezessionist, wird Ihnen ein Mords Blimel-Bleamel vorschwätzen […].« (Salzburg, Familienarchiv Krauss-Elislago, Franz Ferdinand an Heinrich Krauss-Elislago vom 6. Juli 1901; zit. nach Brückler 2009: Thronfolger Franz Ferdinand, 26 und 74). 11 Lanser o. J.: Friedrich Jodl. 12 [http://corpus1.aac.ac.at/fackel/] (30. März 2015). Die Zitate stammen aus: 13/1899, 10; 41/ 1900, 18; 59/1900, 16 – 17.
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auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Selbst wenn man die kritisch-satirische Zielsetzung der »Fackel« in Rechnung stellt, scheint Kraus’ schonungslose, ja unversöhnliche Abrechnung mit dem aus der Wissenschaft kommenden Cultusminister doch übers Ziel zu schießen. Anderseits kann man es auch als (unfreiwillige) Anerkennung des spätberufenen Politikers Wilhelm von Hartel sehen, dass sich die Zeitkritik so intensiv mit ihm befasste – und letztlich darauf verzichtete, die Einweihung seines Denkmals zu kommentieren.
Theodor Gomperz: Popularisierung antiker Kultur und griechischer Philosophie Von besonderer Bedeutung ist die Karriere von Theodor Gomperz.13 1832 in Brünn als achtes und jüngstes Kind der Familie des jüdischen Bankiers Philipp Gomperz geboren, wurde er von Privatlehrern und von Augustiner-Chorherren in Brünn erzogen und studierte ab 1850 an der Universität Wien zunächst Jus und dann Klassische Philologie bei Hermann Bonitz. Das private Interesse am Werk von John Stuart Mill (1806 – 1873) veranlasste ihn, eine Übersetzung der Schriften des englischen Philosophen zu organisieren, die er selbst betreute und für die er auch den jungen Sigmund Freud zur Mitarbeit gewinnen konnte. Die Übersetzung erschien schließlich in zwölf Bänden zwischen 1869 und 1880 bei Fues und Reisland in Leipzig. Ohne sein Studium mit einem Doktorat abgeschlossen zu haben, wurde Gomperz 1867 in Wien habilitiert, vor allem wegen seiner Arbeit an den gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Herculaneum gefundenen, verkohlten und schwer beschädigten Papyrustexten, die er als Erster lesen und entziffern konnte. Die formalen Voraussetzungen für eine Professur wurden schließlich 1868 durch ein Ehrendoktorat (!) der Universität Königsberg erfüllt, und von 1869 bis 1900 war Gomperz außerordentlicher und ab 1873 ordentlicher Professor für Klassische Philologie in Wien; er war außerdem Mitglied des Herrenhauses und wirkliches Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, damals verbunden mit der Verleihung einer Uniform samt Helm und Degen. Doch Gomperz, der mit Vorträgen und publizistischen Arbeiten in Tageszeitungen antikes Wissen und antike Bildung darzustellen und für Interessierte aufzubereiten wusste, sollte noch durch ein anderes, großangelegtes und originelles Unternehmen Berühmtheit und Einfluss gewinnen – und dies über die Grenzen der eigentlichen philologischen Wissenschaft hinaus, die ihn – wohl aus Neid oder auch aus der Haltung eines eigenartig beschränkten wissenschaftlichen Ethos – als Außenseiter betrachtete.14 Ab dem Jahr 1893 erschien, zunächst in 13 Römer/Schwabl 2003: Klassische Philologie, 88 – 91. 14 Ein Artikel über die Ansichten Platons zur wirtschaftlichen Situation in Athen war am ersten
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einzelnen Lieferungen, eine großangelegte Kultur- und Geistesgeschichte des griechischen Denkens und der griechischen Philosophie: »Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie«, verlegt bei Veit & Comp. in Leipzig (der Verlag wurde 1919 von Walter de Gruyter übernommen). Das Werk war auch kommerziell ein Erfolg, wurde viermal, jeweils erweitert und ergänzt, aufgelegt, in mehrere europäische Sprachen und auch ins Hebräische übersetzt und wird bis heute (auch in verschiedenen preiswerten Ausgaben) nachgedruckt. Die »Griechischen Denker« umfassten schließlich drei Bände und waren 1909 mit einer umfangreichen Darstellung der Platonischen Philosophie und deren geistesgeschichtlicher Bedeutung und mit der Beurteilung des Aristoteles abgeschlossen – nicht ganz der Absicht des Verfassers entsprechend, der die geplante Fortsetzung über die Wirkung und die Nachfolger des Aristoteles aber nicht mehr vollenden konnte, wohl auch wegen seiner vielen anderen Verpflichtungen. Denn Theodor Gomperz war auch ein liberal gesinnter, gegen Chauvinismus, Antisemitismus und Fremdenhass auftretender politischer Publizist, der im Staatswesen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie – in einer Art von Wunschdenken, das auch für manch andere Intellektuelle der Zeit charakteristisch ist – das Ideal eines Staates im Zusammenleben und Zusammenwirken verschiedener Völker und Kulturen sah, das keinesfalls zum Verlust der Identitäten, sondern, im Gegenteil, in der Summe zu gegenseitiger Bereicherung und Verstärkung führen sollte. Den Untergang dieser Welt hat er nicht mehr erlebt: Gomperz starb im August 1912 in seinem Sommerhaus in Baden bei Wien.
Weltenbrand und Neubeginn Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichte Personalstand von vier Professuren ließ sich im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit nicht mehr halten, sehr wohl aber das hohe Niveau der Forschung, für das in erster Linie der Gräzist Weihnachtstag des Jahres 1900 im Wirtschaftsteil der »Neuen Freien Presse« in Wien erschienen – sehr zur Freude von Karl Kraus, der in der »Fackel« (63/1900, 5 – 6) dazu schrieb: »Aber man konnte sich trotzdem nicht verhehlen, dass der Economist und Plato, Moriz Benedikt und Theodor Gomperz, der die Geschichte der griechischen Denker schreibt, nichts mit einander gemein haben. Wohl mochten Eingeweihte sich sagen, dass ›Kikero, der alte Grieche‹ – wie Theodor Gomperz von seinem unfreiwillig scherzhaften Schwager, dem Banquier Todesco, genannt zu werden pflegt – trotz seiner Beschäftigung mit englischer und griechischer Philosophie und trotz herculanischen Studien für Moriz Benedikt immer der Bruder des Max Gomperz, des Präsidenten der Credit-Anstalt, geblieben ist und dass die ›Neue Freie Presse‹, was nur irgendwie mit der Credit-Anstalt zusammenhängt, im Economisten unterbringen zu müssen wähnt.« – Die Anekdote wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Interessen und Bildungsgewohnheiten des Bürgertums zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende und auf die Gesellschaftsschicht, der Theodor Gomperz angehörte.
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Hans von Arnim (1859 – 1931) mit seinen umfassenden Forschungen zur Philosophiegeschichte und Ludwig Radermacher (1867 – 1952) verantwortlich zeichneten. Radermachers Interessen reichten von der Mythenforschung über die Rhetorik bis zur Sprache des Neuen Testaments und zur Erschließung folkloristischer Erscheinungen für die philologische und volkskundliche Forschung. Die breit gestreuten Kompetenzen dieses herausragenden Gelehrten prägten die nächste(n) Generation(en) der am Institut Wirkenden, deren Spezialgebiete von der Homeranalyse bis zur Patristik und darüber hinaus reichten. Ebenso ist das besondere Augenmerk auf die Ausbildung von LehramtskandidatInnen für das (allgemeinbildende) höhere Schulwesen seit Hartels Zeiten nie verloren gegangen. Im Jahr 1938 verlor die Wiener Klassische Philologie durch rassistische Verfolgung und durch den Militärdienst temporär einen Großteil ihres Personals und vor allem jüngere Gelehrte, von denen die meisten den Krieg und die politischen Verirrungen der Zeit überstehen und nach 1945 wieder in ihre Funktionen zurückkehren konnten. Einige erlangten später führende Positionen an der Universität Wien (Walther Kraus als Rektor).15 Den internationalen Ruf des Instituts, begründet durch die Berufung bedeutender Philologen seit der Jahrhundertwende, festigten nach dem Zweiten Weltkrieg die lange und erfolgreich an der Universität Wien und auch an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wirkenden Gelehrten Albin Lesky, Walther Kraus und Rudolf Hanslik. Viele Forscher, Lehrer und Vermittler antiker Literatur und Kultur, manche später auch ins Ausland berufene, erhielten ihre Ausbildung in diesen Jahren an der Universität Wien.
Albin Lesky und die Literatur der Griechen Mit Albin Lesky (1896 – 1981), der 1949 – ohne die damit zweifellos verbundenen Risiken zu scheuen – aus Innsbruck und damit aus der französischen Besatzungszone nach Wien, in die sowjetisch dominierte Zone, übersiedelte, gab es erneut einen namhaften Forscher und akademischen Lehrer, dessen Wirken über die Fachgemeinschaft hinaus reichte. Auch er übernahm eine umfangreiche wissenschaftliche und schriftstellerische Aufgabe, deren Ende zunächst wohl nicht abzusehen war : eine Gesamtdarstellung der griechischen Literatur in Form eines Handbuchs, ab April 1957 bei Francke in Bern, zunächst in einzelnen Lieferungen, 1971 in dritter und letzter, überarbeiteter Auflage erschienen und seitdem auch als Taschenbuch nachgedruckt. Auch die beiden Darstellungen der griechischen Tragödie, die Lesky verfasste, zeigen den Wunsch und das Bestreben, die griechische Literatur nicht nur philologisch-textkritisch zu bear15 Römer 2005: »cum ira et studio«; Römer/Schreiner 2010: Dis-kontinuitäten.
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beiten, sondern auch auf der Basis gesicherter Erkenntnisse weiter zu vermitteln und Interessierten zugänglich zu machen. Mit seinen beiden Büchern zur Tragödie hat Lesky die beiden Seiten der Arbeit des Fachgelehrten und des Vermittlers von Wissen in Angriff genommen: Der Band »Die griechische Tragödie« (5. Auflage 1984), 1937 zuerst bei Adolf Kröner in Stuttgart erschienen, bietet einen fundierten, aber doch allgemein gehaltenen Überblick, der freilich heute, auch in der Art der Darstellung und der Sprache, als zeitverhaftet auffällt und den Ansprüchen nicht mehr entspricht. Doch schon 1957 hat Lesky, das Konzept aufgreifend, nun aber wesentlich weiter ausgreifend und mit umfangreichen Belegen aus der antiken und neuen Literatur versehen, mit dem Band »Die tragische Dichtung der Hellenen« der populären Darstellung ein Gegenstück zur Seite gestellt, das, zuletzt 1971 bei Vandenhoeck & Ruprecht aufgelegt, trotz vieler neuerer und modernerer Darstellungen immer noch unentbehrlich ist. In diesen Werken kann man die verschiedenen, von manchen Gelehrten eben nicht als gegensätzlich empfundenen Aufgaben der Forschung und der Verbreitung von Forschungsergebnissen erkennen und das Bemühen sehen, über die eigentliche Fachwelt hinaus Wissenswertes, aber durchaus auch Spezialprobleme, einer breiteren interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen.16
Walther Kraus und die 68er-Bewegung Knapp drei Wochen nach Beginn des akademischen Jahres 1968/69 versammelten sich die Spitzen von Staat, Kirche und Universität im Großen Festsaal des Hauptgebäudes am Ring, um der Inauguration des neuen Rektors, des Klassischen Philologen Walther Kraus (1902 – 1997), beizuwohnen, eines vielseitigen Mannes, der aufgrund seiner halbjüdischen Herkunft ein schweres Schicksal gehabt hatte. Nur mit seiner toleranten und empathischen Haltung ist zu erklären, dass er, der während der nationalsozialistischen Herrschaft sein Institut nicht betreten durfte, gerade damals die wegweisende Publikation zur Neubewertung von Ovid und dessen Exildichtung schrieb, die bis heute gilt; dass er nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Groll zurückkehrte und – vor allem als Gräzist17 – zu einer prägenden Figur der 1960er Jahre wurde und dass er noch im hohen Alter oft und gerne im Institut war. Seine letzte Publikation vollendete er in ungebrochener Schaffenskraft knapp vor seinem Tod. Der feinsinnige Interpret hatte eine Inaugurationsrede aus dem Kernbereich 16 Alle genannten Werke wurden in mehrere europäische Sprachen übersetzt, und auch die englische Ausgabe der Literaturgeschichte wird – wie die deutsche – immer wieder nachgedruckt. 17 Besonders bekannt sind seine Studien zu Aristophanes, dem er sich zu Beginn seiner Karriere widmete und über den er auch sein letztes Buch schrieb.
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seines Faches vorbereitet.18 Sein gelehrter Streifzug durch die altgriechische Literatur sollte zeigen, dass viele »Aspekte des Problems Wissenschaft und Gesellschaft«19 so alt sind wie die abendländische Tradition und dass der Entfaltung des Individuums dabei höchster Stellenwert zukommt. Dass mit Störversuchen zu rechnen sein würde, war abzusehen, da es bereits 1967 während der Inauguration von Kraus’ Vorgänger, des Juristen Fritz Schwind, zu Zwischenrufen und Attacken auf den damaligen Unterrichtsminister, Theodor Piffl-Percˇevic´, gekommen war; da Schwind allerdings auf die Studierenden zuging, wurde der Wunsch nach einer Verlängerung seines Rektorats laut. Das entsprach nicht dem damaligen Usus; der ursprünglich als Nachfolger intendierte, als konservativ geltende Prähistoriker Richard Pittioni zog seine Kandidatur zurück, und so fiel Walther Kraus, der in Fachkreisen ebenso wie bei den Studierenden für seine distinguierte Haltung und stille Größe bekannt war, die schwere Aufgabe zu, gerade 1968 das Rektorat zu übernehmen.20 Mitarbeiter des Instituts für Klassische Philologie gingen, nicht zuletzt auf Initiative Rudolf Hansliks, in den Festsaal, um Kraus im Notfall schützen und abschirmen zu können.21 Es folgten tumultartige Szenen, skandierte (längst zu »Kult« erklärte) Parolen und – Paradeiser störten die Atmosphäre. Eine der kritischsten Schilderungen der Vorfälle erschien in der deutschen Wochenzeitung »Die Zeit« – mit dem griffigen Titel »Mit Tomaten gegen den Kardinal«, weil auch der stoisch gelassen bleibende Franz Kardinal König zur Zielscheibe derer wurde, die sich nicht anders gegen das »Establishment« zu wehren wussten als »mit hämischen Zwischenrufen« und Gemüse: Nach der »Inaugurations-Tomaten-Skandal-Exzeß-Feier« sei es endgültig vorbei mit dem Image der »angeblich so friedlichen Alpenrepublik«, wo sich alles »mit landesüblicher Verspätung« ereigne.22 Doch auch diese epigonal gemilderten Wiener Ausläufer der 68er-Bewegung haben nachhaltig Eindruck bei den Zeitzeugen der Inauguration hinterlassen – nicht zuletzt deswegen, weil diejenigen, die Walther Kraus als Mensch, als Wissenschaftler und als akademischen Lehrer kannten, nur zu gut wussten, wie fern und wie fremd ihm, dem Intellektuellen, diese Art von Diskussions»kultur« war,23 der er sich gerade an dem Tag nur schwer entziehen konnte, der – abseits 18 Kraus 1968: Wissenschaft und Gesellschaft. 19 Ebd., 11. 20 Kraus war seinem Selbstverständnis nach Wissenschaftler und Wissenschaftsvermittler, für den seine Leistungen als Autor und Lehrer im Fokus standen. Seinem Ethos entsprach es jedoch, sich auch der Pflicht, in einer schwierigen Zeit akademischer Würdenträger (und Universitätspolitiker) zu sein, nicht zu entziehen, wenngleich diese Ehre für ihn (zumindest temporär) zur Bürde wurde. 21 Die seit mehr als 45 Jahren immer wieder geäußerte Behauptung, der selbsternannte Saalschutz aus Korporierten und RFS-Anhängern, der die linken Demonstranten brachial hinauswarf, sei von Kraus im Vorfeld angefordert worden, lässt sich nicht halten. 22 Alle Zitate aus St. 1968: Tomaten. 23 Scheu 1968: Studentenkrawalle.
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seiner eigentlichen Berufung – zu einem der akademisch wichtigsten in seinem Leben werden sollte. Just in der »Arbeiter-Zeitung« erschien am Tag nach dem Eklat der zweiseitige Artikel »Tumulte an der Wiener Universität«, der Krawallen eine klare Absage erteilte und dezidiert die Diskussionsbereitschaft des neuen Rektors in den Fokus rückte – ein erstaunlicherweise aus dem linken Lager kommender Hinweis darauf, dass letztlich Kraus’ moderatio Schlimmeres in der Art dessen, was international 1967/68 an der universitären Tagesordnung gewesen war, verhindert hatte.
Rudolf Hanslik und der Weg ins 21. Jahrhundert Lesky und Kraus sind zusammen mit Rudolf Hanslik (1907 – 1982) als die große Trias der 1960er Jahre in die Annalen des Instituts eingegangen.24 Wie Lesky und Kraus als Rektoren, so hat Hanslik als langjähriger Direktor der Lehramtsprüfungskommission die Verantwortung für wichtige Agenden der Gesamtuniversität und für zwischenuniversitäre Kooperationen getragen. Seine frühe Karriere führte ihn von der Musik25 über die Gräzistik in die Latinistik, die zu seinem eigentlichen Arbeitsgebiet wurde. Neben der augusteischen Dichtung und der nachaugusteischen Prosa beschäftigte er sich intensiv mit der lateinischen christlichen Literatur der Spätantike. Sein wichtigstes Werk ist hier die monumentale Ausgabe der »Regula Benedicti« (1960),26 für die er von Papst Johannes XXIII. mit dem Silvesterorden ausgezeichnet wurde. Als Obmann der Kirchenväterkommission an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat er das oben erwähnte, nach dem Zweiten Weltkrieg fast zum Stillstand gekommene Unternehmen des CSEL zu neuer Blüte geführt. Zu den größten Erfolgen unter seiner Ägide zählt neben zahlreichen wissenschaftlichen Textausgaben die Entdeckung einer Reihe von eineinhalb Jahrtausende lang verborgen gebliebenen Briefen des Heiligen Augustinus.27 Die Breite von Hansliks Kompetenzen bezeugt eine große Zahl von Beiträgen zu »Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft« (RE), einem fundamentalen Arbeitsinstrument für alle fachspezifischen Disziplinen. Schließlich hat er mit der Erweiterung seiner Venia auf »Klassische Philologie, Spät- und Mittellatein«, die er kurz vor seiner Emeritierung durchsetzte, 24 Petersmann 1993: Lesky und Hanslik. 25 Hanslik war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher Konzertgeiger, doch infolge seiner vielfältigen philologischen Interessen legte er das Instrument später völlig beiseite – was wörtlich zu verstehen ist: Jahre nach seinem Tod wurde die Geige im Institut wieder aufgefunden und konnte zu deren Freude der Familie übergeben werden. 26 Sie erschien nicht nur 1977 in 2. Auflage, sondern fand auch als Grundlage der zweisprachigen Reclam-Ausgabe weitere Verbreitung. 27 Sancti Aureli Augustini 1981: Opera.
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die Grundlage dafür geschaffen, dass die Wiener Latinistik von der nächsten Generation in Forschung und Lehre um den Bereich des Mittel- und Neulateinischen erweitert werden konnte, womit der internationalen Entwicklung des Faches Rechnung getragen und diese bis heute mit gestaltet wird.28 Ein Überblick über eineinhalb Jahrhunderte Klassischer Philologie an der Universität Wien zeigt, dass die Entwicklung des Faches zwar durchaus keine lokal oder national isolierte war,29 aber auch weniger von methodischen Trends als vielmehr von großen Persönlichkeiten geprägt wurde. Diese waren ihrerseits maßgebend für die Entwicklung von Methoden und Schwerpunkten: Konstituierung und Kommentierung zentraler lateinischer und griechischer Texte standen bei vielen »Wienern« im Zentrum ihrer Forschungsinteressen, wodurch sich Wien als einer der ersten Global Players in diesen altphilologischen Kerngebieten etablieren konnte – ja geradezu schulbildend wurde. Viele der hier Wirkenden haben sich zudem nicht in den geschützten Bereich ihres Faches zurückgezogen, sondern aktiv am politischen und gesellschaftlichen Leben ihrer Zeit teilgenommen. Dennoch bedeutet dies nicht, dass die Entwicklung des Faches in irgendeiner Phase spürbar von den politischen Interessen Einzelner oder einzelner Gruppen beeinflusst worden wäre.30 Entscheidend war die kontinuierliche Bereitschaft der Wiener »Alt«-Philologen zur Öffnung gegenüber neuen Inhalten und Methoden, die zuletzt auch formal ihren Ausdruck gefunden hat: Seit der Jahrtausendwende führt das einstige »Philologische Seminar« die Bezeichnung »Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein«.
Literaturverzeichnis Brückler, Theodor : Thronfolger Franz Ferdinand als Denkmalpfleger. Die »Kunstakten« der Militärkanzlei im Österreichischen Staatsarchiv/Kriegsarchiv (Wien/Köln/Weimar 2009). Die Fackel, hg. v. Karl Kraus: 13 (1899); 41 (1900); 59 (1900); 63 (1900) [http://corpus1. aac.ac.at/fackel/] (Online-Version, 30. März 2015).
28 Im August des Jubiläumsjahres 2015 wird an der Universität Wien der 16. Internationale Kongress der International Association for Neo-Latin Studies stattfinden: [http://ianlsvienna2015.univie.ac.at/] (30. März 2015). 29 Keiner der vor 1900 berufenen Professoren stammte aus dem Gebiet des heutigen Österreich. Der Einfluss des deutschen Neuhumanismus prägte vor allem die Anfangsphase seit 1849. 30 Selbst der mit Wien kurzfristig verbundene Viktor Pöschl, dessen tiefe Verstrickung in den Nationalsozialismus unübersehbar ist, hat dessen Ideologie in seinen wissenschaftlichen Arbeiten kaum jemals anklingen lassen. Römer 2005: »cum ira et studio«, 230 – 231; Römer/ Schreiner 2010: Dis-kontinuitäten, 323 – 324.
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Engelbrecht, August: Wilhelm Ritter von Hartel, in: Bursians Jahresbericht 31 (1908) 75 – 107. Frankfurter, Salomon: Wilhelm von Hartel. Sein Leben und Wirken. Zur Enthüllung des Denkmales in der Universität am 9. Juni 1912 (Wien/Leipzig 1912). Hanslik, Rudolf: 100 Jahre Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, in: Anzeiger der phil.–hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 101 (1964) 21 – 35. Hartel, Wilhelm von: Über Aufgaben und Ziele der Classischen Philologie. Inaugurationsrede, gehalten am 13. October 1890 im Festsaale der Universität von Wilhelm von Hartel, d.z. Rector der Wiener Universität (Wien/Prag/Leipzig 21890). Kraus, Walther : Wissenschaft und Gesellschaft im frühen Griechentum. Inaugurationsrede, gehalten am 17. Oktober 1968 von Professor Dr. Walther Kraus, dzt. Rektor der Universität Wien (Wien 1968). Lanser, Edith: Friedrich Jodl. Von Feuerbach zur Gesellschaft für ethische Kultur (Graz o. J.): [http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/moderne/heft11 l.htm] (30. März 2015). Petersmann, Hubert: Albin Lesky (1896 – 1981) und Rudolf Hanslik (1907 – 1982), in: Eikasmos 4 (1993) 249 – 252. Römer, Franz: »cum ira et studio«. Beobachtungen zur Entwicklung der Wiener Klassischen Philologie nach 1945, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss und Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Innsbruck/Wien/ München/Bozen 2005) 222 – 235. Römer, Franz: Wilhelm von Hartel im Schein der Fackel, in: Josef Förster (Hg.), Musarum Socius. Festschrift für Martin Svatos (Prag 2011) 489 – 500. Römer, Franz / Schreiner, Sonja: Dis-kontinuitäten. Die Klassische Philologie im Nationalsozialismus, in: Mitchell G. Ash, Wolfram Nieß und Ramon Pils (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien (Göttingen 2010) 317 – 342. Römer, Franz / Schwabl, Hans: Klassische Philologie, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. V: Sprache, Literatur und Kunst (Wien 2003) 67 – 113. Sancti Aureli Augustini: Opera. Epistolae ex duobus codicibus nuper in lucem prolatae, rec. Johannes Divjak (= CSEL 88, Wien 1981). Scheu, Friedrich: Studentenkrawalle, in: AZ. Arbeiter Zeitung (Wien 18. Oktober 1968) 1 – 2: [http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/flash.pl?seite=19681018_A01;html=1] (30. März 2015). St., D.: Mit Tomaten gegen den Kardinal. Wiens Studenten fordern das Establishment heraus, in: Die Zeit 43 (Wien/Hamburg 25. Oktober 1968): [http://www.zeit.de/1968/ 43/mit-tomaten-gegen-den-kardinal] (30. März 2015). Zimmerl-Panagl, Victoria / Dorfbauer, Lukas / Weidmann, Clemens (Hg.): Edition und Erforschung lateinischer patristischer Texte: 150 Jahre CSEL (Berlin/New York 2014).
Hadwiga Schörner*
Äußerer Zwang und innerer Antrieb: Die Dynamik des Faches Klassische Archäologie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts**
Ausgehend von der Situation um 1900 soll anhand dreier Beispiele die spezielle Dynamik der universitären Disziplin Klassische Archäologie betrachtet werden, wie sie sich zwischen den Einwirkungen von außen und endogenen Impulsen bis um 1950 entwickelt hat. Auch wenn innerhalb des Archäologisch-Epigraphischen Seminars (AES) die Archäologie von der Alten Geschichte und Epigraphik nicht völlig losgelöst betrachtet werden kann, muss hier aufgrund des begrenzten Raumes der Fokus ausschließlich auf der Klassischen Archäologie liegen.
Ausgangslage: Organisation der universitären Disziplin um 1900 Kurz vor der Jahrhundertwende war das Fach Klassische Archäologie an der Alma Mater Rudolphina als Disziplin mit dem althistorischen Nachbarfach1 besonders intensiv verbunden: Nachdem Klassische Archäologie bereits seit 1869 an der Universität gelehrt wurde,2 war gemeinsam mit der Alten Geschichte am 1. Oktober 1876 das »Archäologisch-Epigraphische Seminar« gegründet worden.3 Ein derart fachlich ausgerichtetes Universitätsseminar war singulär innerhalb der deutschsprachigen Universitäten jener Zeit und bildete die * Institut für Klassische Archäologie der Universität Wien. **Sehr herzlich sei den Herausgebern des Fakultätenbandes gedankt sowie allen Mitarbeitern in Instituten und Archiven (vor allem am Institut für Klassische Archäologie [IKA], am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik [IAG] sowie dem Universitätsarchiv Wien [UAW]), die die Entstehung dieses Beitrages wohlwollend unterstützt haben. 1 Zur Disziplin Alte Geschichte: Pesditschek 1996: Professoren. 2 Berufungsurkunde für den ersten Fachvertreter, Prof. Alexander Conze, vom 25. September 1868: UAW, PA Conze 13 ex 1868/69. Lehrveranstaltungen bot Conze ab dem Sommersemester 1869 an. Zu Lehrveranstaltungen und Personalausstattung hier und im Folgenden: Lehrveranstaltungsverzeichnis im UAW. 3 Weber 1976: 100 Jahre, 301 f. Das AES existierte von 1876 bis 1956.
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Grundlage von intensiver altertumswissenschaftlicher Forschung und Lehre durch die Verbindung von archäologischen, topographischen und epigraphischen Aspekten. Im Jahr 1900 bestand das AES aus den Fachvertretern Emil Reisch, Lehrkanzelinhaber für Klassische Archäologie, und Eugen Bormann, Lehrkanzelinhaber für Epigraphik und Alte Geschichte, sowie einem wissenschaftlichen Assistenten für Alte Geschichte und Epigraphik. Hinzu kam eine Assistentenstelle an der Archäologischen Sammlung, die jährlich neu besetzt werden konnte.4 Der Posten des Seminarbibliothekars mit einer Dotation von 400 Kronen pro Semester wurde aus dem Kreis der älteren Studenten bzw. der bereits Promovierten besetzt. Daneben standen pro Studienjahr insgesamt 480 Kronen für kleinere Stipendien für Studierende zur Verfügung.5 Außerdem wurden für das Jahr 1900 600 Kronen für sogenannte »kleinere Exkursionen« angewiesen.6 Im Sommersemester 1900 wurden in der Disziplin Klassische Archäologie an der Rudolphina, wie in den Semestern zuvor und danach, zwei Vorlesungen im Umfang von gesamt fünf Stunden angeboten, außerdem das zweistündige Archäologische Seminar. Darüber hinaus hielt Robert von Schneider, Direktor der Antikensammlungen des kunsthistorischen Hofmuseums, eine zweistündige Übung vor Originalen ebendort. Drei Grabungen existierten im Jahr 1900: seit 1895 in Ephesos (Osmanisches Reich), seit 1898 im Artemisheiligtum von Lousoi (Griechenland) und seit 1899 in Virunum (Kärnten), die allerdings alle durch das Österreichische Archäologische Institut (ÖAI) geleitet wurden.7
Grabungen und das ÖAI Seit Gründung des Faches Klassische Archäologie waren einzelne Ausgrabungen von Seiten der Universität,8 vor allem 1873 und 1875 auf der nordägäischen Insel Samothrake sowie seit 1881 topographische und epigraphische Forschungen im südwestlichen Kleinasien, organisiert worden. Sowohl Grabungen als auch Feldforschungen stellten nicht nur ein inhaltliches, sondern auch ein organisatorisches Novum dar, da diese normalerweise durch Museen oder For4 Diese Stelle wurde nach Bezug der Räume der Archäologischen Sammlung im Hauptgebäude am Ring im Sommersemester 1886 eingerichtet: UAW, PA Benndorf 540 [Z 7179] ex 1886. Sammlungsassistent im Sommersemester 1900 war Dr. Julius Bankû. 5 Akten IAG 1900 fol. 4 a (Erlaß der k. k. n. ö. Statthalterei vom 23. April 1900); fol. 7 (Erlaß der k. k. n. ö. Statthalterei vom 28. August) bezüglich der Finanzausstattung des AES. Bibliothekar im Sommersemester 1900 war Dr. Edmund Groag. 6 Z. B. Tagesexkursionen nach Carnuntum: Akten IAG 1900 fol. 4 (Anweisung für Auszahlung vom 20. Feber 1900). 7 ÖAI 1998: 100 Jahre, 20 – 24. Studierende und Mitarbeiter des AES konnten daran teilnehmen. 8 Überblick: ÖAI 1998: 100 Jahre, 1 – 11.
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schungsinstitute durchgeführt wurden. Schließlich wurde auch in Wien 1898 ein von der Universität unabhängiges Forschungsinstitut nach dem Vorbild des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches (AIDR) gegründet. Seine Aufgabe war es vornehmlich, der Grabung in Ephesos, die 1895 unter der Ägide des Ministeriums für Unterricht und Cultus begonnen worden war und jährlich stattfand, einen organisatorischen und finanziellen Rahmen zu geben, aber natürlich auch, Feldforschungen innerhalb Österreichs durchzuführen. Dieses Institut wuchs recht schnell und besaß binnen weniger Jahre eine ganze Reihe von Grabungs-, Forschungs- und Publikationsprojekten.9 Eine der Aufgaben des ÖAI bestand in der Oberleitung der selbständigen staatlichen Antikensammlungen; seit 1898 standen also die Archäologischen Museen von Aquileia, Pola (Pula), Spalato (Split) und Zara (Zadar) unter ÖAI-Direktion. Aufgrund der Dominanz der hauptstädtischen Universität innerhalb des Habsburgerreiches verwundert es nicht, dass fast alle Museumsdirektoren zumindest einen Teil ihres Studiums in Wien absolviert hatten.10 Während der ersten Jahre war das ÖAI personell von der Universität unabhängig und deutlich getrennt, da der erste Direktor Otto Benndorf (1898 – 1907) sogar seine Lehrkanzel an der Universität für diese Stellung aufgegeben hatte.11 Die Direktion des ÖAI bestand 1898 aus einem Direktor (Otto Benndorf), seinem Stellvertreter (Robert von Schneider) sowie vier Sekretären, von denen jeweils einer in Smyrna (Rudolph Heberdey) und Konstantinopel (Ernst Kalinka) sowie zwei in Athen (Wolfgang Reichel, Adolf Wilhelm) ihr Büro bezogen hatten.12 Nach Benndorfs Tod 1907 rückte der Leiter der Antikensammlung des k. k. Hofmuseums, Robert von Schneider, auf das Amt des Direktors nach und übte damit eine Doppelfunktion aus. Nach seinem Tod 1909 war das Amt des ÖAI-Direktors dann für lange Zeit mit dem Amt des universitären Lehrkanzelinhabers verbunden, mit den Direktoren Emil Reisch (1909 – 1933) und Camillo Praschniker (1935 – 1949). Nach dem Abschied Reischs wurde am 24. September 1934 das ÖAI als selbständige wissenschaftliche Anstalt aufgelöst und an das Fach Klassische Archäo-
9 Die ersten 20 Jahre des ÖAI: ÖAI 1998: 100 Jahre, 13 – 35. 10 Aquileia: Heinrich Maionica, Direktor 1882 – 1915, Stipendiat am AES 1877 – 1879; Pola: Rudolf Weisshäupl, hatte am AES 1886 promoviert; Spalato: Monsignore Frane Bulic´, Museumsdirektor 1883 – 1926, studierte 1870 – 1873 in Wien sowie 1876 am AES; Zara: Johann Smirich, Museumsleiter seit 1901, keine Verbindung zum AES. Siehe ÖAI 1998: 100 Jahre, 24 – 30. Informationen über Stipendiaten und Bibliothekare: Akten am IAG. 11 Zu den nun folgenden Personen siehe: ÖAI 1998: 100 Jahre, 99 – 101 (O. Benndorf); 102 f. (R. v. Schneider); 104 f. (E. Reisch); 106 f. (C. Praschniker); 108 f. (R. Egger); 113 f. (O. Walter); 122 f. (J. Zingerle); 128 f. (E. Braun). 12 Alle genannten hatten in Wien studiert und außer dem Philologen A. Wilhelm auch am AES abgeschlossen.
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logie der Universität angegliedert.13 Ab sofort waren ÖAI-Grabungen zugleich auch Universitäts-Grabungen. Die intensiven personellen Verbindungen mit der Universität halfen dem ÖAI auch über eine schwierige Zeit hinweg: seit 1934/35 fungierte der archäologische Lehrkanzelinhaber Camillo Praschniker als erster Direktor, als Vizedirektor der Ordinarius für Alte Geschichte Rudolf Egger. Die bescheidenen personellen und finanziellen Möglichkeiten ließen wenig Spielraum für Grabungen und Publikationen.14 Trotzdem gab es Grabungstätigkeiten: neu auf dem Ulrichsberg in Kärnten,15 wieder aufgenommen die Forschungen in Lauriacum bei Enns in Oberösterreich;16 außerdem wurden Arbeiten im Bereich der Limesforschungen mit dem Schwerpunkt Carnuntum durchgeführt.17 Folge des so genannten Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich war dann eine erneute Umorganisation: Zum 1. April 1939 wurde das ÖAI zur Filiale des AIDR degradiert sowie die österreichische Dependance in Athen in die Zweigstelle des deutschen Athener Institutes integriert.18 Damit war das ÖAI allerdings nicht mehr Teil der Universität Wien. Nach dem Ende der Kampfhandlungen 1945 entstand schließlich per Deklaration wieder das ÖAI als eigenständiges Forschungsinstitut.19 Diese politisch bedingten wechselnden Zuordnungen des ÖAI hatten zwar geographische, aber kaum inhaltliche Veränderungen bezüglich der Feldforschungen zur Folge; sie zeigen aber deutlich die intensiven Verflechtungen des ÖAI mit anderen Institutionen wie dem k. k. Hofmuseum oder dem Fach Klassische Archäologie an der Universität.
Neueinrichtung eines Extraordinariates Die politischen Verhältnisse konnten sich sowohl auf die Personalpolitik als auch auf die inhaltliche Ausrichtung eines Instituts auswirken. Ein personalpolitischer Sonderfall der Jahre 1915 bis 1918 betraf den Klassischen Archäologen 13 Zu diesem Zeitabschnitt, auch für das Folgende: ÖAI 1998: 100 Jahre, 37 – 60. Personalstand 1934: 1. Direktor vakant, Vizedirektor Josef Zingerle, wissenschaftlicher Assistent Egon Braun; Otto Walter, der Leiter in Athen, verrichtete zusätzlich Aufgaben des diplomatischen Dienstes als österreichischer Honorarkonsul. 14 Vor diesem Hintergrund muss auch die Ausstellung, die 1936 in der Hofburg die Arbeit des ÖAI vorstellte, als wissenschaftliches Lebenszeichen gesehen werden: ÖAI 1998: 100 Jahre, 47 mit Abb. 29. 15 Egger 1949: Ulrichsberg. »Inoffizielle Lehrgrabung« der Universität Wien: ÖAI 1998: 100 Jahre, 48. 16 Swoboda 1937: Lauriacum, 253 – 308; ÖAI 1998: 100 Jahre, 163 – 168. 17 Kandler 1998: Carnuntum, 16 – 18. 18 Camillo Praschniker und Rudolf Egger leiteten seit dem 1. April 1939 die AIDR-Zweigstelle in Wien, und Otto Walter wurde zum zweiten Direktor des DAI in Athen ernannt: ÖAI 1998: 100 Jahre, 50 f. 19 ÖAI 1998: 100 Jahre, 61 – 77.
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Emanuel Löwy.20 Er war in Wien geboren, hatte seit 1875 ebendort studiert und war 1881 bei Otto Benndorf promoviert worden.21 Nach einigen Jahren der Forschungen und Reisen habilitierte er sich im Sommer 1887 in Wien22 und wurde sogleich als Privatdozent zugelassen.23 Nachdem er die Ausschreibung für eine Professur an der Universität Rom für sich entscheiden konnte, trat er im Herbst 1889 seine neue Stelle an der Sapienza an. Am Tag der Kriegserklärung Italiens meldete sich Löwy beim Römischen Ministerium ab, verließ Rom und reiste nach Wien, was eine Sperrung seines italienischen Gehaltes zur Folge hatte sowie natürlich auch einen Bruch seiner beruflichen Laufbahn. Bereits im April 1916 machte ein Brief des k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht an das Dekanat der philosophischen Fakultät auf Löwy und seine besondere Situation aufmerksam,24 wobei unklar ist, auf wessen Initiative dies geschah. Eine Kommission, bestehend aus Professoren der Fakultät unter dem Vorsitz des archäologischen Lehrkanzelinhabers Emil Reisch, erarbeitete daraufhin im Sommer 1916 einen Lösungsvorschlag.25 Die Hauptargumentation für die Schaffung einer Stelle für Löwy wurde mit Hinweis auf eine Lücke in der Ausbildung der Studierenden an antiken Originalen geführt: Der Nachfolger der stets auch an der Universität lehrenden Direktoren der Antikensammlung des k. k. Hofmuseums Robert von Schneider (1895 – 1909) und Hans Schrader (1910 – 1914) besaß die Venia Docendi nicht26. Als Hauptaufgaben Prof. Löwys wurden daher die Ausbildung an den Originalen und die Abhaltung von auf ihn zugeschnittenen Spezialvorlesungen bestimmt, etwa zur italischen, römischen oder spätantiken Kunst. Dass bis zur Einstellung Löwys an der Universität Wien noch gut zwei Jahre vergingen kann allerdings nicht sicher auf eine Ablehnung seiner Person oder auf antisemitische Tendenzen zurückgeführt werden, auch wenn dies von seinem alten Studienfreund, dem Archäologen und römischen Kunsthändler Ludwig Pollak, in seinen Memoiren behauptet wurde.27 20 Praschniker 1938: Löwy, 306 – 319. Nach seiner Rückkehr nach Wien: Brein 1998: Löwy, 42 – 46. 21 Seine Dissertation »Untersuchungen zur Geschichte der griechischen Künstler«, ein wichtiges Standardwerk, erschien im Jahr darauf: Löwy 1882: Untersuchungen. 22 UAW, Personalakte Emanuel Löwy (PH PA 2494) fol. 6. 7 – 8. 38 ex 1887. 23 UAW, PH PA 2494 fol. 2 – 4. 9. 41 ex 1887. 24 UAW, PH PA 2494 fol. 12. 13 ex 1916. 25 Bericht vom 25. Juni 1916: UAW, PH PA 2494 fol. 21 – 28. 26 Es handelt sich um Dr. Julius Bankû; er war 1899 am AES in Klassischer Archäologie mit einer Dissertation über »Untersuchungen über die Darstellungen von Architektur in der griechischen Vasenmalerei« promoviert worden, hatte sich aber nicht habilitiert. 27 Merkel Guldan 1994: Römische Memoiren, 97: »[…] Als überzeugter Oesterreicher mußte Loewy beim Eintritt Italiens in den Weltkrieg 1915 Rom verlassen. Er ging nach Wien zurück, wo er trotz der Opposition des ganz unbedeutenden Inhabers des Ordinariats Emil Reisch, der ihn auch in Hofkreisen anschwärzte, im J. 1918 die zweite Lehrkanzel erhielt. […]«. Dies
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Löwy suchte daraufhin offiziell um Erteilung der Venia Legendi für das Gesamtgebiet der Klassischen Archäologie in Wien an. Unter Erlassung des Kolloquiums und Probevortrages wurde dies im Juni 1918 gewährt.28 Ende Juli 1918 erfolgte seine Berufung zum Extraordinarius für Klassische Archäologie mit Titel und Charakter eines ordentlichen Universitätsprofessors.29 Er begann unverzüglich im Wintersemester 1918/19 mit der Abhaltung von Lehrveranstaltungen. Dabei bot er in jedem Sommersemester eine zweistündige Übung vor antiken Originalen an: im Sommersemester 1919 in der Estensischen Sammlung, einer älteren Kunstsammlung vormals im Besitz des Kronprinzen Franz Ferdinand, und in den kommenden Sommern bis einschließlich Sommersemester 1930 stets im Kunsthistorischen Museum, außerdem in jedem Wintersemester eine Lehrveranstaltung zu neuester archäologischer Sekundärliteratur. Obwohl also neben der einen archäologischen Lehrkanzel ursprünglich keine weitere Planstelle vorgesehen gewesen war, gelang der Universität die Einstellung Löwys als ao. Professor. Im Gegenzug dazu brachte er frischen Wind an das Wiener AES und stockte das Lehrangebot in der Klassischen Archäologie deutlich auf.
Originalsammlung Auch bei der Erwerbungspolitik der Archäologischen Sammlung fanden die politischen Verhältnisse ihren Niederschlag. Da in den Jahren vor der Jahrhundertwende im Verhältnis zur Gesamtzeit mit Abstand die meisten Antiken angekauft worden waren, befanden sich 1900 bereits 422 originale antike Objekte in der Sammlung.30 Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging ist aus zwei Gründen eine sehr subjektive Aussage: zum ersten hatte sich Ludwig Pollak in seiner Wiener Studentenzeit nicht sehr wohl am AES gefühlt und antisemitische Tendenzen bei dem damaligen Ordinarius Otto Benndorf vermutet (Brein 1998: Löwy, 38 – 40); zum zweiten kann von einer »zweiten Lehrkanzel« für Löwy nicht die Rede sein, da es sich ja um ein Extraordinariat handelte. 28 Sitzung des Professorenkollegiums vom 15. Juni 1918; die Abstimmung wurde mit 40 Jastimmen, 7 Neinstimmen und 2 Stimmenthaltungen angenommen: Schreiben des Dekans an das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht vom 30. Juni 1918: UAW, PH PA 2494 fol. 49 ex 1918. 29 Brief des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 29. Juli 1918: Berufung als Extraordinarius für klassische Archäologie mit systemmäßigen Bezügen; Rechtswirksamkeit vom 1. Oktober 1918: UAW, PH PA 2494 fol. 50 r. v. 30 Zu den gattungsmäßigen Schwerpunkten bei den Erwerbungen sowie zur chronologischen Entwicklung: Schörner 2014: Bedeutung, 137 – 147; Schörner in Druckvorbereitung: Archäologische Sammlung. Siehe dort auch zur hier nicht berücksichtigten Gipsabgusssammlung. Die Auswertungen beruhen auf den Inventarbüchern der Archäologischen Sammlung am IKA.
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die Anzahl der im Kauf erworbenen Objekte gleichmäßig zurück, während jene durch Schenkung in die Sammlung gekommenen zunahm. Dies kann auf das Phänomen zurückgeführt werden, dass in Krisenzeiten Privatpersonen speziellen wertvollen Besitz entweder für Geld veräußern – wie das bei einer von privat gekauften Aschenurne31 im Jahr 1940 sicher der Fall war – oder diesen verschenken. Das kann in den Jahren 1933 bis 1945 beobachtet werden, wo die neuen Objekte etwa zu einem Drittel aus Schenkungen und zu zwei Dritteln aus Nachlässen stammen, während gekaufte Objekte nicht einmal ein Prozent ausmachen. Außerdem wurde mit Kriegsende der Sammlungsetat aufgelöst, sodass überhaupt nichts mehr angekauft werden konnte. Während diese Entwicklung sich nur geringfügig von der anderer universitärer Antikensammlungen auf deutschsprachigem Gebiet unterscheidet, ist als Besonderheit in Wien bis 1933 zu beobachten, dass aus Forschungen und Grabungen der Universität bzw. des ÖAI Fundgegenstände in die Sammlung kamen, etwa aus den topographischen Studien, die Camillo Praschniker während der Jahre 1916 und 1917 in Montenegro und vor allem in Albanien im Auftrag der Akademie der Wissenschaften durchgeführt hat.32 Von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges vermehrten bereits im 19. Jahrhundert beliebt gewesene Gattungen die Sammlung, vor allem Keramisches: Vasen (36 Stück) und Fragmente (1), außerdem Öllampen (2) und figürliche Terrakotten (2). Dies blieb in vergleichbarer Höhe zwischen 1919 und 1933 (vier Vasen, 19 Gefäßfragmente, eine Terrakotta) und änderte sich erst Mitte der 1930er Jahre bis zum Ende des 2. Weltkrieges, als sich das Spektrum durch die Überlassung von mehreren großen Nachlässen maßgeblich mit Steinplastiken, Glasgefäßen, Astragalen, Webgewichten, Ostraka oder Bronzeobjekten erweiterte. In den Nachkriegsjahren bis 1950 schließlich konnten außerdem noch Bauziegel, Architekturornamentik und Inschriften übernommen werden, was das Sammlungsspektrum auch in Richtung der Epigraphik ausweitete. Der Einsatz der originalen Objekte in Forschung und Lehre war äußerst gering. Abgesehen von einem Band der Publikationsreihe Corpus Vasorum Antiquorum (CVA), in welchem 120 originale Tongefäße bzw. Fragmente der Universitätssammlung zusammen mit Vasen aus einer Wiener Privatsammlung veröffentlicht wurden,33 wurden lediglich dreizehn Gegenstände publiziert, welche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erworben worden waren: Neun Objekte wurden bis 1950 vorgelegt,34 vier weitere danach, stets durch den 31 32 33 34
Etruskische Aschenurne, Inv. 1053, gekauft von privat am 15. Mai 1940 für 50 RM. Wlach 2012: Praschniker, 76 f. Zugleich Hedwig Kenners Habilitationsschrift: Kenner 1942: CVA Wien 1. Ein Fragment, der Ausguss eines attisch-rotfigurigen Louterions, Inv. 946, gekauft am 17. Juli 1930, wurde publiziert in Kenners Dissertation: Kenner 1935: Luterion, 109 – 154.
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Lehrkanzelinhaber oder die Sammlungsassistentin. Nur zwei Mal gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass in Lehrveranstaltungen mit originalen griechischen Vasen aus der Universitätssammlung gearbeitet wurde: der Lehrkanzelinhaber Camillo Praschniker kündigte im Sommersemester 1942 ein Seminar zum Thema »Übungen zur Geschichte der griechischen Vasenmalerei« in der Archäologischen Sammlung an, im Wintersemester 1949/50 dann Hedwig Kenner die Vorlesung »Interpretation ausgewählter griechischer Vasenbilder und plastischer Werke der klassischen Zeit« sowohl im Hörsaal als auch in der Archäologischen Sammlung. Der Originalsammlung muss somit die Funktion als ausgesprochener »Lehrsammlung« zumindest für die Jahre 1900 bis 1950 abgesprochen werden, auch wenn dieser Zweck bei der Gründung des Archäologischen Museums 1868/69 nachweislich intendiert gewesen ist.35 Damit steht sie bezüglich Publikation und Einbeziehung der Originale in den Unterricht aber in einem Gegensatz zu vielen anderen universitären Antikenmuseen an deutschsprachigen Universitäten.36
Zusammenwirken äußerer Kräfte und fachinternen Handelns Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte das AES an der Universität Wien ein komplexes, gut funktionierendes und finanziell nicht üppig, aber ausreichend ausgestattetes Gebilde dar.37 Als Beispiel für die Prosperität bis 1914 dienen die Stipendien für Studierende: In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts existierten bis zu vier kleine Stipendien in der Gesamthöhe von 120 Gulden pro Semester.38 1900 wurde der Gesamtbetrag umgerechnet mit 240 Kronen ausgezahlt,39 und ab dem Studienjahr 1909/10 dann auf 360 Kronen erhöht.40 Zugleich wurden mit einem großen Stipendium seit 1902/03 je ein Student der Archäologie und einer der Epigraphik mit jeweils 400 Kronen pro Semester unterstützt.41 Nach Sommer 1914 existieren dann keine Informationen zu den Sti35 Brief Alexander Conzes an die Kommission für den Universitätsneubau vom 20. Mai 1869: »[…] Eine Sammlung dieser Art ist allerdings unerläßlich […]. Diese Sammlung sollte meines Erachtens dermaleinst ihre Aufstellung in einem großen öffentlichen Museumsgebäude finden, wo sie von Universität und Akademie, aber auch vom gebildeten Publikum benutzt werden könnte.« UAW, Rektoratsakten P 819. 36 Siehe hierzu Schörner in Druckvorbereitung: Archäologische Sammlung. 37 Zum Zustand um 1900: Akademischer Senat 1898: Huldigungsfestschrift, 344 – 348; Photoalbum des AES anlässlich des 25-jährigen Jubiläums 1901: UAW, Photoarchiv Universitätsgeschichte 106.I.2627 (fünf Vorstände, 55 Stipendiaten und Bibliothekare). 38 Akten IAG 1898 fol. 8; Akten IAG 1899 fol. 3. 7. 39 Akten IAG 1900 fol. 4 a. 7. 40 Erlass der k. k. n. ö. Statthalterei vom 20. Jänner 1909: Akten IAG 1909 fol. 3. 41 Brief der k. k. n. ö. Statthalterei vom 29. September 1902: Akten IAG 1902 fol. 5: für die Studenten Josef Keil (Epigraphik) und Emil Vetter (Archäologie).
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pendien mehr42, da diese mit Beginn des 1. Weltkrieges abgeschafft wurden. Vor dieser finanzwirtschaftlichen Entwicklung ist der Fall von Prof. Löwy auffällig: es konnten also durchaus Handlungsspielräume genutzt und strukturelle Gegebenheiten aufgebrochen werden, falls das von einer maßgeblichen Institution forciert wurde. Dem AES war es daher zu Zeiten allgemeiner Finanzkürzungen in einer dynamischen Aktion von Fakultät und Ministerium möglich gewesen, eine ursprünglich nicht geplante Stelle eines ao. Professors zu schaffen, die Löwy noch zehn Jahre, zum Vorteil seiner eigenen Person als Wissenschaftler und Hochschullehrer, aber auch zum Nutzen der Universität, innehatte. Vor dem Hintergrund des mehr oder weniger latenten Antisemitismus zur Zeit des 1. Weltkrieges43 ist die Berufung eines Wissenschaftlers mosaischen Bekenntnisses im Jahr 1918 jedenfalls bemerkenswert und impliziert, dass Löwy bedeutende Unterstützer gehabt haben muss. Zu den direkten Folgen des Ersten Weltkrieges gehörten auch das Wegfallen einiger Ausgrabungsstätten, der Leitung der vier Adria-Museen sowie der Verlust größerer Mengen an Material von bereits geleisteten Forschungen und Grabungen. Das ÖAI hatte 1914 über zehn ausländische und sechs inländische Grabungen verfügt; davon waren nach dem Krieg noch vier inländische übrig, zu denen dann sechs neue in Österreich hinzukamen; die wichtigste Grabung in Ephesos konnte erst 1926 mit ausländischer, hauptsächlich US-amerikanischer Finanzierungshilfe wieder aufgenommen werden.44 Allerdings existierten noch immer viele persönliche Verbindungen zu den ehemaligen Kronländern, da sich dort zwar die Strukturen verändert hatten, aber oft noch dieselben Personen in den entsprechenden Funktionen saßen, was eine Zusammenarbeit in kleinerem Rahmen auch weiterhin möglich machte. Fassbar ist dies z. B. an der hohen Zahl von ÖAI-Publikationen in den 1920er Jahren.45 Diese und weitere Auslandskontakte halfen auch materiell während der Inflation der 1920er Jahre: Alleine für die Jahre 1922 bis 1926 sind sechs größere Spenden an das AES überliefert. Drei davon aus den Jahren 1922 (1.000.000 Kronen), 1924 (825.700 Kronen) und 1925 (6.282.820 Kronen) gehen mit Sicherheit auf persönliche Beziehungen zu Forschern in Großbritannien und den USA zurück, die regelmäßig gepflegt worden waren.46 Die Gelder wurden stets sofort zum Ankauf von Büchern bzw. für Buchbinderarbeiten verwendet. 42 Mit dem Studienjahr 1914/1915 wurden auch Exkursionsgelder um drei Viertel auf 150 Kronen gekürzt; Nachweise für die Studienjahre 1915/16 sowie 1916/17: Akten IAG (nicht fol.). 43 Zusammenfassend: Taschwer 2013: Seltsamer Körper, 386 – 393. 44 Etwa durch John Rockefeller Jr.: ÖAI 1998: 100 Jahre, 43 f. 45 ÖAI 1998: 100 Jahre, 40 f. 46 Akten IAG: Seminarabrechnungen der Jahre 1921 bis 1925 (unfol.). Meist wurden die Namen der Spender nicht genannt.
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Neben ökonomischen waren es auch politische Faktoren, die Art und Umfang der Neuerwerbungen von originalen Antiken für die Archäologische Sammlung bestimmten: Bis 1930 wurden fast ausschließlich keramische Objekte (Vasen und Vasenfragmente, Öllampen, Terrakotten) im In- und Ausland erworben, vor allem Alltagsgegenstände gelangten durch mit dem Seminar verbundene Grabungen und Feldforschungen der 1910er und 1920er Jahre in die Sammlung. Von 1935 bis 1950 schließlich lag der Schwerpunkt wegen umfangreicher Schenkungen und Nachlässe auf weiteren Gattungen wie Inschriften, Steinplastiken, Glasgefäße oder Bronzegeräte, was sich direkt auf die politischen und damit auch finanziellen Verhältnisse im Umfeld des 2. Weltkrieges zurückführen lässt. Innerhalb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es dem AES mit seinen beiden Disziplinen Archäologie und Epigraphik durch geschickte Selbstorganisation und dynamische soziale Verbindungen, auch in das Ausland, möglich, die durch die politischen Verhältnisse entstandenen äußeren Bedingungen abzumildern.
Literaturverzeichnis ÖAI (Hg.): 100 Jahre Österreichisches Archäologisches Institut 1898 – 1998 (= ÖAI Sonderschrift 31, Wien 1998). Akademischer Senat der Wiener Universität (Hg.): Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898 als Huldigungsfestschrift zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum seiner k. u. k. apostolischen Majestät des Kaisers Franz Josef I. (Wien 1898). Brein, Friedrich (Hg.): Emanuel Löwy. Ein vergessener Pionier, in: Kataloge der Archäologischen Sammlung der Universität Wien, Sonderheft 1 (Wien 1998). Egger, Rudolf: Der Ulrichsberg. Ein heiliger Berg Kärntens (Klagenfurt 1949). Kandler, Manfred: 100 Jahre Österreichisches Archäologisches Institut 1898 – 1998. Forschungen in Carnuntum. Bilddokumentation im Museum Carnuntinum, Bad DeutschAltenburg 20. Mai–26. Oktober 1998 (Wien 1998). Kenner, Hedwig: Das Luterion im Kult, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Institutes in Wien 29/2 (1935) 109 – 154. Kenner, Hedwig (Bearb.): CVA Wien 1. Wien, Universität und Wien, Professor Franz v. Matsch, Deutschland 5 (München 1942). Löwy, Emanuel: Untersuchungen zur Geschichte der griechischen Künstler (phil. Diss., Univ. Wien 1882). Merkel Guldan, Margarete (Hg.): Ludwig Pollak. Römische Memoiren. Künstler, Kunstliebhaber und Gelehrte 1893 – 1943 (Rom 1994). Pesditschek, Martina: Die Professoren der Alten Geschichte an der Universität Wien (Diplomarbeit, Univ. Wien 1996). Praschniker, Camillo: Nekrolog Emanuel Löwy, in: Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 88 (1938) 306 – 319. Schörner, Hadwiga: Die Bedeutung der griechischen Vasen in den Universitätssamm-
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lungen Wien und Jena von ihrer Gründung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Stefan Schmidt und Matthias Steinhart (Hg.), Sammeln und Erforschen. Griechische Vasen in neuzeitlichen Sammlungen, Kolloquium München 07.–09. November 2012 (= 6. Beiheft zum deutschen CVA, München 2014) 137 – 147. Schörner, Hadwiga: Die Archäologische Sammlung der Universität Wien. Ihre Geschichte, Entwicklung und Bedeutung von der Gründung 1869 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 32 (in Druckvorbereitung). Swoboda, Erich: Lauriacum. Grabungen in Enns im Jahre 1936, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Institutes in Wien 30 (1937) 253 – 308. Taschwer, Klaus: »Ein seltsamer Körper war diese Universität im Krieg«. Über die Alma Mater Rudolphina in den Jahren 1914 bis 1918 – und danach, in: Alfred Pfoser und Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg (Bad Vöslau 2013) 386 – 393. Weber, Ekkehard: 100 Jahre Institut für Alte Geschichte, Archäologie und Epigraphik der Universität Wien, in: Römisches Österreich 4 (1976) 301 – 314. Wlach, Gudrun: Camillo Praschniker (1884 – 1949), in: Gunnar Brands et al. (Hg.), Lebensbilder. Klassische Archäologen und der Nationalsozialismus, Bd. 1 (Rahden/ Westfalen 2012) 75 – 89.
Maria A. Stassinopoulou*
Wohin mit den neuen Griechen? – Fachareale der Neogräzistik in Wien**
Franz Dölger, dritter Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Neugriechische Philologie an der Universität München (der sich zum heutigen Institut für Byzantinistik, Byzantinische Kunstgeschichte und Neogräzistik an der LMU entwickeln sollte), veröffentlichte 1943 seine Rede »Wien und Neugriechenland« in der Reihe »Wiener Wissenschaftliche Vorträge und Reden«, die von 1942 bis 1944 von der Universität Wien herausgegeben wurde. Die Reihe hatte mit einem Vortrag von Fritz Knoll über »Die Wissenschaft im Neuen Deutschland« begonnen und wurde mit der Rede des Altphilologen Johannes Mewaldt (Römer/ Schreiner 2010, 320 ff.; Feichtinger/Hecht 2013) über »Hellenische Weltanschauung« fortgesetzt. Im sechsten Heft schlug Dölger den Bogen von der Präsenz der griechischen/balkanorthodoxen studentischen und kaufmännischen Diaspora in mitteleuropäischen Städten im 18. und 19. Jahrhundert hin zur deutschsprachigen gelehrten Auseinandersetzung mit dem »neuen Griechenthum« und zur Gegenwart. Wien reihte er zunächst innerhalb dieses Beziehungsgeflechts hinter München und Leipzig ein, hob dann aber »Wiens unbestreitbare deutsche Sendung für den Balkan« hervor und entwickelte eine bruchlose Erzählung von der Ehe Heinrichs II. Jasomirgott mit Theodora Komnena bis zu Wiens »lagemäßig und geschichtlich klar bestimmten Aufgabe, die Verbindung Großdeutschlands mit dem Südosten zu sein«. Die Vermengung von historischer Erkenntnis und Ideologie ist bei Dölger in Publikationen aus dieser Zeit nicht selten (Brandes 2013). Dölgers Wiener Rede verdeutlicht unter anderem aber auch das akademische Spannungsfeld zwischen der zu seiner Zeit auch aus politischen Gründen wachsenden Ost- und Südosteuropaforschung und den kleineren philologischen Fächern, wie sein eigenes, die Mittel- und Neugriechische Philologie, eines war. Der Südosteuropa* Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. **Für Hinweise und weiterführende Gespräche danke ich Lilia Diamantopoulou, Michael Grünbart, Christina Huggle, Ewald Kislinger, Johannes Koder, Andreas E. Müller, Anna Ransmayr, Claudia Rapp und Rudolf S. Stefec.
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historiker Georg Stadtmüller, dessen Biographie diese Entwicklung versinnbildlicht, schloss 1932 in München bei Dölger seine byzantinistische Dissertation zum Metropoliten von Athen, Michael Choniates, ab und habilitierte sich in Breslau 1936 für »Byzantinische und Südosteuropäische Geschichte« (S¸indilariu 2002/03). Auch in Wien wurde die Nähe zwischen Byzantinistik und Südosteuropaforschung durch die Ernennung Berthold Rubins zum außerordentlichen Professor für Balkankunde am 1. Mai 1943 greifbar. Rubin, der 1938 in Berlin mit »Zwei Kapitel über Herrscherbild und Ostpolitik des Kaisers Justinian« beim Althistoriker Wilhelm Weber promoviert worden war, trat seinen Dienst in Wien kriegsbedingt nie an (Hörandner et al. 2004, 19); 1960 konnte er Ordinarius für Byzantinistik und Osteuropakunde an der Universität zu Köln werden. Frühere »fremde Philologien« oder »Landes- und Kulturkundliche Fächer«, heute je nach Standort kultur- und/oder geschichtswissenschaftlich geprägte Area Studies über Länder, die als »fremd« gegenüber der zentralen Kultur der eigenen Universität empfunden werden, waren und sind in Lehre und Forschung von den internationalen Traditionen ihres Faches genauso wie von lokalen Ausformungen in Bezug zur »Gastgesellschaft« und vom nationalen Kanon des Landes, mit dem sie sich beschäftigen, geprägt (Stassinopoulou 2014). So lohnt es sich im Zusammenhang mit der Wiener Neogräzistik zu fragen, aus welchen Quellen sich Dölgers Bild des gesellschaftlichen Bezuges zwischen Wien und dem Griechenland der Neuzeit speiste. Für den Text seines Vortrags war Dölger vorwiegend Spyridon Lambros gefolgt, der um die Jahrhundertwende als führender und in die politischen Geschehnisse seiner Zeit involvierter Athener Historiker die Niederlassungen der balkanorthodoxen Kaufleute im Habsburgerreich und insbesondere in Wien in Publikationen und feierlichen Reden im Sinne einer griechischen Nationalhistoriographie interpretierte. Durch die Betonung der Kontinuität seit dem 12. Jahrhundert folgte Dölger dem historischen Modell der drei Phasen (Griechische Antike – Byzanz – Griechischer Staat), das durch Konstantinos Paparrigopoulos ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet worden war (Zelepos 2005). Dölger hatte zwar die Publikation des Großindustriellen Alexander Peez gelesen (Peez 1888), aber das 1888 entworfene nüchterne Bild der balkanorthodoxen Kaufleute und deren Präsenz in Handel und Finanzwelt, das mit dem späten 17. Jahrhundert einsetzt, nicht übernommen. Die Hervorhebung des nationalgriechischen Charakters der Migranten des 18. und 19. Jahrhunderts, deren zentrale Identität für die Administration im Habsburgerreich die »griechisch nicht unierte« Konfession gewesen war (vgl. zuletzt Katsiardi-Hering 2011), rückte auch die Vielseitigkeit von Kulturkontakten aus dem Blickfeld, die in deutschsprachigen Publikationen des 19. Jahrhunderts – darunter in Wiener Zeitschriften und enzyklopädischen Werken – dokumentiert vorlag. Das vielfältige Wiener Netzwerk, das den Wissenstransfer über die neuen
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Griechen prägte, bestand, wie die heutige Geschichtsforschung erneut wahrnimmt und erzählt, aus Geistlichen mehrerer Konfessionen, aus Gelehrten aus diversen Sprachen und Kulturen, sowohl des Habsburger- als auch des Osmanischen Reiches, und aus Wiener Buchdruckern mit oder ohne Migrationshintergrund, die Bücher und Zeitschriften für eine bunte Leserschaft in den Druck beförderten. Unter anderem brachte dieses Netzwerk Informationen zu Handschriftenschätzen aus den orthodoxen Klöstern des Osmanischen Reiches nach Wien und verbreitete anhand von zahlreichen Artikeln im damals noch neuen Format der literarischen Zeitschrift Wissen über die wachsende Zahl an Drucken in neugriechischer Sprache aus den Druckereien von Venedig, Leipzig und Wien. Dieses »Kommunikationssystem« kann als der Keim eines intensivierten Interesses für die neuen Griechen gelten. Es sah in ihnen nicht nur die Nachfahren der alten Griechen, wie dies noch in den tradierten, meist abwertenden Stereotypen der frühneuzeitlichen Reiseliteratur greifbar wird, sondern erkannte sie als Gesprächspartner an und definierte sie selbst als Objekt der Forschung. In Wien waren es vor allem die Zensoren für griechische Bücher, die dieses Netzwerk stützten, darunter Franz Karl Alter (1749 – 1804) und Bartholomäus (Jernej) Kopitar (1780 – 1844). Alter verfügte als Kustos der Universitätsbibliothek (ab 1779) und Lektor für Diplomatik sowohl über die räumliche Nähe zu den Wiener Griechen – das Universitätsviertel grenzte unmittelbar an das Griechenviertel – als auch über starke Motivation. Die von ihm betreute editio princeps der »Chronik des Sphrantzes«, einer bedeutenden griechischen Quelle zum Fall von Konstantinopel 1453 und zur Osmanischen Geschichte, erschien 1796 in der Druckerei der aus dem makedonischen Siatista stammenden Gebrüder Poulios, in der zu jener Zeit auch die erste heute noch erhaltene neugriechische Zeitung gedruckt wurde (Ephemeris 1790 – 1797). Wie Alter in einem späteren Artikel selbst schrieb, hätten seine Verleger einen ausschließlichen Vertrieb im Orient geplant. Aus diesem Grund habe er die Einleitung auf Griechisch verfassen und fortan auf eine zweite Ausgabe hoffen müssen, um die lateinische Übersetzung und einen lateinischen Kommentar unterzubringen (Chatzipanagioti-Sangmeister 2005, 305). Alter veröffentlichte zwischen 1796 und 1801 allein im Leipziger »Allgemeinen Litterarischen Anzeiger« 65 Rezensionen und Überblicksartikel mit neogräzistischer Thematik, weitere 15 erschienen in den Wiener »Annalen für Literatur und Kunst«. In der Folge übernahm diese Rolle der publizistischen Informationsverbreitung vor allem Bartholomäus Kopitar, Skriptor, später Kustos der Hofbibliothek, und ebenfalls Zensor für Neograeca (Lucan 1994). Alters und Kopitars Publikationen erschienen zum Teil auch übersetzt in französischen Zeitschriften sowie in der Wiener griechischen literarischen Zeitschrift »Logios Hermes« (1811 – 1821). Insbesondere in Alters Veröffentlichungen werden die Kontakte mit seinen griechischen Freunden durch häufige
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Auszüge aus Briefen greifbar. Bei Kopitar ist die Veränderung der Präsentation in der literarischen Öffentlichkeit schon erkennbar ; er trennt die zum Druck bestimmten fachlichen Mitteilungen deutlicher von den Fachgesprächen in seiner Korrespondenz. In seinen balkanlinguistischen Abhandlungen, darunter über das Neugriechische (Miklosich 1857), sind bereits die Forschungslinien erkennbar, die zur spezifischen Wiener sprachhistorischen Balkanforschung des 19. und 20. Jahrhunderts führen. Den Bedarf an Kenntnissen des Neugriechischen für Diplomaten und Handelsreisende – Neugriechisch war bis ins 19. Jahrhundert hinein in weiten Teilen des Osmanischen Reiches, insbesondere in den europäischen Gebieten und an der kleinasiatischen Küste, Handels- und Verkehrssprache – deckte der Sprachunterricht ab, der neben der Orientalischen Akademie auch an der Universität stattfand. Als Lehrer agierten zumeist in Wien tätige griechische Autoren oder im Buchdruck involvierte Kaufleute oder aber auch Lehrer der Wiener griechischen Nationalschule (gegr. 1801/04). Athanasios Stageiritis erwähnte in seinen zwischen 1810 und 1820 in Wien gedruckten Büchern seine Funktion als Lehrer des Neugriechischen an der Orientalischen Akademie, Kyriak Kapitanaki war sein Nachfolger (Weiß Edler von Starkenfels 1839, 39), Georg Russiades veröffentlichte 1834 eine »Grammatik der Neuhellenischen Sprache« und unterrichtete zunächst als außerordentlicher Privatlehrer, später als Lehrer der Universität Wien Neugriechisch (Taschenbuch der Wiener k.k. Universität für das Jahr 1839, 220; für das Jahr 1843, 37). Diese Tradition neugriechischer Sprachlehre riss im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts nicht ab; Lektoren des Neugriechischen lassen sich an der Universität Wien fast ohne Unterbrechung dokumentieren.1 Dennoch und obwohl schon um die Jahrhundertwende von Konstantin Jirecˇek (1854 – 1918) regelmäßig byzantinistische Lehrveranstaltungen angeboten wurden, erfolgte keine Institutionalisierung der mittel- und neugriechischen Philologie an der Universität Wien, wie sie als erster Karl Krumbacher an der Universität München 1897 vornahm. Ab seiner Berufung um die Jahrhundertwende und bis zu seiner Emeritierung 1936 bemühte sich der berühmte Linguist Paul Kretschmer (1866 – 1956) um die Vertretung der griechischen Literatur und Sprache der Neuzeit in der forschungsgebundenen akademischen Lehre. Durch seine Habilitationsschrift »Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache« (1896) bekannt, wurde 1 Um nur einige Beispiele zu nennen: in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts der Historiker und spätere Theaterregisseur, in Wien vor allem als Sprachlehrer Kaiserin Elisabeths bekannte Konstantinos Christomanos; von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg der Altphilologe und Direktor der griechischen »Nationalschule« in Wien, Eugen Zomarides; von 1922 bis 1936 der Theologe, Historiker und Archimandrit der griechisch-orthodoxen Kirche zur Hl. Dreifaltigkeit Agathangelos Xirouchakis; anschließend sein Nachfolger im Pfarramt und späterer erster Metropolit von Austria, Chrysostomos Tsiter.
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Kretschmer 1899 als Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft nach Wien berufen. In seinen ersten Wiener Jahren entstanden die für die Geschichte des Neugriechischen und seiner Dialekte wegweisenden Werke »Die Entstehung der Koine« (1901) und »Der heutige lesbische Dialekt verglichen mit den übrigen nordgriechischen Mundarten« (1905). Letzteres erschien als Publikation der linguistischen Abteilung der 1897 gegründeten »Kommission für die historischarchäologische und philologisch-ethnographische Durchforschung der Balkanhalbinsel« (ab 1950 »Balkan-Kommission«) der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, deren Vorsitzender Kretschmer 1923 werden sollte. In der Lehre bot Kretschmer immer wieder eine »Einführung in die Byzantinische und Neugriechische Philologie« sowie eine »Einführung in die neugriechische Sprache und Literatur« an. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er an der Gründung der Byzantinischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften beteiligt.2 Kretschmers Sammlung von Publikationen zu sprachhistorischen und dialektologischen Fragen des Neugriechischen wurde folgerichtig zu einem der ersten Bestände der Bibliothek des 1962 gegründeten Instituts für Byzantinistik. Diese in Wien traditionsreiche Verbindung von sprachhistorischem und balkankundlichem Interesse, die ebenfalls an der Universität Graz zeitweise anzutreffen ist – z. B. mit Gustav Meyer (1850 – 1900) und August Sauer (1855 – 1926) – prägt zum Teil auch die Laufbahn von Polychronis Enepekides (1917 – 2014), der 1942 als Stipendiat nach Wien gekommen war und im Dezember 1945 in Klassischer Philologie bei Johannes Mewaldt und Karl Mras an der Universität Wien promovierte (Römer/Schreiner 2010, 331). Enepekides habilitierte sich 1950, 1950/51 wurde er Vorstandsmitglied der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft (Jahrbuch der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft 2, 1952, 181), 1951 begann er an der Universität Wien byzantinistische Lehrveranstaltungen anzubieten. Im Laufe der 1950er Jahre verlegte er seinen Forschungsschwerpunkt auf die Geschichte der Wiener Griechen. Bis 1965 unterrichtete er Neugriechisch auch als Teil des Übersetzer- und Dolmetscher-Curriculums, seine Lehre im Bereich der neugriechischen Sprache, Kultur und Geschichte setze er bis zu seiner Pensionierung 1982 am Institut für Byzantinistik fort. Anders als die Lehrstühle und Seminare an deutschen Universitäten enthielt der Name des Wiener Instituts zunächst keinen Hinweis auf die Lehre über die postbyzantinische Zeit oder das neuere Griechenland bzw. die neugriechische 2 Zu Kretschmers Lesbos-Reise und zur Tätigkeit in Zusammenhang mit der Byzantinischen Kommission vgl. ÖNB, HANNA-Katalog, Nachlass Kretschmer ; Aufnahmen aus der Reise siehe im Phonogrammarchiv der ÖAW, zum Teil auch unter [http://www.phonogrammarchiv. at/wwwnew/hoerbar_d.htm] (7. Dezember 2014).
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Sprache. Erst 1978 erfolgte die Umbenennung in Institut für Byzantinistik und Neogräzistik; dank der Bemühungen des Institutsvorstandes Herbert Hunger und des Osteuropahistorikers und damaligen Rektors Richard Georg Plaschka wurde 1982 der Lehrstuhl für Neogräzistik ausgeschrieben (über den Terminus Neogräzistik vgl. Stassinopoulou 2011). Die Berufungskommission entschied sich für Gunnar Hering (1934 – 1994), einen Südosteuropa-Historiker mit Schwerpunkt in der frühneuzeitlichen Geistes- und Kulturgeschichte und in der Geschichte der politischen Parteien in Südosteuropa. Nach der Promotion in Wien beim Osteuropa-Historiker Heinrich Felix Schmid (1896 – 1963) und Stationen in Mainz, Mannheim und Freiburg im Breisgau, wo er sich habilitierte, wurde Hering zunächst C4 Professor an der Universität Göttingen (1973 – 1983). In den 1960er Jahren gegen die griechische Militärdiktatur aktiv, war Hering ebenfalls ein Verfechter akademischer Diskussionskultur jenseits aller Grenzen, was ihm auch dank seiner beeindruckenden Kenntnis nicht nur des Griechischen, sondern mehrerer ost- und südosteuropäischer Sprachen international gelang. Auch wenn der Stempel in Forschung und Lehre in seiner kurzen Wirkungszeit in Wien unverwechselbar historisch war (Lauer 1997), so war es ihm ein Anliegen, den Neugriechisch-Unterricht zu professionalisieren und die Philologie und Literaturwissenschaft angemessen zu vertreten. Sein Ziel, Neugriechisch wieder als Sprache im Curriculum des Dolmetsch-Institutes zu verankern, war für eine kleine europäische Sprache wohl damals schon nicht realisierbar. Hingegen gelang es ihm, die Fundamente für die bis zu seiner Berufung kaum gewachsenen Bestände mit neogräzistischem Schwerpunkt in der Fachbereichsbibliothek zu legen, so dass diese heute zu den besten Spezialsammlungen weltweit gehören. Die Neogräzistik an der Universität Wien ist in Forschung und Lehre von der sprachhistorischen und südosteuropahistorischen Tradition des genius loci geprägt, aber auch von der zeitlichen Tiefe, die durch die in Europa heute noch verbreitete institutionelle Verbindung mit dem Fach Byzantinistik entsteht und das besondere Interesse für die frühe Neuzeit sowie die Fokussierung auf Grundlagenforschung erklärt. Andererseits ist die Neogräzistik in laufenden methodischen Debatten der historischen Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung sowie der Kultur- und Literaturwissenschaft eingebunden und wirkt somit oft inspirierend auch für die Forschungstraditionen der Byzantinistik. Die Erweiterung des Raumes wiederum, die durch die Beschäftigung mit sprachhistorischen Phänomenen seit der spätantiken Zeit oder gesellschaftlichen Fragen aus der osmanischen oder venezianischen Zeit geschaffen wird, verleiht der Neogräzistik an der Universität Wien die besonderen Merkmale, die eine Orientierung hin zu einem ausschließlich in Griechenland definierten Kanon des Faches vermeiden lassen.
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European Studies in a Globalizing World (Studies on Southeast Europe, Bd. 16, Wien/ Münster 2014) 153 – 160. Zelepos, Ioannis: ›Phoenix ohne Asche‹. Konstantinos Paparrigopoulos und die Entstehung einer griechischen Nationalhistoriographie im 19. Jahrhundert, in: Markus Krzoska und Hans-Christian Maner (Hg.), Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert (= Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas, Bd. 4, Münster 2005) 190 – 215.
Kamila Staudigl-Ciechowicz*
Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1933 – 1945
Die Wiener juridische Fakultät zählte 1931 knapp 3000 Studierende, die von 16 ordentlichen, sechs außerordentlichen Professoren, sechs Honorarprofessoren und 52 Privatdozenten betreut wurden. Der vorliegende Beitrag behandelt die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät in politisch turbulenten Zeiten – auf den ersten Blick mag es verwundern, dass als Zeitspanne die Jahre 1933 bis 1945 gewählt wurden, handelt es sich schließlich aus staatsrechtlicher Sicht nicht um eine homogene Periode. Während der in Folge des Staatsstreichs 1933 durch die Maiverfassung 1934 eingeführte »Bundesstaat Österreich« nach außen hin die Rechtskontinuität zur Bundesverfassung von 1920 idF 1929 bekräftigte,1 lehnte Hitler-Deutschland die Rechtsnachfolge Österreichs nach dem »Anschluss« gänzlich ab. Die rechtsstaatlich-demokratische Phase der Ersten Republik wurde jedoch bereits im März 1933 verlassen und in Folge ein autoritäres Regime aufgebaut, das politische Gegner durch verschiedene Maßnahmen verfolgte. Am diktatorischen Regierungsstil änderte sich auch nach dem »Anschluss« an Hitler-Deutschland 1938 nichts. Das nationalsozialistische Regime brachte zwar eine ideologische Wende, verstärkte aber die Verfolgungen nicht nur aus politischen, sondern nun auch aus rassistischen Gründen. Die Frage, warum gerade die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät während dieser diktatorischen Regime beleuchtet werden soll, erklärt sich aus dem Umstand, dass einerseits ihre Mitglieder an dem Entstehungsprozess manch eines Gesetzes in der autoritären Phase beteiligt waren und auch politische Funktionen wahrnahmen. Andererseits war es gerade dem Juristenstand möglich, bereits zu Beginn der autoritären Herrschaft die weitreichenden Konsequenzen der Verfassungsbrüche zu erkennen. Ob und wie die Schritte des autoritären Regimes von den Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlern kritisiert bzw. kommentiert wurden, soll im Folgenden problematisiert werden. Zu den Mitgliedern der Wiener Juristenfakultät zählten im 20. Jahrhundert * Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien. 1 Merkl 1935: Ständisch-autoritäre Verfassung, 9 f.
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bedeutende Politiker wie die letzten beiden Ministerpräsidenten Cisleithaniens, Max Hussarek und Heinrich Lammasch. Am politischen Leben der Ersten Republik nahmen als Funktionäre unter anderen Karl Gottfried Hugelmann, Ernst Schönbauer, Franz Klein, Edmund Bernatzik und Heinrich Klang teil. Hugelmann, der zunächst im nationalen Flügel der christlich-sozialen Partei seine Heimat fand, saß ab 1920 für Niederösterreich im Bundesrat und hatte von 1923 bis 1932 das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden des Bundesrates inne. In den 1930er Jahren sympathisierte er immer mehr mit den Nationalsozialisten.2 Schönbauer hatte als Mandatar – zunächst der Großdeutschen Vereinigung, später des Landbundes – einen Sitz im Nationalrat inne. 1930 zog er sich zunächst aus der Politik zurück, während der NS-Herrschaft leitete er die Juridische Fakultät als Dekan. Klein, Bernatzik und Klang engagierten sich für die Bürgerlich-Demokratische Partei, die jedoch keine größeren Erfolge erringen konnte und schließlich Ende der 1920er Jahre ihre Tätigkeit einstellte. Daneben versammelten sich zahlreiche Mitglieder der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät im »Deutschen Klub«, der als überparteilicher Verein »neben geselligen auch nationalpolitische Ziele«3 verfolgte – mehr als ein Viertel der ordentlichen und außerordentlichen Professoren der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät war Mitglied bzw. Vortragender dieser antisemitischen Vereinigung4, die die Universitätspolitik prägte und stets bedacht war, ihre Mitglieder auf Schlüsselpositionen zu bringen. Während es bei Berufungen bzw. Habilitation immer wieder zu einer Berücksichtigung nicht nur rein wissenschaftlicher Aspekte kam, sondern auch politische und rassistische Überlegungen eine Rolle spielten, mussten nach dem Staatsstreich 1933 Kritiker des autoritären Regimes – selbst wenn sie schon als Staatsbeamte an Universitäten und Hochschulen tätig waren – mit Repressalien rechnen, wie die Schicksale einiger Wiener Rechtswissenschaftler im Folgenden zeigen werden.
Die juristische Fakultät und der autoritäre Ständestaat Als die Bundesregierung Dollfuß im März 1933 die Handlungsunfähigkeit des Nationalrates als »Selbstausschaltung des Parlaments« proklamierte und mittels Regierungsverordnungen die legislative Macht übernahm, erkannte der Wiener 2 Vgl. dazu näher Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2014: Deutsches Recht und Österreichische Reichsgeschichte, 307 f. 3 Anonym 1928: Zwanzig Jahre Deutscher Klub, 1. 4 Folgende Professoren scheinen als Mitglieder bzw. Vortragende auf: Wenzel Gleispach, Alexander Hold-Ferneck, Karl Gottfried Hugelmann, Ferdinand Kadecˇka, Ernst Schönbauer, Ernst Schwind, Othmar Spann, Hans Sperl, Alfred Verdross, Hans Voltelini und Wilhelm Winkler. Vgl. dazu auch Staudigl-Ciechowicz 2014: Akademischer Antisemitismus, 70 – 72.
Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1933 – 1945
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Staatsrechtler Adolf J. Merkl darin den Beginn einer autoritären Phase. Bereits am 9. März äußerte sich Merkl zu den Einschränkungen der Pressefreiheit, die durch die Regierungsverordnung vom 7. März 1933 eingeführt worden waren, kritisch und konstatierte, dass »rationell« dieser »unvermutete Eingriff in die Pressefreiheit […] als Auftakt für viel radikalere Maßnahmen gedacht [sein müsse], die letzten Endes selbst vor dem Bestand des Verfassungsgerichtshofes nicht haltmachen dürften«5 – gleichzeitig bekräftigend, dass er keine solchen Intentionen der Bundesregierung zuschreiben wolle. Er sollte mit seiner Vermutung recht behalten – keine drei Monate später war auch der Verfassungsgerichtshof »ausgeschaltet« worden. Dieser Schritt der Bundesregierung stieß bei den österreichischen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten auf großen Unmut. Ende Mai 1933 richtete der Wiener Prodekan Alfred Verdross, der nach dem Tod des Dekans Friedrich Woess im März 1933 dessen Aufgaben übernahm, ein Schreiben an die Grazer und Innsbrucker Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten mit der Aufforderung, sich an der Wiener Protestaktion zu beteiligen. Die Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten wandten sich Anfang Juni 1933 mit einem Appell an den Bundespräsidenten, da sie glaubten, »als Pflegerinnen des Rechtsstaatsgedankens nicht länger schweigen zu dürfen, wenn der Verfassungsgerichtshof selbst, der oberste Hüter der Verfassung, den neuen Massnahmen zum Opfer zu fallen droht und damit die angesehenste und festeste Stütze des Rechtsstaatsgedankens, der Nachfolger des Reichsgerichtes des alten Kaisertums ausgeschaltet wird«6 – die erwünschte Wirkung blieb jedoch aus. Eine weitere Protestaktion einiger Mitglieder der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät brachte sowohl mediale Aufmerksamkeit als auch zum Teil Sanktionen für die Beteiligten: So publizierten neun der an der Wiener Fakultät tätigen Juristen in der gleichgeschalteten reichsdeutschen Zeitschrift »Verwaltungsarchiv« im Sommer 1933 das österreichische autoritäre Regime kritisierende Beiträge.7 Zu den Autoren zählten die Ordinarien Ernst Schönbauer, Max Layer, Adolf J. Merkl, Wenzel Gleispach und Karl Gottfried Hugelmann, die Privatdozenten Karl Braunias, Leopold Zimmerl und Hans Frisch, der gleichzeitig auch Ordinarius an der Technischen Hochschule war, und der Assistent von Layer Herbert Kier. Auffallend ist, dass lediglich Layer und Merkl weder Mitglieder des Deutschen Klubs noch der NSDAP waren. Thema5 Merkl 1933: Suspension der Pressefreiheit, 2. 6 Entwurf des Protestschreibens, Universitätsarchiv Graz, Jur. Dek. 1932/33, Z. 954. Die Protestnote wurde auch an das Unterrichtsministerium geschickt, dieses versuchte die Veröffentlichung des Protestschreibens zu verhindern. Vgl. dazu auch Zavadil 1997: Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs, 114 – 126; Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2012: Staatsrechtslehre, 233 f. mwN. 7 Vgl. Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2012: Staatsrechtslehre, 234 – 239.
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tisch deckten die Artikel verschiedene Aspekte der rechtswidrigen Akte der österreichischen Bundesregierung ab – von der Ausschaltung des Nationalrates über die Verletzung des Ermächtigungsbereiches des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KWEG) bis zur Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes. Im Besonderen kam scharfe Kritik vom Strafrechtler Wenzel Gleispach, der die Legitimität des neuen Diensteides anzweifelte, und vom Verfassungsrechtler Max Layer, der die Regierungsverordnungen der Bundesregierung aus verfassungsrechtlicher Sicht in Frage stellte. Die Verletzung des inhaltlichen Ermächtigungsrahmens des KWEG brachte Layer süffisant mit folgender Bemerkung auf den Punkt: »Niemand wird behaupten können, daß die gänzliche oder teilweise Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes zur Förderung des wirtschaftlichen Lebens und Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln erforderlich gewesen sei.«8 Beide Wissenschaftler wurden in den folgenden Monaten von ihren Posten enthoben. Gleispach hatte sich bereits in den 1920er Jahren als deutschnationaler und antisemitischer Professor profiliert. Während seiner Amtszeit als Rektor beschloss der akademische Senat die judenfeindliche Studentenordnung von 1930 – Gleispachs »Radauantisemitismus« war allgemein bekannt.9 Seinen regimekritischen Beitrag 1933 nahm das Unterrichtsministerium zum Anlass, Gleispach – ohne vorangehendes Disziplinarverfahren – in den dauernden Ruhestand zu versetzen, obwohl er das vorgesehene Alter noch nicht erreicht hatte. Als Begründung wurde die Gefährlichkeit seiner Äußerungen zum Diensteid genannt, die die Freiheit der Wissenschaft überschritten und »in der Beamtenschaft Zweifel an der rechtlichen und sittlichen Verbindlichkeit des von ihr geschworenen Eides hervorzurufen und Agitationen in dieser Richtung zu fördern« geeignet waren.10 Layers Versetzung in den Ruhestand hingegen erfolgte auf den ersten Blick regulär : Er hatte das Mindestalter für Pensionierungen erreicht, wenige Tage nach Erhalt des Pensionierungs-Dekrets publizierte die Wiener Zeitung am 6. Oktober 1933 jedoch einen diffamierenden Artikel zu Layer, in dem sie Layer »Vaterlandsverrat und Bruch des Diensteides«11 vorwarf. Auf Layers Anfrage bestätigte das Unterrichtsministerium, dass seine Äußerungen im »Verwaltungsarchiv«, die einen »Mangel jener Loyalität, die jeder Bundesbürger seiner Heimat schuldet«, zeigten, für seine Pensionierung mitursächlich gewesen
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Layer 1933: Ermächtigungsbereich, 218. Vgl. mwN Staudigl-Ciechowicz 2014: Strafrecht und Strafprozessrecht, 429 – 431. Vgl. mwN ebd., 431. Schreiben Layers an das Bundesministerium für Unterricht vom 13. Oktober 1933, ÖStA AVA, Unterricht Allgemein, Ktn. 611, Personalakt Layer.
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waren.12 Hugelmann13 und Kier verloren ebenfalls ihre Anstellung an der Universität Wien. Frisch blieb zwar der Juridischen Fakultät als Privatdozent erhalten, wurde jedoch an der Technischen Hochschule als Ordinarius beurlaubt. Vielfach begannen diese »gemaßregelten« Juristen im Deutschen Reich akademische Karrieren und bekleideten dort hohe hochschulpolitische Ämter.14 Für Schönbauer und Merkl hatte die Publikation im »Verwaltungsarchiv« zunächst keine direkten Folgen. Sie konnten ihre wissenschaftlichen Karrieren an der Universität fortsetzen – auffallend ist aber, dass Merkl nach wie vor kritische Beiträge, bspw. zur neuen Verfassung 1934, verfasste. Jedoch dürfte er an den Gesetzeswerken im autoritären Ständestaat am Rande auch mitgewirkt haben.15 Schönbauer hingegen stand dem Regierungslager fern – neben seiner Mitgliedschaft im Deutschen Klub war er auch seit 1934 Obmann der nationalsozialistisch orientierten Gesellschaft für Rechts- und Staatswissenschaften. Weiters weigerte er sich, der Vaterländischen Front beizutreten, was zur Folge hatte, dass seine Wahl zum Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 1934 vom Unterrichtsministerium nicht bestätigt wurde.16 Ein Versuch, politisch unliebsame Hochschullehrer an ihrer Lehrtätigkeit zu hindern, wurde im autoritären Ständestaat unter anderem durch die Einleitung von Disziplinarverfahren unternommen – so bspw. gegen den Kommunisten Walter Schiff im April 1933 und gegen den Austromarxisten Max Adler, gleich zwei Mal, im März 1934 und im März 1935.17 Zwar wurde die Disziplinaranzeige gegen Schiff zurückgelegt, doch wurde sein Antrag 1936 auf Verlängerung der Venia Legendi über das 70. Lebensjahr hinaus abgelehnt.18 Für Adler hatten die Disziplinaruntersuchungen hingegen die monatelange Suspendierung von der Lehrtätigkeit zur Folge – der einzige Vorwurf, der ihm beim zweiten Disziplinarverfahren gemacht wurde, war, dass er nicht für ein Denkmal für den ermordeten Bundeskanzler Dollfuß Geld spenden wollte.19 Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät beheimatete auch ideologisch und/oder politisch den Regierungskreisen nahe stehende Personen. Vom politischen Umbruch 1933/34 konnte auf beruflicher Seite bspw. Ludwig 12 Vgl. dazu im Detail Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2014: Österreichisches Staatsrecht, 505 – 508. 13 Hugelmann wurde 1934 seines Dienstes enthoben. Vgl. dazu Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2014: Deutsches Recht und Österreichische Reichsgeschichte, 308 – 310; StaudiglCiechowicz 2014: Disziplinarrecht, 99. 14 Bspw. Gleispach und Zimmerl. Staudigl-Ciechowicz 2014: Strafrecht und Strafprozessrecht, 431 f. und 448. 15 Wohnout 1995: Politisch-juristische Kontroversen, 842. 16 Schartner 2011: Staatsrechtler, 260. 17 Staudigl-Ciechowicz 2014: Disziplinarrecht, 92 und 96 – 98. 18 Ehs 2014: Statistik, 619 f. 19 Vgl. Staudigl-Ciechowicz 2014: Disziplinarrecht, 96 – 98.
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Adamovich sen. profitieren.20 Er wurde 1934 als Nachfolger Layers nach Wien berufen und in weiterer Folge als Mitglied des Staatsrats ernannt und in den Bundestag gewählt. Vom 16. Februar 1938 bis 11. März 1938 war er Justizminister – der letzte vor dem »Anschluss«. Ebenfalls zum Mitglied des Staatsrats ernannt wurde der Zivilrechtler Gustav Walker21 und Alfred Verdross 1935 zum außerordentlichen Mitglied des Bundesgerichtshofes. Als Stellenleiter der Vaterländischen Front war für die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät Ferdinand Degenfeld-Schonburg zuständig. Ideologisch zumindest in manchen Punkten standen dem autoritären Ständestaat u. a. Othmar Spann und Erich Voegelin nahe. Spann verfolgte zwar die ständische Idee, stand aber der Verfassung von 1934 sehr ablehnend gegenüber. Positiver wurde diese von Voegelin in seinem 1936 publizierten Werk »Der autoritäre Staat« bewertet.22 1935 wurde mittels Verordnung des Unterrichtsministers und Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg eine neue juristische Studienordnung eingeführt. Die Reform war zwar von den Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten, die bereits Ende der 1920er Jahre an gemeinsamen Reformvorschlägen arbeiteten,23 mitgetragen, doch wies die Studienordnung abweichend von den Vorentwürfen ideologische Züge auf: Neu eingeführt wurde bspw. das Fach Rechtsphilosophie – insbesondere sollte die christliche Rechtsphilosophie berücksichtigt werden. Einen Vertreter fand dieses Fach vor allem in Verdross, der die Hauptvorlesung »Systematische Rechtsphilosophie« hielt und seine Lehren an die katholische Soziallehre anlehnte.24 Eine weltanschauliche Indoktrinierung aller Studierenden sah das Hochschulerziehungsgesetz 1935 vor : Demnach oblag den Hochschulen auch »die Erziehung der Studierenden zu sittlichen Persönlichkeiten im Geiste vaterländischer Gemeinschaft«. Dies sollte u. a. in Form von »Vorlesungen zur weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung und über die ideellen und geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Staates« erfolgen.25 Mit einer dieser Pflichtvorlesungen wurde der Staatswissenschaftler August Maria Knoll betraut.
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Vgl. zu ihm Staudigl-Ciechowicz 2012: Von Adamovich bis Pfeifer, 219 – 226. Wohnout 1993: Regierungsdiktatur oder Ständeparlament, 460. Wohnout 1995: Politisch-juristische Kontroversen, 840 – 842. Vgl. dazu Staudigl-Ciechowicz 2014: Studium der Rechtswissenschaften, 142 – 144. Busch 2012: Alfred Verdross, 155. § 1 f. Bundesgesetz betreffend die Erziehungsaufgaben der Hochschulen (Hochschulerziehungsgesetz) BGBl 267/1935.
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Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät und der Nationalsozialismus Die nationalsozialistische Phase der Wiener Fakultät ist gekennzeichnet durch einen wissenschaftlichen Niedergang – die durch das Hitler-Regime durchgeführten Vertreibungen von Wissenschaftlern entstandenen Lücken an der Fakultät konnten nicht aufgefüllt werden: Bereits eineinhalb Monate nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland war es zu Verweisungen von politisch oder »rassisch« unerwünschten Professoren und Privatdozenten von der Universität Wien gekommen.26 Die Ordinarien Josef Hupka, Othmar Spann, Oskar Pisko, Ferdinand Degenfeld-Schonburg und Adolf J. Merkl, die Extraordinarien Emil Goldmann, Wilhelm Winkler und Stephan Brassloff sowie der Honorarprofessor Richard Schüller wurden zunächst beurlaubt, die meisten davon in weiterer Folge in den Ruhestand versetzt. Die gleiche Verfügung widerrief die Lehrbefugnis von 20 Privatdozenten27 und ließ die Venia Legendi weiterer sechs Privatdozenten28 vorläufig ruhen – in den folgenden Jahren verloren noch mehr Dozenten ihre Lehrbefugnis.29 In den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde Ludwig Adamovich sen., an der weiteren Lehrtätigkeit gehindert wurde Heinrich Mitteis.30 Sowohl bei den ordentlichen und außerordentlichen Professoren als auch bei den Privatdozenten hielten sich die Vertreibungen aus »rassischen« Gründen mit jenen aus politischen Gründen – bspw. von Hochschullehrern aus regierungsnahen Kreisen (wie Adamovich, Degenfeld-Schonburg, Heinrich etc.) – ungefähr die Waage.31 Die Nachbesetzungen der frei gewordenen Stellen ließen mangels passender Bewerber lange auf sich warten – so konnten die beiden nach Adamovich und Merkl vakanten Lehrstühle zunächst 1939 für kurze Zeit mit Norbert Gürke, dann 1942 nur für ein Semester mit Ernst Forsthoff und schließlich 1944 mit Helfried Pfeifer nachbesetzt werden.32 26 Schreiben des Unterrichtsministeriums an das Wiener Rektorat vom 22. April 1938, Universitätsarchiv Wien, Rekt. Akt 677 aus 1937/38. 27 Dabei handelte es sich um: Rudolf Pollak, Georg Lelewer, Alexander Gl, Achill Rappaport, Ludwig Mises, Felix Kornfeld, Arthur Lenhoff, Albert Ehrenzweig, Georg Petschek, Felix Kaufmann, Heinrich Klang, Fritz Schreier, Hans Schima, Erich Voegelin, Walter Heinrich, Guido Strobele, Ferdinand Westphalen, Willibald Plöchl, Rudolf Blühdorn und Albert A. Ehrenzweig. 28 Rudolf Herrnritt, Karl Schmidt, Jakob Baxa, Gottfried Haberler, Oskar Morgenstern und August M. Knoll. 29 Vgl. Reiter-Zatloukal 2012: Juristenausbildung in Österreich, 15. 30 Zu Mitteis siehe Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2014: Deutsches Recht und Österreichische Reichsgeschichte, 311 – 315. 31 Von den zehn (Extra)Ordinarien wurden vier und von den 26 Privatdozenten 14 aus »rassischen« Gründen 1938 vertrieben. Vgl. dazu auch die Aufstellung bei Mühlberger 1993: Vertriebene Intelligenz, 12 – 16. 32 Vgl. zu Gürke Schartner 2011: Staatsrechtler, 56 – 95; Staudigl-Ciechowicz 2012: Von Ada-
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Zügig hingegen wurde die Umstellung auf die neue nationalsozialistische Studienordnung, die nationalsozialistische »Rechtswahrer« hervorbringen sollte, durchgeführt.33 Bereits im Wintersemester 1938/39 wurden die Vorlesungen nach der neuen Studienordnung angeboten. »In bewusstem Gegensatz zur klassischen Systematik der Rechtswissenschaft war […] der Studienplan nun in folgende ›Lebensbereiche‹ eingeteilt: ›Geschichte‹, ›Volk‹, ›Stände‹, ›Staat‹, ›Rechtsverkehr‹, ›Rechtsschutz‹, ›Außerstaatliches Recht‹, ›Rechtsphilosophie‹ und ›Wirtschaftswissenschaften für Juristen‹.«34 Zwar war die Studienordnung eine neue, doch wurden die Gesetze in der Regel übernommen. Was sich jedoch änderte, war deren Interpretation, die nun streng im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu erfolgen hatte. In diesem Zusammenhang ist auch auf den Vorwurf hinzuweisen, der sich (wenn auch etwas abgewandelt) bereits bei Voegelin findet35 und insbesondere in der Nachkriegsliteratur aufscheint, dass die Reine Rechtslehre die Errichtung von Diktaturen begünstige, da »jeder beliebige Inhalt Recht sein« kann. Ein solcher Vorwurf verkennt aber, dass sich Hans Kelsen zwar gegen die Vorstellung einer objektiv feststehenden Gerechtigkeit gewandt hatte, jedoch sollte dies nicht den Einzelnen von den subjektiven moralischen Werten entbinden. Vor allem aber lehnten die Nationalsozialisten ein striktes Festhalten am Gesetzeswortlaut (wie es im Kelsenschen Sinne gewesen wäre) insbesondere dann ab, wenn diese Gesetze aus der Zeit vor der NS-Herrschaft stammten und befürworteten stattdessen deren »unbegrenzte Auslegung« im Sinne der NS-Ideologie, was die Terrorherrschaft überhaupt erst ermöglichte.36
Ausblick Mit der Wiedererrichtung der Republik Österreich 1945 kehrten auch die Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten zu der (etwas abgeänderten) Studienordnung von 1935 zurück.37 In personeller Hinsicht kam es hingegen nur in wenigen Fällen zur Rückkehr von vertriebenen Hochschullehrern. Manche von ihnen wie Stephan Brassloff und Josef Hupka waren vom NS-Regime ermordet worden. Andere wie Emil Goldmann und Achill Rappaport starben in
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movich bis Pfeifer, 212 f.; zu Pfeifer Schartner 2011: Staatsrechtler, 96 – 150; Staudigl-Ciechowicz 2012: Von Adamovich bis Pfeifer, 226 – 232. Vgl. dazu Rathkolb 1989: Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät; Reiter-Zatloukal 2012: Juristenausbildung. Reiter-Zatloukal 2012: Juristenausbildung, 25. Vgl. Olechowski/Staudigl-Ciechowicz 2012: Staatsrechtslehre, 231. Rüthers 2012: Unbegrenzte Auslegung. Vgl. Grandner 2005: Studium, 290 ff.
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der Emigration. Wiederberufen wurden hingegen u. a. Ludwig Adamovich sen., der auch als erster Rektor am Wiederaufbau der Universität mitwirkte, und, mit einiger Verzögerung, Adolf J. Merkl.38 Zwar wurden einige während der NS-Herrschaft tätige Hochschullehrer ihrer Position enthoben, doch wurden diesbezügliche Überprüfungen der »politischen Unbedenklichkeit« nicht mit höchster Sorgfalt durchgeführt. Daraus erklären sich wohl manche Kontinuitäten über die politischen Brüche 1933/34, 1938 und 1945 hinaus.39
Literaturverzeichnis Anonym: Zwanzig Jahre Deutscher Klub, in: Mitteilungen des Deutschen Klubs 8 (1928) 1 f. Busch, Jürgen: Alfred Verdross – Ein Mann des Widerspruchs? Verdross im Gefüge der Wiener Völkerrechtswissenschaft vor und nach 1938, in: Franz-Stefan Meissel et al. (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht zur Geschichte der Wiener Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (Wien 2012) 139 – 169. Ehs, Tamara: Statistik, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 613 – 625. Grandner, Margarete: Das Studium an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1945 – 1955, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss und Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 – 1955 (Innsbruck 2005) 290 – 312. Layer, Max: Ermächtigungsbereich des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes, in: Verwaltungsarchiv. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit 38 (1933) 203 – 218. Merkl, Adolf J.: Die Suspension der Pressefreiheit, in: Neue Freie Presse, Nr. 24601 (9. März 1933) 2. Merkl, Adolf J.: Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß (Wien 1935). Mühlberger, Kurt: Dokumentation Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistlicher und Menschlicher Potenz an der Universität Wien von 1938 bis 1945 (Wien 1993). Olechowski, Thomas / Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Die Staatsrechtlehre an der Universität Wien 1933 – 1938, in: Ilse Reiter-Zatloukal, Christiane Rothländer und Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933 – 1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime (Wien et al. 2012) 227 – 241. Olechowski, Thomas / Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Deutsches Recht und Österreichische 38 Merkls Berufung verzögerte sich wegen seiner nach dem »Anschluss« publizierten Artikeln. Vgl. dazu Staudigl-Ciechowicz 2012: Von Adamovich bis Pfeifer, 215 – 219. 39 So lehrten bspw. die Völkerrechtler Alexander Hold-Ferneck und Alfred Verdross durchgehend, sowohl in der Ersten Republik, als auch während des Nationalsozialismus und in der Zweiten Republik. Vgl. Busch 2012: Alfred Verdross; Staudigl-Ciechowicz/Olechowski 2014: Völkerrecht, 526 – 538.
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Reichsgeschichte, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 292 – 318. Olechowski, Thomas / Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 465 – 521. Rathkolb, Oliver : Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938, davor und danach, in: Gernot Heiss et al. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945 (Wien 1989) 197 – 232. Reiter-Zatloukal, Ilse: Juristenausbildung in Österreich unter dem NS-Regime. Kontinuitäten und Brüche 1938/1945 am Beispiel der Wiener Juristenfakultät, in: Franz-Stefan Meissel et al. (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (Wien 2012) 9 – 33. Rüthers, Bernd: Die unbegrenzte Auslegung – Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus (Tübingen 72012). Schartner, Irmgard: Die Staatsrechtler der juridischen Fakultät der Universität Wien im ›Ansturm‹ des Nationalsozialismus (Frankfurt a. M. 2011). Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Von Adamovich bis Pfeifer. Eine Auseinandersetzung mit der Staatsrechtslehre an der Universität Wien in Zeiten der politischen Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Franz-Stefan Meissel et al. (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (Wien 2012) 203 – 232. Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Disziplinarrecht, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 79 – 99. Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Akademischer Antisemitismus, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 67 – 77. Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Das Studium der Rechtswissenschaften, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 129 – 158. Staudigl-Ciechowicz, Kamila: Strafrecht und Strafprozessrecht, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 420 – 463. Staudigl-Ciechowicz, Kamila / Olechowski, Thomas: Völkerrecht, in: Thomas Olechowski, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938 (Wien 2014) 521 – 547. Wohnout, Helmut: Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich (= Studien zu Politik und Verwaltung 43, Wien et al. 1993). Wohnout, Helmut: Politisch-juristische Kontroversen um die Verfassung 1934 im autoritären Österreich, in: Erika Weinzierl et al. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976 – 1993, Bd. II (Wien 1995) 833 – 848.
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Christoph Gnant, The long way to autonomy. The organisation of the University of Vienna and the University Act of 2002. This article deals with the autonomy of the university of Vienna and the relationship between state and university in Austria since the university reforms of the 18th century. The University Act of 2002 gave universities their own legal status and autonomy in financial matters, personnel recruitment, and academic strategy.
Margit Berner, Anita Dick, Julia Gohm-Lezuo, Sarah Kwiatkowski, Katarina Matiasek, David Mihola and Harald Wilfing, Viennese Anthropologies. With the establishment of the Chair for Anthropology and Ethnography at the University of Vienna in 1913, two sciences of man were launched at the same time. From that start, the former twin disciplines now look back on 85 years of institutional separation as highly specialized and frequently renamed individual fields of study. On the occasion of the University of Vienna’s 650th jubilee, the Department of Cultural and Social Anthropology and the Department of Anthropology have teamed up to assess possible common grounds across the borders of their respective faculties. Focusing on the key protagonists and their professional networks, a historiographic overview traces the founding years of the formerly shared university chair and the separation of the two disciplines into newly established institutes in 1929, as well as their fate over the following decades. Apart from political upheavals, the rise of new scientific paradigms and resulting scientific schools have especially shaped this development – which is not the least reflected in a tendency towards critical self-reflection since the 1980s. Currently, there is a need for further research into dividing and con-
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vergent effects, as these not only define the past but also the future scientific scope of both fields of Viennese anthropology.
Wolfgang Duchkowitsch and Hannes Haas (†), Having overcome many heavy burdens over a long period of time – a characteristic feature of the Department of Communication. The article discusses developments from the first (pre-academic) newspaper research in Vienna during the 18th century to the present. It shows the long path of our discipline, which is marked by several ruptures: from the corporative state program of the »Academy of the Press,« to the indoctrinated obligations for the Department of Newspaper Research founded in 1938, to today’s self-image of the department. The transformation from newspaper research to a social sciencebased discipline began in the early 1970s, influenced by innovations in the discipline in the Federal Republic of Germany. From the late 1970s, the field registered an influx of students that was insufficient as perceived in terms of politics and the university. Until the early years of the 21st century, the hope remained of dealing with »fashionable studies« whose attractiveness would only be temporary. The university reform in 2002 was – with all legitimate criticism and some basic mistakes having a lasting effect even today (such as in the field of youth development) – a crucial event for the department. The expansion is not yet completed, but the required direction has been taken.
Tamara Ehs and Thomas König, From state science to political science. Dealing with »politics« as a subject of scholarship has roots well back into the 18th century. The rise of state bureaucracy and policy-making, first around social and economic issues and later expanding to a series of other fields, required the sovereign to provide sound training to its functionaries, and also to conceptualize the modern and newly arising phenomena closely related to state and capitalism, such as »class,« »nation,« »rule of law« etc. While for some time the University of Vienna was internationally at the forefront of developing, and institutionalizing, new streams of thoughts, it was reluctant to do so later. The article provides an overview of the eventful history of what only today is called the discipline of political science.
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Karl A. Fröschl and Günter Haring, Informatics: It all began with a computer… The chapter presents an abridged history of the stepwise institutional emergence of the School of Informatics at the University of Vienna. Beginning with its origins in the Institute of Statistics in the 1960s, which, at the time, was among the first university departments in Austria to have a programmable electronic calculator at its disposal, the article traces the unfolding of both teaching and the disciplinary establishment of informatics at the University of Vienna.
Christa Hämmerle and Gabriella Hauch, »Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden…«. On the institutionalisation of women’s and gender history at the University of Vienna. Establishing women’s and gender history at the University of Vienna was a complex and contested process, as is traced out in this account of these developments over the past 30 years. In the first phase of women’s studies, scholars of historical sciences played a crucial role in bringing feminist perspectives into the academic environment. Their input was critical concerning an imagined collective female subject and underlined the necessity of interweaving gender with other categories of social inequalities. Important milestones in the last 30 years include the simultaneous founding of the international journal L’Homme Z.F. G. and the Collection of Women’s Personal Papers (Sammlung Frauennachlässe) in 1990. The filling of a denominated professorship in 2011, the ongoing implementation of women’s and gender history in the curriculum, and the international master program (MATILDA) similarly encourage different forms of disciplinary and transdisciplinary cooperation and networking. The article shows how the manifold efforts of feminist historical scholarship created an innovative and flourishing area in the Faculty of Historical and Cultural Science of the University of Vienna.
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Stefan Hulfeld and Birgit Peter, The development of theatre studies at the University of Vienna following its institutionalisation in 1943. The contribution describes the institutionalization of theatre studies at the University of Vienna within the context of National Socialist cultural and educational policy in 1943. Theatre studies were considered by the Nazis as a field of knowledge predestined to prove the superiority of German culture. And Heinz Kindermann, the founder of the Zentralinstitut für Theaterwissenschaft, was designated to promote and define theater studies according to this doctrine in the German-speaking area. Dismissed in 1945, Kindermann regained his position in 1954 and patterned research and teaching on a long-term basis to conform to his new credo that scholars had to abstain from politics. Yet his and his successors’ denial of any close collaboration with the Nazis has been ardently challenged by generations of young academics and students from the 1970s until the present time. The institute examined its own past in an exhibition in 2008. At the same time, on its 65th anniversary, the institute, newly structured as the Department of Theatre, Film, and Media Studies, also addressed its future challenges.
Tanja Jenni and Raphael Rosenberg, The analysis of objects and the study of sources: Vienna’s contribution to establishing art history at universities. In the 19th century art history was established as a university course and Vienna had a prominent role in this process. The article traces the content and methods of teaching at the moment when the first professorships of the discipline were created at the universities of Berlin (1844), Vienna (1852), Bonn (1860), and Zurich (1871). Originally, in Vienna the explicit aim was to promote a general taste for the arts. However, lessons soon focused on training museum curators. Rudolf von Eitelberger, the first professor, also founded the Austrian Museum for Art and Design in 1864. From then on, lessons were often held in front of objects and included technical aspects as well as the study of written sources. The field of study opened up from canonical to seemingly peripheral objects. Those orientations have remained distinctive for the »Viennese School of Art History«. They were linked to the Austrian Institute of Historical Research founded in 1854 to educate librarians and archivists, but also museum curators, a course taken by 40 percent of the art history students and almost all of Eitelberger’s successors.
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Hanna Mayer, Nursing science. On the establishment of a new discipline at the University of Vienna. Nursing science is a relatively young discipline at the University of Vienna. Aside from early individual efforts to promote nursing research in Austria, it was not until 1999 that an individualized degree program was open for enrollment. Following curricular revisions and fundamental structural remodeling, the individualized degree program has been transformed into a regular master’s program, completing the three-cycle framework of the Bologna Accord. Since 2011, the master’s program represents a major milestone in the establishment of the discipline at the university. The Department of Nursing Science is formally a part of the Faculty of Social Sciences. While methodological and content commonalities exist, nursing science is not typically considered a social science and thus holds a special position within the faculty. The strong connection of nursing science to clinical nursing practice may well be an asset, by providing new approaches to problems, introducing new methods, and expanding the range of transdisciplinary research at the faculty.
Rudolf Müllner and Otmar Weiß, From PE teacher training to sport science. This study outlines a longitudinal section of the development of sport science at the University of Vienna from the year 1848 to the present. This process of organizational and scientific differentiation will be shown in its interdependency with the general transformation of society. An important step towards professionalization was done during the period between the two World Wars when the »Institut für Turnlehrerausbildung« (Institute for PE-Teachers Training) was established. From 1938 to 1945 the institute was concentrated on the specific goals of the national socialist physical education system. The modernization of Austria after the year 1970 made sport more important. A consequence of that was the renaming into »Institut für Sportwissenschaften« in the year 1977. The whole development was influenced by a number of key persons such as Rudolf von Stephany, Karl Gaulhofer, Margarete Streicher, Hans Groll and Ludwig Prokop. Their important contributions will also be pointed out.
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Gilbert Norden, Christoph Reinprecht and Ulrike Froschauer, Early maturation, late establishment. On the discontinuous institutionalization of sociology at the Alma Mater Rudolphina Vindobonensis. The article traces the establishment of sociology at the University of Vienna, from its early beginnings up to the present. In retrospect to the 18th, 19th and early 20th centuries and the sociological traditions then, the main stages of institutionalization in the interwar period, after the World War Two, and in the present are discussed. The first flourishing of sociology at the University of Vienna was to a large extent interrupted by Austro-fascism and the Nazi regime; after 1945 the discipline went through a long and difficult process that finally led to the establishment of two departments, two study programs, and to a differentiation of research areas. The new millennium marked a radical turning point: the amalgamation of the two departments, the study reforms induced by the Bologna accord, and the reorganization of research under the labels of Europeanization and neo-liberalism, which framed and accelerated the gradual disconnection of Vienna’s sociology from its local references and traditions. By taking the history of Vienna’s sociology as an example of a disciplinary institutionalization marked by discontinuity, the chapter illustrates an important piece of university history : this is an example of an academic discipline, with international success, which was very much inspired by Viennese scientists; it meandered within the University of Vienna before it found a late and internationally embedded maturation.
Oliver Rathkolb, From contemporary to current history and the efforts of institutionalization at faculty level after 1945. The Vienna school of contemporary history was closely associated in its start-up phase with state policy regarding the design of an Austrian identity in clear distinction from »Prussian« Germany. Despite the failure to produce the requested results of greater-than-average resistance by the Austrians in comparison with »Reich Germans,« military historian Ludwig Jedlicka received the necessary funds and contacts to be promoted around 1965 to associate professor at the University of Vienna. The University Institute of Contemporary History was founded on June 3, 1966. Institutionalized Viennese contemporary history up to the early 1970s generally focused on the period before 1938 to provide historical background in the ideological conflicts of the dominating Austrian power camps of the former Christian Socials and Social Democrats. The National
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Socialist period was limited to the events and consequences of the »Anschluss« of 1938. Analysis of political actors and parties of the First Republic prevailed in subsequent PhD projects and research publications. Increasingly politically controversial interpretations of the history of the Civil War of 1934 were discussed, as well as Christian Social anti-Semitism. International history was not a center of attention – apart from first dissertations after 1970 about US occupation policy and the Soviet policy after 1945. The focus on the Nazi era has been growing since the middle of the 1980s, in part related to the appointment of Erika Weinzierl, an expert on the history of anti-Semitism, as successor to the late Jedlicka. This development was accelerated by the heated international debate in 1985/1986 about the confrontation with the Nazi past of the Wehrmacht generation, provoked by discussion of the wartime history of the former UN Secretary-General and later Federal President Kurt Waldheim. Large gaps in the study of Nazism and the Holocaust and the World War Two period by Vienna’s contemporary research institutions became visible, pushing studies on Austrians in exile and Austrian perpetrators. It was not until 1988 that the first comprehensive critical examination of the history of the university’s activity during the Nazi period and before was published in a lecture series and subsequent publication by Gernot Heiss et. al (Willfährige Wissenschaft 1989); only two of the five editors worked at the Institute of Contemporary History.
Wolfgang L . Reiter, From Erdberg to Boltzmanngasse – 100 years of physics at the University of Vienna. The advancement of the sciences and in particular of physics in Austria after 1850 was predominantly determined by initiatives of the state authorities to modernize the structures of the educational system. The foundation of a new physics institute in 1850 triggered a long-lasting consolidation and differentiation of physics as an autonomous discipline within the university system, with subsequent reorganizations in 1875, 1902, and 1920. The interwar period was overshadowed by heavy restraints on financial means with noticeable consequences within the research system, followed by the drastic destruction of scientific life in Austria when the Nazis took power in March 1938. The reordering of the universities after 1945 regarding personnel and organization of the physics institutes by and large was determined by compromises between the »old elites« and the formal requirements to get rid of the members of the Nazi party. A more far-reaching modernization of teaching and research only came to the fore during the 1970s.
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Robert Rosner and Rudolf Werner Soukup, The chemistry departments at the University of Vienna. The article discusses the development of the Faculty of Chemistry from the foundation of a Chair of Botany and Chemistry at the Faculty of Medicine in 1749, up to the present, when the diversity in chemical research requires an increasing number of departments. After the university reform of 1849 an independent Chair of Chemistry was established at the Faculty of Philosophy. Chairs for physical chemistry and for pharmaceutical chemistry were started in 1902. A new building for the chemistry departments was finished after World War I. After the Anschluss in 1938 several professors and assistant professors were forced to leave. New chairs and departments were established in the 1950s and 1960s, such as the chairs for inorganic chemistry, for analytical chemistry, and for theoretical organic chemistry and departments of radiochemistry and biochemistry. After the university reform of 2004 and the establishment of the Faculty of Chemistry, several new departments were started, such as the departments of biophysical chemistry, of computer-supported biological chemistry, and of food chemistry. Some of the newly established departments are headed by women.
Birgit Sauer and Eva Flicker, Modernising the University of Vienna? Gender research in the social sciences at the Alma Mater Rudolphina Vindobonensis. The article focuses on the institutionalization of gender studies in the social sciences at the University of Vienna. Our aim is to point out the potential of gender studies first as a field of critical theory, second in its role as a vanguard for interdisciplinary research, and third in the societal dimension of transdisciplinarity. To do so we describe milestones of the development from women’s to gender studies on macro-, micro- and meso-levels. The macro-level refers to women’s liberation movements in the 1960s up to present gender equality policies. The micro-perspective focuses on female pioneers who catalyzed the institutionalization of gender studies. At the meso-level, the university organization, gender studies are confronted with a twofold challenge: on one hand feminist scholars demanded and gained access to academia, but on the other hand strong structures and values hold against the inclusion of gender studies with skeptical persistence. Hence, this article tells the story of the paradoxical processes of institutionalization and deinstitutionalization of gender studies in social sciences at the University of Vienna.
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Mary Snell-Hornby and Gerhard Budin, Translation studies in Vienna. The pioneering role of a time-honoured university. The article begins by presenting a historical overview of professional translation activities in Vienna, starting with the official translation services of the Habsburg Monarchy (from 1848 to 1918) and continuing with the new institutions for translating and interpreting in the German-speaking world (Berlin, Heidelberg, and Leipzig) in the early decades of the 20th century. The main focus of the essay then lies on the development of the School of Translation and Interpreting at the University of Vienna up to the year 2000. This account is divided into three sections: the circumstances leading to the founding of the new institute in 1943, the first decades of the institute from the 1940s to the 1980s, and finally the establishment of the new discipline of translation studies after 1989. Special emphasis is placed on the various phases of curricular reform in translator training, as well as the emergence of the new areas of research with which the present Centre of Translation Studies continues its pioneering tradition.
Maria Wirth, The universities’ joint molecular life sciences at the Campus Vienna Biocenter and the establishment of the Max F. Perutz Laboratories. 1992 is a key year in the recent history of the life sciences at the University of Vienna. In this year a new university building was opened in Dr. Bohr-Gasse, bringing together two institutes of the Faculty of Sciences and three institutes of the Faculty of Medicine. Together with the neighboring Institute of Molecular Pathology (IMP) they formed the nucleus of the Campus Vienna Biocenter. Further university departments followed. In 2005, after the Medical Faculty separated from the University of Vienna, the Max F. Perutz Laboratories (MFPL) was founded as a joint venture of the University of Vienna and the Medical University to foster cooperation. In 2007 the Center of Molecular Biology was installed as a new organizational unit for the departments of the University of Vienna. The article examines the history of the university institutes at the Campus Vienna Biocenter, today one of the most important locations for life sciences in Austria.
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Gerhard Benetka and Thomas Slunecko, Disorientation and reorientation. Some remarks on the development of psychology as a discipline at the University of Vienna. The article reconstructs the development of psychology as a discipline at the University of Vienna from its inception in the early 1920s until the first two postSecond-World-War decennia. As regards the pre-war years, the focus is on the research tradition of the »Bühler School«. For the post-war years, the reorientation of Viennese psychology towards US developments comes to the fore. At first glance, both periods – before 1938 and after 1945 – share a very similar plea and endeavour : for a foundation of psychology in the natural sciences. A closer scrutiny, however, reveals fundamental and irreconcilable differences in regard to the assumed natural scientific character of psychology before and after World War II.
Friedrich Ehrendorfer, Michael Hesse and Michael Kiehn, Botany and biodiversity research at the University of Vienna facility on Rennweg. For more than 260 years, the University of Vienna site at Rennweg 14, the location of the former »Institute of Botany« and the »Botanical Garden«, has maintained facilities for research, teaching, and the display of biodiversity, with a special focus on plants on a worldwide scale. In this historical survey we cover the divisions of systematic and evolutionary botany and structural and functional botany within the present »Department of Botany and Biodiversity Research« and the »Botanical Garden« that continue this tradition. We highlight the enormous changes in the fields covered by these units, the outstanding scientific research achievements, and the responsible personalities linked with this site since the mid 19th century. Research here always emerged from an organismic approach towards functional and holistic aspects of the life, structure, and evolution of plants and fungi. Our emphasis is on the developments from descriptive macroscopic to light and electron-microscopic observations as well as molecular and computer-supported analyses. Numerous relevant publications and lectures have contributed to our understanding of the complex and strongly endangered nature of our biosphere and made it available to science and a broader public.
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Elisabeth Grabenweger, German studies at the University of Vienna. On the academic and political history of the discipline from 1848 to the 1960s. This paper outlines the history of the German Department at the University of Vienna from ist foundation in 1848 until the 1960s. It deals with research priorities, the construction of disciplinary boundaries, personnel politics, and the role of students. Furthermore, the ways in which German studies positioned themselves within the canon of academic disciplines and in relation to broader political changes are analyzed. In the second half of the 19th century, Viennese German studies established themselves as a philological discipline but they also provided an ideological foundation of nationalism. The discipline experienced a phase of relative scientific diversity and openness during the 1910s and 1920s. However, during the 1930s, a German-nationalist and national socialist focus became increasingly prevalent. As these developments started already during the early 1930s, March 1938 represented only a partial turning point with regards to the research orientation and the staffing structure of the Viennese German Department. After 1945, the German Department, and medieval German philology in particular, tried to uphold continuity. It was only in the 1960s, that German studies started to distance themselves ostensibly from their role in National Socialism.
Gernot Heiss, Objective research and/or the production of ideologies. History at the University of Vienna 1848 – 1965. History as a field of research was, on the one hand, chiefly concerned with developing strict rules to reach objectively verifiable results; on the other hand, it nourished the ideologies of the 19th and 20th centuries with legitimizations of the state, the sovereign, or claims to power, and the independence of nations. For Viennese historians living in the time of the Habsburg Empire this political mission meant justifying the multiethnic state through historical arguments in opposition to nationalist tendencies. After the dissolution of the Habsburg Monarchy most of them argued from a German nationalist position during the interwar period, not only in favor of the »Anschluss« but also in favor of German domination in Central Europe. After 1945 the multiethnic Habsburg Empire was seen as a model for Europe by some historians, while others focused their concept of history on the territory of the new Austrian republic. The development of the field of history at the University of Vienna, its specializations and the establishment of special departments, as well as the ideological debates on
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conclusions to be drawn from history can only be discussed with reference to a few examples in this short article.
Rupert Klieber, The Faculty of (Catholic) Theology at Vienna 1848 – 2014. First, Central Europe’s theological talent forge, then a local educational establishment – and now cosmopolitan again. From its foundation in 1384 until the 1970s the Faculty of Theology (only with the integration of its Protestant sister in 1922 did it become a Faculty of Catholic Theology) was primarily an institution of priests teaching candidates for priesthood. From 1848 to now – the era on which this chapter focuses – the greater part of these clerics were educated for pastoral service within the Archdiocese of Vienna. Two institutions of supraregional importance, however, made sure that the faculty was more than a provincial clerical academy : the elite Hungarian seminary Pazmaneum, and even more so the postgraduate college St. Augustine (Frintaneum) for priests from all provinces of the monarchy. When the empire fell apart, the faculty was no longer disturbed in its provinciality for more than half a century. Only in the 1970s did it widen its geographical and social field of recruitment again, with lay students wanting to become teachers as well as with clerics from Central Europe and from countries of the Third World (e. g., Africa, India) aiming to achieve a doctorate. An analysis of the teaching staff reveals some interesting developments in its social composition: most academic teachers were priests and only ten of the teachers women, with the first being habilitated as well as becoming professor in 1997. Almost two-thirds of all teachers were educated at the faculty where they later taught. Regarding the origin of its teachers, the faculty was mostly Bohemian until 1900, then became Viennese until the 1980s and is now (at least for the ordinary professors) predominantly German-Bavarian. The faculty was a political factor in times of vigorous ideological controversies; however, its performance between the poles of church, university, and politics will be described in volume II of this anniversary book project.
Karl Milford, On the development of economics at the University of Vienna, 1763 – 1976. Between 1762 and 1976 economics at the University of Vienna developed in three stages, which are characterized by specific combinations of methodological positions and value theories. Menger’s nominalist approach combining meth-
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odological individualism and subjective value theory terminated the first stage in 1871. Then, however, economists establishing academic careers at the University of Vienna in the following stage defended essentialist positions, either by combining them with subjective value theories in order to explain relative prices or by combining them with alternative explanations of exchange. Since the resulting research programs proved to be quite unsuccessful, that stage simply petered out in the 1950s. The third stage was characterized by establishing a new faculty for the theoretical social sciences and, for the first time, separate economic curricula. Research in that period mainly focused on questions debated by the international community, and essentialist positions were substituted by nominalist ones.
Gerd B. Müller and Hans Nemeschkal, Zoology in the breeze of modernity: From typology to open systems. The development of the zoological sciences at the University of Vienna is examined from the perspective of its underlying research paradigms. Three key transitions are identified: the move from typological description to theoryguided research; the introduction of experimentation, quantification, and mathematization; and the first formulation of a physics-based systems approach. In addition, the tight interrelations of the zoological sciences with other scientific disciplines as well as with societal and political developments in the first half of the 20th century are addressed, with a focus on the key protagonists Berthold Hatschek, Hans Leo Przibram, and Ludwig von Bertalanffy.
Herbert Nikitsch and Brigitta Schmidt-Lauber, European Ethnology at the University of Vienna. On the development of empirical cultural studies in the context of (university) politics. The article analyses the history of European ethnology studies with respect to its determining factors in society and university policies. As a result of the increase in the interest of folklore, ethnological topics have been taught in various courses of study for the past 120 years. At the University of Vienna, an ethnological institute was founded as an independent unit in 1942. However, it was closed after the war due to its political and ideological position at the time and was only reopened in 1966 when Richard Wolfram, the professor who had been dismissed in 1945, was fully reinstated in his chair. The academic field of folklore studies has continued to flourish at the Viennese institute, renamed the Department of
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European Ethnology in 2000, to become the empirical cultural studies of everyday life, aimed at the present but diachronically well founded. The article follows this development and presents the people who played a part in it in the context of their time.
Richard Olechowski, Two research paradigms in education: the ›transcendental critical approach‹ and the ›empirical approach‹. The article points out that in the Department of Pedagogics, later renamed the Department of Education Sciences at the University of Vienna two different paradigms were taught for more than 25 years. One point of view was represented by Marian Heitger, whose academic teacher was Alfred Petzelt, a pupil of Richard Hönigswald, belonging to the wider circle of Neo-Kantianism. The other paradigm was represented by Richard Olechowski, whose academic teacher was Hubert Rohracher, one of the main pioneers of empirical psychology. The author describes his preferred method in the field of empirical research, either setting up experiments or using observations within defined conditions. The data should be analyzed with the methods of statistics. With respect to scientific theory and the interpretation of the results, the author recommends the »deductive method« as proposed in Karl Popper’s philosophy of science.
Thomas Olechowski, Jurisprudence or ›legal science‹? How the scholarly orientation of the Vienna’s Law Faculty has developed since 1852. The article deals with the intellectual movements (historical school, pure theory, jurisprudence of values) that have dominated the Viennese Faculty of Law since 1852. Their development was influenced not only by scientific but also by some political factors. In addition, special attention is given to the question whether jurisprudence can be a science at all or whether it is a form of art, namely the »art of the good and the fair,« according to the classical Roman quote.
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Thomas Posch, On the history of astronomy at the University of Vienna. The history of astronomy at the University of Vienna dates back to the time of its foundation. In the 14th and 15th centuries, Vienna became a center of mathematical and astronomical studies due to erudite individuals such as Albertus de Saxonia, Henricus de Hassia, Johannes von (John of) Gmunden, Georg von Peuerbach and Regiomontanus. In the 18th century, astronomical observatories were founded: in 1733 by the Jesuits and in 1755 by the state (Observatorium Universitatis Vindobonensis Caesareo-regium). Maximilian Hell, the first director of the latter, became famous by contributing to the determination of the astronomical unit using observations of the transits of Venus in 1761 and 1769. In the 19th century, the outstanding Viennese astronomers were Johann von Littrow, Carl von Littrow, and the specialist in eclipse calculation Theodor von Oppolzer. In 1883, the new observatory building was inaugurated on a hill in the outskirts of the city. Johann Palisa would find more than 100 asteroids by visual observations with the instruments of this new observatory. The 20th century led to a strong diversification of the central topics – from pulsating stars, star formation, planet formation, and interstellar matter to galaxies and cosmology.
Fritz Schiemer, Georg Grabherr, Marianne Popp and Jörg Ott, Towards a synoptic ecology. The article provides an overview of the development of the field of ecology at the University of Vienna, starting with some of the prominent representatives from the time before Haeckel coined the term »ecology« in 1866. Ecology has very different roots, which developed independently without integration. A more general concept was elaborated before and after the World War Two. It combined the energy flow approach with a focus on the structuring significance of predation, disturbances, and competition for ecosystem function. At the University of Vienna, ecology developed mainly after World War Two, with precursors in different subject fields such as plant physiology, limnology, terrestrial ecology, and system theory – all following different approaches. The diversified ecological research foci were first integrated in about 2000 with the foundation of the »Institute of Ecology and Conservation Biology« (IECB). This institute combined the broad expertise of the former zoology and botany institutes with new chairs to expand the competence ranging from molecular to ecosystemorientated studies. At present, ecology is represented in a faculty center, which is especially strong in microbial and biogeochemical processes but would benefit
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from a more integrative orientation. This should become a strong emphasis in the near future.
Karl W. Schwarz, »Zur Erhaltung der universitas litterarum unentbehrlich«. The Protestant Theological Faculty in the first half of the twentieth century. The article deals with the history of the Protestant Theological Faculty during the time between its incorporation to the University of Vienna in 1922 and the year 1958, when the first of its professors was elected as rector magnificus. The quotation in the title is taken from a 1919 memorandum with statements from secular faculties in favor of the theological faculties, which had been questioned by the »Zeitgeist.« The Viennese Protestant Theological Faculty saw itself not only as a seminary for the education of young academic pastors of the Protestant Church in Austria and in the successor states of the Habsburg Monarchy, but also as a center of research in the Protestant tradition for culture and science and as participating in a lively dialogue with other faculties. It consisted of six chairs, three ordinarii from (former) Austria and three from Germany. After 1938, declared Nazis were appointed, top-grade experts in their topics. The Borderland Project for the specific needs of the churches in Southeastern Europe failed due to the veto of the NSDAP Chancellery in Munich. Gustav Entz, professor for practical theology, was the dean at that time, between 1938 and 1949; he worked in a prudent manner during the Nazi era, and led the faculty into the so-called Second Republic of Austria.
Karl Sigmund, Mathematics at the University of Vienna. This article deals with the ups and downs of the history of mathematics at the University of Vienna, with special emphasis on the first half of the 20th century. During this time, Viennese contributions to analysis, number theory, and topology shaped the field. A particularly seminal development occurred in mathematical logic and set theory, thanks to the work of Kurt Gödel, which showed that mathematics is inexhaustible.
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Friedrich Stadler, Philosophy. Outlines of a discipline at the University of Vienna in »the long twentieth century«. After a short review of philosophy as a key discipline within the so-called Artistenfakultät (Faculty of Arts) and the Faculty of Philosophy since the founding of the University of Vienna in 1365, the development is described mainly from 1848 onwards with a focus on the 20th century. The personal and institutional breaks and continuities are characterized and a thematic analysis of the philosophical research and teaching in historical context is provided. This specific dynamics becomes manifest on the one hand with the significance of philosophy within the Faculty of Philosophy and, on the other, with its relation to the other classical faculties. The process of a gradual dissolution and diversification of the Faculty of Philosophy up to the present indicates the changing role of a longterm, dominant »royal discipline«. Nevertheless, the restructuring and renewal of philosophy as a discipline and interdisciplinary research field since the implementation of the University Act 2002 appears as a successful and promising turn with an increasing international visibility and appreciation.
Timothy Taylor and Claudia Theune, Touching the Past. Archaeology and prehistory in Vienna since 1892. This paper views the development of archaeology and prehistory as academic disciplines in Vienna from the end of the nineteenth century through to the present. Although the subject field had at the outset a very broad remit and high ambition, the interwar development of nationalist agendas increasingly connected the field with racial theories of culture which were to be dramatically discredited. Thus, what emerged after the Second World War was a much more limited form of typological scholarship, which largely avoided social questions while retaining a conservative nomenclature for describing ›cultures‹. The impact of the application of techniques from the natural sciences from the 1980s onwards, and the influence of progressive theories from socio-cultural anthropology, halted this decline. Recent years have seen the emergence of a new kind of artefact-centred scholarship, which interlinks archaeological practice across the prehistory–history divide.
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Clemens Gütl, The Institute of Egyptology and African Studies at the crossroads of academia and politics, 1923 – 1953. In March 1953, Rector Wilhelm Czermak (1889 – 1953) died at the University of Vienna. After his appointment as professor of Egyptology in 1931, he had guided much of the research and teaching at the Institute for Egyptology and African Studies in Vienna. This shows, for example, an analysis of teaching assignments and dissertation topics. Former students confirm the positive influence of his personality and the harmonious atmosphere at the institute. In contrast to this he was also accused of having been »a Nazi of the first order.« Starting with the founding of the institute in 1923, this paper focuses on Czermak as the central player in the period 1931 to 1953 within the context of scholarship and politics by drawing attention to his long-lasting networks, such as his contact with orientalist Viktor Christian, who became dean at the University of Vienna in 1939.
Christina Köstner-Pemsel and Markus Stumpf, The Vienna University Library: reflecting the upheavals of power-politics. The history of the Vienna University Library has been strongly influenced by political events and the history of the university. In the 20th century the library was de facto replaced by the National Library as the nation’s »first« library ; it had to adapt to the new circumstances, especially from 1934 onwards, in the period of the »Ständestaat« and under National Socialism. A high point was the UOG 1975, which determined that the main and departmental libraries should be coordinated and brought the director of the library closer to the university. Since then, Vienna University Library has become the leading university library in Austria. It supports the University of Vienna’s learning, teaching, and research.
Gerhard Langer, Remember – Explain – Educate. What culture of remembrance means as exemplified by a Jewish Studies Department. The Austrian Institute of Jewish Studies was initiated by the late Professor Kurt Schubert after World War II and opened in 1966. Its aims at the beginning were mainly to inform people in Austria (mostly of Christian background) about the complex and fascinating phenomenon of Judaism throughout the ages in the aftermath of the experience of anti-Semitism and the Shoah. From the beginning
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it was and still is focusing on reading and explaining the source materials and thus demands skills in the Hebrew language as well as in hermeneutics. In its later development the institute had to come to terms with Jewish studies as a European phenomenon after the 1980s, with a focus on modern times. Now the institute is part of an Austrian-wide network of institutions of Jewish studies and tries to teach about Judaism from its very beginning up to recent tendencies. It wants to inform its students and a broad audience about Jewish culture, always guided by the original documents and sources, and also including material sources and modern elements like film.
Ramon Pils, English studies in Vienna in the early twentieth century. The article discusses the early history of English philology as an academic subject at the University of Vienna. It argues that during the years of Karl Luick’s professorship (1908 – 1935), a specific approach to English language and literature became hegemonic. This also involved the exclusion of different-minded scholars, most notably Leon Kellner.
Claudia Rapp, The development of Byzantine studies in Vienna: between familiarity and Otherness. This article traces the interest among the savants of the Habsburg region since the 16th century in Byzantine culture and the awareness of »Byzantium« as a distinct cultural entity and period. The Imperial (now Austrian National) Library and the Academy of Sciences play an important role in this regard, in addition to the university. Long before the chairs for Byzantine studies and for Modern Greek studies were established at the university in 1962 and 1982, the interest in Byzantium was occasioned by a variety of factors: contemporary politics (especially the presence of the Ottomans as an eastern neighbor); the growing imperial collection of manuscripts of ancient Greek texts that had been copied in Byzantium; the presence of a large and prosperous community of Greeks in Vienna since the late 18th century ; and the Byzantine works of art in the Adriatic, especially Ravenna and Venice. In short, the establishment of Byzantine studies at the University of Vienna did not follow a straight path, but depended on circumstance as much as on personal initiative, most decisively on the impact of Herbert Hunger who was the first to hold the chair in Byzantine Studies.
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Franz Römer, Sonja Schreiner and Herbert Bannert, Classicists interacting between Culture and Society – Representatives of Greek and Latin Studies as Trendsetters 1849 – 2015. Austrian universities used the chance which the revolution of 1848 had given them. Thus, beginning with the foundation of the Philological Seminar in 1849, Classical Studies developed rapidly in Vienna, reaching a high scientific level and exerting a positive influence on the secondary school system. The present article focuses on six leading professors, beginning with the Aristotelian scholar and enthusiastic teacher Hermann Bonitz. Of especial importance was Wilhelm Ritter von Hartel, who even rose to the rank of Minister for Culture and Education in the late Habsburg monarchy, while Theodor Gomperz not only did excellent research work on Greek philosophy, but also made it more understandable for the general public. After World War II three eminent philologists, Albin Lesky, Walther Kraus, and Rudolf Hanslik, achieved a new climax of Classical Studies in Vienna, their scholarly work culminating in Lesky’s History of Greek Literature, Kraus’s studies in Greek comedy and Ovid (Kraus was also rector during the »revolutionary« year of 1968), and Hanslik’s revival of Latin patristics. Hanslik also laid the foundation for the introduction of Medieval and Neo-Latin studies towards the end of the second millennium.
Hadwiga Schörner, External constraints and internal impetus. The dynamics of classical archaeology in the first half of the twentieth century. In the field of archaeology, the change from a multinational monarchy to a small republic after World War I, the so-called »Anschluss« to the German Reich in 1938, and the crash of 1945 influenced in particular the extent and financing of excursions, excavations, and stipends. Research projects in the Eastern Mediterranean and the Adriatic areas had to be interrupted for a long time or could not be restarted after the First World War. Some were substituted for by excavations in Austria or by publication projects. The consequences of these external events also affected the interior structure of the discipline as well as personnel development, as in the case of Emanuel Löwy, for whom a new extraordinary professorship was established. The utilization and extension of the archaeological collection of the university was also influenced by political circumstances. Emil Reisch (full professor 1898 – 1933) laid his focus upon Greek vases, whereas Camillo Praschniker (1933 – 1949) extended the collection with
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oil lamps, figural terra-cottas, and Roman vessels, as well as sculptures of bronze and marble.
Maria A. Stassinopoulou, Whither with the New Greeks? Approaches to Modern Greek studies in Vienna. In a lecture held in Vienna in 1943, the Byzantinist Franz Dölger proposed a sketch of the historical relations between Vienna and Modern Greece. Dölger’s rhetoric brought together German economic interests in Southeastern Europe and interpretations of older Southeast European migration to Vienna, as depicted by Greek historians of the early 20th century. The multicultural environment of Vienna in the late 18th and early 19th century included the presence of Greek-Orthodox entrepreneurs and merchants from the Ottoman Empire and became the ideal space for a multilateral network of cultural transfer. Among others, scholars who also functioned as censors for books in Modern Greek, such as Franz Karl Alter (1749 – 1804) and Batholomäus (Jernej) Kopitar (1780 – 1844) cooperated closely with Greek scholars and publishers in Vienna and published widely in journals on the activities of the »new Greeks.« Modern Greek was taught as a language throughout the 19th and 20th century at the Diplomatic Academy and at the University of Vienna. The linguist Paul Kretschmer (1866 – 1956), who taught at the University of Vienna from 1899 to 1936, took crucial steps towards the development of a research oriented academic field. From 1951 to 1982 Polychronis Enepekides (1917 – 2014) offered courses in the departments of translation and of Byzantine studies. Gunnar Hering (1934 – 1994) was the first professor to be appointed in 1983 to the newly founded chair of Modern Greek Studies (Neogräzistik) in the Department of Byzantine and Modern Greek Studies. The present article sets Dölger’s ideologically tainted narrative in contrast with Viennese intellectual traditions of scholarship and attempts to trace connecting lines between diverse forms of Modern Greek Studies in the 19th and 20th century and the institutionalization of the field at the University of Vienna.
Kamila Staudigl-Ciechowicz, The Viennese Faculty of Law and State, 1933 – 1945. The article explores the impacts of the political turmoils of 1933/34 and 1938 on the Viennese Faculty of Law and State. It considers how the Austro-Fascist regime (1933/34 – 1938) and the Nazi regime (1938 – 1945) dealt with scholars,
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those who were ideologically suitable as well as those who were removed, sometimes because of racism and sometimes because they spoke out. Also included is an overview of how the new regimes tried to adapt the study of law to further their ideological goals.
Personenregister
Abel, Othenio (1875 – 1946) 503, 505 Adam, Adolf (1918 – 2004) 94 Adamovich, Ludwig sen. (1890 – 1955) 600 f., 603 Adler, Karl Friedrich 546 Adler, Guido (1855 – 1941) 364 Adler, Max (1873 – 1937) 73, 167, 364, 599 Aigner, Franz (1882 – 1945) 201 Allerhand, Jacob (1927 – 2006) 531 Allhutter, Doris 232 Alt, Franz (1908 – 2010) 467 Alter, Franz Karl (1749 – 1804) 589, 625 Ammerer, Gustav 259 Anderman, W. Th, s. Thomas, Walter Andreae, Wilhelm (1888 – 1962) 168 Angerer, Marie-Luise 232 Anschu¨tz, Richard (1852 – 1937) 193 Anzenbacher, Arno 339 Appelt, Erna 103 Appelt, Heinrich (1910 – 1998) 313 Ardelt, Rudolf G. 187 Arnim, Achim von 299 Arnim, Hans von (1859 – 1931) 299, 569 Arnold, Robert Franz (1872 – 1938) 304 Artin, Emil (1898 – 1962) 463, 465, 468 Aue, Hartmann von 297 Auer von Welsbach, Carl (1858 – 1929) 217 Awerbuch, Marianne (1917 – 2004) 531 Baca, Arnold 160 Bachl, Norbert 160 Bader-Zaar, Birgitta 101, 103, 105 Bahr, Hans-Dieter 482
Baier, Margit 230 Baldauf, Anette 230 Bankû, Julius (1871 – 1945) 576, 579 Barrenscheen, Karl Hermann (1887 – 1958) 214 Barta, Andrea 259 f. Barth zu Barthenau, Ludwig (1839 – 1890) 213, 216 f. Bartl, Alfred 207 Battin, Tom 437 Bauer, Thomas A. 64 Bauer, Wilhelm (1877 – 1953) 58, 61, 318 Baumann, Hermann (1902 – 1972) 45 f. Bausinger, Hermann 377 Baxa, Jakob (1895 – 1979) 168, 601 Becke, Friedrich (1855 – 1931) 57 f. Becker, Christian 223 Becker-Schmidt, Regina 232 Benard, Cheryl 80, 227 Benda, Oskar (1886 – 1954) 306 Benedikt, Heinrich (1886 – 1981) 62, 182 f., 319, 321 Benedikt, Michael (1928 – 2012) 482 Benedikt, Moriz (1849 – 1920) 568 Benndorf, Hans (1870 – 1953) 194 Benndorf, Otto (1838 – 1907) 577, 579 f. Bernatzik, Edmund (1854 – 1919) 72, 167, 407 – 409, 596 Bernecker, Sven 484 Bernert, Traude (1915 – 1998) 198 Bernold, Monika 232 Bertalanffy, Ludwig von (1901 – 1972) 355, 360 – 362, 364 f., 432, 617 Bessarion, Basilius (1404 – 1473) 418
628 Beth, Karl (1872 – 1959) 445 f., 448 – 451 Beth-von Weisl, Marianne (1890 – 1984) 451 Bibl, Viktor (1870 – 1947) 169 Bick, Josef (1880 – 1952) 515 f., 518, 520 Biebl, Richard (1908 – 1974) 433 Bielohlawek, Karola (1877 – 1959) 516 Billiter, Jean (1877 – 1965) 219 Birbaumer, Ulf 116 Birkhan, Ingvild 230 Birnstiel, Max (1933 – 2014) 258 Bismarck, Alexander 223 Bittner, Maximilian (1869 – 1918) 502 f. Blaschke, Wilhelm (1895 – 1962) 463 Blau, Marietta (1894 – 1970) 198, 201, 207 Blühdorn, Rudolf (1887 – 1967) 601 Bock, Gisela 100 Bode, Wilhelm (1845 – 1929) 132 Bodzenta, Erich (1927 – 1996) 173 Bohatec, Josef (1876 – 1954) 445 f., 448 – 450, 453 Bohle, Sigrun 101 Bo¨ hm, Daniel (1794 – 1865) 122 Böhm-Bawerk, Eugen von (1851 – 1914) 349 f. Bolognese-Leuchtenmüller, Birgit 100, 103 f. Bolschwing, Anna (1919 – 1995) 331 Bolterauer, Lambert (1903 – 2000) 274 Boltzmann, Ludwig (1844 – 1906) 192 – 196, 461, 463, 465, 473 Bolzano, Bernard (1781 – 1848) 471 Bonitz, Hermann (1814 – 1888) 385, 387, 563 f., 567, 624 Bookstein, Fred L. 49 Bormann, Eugen (1842 – 1917) 576 Bosˇkovic´, Rugjer Josip (1711 – 1787) 211 f. Botz, Gerhard 180, 188 Braidt, Andrea 232 Brassloff, Stephan (1875 – 1943) 601 f. Braun, Egon (1906 – 1993) 578 Braun, Hildegard (1897 – 1953) 520 Braunias, Karl (1899 – 1965) 597 Brecht, Walther (1876 – 1950) 301, 544 Breinbauer, Ines Maria 391
Personenregister
Breitenbach, Johann (1908 – 1978) 221 Breitinger, Emil (1904 – 2004) 48 Brentano, Franz (1838 – 1917) 471 f. Brezinka, Wolfgang 387, 397 Bright, Monika 438 Brinker, Udo 221 Broda, Christian (1916 – 1987) 184 Broda, Engelbert (1910 – 1983) 220 Bruckmann, Gerhart 87, 89 f., 94 f. Brukl, Alfred (1894 – 1967) 221 Brunner, Karl (1887 – 1965) 546 f. Brunner, Otto (1898 – 1982) 317 f. Brunswik, Egon (1903 – 1955) 268, 270 f., 475 Buchinger, Harald 339 Budin, Gerhard 247, 250, 613 Bühler, Charlotte (1893 – 1974) 267 – 271, 276, 473, 475 Bu¨hler, Hildegund (1936 – 2009) 247 Bühler, Karl (1879 – 1963) 267 – 271, 273 f., 276 f. 473 – 475 Bukowska, Sylwia 230 Bulic´, Frane (1846 – 1934) 577 Bunsen, Robert (1811 – 1899) 213, 215, 217, 422 Bu¨rg, Johann Tobias (1766 – 1835) 420 Burian, Karl (1939 – 1998) 435 Busbeq, Ogier Ghiselin (1522 – 1592) 553, 555 – 557 Buschle, Michael 258 Busek, Erhard 101 Bydlinski, Franz (1931 – 2011) 413 f. Bydlinski, Peter 414 Campenhausen, Hans von (1903 – 1989) 453 Canetti, Elias (1905 – 1994) 219 Cannizzaro, Stanislao (1826 – 1910) 215 Capesius, Viktor (1867 – 1953) 449 Capka, Rudolf (1904 – 1940) 520 Carnap, Rudolf (1891 – 1970) 465, 473 f. Castle, Eduard (1875 – 1959) 302, 304, 306 Celtis, Conrad (1459 – 1508) 460 Chamberlain, Houston (1855 – 1927) 113, 364
Personenregister
Chargaff, Erwin (1905 – 2002) 218 Chmel, Joseph (1798 – 1858) 311 f. Chmelarz, Eduard (1847 – 1900) 127, 129 Choniates, Michael (ca. 1140 – 1220) 588 Christian, Curt (1920 – 2010) 480, 483 Christian, Viktor (1885 – 1963) 45, 476, 503, 505 – 508, 622 Christomanos, Konstantinos (1867 – 1911) 590 Claus, Carl (1835 – 1899) 357, 363, 432 Clements, Frederic (1874 – 1945) 430 Connell, Joseph 433 Conze, Alexander (1831 – 1914) 123, 575, 582 Corneließen, Waltraud 232 Correns, Carl (1864 – 1933) 358 Cremer, Erika (1900 – 1996) 222 Cru¨well, Gottlieb August (1866 – 1931) 516 f. Curie, Marie (1867 – 1934) 197 Cusanus, Nikolaus (1401 – 1464) 418 Cyba, Eva 227, 231 Cysarz, Herbert (1896 – 1985) 301 Czeitschner, Burgl 232 Czermak, Wilhelm (1889 – 1953) 501, 503 – 510, 622 Czwiklitzer, Richard (1882 – 1940) 520 Daim, Falko 495 Darwin, Charles (1809 – 1882) 282, 293, 357, 363, 406, 429, 491 Davidowicz, Klaus 535 f. Decker, Thomas 258 Dedic, Paul (1890 – 1950) 451 Degenfeld-Schonburg, Ferdinand von (1882 – 1952) 349, 351, 600 f. Dempf, Alois (1891 – 1982) 473 – 475, 477 f. Demus, Otto (1902 – 1990) 558 Derflinger, Gerhard 95 Derndarsky, Michael 180 Dethloff, Klaus 531 Dexinger, Ferdinand (1937 – 2003) 531 Dickert, Franz 222 Dienst, Heide 100 f., 103 Dietrich, Margret (1920 – 2004) 116
629 Dietrich, Otto (1897 – 1952) 59 Dirsch, Verena 216 Djinovic-Carugo, Kristina 258 Dohnal, Johanna (1939 – 2010) 228 Dölger, Franz (1891 – 1968) 587 f., 625 Dollfuß, Engelbert (1892 – 1934) 186, 316, 596, 599 Donabaum, Josef (1861 – 1936) 515 Doneus, Michael 494 Doppler, Christian (1803 – 1853) 192, 363 Dorer, Johanna 232 Dorn, Hans Peter, s. Thomas, Walter Dörpfeld, Friedrich Wilhelm (1824 – 1893) 386 Dostal, Walter (1928 – 2011) 50 Doublier, Othmar (1865 – 1946) 520 Driesch, Hans (1867 – 1941) 359 Drimmel, Heinrich (1912 – 1991) 182 – 184, 375, 479, 531 Duda, Herbert (1900 – 1975) 62 Dvorˇk, Max (1874 – 1921) 128 Ebert, Ludwig (1894 – 1956) 217, 220 Eckhart, Andrea 230 Egger, Rudolf (1882 – 1969) 578 Ehrendorfer, Friedrich 281 f., 284, 286, 288, 290, 292 – 294, 430, 614 Ehrenfest, Paul (1880 – 1933) 194, 196, 462 Ehrenhaft, Felix (1879 – 1952) 193 f., 199 – 205 Ehrenzweig, Albert (1875 – 1955) 601 Ehrenzweig, Albert Armin (1906 – 1974) 601 Ehrlich, Eugen (1862 – 1922) 406 f. Eibl, Hans (1882 – 1958) 473, 476 Eichler, Albert (1879 – 1953) 541, 546 Einem, Caspar 29 Eiselen, Ernst (1793 – 1846) 150 Eisenbach-Stangl, Irmgard 231 Eitelberger, Rudolf von (1817 – 1885) 122 – 130, 132, 608 Elisabeth, Kaiserin von Österreich (1837 – 1898) 590 Elton, Charles (1900 – 1991) 431 Endlicher, Stephan (1804 – 1849) 289, 293
630 Enepekides, Polychronis (1917 – 2014) 591, 625 Engel-Janosi, Friedrich (1893 – 1978) 180, 183, 319 Engelbrecht, Helmut 389 Engl, Heinz 34 Entz, Gustav (1884 – 1957) 446, 448 – 454, 620 Ephrussi, Viktor von (1860 – 1945) 363 Erkinger-Rausch, Eva 230 Ernst, Waltraud 229 f., 232 Ertl, Gunter 413 Escherich, Gustav von (1849 – 1935) 461 – 464 Ettingshausen, Andreas von (1796 – 1878) 192, 363 Ettmayer, Karl (1874 – 1938) 544 Exner, Franz (1802 – 1853) 385 – 387, 563 Exner, Franz Serafin (1802 – 1853) 193 – 196, 199 f. Faber, Albrecht (1903 – 1986) 431 Faber, Roland 339 Fabricius, Paul (1529 – 1589) 460 Faltis, Franz (1885 – 1963) 216 Feichtinger, Johannes 390 Feigl, Fritz (1891 – 1971) 219, 221 f. Felgenhauer, Fritz (1920 – 2009) 494 Felt, Ulrike 233, 483 Fenchel, Tom 434 Fenzl, Eduard (1808 – 1879) 282 Ferdinand I., Römisch-deutscher Kaiser (1503 – 1564) 315, 513, 552 f. Ferdinand II., Römisch-deutscher Kaiser (1578 – 1637) 513 Ferschl, Franz (1920 – 2006) 88 Ferstel, Heinrich von (1828 – 1883) 213 Feyerabend, Paul (1924 – 1994) 479, 481 Fichtenau, Heinrich (1912 – 2000) 319 f. Fiedler, Konrad 437 Fielhauer, Helmut (1937 – 1987) 377 f. Figdor, Wilhelm (1866 – 1938) 359 Firnberg, Hertha (1909 – 1994) 26, 79, 100 f., 228, 378, 524 Fischer, Hans (1881 – 1945) 214 Fischer, Heinz 93, 480
Personenregister
Fischer, Kurt Rudolf (1922 – 2014) 481, 483 Fischer, Manfred A. 287 Flamm, Ludwig (1885 – 1964) 202 Fleischhacker, Wilhelm 216 Flicker, Eva 231 Foerster, Heinz von (1911 – 2002) 481 Forbes, Stephen (1844 – 1930) 430 Forst-Battaglia, Otto (1889 – 1965) 180 Fournier, August (1850 – 1920) 313 Frank, Isnard (1930 – 2010) 339 Frank, Philipp (1884 – 1966) 462 f. Franke, Adolf (1874 – 1964) 218 f. Frankfurter, Salomon (1856 – 1941) 515 f. Franz I. Stephan, Römisch-deutscher Kaiser (1708 – 1765) 211 Franz II./I., Römisch-deutscher Kaiser und Kaiser von Österreich (1768 – 1835) 328 Franz Ferdinand von Österreich-Este (1863 – 1914) 566, 580 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1830 – 1916) 423, 565 Frege, Gottlob (1848 – 1925) 480 Frenkel-Brunswik, Else (1908 – 1958) 475 Frere, John (1740 – 1807) 491, 495 Freud, Selma (1877 – 19??) 194 Freud, Sigmund (1856 – 1939) 267, 274, 363, 567 Freund, Ernst (1863 – 1946) 213 Friedman, Sy-David 483 Friesinger, Herwig 489, 494 f. Frint, Jakob (1766 – 1834) 328 Frisch, Hans (1875 – 1941) 597, 599 Frisch, Helmut (1936 – 2006) 89 Frisch, Karl von (1886 – 1982) 284 Frobenius, Leo (1873 – 1938) 44 Fromm, Emil (1865 – 1928) 214 Fues, Erwin Richard (1893 – 1970) 203 Funder, Friedrich (1872 – 1959) 59 Furcht, Margarete (ca. 1880 – 1976) 217 Fürer-Haimendorf, Christoph (1909 – 1995) 45 Fu¨ rth, Otto von (1867 – 1938) 214
Personenregister
Furtwängler, Philipp (1869 – 1940) 463 – 468 Gal, Kroly (1922 – 2007) 377 f. Gabain, Alexander von 256, 258 Gabriel, Ingeborg 339 Gabriel, Leo (1902 – 1987) 158, 473, 477 – 479, 481 f. Gl, Alexander (1881 – 1958) 601 Galinovsky, Friedrich (1908 – 1957) 220 Galvagni, Egon (1874 – 1955) 521 Gans, Johann (1886 – 1956) 519, 521, 523 f. Garstenauer, Therese 230 Gaudart, Dorothea 227 Gaudig, Hugo (1860 – 1923) 387, 397 Gaulhofer, Karl (1885 – 1941) 153 f., 609 Gegenbauer, Leopold (1849 – 1903) 461 Gehlen, Arnold (1904 – 1976) 168, 271, 475 f. Gehmacher, Johanna 102, 107 Geiger, Brigitte 232 Geiringer, Hilde (1893 – 1973) 464 Geißler, Rudolf (1888 – 1974) 521, 523 Geitler, Lothar (1899 – 1990) 284, 286 Gemelli, Agostino (1878 – 1959) 276 Genetti, Evi 230 Gerhalter, Li 107 Gerhard, Ute 104 Gerlich, Peter 79 Gerner, Christopher 223 Getoff, Nikola 222, 258 Geyer, Eberhard (1899 – 1943) 46 Geyer, Rudolf Eugen (1861 – 1929) 315, 503 Gierke, Otto von (1841 – 1921) 406 Gingrich, Andre 50, 232 f. Glauser, Charles Pierre (1868 – 1937) 242 Gleason, Henry (1882 – 1975) 430 Gleispach, Wenzel (1876 – 1944) 596 – 599 Glo¨ ckel, Otto (1874 – 1935) 73 f., 388 f., 397 Gödel, Kurt (1906 – 1978) 459, 465 – 467, 480, 620 Goebbels, Joseph (1897 – 1945) 55, 59
631 Goethe, Johann Wolfgang von (1749 – 1832) 298, 300 Goldberg, Christine 227, 231, 233 Goldenberg, Hans 215 Goldinger, Walter (1910 – 1990) 181, 185 Goldmann, Emil (1872 – 1942) 601 f. Goldscheid, Rudolf (1870 – 1931) 364 Goldschmiedt, Guido (1850 – 1915) 216, 218 Gomperz, Heinrich (1873 – 1942) 473 Gomperz, Max (1822 – 1913) 568 Gomperz, Theodor (1832 – 1912) 567 f., 624 Gonzalez, Leticia 223 Gordesch, Johannes 90, 93 Gottschalk, Hans Ludwig (1904 – 1981) 531 Grabherr, Georg 435 Graff, Kasimir Romuald (1878 – 1950) 425 Grailich, Wilhelm Josef (1829 – 1859) 192 Grammer, Karl 49 Grassauer, Friedrich (1840 – 1903) 514 Greger, Harald 285 Gregor, Brigitte, s. Stemberger, Brigitte Greilhuber, Johann 286 Greisenegger, Wolfgang 116 Greshake, Gisbert 339 Griesebner, Andrea 101, 105 Grillparzer, Franz (1791 – 1872) 300, 311 f. Grimm, Herman (1828 – 1901) 125, 130, 132 Grimm, Herwig 484 Grimm, Jakob Ludwig Karl (1785 – 1863) 299 Grimmich, Virgil (1861 – 1903) 339 Grobben, Karl (1854 – 1945) 362, 432 Groll, Hans (1909 – 1975) 155, 157 – 160, 609 Gross, Philipp (1899 – 1974) 219 Grossmann, Wilfried 85, 94 Gruber, Karl Heinz 392, 397 Grünberg, Carl (1861 – 1940) 57, 351 Gruscha, Anton (1820 – 1911) 326 Guldin, Paulus (1577 – 1643) 419, 460
632 Günther, Adolf (1881 – 1958) 168, 493 Gürke, Norbert (1904 – 1941) 601 Gutenbrunner, Siegfried (1906 – 1984) 304 f. Haacke, Wilmont (1911 – 2008) 59, 62 Haberlandt, Michael (1860 – 1940) 371 Haberler, Gottfried von (1900 – 1995) 349, 601 Hacker, Hanna 103, 227, 231 f. Haeckel, Ernst (1834 – 1919) 357, 359, 362 – 364, 430, 619 Haekel, Josef (1907 – 1973) 45, 47 f., 375 Haeseler, Arndt von 261 Hafner, Michaela 230 Hahn, Hans (1879 – 1934) 462 – 468 Hahn, Olga (1882 – 1937) 462 Haiböck, Lambert (1905 – 1976) 59 Haider-Pregler, Hilde 116 Hainisch, Michael (1858 – 1940) 364, 518, 547 Haitinger, Ludwig Camillo (1860 – 1945) 217 Halpern, Leopold (1925 – 2006) 203 Hammer-Purgstall, Joseph von (1774 – 1856) 555, 557, 559 Hämmerle, Christa 101, 103, 106 Hampel, Robert (1916 – 2004) 156, 523 Hanel, Egon (1905 – 1979) 521 Hanslik, Rudolf (1907 – 1982) 569, 571 f., 624 Hantsch, Hugo (1895 – 1972) 179 f., 182 – 184, 319 f. Haring, Günter 30, 90, 93 – 95 Hartel, Wilhelm von (1839 – 1907) 564 – 567, 569, 624 Hartmann, Elfriede (1921 – 1943) 219 Hartmann, Ludwig Moritz (1861 – 1924) 168 f., 315 Haschek, Eduard (1875 – 1947) 195, 201 Haseno¨ hrl, Friedrich (1874 – 1915) 194, 196, 199 Hassauer, Friederike 233 Hatschek, Berthold (1854 – 1941) 355, 357 – 360, 362 – 365, 432, 617
Personenregister
Hatschek-Rosenthal, Marie (1871 – ??) 363 Hatze, Herbert (1937 – 2002) 160 Hauch, Gabriella 101, 107 Hauer, Fritz (1889 – 1961) 201 Hauer, Gudrun 227 Hausen, Karin 104 Hayek, Friedrich August von (1899 – 1992) 349 Heberdey, Rudolph (1864 – 1936) 577 Hecht, Friedrich (1903 – 1980) 222 Heide, Walther (1894 – 1945) 59 f. Heigl, Paul (1887 – 1945) 519 Heindl, Waltraud 100, 103 Heine-Geldern, Robert (1885 – 1968) 45, 47, 50 Heinrich, Richard 483 Heinrich, Walter (1902 – 1984) 601 Heinrich II. Jasomirgott, Herzog von Österreich (1107 – 1177) 587 Heintel, Erich (1912 – 2000) 476, 478 – 482 Heinzel, Richard (1838 – 1905) 299 f. Heinzelmann, Johannes (1873 – 1946) 449 f. Heitger, Marian (1927 – 2012) 391 – 395, 397, 618 Helfert, Joseph Alexander von (1820 – 1910) 313 Hell, Maximilian (1720 – 1792) 420, 619 Heller, Johann Florian (1813 – 1871) 213 Helly, Eduard (1884 – 1943) 465 Helmholtz, Hermann von (1821 – 1894) 193 Henrich, Walter (1888 – 1955) 409 Henzinger, Monika 92 Hepperger, Joseph von (1855 – 1928) 424 f. Herbart, Johann Friedrich (1776 – 1841) 385 – 387 Herglotz, Gustav (1881 – 1953) 462 f. Hering, Gunnar (1934 – 1994) 592, 625 Hering, Steffen 216 Herndl, Gerhard 437 f. Herrmann, Max (1865 – 1942) 112 Herrnritt, Rudolf (1865 – 1945) 601
Personenregister
Herzfeld, Karl Ferdinand (1892 – 1978) 196 Herzig, Josef (1853 – 1924) 216 Herzl, Theodor (1860 – 1904) 546 Herzog, Richard (1911 – 19??) 202 – 204 Hess, Victor F. (1883 – 1964) 194 f., 197 Hesse, Michael 287 Hetzer, Hildegard (1899 – 1991) 269 f. Hevesy, Georg von (1885 – 1966) 197 Higatsberger, Michael J. (1924 – 2004) 205 Hilbert, David (1862 – 1943) 462, 466 – 468 Hildebrand, Dietrich von (1889 – 1977) 473, 475 Hirsch, Hans (1878 – 1940) 317 Hirschauer, Stefan 232 Hirschberg, Walter (1904 – 1996) 47, 50, 376 Hirschberger, Johannes (1900 – 1990) 386 Hitler, Adolf (1889 – 194) 242 f., 319, 373, 390, 504 Hlasiwetz, Heinrich (1825 – 1875) 193, 213 Hlawka, Edmund (1919 – 2009) 459 Hnatek, Adolf (1876 – 1960) 424 f. Hock, Stefan (1877 – 1947) 304 Hockey, Lisbeth (1918 – 2004) 136 Hoernes, Moritz (1815 – 1868) 491 Hoernes, Moritz (1852 – 1917) 489, 491 – 495 Hoernes, Rudolf (1850 – 1912) 491 Hofacker, Ivo 223 Hoffmann, Richard Adolf (1872 – 1948) 445 f., 449, 451 – 453 Hoffmann, Robert 187 Hoffmann-Ostenhof, Otto 221, 255 Höfler, Alois (1853 – 1922) 387 – 389 Höfler, Karl (1893 – 1973) 433 Höfler, Otto Eduard Gottfried Ernst (1901 – 1987) 307, 375 Hofmannsthal, Hugo von (1874 – 1929) 301 Hohlbaum, Robert (1886 – 1955) 519, 521
633 Hold-Ferneck, Alexander (1875 – 1955) 409, 596, 603 Holtgrewe, Ursula 232 Ho¨ nigschmid, Otto (1878 – 1945) 197 Hönigswald, Richard (1875 – 1947) 393, 618 Hopmann, Josef (1890 – 1975) 425 Horbaczewski, Jan (1854 – 1942) 213 Horeischy, Kurt (1913 – 1945) 220 Horn, Mathias 438 Hoyer, Jörg 285 Hrachovec, Herbert 483 Huber, Alphons (1834 – 1898) 313, 321 Huber, Anton (1897 – 1975) 468 Huber, Josef Franz Karl (1925 – 2000) 222 Huber, Joseph (1884 – 1960) 243 Hugelmann, Karl Gottfried (1879 – 1959) 596 f., 599 Hunger, Heinz (1907 – 1995) 453 Hunger, Herbert (1914 – 2000) 554, 559 f., 592, 623 Hupka, Josef (1875 – 1944) 601 f. Huppert, Hugo (1902 – 1982) 75 Hurewicz, Witold (1904 – 1956) 465 Hussarek, Max (1865 – 1935) 596 Hutchinson, George (1903 – 1991) 434 Hüttner, Johann 116 Hye von Glunek, Anton (1807 – 1894) 403 Hyrtl, Josef (1810 – 1894) 356 Ingenhousz, Jan (1730 – 1799) 212 Innitzer, Theodor (1875 – 1955) 331 Inowlocki, Lena 232 Ipsen, Gunther (1899 – 1984) 271, 475 f. Ipser, Herbert 221 Jabloner, Clemens 411 Jacquin, Joseph Franz von (1766 – 1839) 293 Jacquin, Nikolaus Joseph von (1727 – 1817) 212 Jäger, Albert (1801 – 1891) 312 Ja¨ ger, Gustav (1865 – 1938) 199 – 201 Ja¨ ger, Walter 216 Jagoditsch, Rudolf (1892 – 1976) 375 Jagschitz, Gerhard 186
634 Jahn, Friedrich Ludwig (1778 – 1852) 150 f., 162 Jahoda, Eduard (1903 – 1980) 201 Jahoda, Marie (1907 – 2001) 475 Jarcke, Karl Ernst (1801 – 1852) 403 Jedlicka, Ludwig (1916 – 1977) 179 – 188, 610 f. Jellinek, Max Hermann (1868 – 1938) 304 Jentschke, Willibald (1911 – 2002) 202 f. Jerusalem, Wilhelm (1854 – 1923) 169, 364 Jesinger, Alois (1886 – 1964) 517 f., 521 – 524 Jhering, Rudolph von (1818 – 1892) 167, 406, 412 Jirecˇek, Konstantin (1854 – 1918) 590 Johannes von Gmunden (ca. 1380 – 1442) 417 f., 459, 619 Johannes XXIII., Papst (1881 – 1963) 572 Jokl, Norbert (1877 – 1942) 520 f. Joseph, Heinrich (1875 – 1941) 364 f. Joseph II., Römisch-deutscher Kaiser (1741 – 1790) 23 Juhos, Bela (1901 – 1971) 480 Junker, Hermann (1877 – 1962) 502 – 505, 507 f. Justinian I., oströmischer Kaiser (ca. 482 – 565) 404, 588 Jutz, Gabriele 232 Kadecˇka, Ferdinand (1874 – 1964) 596 Kadric-Scheiber, Mira 250 Kahlich-Ko¨ nner, Dora Maria (1905 – 1970) 47 Kainz, Friedrich (1897 – 1977) 248, 475 f., 478, 481 Kainz, Gerald (1921 – 2007) 222 Kaiser, Erich (1925 – 2005) 215 Kalinka, Ernst (1865 – 1946) 577 Kallhoff, Angela 484 Kammerer, Paul (1880 – 1926) 362, 431 Kampits, Peter 482 Kann, Robert A. (1906 – 1981) 181, 187 Kant, Immanuel (1724 – 1804) 386, 393 f., 471 f.
Personenregister
Kapetanakis, Kyriakos (ca. 1780 – ca. 1840) 590 Kara-Michailowa, Elisabeth (1897 – 1968) 198 Karabacek, Joseph von (1845 – 1918) 503 Karagiannis, Dimitris 94 Karajan, Theodor Georg von (1810 – 1873) 297 Karl I. (IV.), Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1887 – 1922) 182 Karlik, Berta (1904 – 1990) 198, 206 Kauer, Robert (1901 – 1953) 449 Kaufmann, Felix (1895 – 1949) 170, 409, 601 Kautek, Wolfgang 222 Keil, Josef (1878 – 1963) 582 Keilbach, Wilhelm (1908 – 1982) 339 Keintzel, Brigitta 230 Kekul¦, August (1829 – 1896) 193 f. Kellner, Leon (1859 – 1928) 539 – 547, 623 Kelsen, Hans (1881 – 1973) 72, 167, 407 – 412, 415, 456, 602 Kenner, Hedwig (1910 – 1993) 581 f. Kepler, Johannes (1571 – 1639) 419, 460 Keppler, Bernhard 221 Kerner von Marilaun, Anton (1831 – 1898) 282 – 284, 290 – 293, 430 Kerschensteiner, Georg (1854 – 1932) 387, 397 Kiehn, Michael 293 Kier, Herbert (1900 – 1973) 597, 599 Kindermann, Heinz (1894 – 1985) 111, 113 – 116, 301, 375, 608 Kinzel, Helmut (1925 – 2002) 435 Kirchhoff, Gustav (1824 – 1887) 422 Kirsch, Gerhard (1890 – 1956) 198, 202 f. Kisser, Josef (1899 – 1984) 431 Kittel, Gerhard (1888 – 1948) 452 f. Klang, Heinrich (1875 – 1954) 596, 601 Klaus, Elisabeth 232 Klaus, Josef (1910 – 2001) 185 Klein, Franz (1854 – 1926) 596 Klein, Felix 463 Klein, Hans Dieter 482 Kleiner, Heinrich 481 Kletzinsky, Vincenz (1826 – 1882) 213
Personenregister
Klimpfinger, Sylvia (1907 – 1980) 271, 273 f. Klimt, Gustav (1862 – 1918) 364, 557, 565 f. Knapp, Gudrun-Axeli 232 Kner, Rudolf (1810 – 1869) 356 f., 362, 432 Knoll, August Maria (1900 – 1963) 165, 170, 600 f. Knoll, Fritz (1883 – 1981) 60, 283 f., 293, 453, 506, 587 Knollmayer, Eva 100, 228 Knolmayer, Gerhard 93 Koch, Franz (1888 – 1969) 301 Koch, Hans (1894 – 1959) 446 Koch, Magdalena 185 Kock, Sabine 230 Kögler, Ilse 339 Köhler, Gottfried 258 Kohlrausch, Fritz (K.W.F.) (1884 – 1953) 194, 197 Kohn, Gustav (1859 – 1921) 461 Kohn, Moritz (1878 – 1955) 219 Kolb, Michael 160 Kollar, Adam (1718 – 1783) 554, 559 Koller, Georg (1894 – 1985) 220 Kolonovits, Dieter 411 Komarek, Kurt 92, 221 König, Franz (1905 – 2004) 571 Königsberger, Leo (1837 – 1921) 461 Konrat, Robert 258 Konstantinovsky, David Kurt (1892 – 19??) 201 Kopitar, Bartholomäus Jernej (1780 – 1844) 556, 589 f., 625 Koppers, Wilhelm (1886 – 1961) 44 – 48 Korinek, Karl 413 Körner, Theodor (1873 – 1957) 182 Kornfeld, Felix (1878 – 1947) 473, 601 Korninger, Siegfried (1925 – 2006) 92 Kossinna, Gustaf (1858 – 1931) 492 f. Ko¨ stlin, Konrad 379 Kothbauer, Max 30 Kottler, Friedrich (1886 – 1965) 201 Koziol, Helmut 413 f. Koziol, Herbert (1903 – 1986) 546 f.
635 Kozlik, Adolf (1912 – 1964) 76 Kraft, Johanna (1881 – 1970) 520 Kraft, Viktor (1880 – 1975) 474, 478 f., 515, 520 Kralik, Dietrich (1884 – 1959) 243, 302, 305 – 307, 373 Krall, Jakob (1857 – 1905) 502 Kramer, Helmut 80, 378 Kranzmayer, Eberhard (1897 – 1975) 306, 375 Kratzl, Karl (1915 – 2003) 220 Kraus, Karl (1874 – 1936) 566 – 568 Kraus, Walther (1902 – 1997) 569 – 572, 624 Kreisky, Bruno (1911 – 1990) 79, 100, 183 f., 331 Kreisky, Eva 81, 227, 231, 233 Kretschmer, Paul (1866 – 1956) 503, 590 f., 625 Krüger, Paul (1886 – 1964) 432 Krumbacher, Karl (1856 – 1909) 590 Kübeck von Kübau, Carl Friedrich (1780 – 1855) 401 Küchler, Ernst (1938 – 2005) 259 Kuchler, Karl 259 f. Kucsko-Stadlmayer, Gabriele 411, 414 Kudler, Joseph von (1786 – 1853) 345 f. Kuhn, Richard (1900 – 1967) 218 Kühnelt, Wilhelm (1905 – 1988) 365, 432 – 434, 440 Kunschak, Leopold (1871 – 1953) 187 Kunz, Josef Laurenz (1890 – 1970) 76, 409 Kunzek, August von Lichton (1795 – 1865) 192 Kurth, Karl O. (1910 – 1981) 59 – 62 Ku¨rti, Gustav (1903 – 1978) 201 Kusch, Martin 483 Lachmann, Karl (1793 – 1851) 299 Lambeck, Peter (1628 – 1680) 554 f., 557, 559 Lambros, Spyridon (1851 – 1919) 588 Lammasch, Heinrich (1853 – 1920) 596 Lampa, Anton (1868 – 1938) 193 Landsteiner, Karl (1868 – 1943) 214 Landweer, Hilge 232
636 Lang, Victor von (1838 – 1921) 192 – 195 Lange, Armin 535 Lange, Jo¨ rn (1903 – 1946) 220 Langenbucher, Wolfgang R. 64 Langenstein, Heinrich von (ca. 1340 – 1397) 417, 419 Langer, Gerhard 535 Lassahn, Rudolf 393 Laugier, Robert Franc¸ ois (1722 – 1793) 211 Laurer, Hans Ren¦ 411 Lavoisier, Antoine de (1743 – 1794) 212 Layer, Max (1866 – 1941) 597 f., 600 Lazarsfeld, Paul Felix (1901 – 1976) 77, 169, 172, 176, 268, 270, 475 Lecher, Ernst (1856 – 1926) 193, 195 f., 199 f., 203 Lederer, Anton (1870 – 1932) 217 Lederer, Edgar (1908 – 1988) 218 Lehrl, Josef (1894 – 1957) 391 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646 – 1716) 460 Leinfellner, Walter (1910 – 1981) 286 Leinfellner, Werner (1921 – 2010) 481 Leipert, Theodor (1902 – 1992) 214 Leithe, Friedrich (1828 – 1896) 514 Leitmaier, Charlotte (1910 – 1997) 331 Lelewer, Georg (1872 – 1960) 601 Lenhoff, Arthur (1885 – 1965) 601 Lenzenweger, Josef (1916 – 1999) 339 Leonhard, Clemens 339 Leopold I., Römisch-deutscher Kaiser (1640 – 1705) 553 f. Lerner, Gerda (1920 – 2013) 99 Leser, Norbert 482 Lesky, Albin (1896 – 1981) 558, 569 f., 572, 624 Leuckart, Rudolf (1822 – 1898) 357 Lhotsky, Alphons (1903 – 1968) 183 f., 319 – 321 Liburnau, Lorenz Josef von (1825 – 1911) 434 Lieben, Adolf (1836 – 1914) 214 – 218, 363 Lieben, Fritz (1890 – 1966) 214 Lieben, Heinrich (1894 – 1945) 214 Lieben, Mathilde (1861 – 1940) 363 f.
Personenregister
Liebig, Justus von (1803 – 1873) 212 f., 215 Liessmann, Konrad Paul 484 Lietzmann, Hans (1875 – 1942) 453 Liewehr, Ferdinand (1896 – 1985) 243 Lindeman, Raymond (1915 – 1942) 431, 433 Lindner, Adolf (1828 – 1887) 386 Lindner, Wolfgang 222 Linn¦, Carl von (1707 – 1778) 282, 289 Lintner, Karl 205 f. Lippmann, Eduard (1828 – 1919) 218 Lischka, Hans 222 Liszt, Franz (1811 – 1886) 364 Littrow, Carl Ludwig von (1811 – 1877) 421 Littrow, Johann Joseph von (1781 – 1840) 619, 421 Littrow, Otto von (1843 – 1864) 421 Löbl, Emil (1863 – 1942) 56 Lochner, Rudolf (1895 – 1978) 386 f. Loehr, August O. von (1882 – 1965) 319 Loewy, Moritz (1833 – 1907) 424, 579 Löffler, Heinz (1927 – 2006) 434 f. Löffler, Lothar (1901 – 1983) 45 Loitlsberger, Erich (1921 – 2003) 87 Loos, Adolf (1870 – 1933) 364 Loos, Josef (1853 – 1921) 386 Lorenz, Konrad (1903 – 1989) 365, 432 Loschmidt, Josef (1821 – 1895) 192 – 194 Lotka, Alfred (1880 – 1949) 430 Löwy, Emanuel (1857 – 1938) 579 f., 583, 624 Ludloff, Johann Friedrich (1899 – 19??) 201 Ludwig, Eduard (1883 – 1967) 58 f., 61 f., 179 Ludwig, Ernst (1842 – 1915) 213 f., 218 Luick, Karl (1865 – 1935) 518, 539, 541, 543 – 547, 623 Lummerding, Susanne 232 Lünenborg, Margreth 232 Lunzer-Lindhausen, Marianne 61 – 64 Lutz, Heinrich (1922 – 1986) 315
Personenregister
Mach, Ernst (1838 – 1916) 192, 196, 461, 463, 465, 472 f. Machlup, Fritz (1902 – 1983) 349 Mader, Elke 231 f. Mader, Johann 482 Maimann, Helene 100 Maionica, Heinrich (1853 – 1916) 577 Mandl, Christoph E. 93 Mandl, Gerwald 93 Marass, Ferdinand (1912 – 1941) 521, 523 Marchet, Arthur (1892 – 1980) 242, 304, 450, 506 Marchet, Gustav (1846 – 1916) 388 Maria Theresia, Römisch-deutsche Kaiserin (1717 – 1780) 23, 182, 239, 402, 419, 514 Marinelli, Wilhelm (1894 – 1973) 158, 365, 375, 434 Marinoni, Johann Jakob de (1676 – 1755) 419 Mark, Hermann (1895 – 1992) 217, 221 Marko, Doris 223 Martini, Carl Anton von (1726 – 1800) 402, 404 Matejka, Wilhelm (1904 – 1988) 244 Maulide, Nuno 223 Maurer, Jakob 489 Maurer, Margarete 227 Mauthner, Julius (1852 – 1917) 214 May, Gerhard (1898 – 1980) 451 Mayer, Hans (1879 – 1955) 350 – 352 Mayer, Heinz 411, 414 Mayer, Otto, s. Tressler, Otto Mayer, Walther (1887 – 1948) 465 Mayrhofer, Karl (1899 – 1969) 468 Mazohl-Wallnig, Brigitte 103 McArthur, Robert (1930 – 1972) 433 Megenberg, Konrad von (1309 – 1374) 211 Mehl, Erwin (1890 – 1984) 157 Meister, Richard (1881 – 1964) 242 f., 389 – 391, 459, 472, 475, 477, 505 Meitner, Lise (1878 – 1968) 194 f., 197, 462 Mendel, Gregor (1822 – 1884) 259, 358, 362, 461
637 Menger, Anton (1841 – 1906) 405 Menger, Carl (1840 – 1921) 57, 73, 344, 347 – 350, 405 f., 616 Menger, Karl (1902 – 1985) 349, 467 f. Menghin, Oswald (1888 – 1973) 450, 489 f., 493, 505 f. Menzel, Adolf (1857 – 1938) 72, 407 Merkl, Adolf Julius (1890 – 1970) 409 f., 595, 597, 599, 601, 603 Mertens, Franz (1840 – 1927) 461 Meurers, Joseph (1909 – 1987) 425 f. Meuser, Michael 232 Mewaldt, Johannes (1880 – 1964) 587, 591 Meyer, Alfred (1891 – 1945) 114 Meyer, Conrad Ferdinand 301 Meyer, Gustav (1850 – 1900) 591 Meyer, Stefan (1872 – 1949) 194, 197 f., 201, 206 Miklosich, Franz (1813 – 1891) 556 f. Miko, Katharina 230 Mikoletzky, Hanns Leo (1907 – 1978) 185 Milde, Vinzenz Eduard (1777 – 1853) 150 Mill, John Stuart (1806 – 1873) 567 Miller, Fritz (1905 – 1997) 523 Minor, Jakob (1855 – 1912) 299 – 301 Mises, Ludwig von (1881 – 1973) 349 f. Mises, Richard von (1883 – 1953) 464 Mitteis, Heinrich (1889 – 1952) 601 Mittenecker, Erich 274 f. Mixa, Elisabeth 230 Molden, Otto (1918 – 2002) 179 Molisch, Hans (1856 – 1937) 429, 431 f. Molisch, Paul (1889 – 1946) 519, 544 Mollison, Theodor (1874 – 1952) 48 Montessori, Maria (1870 – 1952) 387, 397 Morgenstern, Oskar (1902 – 1977) 77, 172, 349, 352, 467, 601 Moser, Gabriele 230 Moser, Oskar 378 Mras, Karl (1877 – 1962) 390, 591 Much, Matthäus 490 Much, Rudolf (1862 – 1936) 302, 304 – 307, 372, 375, 504, 544 Müllenhoff, Karl Victor (1818 – 1884) 299 Müller, David Heinrich (1846 – 1912) 503 Müller, Gerhard (1912 – 1997) 185
638 Müller, Josef 339 Müller, Joseph (1823 – 1895) 556 Müller, Paul (1895 – 1948) 318 Müller, Ursula 232 Müller von Königsberg, s. Regiomontanus Müller, Wolfgang C. 81 Mulzer, Johann 221 Nadler, Josef (1884 – 1963) 113, 302 – 306, 318, 373 Nagl, Johann Willibald (1856 – 1918) 302 Nagl, Ludwig 483 Nagl(-Docekal), Herta 100, 103, 227, 233, 482 Napp, Cyrill (1792 – 1867) 362 Nasmyth, Kim 260 Neckel, Adolf 221 Nelböck, Hans (1903 – 1954) 468 Nemeth, Elisabeth 483 Neuhold, Brita 227 Neumann, John von (1903 – 1957) 466 f. Neurath, Otto (1882 – 1945) 76, 463 f. Neurath, Paul M. (1911 – 2001) 176 Neverla, Irene 232 Niessen, Carl (1890 – 1969) 113 Nightingale, Florence (1820 – 1910) 135 f. Niklfeld, Harald 287 Noak, Ruth 232 Nöbauer, Herta 232 Nöbauer, Wilfried 459 Noe, Christian 216 Noether, Emmy (1882 – 1935) 464 Nowotny, Hans (1911 – 1996) 221 Nowotny, Helga 144, 483 Nutting, Adelaide (1858 – 1948) 136 Oberhummer, Eugen (1859 – 1944) 57 f., 503 f., 557 Odum, Eugene (1913 – 2002) 433 Odum, Howard Tom (1924 – 2002) 433, 436 Oechsle, Mechthild 232 Oeser, Erhard 482 f. Ofner, Julius (1845 – 1924) 405 Öhlinger, Theo 412 Olaj, Oskar Friedrich 221
Personenregister
Olechowski, Richard 392, 397, 618 Opitz, Hans-Georg (1905 – 1941) 453 Oppolzer, Theodor von (1841 – 1886) 422, 619 Ortner, Gustav (1900 – 1984) 202 f. Oswald, Friedrich 392 Otruba, Gustav (1925 – 1994) 181 Ott, Jörg 434, 437 Otto I., König der Hellenen (1815 – 1867) 317 Pacher, Rafael (1857 – 1936) 57 Pailer, Matthias (1911 – 2011) 216 Paine, Robert 433 Palisa, Johann (1848 – 1925) 423 f., 426, 619 Palten, Eva 414 Paneth, Friedrich (1887 – 1958) 197 Pap, Arthur (1921 – 1959) 479 Paparrigopoulos, Konstantinos (1815 – 1891) 588 Patzelt, Erna (1894 – 1987) 319 Pauer-Studer, Herlinde 483 Paulovsky, Louis (1904 – 1952) 242 – 244, 246 Paupi¦, Kurt (1920 – 1981) 62 f. Pawel, Jaro(slaus) (1850 – 1917) 152 Pzmny, Peter (1570 – 1637) 328 Peez, Alexander (1829 – 1912) 588 Pelinka, Anton 77 Pelz, Stefan 201 Penners, Andreas (1890 – 1952) 364 Perutz, Max F. (1914 – 2002) 218, 260 Peschl, Markus 483 Pesendorfer, Wolfgang 80 Petersen, Peter (1884 – 1952) 387 Petioky, Viktor (1923 – 2007) 240, 245, 248 f. Petschek, Georg (1872 – 1947) 601 Pettarin, Rudolf (1894 – 1955) 519, 521, 523 Pettersson, Hans (1888 – 1966) 198 Petzelt, Alfred (1886 – 1967) 391, 393, 618 Petzval, Josef (1807 – 1891) 460 Peuerbach, Georg von (1423 – 1461) 418 f., 619
Personenregister
Pfalz, Anton (1885 – 1958) 305 f. Pfeifer, Helfried (1896 – 1970) 601 Pfeifer Edda 185 Pflug, Georg Ch. 93 f. Philippi, Ernst (1888 – 1969) 219 Philippovich, Eugen von (1858 – 1917) 166 f., 351 Pianka, Eric 433 Pietschmann, Herbert 207 Piffl, Friedrich Gustav (1864 – 1932) 330 Piffl-Percevic (Percˇevic´), Theodor (1911 – 1994) 184, 480, 571 Pisko, Oskar (1876 – 1939) 601 Pistauer, Robert (1900 – 1965) 520 Pittioni, Richard (1906 – 1985) 48, 375, 489, 493 f., 571 Planck, Max (1858 – 1947) 196 Plaschka, Richard Georg (1925 – 2001) 181, 592 Pleischl, Adolf (1787 – 1867) 212 Pleskot, Gertrude (1913 – 1978) 434, 440 Plöchl, Willibald (1907 – 1984) 601 Pöch, Rudolf (1870 – 1921) 42 – 44, 49 Po¨ chhacker, Franz 248 f. Polansky, Oskar E. (1919 – 1989) 222 Pollacek, Felix (1892 – 1981) 464 Pollak, Jacob (1872 – 1942) 219 Pollak, Ludwig (1868 – 1943) 579 f. Pollak, Rudolf (1864 – 1939) 601 Pöltner, Günther 482 Popp, Marianne 435 Popp, Philipp (1893 – 1945) 448 Popper, Karl Raimund (1902 – 1994) 397, 618 Porsch, Otto (1875 – 1959) 284 Portheim, Leopold von (1869 – 1947) 359 Prankl, Friedrich 202 Praschniker, Camillo (1884 – 1949) 577 f., 581 f., 624 Preining, Othmar (1927 – 2007) 91, 204 f. Pribram, Alfred Francis (1859 – 1942) 315 Prokop, Ludwig 157, 159 f., 609 Przibram, Hans Leo (1874 – 1944) 355, 359 f., 362 – 365,431, 617
639 Przibram, Karl (1878 – 1973) 198, 200 f., 205, 360 Puff, Michael (ca. 1401 – 1473) 211 Pulitzer, Joseph (1847 – 1911) 57 Puluj, Johann (1845 – 1918) 193 Purgathofer, Alois (1925 – 1984) 426 Radermacher, Ludwig (1867 – 1952) 503, 569 Radetzky, Joseph (1766 – 1858) 182 Radon, Johann (1887 – 1956) 462 – 464, 468 Ragacs, Ursula 535 Rahn, Johann Rudolf (1841 – 1912) 131 Ramek, Rudolf (1881 – 1941) 518 Ramharter, Esther 483 Rapoport, Samuel Mitja (1912 – 2004) 214 Rappaport, Achill (1871 – 1941) 601 f. Rattei, Thomas 437 Rautenstrauch, Stephan (1734 – 1785) 514 Reche, Otto (1879 – 1966) 43 Redtenbacher, Josef (1810 – 1870) 212 f., 215 Reeger, Ernst (1907 – 1972) 205 Regiomontanus (Johannes Müller von Königsberg), Johannes (1436 – 1476) 418 f., 459, 619 Reich, Emil (1864 – 1940) 168 Reichardt, Robert H. (1927 – 1994) 173 Reichel, Wolfgang (1858 – 1900) 577 Reidemeister, Kurt (1893 – 1971) 465 Rein, Wilhelm (1847 – 1929) 386 Reininger, Robert (1869 – 1955) 473 f., 476 Reinisch, Leo (1832 – 1919) 502, 507 f. Reisch, Emil (1863 – 1933) 576 f., 579, 624 Reisinger, Leo (1944 – 1985) 89, 93 Renner, Karl (1870 – 1950) 57 f., 73, 364, 408 Retschnig, Renate (1960 – 2003) 227, 230 Reuer, Egon (1925 – 2004) 48 Rhodokanakis, Nikolaus (1876 – 1945) 502 Richter, Elise (1865 – 1943) 13, 541
640 Richter, Helene (1861 – 1942) 541 Rickmersdorf, Albert von (1316 – 1390) 417 Riedl, Rupert (1925 – 2005) 434 f. Riegl, Alois (1858 – 1905) 125, 128 f., 558 Rieser, Susanne 230, 232 Rochleder, Friedrich (1819 – 1874) 215 Roeder, Hermann (1898 – 1978) 168 Rogenhofer, Alois (1878 – 1943) 521 Rohn, Walter E. (1911 – 1997) 179 Rohracher, Hubert (1903 – 1972) 272 – 277, 375, 392, 475, 477, 618 Rokitansky, Carl (1804 – 1878) 42 Roland, Albert 436 Rompel, Annette 222 f. Rona, Elisabeth (1890 – 1982) 201 Roncalli, Angelo Giuseppe, s. Johannes XXIII. Rosenberger, Sieglinde 227, 231 Rosenmayr, Leopold 170 f. Rosenthal, Moriz (1862 – 1946) 363 Rossmanith, Kurt 221 Rothfels, Hans (1891 – 1976) 180 Ro¨ ttinger, Heinrich (1869 – 1952) 517 Rousseau, Jean Jacques (1712 – 1778) 150, 345 Routil, Robert (1893 – 1955) 47 Roux, Wilhelm (1850 – 1924) 359 Rubin, Berthold (1911 – 1990) 558, 588 Ruis, Helmut (1940 – 2001) 221, 255, 259 Rummel, Peter 413 f. Rupprich, Hans (1898 – 1972) 301, 303 f., 306, 375 Russell, Bertrand (1872 – 1970) 465, 480 Russiades, Georg (1783 – 1854) 590 Ruttner, Franz (1882 – 1961) 432 Sachse, Carola 106 f. Sagoroff, Slawtscho (1898 – 1970) 86, 95 Samuel, Mary Rosabelle 288 Sander, Fritz (1889 – 1939) 409 Santifaller, Leo (1890 – 1974) 318 f. Sas-Zaloziecki, Wladimir (1896 – 1959) 558 f. Sauer, August (1855 – 1926) 302 f., 591 Sauer, Birgit 231
Personenregister
Saurer, Edith (1942 – 2011) 97, 100 f., 103 – 105, 227, 233 Sauter, Johann (1891 – 1945) 168 Savigny, Friedrich Carl von (1779 – 1861) 403, 405 Schaffer, Johanna 232 Schäffle, Albert (1831 – 1903) 166, 168, 345 – 347 Schatz, Gottfried 260 Schenkl, Karl (1827 – 1900) 564 Scherer, Johann Andreas (1755 – 1844) 212 Scherer, Wilhelm (1841 – 1886) 212, 298 – 302 Schestag, Franz (1839 – 1884) 127, 129 Schiemer, Fritz 435, 437 Schienerl, Walther (1898 – 1961) 168 Schiestl, Barbara 230 Schiff, Walter (1866 – 1950) 599 Schima, Hans (1894 – 1979) 601 Schindl, Karl (1903 – 1993) 156 f. Schintlmeister, Josef (1908 – 1971) 202 f. Schippel, Larisa 250 Schipper, Jakob (1842 – 1915) 539 – 543, 545 – 547 Schirach, Baldur von (1907 – 1974) 113 f., 452 Schlaffer, Edit 80, 227 Schleichert, Hubert 481 Schlenk, Wilhelm (1879 – 1943) 218 Schleper, Christa 437 Schlick, Moritz (1882 – 1936) 361, 432, 464, 466, 468, 473 – 475, 481 Schlo¨ gl, Karl (1924 – 2007) 221 Schlosser, Julius von (1866 – 1938) 122, 125, 128 f., Schlösser, Rainer (1899 – 1945) 114 Schlözer, Ludwig August von (1735 – 1809) 56 Schmarda, Ludwig (1919 – 1908) 432 Schmetterer, Leopold (1919 – 2004) 94 Schmid, Erich (1896 – 1983) 205 f. Schmid, Hans Bernhard 484 Schmid, Heinrich Felix (1896 – 1963) 180, 182 f., 592 Schmid, Ulrich (1924 – 2004) 221
Personenregister
Schmid, Walther 222 Schmidt, Erich (1853 – 1913) 299 Schmidt, Hans-Wilhelm (1903 – 1991) 453 Schmidt, Karl 601 Schmidt, Leopold (1912 – 1981) 375, 378 Schmidt, Walter 258 Schmidt, Wilhelm (1868 – 1954) 43 – 46, 169 Schmidt-Dengler, Wendelin (1942 – 2008) 307 Schmidt-Lauber, Brigitta 379 Schmitt, Saladin (Joseph Anton) (1883 – 1951) 114 Schmitz, Sigrid 232 Schnarf, Karl (1879 – 1947) 286 Schneider, Erwin (1892 – 1969) 454 Schneider, Franz Coelestin (1812 – 1897) 213 Schneider, Heinrich 78 – 81 Schneider, Robert von (1854 – 1909) 576 f., 579 Schneider, Wolfgang 257 Schönbauer, Ernst (1885 – 1966) 596 f., 599 Schönbauer, Leopold (1888 – 1963) 115 Scho¨ nborn, Christoph 533 Schöndorfer, Ulrich (1899 – 1984) 391 Schönenberger, Jürg 287 Scho¨ nfeld, Thomas (1923 – 2008) 221 Schrader, Hans (1869 – 1948) 579 Schreiber, Georg (1882 – 1963) 447 Schreier, Fritz (1897 – 1981) 409, 601 Schreier, Otto (1901 – 1928) 465 Schro¨ dinger, Erwin (1887 – 1961) 194 – 196, 201, 203, 462 Schroeder, Ren¦e 259 Schubert, Kurt (1923 – 2007) 529 – 534, 536, 622 Schubert, Ursula (1925 – 1999) 530, 532 Schulhof, Leopold (1847 – 1921) 424 Schüller, Richard (1870 – 1972) 601 Schumpeter, Josef (1883 – 1950) 167 Schuschnigg, Kurt (1897 – 1977) 600 Schuster, Peter 222 Schütz, Alfred (1899 – 1959) 169 f., 176
641 Schu¨ tz-Mu¨ ller, Ingfrid 80 Schwarz, Richard (1910 – 1985) 391 Schweidler, Egon von (1873 – 1948) 194, 197, 199 – 201 Schweizer, Dieter 258 f., 285, 287 Schweyen, Rudolf (1941 – 2009) 256, 259 Schwind, Ernst von (1865 – 1932) 72, 409, 596 Schwind, Fritz (1913 – 2013) 571 Seckel, Emil (1868 – 1924) 444 Seelich, Franz (1902 – 1985) 214 Seemüller, Joseph (1855 – 1920) 544 Seidl, Elisabeth 138 – 140 Seidl, Franziska (1892 – 1983) 203 Seidler, Horst 48 f. Seipel, Ignaz (1876 – 1932) 445 Seiser, Gertraud 232 Seitelberger, Franz (1916 – 2007) 92 Sexl, Roman Ulrich (1939 – 1986) 207 Sexl, Theodor (1899 – 1967) 203 Seyss-Inquart, Arthur (1892 – 1946) 504 Sickel, Theodor von (1826 – 1908) 312 f. Siegel, Carl (1872 – 1943) 472 Singer, Mona 483 Sinowatz, Fred (1929 – 2008) 532 Sint, Peter Paul 90 Skern, Tim 259 Skraup, Zdenko Hans (1850 – 1910) 218 Slutzky, Leon (1922 – 2013) 530 Smirich, Johann (1842 – 1929) 577 Snell-Hornby, Mary 247, 249 Sobotka, Raimund 160 Somoza, Veronika 223 Sonnenfels, Joseph von (1732 – 1817) 71, 345 f. Spann, Othmar (1878 – 1950) 74, 76, 167 f., 170, 349, 351 f., 478, 596, 600 f. Spa¨ th, Ernst (1886 – 1946) 218 f. Specht, Edith 100 Sperl, Hans (1861 – 1959) 406, 596 Sperl, Karl (1861 – 1959) 58 Spieß, Adolf (1810 – 1858) 151 Spinelli, Altiero (1907 – 1986) 179 Spreizer, Helmut 216 Springer, Anton (1825 – 1891) 122, 130 f.
642 Srbik, Heinrich von (1878 – 1951) 59, 179, 316 – 319 Stabius, Johannes (1468 – 1522) 460 Stadler, Friedrich 484 Stadler, Karl R. (1913 – 1987) 184, 186 Stadtmüller, Georg (1909 – 1985) 588 Stageiritis, Athanasios (ca. 1780 – ca. 1840) 590 Sta¨ hlin, Gustav (1900 – 1985) 453 Stangler, Ferdinand 206 Starmühlner, Ferdinand (1924 – 2006) 434 Stefan, Josef (1835 – 1893) 192 – 194 Stegmüller, Wolfgang (1923 – 1991) 481 Stein, Lorenz von (1815 – 1890) 166 f., 345 – 347, 351 Stein-Hilbers, Marlene (1947 – 1999) 232 Steindler, Olga (1879 – 1933) 194 Steindorff, Georg (1861 – 1951) 501 f., 507, 509, 512 Steiner, Herbert (1923 – 2001) 184 Steinhauser, Othmar 223 Steinhauser, Walter (1885 – 1980) 304 – 306, 373 Stemberger (vormals Gregor), Brigitte 531 Stemberger, Gu¨nter 531, 535 Stenger, Georg 484 Stephany, Albert von (1810 – 1844) 150 Stephany, Rudolf von (1817 – 1855) 150 f., 609 Stern, Leo (1901 – 1982) 170 Stetter, Georg (1895 – 1988) 201 – 205 Stetter, Hans J. 87 f. Stickler, Roland 221 Stöger-Steiner von Steinstätten, Rudolf (1861 – 1921) 408 Stöhr, Adolf (1855 – 1921) 168, 473 Stolz, Otto (1842 – 1905) 461 Storch, Otto (1886 – 1951) 432, 434 Stourzh, Gerald 181 Stoy, Karl Volkmar (1815 – 1885) 386 Strasser, Sabine 230 – 232 Streicher, Margarete (1891 – 1985) 153, 155, 157, 163, 609 Strobele, Guido (1883 – 1960) 601
Personenregister
Strouhal, Hans (1897 – 1969) 364 f. Strzygowski, Josef (1862 – 1941) 132, 558 Stubenrauch, Bertram 339 Stuessy, Tod F. 287 Stuhlpfarrer, Karl (1941 – 2009) 186 Stu¨ rgkh, Karl (1859 – 1916) 196 Sutter, Berthold (1907 – 2004) 79 Tandler, Julius (1869 – 1936) 269 Tannstetter, Georg (1482 – 1535) 418 f., 460 Tansley, Arthur (1871 – 1955) 430 f. Tauber, Alfred (1866 – 1942) 461 f., 465 Taubes, Jacob (1923 – 1987) 531 Taussky-Todd, Olga (1906 – 1995) 467 f. Teichl, Robert (1883 – 1970) 518, 520 Thalmann, Marianne (1888 – 1975) 301 f. Thausing, Moritz (1838 – 1884) 127 – 130 Thausing, Gertrud 510 Theodora Komnena (ca. 1134 – 1184) 587 Theune, Claudia 489, 495 Thienel, Rudolf 411 Thienemann, August (1882 – 1960) 432 Thirring, Hans (1888 – 1976) 194, 199, 201 – 203, 206 Thirring, Walter (1927 – 2014) 206 f. Thoma, Clemens (1932 – 2011) 531 Thomas, Christiane (1938 – 1997) 315 Thomas, Walter (1908 – 1970) 114 Thumb, Norbert (1903 – 1993) 271, 273 f. Thun-Hohenstein, Leo von (1811 – 1888) 122, 312, 385, 401 – 403, 563 Thu¨ ring, Bruno (1905 – 1989) 425 Tietze, Heinrich (1880 – 1964) 462, 464 Tjoa, A Min 90, 93 f. Todesco, Eduard von (1814 – 1887) 568 Toischer, Wendelin (1855 – 1922) 387 Toman, Walter (1920 – 2003) 274 f., 277 f. Tomaschek, Karl (1828 – 1878) 298 Topitsch, Ernst (1919 – 2003) 479 – 481 Touaillon, Christine (1878 – 1928) 301 f. Tradescant Senior, John (ca.1570 – 1638) 491 Trallori, Lisbeth 227 Trapp, Ernst Christian (1745 – 1818) 387 Tressler, Otto (1871 – 1965) 114
Personenregister
Treusch-Dieter, Gerburg (1939 – 2006) 232 Triesnecker, Franciscus de Paula (1745 – 1817) 420 Trömel-Plötz, Senta 232 Tschermak-Woess, Elisabeth (1917 – 2001) 284 Tsiter, Chrysostomos (1903 – 1995) 590 Tumlirz, Otto (1890 – 1957) 271 Tuppa, Karl (1899 – 1981) 46 f. Tuppy, Hans 214, 220, 254 f., 531 Turing, Alan (1912 – 1954) 466 Uebersberger, Hans (1877 – 1962) 316 Ulmer, Karl (1915 – 1981) 481 Unger, Franz (1800 – 1870) 282, 429 Unger, Joseph (1828 – 1913) 167, 403 – 405, 414 Urbach, Annie (1905 – 1994) 201 Urbach, Franz (1902 – 1969) 198, 201 Urban, Ernst 216 van Swieten, Gerard (1700 – 1772) 211 Verdroß, Alfred (1890 – 1980) 409 f. Vetter, Emil (1878 – 1963) 582 Vetter, Helmuth 482 Viebo¨ ck, Franz (1901 – 1993) 216 Vielmetti, Nikolaus (1929 – 2012) 531 Viernstein, Helmut 216 Vietoris, Leopold (1891 – 2002) 465 Vinek, Günther (1939 – 2010) 88 f., 92 – 95 Virt, Günter 339 Voegelin, Erich (1901 – 1985) 168, 600 – 602 Vogel, Stefan 286 Vo¨ gelin, Friedrich Salomon (1837 – 1888) 131 Vogl, Gero 206 Voglmayr, Irmtraud 232 Vogt, Theodor (1835 – 1906) 387 f. Vo¨ lker, Karl (1886 – 1937) 446, 448 – 451 Vollmar, Hans (1915 – 1945) 220 Voltelini, Hans (1862 – 1938) 128, 596 Volterra, Vito (1860 – 1940) 430
643 Waagen, Gustav (1794 – 1868) 122, 130 Wache, Karl (1887 – 1973) 517, 519, 521, 523 Wagner, Michael 437 f. Wagner, Ursula 230 Wagner-Jauregg, Julius 151 Waibel, Violetta 484 Waismann, Friedrich (1896 – 1959) 465, 473, 480 Waitz, Theodor (1821 – 1864) 386 Wald, Abraham (1902 – 1950) 467 Walker, Gustav (1868 – 1944) 600 Wallner, Friedrich 483 Walter, Otto (1882 – 1965) 578 Walter, Robert (1931 – 2010) 410 f., 414 Wambacher, Herta (1903 – 1950) 198, 203 Wandruszka, Adam (1914 – 1997) 181 Warhanek, Hans 205 Warren, Graham 261 Warth, Eva 232 Weber, Anton 285 f. Weber, Edmund (1897 – 1970) 59 Weber, Georg (1894 – 1957) 243 Weber, Hermann (1899 – 1956) 364 Weber, Max (1864 – 1920) 166 f., 169 f., 175 Weber, Wilhelm (1882 – 1948) 588 Weckwerth, Wolfram 437 Wegscheider, Rudolf (1882 – 1948) 217 – 219 Weidel, Hugo (1849 – 1899) 216 Weinzierl, Erika (1925 – 2014) 100, 104, 181, 187 f., 531, 534, 611 Weinzierl, Peter (1923 – 1996) 204 Weiß, Otmar 160 Weiß, Richard 219 Weiser, Lily Elisabeth (1898 – 1987) 301 Weish, Ulli 232 Weismann, August (1834 – 1914) 359 f. Weiss, Paul (1898 – 1989) 362 Weisshäupl, Rudolf (1862 – 1934) 577 Weitzenböck, Roland (1885 – 1955) 463 Welser, Rudolf 414 Wendelberger, Gustav (1915 – 2008) 433 Weninger, Josef (1886 – 1959) 42, 45 – 47
644 Weninger, Margarete (1896 – 1987) 45, 47 f. Werner, Fritz 531 Wernhart, Karl R. 50 Wessely, Friedrich (1897 – 1967) 220 Westphalen, Ferdinand (1899 – 1989) 601 Wetterer, Angelika 232 Wettstein, Richard von (1863 – 1931) 283, 293 Weyr, Emil (1848 – 1894) 461 Whitehead, Alfred North (1861 – 1947) 480 Wiche, Gerhard 257 Wichmann, Ottomar (1890 – 1973) 390 f. Wickhoff, Franz (1853 – 1909) 125 f., 128 f. Wiederin, Ewald 412 Wien, Wilhelm (1864 – 1928) 196 Wieser, Friedrich (1851 – 1926) 72, 167, 350 f. Wieser, Wolfgang 434 Wießner, Edmund (1875 – 1956) 306 Wiesner, Julius von (1838 – 1916) 429, 431 Wild, Friedrich (1888 – 1966) 242 – 244, 546 f. Wilhelm, Adolf (1864 – 1950) 577 Wilhelm, Georg 413 Wilke, Fritz (1879 – 1957) 445 f., 449, 453 Willmann, Otto (1834 – 1920) 387 Wimmer, Franz Martin 482 Winckler, Georg 28, 32, 259 – 261 Windhager, Fritz 80 Winkler, Arnold (1882 – 1969) 58 Winkler, Eike-Meinrad (1948 – 1994) 48 f. Winkler, Günther 79, 410 – 412 Winkler, Wilhelm (1884 – 1984) 94, 596, 601 Wintersberger, Erhard 255 Wirtinger, Wilhelm (1865 – 1945) 461 – 465, 468 Wittgenstein, Ludwig (1889 – 1951) 233, 465, 473, 479, 482 f.
Personenregister
Wodak, Ruth 100, 227, 233 Woess, Friedrich (1880 – 1933) 597 Wolf, Hieronymus (1515 – 1580) 552 – 554, 557 Wolf, Karl (1910 – 1995) 391 Wolf, Max (1863 – 1932) 423 f. Wolfram, Friedrich 531 Wolfram, Herwig 315, 495 Wolfram, Richard (1901 – 1995) 304 f., 307, 372 – 376, 378, 381, 617 Wolkan, Rudolf (1860 – 1927) 515 Woltmann, Alfred (1841 – 1880) 131 Wozonig, Karin 230 Wurtz, Charles Adolphe (1817 – 1884) 215 Wu¨ ster, Eugen (1898 – 1977) 246 f. Xirouchakis, Agathangelos (1872 – 1958) 590 Zacherl, Michael (1905 – 1990) 214 Zahrnt, Heinz (1915 – 2003) 452 Zapototczky, Klaus 138 Zbiral, Erich (1932 – 1992) 221 Zdarzil, Herbert (1928 – 2008) 392, 397 Zechmeister, Martha 339 Zeidler, Jakob (1855 – 1911) 302 Zeidler, Walter 482 Zeiller, Franz von (1751 – 1828) 402, 404 Zenker, Ernst Viktor (1865 – 1946) 56 Zerner, Ernst (1884 – 1966) 219 Ziller, Tuiskon (1817 – 1882) 386 Zima, Hans P. 91, 93 f. Zimmerl, Leopold (1899 – 1945) 597, 599 Zimmermann, Robert (1824 – 1898) 471 Zingerle, Josef (1868 – 1947) 578 Zöllner, Erich (1916 – 1996) 321 Zo¨ llner, Karl Friedrich (1834 – 1882) 421 Zomarides, Eugen (ca. 1860 – 1921) 590 Zuckerhut, Patricia 232 Zulehner, Paul M. 332, 339 Zupitza, Julius (1844 – 1895) 539 f.
650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert
4 Bände Hrsg. von Friedrich Stadler im Namen der »Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums« und des Forums »Zeitgeschichte der Universität Wien« (Katharina Kniefacz und Herbert Posch) Band 1: Katharina Kniefacz / Elisabeth Nemeth / Herbert Posch / Friedrich Stadler (Hg.) Universität – Forschung – Lehre Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert Band 2: Mitchell G. Ash / Josef Ehmer (Hg.) Universität – Politik – Gesellschaft 2.1: Universität – Politik 2.2: Universität – Gesellschaft Band 3: Margarete Grandner / Thomas König (Hg.) Reichweiten und Außensichten Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche Band 4: Karl Anton Fröschl / Gerd B. Müller / Thomas Olechowski / Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.) Reflexive Innensichten aus der Universität Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik